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German Pages 320 Year 2014
Niels Penke (Hg.) Der skandinavische Horrorfilm
Film
Niels Penke (Hg.)
Der skandinavische Horrorfilm Kultur- und ästhetikgeschichtliche Perspektiven
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Inhalt
Einleitung
Niels Penke | 7 Die Figur des Todes in Victor Sjöströms K ÖRKARLEN
Anna-Marie Mamar | 17 Der ewige Schlaf. Über V AMPYR von Carl Theodor Dreyer
Marcus Stiglegger | 37 Von Caligari zu Bergman. Transkodierungen von gothic fiction und die Kinematographie des Phantastischen in VARGTIMMEN (D IE S TUNDE DES W OLFS )
Matthias Teichert | 51 Der ›wahre Horror‹ und sein phantas(ma)tisches Anderes in Lars von Triers RIGET
Andreas Jacke / Sophie Wennerscheid | 99 A self-fulfilling parody. Die Genreparodie E VIL E D und das Wunder der Zensur
Hauke Seven | 129 Fremde Nachbarn? Interskandinavische Rollenbesetzungen in VILLMARK und N ABOER
Judith Wassiltschenko | 157 Die Natur ist Satans Kirche. Lars von Triers ANTICHRIST
Daniel Kehlmann | 177
Import/Export. Globaler Kulturaustausch im Horrorgenre am Beispiel von F RITT V ILT und REYKJAVÍK W HALE W ATCHING M ASSACRE
Judith Wassiltschenko | 181 (De-)Konstruktion von Rollenbildern. Sex, Gender und Sexualität schwedischer Nachtwandler in Film- und TV-Produktionen
Benjamin Ryan Schwartz | 209 Die Sauna und die Dekonstruktion des Mannes. Das Verhältnis von Räumlichkeit und Männlichkeitskonzepten in S AUNA
Sabine Planka | 241 »Aufstehen!« – »Einsatz!« D ØD S NØ und die Wiederkehr des Vergangenen
Niels Penke | 261 Zwischen Nachahmung und Neuinterpretation. Horror- und Mysteryfilme aus Skandinavien und ihre US-Remakes
Petra Schrackmann | 285 Autorinnen und Autoren | 313
Einleitung N IELS P ENKE »Some monsters cannot be slain« ANNA-VARNEY CANTODEA – Little Velveteen Knight
›Gyser‹, ›grøsser‹ oder ›skrekkfilm‹ – in den skandinavischen Sprachen gibt es mehr als nur eine Bezeichnung für Filme, die dem Horrorgenre zugerechnet und in der Übersetzung alle synonym als ›Horrorfilm‹ bezeichnet werden. So werden beispielsweise auch Thriller in Norwegen als ›grøsser‹ deklariert, der mit klassischen Gothic-Elementen versehene phantastische Film zumeist als ›skrekkfilm‹. Doch entgegen dieser terminologischen Vielfalt und Uneindeutigkeit, ist die Geschichte des Horrorfilms in Skandinavien – auch im weiteren Sinne – sehr übersichtlich, was die quantitative Produktionsmenge betrifft. Bis zur Mitte der 1990er Jahre erschienen lediglich vereinzelte Filme, die allein wegen ihrer singulären Stellung Aufmerksamkeit erregten. Das hat sich in den letzten fünfzehn Jahren deutlich geändert. Nicht nur die allgemeine Filmproduktion in Dänemark, Schweden und Norwegen ist wieder deutlich angestiegen, insbesondere die von Horrorfilmen verzeichnet einen geradezu exponentiellen Zuwachs. Waren es bis in die 1990er wenig mehr als ein Dutzend Filme insgesamt, erreichen nun starke Jahrgänge wie 2005 oder 2008 alleine solche Zahlen. Ein »Auf-
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blühen« der skandinavischen Horrorfilmproduktion seit 2003 kann länderübergreifend beobachtet werden.1 All dies hat seine Gründe. Historische, ökonomische, soziale – viele davon interferieren. Im Vergleich zu den USA oder Großbritannien ist nicht nur die Zahl der Filmschaffenden, RegisseurInnen und DrehbuchautorInnen deutlich geringer, auch die jeweiligen Märkte sind es, die die Filmproduktion ebenso bestimmen wie mögliche Koproduktionen oder Exporte. Die skandinavischen Filmförderungsfonds haben in den letzten fünfzehn Jahren ihr Volumen deutlich erhöht.2 Ein Grund, weswegen es möglich war, dass mehr Projekte junger, noch nicht etablierter Regisseure (wie etwa Ole Bornedals NATTEVAGTEN, 1994) realisiert werden konnten, die durch internationale Erfolge wiederum neue Möglichkeiten eröffneten. Ästhetisch zeigen sich viele der jüngeren Filme anglo-amerikanischen Genretraditionen verpflichtet. Dies mag auch daran liegen, dass es in Skandinavien nie einen Begründer einer genuinen Horrortradition und einer entsprechenden ›landesspezifischen‹ Ästhetik wie etwa Mario Bava und Dario Argento in Italien, notorische Vielfilmer und vielfach imitierte Katalysatoren wie Jesus Franco oder Roger Corman, noch einen sich bei stets hoher internationaler Popularität immer wieder neu erfindenden Regisseur wie Wes Craven gegeben hat. Vergleichbare Filmemacher haben die skandinavischen Länder nur jenseits von Horror, Thriller und phantastischem Film hervorgebracht. Stilprägende Vorbilder wie Carl Theodor Dreyer oder Ingmar Bergman haben ihre Nachfolger eher außerhalb des Horrorgenres ge-
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Gunnar Iversen spricht für Norwegen von »oppblomstringen innen genren som kom etter 2003«, einem »Aufblühen innerhalb des Genres, das nach 2003 aufkam«, das auch für die anderen Länder zutreffend ist. Vgl. Gunnar Iversen: Norsk Filmhistorie. Spillefilmen 1911-2011. Oslo: Universitetsforlaget, 2011, S. 193. Über die Detailsuche der International Movie Database (IMDb) lässt sich der zahlenmäßige Anstieg leicht bestätigen.
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In Dänemark wurde beispielsweise der 1989 Film Act beschlossen, der bei der Filmfinanzierung eine 50/50-Regelung vorsah. Vgl. dazu Mette Hjort: Small Nation, Global Cinema. The New Danish Cinema. Minneapolis/London: University of Michigan Press, 2005, S. 13-14. Auf Island gibt es seit Ende der 1970er Jahre eine eigene Filmförderungsanstalt, die ihr Fördervolumen stetig erhöht und zum Aufstieg des isländischen Films beigetragen hat.
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funden, obwohl sie (auch) auf diesem Gebiet wegweisende Filme abgeliefert haben. Eine solche Figur, die in serieller Produktion von dutzenden oder sogar hunderten Filme als profilierter Horrorfilmer stilprägend hätte werden können, ist im skandinavischen Kino bis heute nicht in Erscheinung getreten. Demgegenüber haben sich jedoch viele international bekannte und erfolgreiche renommierte Regisseure des Horrors angenommen; sei es auch nur, um einmal mit ›klassischen‹ Motiven und Figuren in genreuntypischer Weise zu verfahren und über das Spiel mit verschiedenen Genres innovative Ausdrucksformen zu erproben. Namen wie Victor Sjöström (KÖRKARLEN, 1921), Carl Theodor Dreyer (VAMPYR – DER TRAUM DES ALLAN GRAY, 1931; VREDENS DAG, 1943), Ingmar Bergman (VARGTIMMEN, 1968) und Lars von Trier (RIGET 1994, ANTICHRIST 2007) mögen eine Ahnung davon vermitteln, wie produktiv, variantenreich und über das Horrorgenre hinaus weitreichend innovativ die Auseinandersetzung mit realen Ängsten und ihre filmische Umsetzung sein kann.3 Die Anfänge dessen, was den später dezidiert als solchen konzipierten Horrorfilm ästhetisch und motivisch begründet, sind im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu finden. Einige Jahre nach Georges Méliès, der in Frankeich mit einer großen Zahl kurzer phantastischer Filme das Terrain für die nachfolgende Generation bereitet hatte (u.a. LE DIABLE AU CONVENT, 1899 oder LE MONSTRE, 1903), war es ein Däne, Viggo Larsen (18801957), der diese Rolle für den nordeuropäischen Raum einnahm. Larsen debütierte 1906 als Regisseur und trat im Jahr darauf mit einer Verfilmung
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Die schmale und äußerst heterogene Materialbasis mag ein Grund dafür sein, warum der Versuch, die skandinavischen Horrorfilme einer monographischen Darstellung zu unterziehen, bislang nicht unternommen worden ist. Zudem wird das Horrorgenre in Überblickswerken zur skandinavischen Filmgeschichte meist ausgespart (exemplarisch hierfür ist Michael Lachmann / Hauke Lange-Fuchs: Film in Skandinavien. Berlin: Henschel 1993.), so wie in vielen internationalen Genregeschichten die skandinavischen Filme vereinzelt und als randständig behandelt werden, vgl. Ursula Vossen (Hg.): Filmgenres. Horrorfilm. Stuttgart: Reclam, 2004. Norbert Stresau: Der Horror-Film. Von Dracula zum ZombieSchocker. München: Heyne, 1991.
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des Hans Christian Andersen-Märchens Fyrtøyet4an die Öffentlichkeit, die den Auftakt einer Reihe von Zusammenarbeiten mit dem Kopenhagener Filmpionier Ole Olsen begründete, der sich als Produzent um die Finanzierung der Filme kümmerte. Weitere gemeinsame Projekte in den Folgejahren waren DEN GRAA DAME, ein Sherlock Holmes-Abenteuer von 1909 sowie eine Verfilmung von Robert Louis Stevensons The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde unter dem Titel DEN SKÆBNESVANGRE OPFINDELSE (1910). Larsen verließ jedoch im selben Jahr Dänemark, um, wie viele seiner filmschaffenden Zeitgenossen, seine Karriere unter besseren Rahmenbedingungen in Deutschland fortzusetzen.5 Dennoch behauptete sich Dänemark dank der Nordisk Film Kompagni bis zum Ende des Ersten Weltkriegs als äußerst produktive Filmnation mit einem Produktionsvolumen von 100 bis zum Teil über 200 Filmen in den Jahren 1909 bis 1916. In diese Zeit fällt auch die Horror-nahe VAMPYRDANSERINDEN (1911, dt. Die Vampirtänzerin) von August Blom, der allein in jenem Jahr bei über fünfundzwanzig Filmen Regie führte und einen der ersten Vampir-Filme überhaupt drehte. Dieses verschollene Melodram inszenierte Clara Wieth als vampireske femme fatale, die ihrem Verehrer (Robert Dinesen) tanzend Verstand und Leben raubt. Nur wenig später entsteht auch Mauritz Stillers VAMPYREN (SE, 1912), der eine zumindest nominelle Genrezugehörigkeit vermuten lässt, die ›Vampirin‹ jedoch eher metaphorisch begreift und ebenfalls als männermordende femme fatale auftreten lässt.6 Der später wegwei-
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Der dreizehnminütige Film wurde international von der Nordisk Film unter den Titeln THE TINDER BOX bzw. DAS FEUERZEUG vermarktet. Vgl. Ralf Ramge: Das Dokument des Grauens. Eine Chronik des Horrorfilms. Bd. I. Als der Horror laufen lernte (1896 - 1929), S. 199. (Online verfügbar unter http://retropark.ch/Band1.html - abgerufen am 27.07.2012).
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Zu den vielfältigen Filmbeziehungen zwischen Dänemark und Deutschland vgl. Manfred Behn (Red.): Schwarzer Traum und weiße Sklavin. Deutsch-dänische Filmbeziehungen 1910-1930. München: edition text + kritik, 1994. Sowie Stephan Michael Schröder: Ideale Kommunikation, reale Filmproduktion. Zur Interaktion von Kino und dänischer Literatur in den Erfolgsjahren des dänischen Stummfilms 1909-1918. 2 Bd. Berlin: Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität, 2011.
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Die tanzende ›Vampirin‹ greift auch Robert G. Vignola für seinen Film THE VAMPIRE (1913) auf und trägt so zu einer Festschreibung bei, die das aus der
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sende Regisseur und Bergman-Darsteller Victor Sjöström tritt darin als »en kvinnas slav« (dt. Ein Frauenslave, nach einem Alternativtitel) in einer seiner ersten Rollen auf. Diese beiden wichtigsten Repräsentanten des schwedischen Stummfilms waren auch an den gleichermaßen erfolg- wie einflussreichen Selma Lagerlöf-Verfilmungen beteiligt. Stiller trug maßgeblich zum Drehbuch der phantastischen Kriminalgeschichte HERR ARNES PENGAR (1919) bei und führte Regie, Sjöström trat zwei Jahre später mit KÖRKARLEN als Regisseur und Hauptdarsteller in Erscheinung. Auch wenn diese Filme im Lichte heutiger Genretypologien kaum eindeutig als Horror bezeichnet werden können, führten sie dennoch als phantastische Filme mit Hexen, Teufeln, Geistern, der Darstellung von Magie und Wahnsinn ein Figuren- und Motivinventar ein, das sich etablieren und genrekonstituierende Stereotypen ausbilden sollte. Dennoch darf die historische Variabilität der Wirkungspotentiale von Horrorfilmen nicht vergessen werden. Horror als ein Rezeptionsphänomen, das nur dann zu dem werden kann, was es seiner Affektpoetik gemäß soll, wenn es nämlich auf das Publikum die intendierte Wirkung auch erzielt, erfährt durch veränderte Sehgewohnheiten verschiedene Wahrnehmungen und Kategorisierungen. Die Darstellungen von Erschrecken, Angst und Ekel sind historisch variant, Gewöhnung und Innovationsdruck treiben die Entwicklung neuer Formen und Muster beständig voran, unter denen die Wahrnehmungsweisen und Erwartungshorizonte früherer Generationen verschwinden. So ist über die Einschätzungen des Publikums, was ein Horrorfilm ist, und wie er auf dieses wirkt, aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts bis auf verstreute Zeitungsnotizen nur wenig überliefert, was eine Einschätzung der unmittelbaren Publikumsreaktionen ermöglichte. Ein Film, der seine möglichen Wirkungsweisen mit reflektiert, wenn er Hexensabbat, Teufelspakt und Folterwerkzeug inszeniert, ist Benjamin Christensens HÄXAN (dt. Titel HEXEN, eigentlich ›Die Hexe‹) von 1921. Mit aufklärerischen Ambitionen ausgestattet, ist HÄXAN nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Genregeschichte, sondern auch der erste Vorstoß in Rich-
Dramatik, besonders prominent in Oscar Wildes Salome (1891) inszenierte Motiv zum filmischen Stereotyp ausbildet.
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tung einer noch heute populären Mischform, der Doku Fiction, die Dokumentarisches mit Spielfilmszenen verbindet.7 Im selben Jahr erscheint mit Victor Sjöströms KÖRKARLEN ein weiterer Meilenstein des skandinavischen Horrorfilms, der in seiner weitreichenden Bedeutung kaum zu überschätzen ist. ANNA-MARIE MAMARS Beitrag widmet sich der Metaphorik dieses frühen Klassikers, der die Konfrontation eines notorischen Trinkers mit dem Tod zeigt und durch seinen allegorischen Charakter als ein modernes Mysterienspiel erscheinen lässt. Sjöström initiiert eine neuartige Bildlichkeit, deren gespenstischen Doppelbelichtungen sich für zahlreiche Horrorfilmschaffende als anschlussfähig gezeigt haben. Die Vermittlung moralischer Inhalte und die Ästhetik bezeugen auch Sjöströms Einfluss, den er vor allem auf Ingmar Bergman und dessen mysterienspielartiges DET SJUENDE INSEGLET geübt hat. Der für den internationalen Horrorfilm vielleicht wichtigste Inspirationsgeber aus Skandinavien war der Däne Carl Theodor Dreyer, dessen ›Traumspiel‹ VAMPYR – DER TRAUM DES ALLAN GRAY eine eindrucksvolle und vielfach rezipierte Ästhetik entwickelt hat, die seine hohe Wertschätzung als »beste[r] und beeindruckendste[r] aller Vampirfilme«8 bis heute begründen. Diese angeblich auf Sheridan Le Fanus Carmilla zurückgehende ›Literaturverfilmung‹ widmet sich MARCUS STIGLEGGER. Seine Untersuchung zeigt wie sich das Prinzip des Traums auf die Figuren, die Handlungslogik und die Bildsprache des Films gleichermaßen erstreckt. Die diffusen innerfiktiven Vorgänge werden dabei im Hinblick auf die Wirkungsweise des Films nachvollzogen und tragen so zur Erklärung des Unbehagens bei, das VAMPYR auch nach 80 Jahren und Myriaden anderer Vampirfilme immer noch zu erregen vermag. MATTHIAS TEICHERT unterzieht Ingmar Bergmans VARGTIMMEN einer eingehenden Analyse, indem er den besonders für seine Filmdramen weltbekannten schwedischen Regisseur im Hinblick auf die Wende des Horrorfilms im Jahr 1968 kontextualisiert. Über die Vorbilder in der deutschen Schauerromantik bis zum Zeitgenossen Roger Corman wird dabei ein weiter Bogen gespannt, der zahlreiche Ansätze bündelt und neue eröffnet, indem der Film genregeschichtlich und -theoretisch umfassend verortet wird.
7
Vgl. Harald Harzheim: Hexen / Sieben Schritte zu Satan. In: Ursula Vossen (Hg.): Filmgenres. Horrorfilm. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 36-40.
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Robert Moss: Der klassische Horrorfilm. München: Heyne, 1982, S. 95.
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SOPHIE WENNERSCHEID und ANDREAS JACKE identifizieren den Handlungsschauplatz von Lars von Triers Krankenhausgroteske RIGET als topisches, dem Untergang geweihtes Spukhaus. Es erscheint zum Leidwesen der PatientInnen als Ort der Auseinandersetzung mit der gespenstisch wiederkehrenden Vergangenheit, an dem über den vielschichtigen Text dänisch-schwedisch-deutsche Verstrickungen ausgetragen werden. HAUKE SEVEN zeichnet anhand des schwedischen Splatterfilms EVIL ED ein kritikables Zensurverfahren nach, das die Entscheidungskompetenz entsprechender Behörden augenscheinlich in Frage stellt. Als Parodie und Meta-Film, der nicht nur eine Vielzahl von Genrezitaten und -variationen zu bieten hat, sondern auch das für viele Horrorfilmproduzierende und -rezipierende leidige Phänomen Zensur reflektiert – und in Antizipation der eigenen Wirkung unerhört hellsichtig umsetzt – unterliegt auch er der restriktiven Schneidepolitik. Gerade im interkulturellen Vergleich zwischen Schweden und Deutschland zeigen sich große Unterschiede im Umgang mit bestimmten ästhetischen Formaten, sogenanntem Jugendschutz und der Einschätzung ›sozialethisch desorientierenden‹ Medienkonsums. Um interskandinavische Beziehungen und die Fremdheit des eigentlich allzu Bekannten geht es im ersten Beitrag JUDITH WASSILTSCHENKOS. Am Beispiel von VILLMARK (R: Pål Øie, 2003), dem erst dritten norwegischen Horrorfilm nach DE DØDES TJERN (1958) und MØRKETS ØY (1997)9, und NABOER (R: Pål Sletaune, 2005) zeigt sie die Extreme ›nachbarschaftlicher‹ Begegnungen und verdeutlicht dabei das Potential einer auditiven Filmanalyse, die über die aufmerksame Einbeziehung von Akustik und Sprache neue Subtexte eröffnen kann. DANIEL KEHLMANNs Essay reflektiert über die traumatische Wirkung von Lars von Triers ANTICHRIST, der »aus scheinbar trivialen Motiven des Horrorgenres etwas existenziell Ernstes« schafft, nämlich die Macht des Bösen im Menschen in wechselhaft realistischen und (alp)traumhaften Bildern darzustellen. ANTICHRIST ist ein Film, der psychische wie physische
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Zur jüngeren Geschichte des norwegischen Horrorfilms vgl. Tommy Gjerald: Truende tradisjoner. Norsk horrorfilm 1997-2009. Masteroppgave, Høgskolen i Lillehammer, 2009. (Online verfügbar unter http://brage.bibsys.no/hil/bitstream /URN:NBN:no-bibsys_brage_10246/1/Masteroppgave%20Film%20og%20fjern ynsvitenskap%20v%C3%A5r%202009%20Tommy%20Gjerald.pdf – abgerufen am 27.08.2012).
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Gewalt gleichermaßen drastisch inszeniert, die Grenzen des Genres in mehrere Richtungen überschreitet und sich trotz allem den Zuschauenden als kathartisches Erlebnis nicht verweigert. In einem weiteren Beitrag untersucht JUDITH WASSILTSCHENKO die Adaptionen international etablierter Strukturmodelle und Motive für das skandinavische Kino. Am Beispiel des isländischen Exoten REYKJAVÍK WHALE WATCHING MASSACRE und der norwegischen FRITT VILT-Trilogie untersucht sie die Translozierung des US-amerikanischen ›backwood‹Slasherfilms in andere geographische Räume und kulturelle Kontexte. Auch im Bezug auf das erstmals im skandinavischen Horror probierte, kommerziell erfolgreiche Prinzip der Serialität weist sie einen ›globalen Kulturaustausch‹ nach, der immer auch die Auseinandersetzung konkurrierender nationaler Selbstbilder verhandelt. BENJAMIN RYAN SCHWARTZ unterzieht einige Vampirfiguren der jüngsten Vergangenheit einer vergleichenden Analyse und zeichnet am Beispiel von LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN und TRUE BLOOD typologische Muster ›schwedischer Vampire‹ nach. Ihre Neuartigkeit besteht vor allem darin, dass Eli und Eric in konventionellen kategorialen Zuschreibungen nicht länger aufgehen, mit allzu starren Genretraditionen brechen und darüberhinaus auch auf heteronormativem Denken basierende Rollen- und Identitätsvorstellungen einer grundlegenden Dekonstruktion zu unterziehen. Einen Ausblick auf das geographisch ebenfalls nahe, aber sprachlich und damit auch kulturgeschichtlich ferner liegende Finnland bietet der Beitrag SABINE PLANKAs, die mit einer Einzelanalyse zu SAUNA (2008) den Trend zum gesellschaftskritischen und politisch korrekte(re)n Film der Gegenwart bestätigt. In Antti-Jussi Annilas mit subtilem Horror operierenden Historiendrama erfährt die soldatische Männlichkeit eine sukzessive Dekonstruktion und entwirft über die reflektierte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Raum und Geschlecht eine ›natürliche‹ Alternative zum patriarchal geprägten Gesellschaftsmodell und seinen Hervorbringungen. NIELS PENKE bringt die Nazizombie-Komödie DØD SNØ in Zusammenhang mit norwegischen Vergangenheitsbewältigungsdiskursen. Angesichts der gegenwärtigen politischen Lage im Zeichen eines offenkundigen Rechtsrucks erscheinen Inhalt und Botschaft dieses exploitativen ›feel good-Films‹ fragwürdig, womit sich DØD SNØ durchaus in die Subgenregeschichte exploitativer (Nazi)Zombie-Filme einfügt.
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Ausgehend von John Ajvide Lindqvists Roman Låt den rätte komma in, Thomas Alfredsons gleichnamigem Film und LET ME IN von Matt Reeves zeigt schließlich PETRA SCHRACKMANN am Beispiel des Remakes einer Literaturverfilmung die transmedialen Verschiebungen, die bei der Übersetzung eines landesspezifisch eingefärbten Stoffes in andere soziokulturelle Kontexte sichtbar werden. An weiteren prominenten Beispielen wie NATTEVAGTEN und DET OSYNLIGE legt sie offen wie über den Transfer intertextuelle Strukturen entstehen, die eine einfache Dichotomie von ›Original‹ und ›Nachahmung‹ nicht länger zulassen und zu einer differenzierten Einschätzung des Phänomens Remake beitragen. Viele Filme des letzten Jahrzehnts sind von dem Versuch gekennzeichnet, althergebrachte Darstellungsstereotype und Fremdzuschreibungen nicht länger zu bedienen und die darin enthaltenen Diskriminierungen nicht weiter fortzuschreiben – Filme, die sich kulturwissenschaftlich informiert und (selbstkritisch) reflektiert zeigen und im Sinne einer Skandinavien-›typischen‹ political correctness neue Inszenierungsformen wählen. Diese Tendenz, mit traditionellen Mustern zu brechen und gendertheoretische und feministische Lesarten nicht nur ex negativo zu provozieren, unterscheidet sie vom Gros anglo-amerikanischer Produktionen, deren konservative, bisweilen reaktionäre Inhalte nach dem 11. September 2001 wieder spürbar zugenommen haben.10 Anders als für diese gilt Adornos in der Minima Moralia vertretenes Diktum, dass »es keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick [gibt], der auf’s Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.«11 Dieser Blick lässt sich auch – oder gerade – über das Medium des Horrorfilms aufs Grauen lenken, um dort hinter den Schreckbildern und Scheußlichkeiten Repräsentationen der eigenen sozialen Zu-
10 Zum konservativen Denken in Horrorfilmen vgl. Stephen King: Why We Crave Horror Movies. In: Judith Nadell / John Langan / Eliza A. Comodromos: The Longman Reader. New York [u.a.]: Longman/Pearson, 92009, S. 400-402. Norbert Stresau: Der Horror-Film. Von Dracula zum Zombie-Schocker. München: Heyne, 1991, S. 170ff. George Ochoa: Deformed and destructive beings. The purpose of horror films. Jefferson, N.C [u.a.]: McFarland, 2011, S. 61ff. 11 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Gesammelte Schriften. Bd. 4. Darmstadt: WBG, 1998, S. 26.
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sammenhänge, ihre Ab- und Hintergründe zu erkennen. Horror im Film entsteht zumeist aus Nähe, einer unerwünschten Grenzüberschreitung, an deren Revision sich die ProtagonistInnen abarbeiten. Die Frage danach, wer welche Grenzen überschreitet und für wen dies warum ein angsteinflößendes Ereignis darstellt, führt zum Kern jener soziokulturellen Dispositive, die im Horrorfilm verhandelt und verteidigt werden. Doch in jedem Entwurf des Schrecklichen ist auch implizit sein Gegenteil, also die Möglichkeiten eines Besseren enthalten. Und ohne sich dem ›Grauen‹ – in welcher Gestalt es auch immer daherkommen mag – auszusetzen, ist das ›Bessere‹, die friedliche, angst- und bedrohungsfreie Welt, selbst in der Fiktion nicht zu haben. Dazu aber sind die Schattenseiten des ›Eigenen‹ anzunehmen und nicht leichtfertig als zu eliminierendes monströses ›Anderes‹ zu verwerfen, sondern kritisch zu hinterfragen und zum Movens des eigenen Handelns werden zu lassen. »Some monsters cannot be slain« – gilt zwar gewiss weiterhin für einige Erscheinungen, doch es liegt in der Macht der Menschen, ihnen über Analyse und Kritik den Schrecken und damit auch einen Teil ihrer Bedrohlichkeit zu nehmen.
Die Figur des Todes in Victor Sjöströms KÖRKARLEN A NNA -M ARIE M AMAR
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E INLEITUNG
In Victor Sjöströms schwarzweißem Stummfilm KÖRKARLEN,1 einer Literaturverfilmung aus dem Jahre 1921, nach der gleichnamigen Novelle von Selma Lagerlöf, wird die Geschichte des rüpelhaften Trinkers David Holm erzählt.2 Jener wird an einem Silvesterabend von seinen Trinkkumpanen vermeintlich erschlagen und daraufhin vom ›Fuhrmann des Todes‹, einer legendarischen Gestalt, heimgesucht, um dessen Amt als Strafe für seine Sünden zu übernehmen. Zuvor werden ihm jedoch durch Rückblenden seine Missetaten ins Gedächtnis gerufen und wird zu den Opfern seiner Übeltaten geführt, wodurch er zu bereuen beginnt. Es ist evident, dass der Film auf unterschiedlichen Ebenen den Tod thematisiert, symbolisiert und repräsentiert: Auf der Ebene der Figuren, auf symbolischer Ebene und auch auf räumlicher Ebene. Diese gilt es im Folgenden näher zu untersuchen und zu hinterfragen. Dabei wird auch die Analyse der Figuren des Films fokussiert,3 die mit dem Tod konfrontiert
1
Dt. Titel: DER FUHRMANN DES TODES (Victor Sjöström: Der Fuhrmann des Todes. Berlin: absolut Medien 2008. (Arte Edition: Stummfilm Edition, 877).
2
David Holm wird von Victor Sjöström selbst gespielt.
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Diese Kategorien sind an Eders Figurenanalyse angelehnt (vgl. Jens Eder: Die Figur im Film. Grundlagen der Filmanalyse. Marburg: Schüren, 2008, S. 254).
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werden. Da jedoch die Darstellung des Todes im Film nicht allein auf der Figur des Todes beruht, werden überdies die symbolischen Kodierungen des Todes in der Gestaltung des fiktiven Raums untersucht. Schließlich wird die Darstellung des Todes in Bezug auf den situativen und den religiösen Kontext im Film analysiert.
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D ER T OD
ALS
F IGUR
Der Tod in menschlicher Gestalt ist kein Phänomen, das in KÖRKARLEN zum ersten Mal konzipiert und visualisiert wird. Einen Hinweis auf den Beginn der Darstellung des personifizierten Todes in der darstellenden Kunst liefert Irmgard Wilhelm-Schaffer, die in ihrem Überblick zur christlichen Todesikonographie folgendes festhält: »Die künstlerischen Darstellungen des Todes in Mittelalter und Früher Neuzeit haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: Die Personifikation des Todes. Anleihen zur Beschreibung seiner Gestalt und zur Auswahl seiner Attribute wurden aus bibli4
schen Texten – besonders aus der Apokalypse – und aus der Lebenswelt gemacht.«
Folglich hat die Gestalt des Todes in seinen Grundzügen einen christlichen Ursprung und steht in einem religiösen Kontext.5 Die Vorstellungen vom Aussehen dieser Figur, von ihren Attributen und Zustandsformen gehen jedoch immer wieder auseinander, so dass insbesondere in der darstellenden
Die Kategorien werden in diesem Aufsatz jedoch teilweise umbenannt, zusammengefasst oder erweitert. 4
Irmgard Wilhelm-Schaffer: Gottes Beamter und Spielmann des Teufels. Der Tod im Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Köln: Böhlau, 1999, S. 255.
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Dass es sich bei dem personifizierten Tod nicht um eine allgemeingültige, sondern um eine speziell christliche Vorstellung handelt, wird im Vergleich zu anderen Kulturen deutlich: Im orientalischen Altertum gab es keinen Tod als Figur, wohl aber Totengötter und in der altgriechischen Kunst wird der Tod beispielsweise als ein Jüngling, Thanatos mit gesenkter Fackel dargestellt (vgl. Wilhelm-Schaffer: Gottes Beamter, S. 255ff.).
D IE FIGUR
DES
TODES IN V ICTOR S JÖSTRÖMS ›K ÖRKARLEN ‹ | 19
Kunst viele unterschiedliche Arten von Todesfiguren auftreten.6 Auch in einigen Filmen tritt der Tod auf und jedes Mal in einer anderen Gestalt: Zeitnah zu KÖRKARLEN dreht Fritz Lang DER MÜDE TOD (1921), in der der Tod mit schwarzem Gewand und ernstem Blick als menschliche Figur auftritt und in Verhandlungen mit einer jungen Frau tritt, die von ihm ihren verstorbenen Geliebten zurückfordert. Darüber hinaus lässt sich der Einfluss KÖRKARLENS auf Bergmans Film DET SJUNDE INSEGLET (1957, dt. DAS SIEBENTE SIEGEL) ausmachen:7 »One of the Movies which has made the most profound impression on Bergman is Victor Sjöström’s THE PHAN8 TOM CARRIAGE.« Mit diesen Worten knüpft James Baldwin eine Parallele zwischen den Werken dieser zwei bedeutenden schwedischen Regisseure. Auch Ingmar Bergman selbst scheint diese Behauptung zu bestätigen, denn »enligt egen utsago ser han [gemeint ist Bergman, AAM] fortfarande KÖR9 KARLEN minst en gang om året« . In Bergmans berühmten Film tritt die Figur des Todes weißgesichtig, in eine schwarze Kutte gehüllt im mittelalterlichen Setting auf und fordert die anderen Figuren zum finalen Totentanz auf. Auch in neueren Filmen ist der Tod als allegorische Figur vertreten: In Martin Brests MEET JOE BLACK (1998) ist der Tod ein verliebter, junger Mann, in Monty Pythons THE MEANING OF LIFE (1983) wird der Tod als Sensenmann persifliert und in Wim Wenders PALERMO SHOOTING (2008) wird der Tod durch einen alten Mann verkörpert. 2.1 Allgemeine Erscheinung und körpernahe Artefakte Zunächst soll hier die Figur des personifizierten Todes beschrieben werden, denn die äußere Erscheinung verrät bereits viel über die Figur und lässt da-
6
Ausführliche Informationen liefert hier das Kapitel Der ›Mahner‹ Tod. Göttlicher Beamter und teuflischer Spielmann, Sieger und Besiegter. In: WilhelmSchaffer: Gottes Beamter, S. 260-281.
7
Vgl. Frank Gado: The passion of Ingmar Bergman. Durham: Duke University Press, 1986, S. 198 und vgl. James Baldwin: The Northern Protestant. In: Raphael Shargel (Hg.): Ingmar Bergman Interviews. Jackson: University Press of Mississippi, 2007, S. 10-20, hier: S. 19.
8
Baldwin: The Northern Protestant, S. 18.
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Bo Florin: Regi. Victor Sjöström. Directed by Victor Seastrom. Stockholm: Swedish Film Institute, 2003, S. 5.
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rauf schließen, wie der Tod im Film verstanden wird. Insbesondere die ursprüngliche Vorstellung vom Schnitter Tod ist in KÖRKARLEN von Bedeutung. Bengt Idestam-Almquist beschreibt das Auftreten des Todes wie folgt: »[…] KÖRKARLEN sökte det övernaturliga och overkliga. Döden förs in i handlingen, visas i materiell gestalt. Inte som grinande benrangel, men dock med Dödens traditionella attribut – lien. Och han kör en fantastisk vagn efter en ledbruten 10
krake.«
Als körpernahe Artefakte trägt der Fuhrmann eine Sense bei sich und eine schwarze Kutte. Er ist ein erkennbar alter Mann.11 Zudem trägt einen weißen Bart und sein weißes Haar lugt aus der Kapuze der Kutte hervor. Der Fuhrmann ist, wie Idestam-Almquist ebenfalls erwähnt und wie auch schon der Bezeichnung ›Fuhrmann‹ zu entnehmen ist, in einem Fuhrwagen unterwegs, gezogen von einem dürren Pferd. Idestam-Almquist spricht explizit vom Übernatürlichen, wenn er den Fuhrmann beschreibt und dies ist bei aller Natürlichkeit seines Aussehens eine zutreffende Beschreibung. Victor Sjöström arbeitet bei der Darstellung der Toten – Totenkarren und Pferd, der Fuhrmann Georges, die Seelen der Verstorbenen und David Holm als Toter – mit Doppelbelichtungen und gerade dies machte den Film zu seiner Zeit besonders erfolgreich und richtungsweisend für spätere Filmemacher.12 Dazu wurde erst der Hintergrund gefilmt, dann ›die Toten‹ vor einem dunklen Hintergrund aufgenommen und anschließend die Bilder übereinander gelegt. Durch diese technische Raffinesse erscheinen die Toten als halbdurchsichtige, weiß schimmernde Geister und die Konsistenz der gesamten Erscheinung immateriell.
10 Robin Hood (Pseudonym für Bengt Idestam-Almquist): Den svenska filmens drama. Sjöström – Stiller. Stockholm: Åhlen & Söner, 1939, S. 190. 11 An dieser Stelle sei angemerkt, dass es zwei Fuhrmänner gibt. Zunächst der Fuhrmann aus der Legende, die Georges erzählt und die den Fuhrmann rein funktionell zeigt und zum zweiten Georges selbst als Fuhrmann. Da sich die beiden Figuren jedoch vom Aussehen ähneln, wird hier keine genaue Unterscheidung getroffen. 12 Wie diese Doppelbelichtungen produziert wurden, ist bei Idestam-Almquist ausführlich beschrieben, vgl. Hood (Idestam-Almquist), S. 196ff.).
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Jedes kleine Detail an dieser Erscheinung erinnert an den Tod und durch seine geisterhaften Attribute an ein übernatürliches Wesen. Dem würde auch die Einschätzung entsprechen, die Idestam-Almquist über den Tod als Figur in der Welt der Lebenden aufstellt: »Det är overkligt. Men denna Död, i genomskinlig spökgestalt, uppträder mitt i en verklig miljö, bland verkliga människor, verkliga rum och möbler«13. Er erscheint als etwas Unwirkliches in der Welt des Wirklichen und zwischen diesen beiden Welten gibt es anscheinend nur eine Verbindung: »Die Welt der Menschen und die der Geister erscheinen zugleich im Bild, doch zwischen ihnen gibt es keine Brücke – außer der des Todes«14. Erst in der Interaktion mit Holm ist sein Haupt unbedeckt und lässt infolgedessen einen Blick auf viele individuelle Züge zu. Diese Erscheinung kommt nicht nur David Holm, sondern auch dem Zuschauer bekannt vor, denn es ist Holms ehemaliger, längst verstorbener Freund Georges, der bereits in einer früheren Szene per Rückblende gezeigt wird. (Min. 10.58 12.02) Der Tod im Gespräch mit Holm ist also keine abstrakte, unbekannte Figur. Seine Erscheinung ist vertraut, sein Handeln dadurch nicht mehr das eines anonymen Rollenträgers: »Der Schnitter wandelt sich durch das Gesicht Georges’ von einer rein allegorischen Personifikation in eine beschreibbare Figur.«15 2.2 Charakter und Eigenschaften Der Fuhrmann des Todes in KÖRKARLEN ist kein erbarmungsloser, unpersönlicher Herrscher, denn trotz seines gespensterhaften Aussehens löst er wenig Angst aus. Sein Amt besteht darin die Seelen der Verstorbenen einzusammeln. Zudem wird durch die Fremdcharakterisierung, die Georges in seiner Erzählung vornimmt, deutlich, dass der Fuhrmann nicht sein eigener Herr ist, sondern dass er im Dienst eines »gestrengen Herren«, dem Tod, steht. (Min. 15.08 - 15.20) Überdies sei es kein leichtes Amt, welches der
13 Ebd., S. 190. 14 Hauke Lange-Fuchs: Regisseurbiographie: Victor Sjöström. In: Bundesarbeitsgemeinschaft für Jugendfilmarbeit und Medienerziehung e.V. (Hg.): RegisseurBiographien. Bd. 14. Aachen: o.V,. o.J., S. 43-68, hier: S. 60. 15 Evelyn Echle: Danse Macabre im Kino. Die Figur des personifizierten Todes als filmische Allegorie. Stuttgart: ibidem, 2009, S. 90.
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Fuhrmann auszuüben hat, denn er treffe auf Leid und Schmerz. Der Fuhrmann wird in dieser Fremdcharakterisierung menschenähnlich in seinen emotionalen Reaktionen dargestellt. Dennoch wird ihm ein übernatürliches Empfinden zugeschrieben, denn Georges meint: »För honom är en enda dag lika lång som hundrade år på jorden. Natt och dag måste han fara omkring i sin herres ärenden.« (Min. 15.34 - 15.38) Die von Georges erzählte Legende besagt, dass jener, der zuletzt in der Silvesternacht stirbt, ein Jahr lang im Dienst des Todes die Arbeit des Fuhrmannes verrichten muss. Einer Strafe gleich wird diese Arbeit als hart empfunden und übernatürliches Leid damit verknüpft. Doch der Fuhrmann scheint auch übernatürliche Fähigkeiten zu besitzen, denn er kann die Seele des Ertrunkenen aus dem Meer bergen (Min. 19.18 - 19.44) und durch Türen gehen ohne sie zu öffnen. Folglich sieht er nicht nur aus wie ein Geist, sondern besitzt auch die Eigenschaften eines Geistes. So ist der Fuhrmann des Todes ein Wesen, das »den gewöhnlichen Sterblichen unsichtbar bleibt, [der] […] aber auch nicht in die menschlichen Schicksale einzugreifen vermag«16. Der Fuhrmann aus Georges Erzählung sitzt vornüber gebeugt auf dem Schemel seines Wagens. In der Nahaufnahme ist sein Gesicht durch seine gekrümmte Haltung nicht zu sehen, sondern nur die Kapuze, die über den Kopf fällt. (Min. 15.40 - 16.00) In der durch kurze Szenerien illustrierten Nacherzählung der Legende wird der Tod als der Schnitter Tod anonymisiert dargestellt. Die Gestik des Fuhrmannes drückt in der konkreten Konfrontation mit den Toten hingegen persönliche Anteilnahme am Schicksal des anderen aus. Dies wird besonders deutlich in dem Moment, in der der Fuhrmann die Seele des Selbstmörders an sich nimmt. Er bleibt zunächst fassungslos stehen und seufzt tief. (Min. 16.52 - 16.55) Seine betrübte Mimik, sein hängendes Haupt und seine schwerfälligen Bewegungen deuten an, dass er Mitleid empfindet, aber auch selbst unter der Arbeit, die er verrichten muss, leidet. In der Konfrontation mit David Holm nimmt der Fuhrmann die Gestalt von Holms verstorbenem Freund Georges an. Auch er hat auf seiner Fahrt die Kapuze tief im Gesicht und stützt sich, einem gebrechlichen, alten Mann gleich, der sich auf einen Gehstock stützt, auf seine Sense. Auf diese Weise wird dieses brutale Instrument zu einer harmlosen Gehhilfe entschärft und sein Auftreten wirkt eher beschwerlich als bedrohlich.
16 Lange-Fuchs: Regisseurbiographie, S. 60.
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Seiner Wortwahl und seinen Reaktionen auf andere Personen lassen sich ebenfalls menschliche Regungen entnehmen. So sagt der Fuhrmann bei der ersten Zusammenkunft mit dem toten David Holm: »Nej, David, att det är du! Att det är du, som måste avlösa mig!« (Min. 25.48 - 25.53) Persönliche Anteilnahme am Schicksal Holms und auch an dem der anderen Figuren, auf die der Fuhrmann Georges trifft, drücken seine Worte und seine Mimik aus. Echtes Erstaunen liegt in der Wiederholung des emphatischen Ausrufs ›dass du es bist!‹. In seiner Rede benutzt er häufig das Personalpronomen ›du‹, nimmt also meist direkt Bezug auf sein Gegenüber und verringert auch physisch den Abstand. Nach dem ersten Moment der Verblüffung über das unerwartete Wiedersehen, gesellt er sich zu David Holm auf den Asphalt, rückt ihm mit seinem Gesicht beim Sprechen näher und sucht den Augenkontakt. Der Fuhrmann ist eloquent und gewandt in seiner Sprache. Seine Sätze sind grammatikalisch komplex und wortreich. Es ist eine Unterhaltung zwischen zwei Menschen und Georges unnatürliche Erscheinung spielt schon bald keine Rolle mehr im Gespräch. Er beurteilt die Situation Holms, reflektiert das dessen Schicksal und geht darauf ein, indem er versucht sein Gegenüber zur Reflektion und Einsicht zu zwingen. Seine geisterhafte Erscheinung, die mithilfe der Doppelbelichtung über den ganzen Film hinweg seine übernatürliche Immaterialität vor Augen führt, hat jedoch auch die einschüchternde Memento Mori-Funktion, die es braucht, um Holms Fehlgang Einhalt zu gebieten.
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»Die Krankheit kann man zeigen, auch das Töten und die Trauer danach. Der Tod hingegen ist nicht abbildbar, er entzieht sich der Simulation. So wird der Tod im Film gewöhnlich metonymisch oder metaphorisch umschrieben«17, fasst Christiane Peitz die cineastische Auseinandersetzung mit dem Tod zusammen. Auch die Literatur scheint, nach Heinz-Dieter Herbig,
17 Christiane Peitz: Das Kino, ein Schattenreich. Stichworte zu einem Verhältnis besonderer Art. In: Ernst Karpf u. a. (Hg.): Kino und Tod. Zur filmischen Inszenierung von Vergänglichkeit. Marburg: Schüren, 1993, S. 9-16, hier: S. 12.
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den Tod nicht genauer skizzieren zu können, denn er habe »nicht ein einziges Buch über den Tod gefunden, das sich nicht tatsächlich mit Lebenssinn (-zweck oder -ziel) befaßte. Über den Tod, scheint es, läßt sich nichts sagen.«18 Das Auftreten des personifizierten Todes in KÖRKARLEN stellt ebenfalls eine Möglichkeit dar, den Tod metaphorisch abzubilden. Doch liegt in Sjöströms Film der eigentliche Fokus auch auf der Frage nach dem Lebenssinn und nicht auf der Frage nach dem Tod? Was bewirkt die Figur des Todes in dem Film? Die Analyse der Figurenkonstellation erachtet Jens Eder als wichtig.19 Figuren stehen immer in Beziehung zueinander, die jedoch von unterschiedlicher Qualität sein können und insbesondere in Anbetracht des personifizierten Todes ist das Ermessen dieser Beziehungen von Relevanz. Wie begegnen die Figuren dem Tod? Welche Konfliktsituationen löst der Tod bei den Figuren aus und bei welchen Figuren treten keine Konflikte auf? Es lässt sich hier die These aufstellen, dass die Vorstellungen der einzelnen Figuren vom Tod maßgeblich zur Konzeption der Figur des Todes beitragen. 3.1 Der Tod und der Protagonist Die Struktur des Films KÖRKARLEN wird durch das Zusammentreffen zwischen dem Fuhrmann und Holm bestimmt. Der Disput der beiden auf dem Friedhof wird dabei immer wieder durch Rückblenden auf Holms Leben unterbrochen.20 Aber auch in der folgenden Rahmenhandlung bleibt der Fuhrmann, nachdem er Holm erschienen ist, die ganze Zeit als mahnende Personifikation des Memento Mori bei ihm. In seinem Auftreten liegt näm-
18 Heinz-Dieter Herbig: Mythos Tod. Eine Provokation. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1997, S. 7. 19 Vgl. Eder: Die Figur im Film, S. 468-520. 20 Der Film baut sich aus vielen aneinandergereihten Rückblenden auf, die teilweise ineinander übergreifen und immer wieder zur Gegenwart, der Auseinandersetzung des Fuhrmannes mit dem Tod, zurückkehren. Dies kommentiert auch Lange-Fuchs: »Virtuos handhabt Sjöström die Technik der Rückblende, mehr als die Hälfte des Films spielt auf dem Friedhof.« Lange-Fuchs: Regisseurbiographie, S. 60.
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lich nach Freud das Moment des ›Unheimlichen‹, da nun tatsächlich und scheinbar real die Figur auftritt, die Holm durch seine Geschichte bereits angekündigt hatte.21 Die erzählte Legende wird Wirklichkeit, die Holm und der Zuschauer als moralische Instanz realisiert und akzeptiert. Der Zuschauer erfährt viel über Holms Charakter, der maßgeblich zum Erscheinen des Fuhrmannes beiträgt. Bereits in der ersten Sequenz, in der Holm auftritt, wird ein rüpelhafter, Alkohol trinkender und grimmig dreinschauender Müßiggänger präsentiert, der mit seinen Kameraden in einer Silvesternacht trinkend auf dem Friedhof sitzt und im rauen Ton die Legende vom Fuhrmann des Todes erzählt, die er einst von Georges erfuhr. Als es unter dem betrunkenen Trio zum Streit kommt und David Holm niedergeschlagen wird, glauben sowohl seine Kameraden als auch der Zuschauer, dass Holm tot sei. (Min. 22.59 - 23.48) Die soeben erzählte Geschichte wird scheinbare Wirklichkeit, denn Georges erscheint als Fuhrmann des Todes. Er kommt um sein Amt auf Holm zu übertragen, da Holm, wie es die Legende besagt, als letzter in der Silvesternacht gestorben ist. Georges zwingt Holm auf sein Leben zurückzuschauen. Holm muss sich vergegenwärtigen, welch schlechter Mensch er war und auch im vermeintlichen Tode immer noch ist. Mithilfe von Rückblenden wird nun Holms verfehltes Leben gezeigt: Vom glücklichen Familienvater, der er einst war, wendet sich Holm dem Alkohol zu und stürzt seine Familie ins Unglück. Bo Florin weist darauf hin, wie diese Verwandlung im Film sichtbar gemacht wird. In der ersten Rückblende im Film sieht man die junge Familie Holm beim idyllischen Picknick. (Min. 28.55 - 29.08) Holms Frau nimmt die Mitte des Bildes ein, umringt von Holm und dessen Bruder. Dieses Bild wird übergeblendet. Holm und sein Bruder bleiben im Bild bestehen, nun jedoch Alkohol trinkend und Holms Frau wird durch den Trinkkumpan Georges ersetzt. (Min. 29.09 - 29.20) »Denna övertoning […] sammanfattar hela det mellanliggande skeende som förvandlat David Holms idylliska familjelycka till alkoholism och misär«22, so beschreibt Florin diese Verwandlung Holms als symptomatisch für den ganzen Film. Im kleinen Detail deutet Florin, dass »hustrun med maten utbytt mot Geor-
21 Vgl. Freuds Beispiel eines Zwangsneurotikers in: Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: ders.: Psychologische Schriften. Bd. 4. Hg. v. Alexander Mitscherlich. Frankfurt/Main: Fischer, 71970, S. 241-274, hier: S. 262. 22 Florin: Regi, S. 26.
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ges med flaskan, som en metonymi för alkoholismen«23. Auf symbolischer Ebene wird der Beginn Holms sozialen und emotionalen Absturzes angedeutet, denn der gesteigerte Alkoholmissbrauch ist verhängnisvoll. Holms Bruder begeht im Rausch einen Mord, Holm muss dafür eine Nacht ins Gefängnis. In dieser Zeit verlässt ihn seine Frau mit den Kindern und als er, zunächst noch geläutert durch seinen Gefängnisaufenthalt und mit dem frommen Wunsch sich zu bessern nach Hause kommt, steigt seine Wut, als er erkennen muss, dass seine Frau ihn verlassen hat. Hinter seiner groben Fassade steckt ein sensibler Mensch und der Weggang seiner Frau verletzt ihn.24 Er beginnt eine Suche durch das ganze Land, um sich zu rächen und in seiner Wut verhält er sich auch den anderen Menschen gegenüber rau und abweisend. Laut Idestam-Almquist lässt sich deswegen über Holms Charakter sagen, dass »David är stålsatt mot alla ädlare känslor, all värmande påverkan utifrån«25. Deutlich wird dies als er in seiner rastlosen Suche die Station der Heilsarmeeschwester Edit aufsucht, in der er für eine Nacht (Silvester vor einem Jahr des gegenwärtigen erzählten Zeitpunkts) eine Herberge findet. (Min. 39.42 - 49.30) Edit verpflegt ihn und näht in der Nacht die Löcher seines Mantels zu, die er am nächsten Tag jedoch höhnisch lachend wieder zerreißt. Auch als sie im Laufe des Films immer wieder Holm aufsucht und ihm zu helfen versucht, indem sie uneigennützig zwischen ihm und seiner Ehefrau zu vermitteln beginnt. Holm weist Edit jedoch grob ab und steckt sie zudem mit Tuberkulose an. All jene Fehltritte in seinem Leben ziehen an Holm auf dem Friedhof vorbei. Als Georges erscheint, hat er selbst hat die Konsistenz eines Geistes angenommen. Seine Seele ist losgelöst vom toten Körper. Durch diese Isolation und Schutzlosigkeit der Seele wird eine andere Ebene der Realität für Holm eröffnet, der er nicht so unbedacht begegnen kann, wie er es für gewöhnlich handhabt, zumal ihm dieser Zustand Angst bereitet. Diese Angst gründet auch in der Bedeutung des Todes, repräsentiert durch den Fuhrmann Georges, die das Vergegenwärtigen des eigenen Handelns einnimmt. Vor Georges kann er nichts verbergen. Seine Verfehlungen, an denen auch
23 Ebd. 24 Verletzt wird er auch durch die Nachbarinnen, von denen er sich ausgelacht fühlt, als er erkennt, dass seine Frau ihn verlassen hat (Min. 37.30 - 37.50). 25 Hood (Idestam-Almquist): Den svenska filmens drama, S. 195.
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Georges selbst maßgeblich beteiligt war, liegen offen dar. Georges Mitschuld bestätigt dieser nämlich auch selbst: »Tror du inte jag vet, David, att det är min skull, att du har kommit till ett sådant slut som detta?« (Min. 27.03-27.20) Holm wird hier durch seinen Freund suggeriert, dass er selbst nur eine Teilschuld an seinem Übel habe. An dieser Stelle lässt sich eine Aussage Kienings auf KÖRKARLEN transferieren, die er im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zwischen dem Tod und dem Ritter in DET SJUNDE INSEGLET traf. In der Kontroverse zwischen Holm und Georges als Fuhrmann liegt ebenfalls die »Illusion der Auseinandersetzung mit einem Gegner, der letztlich im Selbst wurzelt«26, denn auch der Fuhrmann des Todes ist Holm inhärent. Durch das Geisterartige der Toten, evoziert durch die Doppelbelichtungen, wird eine andere Ebene der Wirklichkeit eröffnet. Die soeben erzählte Geschichte wird zur Vision, nun mit dem ehemaligen Erzähler als mythischen Protagonisten. Dieser Rückschluss, dass der Fuhrmann einer traumähnlichen Phantasie entspringt und Holm nur ohnmächtig statt tot ist, ist auch in der Forschung oftmals vertreten worden und erklärt, weshalb Holm zuletzt seinem Tod entgeht und in sein Leben zurückkehren kann.27 Auf symbolischer Ebene jedoch gibt der Fuhrmann dem geläuterten Holm das Leben wieder und lässt seine Seele in den Körper zurückkehren. In Berücksichtigung von Julia Szantho von Radnoth, die deklariert, dass »[v]iele Menschen […] unabhängig von ihrer Religiosität daran [glauben], dass ihr Leben als Ganzes im Tode noch einmal an ihnen vorbeiziehen wird und sich letztendlich zeigt, ob es ein gutes gewesen ist«28, lässt sich sagen, dass dieser Prozess durch den Fuhrmann auch bei David Holm entfacht wird. Er zwingt jenen, sein Leben zu rekonstruieren und führt ihm vor Au-
26 Christian Kiening: Ingmar Bergman. Das siebente Siegel (1957) und Die Jungfrauenquelle (1960). In: Heinrich Adolf / Christian Kiening (Hg.): Mittelalter im Film. Berlin (u.a.): de Gruyter, 2006, S. 249-281, hier: S. 260. 27 Dies behauptet z.B. auch Lange-Fuchs in Bezug auf den Selbstmordversuch von Holms Frau: »Als die verzweifelte Frau das Glas mit dem Gift an die Lippen setzt, erwacht Holm plötzlich. Er erkennt, daß die entsetzliche Vision nur ein Alptraum war« (Lange-Fuchs: Regisseurbiographie, S. 59). 28 Julia Szantho von Radnoth: Vom Bewusstsein des Todes und dem Umgang damit. Betrachtung anhand einiger Phänomenologen des 20. Jahrhunderts. Marburg: Tectum, 2009, S. 37.
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gen, dass es kein gutes gewesen sei. Er begegnet Holm mit Empathie, aber auch mit Nachdruck in seinen Forderungen. Seine Gestalt ist kein tradiertes Konstrukt, sondern Holm persönlich bekannt. Der Tod erscheint als ein alter Freund, der die Teilschuld an Holms verfehltem Leben übernimmt, aber sich auch als mahnender Hinweis zeigt, wie es mit Holm enden könnte, wenn er sich nicht ändert. Infolgedessen fungiert der imaginierte Fuhrmann Georges als eine Art Jüngstes Gericht und eröffnet Holm sein Urteil: »Du skall förstår, att du ägt det härligaste och har förlorat det! Samvetskvalens och ångerns börda undgår du inte, lika litet som du undgår att överta min syssla som Dödens körkarl under det kommande året.« (Min. 50.23 - 51.20) An dieses Urteil ist Holm wortwörtlich gefesselt, denn als er sich noch zunächst der Situation entziehen will, fordert der Fuhrmann Holm mit einer unmissverständlichen Geste mit der Hand Richtung Wagen auf, sich seinem Schicksal zu ergeben. Jener beginnt handgreiflich gegen den Fuhrmann vorzugehen und Georges sieht sich gezwungen, Holm zu fesseln und in seinen Wagen zu legen. (51.45 - 52.16) Der Fuhrmann stellt eine Autorität dar, der mit sanfter Gewalt sein Ziel erreicht. Holm soll nun zu Edit gehen, der er einst das Versprechen gab, an Silvester wieder in ihrer Station einzukehren und die nun ohne ihn noch einmal zu sehen, nicht zu sterben bereit ist. Zudem führt ihn der Fuhrmann zu seiner Frau, die sich und seine Kinder umbringen will. Holm beginnt zu verstehen, was er seinen Mitmenschen angetan hat. Der personifizierte Tod führt bei Holm nicht zur Auseinandersetzung mit dem Tod, sondern zur Vergegenwärtigung seines Lebens und in ihm kommt der Wunsch auf, sich zu ändern. Bengt Forslund spricht deswegen auch davon, dass der Film KÖRKARLEN »handlar ju först och främst om en omvändelse och en moralisk kamp«29 und Lange-Fuchs fasst KÖRKARLEN mit den Worten »hier wurde eine Geschichte erzählt, ein Menschenschicksal dargestellt«30 zusammen. Es ist die Geschichte von einem einst gutmütigen Mensch, der zum Trinker wird und durch eine scheinbar metaphysische Macht wieder zum ›guten‹ Menschen bekehrt werden kann. Zum Schluss fällt er, wieder ins Leben zurückgekehrt, seiner Frau in die Arme und betet: »Gud, låt min själ få komma till mognad, innan den skall skördas!« (Min. 1.28.56 -
29 Bengt Forslund: Victor Sjöström. Hans liv och verk. Stockholm: Bonnier, 1980, S. 126. 30 Lange-Fuchs: Regisseurbiographie, S. 60.
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1.29.02) Diese Anspielung auf den Schnitter Tod, genauer betrachtet auf den Fuhrmann mit seiner Sense, spiegelt Holms Vorstellung vom Tod, dem er vorerst entgeht. Im Angesicht des Todes wendet er sich an Gott und der einst gottlose Sünder bereut seine Sünden, die ihm letztlich durch die Instanz des Fuhrmanns vergeben werden. Der Kelch geht an ihm vorüber, aber fortan möchte er in seinem Leben an Reife gewinnen. In Bezug auf Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) trifft Gert Mattenklott die Aussage, dass Rilke mit diesem Werk versucht habe zu zeigen, »dass das Ende jedes Menschen seinem Leben ähnelt, weil das individuelle Leben Vorbereitung dieses Endes gewesen ist.«31 Diese Aussage trifft auch auf die Protagonisten in KÖRKARLEN zu. David Holms traumähnlicher Tod führt ihm das Ende vor, das ihm nach seiner unmoralischen Lebensführung gebührt. Sein Leben weist jedoch in dem Moment einen Bruch auf, als er dem Alkohol verfällt. Der vorgeführte Tod bietet ihm, nach Reflektion des schlechten Teils seines Lebens, die Möglichkeit an die gute Zeit anzuknüpfen. Die bereits zitierte Feststellung von Heinz-Dieter Herbig32 wird also auch in KÖRKARLEN bestätigt. Es wird keine Lösung für den Tod gefunden, keine einschlägige Darstellungsweise geliefert, sondern die Figuren setzen sich angesichts des Todes vor allem mit ihrem Leben auseinander. 3.2 Der Tod und die Nebenfiguren Der personifizierte Tod bewirkt in KÖRKARLEN, dass der Protagonist zur Selbstkonfrontation gezwungen wird. Doch auch die Nebenfiguren sehen sich mit dem Tod konfrontiert und es stellt sich die Frage, wie sie ihm begegnen. In KÖRKARLEN ist die Anzahl der relevanten Nebenfiguren gering. Neben dem Protagonisten David Holm und dem Fuhrmann bilden die Heilsarmeeschwester Edit und Holms Frau die relevantesten Nebenfiguren.33
31 Gert Mattenklott: Film und Tod. In: Karpf u. a. (Hg.): Kino und Tod, S. 55. 32 Herbig behauptet kein Buch über den Tod gefunden zu haben, in dem es nicht eigentlich um die Frage nach dem Leben geht. 33 Relevant sind sie insofern, da sie am häufigsten gezeigt werden und ihre Geschichte detailliert in den Rückblenden mit der Geschichte Holms verknüpft wird.
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Das Bestreben ist jedoch weniger, eine Bandbreite von verschiedenen Lebensentwürfen aufzuzeigen, die mit dem Tod konfrontiert werden. Vielmehr wird der Fokus auf ein menschliches Schicksal gelegt, Holms Schicksal, in Verknüpfung mit weiteren menschlichen Schicksalen und den Auswirkungen dessen. Forslund macht darauf aufmerksam, dass die Themen, die im KÖRKARLEN verhandelt werden, in vielen von Sjöströms Filmen vorkommen: »vi har kampen mellan det onda och det goda, vi har skuldproblematiken, vi har det oförskyllda lidandet och den ›gränslösa‹ kärleken, vi har försoningen mellan makar, vi har detta ›att se sig själv‹, att mogna till människa.«34 Dabei nimmt Holm die Rolle des schlechten Menschen ein, der auf die Heilsarmeeschwester Edit trifft, die das Gute in der Welt verkörpert. Zusammen mit dem Fuhrmann tritt Holm in seiner Vision zu ihr ans Bett. Sie kann den Fuhrmann ebenfalls sehen, da sie im Sterben liegt und versucht mit ihm zu verhandeln: »Du ser att jag är inte rädd för dig. Jag vill gärna följa din kallelse, men du måste ge mig uppskov till i morgon, så att jag får raka någon, som jag måste tala till rätta.« (Min. 54.02 - 54.17) Sie hat keine Angst vor dem Tod, einzig und allein David Holm, der sich ihr nicht sofort offenbart, steht in ihrem Interesse. Obwohl sie dem Tode näher steht als die Frau Holms, wirkt letztere todesähnlicher als die anmutige Edit, die im hell erleuchteten Zimmer auf ihr Schicksal wartet. In KÖRKARLEN bildet das Verhältnis von hell und dunkel eine entscheidende Dichotomie zwischen den Figuren. Tytti Soila weist darauf hin, dass allein schon die Figuren, die in der Anfangsszene an Edits Bett herantreten, in schwarz gekleidet sind und sich von Edit, weiß gekleidet in dem weißen Bett liegend, abheben und sie als etwas Besonderes darstellt.35 Soila zufolge kommt dieser Kontrast aber besonders zwischen Holm und Edit zur Geltung: »The image of a darker man – such as the unshaven David with his shabby clothes – together with the shining white
34 Forslund: Victor Sjöström, S. 132. 35 Vgl. Tytti Soila: Desire disavowed in Victor Sjoestroem’s The phantom carriage. In: Ann-Charlotte G. Adams, Terje I. Leiren (Hg.): Stage and screen. Studies in Scandinavian drama and film. Essays in honor of Birgitta Steene. Seattle: Dreamplay Press Northwest, 2000, S. 159-175, hier: S. 171. Sie bezieht sich auf die erste Szene des Films (Min. 1.30 - 4.29).
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woman is a basic configuration to represent heterosexual love in cinema.«36 Soila betont also vor allem die sexuelle Verbindung zwischen den beiden, die durch die kontrastive Ausleuchtung kodiert sei. Weiß, als Farbe der Unschuld, umgibt Edit und hebt sie nicht nur in sexueller Hinsicht von dem rauen Wesen Holms ab. Sie handelt uneigennützig, wie ihre Zusammenführung des Ehepaares Holm, ungeachtet ihrer eigenen Gefühle für Holm, zeigt. Sie ergibt sich klaglos ihrem Tod und sieht auch von Anschuldigungen ab, obwohl Holm sie mit Tuberkulose ansteckte. Sie handelt stets bedacht, empathisch und immer in der Hoffnung, Holm zu einem besseren Menschen bekehren zu können. Als Holm als Geist an ihrem Totenbett erscheint und sie seiner gewahr wird, beginnt sich seine Einstellung ihr gegenüber zu verändern. Die sterbende Edit, die die Liebe und das Gute in der Welt verkörpert, wie Holm nun schmerzlich bewusst wird, lässt ihn innehalten und sein Verhalten ihr gegenüber bereuen. Am Totenbett nähern sich ihre Hände an und umschließen sich. Soila hält diesen Vorgang mit den Worten fest, dass »[s]he, permeated by light, is reaching to grab David’s hand. He, in the guise of a phantom, is on his knees, face lifted to her, and he is transparent, too. They are in harmony with each other.«37 Durch die Hände metaphorisch angedeutet schließen sie im Angesicht des Todes Frieden miteinander. Edit ist bereit zu sterben und der Fuhrmann spricht seine Losung. (Min. 1.17.54 - 1.17.56) Edit wird von ihrem irdischen Leiden erlöst und »übernimmt mit ihrem Sterben die Rolle der Erlöserin. Aus christlich-mythologischer Sicht sind Holm qua dieses Todes auch seine Sünden vergeben.«38 Holm wird daher vom Fuhrmann zu dem letzten wichtigen Menschen gebracht, dem er neben Edit ebenfalls das Leben schwermacht; seiner Frau. Diese treibt er beinahe in den Selbstmord. Als er durch Edit nach seiner langen Suche zu ihr geführt wird, behandelt er sie und die gemeinsamen Kinder schlecht und ihr Leben gleicht einer nicht enden wollenden Qual. Dies spiegelt besonders ihre äußere Erscheinung wider und insbesondere ihre Haltung beschreibt Idestam-Almquist »som ett djur med hängande aparmar. Allt det mänskliga har David vridit ut ur henne med brutala händer, allt det mänskliga har värkt bort. [...] Hon är ingen människan
36 Soila: Desire, S. 172. 37 Ebd., S. 173. 38 Echle: Danse Macabre, S. 87.
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längre. Bara ett djur – en enda instinkt fladdrar i henne: att rädda den egna kroppen och den egna avkommen från fysisk misshandel.«39 Die animalischen Züge, die Idestam-Almquist ihr zuschreibt, lassen sich besonders in einer der ersten Szene des Films erkennen, in der sie an Edits Sterbebett tritt. (Min. 7.50 - 8.35) Über Edit gebeugt, verkrampfen sich ihre Hände zu den Klauen eines Tieres. Doch bevor ihre Hände den Hals im Würgegriff erfassen können, schlingt Edit, die nichts von diesen Anwandlungen mitbekommen hat, die Arme um Frau Holm und unterbricht deren Bewegung. In diesem Zusammenhang zeichnet sich auch deutlich ab, welch wichtige symbolische Tragweite Händen in KÖRKARLEN zukommt. Die Hände werden durch die Kamera fokussiert, wie Frau Holms Hände, die sich zu Klauen verkrampfen oder den Händen Holms und Edits am Totenbett, die sich umschließen und in vielen weiteren Zusammenhängen. Sie visualisieren ihre Beziehungen zueinander. Eine Veränderung in der Beziehung wird auch durch die Gesten mit den Händen angezeigt.40 Die Beziehungen zwischen den Figuren werden nun angesichts des Todes neu definiert. Durch ihre zu Klauen verkrampften Hände zeichnet sich die Verzweiflung Frau Holms ab und spiegelt ihr Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen wider, mit denen sie sich kaum noch traut in Interaktion zu treten. Isoliert und dem Tode in ihrer Erscheinung ähnlicher als die Geister, von dessen Existenz sie nichts weiß, will sie ihrem Leben und dem ihrer Kinder, ein Ende bereiten. Damit unterscheidet sie sich von Holm, der nicht glauben will, dass seine Zeit gekommen ist, als ihm der Fuhrmann erscheint. Als der Fuhrmann mit Holm bei ihr eintritt, um ihm den bevorstehenden Freitod seiner Frau vor Augen zu führen, nimmt sie die Geister nicht wahr.41 Zwei verschiedene Ebenen des Todes treffen aufeinander, der imaginierte, symbolische und der unmittelbar bevorstehende, reale Tod. In der Zusammenführung von beidem wird in Holm wiederum, wie in der Zu-
39 Hood (Idestam-Almquist): Den svenska filmens drama, S. 191. 40 So erfolgt, bevor sich die Hände Edits und Holms am Totenbett umschließen, eine Rückblende, in der gezeigt wird, wie Edit Holms Arm umfasst. Er erwidert diese Berührung jedoch nicht und zeigt somit die Ablehnung dieser sozialen Beziehung an (Min. 1.03.56 - 1.04.18). 41 Frau Holm will sich und ihre Kinder vergiften, indem sie ein unbestimmbares Pulver ins Teewasser schüttet (Min. 1.20.30 - 1.24.32).
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sammenkunft mit Edit, das Bedürfnis geweckt, unbedingt zu handeln und dem Selbstmord Einhalt zu gebieten. 3.3 Die symbolische Kodierung des Todes in der Gestaltung des fiktiven Raums Nach Eder lässt sich argumentieren, dass »[d]ie Gestaltung der fiktiven Welt […] durch Atmosphäre, Raumstrukturen, Landschafts- und Dingsymbole die Bedeutung der Figuren [unterstützt]«42. In KÖRKARLEN werden die Figuren mit dem Tod konfrontiert. Diese Thematik spiegelt sich auch in der Gestaltung der Welt wider, in der die Figuren agieren, denn sie dient der Untermalung der Konfrontation der Figuren mit dem Tod. Zur Darstellung des Todes kommt somit eine weitere Ebene hinzu: in der Gestaltung der fiktiven Welt ist der Tod im Film symbolisch kodiert. Der personifizierte Tod bildet dabei das plakativste Symbol des Todes, das im Film auftritt und das eigentlich Unvorstellbare verbildlicht. Doch auch durch andere gestalterische Mittel ist eine Art Todessymbolik chiffriert und verdichtet somit das Bild der Darstellung, das hier dekodiert werden soll. In KÖRKARLEN ist die Zeit ein wichtiges Mittel der symbolischen Kodierung des Todes in der Gestaltung des fiktiven Raums. Die verronnene Lebenszeit wird durch eine Uhr visualisiert. Als Holm von seinen Kameraden auf dem Friedhof bewusstlos geschlagen wird, rücken die Zeiger der Kirchturmuhr auf zwölf. (Min. 23.40 - 23.52) Jene Uhr wird auch schon während Holm erzählt zunehmend in Nahaufnahmen eingeblendet und somit die Zeit wie in einem Countdown fokussiert. James Monacos Schema zur Dekodierung der Filmsprache lässt sich entnehmen, dass die Uhr als ein technisches Index der Zeit zu werten ist.43 Holms Lebenszeit wird durch sie symbolisch als abgelaufen angekündigt, gleichsam beginnt aber auch die Geisterstunde und überdies das neue Jahr. Diese drei Faktoren bedingen, dass Holms Vision des eigenen Todes und die Erscheinung des Fuhrmannes möglich wird. Die irdische Zeit des Menschen ist knapp bemessen und durch diesen symbolischen Indikator chiffriert. Die Uhr signalisiert die ei-
42 Eder: Die Figur im Film, S. 525. 43 Monaco zitiert hier Peter Wollen, der sich wiederum an C.S. Peirce orientiert (vgl. James Monaco: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien. Hamburg: Rowohlt, 200810, S.165).
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gene Zeitlichkeit und provoziert das Zurückgehen in der Zeit des Protagonisten. In diesem Moment bündelt sich nur ein Mal mehr das »Motiv des Wettlaufs mit der Zeit […][, das] sich im weiteren Verlauf zu einer grundlegenden Struktur der Narration«44 des Films herausstellt. Auch die Schauplätze in KÖRKARLEN erinnern an den Tod. Schon die erste Szene zeigt Edit in ihrem Sterbebett in einem Zimmer. Diese Szene wird auf den Friedhof übergeblendet, vor dem David Holm mit seinen Trinkgefährten weilt. Sowohl geschlossene als auch offene Räume fungieren als symbolischen Hinweis auf die Todesthematik. Insbesondere der Friedhof, ein Ort des Übergangs zwischen Leben und Tod, ist symbolisch aufgeladen und bietet die ideale Kulisse für die Geistererscheinung. Zudem dient der Friedhof als Begegnungsstätte zwischen den Toten und den Lebenden. Der Tote, der Fuhrmann des Todes, erwacht zum Leben und der Lebende, David Holm, erreicht die Ebene der Toten. Der Raum eröffnet ihm eine andere Ebene der Wirklichkeit, in der er sich spiegeln kann. Zudem ist KÖRKARLEN mit Todesymbolen durchsetzt, die von der Kamera fixiert werden. Diese Bilder beschreibt Idestam-Almquist als »djärva närbilder av döda föremål – ex. revolvern«45. Der genannte Revolver ist in der Episode zu sehen, in der Georges, noch als einer der Lebenden, die Legende vom Fuhrmann erzählt. Zu sehen ist, während er die Geschichte erzählt, ein vor einem Schreibtisch sitzender Mann. Er öffnet die Schreibtischschublade und nimmt einen Revolver heraus, der durch eine Nahaufnahme fokussiert wird. In diesem Moment blendet die Kamera auf den Fuhrmann über, der das Haus des Mannes erreicht. Als er das Zimmer betritt, liegt der Mann bereits tot am Boden. (Min. 16.10 - 17.22) Der Revolver impliziert somit metonymisch den Selbstmord des verzweifelten Mannes, dessen Ausübung, anders als in späteren Horrorfilmen, der Zuschauer nicht zu sehen bekommt. Durch kleine Details wie diesem Revolver, der als einziger Hinweis für die Todesursache dient, wird die Todessymbolik im Film verdichtet. 3.4 Der Tod im situativen und religiösen Kontext In KÖRKARLEN wird dem Protagonisten das eigene Ende einschließlich des individuellen Jüngsten Gerichts vorgespielt. Aufgenommen zu Beginn der
44 Echle: Danse Macabre, S. 80. 45 Hood (Idestam-Almquist): Den svenska filmens drama, S. 196.
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zwanziger Jahre in Schweden, greift Sjöström in seinem Film die Probleme des Bürgertums auf. Als ein großes Debakel greift er den zunehmenden Alkoholismus und seine Folgen heraus, der im Film meist metonymisch durch Bierflaschen angedeutet wird. Sjöström bezeichnet seinen Film selbst als ein ›nykterhetspredikan‹46 und auch in der Rezeption des Films seiner Zeit wird das Moment des Alkohols besonders fokussiert: »Många upplevde den här filmen som en ren väckelsepredikan och det var inte bara i Sverige som filmen togs i nykterhetsarbetets tjänst.«47 Exemplarisch werden an Holm die Folgen des Alkoholismus gezeigt, die ihn zum unmoralischen Menschen haben werden lassen. Vermehrt wird Holms Reaktion auf seine Mitmenschen gezeigt, bei der sich sein durch den Alkohol langsam verrohendes Gemüt entpuppt. Fast jedes Zusammentreffen Holms mit anderen Menschen endet in Ausbrüchen der Gewalt, die er entfacht. Der alkoholisierte Holm wird als Unmensch gezeigt und die aufkommende Unmoral der Menschen durch massiven Alkoholgenuss an ihm visualisiert, der ihn aus der Gesellschaft ausgrenzt. Deswegen hat Holms Alkoholismus auch zur Folge, dass das Leben, das er und seine Frau führen, nicht mehr den Normen des Bürgertums entspricht und Frau Holm sich zur Maskierung gezwungen sieht. Idestam-Almquist folgert aus ihrem Verhalten, dass sie »ville hålla skenet uppe. Hennes borgerliga uppfostran och borgerliga stolthet att inför världen dölja ett misslyckande, fram står även i försöket att bevara klädseln proper och snygg«48. Das ist ihr jedoch durch die zunehmenden Persönlichkeitsveränderungen ihres Mannes kaum noch möglich. Sie wird zum Opfer des Alkoholismus, aber auch Holm und seine Kameraden selber werden zu Opfern ihrer Taten. Holms Bruder begeht im Rausch einen Totschlag und in Holms Vision müssen er und Georges im Tod für ihre Taten, die auf den Alkoholmissbrauch zurückzuführen sind, büßen. Alkohol wird demnach deutlich mit tödlichen Folgen verknüpft. Die Menschen, die ihm im Leben begegnen, schaffen es nicht, ihn zur Umkehr zu bewegen. Die Polizisten als Teil der öffentlichen Ordnung, die seinen Bruder und ihn in Gewahrsam nehmen (Min. 30.25 - 34.45), lassen ihn innehalten, doch bekehren sie ihn nicht endgültig. Edit versucht ebenfalls, diese Läuterung zu bewirken. Weniger in ihrer Funktion als Heilsar-
46 Vgl. Victor Sjöströms Aussage in: Forslund: Victor Sjöström, S. 127. 47 Ebd., S. 133. 48 Hood (Idestam-Almquist): Den svenska filmens drama, S. 191.
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meeschwester, sondern viel mehr aus persönlichem Interesse folgt sie Holm. Dabei steckt sie sich bei ihm mit Tuberkulose an, einer Krankheit, die sich zu Lebzeiten Lagerlöfs stark verbreitete und oft tödlich verlief. So hat auch die Tuberkulose in KÖRKARLEN eine symbolische Bedeutung. Soila bewertet die Übertragung der Tuberkulose von Holm auf Edit als eine bildliche Übertragung der Liebe, denn »by being smitten with the disease, she is smitten by love«49. Somit entsteht die Assoziation, dass in KÖRKARLEN anhand von Edit verdeutlicht wird, dass »love [is] depicted as disease«50. Die Liebe zu Holm geht mit etwas Tödlichem einher und symbolisiert die Unzugänglichkeit Holms. Doch diese Unzugänglichkeit wird unterbrochen, denn in KÖRKARLEN wird in leichter Variation die Geschichte des verlorenen Sohnes aus dem Lukasevangelium erzählt. Der in die Irre geleitete Sohn kehrt hier nicht zum Vater zurück, sondern wird von seinem Freund in einer Erscheinung auf den richtigen Weg geleitet und der fromme Wunsch: »Gud, låt min själ få komma till mognad, innan den skall skördas« besiegelt die Läuterung Holms.
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AUSBLICK
Im Gegensatz zum typischen skandinavischen Film, wie er in den 20er Jahren entstand, weist Sjöströms Film nur wenige Landschaftsaufnahmen auf. Sein Film fokussiert hingegen die auf wenige Figuren konzentrierte Figurenkonstellation und den Prozess der moralischen Läuterung des David Holm. KÖRKARLEN lässt sich daher als ein allegorischer Kunstfilm klassifizieren, der gänzlich auf die Affektpoetik späterer Horrorfilme verzichtet. Interessant wäre es nun herauszufinden, ob und inwiefern die späteren skandinavischen Horrorfilme die Ästhetik, Motive oder Techniken aus Sjöströms Film übernommen haben. Lassen sich Parallelen von klassischen Horrorfilmen zu dem frühen Stummfilm, der mit phantastischen Elementen gespickt ist, ziehen?
49 Soila: Desire, S. 167. 50 Ebd., S. 168.
Der ewige Schlaf Über VAMPYR von Carl Theodor Dreyer M ARCUS S TIGLEGGER Es ist die Nähe des Numinosen, des göttlichen Leidens, des Todes, des Wunders, die in Dreyers Filmen die Realität fremd erscheinen lässt, die seinen Realismus charakterisiert. ULRICH GREGOR / ENNO PATALAS: Geschichte des Films
I. Für das Œuvre des dänischen Filmkünstlers Carl Theodor Dreyer stellt der Horrorfilm VAMPYR – DER TRAUM DES ALLAN GRAY (1931) eher ein Ausnahmewerk dar: Er ist näher als seine anderen Filme am Konzept des Genrefilms, selbst wenn sich Dreyer bereits in BLADE AF SATANS BOK / BLÄTTER AUS DEM BUCHE SATANS (1920) mit dem Horrorgenre auseinandergesetzt hatte. Dreyers (*1889) Karriere umfasst die unterschiedlichsten Tätigkeiten, die ihn erst allmählich zum Film brachten: Kaffeehauspianist, Buchhalter, Ballonflieger und schließlich Journalist. 1912 hatte er bereits seine eigene Kolumne und begann nebenbei Zwischentitel für Stummfilme zu verfassen. Über diesen Umweg kam er in die Filmproduktion, die ihm 1919 sein Regiedebüt mit dem konventionellen Melodram THE PRESIDENT ermöglichte. BLADE AF SATANS BOK, zwei Jahre später entstanden, kleidete
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eine moralische Fabel in das Gewand eines episodisch erzählten Horrorszenarios. Eine dieser Episoden spielte in der spanischen Inquisition und nahm wesentliche Momente aus seinen späteren Inquisitionsdramen LA PASSION DE JEANNE D’ARC / DIE PASSION DER JEANNE D’ARC (1928) und VREDENS DAG / TAG DER RACHE (1943) vorweg. Zwei Aspekte führten dazu, dass Dreyer seine künftigen Filme nicht in Dänemark drehen konnte: der desolate Zustand der dortigen Filmwirtschaft sowie sein permanenter Konflikt mit den Produzenten und Finanziers, die seine fanatische Sorge um kleinste Details der Inszenierung kaum teilen mochten. Seine folgenden Filme zeigten ein deutliches Interesse an der Psychologie und der Struktur des menschlichen Unterbewusstseins, vor allem in MIKAEL / MICHAEL (1924), in dem es um die als tragisch empfundene Homosexualität eines jungen Mannes geht. Den künstlerischen Durchbruch erreichte Dreyer mit LA PASSION DE JEANNE D’ARC, in dem er einen radikal reduzierten visuellen Stil kreierte, der primär auf den Einsatz von Nahaufnahmen baute. In intensiven Beobachtungen der Gesichter ließ Dreyer das persönliche Drama der letzten Tage Jeanne d’Arcs (Renée Falconetti) vor ihrer Hinrichtung sich abzeichnen. Trotz des enormen Kritikererfolges fand der Film jedoch keinen Zuspruch beim Publikum und erschwerte es Dreyer zunehmend, Geld für ein folgendes Projekt aufzutreiben. Erst vier Jahre später konnte mit der Hilfe eines dänischen Barons den Horrorfilm VAMPYR finanzieren, der jedoch weder bei der Kritik noch beim Publikum ankam. Die deutlichen Horrorelemente führten zudem dazu, dass der Film meist nur in einer stark zensierten und gekürzten Version zu sehen war, die seine ohnehin fragmentierte Dramaturgie völlig unverständlich machte. Es sollte zehn Jahre dauern, bis Dreyer mit VREDENS DAG, einem historischen Drama über die Hexenverfolgung, an seine Regiekarriere anschließen konnte. Dieser Film und seine späten Werke ORDET / DAS WORT (1955) und GERTRUD / GERTRUD (1964) etablierten ihn endgültig als den bedeutendsten dänischen Filmemacher, bis er 1968 starb.
II. VAMPYR ist ein Traumspiel über den ewigen Schlaf: Allan Gray (Julian West) ist ein Träumer. Wie weit dieses Charakterisierung gehen mag, wird sich erst später zeigen. Doch es ist die Welt eines Traumes, eines Alptrau-
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mes, die wir mit Carl Theodor Dreyer in VAMPYR – DER TRAUM DES ALGRAY betreten. Gray wird uns als ein ›Student des Okkulten‹ vorgestellt. Er liest Texte über Devil worship and vampire terror und durchstreift in langen, ziellosen Wanderungen die Landschaft. Eine dieser Wanderungen führt ihn in das Dorf Courtempierre, einen düsteren, zwischenweltlichen Ort, an dem die Grenzen zwischen Traum und Realität durchlässig erscheinen. Bei seiner Ankunft sieht er einen Mann mit Hut und geschulterter Sense, der eine freihängende Totenglocke läutet. Eine Fähre legt vom Ufer ab. Der junge Mann nimmt sich ein Zimmer im Hotel am Ort, in dessen Zimmer ein Bild mit Todesikonographie hängt. Gray hört merkwürdige Stimmen, denen er folgt. Doch seine Neugier wird durch das grauenvoll entstellte Antlitz eines weiteren Gastes bestraft. Eine latente Angst bemächtigt sich des Protagonisten bei Nacht. Wir sehen ihn sich unruhig im Schlaf hin- und herwälzen. Deutlicher noch als zuvor gleiten wir mit Gray hinüber in ein alptraumgleiches Zwischenreich, das uns in dunstig verschleierten Einstellungen vorgeführt wird: Es klopft an der Zimmertür, die sich automatisch öffnet. Ein bislang unbekannter alter Mann (Maurice Schutz) tritt an sein Bett. Gray ist verstört. ›Sie‹ dürfe nicht sterben, heißt es ominös. Gray erhält einen Umschlag mit der Aufschrift: »Zu öffnen nach meinem Tod.« Sein Helferinstinkt ist geweckt, wo eine Seele in Not scheint. Es folgt eine weitere Wanderung: Eindrücke mysteriöser Schatten und Rückwärtsbewegungen verlocken Gray. Bei einer verfallenen Mühle scheint sich einer der Schatten zu einem einbeinigen Gendarmen zu gesellen. Innerhalb des Gebäudes vergnügen sich die Dorfbewohner bei Tanz und Musik – auch sie nur sichtbar als Schatten an der Wand. Eine unheimliche alte Frau (Henriette Gérard) taucht auf und gebietet mit dem Ausruf »Ruhe!« Tänzer und Musik erstarren und verstummen. Von unbändiger Neugier getrieben klettert Gray durch eine Dachluke und betritt eine verfallene Bibliothek voller menschlicher Knochen. Ein alter Mann mit Schnurrbart (Jan Hieromenko) – später nachempfunden in der Figur des Professors aus Roman Polankis THE FEARLESS VAMPIRE KILLERS / TANZ DER VAMPIRE (1967) – taucht auf. Gray hört scheinbar ein Kind schreien und Hunde bellen, doch der Alte erwidert: »Es ist kein Kind, nein.« – »Aber...die Hunde...« – »Weder Kinder noch Hunde,« ist die sture Erwiderung. Wieder öffnet sich eine Tür. Ein alter Priester kommt hinzu, bringt ein Fläschchen mit einem Totenkopfetikett mit.
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An diesem Punkt hat Dreyers einziger Horrorfilm VAMPYR die Ebene der nachvollziehbaren, logischen Handlungsabfolge endgültig verlassen. Anstelle einer stringenten Spannungsdramaturgie entfaltet der Film mittels diffus-undurchschaubarer Atmosphäre ein unheimliches Traumspiel, in dem sich die Ereignisse eher assoziativ ergänzen. Es nie wird klar, in wie weit wir hier Grays subjektives Erleben vorgeführt bekommen oder ganz objektiv seine Reise durch eine Welt der »grauen Menschen der Ungewissheit«1, wie Gilles Deleuze sie nennt, bezeugen. Auf diese ›aufgelöste Materialität‹ bezieht sich auch die Perspektive des Filmjournalisten Michael Grant auf VAMPYR: »Vampyr exists as a movement by means of which whatever is imagined is abolished; and yet whatever is abolished is sustained, since the being of the thing is taken up into the being of the image. The world of the film in peopled by beings who are at once present and yet somehow shadowy, almost inhuman, monstrous. It is a world in which death may be said to have doubled the impulse to life.«2
Ein Schatten scheint Gray zu einem Schloss zu locken, in dem dessen Besitzer mit seinen beiden Töchtern und Dienern residiert. Es ist der alte Mann aus Grays Traum. Eine der Töchter, Léone (Sybille Schmitz), ist todkrank. Daniederliegend seufzt sie nach »Blut!«. Von außen durch das Fenster beobachtet Gray die Erschießung des Schlossbesitzers durch einen Schatten. Die Prophezeiung aus dem nächtlichen Traum tritt ein. Die Dienerschaft strömt um den Sterbenden zusammen. Dieser übergibt seiner noch gesunden Tochter Gisèle (Renée Mandel) ein Medaillon und stirbt. Gray wird bemerkt und ins Haus geladen. Er beschließt, dem kranken Mädchen zu helfen und den Mord der Polizei zu melden. In dem Pakt des alten Mannes findet sich ein Buch namens The History of Vampires von Paul Bonnard, worin Gray umgehend liest: »Bei Vollmond saugen die Übeltäter Blut von Kindern und Jugendlichen, um ihr eigenes Schattenda-
1
Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1989,
2
Michael Grant: The ›Real‹ and the abomination of hell. Carl Theodor Dreyer’s
S. 159. VAMPYR (1931) and Lucio Fulci’s E TU VIVRAI NEL TERRORE – L’ALDILÀ (THE BEYOND, 1981). In: Kinoeye. New perspectives on European film, 29.4.2004, S. 3 (http://www. kinoeye.org/03/02/grant02.php).
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sein zu verlängern.« Da Ärzte dem kranken, blutarmen Mädchen nicht helfen können, und auch dessen Wunden davon zeugen, liegt für Gray nah, dass sie das Opfer eines Vampirs sein könnte. Wir sehen die hässliche Vampirin, die zuvor bereits als unheimlich alte Frau eingeführt wurde, über ihrem reglosen Opfer kauern. »Vampirismus wird auf die Opfer übertragen,« liest Gray in seinem Buch. Das Vampiropfer (Sybille Schmitz) leidet an ihrem Todeswunsch: »Ich bin verloren, verdammt...« Ihr beginnender Vampirismus deutet sich bereits an, als sie für Momente mit einem gierigen Blick die eigene Schwester Gisèle fixiert. Die Anwesenden verharren wie in Trance. Wieder glaubt Gray einen Schrei zu vernehmen. Er und die Diener (Albert Bras und N. Babanini) entdecken erneut Blutspuren und eine zurückgelassene Mütze. Es erfolgt ein weiterer Verweis auf Grays neuerworbenes Buch: Darin ist zu lesen, dass Schatten und Teufelspaktierer als Handlanger des Vampirs zu gelten haben. Dieser strategisch platzierte Hinweis scheint eine großangelegte, teuflische Verschwörung nahe zu legen, in die Gray verwickelt wurde: der Schatten, der ihm den Weg wies, die mysteriösen Vorgänge, die unheimliche Alte und die knochenbestückte Bibliothek. Alles deutet auf einen grausamen Plan hin, in dem Gray die Funktion einer Mittlers oder Werkzeug zugewiesen scheint. – Unvermittelt kommt der alte Arzt an. Gray ist misstrauisch. Er begleitet den Arzt an das Bett der kranken Léone, deren Puls immer schwächer wird. »Könnte man sie nicht retten?« »Vielleicht,« sagt der Arzt, »aber sie braucht Blut.« Ob er sein Blut zu Verfügung stelle... In einem Aderlass bekommt das Mädchen Blut zugeführt. Erschöpft schläft Gray neben dem Bett ein. Wieder sehen wir Ausschnitte aus dem Vampirismus-Buch: Das Opfer des Vampirs solle in den Selbstmord getrieben werden; Vampire müssten gewaltsam sterben, bevor sie ihre neue Existenz antreten. Mit einem letzten Hinweis wird der Bezug zur vorliegenden Handlung konkret: die Verbrecherin Marguerite Chopin wurde in Courtempierre einst gepfählt und begraben. Eine Verbindung zwischen dieser Exekutierten und der mysteriösen alten Frau deutet sich an. Unterdessen will sich das infizierte Mädchen tatsächlich das Leben nehmen. Ihre Hand streckt sich nach der vom Doktor gebrachten Giftflasche aus. Der Arzt und die Schatten flüchten aus dem Haus. »Ich bin verdammt!« ruft Léone aus.
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Allan Gray lässt sich im Wald nieder. Wieder betreten wir die Welt seiner Träume. Er scheint sich zu doppeln, tritt bildlich aus sich selbst heraus. Als Doppelgänger sieht er einen Sarg, der ihn selbst beherbergt. Daneben ist Gisèle als Opfer in spe gefesselt. Der Gendarm und der Arzt schließen den Sarg mit einem Deckel, in den ein kleines Fenster auf Kopfhöhe eingelassen ist. Wir sehen Grays Beerdigungsprozession aus dessen eigener Sicht. Unvermittelt beugt sich die Vampirin ins Blickfeld und scheint zu triumphieren. In assoziativer Verbindung sehen wir, wie Gray das Grab der Marguerite Chopin öffnet und ihre Leiche pfählt, um das Böse zu bannen. Während die Vampirin zum Skelett zerfällt, erwacht ihr Opfer Léone mit glücklichem Blick. Der Arzt und der Gendarm erschrecken vor einem Gewitter, was zum Tod des letzteren führt, der unglücklich stürzt. Wieder sehen wird die gefesselte Gisèle, doch diesmal wird sie von Gray gerettet. Der Arzt flüchtet in eine Getreidemühle und erstickt im auf ihn einstürzenden Mehlstaub. Gray und das überlebende Mädchen fliehen auf einem Boot im Morgennebel, während der Arzt verzweifelt seine Hände um ein Gitter krallt. Mit dem Tod des Bösen erleben wir die Ankunft des überlebenden Paares im Licht. Der (Alp)Traum kennt ein Erwachen.
III. In seiner tiefgehenden Analyse von Carl Theodor Dreyers Stil3 tut sich Autor Paul Schrader gerade mit VAMPYR etwas schwer. Im Gegensatz zu den ›Kammerspielen‹, die Dreyer sonst inszenierte, dominiert hier der veräußerlichende Gestus des Expressionismus’: »Both the subject matter (vampires, afterlife) and the techniques (chiaroscuro, exaggerated gesture, nonrealistic sets, rampant fantasy sequences) of VAMPYR exhibit a confident appreciation of the strengths of expressionism and a calculated use of its methods. David [sic!] Gray, the ›protagonist‹ of VAMPYR, is not a Kammerspiel actor whose interior feelings have to be ›pushed out.‹ His feelings are already externalized: he wears them quite literally on his sleeve, or his staircase, or his coffin. His
3
Paul Schrader: Transcendental Style in Film. Berkeley: DaCapo Press, 1972, S. 109ff.
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style is not one of nuance, but of exaggeration; he is not an individual personality, but the fluid, human component of a distorted, expressionist universe.«
Für Schrader ist dieser Film ein Paradebeispiel für den (deutschen) Expressionismus: »Gray’s vampire world is rife with familiar expressionist visual fetishes: an obsession with darkened staircases, arching doorways, and vanishing corridors.«4 Denkt man Schraders Argumentation weiter, ist ein wichtiges visuelles Motiv in VAMPYR die Inszenierung von Schatten, insbesondere solcher, die verselbstständigt und vom Körper losgelöst erscheinen. In einer berühmten Sequenz sehen wir, wie der Schatten gleichsam als Geist einen Polizisten verlässt, um dem Ruf der Vampirin zu folgen. Später kehrt er zurück, verschmilzt wieder mit seinem Eigentümer, der sich daraufhin erhebt und nun mit dem Schatten den Schauplatz verlässt. In einer weiteren Sequenz sehen wir die festliche Ausgelassenheit der dörflichen Bauern. Wir hören eine Fiedelmelodie, zu der die Kamera an der weißen Wand entlang fährt: wieder sind es nur die Schatten der Tanzenden, deren wir gewahr werden. Die feiernden Bauern werden reduziert auf Schemen und Geister. Die Musik entwickelt sich zu einem dissonanten Crescendo und wir werden von dem Kamerablick in einen dunklen Keller geleitet, in dem die alte Vampirin ganz alleine steht, isoliert im Vakuum ihrer übernatürlichen Macht. Sie erhebt ihre Arme und befiehlt Ruhe – was augenblicklich eintritt. Die Musik verstummt, ein rotierendes Rad an der Decke steht unvermittelt still. Die alte Frau hat ihrem Neid auf die feiernde Jugend Luft gemacht. Sie hat das Leben erstarren lassen. Mehr zeigt uns der Film nicht als jene pars-prototo-Elemente: das anhaltende Rad, die verstummende Musik, beides verdeutlich zur Genüge, dass die Macht der Vampirin Wirkung gezeitigt hat. Diese fragmentarische Inszenierung ist typisch für Dreyers minimalistische, und doch – man möchte es fast so nennen – expressionistische Reduktionskunst. Die spärlichen Bilder, durch die wir das Geschehen vermittelt bekommen sollen, sind aller mäandernden Details entkleidet, konzentrieren sich ganz auf elementare Schatten, kontrastive Tableaus und extrem langsame, fast rituelle Bewegungsabläufe. Selbst scheinbar nebensächlichen Ereignissen und Personen kommt in dieser reduzierten Welt äußerste Bedeutung zu: bellende Hunde, Geräusche weinender Kinder, religiöse Ge-
4
Ebd., S. 117.
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mälde, ein Gaststättenschild, das sanft im Wind schaukelt – und die emblematischste Einstellung des Films: ein Dorfbewohner mit geschulterter Sense, der die Totenglocke läutet. Das Zusammenspiel dieser unheilschwangeren Objekte kreiert eine apokalyptische Atmosphäre, die kaum durch konventionelle Narration oder ausführliche Dialoge gestört wird. Tatsächlich wird über lange Strecken kaum deutlich, dass es sich bei VAMPYR um einen Tonfilm handelt – so dezent vernehmen wir die deutschsprachigen Repliken, die sich meist auf den Austausch des Grundsätzlichen beschränken. Wenn sich David Gray nach den weinenden Kindern erkundigt (die ohne weiteres Opfer der Vampirin sein könnten – man denke an Bram Stokers Roman Dracula), wird dieses Geräusch schlicht bestritten. Dreyer scheint Ton und Dialog grundlegend zu misstrauen. Dabei könnte die Sprache ordnenden Charakter in die mysteriösen Geschehnisse bringen. Der amerikanische Filmwissenschaftler Michael Grant bezieht diese Reduktion des Tons auf Jacques Lacans Begriff des »Realen« in Bezug auf Hegels Konzept des Wortes als »Mörder des Dinges«: »The idea is that the use of language emerges against the background of an essential abyss of non-meaning, of the empty nothingness that is organic life. When we begin – as human subjects – to use language and reach towards self-consciousness, we negate this nothingness. We do so by entering into a pre-existing structure of language, that is inorganic and external.«5
Dieses grundlegende ›Nichts‹ der organischen Existenz wird als Abgrund (›abyssos‹) empfunden, als Konfrontation mit dem Alptraum absoluter Bedeutungslosigkeit. »This abyss of nothingness is what Lacan calls ›the Real‹. It is a traumatic core at the heart of human society and culture and is always threatening to return. Its return will disrupt the inert structure of human Civilisation and meaning that its concealment serves to make possible.«6
5
Grant: The ›Real‹ and the abomination of hell, S.5.
6
Ebd., S.6
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VAMPYR als ein performativer Film7 rein repräsentativer Gegenwart, ein Werk absolut reduzierter Dramaturgie und Dialogkunst, kann diesen ›Abgrund des Realen’ möglicherweise spürbar machen. Das ›Unheimliche‹, ›Irreale‹ würde genau aus dieser Ahnung des ›Nichts‹ entstehen, von dem der Film einen vagen Eindruck erschafft. In der Tat erscheint der Film in seiner Fragmenthaftigkeit einen Diskurs über das ›Reale‹ zu eröffnen, das Werk selbst in einer Zwischenwelt situiert – jener durchlässigen Welt des Alptraums, der den ›Abgrund‹ ahnt, aber nicht direkt hineinblickt. Um den Film ganz in einer Art Zwischenreich anzusiedeln, ließ Dreyer seinen Kameramann Rudolf Maté stets in Morgen- bzw. Abenddämmerung drehen – den Übergangszeiten des Tages selbst. Dazu kam ein Entwicklungsfehler bei den ersten Mustern, der das Bildmaterial trüb und extrem körnig erscheinen ließ. Dreyer entschied sich daraufhin, den gesamten Film auf diese Weise vorsätzlich zu ›schädigen‹ und erschuf unnachahmliche Traumarrangements, Bilder von verstörender und unheimlicher Textur. Auch das Finale, der Tod des bösen Arztes in einer Kaskade von blütenweißem Mehlstaub, das sich über ihm ergießt, trägt zur traumgleichen Atmosphäre bei. William K. Everson verweist in diesem Zusammenhang darauf, Dreyer habe zunächst geplant, den Arzt in schwarzem Schlamm ertrinken zu lassen, doch gerade die visuell ›lichte Reinheit‹ des Mehls – das so gar nicht todbringend wirkt – ergänzt sich mit dem Ambivalenzkonzept des Films. Zu dieser Stilistik kommt eine ungewöhnliche durchdachte Kameraführung, die den Eindruck bestätigt, in der vorgeführten Welt habe alles – selbst die Schatten – ein Eigenleben: Wir sehen, wie der Protagonist auf einen alten Dachboden klettert. Es wird in die Subjektive von David Gray geschnitten, mit dessen Blick wir nun den Raum kreisförmig erkunden – wir identifizieren uns also notwendigerweise mit ihm. Als die Kamera nach ihrem Kreisschwenk jedoch wieder am Ausgangspunkt angelangt, verlässt Gray gerade den Schauplatz: Innerhalb einer Einstellung wechselte also unbemerkt die Perspektive, führte uns von der Subjektiven in die Objekte, woraus wiederum der unbehagliche Eindruck einer Persönlichkeitsspaltung entsteht.
7
Marcus Stiglegger: Die Seduktionstheorie des Films. In: Marcus S. Kleiner / Michael Rappe (Hgg.): Methoden der Populärkulturforschung, Münster: Lit, 2012, S. 85-114, v.a. S. 90-95.
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IV. Offiziell basiert Dreyers Film auf Sheridan Le Fanus homoerotischem Vampirroman Carmilla, doch das Konzept des Films entfernt sich denkbar weit von Le Fanus eher seduktiv angelegter Geschichte: die Vampirin bei Dreyer ist eine gealterte und hässliche Figur, nicht an der historischen ›Blutgräfin‹ Elisabeth Bathory orientiert, sondern eher an volkstümlichen Hexenvorstellungen. Nur das Geschlecht des Vampirs bleibt gewahrt. Statt Sinnlichkeit und Erotik strahlt diese Schreckensfigur bei Dreyer eher boshafte Machtgier aus. Und ungeachtet ihrer übernatürlichen Fähigkeiten ist diese alte Frau dennoch auf ihre Umwelt angewiesen, muss sich auf Diener stützen oder auf jenen Arzt, der in ihrem Bann steht. Dreyers Konzept sieht es weniger vor, der übernatürlich Herkunft der Ereignisse bedeutenden Raum zuzumessen. Vielmehr lässt die Inszenierung vieles offen und ungeklärt. William K. Everson, der diesen Film für einen der Bedeutendsten des Genres hält, zitiert Dreyer: »Stellen Sie sich vor, wir sitzen in einem normalen Zimmer. Plötzlich erfahren wir, dass eine Leiche vor der Tür liegt. Im selben Augenblick hat sich das Zimmer, in dem wir sitzen, völlig verändert; jeder Gegenstand darin sieht plötzlich anders aus; das Licht und die Atmosphäre haben sich verändert, obwohl sie in Wirklichkeit so sind wie zuvor. Wir sind es, die sich verändert haben, und die Gegenstände sind so, wie wir sie sehen. Genau diese Wirkung möchte ich mit meinem Film erreichen.«8
Aus diesem Grund wählt Dreyer auch die Perspektive eines Außenstehenden, der mehr oder weniger unvermittelt mit dem unheimlichen Geschehen konfrontiert wird. David Gray wird von ›Julian West‹ gespielt, hinter dem sich eigentlich der Produzent des Films, Baron Nicolas de Gunzburg, verbirgt, einem adeligen Dandy, der später in New York Herausgeber einer Sportzeitschrift wurde. Dreyer nutzt also einen Laien, der sich fast schlafwandlerisch – oder zumindest ausdruckslos – durch das Geschehen bewegt. Dieses Vorgehen ähnelt den Inszenierungen Robert Bressons, der seine Protagonisten meist mit Laien besetzte, um eine nicht emotional besetzte
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William K. Everson: Klassiker des Horrorfilms. München: Goldmann, 21982, S. 71.
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Leerstelle zu erhalten, die keine einfache psychologische Identifikationsmöglichkeit für das Publikum bietet. Eine weitere spannungsreiche Ambivalenzinszenierung ist jener Moment, in dem die alte Vampirin ihre Macht auf eines ihrer Opfer, eine junge Frau (Sybille Schmitz), auszuüben beginnt. Ermattet vom Blutverlust dämmert sie zunächst in einem Sessel vor sich hin und wird von ihrer ahnungslosen Schwester umsorgt. Mit einem Mal wendet sie langsam den Kopf. Ihr Gesicht ist plötzlich belebt, sie entblößt ihre weißen Zähne und leckt sich mit der Zunge gierig über die Lippen. Was zunächst nach einer leidenden Mine in Dankbarkeit für die empfangene Hilfe anmutete, wirkt nun listig, voller gieriger Doppeldeutigkeit. Als sie die Reaktion ihrer Schwester bemerkt, ebbt der Anfall ab – voller Erschrecken vor der eigenen Neigung. Dreyer zwingt den Zuschauer förmlich dazu, Schrecken und Mitleid zugleich zu empfinden. Die Opfer der Vampirin werden zu Verfluchten, die das eigene Schicksal quält – der Genre-Topos des tragischen Monstrums, dem wir die Filmgeschichte hindurch immer wieder begegnen, mehr jedoch im Frankenstein-Kontext als in den Vampirfilmen.
V. Eine berühmte Schlüsselsequenz von VAMPYR ist jene, in der Allan Gray seine eigene Beerdigung erträumt und durch ein Fenster im Sarg miterleben kann. Dieser Moment hat zahlreiche Filmemacher späterer Jahrzehnte inspiriert und wurde in unterschiedlichen Kontexten nachgestellt. Georges Rouquier etwa hat bereits 1946 in FARREBIQUE OU LES QUATRES SAISONS den Versuch unternommen, diesen emblematischen Moment des stillen Grauens zu zitieren, es stellt sich jedoch heraus, dass das Genie von Dreyers Inszenierung gerade in dem Arrangement der Umstände in VAMPYR liegt: in der Doppelung des Protagonisten, der Ansiedlung im Zwischenreich des Traums, in der Anwesenheit der Untoten. Auch der britische Exzentriker Ken Russell nahm sich der Sequenz an: In seinem vielschichtigen Komponistenporträt MAHLER / MAHLER (1972) zeigt er einen Beerdigungstraum des todessüchtigen Musikers, der hier ebenfalls durch ein Fenster im Sarg dem eigenen Bestattungsritual beiwohnt. Geleitet wird er von einem Trauerkomitee in schwarzen Ausgeh-Uniformen mit Totenkopf
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an der Mütze – ein historisch vorausweisender Alptraum für den jüdischen Komponisten. Durch das Fenster sieht er seine Frau für die Männer tanzen. Einen anderen Weg ging der französische Filmemacher Jean Rollin. Sein gesamtes Oeuvre an billig produzierten B-Filmen ist bis heute durchzogen von der schwarzromantischen Vampirthematik, speziell orientiert an einer erotischen weiblichen Inkarnation der Blutsauger. Rollin geht so weit, mit seinen Filmen seit den späten sechziger Jahren immer wieder an die selben Schauplätze zurückzukehren: den wolkenverhangenen Meeresstrand Nordfrankreichs, einsame Schlossruinen, weitläufige Villen, menschenleere Landschaften. Prototypisch ist hier REQUIEM POUR UN VAMPIR / REQUIEM FÜR EINEN VAMPIR (1970), der den ganz auf sich selbst verweisen Stil Rollins pointiert: Nach einer nicht weiter motivierten Verfolgungsjagd landen zwei junge, in Clownskostüme gekleidete Mädchen im Straßengraben. Sie machen sich zu Fuß auf die Flucht, durchqueren einen verlassenen Friedhof und erreichen schließlich eine Burgruine, in der sie die Bekanntschaft zweier degenerierter Vampire machen, in deren Bann sie geraten. Aus dieser Handlungsskizze wird deutlich, dass sich der Regisseur nicht im geringsten für die Dramaturgie interessiert. Wichtiger sind ihm die frei assoziierten Surrealismen des Geschehens und der Ausstattung. So erreichen seine Filme immer wieder in ihrer hypnotischen Langsamkeit eine düstere Poesie, die sie stellenweise in die Nähe der traumwandlerischen Inszenierung von Dreyers VAMPYR rücken. Jean Rollins Name steht für die Beschwörung einer magisch-schauerlichen Parallelwelt, einem Reich der todessüchtigen Rituale, das den Vampir als letzte Metapher einer sich selbst verzehrenden Spezies erkennbar macht. Aus diesem Spannungsfeld schöpft auch der Belgier Harry Kümmel, dessen LÈVRES DE SANG / BLUT AN DEN LIPPEN (1971) bereits vom Titel her an Rollins Filme anschließt, stilistisch jedoch über die Werke des Franzosen hinausgeht. Hier findet sich ein junges Pärchen in einem alten Strandhotel in Oostende ein, wo man die Bekanntschaft der Gräfin Bathory (Delphine Seyrig) und deren Gespielin (Andrea Rau) macht. Die unsterbliche Inkarnation von Elisabeth Bathory verführt die Protagonisten nacheinander und führt durch ein Spiel der Eifersucht beinah den eigenen Untergang herbei. Auch Kümmels Film, der weniger am grausamen denn am erotischen Akt des Vampirismus’ interessiert ist, lässt eine traumgleiche Welt entstehen, voller Ruhe, Langsamkeit und Rituale. Mit der Ankunft an den entsprechenden Orten – dem Dorf in VAMPYR, der Ruine in REQUIEM
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sowie dem Hotel in LÈVRES DE SANG – scheinen in diesem Filmen die Gesetze der Realität aus Kraft gesetzt zu sein. Alle Handlungen und Ereignisse wirken wie Teilaspekte eines undurchschaubaren Rituals. Im Unterschied zu Dreyer ist das Böse bei Rollin und Kümmel weniger destruktiv als vielmehr verführerisch. Einen weiteren Aspekt fügt der deutsche Filmemacher Werner Herzog dem an Dreyer orientierten Vampir-Komplex bei. Sein NOSFERATU – PHANTOM DER NACHT (1979) ist an sich bereits die Fleisch gewordene Tragik. Sein ausgezehrter, leichenblasser, fangzahnbewehrter Graf Dracula (Klaus Kinski) wendet die Ausstrahlung des Bösen in umfassende Trauer über die Unfähigkeit zu sterben. Herzogs Inszenierung schwankt hier zwischen der Rekonstruktion romantischer Bildwelten, Verweisen auf Friedrich Wilhelm Murnaus Originalfilm sowie auf Dreyers Traumspiel. Am ehesten finden sich diese Bezüge zu VAMPYR in den still-poetischen Momenten um Lucy (Isabelle Adjani), die auf die Rückkehr ihres Geliebten Jonathan (Bruno Ganz) wartet, am Meer entlang wandelt, auf einem Friedhof meditiert und schließlich von einer Vampirfledermaus heimgesucht wird, die in körnigen Zeitlupen-Bildern herangleitet. Auch die Aufnahmen der vertrockneten Mumien, die dem Vorspann unterlegt sind, dienen ausschließlich der Schaffung einer morbiden, todesnahen Atmosphäre, werden im Film selbst nie wieder aufgegriffen. Ein solches ›Ablenkungsmanöver‹ könnte direkt aus Dreyers assoziativem Werk stammen. Nie erreicht Herzogs Film jedoch die entrückte stilistische Geschlossenheit von Dreyers Film. Der amerikanische Filmwissenschaftler Michael Grant weist noch auf einen weiteren Erben von Dreyers VAMPYR hin: Der Altmeister des italienische Exploitationfilms Lucio Fulci inszenierte in E TU VIVRAI NEL TERRORE – L’ALDILÀ / ÜBER DEM JENSEITS / GEISTERSTADT DER ZOMBIES (1980) eine vergleichbar irreale Parallelwelt, die immer wieder die Gesetze des alltäglichen aufhebt und verschiedene Dimensionen verknüpft. Keine der in diesem Film ausgebreiteten Handlungen ist letztlich logisch motiviert, oft erscheinen die Schauplätze durch ›Dimensionslöcher‹ verbunden: als die Protagonisten etwa durch den Keller mit wenigen Schritten von einem Krankenhaus zu einem alten Hotel gelangen, zwei Gebäuden, die nach der Logik der Inszenierung eigentlich mehrere Kilometer entfernt sein müssten. In einem Prolog sehen wird die ölgemalte Höllenvision eines verfemten Künstlers: Ein dunkles Reich des Nichts, in dem die herumliegenPOUR UN VAMPIR
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den toten Körper kaum noch von den Felsbrocken zu unterscheiden sind. Die Protagonisten werden ungewollt dieses ›Tor zur Hölle‹ passieren und sich in der letzten Einstellung in genau dieser Landschaft wiederfinden. In welche Richtung sie auch fliehen, sie können dem ›Nichts‹ nicht entrinnen. Mit einem Standbild ihrer panischen Gesichter lässt uns Fulcis Film zurück. Obwohl E TU VIVRAI NEL TERRORE – L’ALDILÀ nicht die inszenatorische Brillanz von Dreyers VAMPYR teilt und sich Fulcis Irrealismen oft in selbstzweckhaften Schocks erschöpfen, ist doch bemerkenswert, welche Verunsicherung der Entzug jeglichen Naturalismus’ innerhalb eines solchen Werkes mit sich bringt. Auch hier konstatieren wir ein Versagen der Sprache: Die Worte können nichts mehr ordnen, die Existenz scheint Teil eines undurchsichtigen Systems zu sein – oder schlimmer noch: gar keines Systems –, das sich menschlichem Begreifen bis hin zum absoluten ›Nichts‹ entzieht. Wie VAMPYR handelt auch E TU VIVRAI NEL TERRORE – L’ALDILÀ von einer existenziellen Krise, dem Erkennen der absoluten Bedeutungslosigkeit, wenn das Herz der Finsternis erst erreicht ist; dann bleibt nur noch: das Grauen.
Von Caligari zu Bergman Transkodierungen von gothic fiction und die Kinematographie des Phantastischen in VARGTIMMEN (DIE STUNDE DES W OLFS) M ATTHIAS T EICHERT
Als der US-amerikanische Regisseur, Produzent und ›B-Movie-König‹ Roger Corman nach dem unerwarteten kommerziellen Erfolg seiner EdgarAllan-Poe-Verfilmung HOUSE OF USHER (1960; DIE VERFLUCHTEN1) an die Vorbereitungen für einen Nachfolgefilm ging – letztlich sollten sich Cormans Poe-Adaptionen zu einem achtteiligen Franchise auswachsen – war als zweiter Beitrag zu der Reihe zunächst eine Leinwandversion von THE MASQUE OF THE RED DEATH, die jedoch erst 1964 zustande kam (SATANAS – DAS SCHLOSS DER BLUTIGEN BESTIE). Corman hatte nach dem Ansehen von Ingmar Bergmans vielfach preisgekröntem existentialistischen Mysterienspiel DET SJUNDE INSEGLET (1957; DAS SIEBENTE SIEGEL), in dem bekanntlich die Pest und die Konfrontation des Protagonisten mit dem personifizierten Tod eine zentrale Rolle spielen, wegen der inhaltlichen Nähe von Poes Cholera-Erzählung zu Bergmans Film die Realisierung des 1
Die zu fremdsprachigen Filmen in Klammern angegebenen deutschen Titel entsprechen den deutschen Kino-Verleihtiteln der Synchronfassungen, die mitunter stark von wörtlichen Übersetzungen des jeweiligen Originaltitels abweichen. In der Regel sind die deutschen Kinotitel identisch mit denen späterer TV-Ausstrahlungen und Video-/DVD-/Blu-ray-Veröffentlichungen; vereinzelte Abweichungen sind gesondert vermerkt.
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Projekts verschoben2; stattdessen wurde zunächst THE PIT AND THE PENDULUM (1961; DAS PENDEL DES TODES) gedreht, ein mit HOUSE OF USHER fast inhaltsgleicher, aber dramaturgisch und inszenatorisch noch besserer Film, der allerdings mit der literarischen Vorlage wenig mehr als den Titel und das Einzelmotiv des pendelartigen mechanischen Folterapparats gemein hat.3 Beide frühen Poe-Verfilmungen Cormans sind Musterexemplare des ›klassischen‹ Gruselfilms im Stile der gothic fiction, in denen ein rätselhafter Schlossherr in weiten Seidengewändern durch die Ahnengalerie, die Schlosskapelle und die hauseigene Folterkammer seines spinnwebgeschmückten Anwesens wandelt, während ein in weißen Rüschenhemden gewandeter jünglingshafter Besucher in den Geheimgängen und der Fami-
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Corman 1969 in einem Interview mit dem Autor Digby Diehl: »Poe’s next two famous stories were The Pit and the Pendulum and The Masque of the Red Death. I couldn’t decide between them, but finally chose the latter [?? recte: the former? M.T.] because Masque of the Red Death was very close to THE SEVENTH SEAL.
And as the series grew, I always came back to The Masque as the
logical film to do next, and I always rejected it in favor of a lesser Poe work because of the similarity with Bergman’s film. Finally, I had used up all suitable Poe material and had no choice. Of course, both The Masque and The Seventh Seal deal with the Middle Ages and in each the leading character confronts Death as an individual. But in making my film, I tried as much as possible to avoid the similarities.« (Christopher Nasr [Hg.]: Roger Corman. Interviews. Jackson: University of Mississippi Press, 2011, S. 28). – Cormans Faszination speziell für diese Erzählung Poes ist daran ablesbar, dass er sie 25 Jahre später noch einmal verfilmte, dieses Mal jedoch als Produzent; Regie bei der 1989erFassung von THE MASQUE OF THE RED DEATH (DIE MASKE DES ROTEN TODES)
führte Larry Brand, der sich stark an Cormans Erstverfilmung orientierte,
hinter der atmosphärischen Dichte und der apokalyptisch-unheimlichen Suggestivkraft der Bildkompositionen in dessen Version von 1964 aber zurückblieb. 3
Den Schauwert dieser bizarren Torturvorrichtung ließen sich auch die Regisseure anderer, ausgesprochen freier Poe-Adaptionen nicht entgehen, so Carl Laemmle in THE RAVEN (1935; Der Rabe) und Harald Reinl in DIE SCHLANGENGRUBE UND DAS
PENDEL von 1967, einer bundesdeutschen Skurrilität der
Horrorfilmgeschichte (vgl. Matthias Teichert: Von der Heldensage zum Heroenmythos. Vergleichende Studien zur Mythisierung der nordischen Nibelungensage im 13. und 19./20. Jahrhundert. Heidelberg: Winter, 2008, S. 387-388.
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liengruft des Gemäuers ein düsteres Geheimnis erforscht und vor den halbverfallenen Schlossmauern dichte Nebelschwaden wabern. Dieser Typus des klassischen, in Dekor, Mode und suggeriertem Zeitkolorit größtenteils romantisch und viktorianisch inspirierten Schauerfilms ist das überragende Paradigma des phantastischen Films und Horrorkinos der späten 50er und 60er Jahre und wird neben Corman vor allem vertreten von dem Briten Terence Fisher, dem Stamm-Regisseur der Londoner Hammer-Studios und eigentlichen Begründer der Gruselfilmwelle vor und um 1960 (THE CURSE OF FRANKENSTEIN, 1957 [FRANKENSTEINS FLUCH]) und HORROR OF DRACULA, 1958 [DRACULA]) sowie dem Italiener Mario Bava, dem filmkünstlerisch begabtesten und anspruchsvollsten Exponenten dieses (Sub-)Genres. Ab 1966 kündigt sich zunächst in der europäischen Horrorfilmproduktion eine substantielle Weiterentwicklung der Gattung an. Sie ist inhaltlich geprägt von der Überwindung der mittlerweile zu formelhaften Topoi erstarrten Motive, Figuren und Settings – neben den schon angeführten etwa die (meist blonde) damsel in distress, das schlossnahe Dorf mit seinen verstockten und angsterfüllten Bewohnern, der Kutscher oder Wirt als Warner vor dem Spukschloss, die (häufig schwarzhaarige) lebendige, un- oder scheintote femme fatale, der Landarzt als einsamer Vorkämpfer für Wissenschaft und Fortschritt in einer abergläubischen Hinterwäldlergemeinde usf. – und der Fokussierung neuer, modernerer Stoffe und Themen, urbaner Handlungsräume sowie formal gekennzeichnet von einer zunehmend expliziter werdenden Darstellung physischer Gewalt (exploitation) und einer Hinwendung zu anachronischen, atektonischen Erzählmodellen. Einen zentralen Beitrag für dieses Kapitel der Horrorfilmgeschichte stellt Bavas OPERAZIONE PAURA (lit. ›Operation Angst‹) von 1966 dar, ein in Drehbuch und Realisierung außerordentlicher Film, dessen Qualität und filmhistorischer Wert außerhalb Italiens allerdings durch die unsinnigen, ›trashig‹grellen Titel der fremdsprachigen Synchronfassungen (DIE TOTEN AUGEN DES DR. DRACULA; KILL, BABY … KILL!) überdeckt wird. Bava dekliniert hier die einzelnen Elemente der von ihm selbst in LA MASCHERA DEL DEMONIO (1960 [DIE STUNDE, WENN DRACULA KOMMT]) mitkodifizierten Standardnarration des klassischen gothic-fiction-Schauerfilms durch und dekonstruiert des etablierte Schema zugleich durch die subkutane Verformung seiner strukturellen und inhaltlichen Kernkomponenten, z.B. in der Diabolisierung des Kindes und der greisen Schlossherrin, zwei Gestalten, die etwa bei Corman und im klassischen Hammer-Universum die von
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traumatischen Erlebnissen bedrohte naive Unschuld (das Kind in PIT AND THE PENDULUM) oder eine beschützende Instanz (die Greisin in BRIDES OF
DRACULA, GB, R: Terence Fisher, 1965 [DRACULA UND SEINE BRÄUTE]) verkörpern. Präludiert durch die Metamorphosen der gothic fiction-Schauerkinematographie in den Jahren 1966/67 vollzieht sich 1968 ein einschneidender Paradigmenwechsel in der Horrorfilmgeschichte4, der sich in George Romeros NIGHT OF THE LIVING DEAD (DIE NACHT DER LEBENDEN TOTEN) und dem Hexenjägerdrama MATTHEW HOPKINS – WITCHFINDER GENERAL (DER HEXENJÄGER) des Engländers Michael Reeves verdichtet. Ersterer erzählt mit konsequent zugespitzten dramaturgischen Mitteln von der Invasion eines amerikanischen Kleinstadtmilieus durch eine ohne jede Erklärung plötzlich auftauchende Armada kannibalischer und ihre Opfer infizierender Zombies, vor der sich eine isolierte Gruppe Überlebender unter Führung eines jungen Schwarzen in einer Hütte verbarrikadiert, letzterer entlarvt die professionalisierte Hexenverfolgung am Beispiel des Englands der Cromwell-Zeit als von sexueller und materieller Gier motivierten sadistischen Terror, dessen monströse Brutalität sich schließlich auch gegen den titelgebenden Oberhexenjäger selbst richtet. Beide Filme repräsentieren eine Entmythologisierung des Horrorkinos, das nunmehr ohne Gespenstergeschichten, den Vampir- und Werwolfmythos und ohne deren narrativierbaren, theologisierten Überbau (in der Untote eine personalisierte Vorgeschichte haben und Weihwasser, Kruzifixe, Silbergegenstände o.ä. als apotropäische Maßnahmen in Betracht kommen) auskommt und in denen das stumme, amorphe Grauen entweder emotions- und grundlos über die Menschen hereinbricht oder von ihnen selbst ausgeht.5 Beide Filme operie-
4
Vgl. das Urteil des kanonischen Standardwerks zum modernen Horrorfilm: »[…] horror changed radically in 1968 [...]« (Kim Newman: Nightmare Movies. Horror on Screen since the 1960s. London: Bloomsbury, 22010, S. 6).
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Besonders deutlich ist diese Entmythologisierung des Horrorfilms am Subgenre des Zombiefilms ablesbar: ist im älteren Zombiefilm das Phänomen der wandelnden Untoten durchgängig mit dem Voodoo-Kult verbunden (z.B. WHITE ZOMBIE [US, R: Victor Halperin, 1932], I WALKED WITH A ZOMBIE [US, R: Jacques Tourneur, 1943; ICH FOLGTE EINEM ZOMBIE], THE PLAGUE OF THE ZOMBIES [GB, R: John Gilling, 1966; NÄCHTE DES GRAUENS/IM BANN DES VOODOO-PRIESTERS]), bricht dieser Nexus mit Romero abrupt ab.
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ren mit gebrochenen, mehrdimensionalen und von dem sie umgebenden Schrecken formbaren Heldenfiguren: im einen Fall der afroamerikanische Außenseiter, der eher unfreiwillig in die Rolle eines Anführers gelangt, nachdem er die Attacke der Zombies überlebt hat, am Ende aber durch einen unglücklichen Zufall von einem schießwütigen Redneck getötet wird, im anderen ein junger republikanischer Soldat, der seine Verlobte vor den Nachstellungen des Hexenjägers schützen will, jedoch im Klima allgegenwärtiger roher Gewalt von dieser ›infiziert‹ wird und den verhassten Feind in einem wahnhaften Blutrausch massakriert. Im Jahre 1968 erschien auch Ingmar Bergmans Spielfilm VARGTIMMEN (DIE STUNDE DES WOLFS), unter den knapp fünfzig Kinofilmen dieses Regisseurs der einzige, der zweifelsfrei dem Genre des Horrorfilms zuzuordnen ist, nicht nur aufgrund seines Plots und der in ihm auftauchenden Figuren und Motive, sondern weil Bergman VARGTIMMEN mit zahlreichen Verweisen auf und Zitaten aus Klassikern des Horrorfilms bewusst in die Tradition dieser Filmgattung einschreibt. Die Dreharbeiten zu VARGTIMMEN fanden zwischen Mai und September 1966 statt, die Uraufführung erfolgte am 19. Februar 1968 in Stockholm.6 Ein Rohentwurf des Drehbuchs mit dem Arbeitstitel Människoätarna (»Die Menschenfresser«) geht indes ins Jahr 1964 zurück. VARGTIMMEN ist der drittletzte Schwarzweiß-Film Bergmans, der sich 1969 dem Eastman-Color-Verfahren zuwandte, und bildet gemeinsam mit SKAMMEN (1968; SCHANDE) und EN PASSION (1969; PASSION) die sog. Fårö-Trilogie, die durch den gemeinsamen Drehort und die wiederkehrende Besetzung von Max von Sydow und Liv Ullmann in den Hauptrollen, das übergeordnete strindbergianische Thema der ›Ehehölle‹ und vereinzelte Querverweise in Motivik, Figurennamen und Kompositionsstil zusammengehalten wird (vgl. insbesondere die Alpträume der von Ullmann gespielten weiblichen Figuren Eva Rosenberg in SKAMMEN und Anna in EN PASSION), wobei alle drei Teile in sich abgeschlossen und auch als Einzelfilme verständlich sind.7
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Birgitta Steene: Ingmar Bergman. A Reference Guide. Amsterdam: Amsterdam University Press, 2005, S. 278.
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Zwischen SKAMMEN und EN PASSION entstand noch das ursprünglich für das schwedische Fernsehen gedrehte, aber auch im Kino aufgeführte Kammerspiel RITEN (1969; DER RITUS) mit anders gelagerter Thematik und mit anderen Hauptdarstellern; auffallendster Anknüpfungspunkt zur Fårö-Trilogie ist der Fi-
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VARGTIMMEN erzählt die Geschichte des Malers Johan Borg (von Sydow), der mit seiner Frau Alma (Ullmann) den Sommer – wie in jedem Jahr ihrer siebenjährigen Ehe – zurückgezogen auf einer kleinen Insel verbringt. Johan leidet an Schlaflosigkeit und Nyktophobie, vor allem die letzte Stunde der Nacht vor dem Morgengrauen ängstigt und beunruhigt ihn; es ist die Zeit, die im Volksglauben als Stunde des Wolfes bezeichnet wird und in der, wie Johan an einer Stelle ausführt, die meisten Kinder geboren werden, aber auch die meisten Menschen sterben. Johan fühlt sich zunehmend von grotesken, unheimlichen Gestalten bedroht, denen er auf seinen einsamen Streifzügen über die Insel begegnet sein will und von denen er Zeichnungen angefertigt hat, die er Alma zeigt, jedoch nur so, dass der Zuschauer sie nicht Gesicht bekommt: eine alte Frau, die damit droht, ihren Hut abzunehmen und, wenn sie dies tut, ihr Gesicht gleich mit abnimmt; ein Vogelmensch, dessen Gesicht vielleicht nur eine Maske sei; Spinnenmenschen; ein mit einem Rohrstock bewaffneter zeternder Schulmeister und noch einige mehr. Auch Johans körperliche Gesundheit ist angeschlagen, er erholt sich nur langsam von einer nicht näher bezeichneten Erkrankung. Als Johan eines Tages wieder allein unterwegs ist, erhält Alma Besuch von einer greisen Dame mit maskenhaften Gesichtszügen, die ihr Alter zunächst mit 216 Jahren angibt, diese Zahl aber sogleich auf 76 korrigiert. Sie informiert Alma, dass sie die surrealen Zeichnungen ihres Mannes unter dessen Bett finden kann; dort bewahre er auch sein Tagebuch auf, das die Alte Alma nachdrücklich zur Lektüre empfiehlt. Durch das heimliche Lesen der Tagebuchaufzeichnungen erfährt Alma auch von dem Wiedersehen Johans mit Veronica Vogler (Ingrid Thulin), einer früheren Beziehung, die er unlängst auf der Insel wieder getroffen hat. Der sonderbare Baron von Merkens, Bewohner eines Schlosses, sucht Johan auf, um ihn und seine Frau für einen der folgenden Abende zum Dinner zu sich einzuladen; er sei, so von Merkens, ein Bewunderer von Johans Kunst. Johan und Alma nehmen die Einladung an, doch die Abendgesellschaft wird zu einer skurrilen Ver-
gurenname Winkelman(n), hier der Name von zwei der drei angeklagten Vaudeville-Artisten, in EN PASSION Familienname des von v. Sydow verkörperten Charakters Andreas. Das verwendete Namensmaterial verbindet VARGTIMMEN auch mit anderen Filmen Bergmans: BORG (Johan [Vargtimmen]/Isaak [Smultronstället]; VOGLER (Veronica [VARGTIMMEN]/Albert Emanuel und Aman/ Manda [ANSIKTET]/Elisabet (PERSONA); ALMA (VARGTIMMEN/ PERSONA).
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sammlung morbider, spleeniger Charaktere aus Merkens‘ Verwandtschaft und Bekanntenkreis, deren Konversation vor allem um Krankheiten und Tod kreist. Unter den Gästen befinden sich auch der Archivar Lindhorst und der penetrante Kurator Heerbrand, dem Johan bei einer Begegnung einige Tage zuvor entnervt ins Gesicht geschlagen hatte. Nach dem Essen nötigt der Baron seine Gäste einschließlich des sich sichtlich unwohl fühlenden Johan, sich in der Bibliothek eine Puppentheater-Aufführung anzusehen, die eine Szene aus Mozarts Zauberflöte vorstellt. Die bizarren Ereignisse auf dem Schloss drohen Johans fragile Psyche vollends aus dem Gleichgewicht zu bringen, er assoziiert die exaltierten Gäste mit den ihn verfolgenden grausigen Gestalten. Noch auf dem Heimweg spricht die ob des Zustandes ihres Mannes völlig verängstigte Alma ihren Mann auf seine Tagebucheintragungen an. Wieder zu Hause, bricht der verschlossene Johan sein Schweigen und erzählt Alma erstmals von einem traumatischen Kindheitserlebnis: als kleiner Junge ist er von seinem harten, überstrengen Vater in einen Kleiderschrank gesperrt und anschließend auf grausame Weise körperlich gezüchtigt worden, während seine liebevolle Mutter vor Schmerz über die Misshandlung des Sohnes geweint hat. Später berichtet er der schockierten Alma, wie er im vorigen Sommer einen kleinen Jungen, der ihn beim Fischen gestört und durch Aufdringlichkeiten provoziert hatte, getötet und die Leiche im Wasser versenkt hat. Heerbrand erscheint, um das Ehepaar zu einer Party auf dem Schloss einzuladen und überreicht Johan bei dieser Gelegenheit eine Pistole, mit der dieser dreimal auf Alma schießt. Danach bricht Johan zum Schloss auf, wo er Veronica zu treffen hofft. Im Salon begegnet er zunächst der alten Frau, die, wie in Johans Visionen, ihren Hut und damit ihr Gesicht abnimmt und ihre Augen aus den Höhlen entfernt, um sie in einem Martiniglas abzulegen. Geleitet von Lindhorst, der sich mehrfach in einem Vogel und wieder zurück zu verwandeln scheint, findet Johan kurz darauf Veronica nackt und in scheintotem Zustand in einer Kammer im Schlossverlies. Die Ereignisse überstürzen sich und vor den Augen Almas, die den Tötungsversuch leicht verletzt überlebt hat, wird Johan von der unheimlichen Gästeschar in ein sumpfiges Gelände verbracht; Heerbrand rächt die kürzlich erlittene Demütigung und schlägt Johan ins Gesicht, bevor die monströsen Gestalten Johan ins Verderben führen. Die verwinkelte, non-lineare Filmhandlung mit mehreren Erzählebenen und diversen, teilweise nur fragmentarisch rekonstruierten Vorgeschichten
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wird von Bergman mit einer doppelten Rahmensituation versehen erzählt: zu Beginn und am Ende des Filmes sieht der Zuschauer Alma, die das Geschehene erzählt und einen impliziten Hörer ihres Berichts direkt anspricht, wobei unklar bleibt, es sich bei diesem Adressaten um eine weitere textinterne fiktive Gestalt (etwa einen Psychiater, Kriminalbeamten o.ä.) oder eine textexterne Erzählerinstanz handelt. Die beiden Episoden um das traumatische Kindheitserlebnis und die Tötung des Jungen werden aus der Sicht der beteiligten Figur Johan erzählt, die erste als reine Nacherzählung, die zweite als alptraumhafte Rückblendesequenz. Hinzu kommt eine dem ersten Bild des Films vorangestellte Texttafel, die dem Leser in dürren Worten darüber informiert, dass Johan Borg vor einem halben Jahr auf der Insel verschwunden sei und die folgende Rekonstruktion der Ereignisse sich auf die Aussagen seiner Frau Alma und Johans Tagebuch stütze. Während der Einblendung der Eröffnungscredits sind des weiteren gerufene Regieanweisungen, Kamerasurren und andere Produktionsgeräusche zu hören, die als peritextuelle8 Elemente die Geschlossenheit der textinternen Fiktion durchbrechen. Diese Erzählstruktur und ihre kinematographische Umsetzung werden bei der folgenden Analyse gleichberechtigt neben inhaltlichen Aspekten herangezogen. Es soll eine Annäherung an VARGTIMMEN aus drei Interpretationsperspektiven skizziert werden: erstens, VARGTIMMEN als Hypertext und intermediales Artefakt; zweitens, eine diachrone Betrachtung der Stellung von VARGTIMMEN innerhalb der Horrorfilmgeschichte; drittens, eine synchrone Bestimmung gattungstypologischer und erzähltechnischer Verfahren, die nicht zuletzt das Verhältnis von Horror(film) und Phantastik/Phantastischem Film zu klären versucht. Die wesentlichen sub- und intertextuellen Bezüge seines Spielfilms hat Bergman in Handlung und Figurennamen von VARGTIMMEN in fast aufreizend offener, dem Rezipienten das stille ›Erfolgserlebnis‹ des Aufspürens
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Der vorliegende Beitrag stützt sich narratologisch wesentlich auf die Terminologie und Methodik der Schriften Gérard Genettes in deutscher Übersetzung: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1993; Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt/Main/New York: Campus, 1989; Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München: Fink, 21998.
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mehr oder minder versteckter Referenzen und Zitate raubender Manier explizit benannt. Es handelt sich zum einen um Mozarts Oper Die Zauberflöte – von Bergman 1975 als TROLLFLÖJTEN mit schwedischen Texten verfilmt, seine einzige Musiktheaterverfilmung und eine der besten ihres Genres –, von der während der kapriziösen Abendgesellschaft ein Auszug der fünften Szene des Ersten Aufzuges als Puppentheater dargeboten wird, zum anderen um das Erzählwerk E.T.A. Hoffmanns, speziell Der goldene Topf, aus dem die Figurennamen Veronica (Paulmann [Der goldene Topf]/Vogler [VARGTIMMEN]), Heerbrand (Registrator [Der goldene Topf]/Kurator [VARGTIMMEN]) und Lindhorst entlehnt sind, im letzteren Fall einschließlich der Berufsbezeichnung ›Archivar‹. Dem Goldenen Topf nachgebildet sind ferner die mehrfach unterschiedlich stark angedeutete Verwandlung von Bergmans Lindhorst in Vogelgestalt und wohl auch die menage à trois zwischen dem Protagonisten (Anselmus/Johan) und zwei Frauenfiguren, von denen die einen ruhigen und geordneten, philiströs anmutenden Lebensstil verkörpert (Veronica Paulmann/Alma), die andere eine freizügigbohemienhafte, poetische Existenz jenseits bürgerlicher Konventionen mit einer Verbindung zum Exotisch-Wundersam-Phantastischen verspricht (Serpentina/Veronica Vogler). Hoffmanns phantastischer Erzählung Der Sandmann als Quelle zuzuordnen sind das Motiv der halb-mechanischen, aus den Höhlen herausnehmbaren Augen, Johans manische Versuche, die grauenhaften Begegnungen mit den dämonischen Wesen durch das Zeichnen der Schreckgestalten zu bewältigen, sie gleichsam – aufs Papier – zu bannen (entsprechend versucht der kleine Nathanael, den furchteinflößenden Sandmann aus den Schauermären seiner Amme zu zeichnen) und wohl auch, wenngleich stärker verformt, das traumatische Kindheitserlebnis der Gefangenschaft im Kleiderschrank mitsamt Züchtigung durch den Vater (Analogon wäre hier Nathanaels nächtliches Versteckens in der elterlichen Wohnstube, um dem Vater und Coppelius bei deren scheiternden alchimistischen Experimenten zu beobachten). Das eben skizzierte Beziehungsgeflecht wäre mit Blick auf den Sandmann bei weitgehend gleichbleibender Konnotation der Beteiligten auf die Trias Nathanael (Johan[/Anselmus]) – Klara (Alma[/Veronika]) – Olimpia (Veronica[/Serpentina]) übertragbar. Der Pianist, der bei Johans zweitem Besuch auf dem Schloss konzertiert, trägt den Namen Kreisler, nach Hoffmanns literarischem alter ego, dem fiktiven Kapellmeister Johannes Kreisler, der außer in der nach ihm benannten Erzählung Kreisleriana und dem Kater-Murr-Roman auch im Goldenen
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Topf auftritt. Für eine Szene gegen Ende des Films schließlich scheinen die Abenteuer der Silvester-Nacht Pate gestanden zu haben, wie VARGTIMMEN ein mehrfach gerahmter Text: Alma erzählt, wie sie Johan beim fieberhaften Tagebuchschreiben beobachtet habe, so wie Hoffmanns Enthusiast schlaftrunken seinem Zimmergenossen Erasmus Spikher im Gasthof zum Goldenen Adler bei der Niederschrift seiner »Geschichte vom verlorenen Spiegelbild« zusieht. Das drei- bzw. viergliedrige intertexuelle Gefüge aus Die Zauberflöte – Der goldene Topf und Der Sandmann – VARGTIMMEN ist in der BergmanForschung ausführlich beschrieben und analysiert worden, so von J. Gantz in einem Aufsatz von 1980, der bilanziert: »[…] it must be clear that the central situation of Mozart’s opera and Hoffmann’s two tales is also that of Bergmans’s Vargtimmen […] The film’s protagonist, Johan Borg, lives in two worlds, one of day and reality (his wife Alma), one of night and the imagination (the people of the castle); and in the second of these worlds, there are the wise old man (arkivarie Lindhorst) and the beautiful woman (Veronica Vogler) in his charge. The pattern is identical. […] Like Der goldene Topf and Der Sandmann, Vargtimmen is about the schism between art and life. Bergman has made some changes; the day-and-night imagery of Die Zauberflöte and Der goldene Topf 9
is reversed […]. Johan Borg is the Tamino/Anselmus/Nathanael of the film.«
Das Verhältnis der beiden Welten untereinander und zu dem zwischen ihnen hin- und hergerissenen menschlichen Subjekt werde in VARGTIMMEN schärfer und ›existentialistischer‹ gezeichnet als es in Zauberflöte, Goldenem Topf und Sandmann der Fall ist. Mit Blick auf Hoffmanns Erzählungen konstatiert Gantz: »The choice between the two worlds – a choice that was so easy in Die Zauberflöte – is more difficult than ever.«10 Der goldene Topf inszeniere dabei die den Protagonisten in ihren Bann ziehende irreale Gegenwelt als »dream«11, Der Sandmann hingegen als »nightmare«12. Die Verdunkelung setzte sich in Vargtimmen fort:
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Jeffrey Gantz: Mozart, Hoffmann, and Bergman’s Vargtimmen. In: Literature/Film Quarterley 8:2 (1980), S. 107.
10 Ebd., S. 107. 11 Gantz: Mozart, Hoffmann, and Bergman’s Vargtimmen, S. 107. 12 Ebd., S. 107.
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»If takes Der Sandmann takes a darker view of art – and life – than does Der goldene Topf, then Vargtimmen is darker still; much of what Bergman does in the film reflects his view that Vargtimmen is the logical extension of Hoffmann’s two tales.«13
In der Tat erscheinen die Gegenwelt und der Eintritt des Protagonisten in sie unter gänzlich anderen Vorzeichen als in der Zauberflöte und im Goldenen Topf, die diesbezügliche Distanz zum Sandmann erscheint bei näherer Betrachtung jedoch geringer als es Gantz‘ Formulierung suggeriert. Bekanntlich hat die deutsche Romantik die Zerrissenheit einer Figur zwischen der realen, bürgerlichen Welt und einem Gegenwelt der Phantasie und Phantasmen mitsamt des finalen Übertritts des Protagonisten von der einen in die andere mehrfach verhandelt: neben einer weiteren HoffmannErzählung, Die Bergwerke zu Falun, sind vor allem Ludwig Tiecks thematisch verwandte Erzählung Der Runenberg und Novalis‘ frühromantisches Romanfragment Heinrich von Ofterdingen zu nennen; ins maritime Milieu versetzt, spielt diese Thematik auch in den Adaptionen des Undine-Mythos bei Fouqué und seinen Nachfolgern Hans Christian Andersen (Den lille Havfrue [Die kleine Meerjungfrau]) und Oscar Wilde (The Fisherman and his Soul [Der Fischer und seine Seele]) eine zentrale Rolle. Während dort und in Heinrich von Ofterdingen ebenso wie in Der goldene Topf die Gegenwelt utopistische Züge trägt, die im Fall des Goldenen Topfes durch die Benennung mit der mythischen Chiffre ›Atlantis‹ expliziert wird, und sich der Protagonist von sirenenhaften, verführerischen und eher sanftmütigen Gestalten – meist weiblichen Geschlechts – halb willentlich in ihr Fabelreich locken lässt (Serpentina, Undine, die Meerjungfrau in Goethes Der Fischer), bricht im Sandmann eine destruktive Welt des Schreckens und der Angst, verkörpert durch den ebenso grausamen wie mysteriösen Coppelius, über Nathanael herein und löst bei ihm Psychotraumata und schließlich suizidalen Wahnsinn aus. Ein vergleichbares Schicksal ereilt Elis Froböm in den Bergwerken zu Falun auf der wahnhaften Suche nach dem Almadin. Eine Mittelstellung nimmt Tiecks Runenberg ein, dessen Held Christian sich von dem titelgebenden Berg zunächst wegen einer dort erlebten erotischen Vision anziehen lässt, um später von ihm zu Grunde gerichtet zu werden und im Wahnsinn zu enden. Das in VARGTIMMEN erzählte
13 Ebd., S. 112.
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letzte Kapitel in der Biographie Johan Borgs ähnelt dem Muster von Nathanaels Untergang im Sandmann. Wie dieser (von der Schreckgeschichten der Amme) ist Johan durch ein traumatisches Ereignis in seiner Kindheit konditioniert und anfällig für Phantasmagorien, Gesichter und Begegnungen mit der Schattenwelt, aber auch für eigene Ausbrüche physischer Gewalt (die Tötung des Jungen, das Niederschlagen Heerbrands, die Schüsse auf Alma; vgl. Nathanaels Streit mit seinem biederen Quasi-Schwager Lothar). Die Ursprünge von Johans Begegnungen mit den unheimlichen Wesen bleiben verschwommen, im Gespräch mit Alma ist lediglich von den wiederholten Sichtungen der gezeichneten Unholde die Rede, nicht aber von den Anfängen dieser Zusammentreffen. Klar ist, dass Johan sich von den Wesen aufs äußerste bedrängt fühlt und sie fürchtet, gleichwohl aber immer wieder allein in die Gegenden der Insel aufbricht, in denen er erfahrungsgemäß mit dem Auftauchen seiner Peiniger rechnen muss, er sich also paradoxerweise von den Objekten seiner Angst angezogen fühlt. Die Einladung zum Abendessen auf das Schloss des Inselbesitzers nimmt er ohne wirkliche Begeisterung an. Im Verlauf des Dinners und der folgenden Puppentheater-Aufführung identifiziert Johan die eigenartigen Gäste zunehmend mit seinen Schreckgestalten, so wie in Nathanaels kindlicher Phantasie der düstere Coppelius, ein regelmäßig abends ins Haus kommender Besucher, mit der Horrorgestalt des augenausreißenden Sandmanns verschmilzt. Wie Nathanaels Verlobte Klara reagiert auch Johans Ehefrau Alma auf den psychischen Verfall ihres Partners mit zunehmendem Entsetzen und versucht energisch, ihn aus seinen Wahnvorstellungen aufzurütteln und ihn in ihre, die reale Welt zurückzuholen. Beide Frauen scheitern, Klara nach einer trügerischen Erholungsphase Nathanaels, in der er sich zu fangen scheint, Alma unmittelbar, da sie Johan nicht mehr erreicht, ablesbar an seinem apathischen Schweigen, mit der er ihrem flehentlichen Appell auf dem Heimweg vom Schloss begegnet. Der Bruch ist von Seiten Johans vollzogen, auch das Bekenntnis seiner Bluttat an dem Jungen im Vorjahr hat eher analytischen als therapeutischen Charakter, es erklärt Facetten seines Psychogramms, kann und will die zerrüttete Beziehung zu Alma aber nicht kitten, obgleich Alma ihrerseits wiederholt Signale der Empathie und Loyalität aussendet. Dem Todesnachmittag Nathanaels, an dem er sich schließlich, in panischer Angst vor dem ihm scheinbar verfolgenden, monströs verzerrten Coppelius von der Aussichtsplattform eines Turmes stürzt, entspricht strukturell Johans zweiter Besuch auf dem Schloss mit den drei
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Etappen Irrlauf durch die Anlage (mit dem kurzzeitigen Verweilen bei Kreislers Soirée) – Begegnung mit der scheintoten, nackt aufgebahrten Veronica in den Katakomben – ›Verschlingung‹ in die düstere Welt der Schreckenswesen, deren fassungslose Zeugin die inzwischen herbeigeeilte Alma wird. Johan durchläuft ein »Pandämonium grotesker Gestalten«14, buchstäblich einen Horror-Trip durch ein Labyrinth aus psychedelischen und dissoziativen Bildern, an dessen Ende seine Verfolger sich triumphierend seiner bemächtigen. Nicht nur ist die Gegenwelt von einem anziehenden poetischen Märchen-Atlantis zu einem alptraumhaften Abyssos mutiert, an die Stelle betörender Botinnen, die ihre Zielperson säuselnd zum Übertritt verführen (wie Undine, Serpentina oder die Meerjungfrau in Der Fischer), ist ein Syndikat fratzenartiger Schergen des Schattenreichs getreten, das seinem Opfer aggressiv nachstellt, es psychisch zermürbt und schließlich physisch gewaltsam mit sich reißt. Mit dem Sandmann verbindet VARGTIMMEN nicht nur motivliche Parallelelen und der übereinstimmende biographische Grundriss der in den Abgrund stürzenden Hauptfiguren, sondern auch die geschachtelte mehrfache Rahmung der epischen Kernhandlung. Im Sandmann findet dieses framing zunächst durch die Kommentare, Wertungen, Leseransprachen und poetologischen Reflexionen des extradiegetischen Erzählers statt sowie innerhalb der Intradiegese durch die metadiegetischen Erzählungen von Nathanaels und Klaras Briefen, ein narratives Verfahren, das Hoffmann dem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert auch in der deutschen Literatur äußerst populären Genre des Briefromans (Sophie von La Roche, Geschichte des Fräuleins von Sternheim [1771]; Goethes Werther [1774]) entlehnte. Der zweifache Rahmen trägt zur Verunsicherung des Lesers bezüglich der Glaubwürdigkeit des Gelesenen bei: der mit dem Beginn seiner Erzählung hadernde, etwas schwatzhaft und monomanisch wirkende extradiegetische Erzähler entlarvt sich selbst als nicht völlig zuverlässige Narrationsinstanz und die vorangestellten Briefe Nathanaels lassen schon aufgrund ihrer emotional überbordenden, eruptiven Sprache (man beachtete allein die Anzahl der Ausrufezeichen und Gedankenstriche) sowie der offenkundigen Stimmungsschwankungen des Schreibers Zweifel an dessen nervlicher Ausgeglichenheit und am Realitätsgehalt des ohnehin schon abenteuerlichen In-
14 PierrotLeFou: Stunde des Wolfs, Die (1968): http://www.ofdb.de/review/21923, 339370,Die-Stunde-des-Wolfs (abgerufen am 17.02.12)
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halts vor allem des ersten Briefes aufkommen, eine Leserhaltung, die bestärkt wird durch Klaras besonnenes Antwortschreiben, in dem sie ihrem Verlobten minutiös auseinandersetzt, wie negative Kindheitserinnerungen und eine überspannte Fantasie ihm das schreckliche Erlebnis einer unerwarteten Begegnung mit der gefürchteten Horrorfigur Sandmann-Coppelius in der Gestalt des zufällig namensähnlichen Wetterglashändlers Coppola nur vorgegaukelt hätten. Das multiperspektivische, selbstreflexive Erzählverfahren mitsamt der Fiktion einer ungefilterten Wiedergabe persönlicher Schriftstücke der Protagonisten macht Hoffmanns Erzählung neben seiner modernen, das Unterbewusstsein eines Traumatisierten als Handlungsraum entdeckenden Thematik – nicht zufällig hat Sigmund Freud den Text ein Jahrhundert nach ihrem Erscheinen zur Grundlage seines Aufsatzes über Das Unheimliche erhoben – zu einem stilprägenden Text der literarischen Phantastik und der Horrorfilms gleichermaßen. Schon vor Hoffmann hatte der polnische Schriftsteller Jan Potocki (1761-1815) in seinem Roman Manuscrit trouvé à Saragosse die seit Boccaccios Decamerone in der europäischen Erzählkunst intensiv gepflegte literarische Technik der Rahmenerzählung mit äußerster Virtuosität zur Meisterschaft geführt; das labyrinthische Erzähluniversum des Romans verzweigt sich in bis zu sechs Ebenen (deren letzte in Genettescher Terminologie eine metametametametametadiegetische wäre), die antilinear und nicht-hierarchisch, sich teilweise kreuzend und nach dem Kompositionsprinzip des entrelacement angeordnet sind und mitunter fließend in die Rahmenhandlung übergehen. Tzvetan Todorov hat den Roman als paradigmatischen Text für seine Introduction á la littérature fantastique von 1970 (Einführung in die fantastische Literatur [1972]) herangezogen und die Rahmenerzählung als zentrale narrative Strategie phantastischen Schreibens erkannt. Der Titel von Manuscrit trouvé à Saragosse rekurriert auf eine zweite, mit der Rahmenerzählung verwandte Narrationsstrategie des Phantastischen, die noch in der Stummfilmära von der Literatur auf die Kinematographie übertragen wurde und seit jeher zum formalen Standardinventar des Phantastischen in Literatur und Film zählt: die Manuskriptfiktion. Der extradiegetische Erzähler in Potockis Roman gibt vor, die Aufzeichnungen eines anonymen spanischen Verfassers wiederzugeben, die ihm als Offizier der französischen Armee bei der Belagerung Saragossas in die Hände gefallen seien und die er wegen ihres schillernden Inhalts (»von Räubern war die Rede, von Gespenstern, von
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Kabbalisten, […] ein bizarrer Roman«15) während einer späteren Kriegsgefangenschaft sich zum Zeitvertreib von einem Spanier ins Französische übersetzen lassen und nach dessen Diktat in der Fassung niedergeschrieben habe, die in der intradiegetischen Haupterzählung vorliegt. Neben der Unbekanntheit des Verfassers und dem vom extradiegetischen Erzähler als ›bizarr‹ qualifizierten Inhalt des Manuskripts kommt also noch der Translationsvorgang mit der ihm inhärenten Gefahr von Fehlern und Ungenauigkeiten der (in Potockis Fiktion zudem mündlich erfolgten) Übersetzung als Unsicherheitsfaktor hinzu, der den Rezipienten des Gesamttextes an der Glaubwürdigkeit des Erzählten und der Zuverlässigkeit der Erzählerinstanzen zweifeln lässt, allerdings nicht so massiv, dass er das Gelesene kurzerhand als Hirngespinste einer pathologisch überquellenden Fantasie abtun könnte. Es bleibt jene Unschlüssigkeit der Lektüre, die in Todorovs Ansatz das Wesen der Phantastik als Erzählstruktur – und nicht als literarische Gattung – determiniert (s.u.).16 Beide im Sandmann und in Manuscrit trouvé à Saragosse anzutreffenden Erzählstrategien des Phantastischen, die Rahmenerzählung und die Manuskriptfiktion, begegnen wieder in einer Vielzahl phantastischer Filme der Stummfilm- und frühen Tonfilmzeit, von denen hier drei filmkünstlerisch herausragende Beiträge herausgegriffen werden, die auch als direkte Vorbilder für die Verwendung und Weiterentwicklung dieser Stilmittel in VARGTIMMEN Frage kommen: DAS CABINET DES DR. CALIGARI (D, R: Robert Wiene, 1919/20), NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (D, R: Friedrich Wilhelm Murnau, 1921/22) und VAMPYR – DER TRAUM DES AL17 LAN GREY (D/DK/F, R: Carl Theodor Dreyer, 1932). Im CABINET DES DR. CALIGARI besteht die Rahmenerzählung in einem Gespräch, das ein junger
15 Jan Potocki: Die Handschrift von Saragossa. Herausgegeben von Roger Caillois. Aus dem Französischen von Louise Eisler-Fischer und aus dem Polnischen von Maryla Reifenberg. Frankfurt/Main: Insel, 1961, S. 9. 16 Weitere Beispiele für die Manuskriptfiktion im Dienste der literarischen Phantastik sind: E.A. Poe: The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket (1838), H.G. Wells: The Island of Doctor Moreau (1896), Guy Endore: The Werewolf of Paris (1933), Jean Ray: Malpertuis (1943). 17 Vgl. den Beitrag von Marcus Stiglegger Der ewige Schlaf. Über VAMPYR von Carl Theodor Dreyer im vorliegenden Band.
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Mann namens Francis18 (Friedrich Fehér), Patient in einer psychiatrischen Klinik, mit einem anderen Insassen im Park der Anstalt führt. Im Verlauf dieser Unterredung erzählt Francis ausführlich von den grausigen und unheimlichen Erlebnissen, die ihn aus der seelischen Balance gebracht und seine Einweisung in die Nervenheilanstalt nach sich gezogen haben. Die Geschichte Francis‘ rankt sich, verkürzt wiedergegeben, um den rätselhaften Hypnotiseur Dr. Caligari (Werner Krauss), der in seiner Schaubude auf dem Jahrmarkt einer Kleinstadt den Somnambulen Cesare (Conrad Veidt) vorführt. Zwei Morde geschehen, die Kriminalpolizei verhaftet einen Verdächtigen. Francis jedoch ist überzeugt, dass die Verbrechen auf Caligaris Konto gehen. Während Caligaris Vollstrecker Cesare die von Francis geliebte Jane entführt – und sich damit erstmals seinem Meister widersetzt, der die Ermordung des Mädchens angeordnet hatte –, verfolgt Francis Caligari bis zu seinem Zweitdomizil, eben jener psychiatrischen Anstalt, in der die Francis-Figur der Rahmenhandlung als Patient untergebracht ist. In dem Direktor der Irrenanstalt erkennt Francis Caligari wieder und teilt einigen Ärzten seine Entdeckung mit. Bei einer heimlichen Durchsuchung des Direktorenzimmers entdecken Francis und die Doktoren ein altes Buch über Somnambulismus, das einen Abschnitt mit dem Titel ›Das Cabinet des Dr. Caligari‹ enthält. In diesem ist von einem geheimnisvollen Magnetisieur zu lesen, der anno 1793 in Norditalien einen Somnambulen namens Cesare für die Ausübung mehrerer Mordtaten instrumentalisiert hatte. Ferner findet sich das Tagebuch des Direktors, aus dem dessen Obsession hervorgeht: das Rätsel der Macht jenes Caligari aus dem 18. Jahrhundert zu lösen und dessen Nachfolge anzutreten (»Ich muß Caligari werden!«). Während Francis und die Ärzte die Aufzeichnungen studieren, wird der vom Jahrmarkt verschwundene und zwischenzeitlich unauffindbare Cesare ins Zimmer getragen; der ankommende Direktor erleidet bei seinem Anblick einen Tobsuchtsanfall und muss überwältigt, in eine Zwangsjacke gesteckt und eingesperrt werden. An dieser Stelle endet Francis' retrospektiver Bericht als Binnenerzählung. Bei einem Spaziergang durch den Anstaltspark begegnet er Cesare und Jane, beide ebenfalls Patienten in der Klinik. In dem kurz darauf erscheinenden Anstaltsdirektor (Krauss) erkennt Francis erneut Caligari, den er bis dahin in einer isolierten Zelle untergebracht glaubte; außer
18 In einigen Fassungen und auch zuweilen in der Forschungsliteratur lautet die Schreibweise Franzis.
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sich über seine neuerliche Entdeckung der Identität des mordenden Hypnotiseurs mit dem geachteten Arzt und Klinikdirektor greift Francis den scheinbaren Caligari heftig an, wird vom Pflegepersonal in eine Zwangsjacke gesteckt und fortgezerrt, erleidet also das gleiche Schicksal wie der ›Caligari‹ in der Binnenerzählung. Die letzte Einstellung des Films zeigt den Anstaltsleiter ›Caligari‹ im close-up, mit schwer deutbarer Mimik, den Blick in die Kamera gerichtet. Die letzte Texttafel gibt Caligaris Schlussworte wieder: »Endlich begreife ich seinen Wahn. Er hält mich für jenen mystischen Caligari! – Und nun kenne ich auch den Weg zu seiner Gesundung.« Der Kniff, den intradiegetischen Erzähler einer unheimlichen, verworrenen und das Übernatürliche streifenden Geschichte als psychisch labil, nervlich zerrüttet oder geistesgestört darzustellen, um dem Rezipienten gegenüber der Erzählerinstanz und des von ihr Berichteten misstrauisch zu machen, ist seit der Schwarzen Romantik19 der meistbenutzte erzähltechnische Handgriff, um eine Unschlüssigkeit des Lesers, d.h. eine phantastische Struktur im Sinne Todorovs zu generieren; exemplarische Texte sind u.a. Poes The Tell-Tale Heart und Guy de Maupassants Fou? Wie in diesen beiden Erzähltexten und im Sandmann begünstigt auch im CABINET DES DR. CALIGARI die direkte Rezipientenansprache, in der ein Erzähler oder eine Figur die Illusion eines geschlossenen fiktionalen Universums zeitweise durchbricht und auf der Ebene eines Metatextes den kompositorischen, arrangierten Charakter des Narrationsvorgangs reflektiert, den phantastischen Erzählmodus. Im CABINET DES DR. CALIGARI bleibt auch nach dem Ausblenden des letztes Bildes unklar, an wen der ›Caligari‹ der Rahmenhandlung seine Diagnose über den Fall Francis richtet, der Zuschauer fühlt sich durch das formale Mittel des frontalen Zooms auf das Gesicht der sprechenden Figur jedoch unmittelbar angesprochen und bleibt mit dem schier unlösbaren Rätsel zurück, was er von dem Gesehenen halten soll.20
19 Zu dieser Epoche und Begrifflichkeit vgl. einen Klassiker der Literaturwissenschaft: Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. Übersetzt aus dem Italienischen von Lisa Rüdiger. München: dtv, 21981. 20 Siegfried Kracauer weist in seinem epochalen filmhistorischen Standardwerk Von Caligari zu Hitler (erstmals 1947 in englischer Sprache erschienen), auf dessen Haupttitel zu verweisen – selbstredend in völlig abweichender Bedeutung – der vorliegende Aufsatz sich anmaßt, darauf hin, dass die Rahmenhand-
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Die Doppelbesetzung von Werner Krauss als Hypnotiseur Caligari und Klinikchef ›Caligari‹ scheint auf den ersten Blick Francis’ Version von der Identität beider Gestalten zu stützen; dabei ist zu bedenken, dass die retro-
lung im CABINET DES DR. CALIGARI erst vom Regisseur Robert Wiene und gegen die Bedenken der Drehbuchautoren hinzugefügt worden sei (Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Übersetzt von Ruth Baumgarten und Karsten Witte. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 21993, S. 72). Jedoch verkennt Kracauer die erzählstrategische Raffinesse und Komplexität der Rahmengeschichte (und ihrer Dialogizität mit der Binnengeschichte), wenn er sie einseitig ideologiekritisch als Vehikel zur Denunziation einer ursprünglich revolutionären Botschaft des Films begreift: »[…] sie entstellte ihre [der Drehbuchautoren Janowitz und Mayer, M.T.] eigentlichen Absichten oder verkehrte sie sogar ins Gegenteil. Während die Originalhandlung den der Autoritätssucht innewohnenden Wahnsinn aufdeckte, verherrlichte Wienes CALIGARI die Autorität als solche und bezichtigte ihren Widersacher des Wahnsinns. Ein revolutionärer Film wurde so in einem konformistischen Film umgewandelt; es war, als ob man sich ein Bespiel an der häufig geübten Praxis nähme, einen normalen, aber unbequemen Mitbürger für geistesgestört zu erklären und in eine Anstalt zu überführen. Der Grund für diese Umwandlung lag zweifellos nicht so sehr in Wienes persönlichem Geschmack als in seiner instinktiven Unterwerfung unter den Kanon der Filmproduktion […]. In CALIGARI und verschiedenen anderen Filmen der Zeit diente der Kunstgriff der Rahmenhandlung nicht nur ästhetischen Zwecken, sondern symbolisierte einen bestimmten Gehalt. Bezeichnenderweise vermied es Wiene, die Originalgeschichte selbst zu verstümmeln. Obwohl CALIGARI ein konformistischer Film geworden war, wurde die revolutionäre Handlung darin beibehalten und sogar belastet – als eine Irrenphantasie.« (Kracauer: Von Caligari zu Hitler, S. 73-74). Kracauer übersieht insbesondere das verrätselte, die phantastische ›Unschlüssigkeit‹ schaffende Ende des Filmes, wenn er die Nichtidentität des Hypnotiseurs Caligari mit dem Anstaltsdirektor für bare Münze nimmt und dessen Schlussworte als eine Form der »tröstlichen Zusicherung« (S. 73) an den Zuschauer auffasst. Handelt es sich hier um eine jene Ungenauigkeiten, die Kracauer unterliefen, weil er bei der Ausarbeitung seiner Monographie im New Yorker Exil »kaum Zugang zu Filmkopien« hatte und »vierzig Jahre Filmgeschichte im Gedächtnis« (Gertrud Koch: Kracauer zur Einführung. Hamburg: Junius, 1996, S. 101) präsent haben musste?
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spektive Erzählung der Binnenhandlung von Francis selbst vorgetragen und daher strikt seiner Sichtweise der Dinge folgt, die Konstruktion einer Identität von Caligari und ›Caligari‹ also durch die personale Erzählsituation der Narrationsinstanz determiniert ist. Allerdings fällt auf, dass innerhalb der Binnenerzählung auch Ereignisse geschildert werden, von denen die in der Rahmenhandlung angesiedelte Erzählerfigur Francis weder durch persönliche Anwesenheit noch durch später erlangte Kenntnis überhaupt etwas wissen kann, so die Entführung Janes durch Cesare und seine Flucht mit ihr über die Dächer der Stadt, Geschehnisse, die sich in Francis’ Abwesenheit und von diesem unbemerkt zutragen. Obgleich formal als Ich-Erzählung von Francis angelegt, folgt die Binnenerzählung keineswegs der für diese Erzählsituation typischen Konvention, dass der Ich-Erzähler an allen Szenen seiner Geschichte selbst beteiligt ist und innerhalb der Ich-Erzählung über deren story als Erzählmasse ›olympisch‹-auktorial frei verfügen kann. Der durch die Rahmenhandlung im Anstaltspark formal etablierte Charakter der Binnenhandlung als Ich-Erzählung Francis’ wird dadurch und mit weiteren Mitteln – in den erzählenden Texttafeln und Dialogen der Binnenhandlung tauchen kein einziges Mal Pronomina oder andere sprachliche Hinweise auf, über die Francis als Erzählerinstanz dieses Narrationsgefüges markiert würde – unterminiert. Somit wird auch nicht deutlich, ob die identische physische Erscheinung von Caligari und ›Caligari‹ die subjektive Sicht Francis auf diese Figur(en) wiedergibt oder von einer ›unsichtbaren‹ extradiegetischen Erzählerinstanz herrührt, die, vom Zuschauer fast unbemerkt, über Francis’ Kopf hinweg Anordnung und Abfolge der epischen Handlung in dessen autodiegetischer (Binnen-)Erzählung kontrolliert. Mit einer Rahmenhandlung in Gestalt einer Manuskriptfiktion, die qua Gattungszugehörigkeit des fingierten Manuskripts die Instanz des extradiegetischen Erzählers zu stabilisieren scheint, ist Friedrich Wilhelm Murnaus unautorisierte (dafür die Vorlage übertreffende) Dracula-Verfilmung NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS, neben CALIGARI der zweite große phantastische Horrorstummfilm der Weimarer Republik, ausgestattet. Es handelt sich hier um einen Archivar oder Chronisten unbekannter Identität, dessen schriftliche Niederlegung der schrecklichen Ereignisse, die sich im Jahre 1843 in der fiktiven Hafenstadt Wisborg zugetragen haben sollen, dem Rezipienten unmittelbar nach dem kurzen Vorspann als vergilbte Pergamentblätter kommentarlos zur Ansicht vorgelegt werden. Der Duktus des Geschriebenen suggeriert, dass der Schreiber dieser stadtchronikartigen
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Aufzeichnungen die Geschehnisse aus einer gewissen zeitlichen Distanz und aus auktorialer Perspektive rekapituliert. Besonders deutlich ist dies in der Schlusseinstellung des Films, die das letzte Blatt des Schriftstücks einblendet und damit die eingangs eröffnete Rahmensituation auflöst: hier bezeichnet er die Rettung Wisborgs durch das freiwillige ›Jungfrauenopfer‹ Ellen Hutters als »Wunder«, das »um der Wahrheit willen bezeugt« werden solle. Der Schreiber dieser Chronik als extradiegetische Erzähler der Rahmensituation ist augenscheinlich nicht identisch mit dem ebenfalls auktorial agierenden intradiegetischen Erzähler innerhalb der NOSFERATU -Handlung, der sich in sich mehreren Texttafeln zu Wort meldet. Graphisch ist die Nicht-Identität dieser beiden Erzählerstimmen etwa durch die Verwendung unterschiedlicher Schriftarten für die Wiedergabe ihrer Äußerungen markiert. Zu diesen beiden zentralen Narrationsinstanzen kommen noch mehrere dezentrale, personale Erzählerstimmen hinzu, die nur begrenzte Strecken der epischen Handlung abdecken. Neben dem Buch ›Von denen Vampiren und Menschensaugern‹, das Hutter in seinem transsylvanischen Gasthaus in die Hände fällt und dessen mit apokalyptischer Bildsprache gespickte Schilderung des Nosferatu ihn zunächst als vermeintlich abergläubischer Humbug erheitert, um sich später auf grauenvolle Weise zu bewahrheiten, ist dies vor allem das Logbuch des Totenschiffes, mit dem Nosferatu samt dem Schwarzen Tod Einzug nach Wisborg hält. Hinzu kommen noch Hutters Tagebuch, ein von ihm auf Orloks Burg begonnener Brief und eine Zeitungsnotiz über den Ausbruch der Pest in Varna. Wie Stokers Dracula ist Murnaus NOSFERATU eine multiperspektivische Erzählung, deren einzelne Erzählerreden jedoch nicht als eindimensionale, enumerative Abfolge präsentiert werden, sondern hierarchisch gegliedert sind und sich wechselseitig ausleuchten. Der ostentativ formulierte Wahrheitsanspruch der extradiegetischen Manuskriptfiktion erweist sich als trügerisch.21 Das narratologische Requisit des vom Protagonisten aufgefundenen ›alten Buches‹, das den handelnden Figuren wie dem realen Rezipienten die Hintergründe des unheimlichen Geschehens erläutert, somit expositorische und katalysatorische Funktion vereinend, verwendet auch Carl Theodor
21 »Diese ironische Versicherung, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu berichten, ist ein alter erzählerischer Trick bei Fabeleien von unerhörten Begebenheiten.« Thomas Koebner: Nosferatu – eine Symphonie des Grauens. In: Ursula Vossen (Hg.): Filmgenres. Horrorfilm. Stuttgart: Reclam, 2004, S. 43.
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Dreyer in seinem Semi-Stummfilm VAMPYR, der kinogeschichtlich bedeutendste Beitrag Skandinaviens zum Horrorfilm. Der (Untertitel-)Held, der reisende Student Allan Grey22, verbringt eine Nacht in einen Gasthof in der französischen Provinz. Die plötzlich in sein Zimmer tretende Gestalt eines alten Mannes reißt ihn aus dem Schlaf und überreicht ihm ein Bündel, versehen mit der Aufschrift »Nicht vor meinem Tod zu öffnen«. Geleitet von geheimnisvollen Schatten, die ein seltsames Eigenleben zu führen scheint, gelangt Allan auf das nahegelegene Schloss, wo er Zeuge der Ermordung des Schlossherrn – als der sich der nächtliche Eindringling in Allans Zimmer entpuppt – wird und dessen erkrankter Tochter Léone begegnet. Allan öffnet das ihm anvertraute Bündel und findet ein Buch über das Unwesen des Vampirismus, als dessen Opfer er Léone erkennt. Von Visionen geplagt und von einer Blutspende für Léone auch körperlich geschwächt, erlebt Allan Grey eine Nacht des Schreckens, kann aber schließlich Léones jüngere Schwester aus der Gewalt des dämonischen Dorfarztes retten und den das Unheil auslösende Vampir, die alte Marguerite Chopin, sowie den Arzt, ihren Helfer, vernichten, worauf sich Léone von ihrer Krankheit erholt. Wie schon der schließlich gewählte deutsche Nebentitel ankündigt, ist Vampyr von einer (alp)traumhaften surrealen Stimmung geprägt, und die dadurch programmierte Destabilisierung der Narrationsinstanzen wird noch durch die vom extradiegetischen Erzähler in der eröffnenden Texttafel skizzierte Charakterisierung von Allan Grey verstärkt: der Student habe sich in »die Studien des Teufelskultus und Vampyr-Aberglaubens« versenkt, und dies nicht folgenlos: »Die Beschäftigung mit den Wahnideen vergangener Jahrhunderte machte ihn zu einem Träumer und Phantasten, dem die Grenze zwischen Wirklichkeit und Übernatürlichem verlorenging.« Ab dem Auftreten des Schlossbesitzers in Allans Kammer wird der Rezipient im Zweifel gelassen, ob das Geschehen real oder Trauminhalt des schlafenden Allan ist. Für die wiederholten Gesichter Allans – so wird er
22 In einigen Bearbeitungen und Sekundärtexten findet sich auch die Schreibweise ›Gray‹. Selbst der Vorname der Figur variiert: in der französischen Fassung lautet er ›David‹.
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Zeuge seines eigenen Begräbnisses23 – werden mit seiner allgemein überspannten Psyche, seiner temporären physischen Beeinträchtigung infolge der Bluttransfusion und der morbid-psychedelischen Atmosphäre des Ortes verschiedene erwägenswerte unheimliche (im Sinne Todorovs, d.h. rationale) Ursachen angeboten, ohne dass sich diese lockere Indizienkette zu einem klinischen Befund von einiger Beweiskraft fügen würde. Die phantastische Unschlüssigkeit des impliziten Rezipienten bleibt gewahrt. Trotz der unterschiedlichen erzähltechnischen Realisierung sind die anonymen vampirologischen Schriften bei Murnau und Dreyer als intradiegetische expositorische Texte strukturell den Tagebucheintragungen und Zeichnungen Johans als metadiegetische narrative Zeichensysteme vergleichbar – Ellen liest das von Hutter mitgebrachte transsylvanische Büchlein, Alma liest Johans Tagebuch. Während sich aber in CALIGARI, NOSFERATU und VAMPYR durch die Lektüre der ›alten Bücher‹ die Hintergründe und Zusammenhänge der schrecklichen Bedrohung klären und die lesenden Figuren aus ihnen Informationen zu deren wirkungsvoller Bekämpfung erhalten, erzielt die intradiegetische Manuskriptfiktion in VARGTIMMEN eine gegensätzliche Wirkung: durch das Lesen von Johans Tagebuch steigert sich Almas Verunsicherung und Angst nur noch, und auch das Psychogramm des Tagebuchschreibers Johan wird im schummrigen Licht seiner Eintragungen eher diffuser als klarer. Das dramaturgische Mittel der intradiegetischen Manuskript-/Tagebuch(Logbuch)-Fiktion, die in NOSFERATU und VAMPYR Hilfsmittel für die Beendigung der Bedrohung ist, wird in VARGTIMMEN zum Multiplikator des Grauens verformt und radikalisiert die Erzählkonventionen des phantastischen Kinos der 1920er und frühen 30er Jahre, um die phantastische Verwirrung des impliziten Lesers, ob das Gelesene als wunderbar (Zeugnis eines Eingriffes des Numinosen in die reale Welt) oder unheimlich (Selbstdokumentation eines pathologischen Falles) zu betrachten sei, zu steigern. Bergman setzt somit die im phantastischen Horror(stumm)film strukturell und medial angelegte Destabilisierung sowohl der (mikrostrukturellen) intradiegetischen Aufzeichnungs- und Bekenntnisfiktion als der (makrostrukturellen) Mystifizierung der extradiegetischen Rahmensituation konsequent fort. Wie Murnau in NOSFERATU legt
23 Ein in Horrorfilm und -Literatur der Epoche häufigeres Motiv; vgl. Hanns Heinz Ewers’ Novelle Mein Begräbnis (1917) und Michael Curtiz’ Horrorkriminalfilm DOCTOR X von 1932.
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Bergman in VARGTIMMEN zwei verschiedene, duophone Narrationsinstanzen übereinander: der anonyme, unsichtbare ›Erzähler‹ der eröffnenden, sachlich informierenden Texttafel – im Stummfilm das rezipientenlenkende und epische Mittel kat'exochên – und Almas bekenntnishafte, subjektiv gefärbte Erzählung, gerichtet an einen chimärenhaft bleibenden Hörer. Als dritte Rahmungsebene kommt noch die Erzählinstanz des realen Regisseurs mitsamt seiner Filmcrew hinzu, die zwar nicht selbst vor die Kamera tritt, aber sich während des Vorspanns in voller Betriebsamkeit Gehör verschafft und somit dem realen Rezipienten die Artifizialität des gesamten Erzählvorgangs vor Ohren führt, ein Distanzierungseffekt, der in den betont antinaturalistischen, surrealistisch-expressionistischen Kulissen des CALIGARI mit ihrer »windschiefen, das Grauen förmlich ausschwitzenden Architektur, […] den schräger Pfaden und bizarr geformten, kahlen Bäumen«24 vorgeprägt ist.25
24 Norbert Stresau: Der Horror-Film. Von Dracula zum Zombie-Schocker. München: Heyne, 1987, S. 39-40. 25 Beinahe überflüssig zu erwähnen ist, dass als weiterer Hypotext zu VARGTIMMEN
auch Victor Sjöströms KÖRKARLEN (SE, R: Victor Sjöström, 1921; FUHR-
MANN DES TODES)
von 1921, das Meisterwerk des schwedischen phantastischen
Stummfilms und einer der bedeutendsten Filme der gesamten skandinavischen Kinogeschichte, in Betracht kommt. Bergmans äußerst positive, bis zur Bewunderung reichende Haltung zu Sjöström (den er als fast Achtzigjährigen in SMULTRONSTÄLLET [SE, R: Ingmar Bergman, 1957; WILDE ERDBEEREN] als Hauptdarsteller besetzte) und speziell zu KÖRKARLEN ist bestens dokumentiert. Zwar erweist sich KÖRKARLEN inhaltlich mit seiner Zentrierung der Tuberkulose- und Alkoholismus-Problematik nicht als ›Horrorfilm reinsten Wassers‹ im Stile von CALIGARI, NOSFERATU und VAMPYR, sondern eher als düsteres Sozialdrama mit einer – ebenso wie die naturalistische Haupthandlung – in sich verschachtelten schauerromantischen Nebenhandlung. Letztere ist es, die das Kompositionsgefüge des Films steuert und ihm seine phantastische Struktur verleiht: Eine an einem Silvesterabend im Sterben liegende Heilsarmeeschwester schickt nach einem von ihr geliebten früheren Zögling namens David Holm, einen gewalttätigen, physisch wie charakterlich verwahrlosten Trunkenbold. Dieser spricht derweil, auf dem Friedhof herumlungernd, wieder einmal dem Branntwein zu, wird aber im Streit von seinen Kumpanen erschlagen und stirbt Schlag zwölf Uhr, weswegen er – als letzter im alten Jahr Verstorbener – nun den bis-
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Die Destabilisierung der intradiegetischen Narrationsinstanzen betrifft primär die Figur Johans, in dessen Aussagen sich reale Ereignisse, traumatische Erinnerungsfragmente, Intrusionen und wahnhafte Fantasien unentwirrbar verheddern, greift aber auf auch Alma über, die in der den Rahmen schließenden letzten Einstellung des Films die Frage aufwirft, ob sie die dämonischen Gestalten wirklich gesehen oder sie sich diesen Anblick, von Johans Wahn ›angesteckt‹, nur eingebildet habe. Ausgelöst durch den kommerziellen Überraschungserfolg der LowBudget-Produktion THE BLAIR WITCH PROJECT (US, R: Daniel Myrick/ Eduardo Sánchez, 1999) hat sich im postmodernen Horrorfilm die Narrationsstrategie der found footage als aktualisierte, dem audiovisuellen und digitalen Zeitalter adäquate Variante der phantastikaffinen Manuskriptfiktion etabliert und ist mit über siebzig Beiträgen allein für den Zeitraum 2007201226 im 21. Jahrhundert zu einem eigenen Subgenre des Horrorfilms geworden. Über frühere Zwischenstufen wie CANNIBAL HOLOCAUST (I, R: Ruggero Deodato, 1980) oder MÅNGUDEN (SE, R: Jonas Cornell, 1988) lässt sich diese Ausprägung der Manuskriptfiktion mittelbar mit Bergman und dessen Stummfilmvorläufern verbinden, zumal das stilprägende BLAIR WITCH PROJECT mit einer fast identisch arrangierten Dialogizität zweier Erzählinstanzen arbeitet: zu Beginn des Film vermeldet eine auktorialextradiegetische Texteinblendung das Verschwinden dreier Filmstudenten
herigen Fuhrmann des Todes (eine Art Sensenmann mit zweirädrigem Gefährt) bis zur nächsten Neujahrsnacht aus seinem grausigen Amt auslösen muss – so scheint es zumindest. Nach einer Reihe von schrecklichen Erlebnissen an der Seite des Fuhrmanns erwacht der geläuterte Holm und kehrt zu seiner Familie zurück. Die phantastische Unschlüssigkeit besteht darin, ob der Fuhrman Holm aufgrund seiner Läuterung aus seinem schaurigen Amt entlassen hat und der reuige Sünder eine zweite Chance erhält oder ob das gesamte Geschehen um den Fuhrmann ein durch die Umgebung und den Alkoholrausch begünstigter Alptraum David Holms war. 26 Die bekanntesten Beispiele dürften sein: [REC] 1-3 (E, R: Jaume Balagueró/Paso Plaza, 2007-2012), PARANORMAL ACTIVITY 1-3 (US, R: Oren Peli/Tod Williams/Henry Joost/Ariel Schulman, 2007-2011), CLOVERFIELD (US, R: Matt Reeves, 2008), ATROCIOUS (E, R: Fernando Barreda Luna, 2010) sowie als skandinavischer Beitrag TROLLJEGEREN (NO, R: André Øvredal, 2010; TROLLHUNTER).
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in den Wäldern von Burkittsville, Maryland im Oktober 1994, wo sie sich für Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm aufgehalten hätten; ein Jahr später sei das damals entstandene Filmmaterial gefunden worden. Es folgt die per Video- und 16mm-Handkamera in verwackelten Bildern gedrehte, personal-intradiegetische found footage. Ähnlich wie das chronikartige Manuskript in NOSFERATU postuliert auch in BLAIR WITCH PROJECT die vorangestellte Texttafel durch die Nennung von konkreten Kalenderdaten und eines (in diesem Fall real existierenden) Ortnamens sowie durch die Betonung des dokumentarischen Charakter des Filmprojekts einen Wahrheitsanspruch, der bei genauerer Betrachtung zunehmend zweifelhaft wird, denn weder wird erklärt, von wem und welchen Umständen die found footage entdeckt wurde noch warum zwischen Auffinden und angeblicher Veröffentlichung mehrere Jahre vergangen sind noch ob bzw. wie das gefundene Rohmaterial bearbeitet wurde (bei der realen Produktion von BLAIR WITCH PROJECT wurden insgesamt 19 Stunden Footage gedreht, die dann auf knapp 90 Minuten zusammengeschnitten wurde). Die titelgebende Hexe von Blair tritt während des gesamten Films weder visuell noch akustisch in Erscheinung, nur einige blutige Überreste von bestialischen Mordtaten tauchen verstreut über die dreitägige erzählte Zeit auf und das abrupte, offene Ende der found footage lässt im Unklaren, ob hier eine mit übernatürlicher Macht ausgestattete Hexe ihr Unwesen treibt oder die drei Studenten Opfer von Verbrechen eines sadistischen Killers aus Fleisch und Blut werden. Die von einem extradiegetischen olympischen Erzähler präsentierte Manuskript-, Tagebuch- und found-footage-Fiktion als intradiegetische Vermittlungsform einer phantastischen Erzählung oder Horrorstory bringt es mit sich, dass sich das Interesse des Rezipienten primär nicht auf das Was, sondern auf das Wie der Narration richtet, da der Endpunkt der Handlung oder das Schicksal der Hauptperson(en) durch die Rahmungsfiktion und die ihr vom extradiegetischen Erzähler beigegebenen Informationen meist im Wesentlichen vorweggenommen werden und somit dem Rezipienten schon vor Beginn der intradiegetischen Erzählung bekannt sind: der Zuschauer des CABINET DES DR. CALIGARI weiß nach zwei Minuten Spielzeit des Films, dass Francis und Jane Insassen einer Irrenanstalt sind und erwartet von der Binnenhandlung des Films Aufklärung darüber, wie es zu der entsprechenden Einwesung der beiden jungen Leute gekommen ist; dem Betrachter von BLAIR WITCH PROJECT gelangt noch vor den ersten be-
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wegten Bildern des Films die Tatsache zur Kenntnis, dass es mit dem Ausflug der drei Nachwuchsfilmer in die Wälder kein gutes Ende nehmen wird. Eine ähnliche rezipientenlenkende Wirkung hat auch die erste, extradiegetische Rahmung mittels Texttafel in VARGTIMMEN: lange bevor Johan erstmals in persona auf der Leinwand erscheint, weiß der Zuschauer, dass diese Figur am Ende der Handlung unter mysteriösen Umständen verschwunden sein wird und stellt sich darauf ein, das Filmgeschehen als Vorgeschichte dieses Verschwindens, d.h. als Rekonstruktion eines Kriminalfalles und damit gewissermaßen aus der Warte eines Detektivs, Archäologen oder Psychiaters zu betrachten, letzteres umso mehr, als sich sehr bald herauskristallisiert, dass es sich bei Johan Borg um einen psychopathologischen Fall handelt, auch wenn die Ursachen seiner nervlich-seelischen Zerrüttung im Verlauf des Films immer rätselhafter werden. Die Verwendung dieser analytischen Erzählstruktur bewirkt – neben der doppelten Rahmung – eine innere Distanzierung des Rezipienten mit der Johan-Figur: da er, vom extradiegetischen Erzähler mit Vorinformationen gebrieft, während des Verfolgens der intradiegetischen Filmhandlung mehr weiß als die agierenden Figuren selbst, die Geschichte also aus gänzlich anderer Perspektive als diese – nämlich vom Ende her – betrachtet und das grausige, zumindest aber ungewisse Ende Johans während des gesamten Rezeptionsvorgangs mitdenkt, wird er kaum versucht sein, sich mit dieser Figur zu identifizieren (ebenso wenig, wie sich der Zuschauer der Binnenhandlung des CALIGARI mit Francis identifizieren wird, von dem er weiß, dass ihn sein Handeln und Denken in die geschlossene Psychiatrie führen wird). Das Vorwissen des Rezipienten um das negative Ende, das die Erzählung für die Hauptfigur nehmen wird, bringt rezeptionsästhetisch eine Pathologisierung der Figur mit sich, die anders als der glattrasierte jugendliche Held des klassischen gothicistischen27 Gruselfilms28 vom Zuschauer nicht als Identi-
27 ›Gothicism‹ ist ein in der englischsprachigen Horror(film)forschung gängiger Begriff (Verwendungsbeispiel: Steve Chibnall: A heritage of evil: Pete Walker and the politics of gothic revisionism. In: Steve Chibnall/Julian Petley: British Horror Cinema. London/New York: Routlegde, 22009, S. 161), dessen Übernahme als ›Gothicismus‹ (hieraus das Adjektiv ›gothicistisch‹) in die deutsche Fachterminologie hiermit vorgeschlagen wird; er bezeichnet den eingangs des vorliegenden Beitrags »klassische Schauerfilmkinematographie« genannten Filmstil.
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fikationsangebot wahrgenommen wird, sondern als ein von außen zu betrachtendes kriminalistisches, psychiatrisches oder okkultistisches Studienobjekt. Die Betonung des artifiziellen, komponierten Charakters der Erzählung durch surrealistische Bauten (CALIGARI), Beiseite-Sprechen einer Figur (CALIGARI, VARGTIMMEN) und kalkuliertes Durchbrechen des Fiktionalitätsmodus durch selbstreferentielle Regieszenen, die alle Einstellungen mit Schauspielern und Kulissen als Inszenierung entlarven (VARGTIMMEN), verstärken diese Wirkung. Dem Rezipienten von VARGTIMMEN wird unmissverständlich klar gemacht, dass Johan, Alma und alle anderen Gestalten des insularen Panoptikums letztlich wie Marionetten an den Fäden des höchst lebendigen Autorregisseurs Ingmar Bergman hängen, insofern den hölzernen dramatis personae der Zauberflöte in der PuppenspielEinlage auf Schloss Merkens vergleichbar. Ein von Bergman aufgegriffenes gängiges Kunstmittel des Horrorfilms neben der Manuskriptfiktion ist das der Alptraum- oder alptraumhaften Rückblendesequenz, die in der ersten Hälfte der 1960er Jahre vom eingangs genannten Roger Corman in seiner Reihe freier Poe-Adaptionen stilistisch und farbdramaturgisch perfektioniert wurde und zu einer Art Markenzeichen dieser Filmreihe avancierte. Cormans Alptraumsequenzen (HOUSE OF USHER, MASQUE OF THE RED DEATH [hier im Gewand einer durch Trance indizierten masochistischen Vision]) und Rückblenden in die traumatische Vergangenheit seiner Protagonisten (PIT AND THE PENDULUM) sind geprägt von stark stilisierten, viragenartigen Sepiatönen, einer stummfilmmimetischen Tonlosigkeit des internen Erzählgeschehens – die über diese Szenen gelegten Toneffekte und Musikuntermalungen sind als extradiegetische Eingriffe markiert – und eine ›dreyeresk‹ anmutende, gewollt unscharfe, an den Bildrändern verschwommene Optik29. Die Rückblende in VARGTIMMEN, in der Johans Erzählung von der Tötung des Jungen im Sommer des
28 Wie z.B. Philip Winthrop (Mark Damon) in HOUSE OF USHER, Francis Barnard (John Kerr) in PIT AND THE PENDULUM oder André Gorobec (John Richardson) in LA MASCHERA DEL DEMONIO). 29 Zu diesem visuellen Verfahren Dreyers beim Dreh von VAMPYR vgl. Marcus Stiglegger: Ein Traum in einem Traum… Carl Theodor Dreyers Vampyr – Der Traum des Allan Grey (1932). In: Stefan Keppler/Michael Will (Hgg.): Der Vampirfilm. Klassiker des Genres in Einzelinterpretationen. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2006, S. 79.
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Vorjahres visualisiert wird, folgt den von Corman kodifizierten Konventionen einer surrealistisch-psychedelischen Ästhetik, die dem Rezipienten die Unwirklichkeit des geschilderten Geschehens vor Augen führt und ihm signalisiert, dass sich in dieser Bilderfolge tatsächliche Erinnerungen mit eigenen ›Kopfgeburten‹, psychotischer (Aus)Fabuliererei und Versatzstücken aus dem Unterbewusstseins (und Es) der Hauptfigur vermischen. Als Meister der Schwarzweißfilm-Kinematographie, hierin Adept Murnaus, Dreyers und Fritz Langs, assimiliert Bergman Cormans farbintensive Alptraum- und Traumaikonologie dem im Schwarz-Weiß-Film zur Verfügung stehenden Farbspektrum: die Rückblende auf den Kindsmord in VARGTIMMEN ist neben der Tonlosigkeit vor allem von einem extremen, fast augenfeindlichen Chiaroscuro – der den Heimkinozuschauer in die Versuchung führt, die Bildqualität mit der Kontrastfunktion seiner Fernbedienung nachzuregulieren – und einer sehr grobkörnigen Auflösung gekennzeichnet. Zwei Kreuzungspunkte sind zwischen VARGTIMMEN und der sog. Apartment Trilogy (Mieter-Trilogie) Roman PolaĔskis, bestehend aus REPULSION (F, 1965; EKEL), ROSEMARY'S BABY (US, 1968 [nach Ira Levin]) und LE LOCATAIRE (F, 1976; DER MIETER [eine werkgereue Verfilmung des Romans Le locataire chimérique von Roland Topor]), zu verzeichnen. Alle drei Filme zeichnen die psychische Zerrüttung von Bewohnern einer metropolen Wohnanlange nach, die durch die morbide Atmosphäre der eigenen Räumlichkeiten und (in den beiden letzten Teilen der Trilogie) den zunehmend als soziale Kontrolle und Verfolgung wahrgenommenen Kontakt mit skurrilen Nachbarn vorangetrieben wird. Strukturell bestehen Parallelen zwischen den grotesken Gestalten auf der Insel und in Merkens‘ Schloss in VARGTIMMEN und den Satanisten um die Eheleute Castevet und den Gynäkologen Dr. Sapierstein, die das junge Paar Guy und Rosemarie Woodhouse Schritt um Schritt in ihre buchstäblich teuflische Welt hinüberziehen sowie zu den streitsüchtigen Hausbewohnern in LE LOCATAIRE, die den stillen Angestellten Trelkovsky die Identität seiner Vormieterin Simone oktroyieren und ihn schließlich zur Nachahmung von deren Suizidversuch treiben. Eine unmittelbare kinematographische Übereinstimmung, die kaum anders denn als bewusstes Zitat aus VARGTIMMEN erklärbar ist, liegt in der Szene vor, in der Trelkovsky (gespielt von PolaĔski selbst), die Kleider Simones tragend und mit ihren Kosmetika geschminkt, nach seinem ersten Fenstersturz von den Nachbarn, die er für Verschwörer mit dem Ziel seiner Vernichtung hält, umringt und begafft wird; Prätext ist zweifellos der Auf-
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enthalt des in Manier eines mimus albus grotesk weißgeschminkten Johan im Schlossverließ, der vor der aufgebahrten Veronica von den Gestalten seiner Wahnvorstellungen bedrängt wird.30 Diese beiden Szenen im Vergleich beleuchten auch schlaglichtartig die unterschiedlichen Traditionsstränge innerhalb der pluralistischen Entwicklung des Horrorfilms in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, an die Bergman und PolaĔski anknüpfen: sowohl VARGTIMMEN als auch die drei Beiträge der Apartment Trilogy thematisieren den psychopathologischen Fall eines Identitätsverlustes der Hauptfigur durch eine Reziprozität von internen (Verwischen der innersubjektiven Grenze zwischen Realität und angsteinflößenden Phantasmata, Ausbildung psychotischer, schizophrener oder schizoider Verhaltens- und Denkmuster) und externen (beklemmende Umgebung, unwahrscheinliche Zufälle, außergewöhnliche soziale Erfahrungen) Faktoren. Während jedoch PolaĔski durch die Wahl moderner urbaner Wohnungen als Schauplatz den sich um 1966/67 vollziehenden Paradigmenwechsel im Horrorfilm mit der Überwindung des gothicistischen Codes von Figuren, Settings, Plots und Einzelmotiven mitprägt, verharrt Bergman äußerlich in einer Reproduktion der inventarisierten Konventionen des Gothicismus der 30er bis Mitt-60er Jahre. Wie Mario Bava in OPERAZIONE PAURA reiht Bergman in VARGTIMMEN eine ganze Kollektion von Motiven des traditionellen Schauerfilms katalogartig aneinander: der sensible, psychisch labile bis morbide (bildende) Künstler31 die Insel als isolierender Handlungsraum, der seine Bewohner von der Außenwelt abschirmt und nicht ohne weiteres verlassen werden kann, weswegen er mitunter zum Kerker mutiert32; das Schloss als Epizent-
30 Als filmkünstlerischer ›Scharnier‹ zwischen Bergman und PolaĔski fungierend und wohl auch für dieses VARGTIMMEN-Zitat verantwortlich ist Bergmans Stamm-Kameramann Sven Nykvist, der für PolaĔski in LE LOCATAIRE die Kamera führte. 31 Vgl. die allesamt von Vincent Price verkörperten Rollen des Roderick Usher in HOUSE OF USHER, des Nicolas Medina in PIT AND THE PENDULUM und des Simon Cordier in DIARY OF A MADMAN (US, R: Reginald Le Borg, 1963; TAGEBUCH EINES
MÖRDERS [nach Guy de Maupassants phantastischer Erzählung
L‘Horla]). 32 Vgl. THE MOST DANGEROUS GAME (US, R: Irving Pichel/Ernest B. Schoedsack, 1933; GRAF ZAROFF – GENIE DES BÖSEN), ISLAND OF TERROR (GB, R: Terence Fisher, 1966; INSEL DES SCHRECKENS).
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rum des Unheimlichen und Grausigen33, das Schloss-/Burgverließ, die femme fatale34, das traumatische Regressionserlebnis, der Scheintod35, die physische Metamorphose, insbesondere als Mensch-Tier-Verwandlung36. In Verbindung mit dem lykophoren Filmtitel, die im Film selbst mit der Wolfssymbolik in volkstümlicher Tageszeitmystik, also einer traditional lore entspringend37, begründet wird, erklärt diese quasi-enzykloplädische Summation schematisierter Narrateme und Ikonographeme der gothicistischen Kinematographie die Rubrizierung von VARGTIMMEN durch das Lexikon des internationalen Films als »Alptraumcollage von Ingmar Bergman, der das Psychogramm seiner Helden mit Horrorfilmzitaten und filmkritischen Reflexionen ironisch bricht«38. Vereinzelte pasticheartige
33 Vgl. nahezu sämtliche Dracula-Verfilmungen, Dreyers VAMPYR, Cormans HOUSE OF USHER, THE PIT AND THE PENDULUM, THE MASQUE OF THE RED DEATH, Bavas LA MASCHERA DEL DEMONIO sowie THE CURSE OF THE WEREWOLF (GB, R: TERENCE FISHER, 1961; DER FLUCH VON SINIESTRO).
34 Vgl. PIT AND THE PENDULUM, LA MASCHERA DEL DEMONIO (in beiden Fällen mit Barbara Steele in der Rolle der femme fatale). 35 Vgl. HOUSE OF USHER, PIT AND THE PENDULUM sowie THE PREMATURE BURIAL (US, R: ROGER CORMAN, 1962; LEBENDIG BEGRABEN)
36 Vgl. Werwolf- und Vampirfilme sowie CAT PEOPLE (US, R: JACQUES TOURNEUR, 1942;
KATZENMENSCHEN) und THE REPTILE (GB, R: John Gilling, 1966;
DAS SCHWARZE REPTIL). 37 Naheliegend, aber unhaltbar ist der Versuch, die Wolfssymbolik in Vargtimmen mit der mythologischen Gestalt des Fenriswolf zu verbinden (so Liv Aatland: The Swedish Dreams of Ingmar Bergman. Myth and Archetypes in Wild Strawberries and Hour of the Wolf. M.A. thesis, Regent University, Virginia Beach, VA, 1995). Ein solcher Nexus ließe sich zwar mit der ›methodischen Brechstange‹ konstruieren, etwa über das Motiv des ›Verschlingens‹ (Fenrir verschlingt zu den Ragnarök Odin, die ›wölfischen‹ Phantome ›verschlingen‹ Johan), erweist sich aber als nicht tragfähig (vgl. die vernichtende Kurzrezension in Steene: Ingmar Bergman, S. 1009). 38 Lexikon des internationalen Films. Das komplette Angebot in Kino, Fernsehen und auf Video. Völlig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Begründet von Klaus Brünne. Herausgegeben vom Katholischen Institut für Medieninformation (KIM) und der Katholischen Filmkommission für Deutschland. Band S. Hamburg, Rowohlt, 1995, S. 5390. – Die Trägerschaft dieses Nachschlagewerkes er-
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Verweise auf Genreklassiker finden sich in VARGTIMMEN durchaus; das deutlichste Beispiel ist zweifellos die Imitation der ikonisch gewordenen theatralischen Dracula-Darstellung des ungarischen Horrorfilm-Stars Béla Lugosi aus der Verfilmung von 1931 in der Physiognomie, Mimik, Gewandung und Fledermausverwandlung Lindhorsts.39 Der Versuch, VARGTIMMEN als eine systematische Ironisierung des Horrorfilm-Genres zu deklarieren, scheint indes vor allem dem Kritikerwunsch zu entspringen, einem schon durch den Namen seines Regisseurs als anspruchsvolles Kino ausgewiesenen Film eine ›seriöse‹ Distanz zur vorgeblich trivialen Gattung des Horrorfilms zu verschaffen. Selbstredend ist VARGTIMMEN ungleich mehr als ein später Aus- und singulärer nordischer Irrläufer im ansonsten angelsächsisch und romanisch dominierten Korpus des klassischen gothicistischen Schauerfilms oder ein Glasperlenspiel mit zusammengeklaubten Versatzstücken des Genres und virtuos eingestreuten Zitationen seiner Klassiker. Darauf verweisen auf inhaltlicher Ebene die Abwandlung der Hauptfigur vom Modell des energischen, oft jünglingshaften Suchenden, Aufklärer und Liebhaber zum Typus des nicht mehr ganz jungen, nervlich labilen und eher getriebenen als handelnden Antihelden samt der Verweigerung des für den traditionellen Gruselfilm genretypischen happy-endings, die semantische und funktionale Neubesetzung einiger der rezipierten Motiveinheiten, so die erwähnte vampireske Fledermaus-Verwandlung, die vom Zeichen für die Macht des Formwandlers über Naturgesetze in den Dracula-Adaptionen der 30er bis frühen 40er Jahre zum illusionistischen Varietékunststück im Falle Heerbrands wird. Hinzu kommt von inszenato-
klärt möglicherweise seine ausgeprägte, an vielen Beispielen nachweisbare und häufig unsachliche Anti-Horrorfilm-Haltung. Zum angespannten Verhältnis der (katholischen) Kirche zum Horrorfilm vgl. Georg Seeßlen / ClaudiusWeil: Kino des Phantastischen. Geschichte und Mythologie des Horror-Films. Hamburg: Rowohlt, 1980, S. 19-20. 39 Um nur ein weiteres Beispiel herauszugreifen: die bizarre Dinnergesellschaft hat einen Subtext in einer sehr ähnlichen Szene in UNHEIMLICHE GESCHICHTEN (D, R: Richard Oswald, 1932); die betreffende Episode beruht auf Poes grotesker Erzählung The System of Doctor Tarr and Professor Fether. Zu diesem nahezu vergessenen Film vgl. Claudia Pinkas: Der phantastische Film. Instabile Narration und Narration der Instabilität. Berlin/New York: de Gruyter, 2010, S. 248250.
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rischer Seite die Substitution der zuweilen ästhetizistisch überdeterminiert (Corman), zuweilen operettenhaft opulent (Fisher) wirkenden romantisierend-viktorianisch-décadencehaften Ausstaffierung von Kulissen und Kostümen durch eine schnörkellose Schlichtheit der Darstellung, in die sich in den Schloss-Szenen ein Amalgam aus groteskem Realismus und psychedelischen Phantasmagorien mischt. Formal grenzt Bergman VARGTIMMEN vom gothicistischen Code des traditionellen Schauerfilms ab durch die multiperspektivische Erzählstruktur und den Kunstgriff der verschachtelten Binnenerzählung innerhalb einer Rahmenhandlung mit verschleierter Kommunikationssituation, dem Unterlaufen des Fiktionalitätsillusion, die sorgfältig zelebrierte Destabilisierung der Erzählerinstanzen und das rätselhaftoffene Ende, samt und sonders Kunstmittel, die in der Tradition des phantastischen Films der 1910er bis frühen 30er Jahre stehen, dem Kino des Gothicismus mit seiner Bevorzugung auktorialer Fokalisierungen und linearer Erzählmodelle hingegen eher fern stehen.40
40 Im Korpus des klassischen gothicististischen Horrorfilms sind lediglich zwei nennenswerte Beispiel für Verwendung einer Rahmengeschichte zu verzeichnen: DIARY OF A MADMAN und Fishers CURSE OF FRANKENSTEIN. Während in DIARY OF A MADMAN die Rahmenhandlung vor allem dramaturgisch indiziert ist – nur durch die interne Fokalisierung mittels der Tagebuchfiktion ist die Handlung des Films, der psychische Kampf des Protagonisten mit einem unsichtbaren und nur für ihn überhaupt wahrnehmbaren Geist, narrativierbar – ist die Verwendung dieser epischen Technik in CURSE OF FRANKENSTEIN vielschichtiger: die Rahmenhandlung zeigt den inhaftierten und zum Tode verurteilten Victor Frankenstein, der in der Nacht vor seiner Hinrichtung gegenüber einem Geistlichen die Kernhandlung der Frankenstein-Stoffes von der Erschaffung des Monsters über dessen Morde bis zu seiner Vernichtung in einem Säurebad erzählt. Das gegen Frankenstein verhängte Todesurteil beruht darauf, dass ihm die Mordtaten des Monsters angelastet werden, da dessen Existenz nach seiner völligen physischen Zerstörung durch die Chemikalien nicht mehr nachweisbar ist. Frankenstein bemüht sich daher fieberhaft, Zeugen für die reale Existenz des Monsters beizubringen, das die Richter und der Geistliche für eine bloße Erfindung halten. Nach Anschluss der Binnenerzählung treffen Victors Ehefrau Elizabeth und sein Freund und ehemaliger Assistent Paul Krempe zu einem letzten Besuch im Gefängnis ein; Krempe war ausweislich der Binnenerzählung an der Kreation des Monsters beteiligt und trägt sogar mittelbar die
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Schuld an dessen Mordtaten, weil er das für die Kreatur vorgesehene Gehirn des alten Professor Bernstein beschädigt und damit den kriminellen Charakter des Monsters befördert hat. Während im Hintergrund bereits die Guillotine vorbereitet wird, fleht Frankenstein Paul Krempe an, die Wahrheit (d.h. die aus Frankensteins Binnenerzählung) zu bezeugen, Krempe lehnt dies jedoch ab. Unklar bleibt, ob seine Aussage wahrheitsgemäß und damit Frankensteins Binnenerzählung ein Fantasieprodukt ist oder ob Krempe, um die Wahrheit des von Frankenstein Erzählten wissend, diesem bewusst die rettende Zeugenaussage verweigert und Frankensteins Hinrichtung absichtlich nicht verhindert, sei es aus Bestrafung für Frankensteins frevelhaften Forschungen (aus denen sich Krempe nach Frankensteins Bekunden nach einiger Zeit wegen ethischer Bedenken zurückgezogen hat), sei es, um Frankenstein zu beseitigen und bei Elizabeth, zu der sich Krempe offensichtlich stark hingezogen fühlt, ›freie Bahn‹ zu haben. Der Film endet mit Frankensteins Exekution. Ähnlich wie in Caligari ist auch hier die Binnenerzählung nicht konsequent aus Sicht dessen geschildert, der sich erzählt: so stellt die (in der Fiktion der Rahmenhandlung von Frankenstein erzählte) Binnenhandlung den Tod Bernsteins eindeutig als Ermordung durch Frankenstein selbst dar, womit die Problem des Nachweises der Existenz des Monsters im Grunde obsolet ist, da ungeachtet der späteren Tötungsdelikte des Monsters bereits das Geständnis dieses einen Mordes ausgereicht hätte, um Frankenstein aufs Schafott bringen. – Anders motiviert ist die Rahmung in James Whales BRIDE OF FRANKENSTEIN (US, R: James Whale, 1935; Frankensteins Braut), dem besten amerikanischen Horrorfilm der 1930er Jahre und Sequel zu Whales FRANKENSTEIN von 1931. Hier besteht die Rahmenhandlung in einer Abendgesellschaft der Dichter Mary und Percy Shelley und Lord Byron, in deren Rahmen Mary die eigentliche Filmhandlung unfokalisiert erzählt. Ein Rückkopplungseffekt zwischen Rahmen- und Binnenhandlung wie in CURSE OF FRANKENSTEIN fehlt hier und die – Whale vom Produzenten aufgenötigte – Rahmenhandlung, die zum Ende des Films nicht aufgelöst wird, hat vor allem die Funktion, durch Vorschaltung einer textinternen Erzählerinstanz die seinerzeit strenge Zensur zu besänftigen (auf deren Druck dennoch mehrere Szenen des Films entschärft werden mussten). Whale konterkarierte die Vorgabe, indem er die Mary Shelley der Rahmenhandlung mit derselben Schauspielerin (Elsa Lanchester) besetzte, die in der Binnenhandlung die von Frankenstein und seinem neuen Kompagnon Dr. Praetorius geschaffene Monsterbraut verkörpert.
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Die Transkodierung des gothicistischen Zeicheninventars in die Narrationsstruktur des Phantastischen als zentrale Rezeptionsstrategie verbindet VARGTIMMEN mit dem von CALIGARI, NOSFERATU und VAMPYR repräsentierten expressionistisch-surrealistischen Horrorfilm der 1910er bis 1930er Jahre und greift somit multiperspektivische Erzählmodelle aus der vorklassischen Periode der Gattungsgeschichte auf, die im klassischen Horrorfilm, einsetzend 1931 mit James Whales FRANKENSTEIN- und Tod Brownings DRACULA-Adaption für die Universal-Studios und bis 1966/67 reichend, hinter einem meist eindimensional linear-chronologisch und unfokalisiert erzählten, stereotypisierten gothicistischen Schauerkosmos zurücktritt. Wie Bava in OPERAZIONE PAURA reproduziert Bergman das schematisierte Repertoire des Gothicismus, im Gegensatz zu dem Italiener freilich eher stenographierend als episch ausschreibend, funktionalisiert es aber vom eigentlichen Subjekt der Schauerkinematographie, in dem die Figuren und die sie darstellenden Schauspieler eher Requisiten einer sich gleichsam mechanisch von selbst vollziehenden Standardnarration als frei agierende Individuen sind41, zum Objekt der sie verhandelnden phantastischen Erzählund Abbildungsstrategien, die, dem Muster des caligaresken vorklassischen Horrorfilms folgend, als Wie der kinematographischen Narration dem Was hierarchisch übergeordnet sind. Bava hingegen musealisiert die althergebrachte gothicistische Standardnarration, enttarnt und kommentiert jedoch die sie konstituierenden Strukturen auf morphologischer – und nicht, wie Bergman, auf kompositorisch-syntaktischer – Ebene. Mit ihrem gemeinsamen rezipierenden und re-konstruierenden Zugriff auf den gothicistischen Code schließen sich die beiden so verschiedenartigen, von der Mainstream-Kritik diametral gegensätzlich wahrgenommenen (der eine bestenfalls als ›Edeltrash‹ aus dem Italo-Kintopp, der andere als programmkinotaugliche Leinwandkunst) und von der Kinoindustrie entsprechend vermarkteten Filme Bavas (vgl. die eingangs genannten deutschen und englischen Verleihtitel) und Bergmans (dessen Rezensenten die mit Trivialität und medialer Verrohung konnotierte Genrebezeichnung ›Horrorfilm‹ mi-
41 Dies ist einer der Gründe, weshalb der Horrorfilm als Genre kaum echte, auch jenseits der Genregrenzen anerkannte Stars – i.S.v. [wandlungsfähiger] Charakterdarsteller – hervorgebracht hat (anders als etwa der Western mit Schauspielern wie Henry Fonda oder Gary Cooper).
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tunter verschämt meiden42) gegen die parallel verlaufende Genese des entmythologisierten nachklassischen Horrorfilms zusammen. Dessen Historie führt über die beiden ›Gründungsdokumente‹ NIGHT OF THE LIVING DEAD und WITCHFINDER GENERAL zur Prägung der Genres des post-gothicistischen Zombiefilms43 und des Hexenfilms44, zur Ausbildung weiterer Subgattungen wie den Tierhorrorfilm45, dem satanologischen und okkultistischen Horrorfilm46 den Medizinhorrorfilm47 und den (Teen-) Slasherfilm48 und schließlich zu einer partiellen Revitalisierung des klassischen gothicistischen Horrorfilms, etwa in BRAM STOKER’S DRACULA (US, R:
42 So wird VARGTIMMEN in der Reclam-Reihe Filmgenres nicht im HorrorfilmBand, sondern im Bändchen zum Fantasy- und Märchenfilm behandelt: Jörg Gerle: Die Stunde des Wolfs. Vargtimmen. In: Filmgenres – Fantasy- und Märchenfilm. Hrsg. von Andreas Friedrich. Stuttgart: Reclam, 2003, S.80-83. 43 Vgl. DAWN OF THE DEAD (US, R: George Romero, 1978), ZOMBI 2 (I, R: Lucio Fulci, 1978; WOODOO – DIE SCHRECKENSINSEL DER ZOMBIES), PAURA NELLA CITTÀ DEI MORTI VIVENTI (I, R: Lucio Fulci, 1980; EIN ZOMBIE HING AM GLOCKENSEIL); 28 DAYS LATER (US, R: Danny Boyle, 2002). 44 Vgl. HEXEN BIS AUFS BLUT GEQUÄLT (D, R. Michael Armstrong/Adrian Hoven; MARK OF THE DEVIL), HEXEN GESCHÄNDET UND ZU TODE GEQUÄLT (D, R: Adrian Hoven, 1973; MARK OF THE DEVIL PART II), EL PROCESO DE LAS BRUJAS
/IL TRONO DI FUOCO (E/I/D, R: Jesús Franco Manera, 1970; DER HE-
XENTÖTER VON BLACKMOOR).
45 Vgl. JAWS (US, R: Steven Spielberg, 1975; DER WEIßE HAI) mit drei Sequels bis 1989, KINGDOM OF THE SPIDERS (US, R: John Cardos, 1977; MÖRDERSPINNEN);
EMPIRE OF THE ANTS (US, R: Bert I. Gordon, 1977; IN DER GEWALT DER
RIESENAMEISEN) – Das Subgenre knüpft teilweise an den amerikanischen SFMonsterfilm (u.a. TARANTULA [US, R: Jack Arnold, 1955]) der 50er Jahre an; eine ›Brückenfunktion‹ nimmt THE DEADLY BEES (GB, R: Freddie Francis, 1966; DIE TÖDLICHEN BIENEN) ein. 46 Vgl. THE OMEN (US, R: Richard Donner, 1976; DAS OMEN); DAMIEN: OMEN II (US, R: Don Taylor, 1978); THE EXORCIST (US, R: William Friedkin; DER EXORZIST). 47 RE-ANIMATOR (US, R: Stuart Gordon); THE DENTIST und THE DENTIST 2 (US, R: Brian Yuzna, 1996-1998). 48 Vgl. die HALLOWEEN-, FRIDAY THE 13TH- und NIGHTMARE ON ELM STREETFranchises und ihre diversen Relaunches und Reboots.
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FRANCIS F. COPPOLA, 1992), SLEEPY HOLLOW (US, R: Tim Burton, 1999 [nach einer Erzählung des Romantikers Washington Irving]), THE PICTURE OF DORIAN GRAY (US/GB, R: Oliver Parker, 2009; DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY) WOLFMAN (US: R. Joe Johnston, 2010) oder THE OTHERS (US, R: Alejandro Amenábar, 2001), letzterer mit einer offenbar an der Erzählkunst eines Ambrose Bierce geschulten überraschenden Schlusswendung mittels einer Anagnorisis versehen, die zwar keine phantastische Struktur im Todorovschen Verständnis etabliert, aber durch das finale Auf-denKopf-Stellen fast der gesamten Filmhandlung binnen weniger Minuten mit der gothicistischen Genrekonvention des linear-auktorialen Narrationsmodells so entschieden bricht, dass der Film strukturell dem phantastischen Horrorfilm sehr nahe steht. In der ersten Hälfte der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts präsentiert sich der Horrorfilm als ein im hohen Grad polymorphes Filmgenre, in dessen Subgattungen zahlreiche Traditionsstränge verschiedensten Ursprungs koexistieren, sich kreuzen und wechselseitig beeinflussen (vgl. die Vermischung von Vampir-, Werwolf- und ZombieMythologemen) und mit angrenzenden Gattungen wir dem Science-FictionFilm und dem Thriller einerseits und der eigenen, häufig zitierten Gattungsgeschichte ein trialogisches Hypertextmultiversum bilden. Das caligaresk-phantastische Stratum hat daran keinen dominierenden, aber auch nicht den geringsten Anteil, abzulesen etwa an dem häufigen Verwendung der formalen Kryptisierung der Kernhandlung mittels einer Manuskriptund found-footage-Fiktion oder der Rezeption seines Repertoires an Stoffen, Motiven, Figuren und Settings, die in THE IMANGINERIUM OF DR. PARNASSUS (US, R: Terry Gilliam, 2009; DAS KABINETT DES DR. PARNASSUS) in Betitelung, Drehbuch, Inszenierung und visueller Komposition zumindest teilweise eine Hommage an DAS CABINET DES DR. CALIGARI ihren vorläufigen Kulminationspunkt erreicht. Der phantastische Film war der Titel einer Reihe von SpielfilmAusstrahlungen im Zweiten Deutschen Fernsehen, die zwischen 1970 und 1993 in mehreren Staffeln und mit teilweise mehrjährigen Unterbrechungen an Freitag- und Samstagabenden im Spätprogramm zu sehen war. Als ›hors-d’œuvre‹ zu den Hauptfilmen und noch vor den seinerzeit üblichen Anmoderationen durch eine Programmansagerin wurde ein über die Jahre unverändert gebliebener animierter Trailer des Graphikdesigners Heinz Edelmann eingespielt, der aufgrund seiner markant surrealistisch-psychedelischen, für das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen der 70er und 80er
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Jahre jedenfalls außergewöhnlichen Optik samt entsprechender Musikuntermalung einen hohen Wiedererkennungswert besaß und sich bis heute unter Genrefreunden eines gewissen Kultstaus erfreut. Hauptattraktion dieses Trailers ist ein stilisierter, anfangs im Profil zu sehender und sich langsam von links nach rechts schiebender janusgesichtiger Männerkopf, an dem verschiedene groteske Verformungen stattfinden und aus dem sich ein Teil des Hinterkopfes herauslöst, um sich in eine Fledermausschar zu verwandeln, bevor der gesamte Kopf sich vom Rumpf löst, sich mit steigernden Geschwindigkeit mehrfach um die eigene Achse dreht, danach seine Ohren verliert und schließlich explodiert, so dass nur noch die Augen zurückbleiben. Der Trailer ist insofern von Interesse, als er bestimmte formale wie inhaltliche Vorstellungen vom Wesen des Phantastischen transportiert und auf Seiten des Zuschauers eine gewisse Erwartungshaltung bezüglich der Thematik und Darstellungsweise des nachfolgenden Spielfilms aufbaut. Die auffälligsten Komponenten sind zweifellos die erwähnte schillernde, caligareske Ästhetik, die Dissoziationsthematik – Verfremdung und Auflösung des menschlichen Körpers, speziell von Kopf und Gesicht als die im besonderen Maße identitätskonstituierenden Körperteile –, die Metamorphoseund Januskopf-/Doppelgängermotive, daneben auch Elemente des gothicistischen Codes i.e.S. wie die Fledermäuse und die betont ›schaurige‹ Musik. Von den innerhalb der Reihe gezeigten Spielfilmen selbst lässt sich hingegen kaum ein gemeinsames Konzept des Phantastischen abstrahieren, was zu einem Teil auf das Konto des sehr langen Ausstrahlungszeitraumes mit unregelmäßigen Intervallen und jahrelangen Pausen gehen wird. Zu Beginn der Reihe und bis Mitte der 80er Jahre standen TV-Erstausstrahlungen klassischer Horrorfilme und Erstaufführungen ausländischer Produktionen im Mittelpunkt.49 Im Laufe der Zeit wurden jedoch auch zunehmend Wiederholungen von schon früher ausgestrahlten Spielfilmen des Spannungs- und Gruselsegments in die Reihe aufgenommen, und das Spektrum der solcherart als ›phantastisch‹ deklarierten Filme reicht von KING KONG (US, R: MERIAN C. COOPER/ERNEST B. SCHOEDSACK, 1933; KING KONG UND DIE WEIßE FRAU; Ausstrahlung 13.11.1970), Hammers DRACULA-Verfilmungen und Cormans Poe-Adaptionen (Ausstrahlung Februar-April 1984) über
49 Z.B. am 15.03.1985 die deutsche Erstausstrahlung der tschechoslowakischen Horrorgroteske DER AUTOVAMPIR (R: Juraj Herz, 1981; Originaltitel: UPÍR Z FERATU; nach Josef Nesvadbas origineller Erzählung Vampir Ltd.).
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Hitchcocks THE BIRDS (US, 1963; DIE VÖGEL; Ausstrahlung 11.06.1984) bis zu PLANET DER AFFEN-Reihe (30.01.-09.04.1988), so dass der Eindruck nicht fern liegt, die Reihe Der phantastische Film habe sich von einem anfänglich durchaus anspruchsvollen Nischenprogramm für Cineasten zu einem Sammelsurium für Spielfilme aller Couleur entwickelt, die aufgrund von jugendschutzrechtlichen Bedenken und der insgesamt eher betulichen Programmgestaltung des Senders nicht auf anderen Sendeplätzen unterzubringen waren. In der Retrospektive ist ab 1986 der qualitative Niedergang der Reihe unübersehbar und die Existenz eines der Filmauswahl zugrunde liegenden redaktionellen Konzepts von kinematographischer Phantastik erscheint zunehmend zweifelhaft, so dass die Einstellung der Reihe 1993 nur folgerichtig erscheint. Eine valide inhaltliche Definition von literarischer und/oder kinematographischer Phantastik lässt sich aus der plakativen Verwendung des Adjektivs im Titel der ZDF-Reihe jedenfalls ebenso wenig destillieren wie aus dem Bestand der Phantastischen Bibliothek des Frankfurter Suhrkamp-Verlags, die unter dem Etikett ›phantastisch‹ u.a. Werke aus den Genres Science Fiction (Stanisław Lem, Arkadi und Boris Strugazki, Herbert W. Franke), Gothicismus (Sheridan Le Fanu, Montague Rhodes James, Algernon Blackwood), Weird Fiction (Howard Philips Lovecraft) und Horrorliteratur (Poe, Jean Ray) vereint. Nicht zielführend ist auch das Konzept einer »(wissenschaftlichen) Phantastik« russischsowjetischer Provenienz, das »traditionell das, was im Westen heute ›Science Fiction‹ heißt«50, umfasst. Ähnliches gilt für die dem magischen Realismus anverwandte (Neo-)Phantastik lateinamerikanischer Herkunft.51
50 Marco Frenschkowski: Phantastik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Band 10: Nachträge A – Z. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2012, Sp. 888. 51 Vgl. hierzu: María Ceclia Barnetta: Poetik des Neo-Phantastischen. Patrick Süskinds Roman Das Parfum. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2002, S. 45-58. – Für das als Hauptwerk der südamerikanischen ›Neophantastik‹ in Anspruch genommene Œuvre Jorge Luis Borges‘ treffender scheint allerdings die Bezeichnung als »Anti-Phantastik« (Alfonso de Toro: Überlegungen zur Textsorte ›Fantastik‹ oder Borges und die Negation des Fantastischen. Rhizomatische Simulation, ›dirigierter Zufall‹ und semiotisches Skandalon. In: Elmar Schenkel et. al. (Hgg.): Die magische Schreibmaschine. Aufsätze zur Tradition des Phantastischen in der Literatur. Frankfurt/Main: Vervuert, 1998, S. 11-58.
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Der Versuch, das Phantastische in Literatur und Kinematographie über die von ihr verhandelten Stoffe, Motive und Figuren definitorisch zu fassen, gelangt daher kaum überzeugend hinaus über v. Wilperts Umschreibung der phantastischen Literatur als »Sammelbegriff für alle Literatur, außerhalb relig.-myth. Kontexts, die die realist. Ebene überschreitet zugunsten des Irrealen, Surrealen, Übernatürlichen, Zauberhaften, Unheimlichen, Bizarren, Grotesken, Okkulte, Traumhaften, Unbewußten, Halluzinatorischen, Visionären, Gespenstisch-Geisterhaften oder deren versch. Kombinationen«52. Analytisch eher operationalisierbar als eine derartige Maximaldefinition ist die im vorliegenden Beitrag präferierte strukturalistische Phantastiktheorie Todorovs (s.o.). Bekanntlich verortet Todorov das Phantastische zwischen dem (rational erklärbaren) Unheimlichen und dem (auf Eingriffe einer übernatürlichen Macht zurückzuführenden) Wunderbaren; das Phantastische entsteht dabei durch die Unschlüssigkeit (›hésitation‹) des Lesers, ob ein unheimliches oder ein wunderbares Geschehen vorliegt. Dieser minimalistische Phantastikbegriff ist in der Vergangenheit insbesondere von Thomas Wörtche und Uwe Durst weiterentwickelt worden. Wörtche hat insbesondere den unklaren Erzählerbegriff Todorovs geschärft53; Durst verfeinert Wörtches Ansätze zur Analyse von »Destabilisierungsverfahren auf makro- und mikrostruktureller Ebene«54 und führt Todorovs und Wörtches Ansätze konsequent weiter; er begreift das Phantastische als exakten Mittelpunkt auf einer Abszissenachse zur Abbildung eines Spektrums narrativer Realitätssysteme, das von einer »Normrealität (reguläres System R)«55 bis zu einer »Abweichungsrealität (wunderbares System W)«56 reicht. Das Phantastische als Nullsystem (N) wird in diesem Modell durch eine strukturelle »Antipolie«57 zwischen R- und W-Systemen
52 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner, 82001, S. 607, s.v. Phantastische Literatur 53 Thomas Wörtche: Phantastik und Unschlüssigkeit. Zum strukturellen Kriterium eines Genres. Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink. Meitingen: Wimmer, 1987, S. 47-56. 54 Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur. Münster: Lit, 22010, S. 168 [Kursivierung bei Durst]. 55 Ebd., S. 103 [Kursivierung bei Durst]. 56 Ebd. [Kursivierung bei Durst]. 57 Ebd.
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generiert: »Vom Phantastischen ist zu sprechen, solange im Kampf der Systeme zumindest ein Rest realitätssystemischer Ambivalenz vorhanden bleibt: Das Ereignis läßt sich nicht aufklären, d.h. es ist keinem der oppositionellen Systeme eindeutig zuzuordnen.«58 Dem von Durst postulierten »[…] verbreitetsten Strukturtyp phantastischer Literatur (N = R + N)«59, in »das Phantastische hervorgerufen [wird], indem sich die Perspektiven mehrerer Erzähler gegenseitig relativieren«60 folgen auch DAS CABINET DES DR. CALIGARI, NOSFERATU, KÖRKARLEN, VAMPYR und VARGTIMMEN. Das Phantastische als Narrationsstruktur ist somit prinzipiell unabhängig von einem kodifizierten Repertoire von Stoffkreisen und Einzelmotiven und -figuren in verschiedenen Genres literarischer oder filmischer Erzählungen realisierbar, so in der Science Fiction (Poes The Unparalleled Adventure of One Hans Pfaall [1835], H.G. Wells' The Time Machine [1895]61), dem Kunstmärchen (Tiecks Der blonde Eckbert [1797]62) oder dem Thriller (SHUTTER ISLAND, US, R: Martin Scorsese, 2010 [nach Dennis Lehane]). Daher lässt sich die Geschichte der Phantastik nicht lediglich »nur quer zu den literaturhistorisch konstruierten Epochen«63, sondern auch nur quer zu der gattungsgeschichtlich konstruierten Systematik abbilden. Die Frage ist
58 Ebd., S. 168. 59 Ebd., S. 173. 60 Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 173. – Vgl. auch den ebenfalls auf Todorov gründenden Phantastikbegriff des Skandinavisten Stephan Michael Schröder, der die narrativen Verfahren zur Kreierung der phantastischen Unschlüssigkeit betont: »Diese ›Vermittlung‹ durch den Akt des Erzählens ist [...] für das Phantastische eine notwendige Bedingung, entsteht es doch gerade durch Manipulationen an der garantierenden Erzählinstanz, durch unzuverlässige, sich widersprechende (Ich-)Erzähler, Schachtelungen, Perspektivwechsel, ironische Verweise auf die eigene literarische Gemachtheit, durch das Spiel mit verschiedenen Fiktionsebenen [...]. Erst durch solche Destabilisierungstechniken gewinnen Texte ein Leerstellenpotential, wodurch das Phantastische einen Raum erhält.« (Stephan Michael Schröder: Literarischer Spuk. Skandinavische Phantastik im Zeitalter des Nordischen Idealismus. Berlin: Freie Universität 1994, S. 104). 61 Vgl. ausführlich Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 333-341. 62 Vgl. ausführlich Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S. 343-349. 63 Vgl. Barbetta: Poetik des Neo-Phantastischen, S. 27.
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somit nicht, ob ein bestimmter Text oder Film eine Horrorerzählung bzw. ein Horrorfilm oder ein phantastischer Text/Film ist, sondern ob es sich um eine Horrorerzählung/einen Horrorfilm und einen phantastischen Text/Film handelt. Von einem phantastischen Horrorfilm zu sprechen, ist daher mitnichten tautologisch, sondern sinnvolle Schärfung einer häufig unpräzisen, verworrenen und wertenden literatur- und filmwissenschaftlichen Terminologie. In dieser ist die Phantastik nur allzu häufig pejorativ konnotiert64, rangiert jedoch immer noch weit über der horror fiction, die sich schon traditionell dem Vorwurf der Trivialität, des Schunds, der Geschmacklosigkeit und der Verrohung ihrer potentiellen Rezipienten ausgesetzt sieht65. Ausgehend von der Etymologie des Wortes kann Horror (lat. horror »Schrecken; Grausen; Abscheu«) im ästhetischen Sinne zunächst als etwas Erschreckendes, Grausiges, Furchteinflößendes bestimmt werden.66 Hilfreich für das Verständnis des (Un-)Wesens von Horror ist die im angelsächsischen literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch übliche Differenzierung von terror und horror, wobei der erstgenannte Begriff die Emotionen beschreibt, die einem schrecklichen Ereignis vorausgehen, während horror Emotionen von Grauen, Entsetzen, Abscheu, Ekel usf. be-
64 Vgl. ebd., S. 23 und Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994, S. 11. 65 So ist für v. Wilpert Horrorliteratur die Gesamtheit der »[…] Werke aller Gattungen, die betont Unheimliches, Entsetzliches, Gräßliches darstellen und nicht mit dem Abscheu, sondern der primitiven Sensationsgier der Leser rechnen […]« (von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, S. 354, s.v. Horrorliteratur). Eher als Kuriosum denn als ernstzunehmender Beitrag zu verstehen ist ein von Eiferertum und Ahnungslosigkeit triefendes Pamphlet der Sektion ›Aktion Kinder in Gefahr‹ der Deutschen Vereinigung für eine christliche Kultur (DVCK): Mathias von Gersdorff: Was ist Horror? Horror, Gewaltverherrlichung und Okkultismus in den Medien. Frankfurt/Main: Selbstverlag, 2008. 66 »Im Horror kommt zur Sprache, was seit der Aufklärung und der Weimarer Klassik aus dem Kanon des guten Geschmacks ausgegrenzt wurde: die schockierende Abweichung vom Vernünftigen, Schönen, Guten.« (Brittnacher: Ästhetik des Horrors, S. 7).
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zeichnet, die nach dem schrecklichen Ereignis zurückbleiben.67 Das Wesen von Narrativik als weitgehend in sich geschlossenes fiktionales Paralleluniversum zur außertextlichen Realität, in dem die textinternen Figuren größtenteils isoliert vom textexternen Rezipienten agieren (weswegen gelegentliche Brüche des Fiktionalitätsmodus wie in VARGTIMMEN gemeinhin als Sonderfälle gelten), bringt es mit sich, dass der terror von einer textinternen Figur wie vom textexternen Leser gleichermaßen erlebt werden kann, speziell wenn die entsprechende Szene in personaler Sichtweise – mit intradiegetischer Fokalisierung in der Erzählliteratur, als point-of-view-shot im Film – dargeboten wird. Der dem grauenvollen Geschehnis nachfolgende horror ist dagegen sehr viel stärker auf den textinternen Rezipienten ausgerichtet, da die textinterne Figur, die Augenzeuge oder Objekt (meist Opfer) eines durch terror präludierten grauenvollen Ereignisses wird, dieses entweder (a) nicht überlebt – und somit gar keine Gelegenheit zum Erleben des horror hat –, (b) vor ihm durch Flucht oder Eingreifen von Dritten gerettet wird, es (c) verdrängt (Verfallen in Schock oder Apathie), (d) sublimiert (etwa im Falle des vom Vampir gebissenen Mädchens, das selbst zum Vampir wird, somit selbst auf die Seite der den terror auslösenden Instanz wechselt und den erlittenen Vampirbiss nicht mehr als Angriff auf die eigene Unversehrtheit, sondern als Initiation o.ä. wahrnimmt), oder (e) durch ein abruptes Ende des Textes (und damit der Existenz seines fiktionalen Paralleluniversums) vor dem Erleben bzw. ›Auskosten‹ des horror ausgeschlossen wird, so in der letzten Szene von WITCHFINDER GENERAL, in der das gefesselte Mädchen Sarah zusehen muss, wie ihr Verlobter den Hexenjäger Matthew Hopkins niedermetzelt und dem Wahnsinn verfällt, woraufhin die Kamera das entsetzt schreiende Mädchen im close-up einfängt, das Bild einfriert und die Abspannmusik beginnt, deren melancholische Melodie im schroffen Gegensatz zum Grauen der zuvor gezeigten Minuten steht. Mit dem Gefühl des horror bleibt hier der Zuschauer allein zurück, und tatsächlich kreisen die meisten Definitionsversuche von Horror um den Aspekt des Auslösens von Angst und Schrecken beim Rezipienten, dem teilweise ein der aristotelischen Tragödientheorie vergleichbarer katharti-
67 »The difference between Terror and Horror is the difference between awful apprehension and sickening realization […]« (Devendra P. Varma: The Gothic Flame. Metuchen/London: Scarecrow Press, 31987, S. 130).
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scher Effekt zuschrieben wird.68 Dieser kann allerdings nur für jene Texte der horror fiction in Anspruch genommen werden, in denen durch Überwindung eines aufgetretenen Schreckens die Ordnung und Sicherheit des status quo ante restauriert wird und am Ende eine poetische Gerechtigkeit obsiegt, idealerweise mit der (Wieder-)Vereinigung eines Liebespaares. Dieses Muster ist dominierend im klassischen gothicistischen Horrorfilm, im US-amerikanischen Monsterfilm der 50er und im Slasherfilm der 80er Jahre. Höchst anfechtbar ist die Katharsistheorie hingegen bei Texten, die sich einem happy-ending oder der Wiederherstellung eines status quo ante auf struktureller (mittels phantastischer Narration) oder inhaltlicher (offener Schluss, Sieg des Bösen) Ebene verweigern. Gerade dies ist bei einer Vielzahl von qualitativ hochwertigen, anspruchsvollen Horrorfilmen der Fall und für das Subgenre des phantastischen Horrorfilms qua der oben skizzierten Phantastikdefinition sogar konstitutiv – von Wienes CALIGARI bis Bergmans VARGTIMMEN (und darüber hinaus). Summa summarum erscheint nach diesen Überlegungen Horror primär als eine rezeptionsästhetische Kategorie, die weniger textinterne Aspekte erfasst als vielmehr die intendierte Wirkung des literarischen/kinematographischen Artefakts Horrorerzählung/-film auf den impliziten Rezipienten, insofern vergleichbar der von Julia Kristeva eingeführten Kategorie des Abjekten69. Eine allzu sorglose Gleichsetzung von Phantastik und Horror, wie sie etwa in der Terminologie von Hans Richard Brittnachers Ästhetik des Horrors zu verzeichnen ist70,
68 Vgl. zu dieser Thematik: Hans Richard Brittnacher: Der Horrorfilm. Katharsis der Subkultur? In: Martin Vöhler/Dirck Linck Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud. Berlin/New York: de Gruyter, 2009, S. 323-338. – »Der Horrorfilm ist eine rigorose moralische Anstalt.« (Stresau: Der Horror-Film, S. 69). 69 Julia Kristeva: Pouvoirs de l'horreur. Essai sur l’abjection. Paris: Seuil, 1980. 70 Brittnacher begreift, wie schon aus Titel und Untertitel seiner Monographie hervorgeht, Horror als ein von den von einer Ästhetik des Hässlichen und Ekelhaften gekennzeichnetes Teilgebiet der Phantastik, vgl.: »Die phantastische Literatur, namentlich ihr ästhetischer Ernstfall: der Horror, mutet dem Leser Schock, Ekel, Angst und Entsetzen zu […]« (Brittnacher: Ästhetik des Horrors, S. 7); eine »ernstzunehmende Erforschung der literarischen Phantastik« dürfe »auch den Horror nicht ausschließen« (S. 21).
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vermischt daher eine formal-strukturelle (das Phantastische als Erzählstruktur) mit einer wirkungsästhetischen Ebene. Ebenso wie das Phantastische in anderen Genres als der horror fiction realisierbar ist, sind auch Horrorelemente mit unterschiedlichen Narrationsstrukturen kompatibel, etwa mit denen des Mythos (die lernäische Hydra in der griechischen und der ghoulartige Totendrache Níðhöggr in der nordgermanischen Mythologie), der Isländersaga (die draugar-Episoden71), des Märchens (KHM 40 Der Räuberbräutigam und KHM 46 Fitchers Vogel), des Kriminalfilms (DOCTOR X, MYSTERY OF THE WAX MUSEUM [US. R: Michael Curtiz, 1933; DAS GEHEIMNIS DES WACHSFIGURENKABINETTS]), des Thrillers72 (Alfred Hitchcocks PSYCHO und THE BIRDS sowie THE HITCHER (US, R: Robert Harmon, 1986; HITCHER, DER HIGHWAY KILLER; vgl. das Kompositum Horrorthriller als terminus technicus) oder der Science Fiction (METROPOLIS, [D, R: Fritz Lang, 1927), THE FLY (US, R: Kurt Neumann 1958; DIE FLIEGE]73, TERRORE NELLO SPAZIO (I, R: Mario Bava, 1965; PLANET DER VAMPIRE], THE SORCERERS (GB, R: Michael Reeves, 1967; IM BANN DES DR. MONTSERRAT]). Eine gewisse Privilegierung der Kombination von Phantastik und Horror, die sich weniger an der bloßen Quantität entsprechender Filme als vielmehr an deren historischer Vorreiterrolle für die gesamte Kinematographie (vor allem CALIGARI und NOSFERATU, aber auch und noch früher DER STUDENT VON PRAG [D, R: Hanns Heinz Ewers/Stellan Rye, 1913]) und ih-
71 Vgl. Matthias Teichert: Nosferatus nordische Verwandtschaft. Die Erzählungen von vampirartigen Untoten in den Isländersagas und ihr gesamtgermanischeuropäischer Kontext. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 141 (2012), S. 2-36. 72 Für die spezifisch italienische Variante des Thrillers, dem Giallo, ist die Kombination mit Horror- und Krimi- Elementen im besonderen Maß gattungskonstituierend, so etwa in SEI DONNE PER L'ASSASSINO (I, R: Mario Bava, 1963; BLUTIGE SEIDE]). 73 Der Film bedient sich ebenfalls einer Rahmenhandlung, die hier aber keine phantastische Struktur etabliert, da sie in der vorletzten Szene des Films die Unschlüssigkeit in Richtung einer Abweichungsrealität W auflöst. – Ähnliches gilt, nebenbei bemerkt, für Mary Shelleys Frankenstein or The Modern Prometheus [1818], in der, anders als in der Verfilmung CURSE OF FRANKENSTEIN, am Ende der Rahmenhandlung durch die Bestätigung der Existenz der Kreatur ebenfalls eine Auflösung der ›hésitation‹ nach W stattfindet.
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rer teilweise außerordentlichen ästhetischen Qualität ablesbar ist, begründet sich zunächst mit Überschneidungen in den gleichermaßen phantastik- wie horroraffinen Motiven, Stoffen und Figuren: Wahnsinn, Alpträume, gespenstische Kulissen, Untote, physische Metamorphosen, Flüche, Doppelgänger, Belebung anorganischer Materie, rätselhafte Verbrechen etc. werden ebenso häufig für zur Schaffung einer phantastischen Erzählstruktur funktionalisiert wie von der horror fiction als Mittel zur Hervorrufung von Grausen und Schrecken bei den Rezipienten eingesetzt. Hinzu kommt, dass sich Horror und Phantastik unter den Händen eines virtuosen Erzählers oder Regisseurs symbiotisch ergänzen: entweder nimmt der durch die Darstellung eines horror-auslösenden grausigen Ereignisses konditionierte Rezipient eine sich gegen Textende offenbarende phantastische Narrationsstruktur als zweites Schreckerlebnis wahr oder den durch die eingangs offengelegte phantastische Narrationsstruktur verunsicherten Rezipienten verstört das schreckliche Geschehen in besonderem Grad, da für ihn nicht erkennbar ist, ob es fiktionalitätsintern ›real‹ oder eine Phantasmagorie, Halluzination oder Wahnvorstellung einer Figur darstellt und er es aufgrund der phantastischen ›hésitation‹ weder rationalisierend noch psychopathologisierend noch mythologisierend verarbeiten kann. Die Allianz mit dem Phantastischen ist das eigentliche Erfolgsgeheimnis des vorklassischen Horrorfilms, dessen Paradigma des phantastischen Horrorfilms von Regisseuren wie Wiene, Murnau, Lang, Sjöström und Dreyer in den dreizehn Jahren zwischen 1919 und 1932 die Gesamtgattung Horrorfilm zu seinem frühen ›goldenen Zeitalter‹ geführt wurde, dessen Innovationskraft, Erzählkunst und ästhetische wie intellektuelle Brillanz von nachfolgenden Regisseurengenerationen nie übertroffen und nur vereinzelt erreicht worden ist, am ehesten von den Initiatoren und Trägern des nachklassischen ›silbernen Zeitalters‹ zwischen 1966 und ca. 1971 (Erscheinen von Bavas REAZIONE A CATENA/BAY OF BLOOD [IM BLUTRAUSCH DES SATANS]) oder 1972 (ASYLUM [GB, R: Roy Ward Baker; Drehbuch: Robert Bloch], das Glanzlicht einer Serie von Episodenhorrorfilmen der 60er und frühen 70er Jahre), das den erstarrenden und vor dem Hintergrund der sozialen, politischen, kulturellen und technologischen Umwälzungen in der westlichen Hemisphäre um 1967/69 zunehmend anachronistisch erscheinenden Gothicismus des klassischen Horrorfilms von Tod Brownings DRACULA bis Cormans THE TOMB OF LIGEIA (US 1964; DAS GRAB DER LIGEIA/DAS GRAB DES GRAUENS) mittels Dekonstruktion (OPERAZIONE PAURA), Entmythologisie-
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rung (Reeves, Romero) oder Re-Transkodierung seines Zeichenrepertoires ins Phantastische (VARGTIMMEN – mit Bavas LA FRUSTA E IL CORPO von 1963 als bedeutenden Vorläufer74) überwindet. Ingmar Bergman, anders als die Horrorfilmspezialisten Bava, Reeves, Romero und – mit Einschränkungen – PolaĔski, nur einmalig als Gastregisseur das Genre beehrend, sich auf dem eher ungewohnten Terrain aber mit der Universalkenntnis und Sicher-
74 LA FRUSTA E IL CORPO (lit.: Die Peitsche und der Körper; deutsche Titel: DER DÄMON UND DIE JUNGFRAU [Kino]/DER MÖRDER VON SCHLOß MENLIFF [TV]) ist neben OPERAZIONE PAURA Bavas bedeutendster Horrorfilm und wie dieser in seiner Qualität und horrorfilmhistorischen Bedeutung bislang kaum erfasst. Auch in LA FRUSTA E IL CORPO jongliert Bava souverän mit der gothicistischen Standardnarration und re-transkodiert sie in ihre phantastischen Ursprünge, allerdings formal schlichter als Wiene in CALIGARI oder Bergman in VARGTIMMEN.
Die Handlung des Films rankt sich um das sadomasochistische Verhältnis
des herrisch veranlagten, wegen diverser Verfehlungen von seiner Familie verfemten Adligen Kurt Menliff (Christopher Lee in einer seiner besten Rollen) zu seiner devoten Schwägerin Nevenka (Daliah Lavi), der Frau seines angepassten, etwas spießigen Bruders Christian. Nachdem Kurt auf geheimnisvolle Weise getötet worden ist, scheint sein Geist zurückzukehren, Nevenka nachzustellen und mehrere Bluttaten zu begehen, darunter die Ermordung von Kurts und Christians Vater. Der Schluss des Films lässt offen, ob Kurt tatsächlich als Untoter mordet oder die Verbrechen von der wahnsinnigen, ihrem Schwager über dessen Tod hinaus sexuell hörigen Nevenka begangen wurden. LA FRUSTA E IL CORPO ist nicht nur der erste Spielfilm überhaupt, der das Thema BDSM in derartiger Expliziertheit behandelte (›folgerichtig‹ wurden die einschlägigen Szenen zwischen Lee und Lavi in der deutschen Kinofassung zensiert), er ist auch der erste nennenswerte Versuch seit Dreyer, den gothicistischen Code mikrostrukturell, d.h. auf der Ebene der epischen Kernhandlung (und nicht ›nur‹ makrostrukurell mittels Rahmenhandlung wie in CURSE OF FRANKENSTEIN) mit einer phantastischen Narrationsstruktur zu überformen. Zudem bietet der Film im Vergleich zu VARGTIMMEN eine Art gespiegeltes Figurentableau: eine psychisch fragile Frau (Nevenka) im Zwiespalt zwischen dem bizarren, destruktiven Eros ihres früheren Liebhabers Kurt und der geordneten, aber frigiden Existenz in ihrer Ehe mit Christian. – Die von Bergman erkennbar angedeuteten sadomasochistischen Züge in der in der Beziehung Johan Borgs zu Veronica Vogler lassen eine Kenntnis Bergmans von Bavas Film vermuten.
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heit des tarkovskijschen Stalkers bewegend, hat mit VARGTIMMEN einen – falls dieser weitere spitzfindige, an der Grenze zum Paradoxon wandelnde Neologismus gestattet ist – neovorklassischen Horrorfilm vorgelegt, der die altehrwürdige Tradition der Verschmelzung von Phantastik und Horrorfilm nach mehr als drei Jahrzehnten großen Schlafes wieder belebt hat. Über ein halbes Jahrhundert, vom Jahr 1 nach der Urkatastrophe des 20. Jahrhundert bis in das zur postmodernen Chiffre gewordene Jahr 1968, spannt sich der Bogen: von einem der ersten großen Horrorfilme und zugleich einem der ersten phantastischen Horrorfilme bis zum einzigen Horrorfilm eines der bedeutendsten Filmregisseure der Kinogeschichte und den für weitere drei Dekaden letzten filmgeschichtlich signifikanten phantastischen Horrorfilm75 – von CALIGARI zu Bergman.
75 Erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erscheinen zwei neuere nennenswerten Beiträge zur Gattungsgeschichte des (nunmehr nachklassischen) phantastischen Horrorfilms: zum einen der schon erwähnte found-footage-Horrorfilm THE BLAIR WITCH PROJECT (1999), zum anderen der inhaltlich und formal anspruchsvollere Psychohorrorthriller ABRE LOS OJOS (1997; (E, R: Alejandro Amenábar, 1997; VIRTUAL NIGHTMARE – OPEN YOUR EYES/ÖFFNE DIE AUGEN).
Zu ABRE LOS OJOS als phantastischer Film vgl. Pinkas: Der phantastische
Film, S. 262-273.
Der ›wahre Horror‹ und sein phantas(ma)tisches Anderes in Lars von Triers RIGET A NDREAS J ACKE / S OPHIE W ENNERSCHEID
Horrorfilme können reale Ängste sichtbar werden lassen. Sie eröffnen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit sonst meistens diffus oder unbewusst bleibenden Vorstellungen von Räumen des Schreckens und Begegnungen mit dem ›bösen Anderen‹. Jacques Lacan hat in seinen psychoanalytischen Schriften das Unbewusste als »jene[n] andere[n] Raum, Schauplatz, der ein Zwischen Wahrnehmung und Bewußtsein darstellt«1 erörtert. Damit greift er nicht nur auf Überlegungen Freuds zur »Idee einer anderen Lokalität«2 auf, sondern nimmt Gedanken aus dem Bereich der Kunst auf, die als Vorläufer des Horrorgenres betrachtet werden können. So finden sich beispielsweise in literarischen Texten wie denen Edgar Allan Poes interessante Ansätze, mit den unheimlichen und Angst einflößenden Dimensionen des Unbewussten zu spielen und es an den Gedanken eines ›anderen‹ Ortes zu binden.3 Freud und Lacan denken das Unbewusste als
1
Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI. Weinheim/Berlin: Quadriga, 41996, S. 62.
2
Ebd., S. 62.
3
Vgl. hierzu die frühe Studie aus dem Jahr 1933: Marie Bonaparte: Edgar Poe. Eine psychoanalytische Studie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981.
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Raum des Unheimlichen und der Angst weiter.4 Ist der Angstraum nicht immer ein psychotischer Raum? Gehört das Okkulte nicht stets zu dem Bereich der animistisch, narzisstischen Phantasmen, die sich innerhalb einer psychotischen Wahrnehmung organisieren? Hängt der psychotische Angstraum, wie Melanie Kleins Theorie es nahe legt, nicht immer mit Aufspaltungen zwischen den Extremen von Gut und Böse zusammen?5 Und bilden schizoide Strukturen, die unser Wahrnehmungsfeld auf solche Totalitäten hin reduzieren, hier nicht einen solchen Ausgangspunkt, der dann grundsätzlich regressiv wäre? Während der Raum des Unheimlichen im psychoanalytischen Diskurs im Menschen selbst verortet wird, das Andere also Teil des Eigenen, das Unheimliche zugleich das im Inneren verborgene Heimliche ist, erscheint das unheimliche Andere in Literatur und Film häufig als eigenständige Größe außerhalb des Menschen. Es tritt entweder in seiner menschlichnatürlichen Variante als psychopathischer Mörder o.ä. auf, oder aber in seiner übernatürlichen Variante als Vampir, Gespenst, Werwolf, Monster, Zombie, Mutant etc.6 Da v.a. die übernatürlichen Anderen jedoch stets in Beziehung zu denen stehen, die die Anderen als Grauen erregende Andere wahrnehmen und ihnen über ihre Wahrnehmung überhaupt erst Gestalt geben, kann das Andere immer auch als Teil unserer selbst gelesen werden. Als von uns abgespaltenes Anderes der Vernunft7 kehrt dieses Abgespaltene und Unterdrückte nun wieder und jagt Angst ein. Die umfassenden Rationalisierungsbestrebungen, die das Andere ausgrenzen, um den Geltungs-
4
Vgl. hierzu v.a. Sigmund Freud: Über das Unheimliche (1919). In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. XII. Frankfurt/Main: Fischer, 1999, S. 227-278. Zu den Phantasmen des Unheimlichen vgl. aktuell: Martin Doll (Hg.): Phantasmata. Techniken des Unheimlichen. Wien/Berlin: Turia+Kant, 2011.
5
Vgl. hierzu den Aufsatz von 1946: Melanie Klein: Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen. In: dies.: Gesammelte Schriften: Schriften 1946-1963. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2000.
6
Vgl. allg. Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994.
7
Vgl. hierzu grundlegend Hartmut Böhme / Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1996.
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bereich der Vernunft nach innen hin abzusichern, schlagen in ihr Gegenteil um. Sie befreien nicht von Angst und Unsicherheit, sondern bewirken sie. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben diese Bewegung in dem Hauptwerk der Kritischen Theorie, der Dialektik der Aufklärung als Umschlag von Rationalitätsglaube in die mythische Verblendung des Subjekts theoretisiert. In der Einleitungspassage ihres Buches heißt es diesbezüglich: Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie sollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.8 Die von Horkheimer und Adorno beschriebene fatale Selbstermächtigung des Menschen, der meint Mythen in Wissen aufgehoben und die Natur – und zwar nicht zuletzt seine eigene – durch Wissen beherrschbar gemacht zu haben, wird in vergleichbarer Weise in der achteiligen TVSerie RIGET9 und RIGET II10des dänischen Filmemachers Lars von Trier zum Thema. In der 1994 erstmals ausgestrahlten ersten Staffel der Serie, die schnell Kultstatus bekam,11 setzt Trier den Irrsinn, der aus einer verabsolutierten Vernunft entsteht, mit groteskem Humor in Szene. Raffiniert bedient er sich des künstlerischen Potentials des Unheimlichen, lässt diverse Geister sichtbar werden und baut blutige Szenen des Horrors ein, um seine Zuschauer lachend das Grauen zu lehren.
8
Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944]. Frankfurt/Main: Fischer, 2003, S. 9.
9
RIGET (DK, R: Lars von Trier, 1994/1997, TV-Serie).
10 Die ersten vier Folgen wurden in der Zeit vom 25.11. bis zum 15.12.1994 unter dem Titel RIGET von dem dänischen Sender DR1 gesendet, die zweiten vier Folgen liefen unter dem Titel RIGET II vom 24.11. bis zum 15.12.1997. 11 Bevor RIGET I auf DR1 ausgestrahlt wurde, lief die Serie als viereinhalb Stunden dauernde filmische Einheit zunächst auf dem Film Festival in Venedig. Auch auf der Berlinale wurde der Film begeistert aufgenommen. Im englischsprachigen Raum firmiert der Film unter dem Titel THE KINGDOM, in Deutschland wird er als GEISTER vertrieben und in Frankreich heißt er HÔPITAL ET SES FANTÔMES.
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Eine ernsthafte Dimension bekommt die Serie allerdings dadurch, dass Trier sie in einem Krankenhaus spielen lässt, und zwar in dem Kopenhagener Rigshospital (Reichskrankenhaus), das im Volksmund RIGET (das Reich) genannt wird.12 Dieses Krankenhaus genießt in der symbolischen Ordnung Dänemarks als Hort hochspezialisierter Wissenschaft allgemeine Anerkennung, wird von Trier nun aber als Ort des Unheimlichen und Geisterhaften ausgeleuchtet und zugleich als real existierende Anstalt des Grauens dargestellt. Dieses Grauen jedoch wird von niemand anderem bewirkt als von den im Krankenhaus tätigen Ärzten selbst. Der ›wahre Horror‹ kommt insofern nicht von außen, sondern aus dem Inneren der Gesellschaft bzw. aus dem Inneren des Individuums. Als solcher besteht der Horror möglicherweise aber zugleich aus Projektionen, in denen innere Vorstellungen zu äußeren Wahrnehmungen werden. In RIGET erscheint diese Gleichzeitigkeit in der Dopplung der aktuellen Ereignisse durch die der Vergangenheit. Es gibt geisterhafte Elemente, die wiederkehren. Es gibt, und zwar in einer sehr ernst zu nehmenden Form, Wiedergänger und Phantome. In aufeinander aufbauenden Analysen möchten wir im Folgenden zeigen, was RIGET zu einem dänischen Horrorfilm macht, was genau die einzelnen Horrorelemente auszeichnet, und inwiefern diese Elemente des Horrors auf eine Vielzahl anderer Filme aus dem Horrorgenre verweisen, RIGET also auch ein dezidiert internationaler Horrorfilm ist. Dabei spielen die Bezüge zu Vaterfiguren auf einer psychoanalytischen Ebene eine ebenso wichtige Rolle wie die zu Mutterfiguren. Wobei sich beide Bezugssysteme nicht symmetrisch zueinander verhalten, sondern ganz unterschiedliche Bedeutungsschichten betreffen. Zu fragen ist dabei, ob der ›wahre Horror‹ aus der rationalistischen Selbstüberheblichkeit einzelner männlicher Figuren resultiert und der Horror des Rationalen damit männlich co-
12 Als empirischer Ort befindet sich das Reichskrankenhaus in dem Kopenhagener Stadtteil Østerbro, und zwar am so genannten Fælledparken. Es handelt sich um eins der größten Krankenhäuser Dänemarks und zeichnet sich u.a. durch zahlreiche Spezialabteilungen aus. So verfügt es z.B. über ein Traumacenter, eine hochspezialisierte neurochirurgische Abteilung und ein Abdominalcenter, in dem Patienten mit starken Leberbeschwerden behandelt werden. Erbaut wurde das Krankenhaus 1910, und zwar auf dem so damals so genannten Blegdamsfælled.
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diert ist, oder ob in RIGET die stereotype Zuordnung von rational gleich männlich und irrational gleich weiblich aufgebrochen und verschoben wird.
I.
R IGET
ALS DÄNISCHER
H ORRORFILM
SOPHIE WENNERSCHEID Als dänischer Horrorfilm präsentiert sich RIGET von dem ersten Bild an in mehrfacher Hinsicht. Zu Beginn jeder Episode bekommt der Zuschauer die vernebelt unscharfen Bilder des (Ab-)Grundes zu sehen, auf dem das Krankenhaus dann später erbaut wurde: die alten Bleichteiche, an denen die Bleicher und Färber, wie die Bilder uns zeigen, einst ihre großen Leinentücher bearbeiteten. Dieser Ort ist zwar für den nicht informierten Zuschauer nicht ohne weiteres als ein in Dänemark lokalisierter Ort zu identifizieren, wird von der als voice over eingeblendeten Stimme aber als solcher behauptet. Hier spricht, in abgedämpfter, fast hypnotischer Stimmlage, ein Däne über Dänemark und führt aus: »Grunden under Rigshospitalet er gammel mose. Her lå Blegedamrene engång. […] Senere byggedes Rigshospitalet her, og blegemændene blev skifted ud med læger og forskere og landets bedste hjerner […]. Nu skulle livet defineres, og uvidenhed og overtro aldrig mere kunne ryste videnskaben. Måske er det blevet for meget med hovmodet od den konsekvente fornægtelse af det åndelige, for det er som om kulden og fugten er vendt tilbage.« [»Der Grund unter dem Reichskrankenhaus ist altes Sumpfland. Hier lagen frühen die Teiche der Bleicher. […] Später baute man hier das Reichskrankenhaus und die Bleicher wurden durch Ärzte und Forscher, durch die klügsten Köpfe des Landes, ersetzt. […] Von nun an sollte das Leben definiert werden, und Unwissenheit und Aberglaube sollten nie mehr die Wissenschaft erschüttern können. Aber vielleicht haben der Hochmut und die konsequente Leugnung der spirituellen Welt zu sehr überhand genommen, denn es ist als wären die Kälte und die Feuchtigkeit zurückgekehrt.«]
13
13 RIGET I, 1, 0:10-1:05. Die Übersetzung aus dem Dänischen wurde von Sophie Wennerscheid angefertigt.
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Neben der realen Verortung der gezeigten Bilder in Dänemark kommt ihnen eine vormoderne dänische bzw. allgemeiner skandinavische Atmosphäre auch deshalb zu, weil mit dem Verweis auf Kälte und Feuchtigkeit Motive aufgerufen werden, die im kulturellen Gedächtnis Europas als typisch ›(alt-)nordisch‹ gespeichert sind.14 Hinzu kommt, dass Lars von Trier mit diesen Bildern auf einen seiner früheren Filme verweist, in dem er eine archaisch anmutende Landschaft mit Attributen des Nordischen versetzt hat. In seinem 1988 ebenfalls fürs dänische Fernsehen produzierten Film Medea,15 den Trier an der Küste Jütlands drehte, lässt er Medea in einer nebligen Sumpflandschaft auftreten, in der der Mensch (als Vernunftwesen) sich nur mühsam behaupten kann. Der Filmwissenschaftler Peter Schepelern beschreibt sie als »eine tote unwirkliche Landschaft, in der es aus dem Untergrund hervor und durch das Wasser hindurch gärt«.16 Im Rahmen der gesamten Filmhandlung betrachtet liegt es nahe, den Sumpf in Medea als Ort des unzugänglich Anderen aufzufassen, als weiblich und dämonisch codierten Ort des Unbewussten, der die männlich strukturierte Ordnung bedroht. Auch wenn diese geschlechtliche Zuordnung in RIGET so nicht gegeben ist, ähneln sich die Bilder und die durch sie evozierte Atmosphäre doch insofern, als die Sumpf- und Nebellandschaft, in der die Bleicher arbeiten, als Ort der Vormoderne in Szene gesetzt wird, an dem nicht Vernunft und Aufklärung herrschen, sondern Aberglaube und Unwissen. Damit ist dieser Ort zugleich als Ort des Okkulten strukturiert, der als solcher frappante Ähnlichkeit aufweist mit dem von Frau Drusse betretenen Swedenborgschen Raum, in dem sich – der Lehre des schwedischen ›Geistersehers‹ Emmanuel Swedenborg zu Folge17 – die Gestorbenen in einem Zwischen-
14 Zu Bildern des Nordens vgl. Lutz Rühling: »Bilder vom Norden«. Imagines, Stereotype und ihre Funktion. In: Astrid Arndt u.a. (Hg.): Imagologie des Nordens. Kulturelle Konstruktion von Nördlichkeit in interdisziplinärer Perspektive. Frankfurt/Main: Lang, 2004, S. 279-300. 15 MEDEA (DK, R: Lars von Trier, 1988). 16 Im Original: »et dødt uvirkeligt landskab, hvor det gærer nede fra undergrunden og op gennem vandet« – Peter Schepelern: Lars von Triers Elementer. En filminstruktørs arbejde. Kopenhagen: Munksgaard Rosinante, 1997, S. 141. 17 Zu dem faszinierenden Werk des von 1688 bis 1772 lebenden Wissenschaftlers und ›Visionärs‹ Swedenborgs vgl. ausführlich Ernst Benz: Emanuel Sweden-
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reich aufhalten, bevor ihnen ihr endgültiger Ort im Jenseits zugewiesen wird. Deutlicher als in der deutschen Synchronisation des Filmes kommt diese Atmosphäre des Abgründigen und Zwischenweltlerischen im dänischen Original zum Ausdruck. Denn hier scheint die Stimme des Erzählers selbst aus einer nicht genauer bestimmbaren zeitlichen und räumlichen Tiefe zu kommen. Auch die einfache Satzstruktur und die verschleifte Lautlichkeit des Dänischen tragen zu diesem Eindruck des Dumpfen und Diffusen bei. Dass die Ereignisse, die die Erzählerstimme hier ankündigt, aber tatsächlich etwas Bedrohliches und Horrormäßiges haben, wird spätestens in der nächsten Filmsequenz auch in der deutschen Fassung überdeutlich. Zu den letzten Sätzen des Sprechers bewegt sich die Kamera nach unten, taucht unter die Wasseroberfläche ab und zeigt uns dann nach einem Schnitt das Bild eines feuchten Erdreichs, aus dem sich plötzlich zwei Hände emporstrecken. Nach einem weiteren Schnitt sieht man, wie die überdimensionierten Buchstaben RIGET von einem heftigen Blutschwall aus der Wand gedrückt werden. Damit ist RIGET deutlich in das Genre des Horrorfilms im Allgemeinen und des dänischen Horrorfilms im Speziellen eingeschrieben. Unterstützt wird diese sowohl dänische wie auch internationale Dimension des Horrors auch über den Abspann der einzelnen Folgen. Hier tritt Trier als Schauspieler seiner selbst als Regisseur auf und fasst in der Manier eines Alfred Hitchcock18 das zuvor Gesehene kurz zusammen und verweist auf das, was in der nächsten Folge zu sehen sein wird. Dass es sich dabei um etwas Unbehaglich-Unheimliches handelt, verdeutlicht er vor allem durch den Verweis auf die Untrennbarkeit von Gut und Böse. Einen feierlich-dämonischen Anstrich bekommen die Szenen dadurch, dass Lars von Trier einen feinen schwarzen Anzug trägt. Und zwar nicht irgendeinen Anzug, sondern den Anzug, den vor ihm bereits der international bekannte Regisseur des dänischen Schwarz-Weiß-Films, Carl Theodor Dreyer getragen hat.19 Trier stellt sich also hier ganz bewusst sowohl in eine dänische, wie in eine internationale Filmtradition.
borg. Naturforscher und Seher. München: Rinn, 1948 sowie Olof Lagercrantz: Vom Leben auf der anderen Seite. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1997. 18 Vgl. ALFRED HITCHCOCK PRESENTS (US, verschiedene, 1955-1965, TV-Serie). 19 Eine Nähe zu Dreyer liegt auch inhaltlich vor, da Dreyer u.a. durch seinen Gruselfilm VAMPYR (DK, R: Carl Theodor Dreyer, 1932) Kultstatus genießt.
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Die dänische Dimension dominiert jedoch insofern, als auch der zweite Teil des Vorspanns, der jeder Serie vorangestellt ist, RIGET als explizit dänischen Film etabliert. In einer für eine Serie typischen Weise werden hier einzelne Szenen des Films eingeblendet, die die zentralen Figuren vorstellen. Diese Figuren werden, bis auf Ernst-Hugo Järegård, der den schwedischen Oberarzt Stig Helmer spielt, ausschließlich von dänischen Schauspielern verkörpert. Und zwar von dänischen Schauspielern, die einem dänischen Fernsehpublikum aus explizit dänischen Zusammenhängen bekannt sind. Drei der zentralen Figuren, die Spiritistin Sigrid Drusse (Kirsten Rolffes), der Abteilungsleiter Moesgaard (Holger Juul Hansen) und die Anästhesisten Rigmor (auf Deutsch: Reichsmutter!) Mortensen (Ghita Nørby) werden von Schauspielern gespielt, die hauptsächlich deswegen bekannt sind, weil sie in einer der erfolgreichsten Fernsehproduktionen von Danmarks Radio mitgespielt haben: in der bis heute populären TV-Serie MATADOR. MATADOR aber ist eine explizit dänische Serie, in der in 24 Abschnitten von dem Leben der Dänen in einer kleinen Provinzstadt während der Zeit von 1929 bis 1947 erzählt wird, also in der Zeit der Depression, der deutschen Besatzung und der Befreiung.20 Indem Trier diese Schauspieler in RIGET einsetzt, gibt er seinem Film einen deutlich nationalen Anstrich. Herausgestellt wird das Dänische des Films außerdem dadurch, dass mit der Figur des schwedischen Oberarztes Helmer eine Figur eingesetzt wird, die sich als Schwede in scharfer Polemik über das Nachbarland Dänemark auslässt. In nahezu jeder Episode sehen wir Helmer, wie er auf der Terrasse des Krankenhauses steht, sehnsüchtig nach Schweden hinüberblickt und gegen das rückständige Dänemark polemisiert. Wie aber passt der hier ausgespielte dänisch-schwedische Konflikt sowie das gesamte dänische bzw. nordische Setting mit einer Lesart zusammen, die RIGET als Horrorfilm liest, in dem es um die Wiederkehr des Verdrängten geht? In der Forschung zu RIGET tritt Glen Creeber mit der These hervor, dass RIGET die Struktur der menschlichen Psyche aufweise. Oben residieren die Mitglieder der medizinischen Loge, die allem Aber-
20 MATADOR (DK, R: Erik Balling, 1978-1982, TV-Serie). Zu Matador vgl. Per Kuskner: Matador, mennesker, myter & minder. Kopenhagen: People’s Press, 2011. Zur Bedeutung MATADORS für RIGET vgl. auch Stig Björkman: Trier on von Trier. London: Faber and Faber, 2003, S. 149.
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glauben abschwören (dabei allerdings selbst mythische Rituale pflegen) und für das (vermeintlich) rationale Bewusstsein stehen, unten befindet sich das Archiv (von Creeber als Ort des nationalen Gedächtnisses gedeutet), Krogshøjs Privatzimmer, in denen er eine Art Friedhof der im Krankenhaus an Kunstfehlern Gestorbenen errichtet hat, sowie die Spülküche, in der zwei Tellerwäscher mit Down-Syndrom agieren und als die auf eigentümliche Art hellsichtigen Vertreter des Unbewussten in Erscheinung treten. Dazwischen liegen die neurologische Abteilung und das Schlaflabor, Abteilungen also, in denen das menschliche Gehirn untersucht wird. Eine historisch-politische Dimension sieht Creeber in dieser Struktur insofern angelegt, als er das Krankenhaus als Allegorie des Staates Dänemark liest, der seine paganen und spirituellen Ursprünge, und damit sein Kulturerbe, verdrängt habe und sich in technokratischer Inauthentizität verliere. Er hält fest: »the hospital’s instabilities are rooted in its rupture from the past«.21 Statt sich um die Beziehung »between its dark and hidden past and its sanitized and ordered present«22 Gedanken zu machen, spalte Dänemark seine Vergangenheit ab und huldige ausschließlich den (vermeintlichen) Errungenschaften der Moderne. Die Vergangenheit aber könne auf Dauer nicht verdrängt werden, sondern kehre in unheimlicher Gestalt wieder. Problematisch ist Creebers Text, da er sich mit seinem Begriff von Vergangenheit ausschließlich auf die vormoderne Vergangenheit Dänemarks bezieht, die es als etwas Positives zu bewahren gelte. Dabei übersieht er, dass die Vergangenheit auch brisante politische Probleme aus neuerer Zeit enthält. Richtet man den Blick ausschließlich auf die RIGET-Serie ist diese Dimension in der Tat nicht ohne Weiteres erkennbar. Deutlich wird sie jedoch, wenn man die vorhergehenden Filme Triers, und hier vor allem die so genannte Europa-Trilogie, mit in die Interpretation einbezieht, in der sich Trier mit dem Komplex Nationalsozialismus, Mythenbildung und Filmwirkung auseinander setzt.23 Für die Geisterserie ist diese Auseinandersetzung
21 Glen Creeber: Surveying The Kingdom. Explorations of medicine, memory and modernity in Lars von Trier’s THE KINGDOM (1994). In: European Journal of Cultural Studies 5/4 (2002), S. 387-406, S. 398. 22 Creeber: Surveying THE KINGDOM, S. 390. 23 Eine sehr gute Analyse, in der die komplexe Struktur der Europa-Filme deutlich wird, leistet Udi E. Greenberg: The Holocaust Repressed. Memory and the Sub-
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insofern relevant, da Trier bei der Rollenbesetzung für RIGET auf zwei Schauspieler zurückgreift, mit denen er bereits in der Europa-Trilogie zusammengearbeitet hatte, und zwar auf Udo Kier und auf Ernst-Hugo Järegård. Kier spielt in EPIDEMIC,24 dem zweiten Teil der Europa-Trilogie, einen Deutschen, der von der Bombardierung Kölns während des Zweiten Weltkriegs erzählt und dabei politisch unreflektiert von den Leiden der deutschen Opfer erzählt, und in EUROPA,25 dem abschließenden dritten Teil der Trilogie, spielt Kier ebenfalls einen Deutschen, und zwar den Sohn des nationalsozialistisch belasteten Bahnlinienchefs Max Hartmann (Jørgen Reenberg). Ernst-Hugo Järegård spielt in Europa gleichfalls einen Deutschen, nämlich den Onkel des Protagonisten Leo, der als deutschstämmiger Amerikaner nach Deutschland kommt, um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen, mit dieser Idee aber scheitert, weil es ihm nicht gelingt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. In RIGET nun werden diese beiden Schauspieler ausgerechnet für die Rollen herangezogen, die in der gesamten Serie als am deutlichsten ›böse‹ erscheinen. Kier spielt den Oberarzt Åge Krüger, der vor mehreren Jahrzehnten seine uneheliche Tochter Mary auf grausame Art mit Chlorgas ermordet hat und auf der Gegenwartsebene der Filmhandlung als Teufel auftritt, der die Ärztin Judith schwängert. Und Järegård spielt den Oberarzt Helmer, der durch einen ›Kunstfehler‹ das Leben der kleinen Mona vernichtet und sich bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit rassistisch, sexistisch oder auf sonst eine Weise menschenverachtend äußert. Wenn aber die Schauspieler, die in RIGET die tendenziell ›guten‹ Charaktere verkörpern, von Schauspielern gespielt werden, die dem dänischen Publikum als typisch dänische (wenngleich nicht unbedingt eindeutig positive) Charaktere bekannt sind, und die Schauspieler, die die ›bösen‹ Charaktere spielen, über ihre früheren Rollen einerseits und die Anlage ihrer Figuren in RIGET andererseits in eine auffällige Nähe zu faschistoiden Denk- und Handlungsmustern rücken, dann ist das sicher kein Zufall und schreibt dem auf den ersten Blick so unpolitisch erscheinenden Horrorfilm
conscious in Lars von Trier’s Europa. In: Film & History. An Interdisciplinary Journal of Film and Television Studies 38/1 (2008), S. 45-52. 24 EPIDEMIC (DK, R: Lars von Trier, 1987). 25 EUROPA (DK u.a., R: Lars von Trier, 1991).
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RIGET zumindest implizit eine politische oder zumindest eine ethische Dimension ein. Allerdings wird diese Dimension des Ethischen von von Trier nicht als eindeutige Positionierung gegen ›das Böse des Faschismus‹ ausformuliert, sondern es wird im Gegenteil parodistisch unterlaufen bzw. persifliert. So schreibt von Trier seiner Figur Helmer zwar einerseits eine faschistoide Gesinnung zu, lässt ihn aber zugleich als zwanghaften Neurotiker auftreten. Damit erzeugt er nicht nur einen starken komödiantischen Effekt, sondern dekonstruiert Helmers vermeintliche Stärke zugleich als seine Schwäche. Ähnlich ambivalent, ja nahezu schizoid, ist auch die Figur Krüger angelegt. Als Mörder seiner eigenen Tochter und als Inkarnation des Teufels erscheint er zwar als absolut böse, doch kann er diese Bösartigkeit nicht ohne Weiteres reproduzieren. Seine Tochter Mary weist als Geist auf die Untat des Vaters hin und bringt Frau Drusse dazu, den Mord öffentlich zu bezeugen, und sein Sohn Lillebror (ebenfalls gespielt von Udo Kier, allerdings mit einer anderen Stimme unterlegt) kommt zwar mit dem Gesicht des Vaters auf die Welt, entscheidet sich aber gegen das ihm auferlegte Erbe des Bösen. Das intendierte Böse, so ließe sich diese Figur der Spaltung und Verdoppelung lesen, transformiert sich gegen seinen eigenen Willen in etwas Nicht-Böses. Nichts desto trotz ist die Nähe der Figuren zu den ›bösen Deutschen‹ aus der Europa-Trilogie bemerkenswert und wird in RIGET nicht zuletzt durch die Namensgebung der Figuren unterstrichen. Während alle übrigen Figuren in RIGET Nachnamen haben, die sie als eindeutig dänisch ausweisen, haben die beiden Oberärzte eindeutig deutsch klingende Namen. Lars von Trier spielt hier also eindeutig auf den Typus des bösen Deutschen bzw. des deutschen Bösen an, persifliert diesen Typus aber zugleich. Die damit zum Ausdruck gebrachte Aussage, dass sich gut und böse letztlich kaum auseinander dividieren lassen, zeigt von Trier auch und gerade an den Figuren und Szenen, die – zumindest auf den ersten Blick – eindeutig unheimlich und horrormäßig erscheinen.
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II. S PIEL MIT
DEM
H ORROR
SOPHIE WENNERSCHEID Bereits die ersten Szenen der ersten Episode machen dem Zuschauer auf unmissverständliche Weise klar, dass es in dem Krankenhaus RIGET und damit in dem gesamten Film RIGET nicht mit rechten Dingen zugeht. Eine Atmosphäre des Unheimlichen wird evoziert, indem gezeigt wird, wie ein offensichtlich unbemannter Krankenwagen in die Einfahrt des Krankenhauses fährt, der nur von bestimmten Personen gesehen werden kann. So sieht ihn zwar der Pförtner Hansen (Otto Brandenburg), nicht aber der junge Assistenzarzt Jørgen Krogshøj, genannt Krogen (Søren Pilmark). Dass es sich bei dem Krankenwagen aber um einen real existierenden Geisterwagen handelt, er also keine Halluzination derer ist, die ihn sehen, macht der Film dadurch klar, dass auch der Hund des Pförtners diesen Wagen wahrnimmt und das Kamerabild anbellt, auf dem das menschliche Auge nichts weiter erkennt als das grobkörnige Schwarz-Weiß-Bild der leeren Krankenhauseinfahrt. Wenn in den folgenden Szenen mit der Spiritistin Sigrid Drusse die weibliche Hauptfigur der Serie eingeführt wird, und diese während der Fahrt mit dem Aufzug ein kleines Mädchen weinen hört, obwohl niemand zu sehen ist, dann ist dem Zuschauer durch die vorhergehenden Szenen bereits klar, dass es sich hier um einen Geist handelt, der sich der dafür empfänglichen Frau Drusse kund tut. Verifiziert wird die Existenz von Geistern nicht zuletzt dadurch, dass die beiden im Keller des Krankenhauses tätigen Tellerwäscher (Morten Rotne Leffers u. Vita Jensen), die von Schauspielern mit Down-Syndrom dargestellt werden und auf besondere Art hellsichtig zu sein scheinen, dem Zuschauer erklären, dass das kleine Mädchen sich Frau Drusse zu erkennen gegeben hat. Dass wir uns als Zuschauer in einem – zunächst noch relativ harmlos wirkenden – Gruselfilm befinden, betonen die Tellerwäscher, indem sie das Geschehen als »uhyggeligt« bezeichnen.26 In der deutschen Fassung wird der Ausdruck »uhyggeligt« als »gruselig« übersetzt was vollkommen richtig ist, aber nicht zum Ausdruck bringt, dass das ›Uhyggelige‹ als Gegenteil zum ›Hyggeligen‹ als dem Heimeligen, Gemütlichen und Schönen, die von Freud beschrieben Dialektik von Heimlichen und Unheimlichen impliziert.
26 RIGET I, 1, 35:10.
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Dass dem Unheimliche nicht nur eine ängstigende oder bedrohliche Qualität eignet, sondern es immer auch ein Moment des Ästhetischen enthält, das als solches im Akt des lustvollen Erschauerns genossen werden kann, weiß keiner besser als Frau Drusse. Frau Drusse ist nämlich nicht nur die Figur, »through which our knowledge of the unofficial histories of the hospital comes into being«,27 sondern sie ist zugleich das Medium des Phantastisch-Phantasmatischen. Sie fungiert als »spiritual detective«,28 der mit einer Miss Marple ähnlichen Beharrlichkeit ausgestattet ist und herausfinden will, was es mit dem Weinen des kleinen Mädchens auf sich hat und lässt sich dabei von einem (groß)mütterlichen Mitleid, mehr aber noch von ihrer spiritistischen Neigung und ihrer Lust am Unbekannten treiben. Sie ist fasziniert von der sich ihr eröffnenden Welt der Geister und weiß sich durch dieses Erleben des Anderen belebt. »Ist das nicht spannend?«29 fragt sie ihren behäbigen Sohn Bulder (Jens Okking) und insistiert, dass das Ganze für sie ein großes Erlebnis sei. Der Raum der Geister ist Frau Drusse also nicht nur der Raum einer bislang unterdrückten Wahrheit, sondern ein expliziter Raum der Erregung und wohltuenden Spannung, »das Reich der Phantasie«30 also, wie Lars von Trier es im Abspann zur zweiten Episode nennt. Dass Horror eng mit Phantasie bzw. der Bilder produzierenden Tätigkeit unseres Unbewussten zusammenhängt, führt RIGET in den Szenen vor, die uns von dem Medizinstudenten Mogens Moesgaard (Peter Mygind), genannt Mogge, Sohn des Oberarztes und administrativem Leiter Einar Moesgaard (Holger Juul Hansen), erzählen. Dieser ist in die bereits etwas ältere Assistentin des Schlaflabors Camilla (Solbjørg Højfeldt) verliebt und versucht, ihre Aufmerksamkeit zu wecken, indem er ihr den abgetrennten Kopf eines Leichnams verehrt. Um in ihrer Nähe zu sein, stellt er sich dem Schlaflabor außerdem als Versuchsperson zur Verfügung. Die Träume, die
27 Caroline Bainbridge: The Cinema of Lars von Trier. Authenticity and Artifice. London: Wallflower Press, 2007, S. 78. 28 Bainbridge: The Cinema of Lars von Trier. Authenticity and Artifice, S. 78. 29 »Er det ikke spænnende?« – RIGET I, 1, 48:25. 30 »fantasiens riget« – RIGET I, 1, 1:02:48. Zu der These, dass der gesamte Film RIGET als Eintritt in das Reich der Phantasie zu sehen ist, vgl. auch Ove Christensen/Claus K. Kristiansen: Porten til Riget. In: Eva Jørholdt (Hg.): Ind i filmen. Kopenhagen: Medusa, 1995, S. 286-309.
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Trier seine Figur in diesem Schlaflabor erleben lässt, spielen mit Elementen eines sexuell codierten Horrors, wie er vor allem aus Kannibalismus- oder Vampirszenen bekannt ist. Eingeleitet wird die Szene, in der wir Mogens träumen sehen, durch die extradiegetische Musik, die auch in den Szenen zu hören ist, in denen Geister zu sehen sind. Mogens sieht jedoch nicht die Geister von Verstorbenen, sondern halluziniert vier abstoßende männliche Gestalten, die als fleischlich lüsterne Vampire seinen Arm aufzufressen beginnen. Das unterdrückte Dunkle nimmt hier die Gestalt des puren Horrors an. Die sexuelle Dimension dieses Horrors wird dadurch angedeutet, dass die vier Männer lediglich in Unterhemden gekleidet sind und ihre kannibalischen Gelüste mit wollüstigen Schmatzgeräuschen unterlegt sind.31 Das sexuelle Phantasma des Verschlungenwerdens durch den Anderen gibt sich als Ekel erregender und peinigender Akt zu erkennen, ohne dass die erotische Dimension damit jedoch vollständig verloren gehen würde. Vielmehr zeigt sie sich in Form unverstellter Gewalt, der sich der sexuell Erregte nicht entziehen kann. Erotisches Begehren, das hier in dem kannibalischen Begehren ungefiltert zum Ausdruck kommt, wird so gleichzeitig verworfen und als Objekt der Faszination vorgeführt. Verdoppelt und zugleich ironisch gebrochen wird der Horroreffekt dadurch, dass im Nebenzimmer die Medizinstudentin Sanne (Louise Fribo), die der Film uns bisher als jemanden gezeigt hat, der selbst auf den kleinsten medizinischen Eingriff hypersensibel reagiert, ein Kettensägenmassaker-Video anschaut und dabei genüsslich Chips isst. Dass Mogens und Sanne eine gemeinsame Vorliebe für sexuell erregende Gewalt haben, wird auch dadurch unterstrichen, dass Sanne, als sie in der Wiederholung der Traumszene in Folge vier die computergenerierten Aufnahmen von Mogens Gehirntätigkeit sieht, verzückt bemerkt, dass Mogens einen »superfeuchtenTraum«32 hat, und dass Mogens ihr in der zweiten Staffel Videokassetten mit Horrorfilmen zusteckt. Hier wird Horror im Wissen um seine ästhetisch genießbare Dimension bewusst zelebriert.
31 Vgl. RIGET, I, 3, 49:50-50:34. 32 RIGET, I, 4, 35:38. In der Wiederholung der Traumszene ist eine markante Änderung eingebaut. Die Kannibalen-Phantasie wird hier umgelenkt in eine gewöhnliche Beischlaf-Phantasie, in der Camilla Mogens auf ihm sitzend erregt. Gemeinsam ist beiden Phantasien jedoch, das Mogens jeweils in der passiven Rolle verharrt.
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Die Szenen, die in RIGET am deutlichsten mit dem Thema Horror verknüpft sind, und gekonnt das Register des Ekelhaften und Grauen erregenden ziehen, sind die Szenen, die sich um die Schwangerschaft der Ärztin Judith drehen. Denn der Vater ihres Kindes ist kein anderer als Åge Krüger, der als Vater der kleinen Mary einer normalen Zeitrechnung zu Folge schon längst nicht mehr am Leben sein dürfte. Ob er ein Zombie oder vielleicht sogar der Teufel selbst ist, wird im Film nicht vereindeutigt. Unzweifelhaft ist aber, dass er sich über das Kind in Judiths Körper neu zu materialisieren versucht, er also als das Böse erneut Zutritt in die Welt des Krankenhauses haben will. Dass es sich bei Judiths Kind um ein ›Monster‹ handelt, wird an dem monströs schnellen Wachstum des Ungeborenen deutlich. Als Judith sich schließlich für einen Abbruch ihrer monströsen Schwangerschaft entschließt, ist es zu spät. Trotz mehrerer tödlicher Injektion bricht das Kind, das im Gedenken an Mary den Namen Lillebror (kleiner Bruder) erhält, sich den Weg aus dem Körper Judiths, die es dabei förmlich zerreißt. Gleichwohl überlebt sie die Geburt und entwickelt zudem zärtliche mütterliche Gefühle gegenüber dem Kind, das von seiner Gestalt her genau das zu sein scheint, was Åge Krüger über Mary gesagt hat: eine Missgeburt. Schnell wächst Lillebror zu monströser Größe heran; ein kleiner Kopf mit den Gesichtszügen des Vaters auf einem jedes menschliche Maß sprengenden Körper. Vom Charakter her ist Lillebror, wie Andreas Jacke in dem vierten Teil des Aufsatzes näher ausführen wird, jedoch ein liebes Kind, das sich schließlich selbst opfert, um die Ausbreitung des Bösen zu verhindern. Obwohl Lillebror also dem äußeren Erscheinungsbild nach deutlich stärker als z.B. der Geist der kleinen Mary, als Gestalt des Horrors gezeichnet ist, verkörpert er das Andere doch nicht als das Böse. Zwar wohnt das Böse in ihm, doch hat er die Möglichkeit, es nicht zum Ausdruck kommen zu lassen. Das Spiel, das Lars von Trier in RIGET mit den Elementen des Horrors spielt, ist also in einen übergeordneten ethischen Diskurs über das Gute eingeordnet. Das Gute erscheint in der Beziehung zwischen Mutter und Sohn, das Böse hingegen in der Beziehung zwischen Vater und Tochter. Der wahre Horror wird in RIGET nicht in den typischen Horrorszenen sichtbar, sondern in den Geschichten realer Gewalt. Damit lassen sie sich im Sinne Lacans auch als Phantasmen, d.h. als Abwehrphantasien lesen, die das Reale, im Fall von RIGET: den wahren Horror, wie eine Art Schirm be-
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decken, also schützen und unsichtbar halten, als solcher aber zugleich doch auf ihn aufmerksam machen.
III. D ER WAHRE H ORROR : M ARY UND M ONA O PFER MÄNNLICHER G EWALT
ALS
SOPHIE WENNERSCHEID Das Mädchen, das Sigrid Drusse zu Beginn der ersten Serie im Aufzugschacht weinen hört, und so animiert wird, mit dem Geist des Mädchens Kontakt aufzunehmen, ist die kleine Mary Jensen, die, so werden es die spiritistischen Ermittlungen von Frau Drusse am Ende der vierten Serie ans Licht bringen, im Jahre 1909 von ihrem leiblichen Vater, dem Oberarzt Åge Krüge, mit Chlorgas ermordet wurde, weil sie als uneheliches Kind seine gesellschaftliche Stellung bedrohte und also der zweckrationalen Logik Krügers zu Folge beseitigt werden musste. Das Schicksal der kleinen Mona, die mit Nachnamen nicht zufällig ebenfalls Jensen heißt, und auch von ihrem äußeren Erscheinungsbild viel mit Mary gemeinsam hat, ist mit Marys Schicksal vergleichbar, weil sie ebenfalls Opfer eines Arztes ist, dem seine berufliche Anerkennung über alles andere geht. Zwar schädigt Helmer Mona, die nach einer missglückten Hirnoperation stark geistig behindert ist, nicht willentlich, doch agiert er ähnlich rücksichts- und gefühllos wie Krüger. Statt einzugestehen, dass er einen Fehler gemacht hat, für den es ethisch wie gerichtlich einzustehen gilt, weist er alle Verantwortung von sich. Mit selbstherrlicher Ignoranz reagiert Helmer auf die Vorwürfe der leidenden Mutter des Mädchens und wiederholt (fast ebenso stumpfsinnig wie Mona in ihrem Bett hin und her schwankt), dass ihm nichts vorzuwerfen ist. Als Neurologe ist es ihm eine wissenschaftlich motivierte Selbstverständlichkeit in die Gehirnstrukturen anderer Menschen einzudringen. Allerdings nicht um herauszufinden, was Geist ist, sondern um die Denkmaschine Mensch in Gang zu halten. Gelingt das einmal nicht, dann ist das Helmers Ansicht nach nicht als persönliches Versagen zu beurteilen, für das es sich zu verantworten gelte, sondern als einzukalkulierende Risikoquote. Da das Schicksal der kleinen Mona und das Schicksal der kleinen Mary als Parallelgeschichte erzählt wird, rücken auch die Männer, die ihr Leiden zu verantworten haben, in eine Linie. So wie Krüger einen Menschen er-
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mordet, um seinen gesellschaftlichen Status als Arzt nicht zu gefährden, muss auch Helmer seine Verantwortung für Monas Leiden leugnen, um sein Selbstbild des perfekt funktionierenden Arztes aufrecht zu erhalten. Beide Figuren repräsentieren damit eine Männlichkeit, für die Rationalität die konsequente Verneinung dessen ist, was sich nicht wissenschaftlichpositivistisch fassen lässt und sich nicht als positiver Faktor in eine KostenNutzen-Kalkulation einspeisen lässt, alles also, was mit Gefühlen, Schwäche, Ängsten oder gar Versagen zu tun hat. Die von Horkheimer und Adorno beschriebene Dialektik der Aufklärung, in der es ja nicht primär um die Rückkehr der verdrängten spirituellen Natur des Menschen geht, sondern um den ideologiekritischen Nachweis, dass der sich befreit glaubende Mensch sich vermeintlich rational, aber im Grunde völlig irrational neuen totalitären Ideologien und Herrschaftsformen ausliefert, kommt in dem Verhalten Krügers und Helmers deutlich zum Ausdruck. Aufklärung ist nicht deshalb gescheitert, weil die irrationale Natur des Menschen, also seine mythisch, spirituelle Neigung nun in Form des Geisterhaften, Dämonischen, Horrormäßigen in die Welt der Vernunft einbricht, sondern weil die Welt der Vernunft sich selbst als zweckrational legitimierte Grausamkeit präsentiert.
IV. I NNENRÄUME
DES
H ORRORFILMS
ANDREAS JACKE In RIGET bewohnt die Topographie des Grauens, wie es in der klassischen Form des Horrorgenres häufig zu sehen ist, ein Haus, das so zu einem unheimlichen Haus wird. Eines der prägenden ersten berühmten Häuser dieser Art schilderte der selbst deutlich von den Spuren einer psychischen Erkrankung gezeichnete Edgar Allan Poe, dessen Geschichten bis heute die Autoren von Horrorfilmen inspirieren. In seiner Geschichte The Fall of the House of Usher (1839) wird das alte Gebäude am Ende einstürzen, das schon zu Anfang einen Riss hatte, der im Zickzack vom Dach bis zur Grundmauer hinunter verlief.33
33 Edgar Allan Poe: Das gesamte Werk in zehn Bänden. Bd. 2. Herrsching: Pawlak, 1979, S. 664.
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Auch das Krankenhaus bekommt die ersten feinen Risse, wie es im Vorspann heißt: »Små tegn af træthed er begyndt at vise sig i de eller så solide og moderne bygninger. Ingen levende ved det endnu, men porten til RIGET er begyndt at åbne sig på ny.« [Erste Zeichen der Ermüdung zeigen sich in den ansonsten so soliden und modernen Gebäuden. Noch weiß es keiner der Lebenden, aber die Tore zum Reich haben sich wieder geöffnet.]34 Diese Risse weisen auf seinen Verfall, seinen Sturz hin, der die verschüttete Vergangenheit, auf der es gebaut wurde, wieder zum Vorschein bringen würde. Der Grund, auf dem dieses Gebäude steht, ist fragil, sein Fundament ist gefährdet. Wie die französische Psychoanalytikerin Marie Bonaparte in ihrer wichtigen Studie zu Poe ausführte (die Studie wurde von Lacan für seinen Betrachtungen im Seminar über den Entwendeten Brief aufgriffen ohne explizit genannt zu werden),35 handelt es sich bei dem verfluchten Haus der Ushers und der nebeligen Teichlandschaft, die es umgibt, nur um die »Übertragung eines Wesens, das einmal wirklich gelebt hat, einer in der unbewussten Erinnerung ihres Sohnes lebendig gebliebenen Toten.«36 Im Hause Usher haust die Verstorbene Madeline, derer sich Alfred Hitchcock später in VERTIGO (US, 1958) bemächtigt hat. So wohnt in jedem ›unheimlichen‹ Haus immer der Geist eines Toten, der es letztendlich beherrscht. Bei Hitchcock taucht dieser Topos häufig auf. Am berühmtesten ist die von Norman Bates am Leben gehaltene, verstorbene Mutter in PSYCHO (US, R: Alfred Hitchcock, 1960), die in der Kinogeschichte nicht tot zu kriegen ist. Ganz ähnlich steht es aber bereits um den unheimlichen Herrschaftssitz Manderlay (auf den von Trier später zurückkam) in REBECCA (US, R: Alfred Hitchcock, 1940). Hier beherrscht ebenfalls die bereits verstorbene Hausherrin Rebecca, die gesamte Szenerie. Mit Nietzsche könnte man davon sprechen, dass der Schatten eines toten Gottes bei weitem schwieriger zu beseitigen ist, als der Gott selbst es war. Dies gilt vor allem dann, wenn er die Form des Über-Ichs, des Gewissens angenommen hat.
34 RIGET I, 1, 1:10-1:22. 35 Vgl. die Fußnote des deutschen Übersetzers in: Jacques Lacan: Schriften. Bd. 1. Weinheim/Berlin: Quadriga, 1986, S. 36 u. Jacques Derrida: Die Postkarte. 2. Lieferung. Berlin: Brinkmann & Bose 1983, S. 221. 36 Marie Bonaparte: Edgar Poe. Bd. 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981, S. 55.
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Ein Gespenst, nehmen wir beispielsweise den Vater des dänischen Prinzen Hamlet, spricht oft einen Appell aus, dem sein lebender Sohn nachkommen soll. Was bei Hamlet oft übersehen wurde, ist, dass er durch den Mord an seinem Vater auch seine Mutter aufgeben muss, der er nicht mehr vertrauen kann. Bei Poe, Hitchcock und von Trier haust melancholisch ein niemals aufgegebenes mütterliches Objekt wie ein Geist weiterhin in den Gemäuern eines alten Hauses. Angefangen beim wörtlich zunehmenden ›Elternhaus‹ (als Ort eines sozialen Ursprungs, den es in seiner Singularität so nie gab), ist auch das Krankenhaus in RIGET, das auf den nebeligen Färberteichen errichtet wurde und an das einstige dänische Königreich gemahnt, der Wohnsitz der nicht sterben wollenden Verstorbenen, der unerlösten Toten, der Gespenster. Die ständigen Zwischenschnitte mit den Luftaufnahmen, die das Krankenhaus in einer Totalen zeigen, erinnern immer wieder an diese ganzheitliche Perspektive und zeigen das Haus als Subjekt. Der Film unterhält so die von Walter Benjamin und Gertrud Koch oft hervorgehobene Ähnlichkeit mit der Architektur. Die Baukunst ist taktil und optisch zugleich und deshalb für Benjamin dem Film ähnlich.37 Man kann einen Film topographisch durchlaufen wie ein Gebäude. Öffnen wir also nun die ›Krypta‹ von RIGET und treten in die Innenräume dieses Gebäudes wie in ein Archiv ein. »In der Tat oszilliert Erinnerung zwischen verfügbarem Archiv und unzugänglicher »Krypta« – jenem Raum, der es nicht erlaubt, das verlorene Objekt der Kritik einer forschenden Umwelt auszusetzen. Es wird stattdessen in die Psyche des trauernden Kollektivs inkorporiert und führt dort ein Eigenleben, welches das historische Unbewusste des Kryptenträgers neu ordnet.«38 Alle Geister würden dann, das ist das Mindeste was ich schreiben kann, einen verdrängten Vorgang betreffen, an den sie gemahnen. Vielleicht resultieren die Geister aber vielmehr noch aus jenen Abspaltungen der eigenen Identität, jenem ausgesonderten Anderen, von dem Eingangs die Rede war. Sind sie Projektionen von destruktiven Selbstanteilen oder sogar Wünschen? Wie oft hat Hitchcock den unheimlichen Ausdruck eines Hauses allein schon dadurch hervorgehoben, dass sich die Protagonis-
37 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften Bd. 1.2 . Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991, S. 504f. 38 Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Berlin: Merve, 2002, S. 103.
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ten seiner Filme darauf zu bewegen? Erinnern wir uns an den Schatten eines bösen, elterlichen Paares, der in NOTORIUS (US, R: Alfred Hitchcock, 1946) auf die bereits halb vergiftete Alicia Hubermann (Ingrid Bergmann) fällt. Hier war es der Schatten der Ahnen, der elterlichen Vorbilder, die ihr fatales Gift auszustreuen versuchen. Eine Gabe aus der Vorzeit, die keine wäre, sondern Gift, das beim Zuschauer eine paranoide Reaktion verursacht. Eine Reaktion die zustande kommt, wenn wir passiv zu sehen müssen, wie jemand vergiftet wird, der davon nichts weiß. Demnach wäre diese ›Gabe‹ das Gegenteil von der Liebe, der Zuneigung, die sie sonst beinhaltet. Derrida und Lacan stimmen darüber überein, dass die Liebe darin bestehen könnte, etwas zu geben, was man nicht hat.39 Weil jedes Haus einen Herd hat (an dem das Essen bereitet wird), weil es dem Wanderer Unterschlupf bietet, weil es der Familie ein Heimstätte ist, weil es Schutz bietet, ist es immer mit der ersten Unterkunft, dem Uterus als der ersten Heimstätte verwandt. Dieser Zusammenhang wird in RIGET bei der Beerdigung des Geistes von Mary und später bei der Geburt von Lillebror durchgespielt. Die klassische Gruselgeschichte hatte ein Faible für opulente Innenausstattungen. Wenn Poe die Innenräume in den verschiedenen Gemächern darstellt, die er in The Mask of the Red Death (1842) beschreibt, wird er immer wieder auf das Schlagen der Uhr zurückkommen. Dieses Ticken der Uhr und besonders das bedrohliche Schlagen der vollen Stunde gemahnt an den Herzschlag der Mutter, den der Säugling im Uterus vernommen hat. Es gemahnt von Anfang an an die ablaufende Zeit bis zum Tod. In der Psyche wird die Anfangs- und Ausgangssituation des Lebens immer mit dem Ende verbunden. Das Grab, der Sarg und die Urne sind Bilder für den Raum, aus dem wir kamen. In RIGET trifft Frau Drusse am Ende ihres Lebens, das von einer spirituellen Suche durchzogen war, ausgerechnet in dem Krankenhaus, wo ihr Sohn arbeitet, auf den Geist des untoten Mädchens Mary. Frau Drusse wird versuchen, Mary in verschiedenen Anläufen die ewige Ruhe zu geben, sie beizusetzen, ihr endlich den Tod zu geben, ihr die Endlichkeit des menschlichen Daseins zurück zu erstatten. Von diesem Vorgang handelt die erste Staffel auf ihrer höchsten Bedeutungsebene. In der zweiten Staffel
39 Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit geben. München: Fink, 1993, S. 10.
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werden sich nun viele Geister bei Frau Drusse melden, die ebenfalls zur Ruhe kommen wollen. Jedes Medium, insofern es ein Speicherplatz ist, wird immer der Ort sein, an dem die Geister der Vergangenheit wieder zum Leben erweckt werden. Wenn ich ein Buch von Melanie Klein lese, werden ihre Gedanken durch mich erneut zum Leben erweckt. Ich erbe ihren Geist, ich führe ihn weiter, setze ihn fort, knüpfe an seine Tradition an und verbinde mich mit ihr. Deshalb können die Geister nicht sterben. Sie leben weiter in den Medien, die die Gedanken und Worte (Bücher), die Bewegungen und Stimme (Filme), die Sprache (CD) archiviert haben. »Im Unterschied zu Archiven vermögen technische Speicher die Wiederbelebbarkeit ihrer Daten vorzugaukeln.«40 Die Animation unterscheidet das Buch vom Film. Und daher verweist das Geisterthema immer selbstreferenziell in einer sehr starken Form auf das Speichermedium. Insofern bietet es der Film an, sich mit den Vorfahren, dem Erbe, der Vergangenheit, in der Form der Wiedergänger, der Gespenster, der Animation von Toten, zu beschäftigen. 1989 ist die Mutter von Lars von Trier Inger Trier, geborene Høst, mit 74 Jahren im Kopenhagener Rigshospital gestorben.41 Das ›traumatische‹ Erlebnis dieses Todes (das von Trier stets öffentlich umstellt hat mit dem Drama, dass er am Totenbett erst die wahre Identität seines Vaters erfahren hat, der nicht Ulf Trier, sondern Hartmann hieß) war vermutlich ein wesentlicher Auslöser für das gesamte Filmprojekt. Der Grund dafür eine Krankenhausserie zu drehen. Man könnte auf dieser persönlichen Ebene rasch herausfinden, dass Frau Drusse eine gewisse Ähnlichkeit mit Inger Trier besitzt. Man könnte diese biografische Spur weiterverfolgen und das enge Verhältnis von Frau Drusse zu ihrem Sohn, dem Krankenpfleger Bulder feststellen, wegen dem sich die alte Dame ständig mit erfundenen Geschichten ins Krankenhaus einweisen lässt. Doch das möchte ich hier nicht in der Ausführlichkeit, die dafür notwendig wäre, vornehmen. Vielmehr möchte ich nur auf ein paar Eigentümlichkeiten hinweisen, die damit einhergehen. Frau Drusse, die in der letzten Etappe ihres Lebens angekommen ist, trifft auf den Geist eines jungen Mädchens, Mary. Was wäre nun wenn Frau Drusse und Mary eine Person wären? Was wäre, wenn Frau Drusse sich am
40 Ernst: Rumoren der Archive, S. 140. 41 Jack Stevenson: Lars von Trier. London: British Film Institute, 2000, S. 63
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Ende selbst erlöst? Könnte das ein Geheimnis eine kryptierte Botschaft sein, die in RIGET eingeschlossen ist? Lars von Triers Mutter hat von 1915 bis 1989 gelebt. Die kleine Mary ist 1919 von ihrem Vater Åge Krüger ermordet worden. Zu diesem Zeitpunkt war Inger Trier genau vier Jahre alt. RIGET wäre dann eine filmische ›Seance‹ ihres Sohnes. Vielleicht ist diese TV-Serie, die am Originalschauplatz gedreht wurde, tatsächlich eine phantastische und ganz reale Geisterbeschwörung zugleich? In jedem Fall wehrt sich RIGET vehement dagegen, die übliche Stigmatisierung des Mütterlichen, die den gewöhnlichen Horrorfilm durchläuft, einfach nur in irgendeiner Form zu reproduzieren. In RIGET wird das Genre vielmehr diesbezüglich dekonstruiert, wird die mütterliche Symbolik, die das geheimnisvolle Zentrum so vieler Horrorfilme bildet, durch einen offensichtlich lustvollen, metaphysisch dezentrierten und euphorisch, spielerischen Zugang zum Okkulten (das immer der Ort der Symbiose, einer Widerverschmelzung zwischen Mutter und Kind ist) in Szene gesetzt. Und die Geister werden, da es sich um ein Krankenhaus handelt, mit dem echten Tod, der echten Geburt, einem in der Requisite absolut authentischen Dekor in Beziehung gesetzt.
V. G ESCHLECHTERDIFFERENZ L ARS VON T RIER
BEI
K UBRICK
UND
ANDREAS JACKE RIGET lehnt sich in der Anfangssequenz an einen berühmten Vorgänger, THE SHINING (US, Stanley Kubrick, 1980), von Stanley Kubrick an. Die Blutfontäne, die die Mauer mit dem Titel RIGET durchbricht, ist ein Zitat aus diesem prägenden Klassiker, in dem das Blut aus dem Fahrstuhl in den engen Flur des Hotels stürzt. Auch dass Frau Drusse auf Mary zum ersten Mal im Fahrstuhl trifft, ist ein Zitat. Der Aufzug selbst ist in beiden Filmen ein Symbol für den Geburtskanal, er verweist so auf den Ort eines Ursprungs. Doch ebenso nabelt sich von Trier von Kubricks Szenario ab, er leistet Widerstand gegen dessen Dramatisierung eines offensichtlichen Konflikts zwischen den Geschlechtern. Denn während Kubrick die männliche, größenwahnsinnige Aggression gegen die weibliche Zumutung von Realitätsbezug, sozialer Verantwortung und Familie ironisch darstellt, ist von Trier
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an einem Verständnis der Bedeutung von symbiotischen Strukturen jenseits von klassischen sozialen Rollenauffassungen interessiert. Beide Filme verhandeln das Grauen in großen, öffentlichen Räumen. Doch der Überdimensionalität eines verlassen, leeren Hotels bei Kubrick stellt von Trier die Vielfalt eines völlig belegten Krankenhauses mit seinen ganzen sozialen Interaktionen gegenüber. So erinnern nur die leeren Gänge im Keller des Krankenhauses direkt an die verlassenen, labyrinthischen Gänge im Overlook-Hotel. In THE SHINING steht im Zentrum das männliche Phantasma des Phallus, der eine pathologische Vollständigkeit suggeriert, die primär durch die weibliche Kastration gefährdet ist, die den Mangel kennzeichnet. Jack Torrance (Jack Nicholson) fürchtet sich im Grunde am meisten vor den blutenden Fahrstuhlausgängen, die zugleich die Kastration und den Genozid an den Indianern (zu denen auch seine Frau gehört) symbolisieren. Von Triers Konzept setzt hingegen an einer ganz anderen Stelle an. Ihm geht es um das Verhältnis rationaler und irrationaler Bezüge innerhalb einer sozialen Struktur. Er will zeigen, inwieweit ein verdrängtes und damit nicht aufgearbeitetes Erbe in der Form des Phantoms eine weiter reichende Wahrheit aussprechen kann als alle rationalen und kontrollierten Aussagen. Es geht also völlig anders als bei Kubrick nicht um die Wahnvorstellungen, die ihr Zentrum in einer männlichen Erotik haben oder die pathologischen Identitätsvorstellungen, die sich aus einer binären Opposition der Geschlechterverhältnisse ableiten lassen, sondern um eine Form von Schuldbekenntnis und Geisterbezug, der gegenüber dem Anderen in Bezug auf die Ausgrenzungen durch Behinderung oder Herabsetzung besteht. Kubrick und auch von Trier setzten sich dabei in ein verantwortungsvolles Verhältnis zur Geschichte. Doch während Kubrick in Bezug auf den Genozid an den Indianern, die als eine weiblichere Kulturform angesehen wird, die wahnwitzige männliche Aggression direkt vorführt, handelt von Triers Inszenierung viel komplexer und verschlungener vom Wiederfinden des Anderen. Wendy (Shelly Duval), Jacks Frau trägt indianische Spuren in ihrer Kleidung und ihrem Gesicht, und das Hotel als das unheimliche Haus, als Ursprungs- und Wohnort trägt indianische Spuren in seinem Interieur. Bei Kubrick ist das Erbe des Rassismus demnach ein Teil des Horrors. Bei von Trier wird er hingegen durch die Figur des Dr. Helmer als zwanghafte Abgrenzung parodiert.
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Das unheimliche Zentrum im Overlook-Hotel ist jedoch das verbotene Zimmer 237. Hier sind auf dem Teppichboden violette phallusartige Symbole in grünen Halbkreisen zu sehen.42 Darin begegnet Jack Torrance seinem Begehren als einem Geist. Er trifft auf eine anonyme, nackte, modelartige Frau, die aus einer Badewanne steigt und sich anschließend in eine alte, entstellte Frau verwandelt. Das für den Horrorfilm so typische Wechselspiel zwischen attraktiver, jugendlicher Erotik und grausamem Tod ist hier ein wesentliches Motiv. Nur bindet Kubrick dieses populäre Thema nicht an die damals für den Horrorfilm sehr häufig verwendete viktorianische Sexualmoral, sondern der ehemalige Lehrer Torrance will die Zeit, d.h. sein Alter stoppen und so unsterblich werden. Er will die Zeit für immer ›fixieren‹ (im zweifachen Sinne – in Bezug auf die lineare Zeit und zugleich psychoanalytisch an einer Entwicklungsphase festhalten wollen)43 In RIGET werden die sexuellen Phantasmen persifliert und als Jugendstreiche verhandelt. Die Logik der Kastration und der Traum von der sexuellen Erfüllung tauchen nur bei dem Sohn des Chefarztes Moosgaard Mogge auf, der mittels eines abgesägten Leichenkopfs eine Krankenschwester schockieren und verführen will. Doch diese Vorstellungen werden in einer sehr verspielten Form wiedergegeben. Jugend und Alter bilden hier auch keine Gegensätze für das Feld erotischer Phantasmen, sondern stehen in dem viel alltäglicheren, sozialen Feld eines Generationskonflikts. Allerdings entpuppt sich die Krankenschwester Camilla, die Mogge verführen möchte, später als eine Satanistin, womit doch recht konventionell das sexuelle Begehren mit dem Bösen verbunden wird. Die wichtigste weibliche Heldin, Frau Drusse, ist aber eben bereits eine alte Frau. In die gesamte visuelle Ästhetik des Films ist im Gegensatz zu Kubricks aufwendig arrangierten und perfekten klaren Bildern die Performativität und Vergänglichkeit stets schon eingeschrieben. Die dann später für die Dogma-Filme typischen spontanen Kamerabewegungen, die schlechte Ausleuchtung und das grobkörnige 16mm Filmmaterial, die realistische Darstellung der Schauspieler – all das stellt sich von Vornherein gegen jede Form einer fetischisierenden Erotik. Das Zentrum des Horrors
42 Thomas Allen Nelson: Kubrick. Inside a Film Artist’s Maze. Bloomington, 2000, S. 221. 43 Andreas Jacke: Stanley Kubrick. Eine Deutung der Konzepte seiner Filme. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2009, S. 243-285.
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betrifft also gerade nicht die Sexualität, die Kubrick durch den Zusammenhang mit der Zeit zumindest auf ein beachtliches Niveau hat bringen können. Der Horror in RIGET basiert aber zugleich recht konventionell auf der Gestalt von gespenstischen Wiedergängern, die in der ersten Staffel vor allem das Motiv zwischen Eltern (Frau Drusse/ Dr. Helmer) und dem vom Vater verletzten Kind betreffen. Dazu gehört der vertuschte medizinische, chirurgische ›Kunstfehler‹ von Dr. Helmer an dem jungen Mädchen Mona, das nun für immer behindert sein wird und der Mord von Åge Krüger an Mary. Aufgrund dieses nicht aufgedeckten Mordes/Kunstfehlers wandelt Mary nun als Geist zwischen den Lebenden und Toten umher und Mona verschmiert ihr ganzes Zimmer mit Blut. Ihr Geist ist der Geist eines unaufgeklärten Verbrechens in der Vergangenheit – das auch die Zukunft betrifft. In der ersten Staffel gruppieren sich um dieses zentrale Motiv allerlei andere Themen, die entweder dazu referieren oder den Alltag des Krankenhauses, seine Organisation, seine Hierarchie und seine medizinischen Apparate betreffen und all dies sehr liebevoll parodieren.
VI. D ER T EUFEL UND B ÖSE
PERSÖNLICH :
D IESSEITS
VON
G UT
ANDREAS JACKE Während die erste Staffel von RIGET mit der Auflösung des Verbrechens an Mary endet, gibt es in der ersten Folge der zweiten Staffel die Geburt eines neuen Kindes von Åge Krüger zu sehen, das mit erheblichen Behinderungen auf die Welt gelangt. Dieses Motiv ist von Anfang an durch die zwei stets nur isoliert gezeigten spirituellen Seher in der Abwaschküche des Krankenhauses vorbereitet, die am Down-Syndrom erkrankt sind. Die ganze Serie diskutiert den Wert menschlichen Lebens. Der entstellte, überdehnte Körper von Åge Krügers Sohn Lillebror hat das Gesicht seines Vaters. Und Krüger gibt sich schließlich als der Teufel persönlich zu erkennen. In der siebten Folge wachsen ihm deshalb Teufelshörner aus dem Kopf, die an zwei Phallusse erinnern und damit das Teuflische ausdrücken und sogleich parodieren. Von Trier treibt den Teufel aus den vulgären Vorstellungen von Erkrankungen (als dem Bösen) eher aus und zwar indem er ihren theologischen Hintergrund bewusst macht. Die bedrohliche christli-
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che Umgestaltung von Dionysos zum Teufel, hängt, wie Nietzsche geschrieben und dann auch gefühlt hat, mit einer schizoiden Aufspaltung in die Extreme von Gut und Böse (Himmel und Hölle) zusammen. Eine ähnliche Satire in Bezug auf den Teufel gibt es schon in THE SHINING. Bei einem heftigen Streit mit seiner Frau Wendy stellt Jack den Teufel mit seinen Hörnern und flatternder Zunge nach. Hier geht dasselbe Motiv jedoch mit einer sehr rohen, männlichen Gewaltandrohung und aggressiven Sexualität einher (und Wendy muss ihren ausgeflippten Gatten kurz darauf mit einem Baseballschläger bewusstlos schlagen). Åge Krüger ist als Reinkarnation des Teufels in RIGET aber kein Libertin, sondern ein mystischer Vertreter von eben jenem ›Element of Crime‹, das von Trier zuvor in seiner Europa-Trilogie schon fasziniert hat. Die Welt ist aber so oberflächlich in Gut und Böse gespalten, dass kein echter Horror aufkommt. Vielmehr berichtet der Film nun von einem Märtyrer. Krügers Sohn Lillebror könnte seinen Vater ›beerben‹ und weiterleben, wenn er selbst von ihm das Gift/die Gabe des Bösen annehmen würde und auch zu einem bösen Dämon würde. Doch er weigert sich! Das Böse, das von Trier zunächst im deutschen Faschismus beschrieben hatte, soll sich nicht fortsetzen. »Das Spektrum hat mehrere Zeiten. Das Eigene eines Gespensts, wenn es das gibt, besteht darin, daß man nicht weiß, ob es, wiederkehrend, von einem ehemals Lebenden oder von einem zukünftigen Lebenden zeugt, denn der Wiedergänger kann bereits die Wiederkehr des Gespensts von jemanden oder etwas bezeichnen, dem das Leben erst versprochen ist.«44
In einer der gelungensten Szenen des Films schlägt der leidende Lillebror dieses böse Erbe seines Vaters aus und opfert schließlich sein Leben, damit das Böse keine Chance erhält, durch ihn in der Welt zu wirken. Diese Opfersequenz verbindet die zweite Staffel von RIGET mit dem sentimentalen Liebesausdruck von BREAKING THE WAVES (DK u.a., R: Lars von Trier, 1996), der zwischen den beiden Staffeln von Trier gedreht wurde, dessen Drehbuch aber bereits davor geschrieben worden war. RIGET ist daher im Gesamtwerk ein Übergang von der Faszination des Regisseurs für das Böse
44 Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt/Main: Fischer, 1996, S. 159.
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zu einer zunächst durch christliche Motive getragenen Faszination für das Gute (die auch vorher schon wirkungsmächtig gewesen war). Und spätestens mit Lillebror entledigt sich der Regisseur auch des gewöhnlichen Endes eines Horrorfilms, der nur eine kurzzeitige (Er)Lösung kennt, um dann häufig in einem pessimistischen Ende die Bedingungen für seine Fortsetzung zu schaffen. Lillebrors Opfertod ist dem Genre gänzlich fremd. So wandeln sich Horrorszenarien der Angst innerhalb der Serie einige Male in traurige Szenarien des Schmerzes und der Schuld. Noch häufiger wird allerdings der Horror mit Humor vermischt. Doch in den tiefer gehenden Sequenzen versteht von Trier es meisterhaft von der, von Melanie Klein beschriebenen, paranoid-schizoiden Position zur depressiven Position zu gelangen.45 Es gelingt ihm entgegen der üblichen Konventionen eine starke Empathie zu den Geistern herzustellen. Dieses Mitgefühl findet nochmals seinen Höhepunkt bei Lillebror. Diese Figur wird durch ihr Feinfühligkeit und ihr starkes Mitgefühl für Judith, seine Mutter, voller Zärtlichkeit dargestellt. Von Trier erreicht hier mit dem einfachen Mittel eines ausschließlich guten Charakters die volle Sympathie des Betrachters für diesen entstellten Menschen. Die Handlung wendet sich dabei zugleich massiv gegen einen anderen Klassiker des Horror-Genres. In ROSEMARY’S BABY (US, R: Roman Polanski, 1968)46 von Roman Polanski geht es um die paranoide Vorstellung einer Mutter, die darum kreist, ihr Baby sei vom Teufel gezeugt und sei damit ein Teil des Bösen. Dieser männlichen Phantasie einer paranoiden Entfremdung zwischen Mutter und Kind (sie wurde unter anderem beispielweise in ALIEN-Filmen fortgesetzt) wirkt RIGET geradezu in einer filmpolitischen Form entgegen. Bei ROSEMARY’S BABY stand letztendlich die sexuelle Lust selbst unter dem katholischen Verdacht der Bösartigkeit. Rosemarys heftige Übelkeit und ihr Verhalten, das immer mehr paranoide und schizoide Züge bekommt, lässt sich tiefenpsychologisch rasch als eine Schwangerschaftspsychose deuten. Doch diese Ebene wird nur für einen
45 Diese Art der Verarbeitung von der paranoid-schizoiden Position zur depressiven Position ist grundlegend für Kleins Theorie und taucht darin immer wieder auf. Vgl. die Unterscheidung in Bezug auf die Angst: Klein: Schizoide Mechanismen, S. 59ff. 46 Vgl. Achim Forst: Breaking the Dreams. Das Kino des Lars von Trier. Marburg: Schüren, 1998, S. 115.
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starken Thrill ausgebeutet und selbst nicht thematisiert. Dieser gegen Frauen gerichtete Film, dessen Stoff nicht von Polanski selbst kam, sondern ihn von einem Produzenten der Paramount Pictures angeboten wurde (möglicherweise ein Angebot, das Polanski aus Karrieregründen nicht ausschlagen konnte), wird in der zweiten Staffel von RIGET in sein Gegenteil verkehrt und so ein weiterer sehr einflussreicher Film des Genres durch einen sehr eigenwilligen Kommentar ergänzt. Zugleich wandte sich RIGET damals unmittelbar gegen die TV-Serie TWIN PEAKS (US, R: David Lynch, 1990) von David Lynch, die mit ähnlichen Inhalten in einer viel oberflächlicheren und ästhetischen Form umging und letztendlich von Kokainphantasien inspiriert war, die sie auch thematisierte. Die Serie erzählte die mysteriöse Aufdeckungsgeschichte eines jugendlichen kokainabhängigen Mädchens mit esoterischen Mitteln. Ähnlichkeit hingegen hat RIGET aufgrund der Problematisierung der sozialen Ausgrenzung von entstellten Menschen mit THE ELEPHANT MAN (US, R: David Lynch, 1980) von Lynch. Der Film erzählt sehr einfühlsam von dem Schicksal eines Mannes mit bizarren körperlichen Missbildungen im 19. Jahrhundert. Insgesamt kann man sagen, dass von Trier den Horror der Befremdung mit einem sehr gezielten sozialen Engagement und Humor auflöst. Darin liegt das Ungewöhnliche der gesamten Serie. Hier bleibt der Horror weder bei den sexuellen Phantasien stehen, noch bei psychotischen Phänomenen. Mit anderen Worten: RIGET ist kein einfacher Horrorfilm, sondern zugleich liefert die TV-Serie grundlegende Einblicke in Struktur und Auflösung von Horrorelementen. RIGET ist demnach, wie alle Filme des Regisseurs, ein Metafilm.47 Von Trier kam auf den Horrorfilm in einer viel reineren und damit weniger gelungenen Form später in ANTICHRIST (DK u.a., R: Lars von Trier, 2009) zurück. Dieser Film handelt dann vom Krieg der Geschlechter als einem strukturellen Horrorszenario, dessen Wurzeln zu einer langen Tradition gehören. Von Triers Interesse am Horrorfilm taucht aber auch in anderen Filmen auf. Beispielsweise heißt die Hauptstraße, die durch das Dorf in DOGVILLE (R: Lars von Trier, 2004) führt, nicht zufällig Elm Street. Denn dieser Name stammt aus dem NIGHTMARE ON ELM STREET (US, R: Wes Craven, 1984) von Wes Craven. Der böse Mann in NIGHTMARE ON ELM STREET (von dem Craven 2010 unter demselben Titel ein Re-
47 Vgl. Marion Müller: Vexierbilder. St. Augustin: Gardez!, 2000, S. 21.
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make drehte) war Freddy Krueger, ein Phantom, das einige Teenager in ihren Träumen heimsucht und dabei die Fähigkeit hat, sie real verletzen und töten zu können. Åge Krüger soll, wie bereits Achim Forst vermutete, vielleicht ein dänischer Verwandter des amerikanischen Freddy Krueger sein.48
48 Vgl. Achim Forst: Breaking the Dreams. Das Kino des Lars von Trier. Marburg: Schüren, 1998, S. 115.
A self-fulfilling parody Die Genreparodie EVIL ED und das Wunder der Zensur H AUKE S EVEN
1. D IE N OTWENDIGKEIT M ASSAKERN
VON
M ONSTREN
UND
1.1 Horror und Gewalt Beschäftigt man sich mit dem Horrorfilm skandinavischer Regisseure in seiner chronologischen Entwicklung seit den 1920er Jahren, so ist hier wie andernorts eine deutliche Entwicklung von der klassischen gothic literature-Verfilmung1 über den postklassischen Horrorfilm bis hin zum zeitgenössischen torture-porn zu beobachten. Der Beginn des postklassischen Horrors2 ist in den 1960er Jahren zu verzeichnen. Auf dem internationalen Filmmarkt markieren hier Filme wie George A. Romeros NIGHT OF THE
1
In etwa Victor Sjöströms Körkarlen (SE, R: Victor Sjöström, 1921) oder Carl Theodor Dreyers Vampyr (DE/DK/FR, R: Victor Sjöström, 1932).
2
Die hier verwendete Definition des ›klassischen‹ Horrors bezieht sich auf die filmische Konzentration auf die als typisch anzusprechenden thematischen (Gespenster, lebendige Gemälde etc.) und ästhetischen (Burgen, Wendeltreppen etc.) Motive der gothic literature und ihrer Nachfolger. Vgl. hierzu auch Ursula Vossen: Horrorfilm. Stuttgart: Metzler, 2004, S. 9ff. Leo Braudy: Horror. In: Hans-Otto Hügel (Hg.): Handbuch populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart: Metzler, 2003, S. 248-255, hier: S. 249f
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LIVING DEAD (US, 1968), Roman Polanskis ROSEMARIES BABY (US, 1968) und Michael Reeves WITCHFINDER GENERAL (US, 1968) diese neue Ära des Horrorfilms, die ersten Splatterfilme, wie Herschel Gordon Lewis’ BLOOD FEAST (US, 1963) sorgen zunächst auf dem US-amerikanischen Markt für große Aufmerksamkeit.3 In Skandinavien beschreitet Ingmar Bergman mit VARGTIMMEN (SE, 1968) den Grenzbereich zwischen mythisiertem Gothic Horror und stärker psychoanalytisch geprägtem Horrorfilm. In den frühen 80er Jahren kommen inspiriert von den immer blutiger werdenden amerikanischen Splatter- und Slasher-Filmen auch die ersten skandinavischen Vertreter dieses neuen Genres in die Kinos.4 Mit diesen Filmen tritt ein neues Charakteristikum des Horrorfilms auf, welches sich bis in die heutige Zeit kontinuierlich beobachten lässt und für das Erkenntnisinteresse der hier vorliegenden Untersuchung von entscheidender Relevanz ist5, i.e. die explizit und schonungslos zur Schau gestellte Ausübung von physischer Gewalt und Folter. Die Motive der Gewalt und der Folter sind nicht neu. Sie sind Begleiter des Horrorfilms seit seiner Genese.6 Die filmische Umsetzung ist in ihrer graduellen Ausarbeitung jedoch einem ähnlichen Wandel unterlegen, wie die ihrer literarischen Vorlagen. So ist eine exponentielle Steigerung von einer nicht weiter detailliert beschriebenen Kindstötung wie in Mary Shel-
3
Matthias Teichert sieht Mario Bavas Film OPERAZIONE PAURA (I, 1966) aus dem Jahr 1966 »als einen Versuch, den Mythos des klassischen, an die gothic fiction angelehnten Schauerfilms zu Ende zu bringen«. Matthias Teichert: Von der Heldensage zum Heroenmythos. Vergleichende Studien zur Mythisierung der nordischen Nibelungensage im 13. und 19./20. Jahrhundert. Heidelberg: Winter, 2008, S. 388
4
Der skandinavische Slasherfilm aus dieser Zeit, der in Schweden bis heute als einer der wichtigsten Kultfilme gilt, ist sicherlich Hans Hatwigs BLÖDAREN (SE, R: Hans Hatwig) aus dem Jahr 1983.
5
Zur chronologischen Entwicklung des Horrorfilm oder der ›Genese des Terrors‹ vgl. Marcus Stiglegger: Terrorkino. Angst/Lust und Körperhorror. Berlin: Bert und Fischer, 32010 S. 56ff. Ebenso Vossen: Horrorfilm, S. 9ff
6
Als Beispiel sei hier Benjamin Christensens Film HÄXAN (SE, 1922) genannt, der bei der Thematisierung der mittelalterlichen Hexenverfolgung einen Teil seiner atmosphärischen Wirkung aus der filmischen Darstellung von Folterungen und den dazugehörigen Werkzeugen zieht.
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leys Frankenstein zu den exzessiv blutig dargestellten Ausweidungen in Clive Barkers Kurzgeschichten aus der Book Of Blood-Reihe mit einer Entwicklung eines unmenschlichen und tierähnlichen Grafen Orlok in Friedrich Wilhelm Murnaus NOSFERATU (DE, 1922) hin zu den Verstümmelungsszenen in den Filmen der SAW-Reihe (erster Teil: US, R: James Wan, 2004) zu vergleichen. Es ist das Schockieren unserer Sinne, welches Angst und Nervenkitzel hervorruft und das Faszinosum der künstlerischen Ausgestaltung des Horrors ausmacht.7 Lange z.B. bezeichnet die Abnutzung alter und bekannter Schockmomente als »Verschleiß des Schrecklichen«, der zu einer »steten Erneuerung der immer gleichen Sujets« führe8. Durch die langsame Gewöhnung an die in Buch und Film geschilderten Gewalttaten ist es selbstverständlich nötig geworden, die Daumenschrauben an den hornhautverhärteten Fingern der Empfindsamkeit des Rezipienten anzuziehen. An diesem Punkt sollte klar geworden sein, dass die künstlerische Beschäftigung mit dem Horror und dargestellte Gewalt seit jeher eine Symbiose bilden, welche in der Gesamtkonzeption der Horrorliteratur und des Horrorfilms absolut unverzichtbar ist. Ausgehend von dieser Erkenntnis wird im Folgenden ein Blick auf den Film EVIL ED (SE, R: Anders Jacobsson, 1995) und zensorischen Umgang mit Horrorfilmen (insbesondere Splatterfilmen) geworfen. Es soll gezeigt werden, dass ein Übersehen narrativer und stilistischer Funktionen von Filmszenen zu einer Fehlinterpretation des behandelten Films geführt hat. Die aus diesem Missstand resultierende Zerstörung narrativer Strukturen und somit entstehende Unkenntlichmachung parodistischer Inhalte in Ursprung und Auswirkung zu verdeutlichen ist primäres Ziel der folgenden Untersuchung.
7
Zahlreiche Abhandlungen sind bereits zum Thema der in Horrorfilmen dargestellten Gewalt verfasst worden, exemplarisch sei hier nur Terrorkino. Angst/Lust und Körperhorror (2010) von Marcus Stiglegger genannt. Stiglegger bietet hier eine hochinteressante Theorie an, welche sich mit den verschiedenen psychologischen Wirkmechanismen der inszenierten Gewalt, vornehmlich der Amputation und Folter, im Horrorfilm beschäftigt.
8
Sigrid Lange: Einführung in die Filmwissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007, S. 115. Kritisch hierzu auch Vossen: Horrorfilm, S.11, 15, 22.
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1.2 Die Konzeption des Films Im Zuge dieser immer expliziter dargestellten Gewalt in den Horrorfilmen der 70er bis 90er Jahre schreitet in Schweden, wie auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern, die Filmzensur9 immer rigider ein und schneidet die Filme, synchron zum Anwachsen der Gewaltdarstellungen und zum Leidwesen der großen Gemeinde erklärter Horrorfilmfans, immer weiter auf ein Mindestmaß an gezeigter Gewalttätigkeit zusammen. Aus Protest gegen diese Praxis entstand im Jahr 1995 der Film EVIL ED. Der Film, bei dem es sich um eine parodistische Hommage an das Horrorgenre handelt, inszeniert das Thema der Filmzensur in Europa in den 90er Jahren und avancierte aufgrund seiner überpräsenten genrespezifischen Intertextualität und seiner Abrechnung mit der Filmzensur zu einem Kultfilm der Horrorfans weltweit. Der schwedische Film, der explizit für den ausländischen Markt geschaffen wurde10, stellt den geistigen Zerfall eines Filmzensors namens Edward dar, welcher aus seinem gewohnten Arbeitsumfeld gerissen wird11. Der ersten Begegnung mit Edward geht eine schwarzweiße Filmszene voraus, die in schwedischer Sprache gedreht und mit Untertiteln versehen wurde.12 Hier wird deutlich, in welchem Umfeld der unscheinbare und schüchterne Edward bislang arbeitete: Er hat sich der Bewertung und Bear-
9
Der Begriff Zensur wird hier wie auch im Folgenden nicht im Sinne einer politischen Kontrolle sondern als Beschreibung der gängigen Praxis, Medien vor ihrer Freigabe für den Markt inhaltlich zu bearbeiten und ggf. zu ›entschärfen‹, verwendet.
10 Der komplette Film wurde in englischer Sprache gedreht. 11 Er arbeitet in einer nicht weiter kommentierten Zensurbehörde, die offensichtlich Kritik an der europäischen Zensur und die Tatsache, dass es sich um einen schwedischen Film handelt legen es jedoch nahe, dass hierin eine Anspielung auf das schwedische biografbyrå zu sehen ist. 12 Die Szene, in der ein Mann aus dem Fenster starrt und sich über den Wetterbericht beschwert während seine Frau ihm zu verstehen gibt, dass sie ihn verlassen wird, ist mit großer Sicherheit als eine Parodie auf Ingmar Bergmans Beziehungsschilderungen zu sehen.
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beitung sogenannter ›Kunstfilme‹13 angenommen. Einer Tätigkeit, bei der der sensible Mann keinen nennenswerten Gewaltdarstellungen ausgesetzt ist. Dann erfolgt der Umbruch in Edwards Leben: Zu Beginn des Films wird Edward zum »splatter and gore department« zitiert, um dort die Nachfolge eines Zensors anzutreten, der seinen Verstand verlor und sich selbst in die Luft sprengte. Es obliegt nun Edward, die für ihre Brutalität berühmten Filme der fiktiven Reihe »Loose limbs« schnitt-technisch dahingehend zu bearbeiten, dass sie für den europäischen Markt zugelassen werden können. Der feinfühlige Edward, der noch nie mit derlei Gewaltdarstellungen konfrontiert gewesen ist, verliert über dieser Arbeit seinen Verstand und gleitet hinüber in eine Wahnwelt, in der er dazu berufen ist, alles Böse und Unmoralische aus dem Leben herauszuschneiden. Dieser Mission geht er auf blutige Art und Weise nach, bis er schließlich in einem wahren Massaker von Schrotgewehrschüssen getötet wird. Die am nächsten liegende Interpretation des Films ist sicherlich die richtige14: Die Menschen, die in Schweden über Filme und deren Freigabe entscheiden sind alt, humorlos und in keinster Weise für die Beurteilung von Filmen geeignet, die eigentlich auf ein Publikum abzielen, welches einen differenzierteren Zugang zu inszenierter Gewalt hat. Die Vermittlung dieser Botschaft erfolgt im Gewand einer stilsicheren Parodie eines Horrorfilms, die mit den genreüblichen Ablaufmustern und motivischen Stereotypen spielt. EVIL ED ist gespickt mit Seitenhieben und Anspielungen auf andere bekannte, mitunter stilbildende Filme des Horrorgenres. Der Schwerpunkt wird hier auf Slasher- und Splatterfilme [z.B. THE EVIL DEAD (US, R: Sam Raimi, 1981), HALLOWEEN (US, R: John Carpenter, 1978) oder
13 Der Begriff steht hier für Filme, denen von Filmkritikern ein besonderer künstlerischer Stellenwert eingeräumt wird. Oftmals handelt es sich hierbei um Autorenfilme wie die a.a.O. erwähnten Werke Ingmar Bergmans. Eine treffende Definition für diese Filme zu finden ist, aufgrund subjektiver Vorstellungen davon, was Kunst ist, m.E.s nicht möglich. Auf das Problem der Definition des Kunstbegriffs wird noch einzugehen sein. 14 Eine Beschäftigung mit den von Filmfans verfassten Rezensionen und Kritiken im Internet zeigt ein nahezu einstimmiges Bild bezüglich der Interpretation. Vgl. http://www.dvd-forum.at/filmkritik/470-evil-ed;
http://gruselseite.com/forum
/index.php?page=Thread&threadID=1151; http://www.zelluloid.de/filme/kritik. php3?tid=14371 (abgerufen am 01.02.12).
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NIGHT OF THE LIVING DEAD], Actionfilme, die in einem ähnlichen Ruf stehen [z.B. DIRTY HARRY (US, R: Don Siegel, 1971) oder TAXIDRIVER (US, R: Martin Scorsese, 1976)] sowie auf Horror- und Fantasyfilme, die Gewalt in stark humoristischer und realitätsferner Form beinhalten [z.B. GREMLINS (US, R: Joe Dante, 1984), LEGEND (US, R: Ridley Scott, 1985) oder ARMY OF DARKNESS (US, R: Sam Raimi, 1992)] gelegt. I.e. Filme, die im Verlauf der Zensurgeschichte besonders stark in den Fokus von Zensoren, Pädagogen und Jugendschützern geraten sind. Das Gesamtkonzept des Films zielt darauf ab, die in den Augen der Produzenten unnötige und unangemessene Härte bei der Einschätzung und Bearbeitung von Filmen durch die Zensurbehörden Schwedens und anderer europäischer Länder anzuprangern und gleichzeitig eine Hommage an diese Filme zu liefern. Dem Zuschauer wird eine Parodie auf die Zensur präsentiert, die eben diese zensierten Filme zitiert. Um ein solches Zitat zu erkennen, bedarf es jedoch einer Kenntnis des Originals und so erklärt sich ein aus der Rezeption resultierendes parodistisches Phänomen, welches meines Wissens in der Filmgeschichte einzigartig ist: I.e. Zensur einer fiktiven Zensur. 1.3 Zensur: Reglement und Willkür Die Zensur zum ›Schutz‹ des Publikums vor ›schädlichen‹ Inhalten ist nahezu ein ständiger Begleiter von Literatur, Theater und Film. So wurden Theaterinszenierungen von Edgar Allan Poes dramatisierten-Werken bereits in den 1930er Jahren zensorisch bearbeitet, weil sie ›übertriebene Grausamkeiten‹ enthielten (dies betraf u.a. eine Theaterfassung der Erzählung The Black Cat)15, Henrik Ibsens Nora musste in zahlreichen Inszenierungen zu ihrem Mann zurückkehren und John Withings Stück The Devils wurde wegen seiner blasphemischen und gewalttätigen Inhalte in den 1960er Jahren auf der Bühne u.a. dahingehend bearbeitet, dass dargestellte Folterungsszenen durch Verdunkelung ›entschärft‹ wurden. Das gleiche Schicksal ereilte auch den gleichnamigen Film von Ken Russel aus dem Jahr 1971. Blasphemie, Sex und Gewalt wurden aus dem Film entfernt. Die Dracula-Theaterinszenierung wurde um das, später in den Filmen von Friedrich Wilhelm Murnau und Werner Herzog realisierte, tödliche Ende
15 Anthony Aldgate / James C. Robertson: Censorship in Theatre and Cinema. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2005, S. 177ff.
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gekürzt. Der Tod des Grafen Dracula durfte auf der Bühne nicht dargestellt werden.16 Auch der von Vincent Price in Michael Reeves‘ Film verkörperte WITCHFINDER GENERAL, Matthew Hopkins, entging in einer Schnittfassung seinem Ende durch die Axt. Die Praxis der Zensur kann auf eine lange Historie zurückblicken. Die ǹschädlichen Inhalte‹, die zur Zensur führen, mögen sich gewandelt haben, der korrektive Umgang mit den Inszenierungen ist derselbe geblieben. 1.4 Horrorfilmfans versus Jugendschützer – Wenn Welten kollidieren Der Film EVIL ED enthält in der ungeschnittenen Fassung einige Einstellungen, in denen Filmszenen gezeigt werden, die Edward während seiner Arbeit aus den zu bearbeitenden Filmen entfernt. Während seiner Arbeit bekommt der Zuschauer einen genauen Einblick in das, was Edward für ›grausam‹ befindet So betrachtet Edward eine Szene, in der ein Mann einer jungen, spärlich bekleideten Frau zuerst mit einem Messer den Arm aufschneidet und anschließend mit seinem Kopf auf den verletzten Arm einschlägt, wobei er sich selbst mit dem Blut der Frau beschmiert. Man sieht Blut über die nackten Brüste der Frau rinnen. Edward schneidet die hier geschilderte Gewalt vollständig aus dem Film heraus. Der anschließende Probelauf offenbart eine offensichtliche Lücke im Ablauf, so dass klar wird, dass hier etwas entfernt wurde. Die Szene ist nun inhaltlich vollkommen unverständlich, für den Zensor ist es jedoch zufriedenstellend, dass er die in seinen Augen unerträglichen Grausamkeiten entfernen konnte. Hier wird der immer wieder seitens der Filmfans erhobene Vorwurf deutlich gemacht, dass Schneidearbeiten an Filmen nicht nur eine Bevormundung des potenziellen Konsumenten sind, sondern auch noch ohne Rücksichtnahme auf das Gesamtwerk Film und seine stilistische Konzeption vorgenommen werden. Der Filmzensor stellt seine persönlichen Vorstellungen davon, was zu gewalttätig ist, über das Recht des Filmmachers auf einen unversehrten Film und über den Anspruch des Konsumenten auf einen Film, der ihn so erreicht, wie es Regisseur und Produzent ursprünglich vorgesehen hatten.
16 Aldgate / Robertson: Censorship in Theatre and Cinema, S. 156
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Diese Beschneidung von Kunst soll nun eingehender betrachtet werden. Wie kommt es dazu, dass sich Filmemacher und -fans und Zensurbehörden anscheinend diametral gegenüberstehen? Der Film EVIL ED bietet einen Erklärungsansatz. So wird bei der Zensur von Filmen nicht berücksichtigt, aus welchen Gründen sich der Empfänger dem Horrorfilm aussetzt bzw. wie die Gewaltdarstellungen, ausgehend von der Erwartungshaltung des Rezipienten, auf den Zuschauer wirken. Dieses Problem erklärt sich nahezu von selbst, betrachtet man nur die unterschiedlichen Altersfreigaben, die ein Film in verschiedenen europäischen Ländern bekommt. So begründet der ständige Vertreter der obersten Landesjugendbehörden bei der freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft GmbH (im Folgenden FSK genannt), Folker Hönge, die von Land zu Land unterschiedlich begründete Einstufung der dargestellten Gewalt in den Filmen RAMBO 2 (US, R: George P. Cosmatos, 1985) und POLICE ACADEMY (US, R: Hugh Wilson, 1984) wie folgt: »In den meisten europäischen Ländern werden Actionfilme, die Gewaltdarstellungen mit Humor würzen und teilweise ins Parodistische kippen, milder in der Alterskennzeichnung behandelt als Actionfilme, die sich selbst sehr ernst nehmen. In Norwegen wird dies gänzlich anders gesehen. Gewalt mit humoriger ›Unterhaltung‹ inszeniert wird nicht als emotionale Entlastung für den Rezipienten gesehen, sondern als Folie für Schadenfreude, die dazu beiträgt Gewalt zu verharmlosen. Demgemäß erhielt RAMBO 2 in Norwegen die Altersfreigabe ab 15 Jahren, die Polizei17
komödie POLICE ACADEMY ab 18 Jahren.«
Es lässt sich also nicht klar und einheitlich definieren, was als schädliche Gewaltdarstellung im Film anzusehen ist. Laut Hönge streben die Jugendschutzbehörden Europas gemeinsame Richtlinien an, um einen vergleichbaren und praktikablen europäischen Jugendschutz zu ermöglichen. Dass dieses Unterfangen auf offensichtliche Schwierigkeiten stößt, nimmt er zwar zur Kenntnis und referiert auch über die daraus entstehenden Unstimmigkeiten, einen wirklichen Lösungsansatz erwähnt er jedoch nicht.
17 Folker Hönge: Jugendmedienschutz. Eine europäische Diskussion. Wiesbaden: FSK, 2002, o.S.
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1.5 Der Jugendmedienschutz in Deutschland Im Folgenden soll ein Blick auf die in Deutschland praktizierten Jugendschutzmaßnahmen geworfen werden. Dies ist, auch wenn der behandelte Film sich nicht explizit mit den deutschen Zensurbehörden auseinandersetzt, notwendig, um einem noch zu erörternden Phänomen der unbeabsichtigt entstehenden Komik auf den Grund zu gehen. Im Gegensatz zu den in der Realität praktizierten Bewertungsvorgängen sind die Richtlinien dafür, was eine Jugendgefährdung und eine damit verbundene Freigabe eines Films ab 18 Jahren rechtfertigt in Deutschland sehr klar und eindeutig dargelegt sowie gesetzlich festgelegt. Im vorliegenden Fall soll nur der Tatbestand der Jugendgefährdung durch Gewaltdarstellungen betrachtet werden. Das Deutsche Strafgesetzbuch bestimmt hierzu in seinem Paragraph 131: »Wer Schriften (§ 11 Abs. 3), die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen in einer Art schildern, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder die das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt, 1.verbreitet, 2.öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht, 3.einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht oder 4.herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, einzuführen oder auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 3 zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.«
Grausame und unmenschliche Gewalt verherrlichende Darstellungen dürfen nicht verbreitet werden Die Regelungen zu Altersfreigabe und jugendgefährdenden Inhalten des Jugendschutzgesetzes beziehen sich dementsprechend auf die in § 131 StGB dargelegten Filminhalte. Nun obliegt es in Deutschland der FSK über diese Vorgaben zu wachen und sie umzusetzen. Zur genaueren Definition dessen, was eigentlich den Tatbestand der der Verherrlichung oder Verharmlosung und somit der Jugendgefährdung erfüllt, formuliert die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) eine weitere Aufspaltung des übergeordneten Begriffs der jugendgefährdenden Gewaltdarstellung.
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»Filme gelten wegen ihrer darin enthaltenen Gewaltdarstellung als jugendgefährdend, wenn sie selbstzweckhafte und detaillierte Darstellungen von Gewalthandlungen, insbesondere von Mord- und Metzelszenen enthalten, wenn ihre Inhalte, die Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahe legen oder wenn sie verrohend und zu Gewalttätigkeit oder Verbrechen anreizend wirken. […] wenn Gewalt- und Tötungshandlungen das mediale Geschehen insgesamt prägen. Der Kontext ist dabei zu berücksichtigen: Gewalt- und Tötungshandlungen können für ein mediales Geschehen z.B. dann insgesamt prägend sein, wenn das Geschehen ausschließlich oder überwiegend auf dem Einsatz brutaler Gewalt bzw. auf Tötungshandlungen basiert und/oder wenn Gewalt in großem Stil und in epischer Breite geschildert wird. wenn Gewalt legitimiert oder gerechtfertigt wird. […] wenn Gewalt und deren Folgen verharmlost werden. Unter Umständen kann auch das Herunterspielen von Gewaltfolgen eine Gewaltverharmlosung zum Ausdruck bringen und somit in Zusammenhang mit anderen Aspekten (z.B. thematische Einbettung, Realitätsbezug) jugendgefährdend sein, soweit nicht bereits die Art der Visualisierung oder die ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung 18
mit Gewalt die notwendige Distanzierung erkennbar werden lässt.«
In dieser vermeintlich klaren Definition jugendgefährdender Gewaltdarstellungen zeichnet sich jedoch bereits eine mangelnde begriffliche Trennschärfe ab, die die BPjM in ihren Bestimmungen selbst erwähnt, und in einem anderen Abschnitt zu klären gedenkt: »Bei der Bewertung der Frage, ob bei einem Film eine Jugendgefährdung vorliegt, kann von Bedeutung sein, wer Opfer der Gewalttaten ist, welchen Realitätsbezug die 19
Gewaltdarstellungen haben und welchem Genre der Film zuzurechnen ist.«
Somit ist auch für die BPjM Gewaltdarstellung nicht gleich Gewaltdarstellung. Die BPjM lässt in den oben aufgeführten Regelungen aber Fragen offen: Wann ist eine Gewaltdarstellung selbstzweckhaft? Dieser Begriff wird nicht weiter definiert. Reizt episch dargestellte Gewalt wirklich zur Nachahmung an? Und wie ist es in dieser Hinsicht mit dem »von medialer Gewalt beherrschten« Geschehen? Die evidente Subjektivität der Bewer-
18 http://www.bundespruefstelle.de/bpjm/Jugendmedienschutz-Medienerziehung /Film-Fernsehen/jugendgefaehrdung,did=106680.html (abgerufen am 26.11.11). 19 Ebd.
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tung scheint auch die BPjM zu ahnen, wenn sie in ihren Bewertungskriterien auf die Schwierigkeit der Einstufung hinweist (s.o.). Anstatt dieser Entdeckung jedoch weiter zu folgen und eventuell die Erkenntnis zu gewinnen, dass eine generelle Einstufung von Gewalt im Film nicht wirklich möglich und sinnhaft sein kann, versucht man sich lieber an einem weiteren, im ersten Teil mit den o. zitierten Richtlinien zu Gewaltdarstellungen nahezu identischen, Definitionsmonster zur Rechtfertigung der Indizierung, welches alle Unwägbarkeiten und Möglichkeiten zur willkürlichen Zensur ausschließen soll. So heißt es in den Indizierungsgründen bei den Gewaltdarstellungen: »Allgemeine Indizierungskriterien bezogen auf Gewaltdarstellungen: selbstzweckhafte und detaillierte Darstellungen von Gewalthandlungen, insbesondere von Mordund Metzelszenen [,]Medieninhalte, die Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahe legen [,]verrohend und zu Gewalttätigkeit oder Verbrechen anreizend wirkende Medieninhalte[.] Diese Tatbestandsmerkmale sind nach der Spruchpraxis der Bundesprüfstelle erfüllt, wenn Gewalt- und Tötungshandlungen das mediale Geschehen insgesamt prägen. Dabei ist der Kontext zu berücksichtigen. Gewalt- und Tötungshandlungen können für ein mediales Geschehen z.B. dann insgesamt prägend sein, wenn das Geschehen ausschließlich oder überwiegend auf dem Einsatz brutaler Gewalt bzw. auf Tötungshandlungen basiert und/oder wenn Gewalt in großem Stil und in epischer Breite geschildert wird. und / oder wenn Gewalt legitimiert oder gerechtfertigt wird. […]Unter Umständen kann auch das Herunterspielen von Gewaltfolgen eine Gewaltverharmlosung zum Ausdruck bringen und somit in Zusammenhang mit anderen Aspekten (z.B. thematische Einbettung, Realitätsbezug) jugendgefährdend sein, soweit nicht bereits die Art der Visualisierung oder die ernsthafte inhaltliche Ausein20
andersetzung mit Gewalt die notwendige Distanzierung erkennbar werden lässt.«
Im weiteren legt die BPjM nun folgendes fest: »Zur Erfassung und Bewertung dieser Zusammenhänge kann der Blick auf folgende Aspekte des medialen Geschehens von Bedeutung sein: Opfer der Gewalttaten. Mediale Darstellungen, in denen Gewalthandlungen gegen Menschen und men-
20 http://www.bundespruefstelle.de/bpjm/Jugendmedienschutz/Indizierungsverfah ren/spruchpraxis,did=32992.html (abgerufen am 26.11.11).
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schenähnliche Wesen das Geschehen insgesamt prägen, oder in denen solche Gewalthandlungen, detailliert und selbstzweckhaft dargestellt werden, sind als jugendgefährdend einzustufen. Als menschenähnliche Wesen sind solche Wesen zu betrachten, die dem Menschen nach objektiven Maßstäben der äußeren Gestalt der Figur ähnlich sind. Die Tötung reiner Phantasiefiguren oder von Tieren ist grundsätzlich anders zu bewerten als die Tötung von Menschen und menschenähnlichen Wesen. Erfolgt aber z.B. das Töten von Tieren als sinnloses, selbstzweckhaftes Gemetzel kann dies innerhalb eines gegebenen problematischen inhaltlichen Zusammenhangs zu einer Verrohung beitragen. Realitätsbezug von Gewaltdarstellungen: Grundsätzlich sind realistisch dargestellte Gewalthandlungen eher als jugendgefährdend einzustufen als solche, die Gewalt abstrakt darstellen. Jugendaffine oder sich nahe an der Lebenswirklichkeit befindliche Handlungsumgebungen sind eher geeignet, jugendgefährdende Wirkungen zu verstärken als solche, die in einen nicht jugendaffinen und/oder futuristischen oder fantastischen Handlungsrahmen eingebettet sind. Genre: Bei der Prüfung einer möglichen jugendgefährdenden Wirkung von gewalthaltigen Träger- und Telemedien auf Kinder und Jugendliche ist auch die jeweilige Genrezugehörigkeit (z.B. Fantasy oder Horror) sowie die genretypische dramaturgische und bildliche Visualisierung zu berücksichtigen. Allein die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Genre begründet nicht zwangsläufig eine Jugendgefährdung, 21
schließt sie aber auch nicht aus.«
Was hier verfasst wurde, ist sinnbildhaft für die Praxis der Filmzensur in Deutschland. Die Gefährdung liegt im Auge des Zensors und entbehrt jeglicher objektiver Grundlage. Der Jugendschutz legt hier seine eigenen Maßstäbe dessen, was besonders grausam und unmenschlich ist, als Bewertungsgrundlage für Filme fest. Plattitüden wie »realistisch dargestellte Gewalthandlungen«, »abstrakt«, »nahe an der Lebenswirklichkeit«, »sinnloses, selbstzweckhaftes Gemetzel«, »nach objektiven Maßstäben« oder auch »genretypische Visualisierung« bleiben in der Realität hochgradig subjektiv. Sie unterliegen in ihrer semantischen Füllung den Eindrücken und Fachkenntnissen des jeweiligen Zensors. Ähnliches gilt für die seit den 50er Jahren in Deutschland vorherrschenden Ansichten darüber, wie sich Medienkonsum auf Jugendliche auswirkt, welche wissenschaftlich nicht
21 Ebd.
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verifizierbar sind.22 Und obwohl diese Erkenntnis heutzutage selbst bis zu den alteingesessenen Jugendschützern mit christlichem Hintergrund vorgedrungen ist,23 hat sie in ihrer Konsequenz keinen Einfluss auf die Arbeit der Filmzensoren, die sich mit Horrorfilmen beschäftigen. Darüber hinaus bleibt ungeklärt, was der Jugendschutz mit Filmen für Erwachsene zu tun hat. Daraus resultieren eine Menge Folgefragen. Warum ist es nötig, einen Film ohne Jugendfreigabe um seine jugendgefährdenden Gewaltszenen zu kürzen? Warum wird der erwachsene Mensch für unfähig befunden, sich auszusuchen, welchen Inhalten er sich aussetzen möchte? Warum beschlagnahmt die BPjM Filme, die sie als zu grausam erachtet? Zumindest die ersten beiden Fragen müssen an dieser Stelle weitestgehend unkommentiert bleiben, beziehen sie sich doch auf starre strafrechtliche Regelungen und würden bei einer weiteren Diskussion einer juristischen
22 Ein Paradebeispiel für den deutschen Umgang mit dem Thema jugendgefährdende Medien liefert Werner Glogauer mit einer inkonsistenten Akkumulation von ›Beweisen‹ für die von Medien ausgehende Gefahr für Jugendliche. Sein Buch Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichen durch Medien (1991) suggeriert schon im Titel ein vermeintliches wissenschaftliches Faktum, nach dem es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen moralischer sowie sozialer Verderbtheit von Jugendlichen und Medienkonsum zu geben scheint. Werner Glogauer: Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichen durch Medien. Wirkungen gewalttätiger, sexueller, pornographischer und satanischer Darstellungen. Baden-Baden: Nomos, 21991. 23 Selbst der religiöse Eiferer Mathias von Gersdorff räumt in einem seiner pseudopädagogischen Machwerke, in denen er sich in erster Linie über die Rolle der Medien und der 68er Bewegung beim Verfall der christlichen Gesellschaft austobt, ein: »[…] die Medienforschung versucht schon seit langem herauszufinden, was die Zuschauer, bzw. im Falle von Romanen die Leser, bei einer so extremen Gewalt empfinden. Insbesondere geht man der Frage nach, ob es zu Nachahmungseffekten kommt. Zu dieser Frage existiert mittlerweile eine unüberschaubare Flut an Literatur, und wie man sich gut vorstellen kann, mit den unterschiedlichsten Ergebnissen.« Eine Erkenntnis, die ihn jedoch nicht davon abhält, seinen Feldzug gegen die Medien und ihren schlechten Einfluss auf die Jugendlichen fortzusetzen. Mathias von Gersdorff: Was ist Horror? Horror, Gewaltverherrlichung und Okkultismus in den Medien. Frankfurt/Main: Deutsche Vereinigung für eine Christliche Kultur e.V., 2008, S. 15.
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Durchleuchtung bedürfen. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines generellen Verbotes durch eine Jugendschutzbehörde bleibt jedoch zu diskutieren. Es handelt sich schließlich um eine Behörde, die für den Schutz Jugendlicher und Kinder, d.h. nicht erwachsener Menschen, zuständig ist. Der in Deutschland praktizierte Jugendschutz ist aber nach wie vor gleichbedeutend mit einer Entmündigung des erwachsenen Filmkonsumenten. Die in Deutschland immer noch gängige Praxis, Filme, denen eine besonders schwere Jugendgefährdung vorgeworfen wird, zu verbieten erscheint paradox, basierend auf der Prämisse, dass ein Film ohne Jugendfreigabe nicht in die Hände von Jugendlichen gelangen sollte. Wenn man davon ausgehen muss, dass die Altersfreigabe jüngere Menschen nicht daran hindert, sich bestimmte Filme dennoch anzusehen, welchen Sinn haben die Bewertungen durch die FSK und die daraus resultierenden Konsumverbote dann überhaupt? Die aufgeführten Fragen zeigen, dass bei solch unterschiedlichen Herangehensweisen an die Materie Horrorfilm zwangsläufig eine Kontroverse zwischen Fans und Zensoren entstehen muss. In der oben geschilderten Szene ist, wie nach diesem kurzen Einblick in die deutsche Filmzensur nunmehr klar geworden sein sollte, eine klare Aussage zu finden: Die Jugendschützer und Zensoren machen den Horrorfans die Filme kaputt. Von diesem Vorwurf ausgehend soll nun ein Blick auf den Umgang der deutschen Zensurbehörden mit dem Film EVIL ED geworfen werden.
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FATALEN
F OLGEN
DER
U NKENNTNIS
Dass es sich bei EVIL ED um eine Parodie handelt, ist für den Genrekenner sofort ersichtlich. Denn laut Definition handelt es sich bei einer Parodie, stark simplifiziert ausgedrückt, um die Wiedergabe von etwas bekanntem, jedoch zumeist in soweit abgeänderter Form, dass Komik entsteht.24 Hierbei können die Originale durchaus mit der Absicht verfälscht werden, eine bestimmte Botschaft zu transportieren. Nicht selten erfüllt eine Parodie
24 Vgl. zum Begriff der Parodie Margaret A. Rose: Parodie, Interbildlichkeit. Bielefeld: Aisthesis, 22006, S. 3. Siehe auch Werner Habicht / Wolf-Dieter Lange / Brockhaus-Redaktion: Parodie. In: Der Literatur Brockhaus. Dritter Band. Mannheim, 1988, S. 49.
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gleichzeitig den Zweck einer Hommage an eine Originalvorlage. Die Parodie als humoristisches Mittel zur Kritik an Systemen, Zuständen oder Eigenschaften bestimmter Institutionen oder Personen ist seit jeher ein gängiges Werkzeug. Dies funktioniert in der Literatur genauso wie auf der Bühne oder im Film. Gute Beispiele für parodistische Filme, die bestimmte filmische Stoffe persiflieren und gezielt aus Korn nehmen sind Mel Brooks’ DRACULA DEAD AND LOVING IT (US, 1995), eine Parodie auf die Dracula Filme von Tod Browning und Francis Ford Coppola, oder Walter Bockmayers Film DIE GEIERWALLY (DE, 1987), eine Parodie auf den Roman aus dem Jahr 1872 sowie dessen zahlreiche filmische Umsetzungen, wobei sich Bockmayer auf verschiedensten Ebenen der Dekonstruktion der biederen Utopie des deutschen Heimatfilms annimmt.25 Diese beiden Filme gehen in einen Bereich über, der als Genreparodie bezeichnet wird.26 Hierbei werden nicht zwingend einzelne Stoffe aufgegriffen und parodistisch entfremdet, vielmehr geht es darum, genrespezifische Eigenarten und Stereotype in ihrer Selbstverständlichkeit, Vorhersehbarkeit und oftmals auch ihrer stilbildenden Unvermeidbarkeit satirisch überspitzt darzustellen.27 Als frühe literarische Beispiele für Genreparodien sind in jedem Fall die »hellenisti28 schen Epos-Parodien« oder der mittelalterliche Roman Daniel von dem blühenden Tal als Parodie auf die Artusromane zu nennen, ein jüngeres bekanntes Beispiel ist Miguel de Cervantes’ Don Quijote aus dem beginnenden 17. Jh.29 Mit dem künstlerischen Medium Film und seinen verschie-
25 Eine ähnliche Abkehr von diesem Mythos ist auch in den ›Lederhosenfilmen‹ der 70er und 80er Jahre zu sehen. Die reine Bergromantik mit ihren sauberen Vorstellungen von Liebe und Moral muss sich den plumpen Sexeskapaden und dem unzüchtigen Klamauk der Protagonisten ergeben. Ganz der Tradition des Bauerntheaters entsprechend wird hier immer wieder die Diskrepanz zwischen der (von einigen Protagonisten) gepredigten Moral und der gelebten Triebhaftigkeit dargestellt. 26 Vgl. Vossen: Horrorfilm, S. 11. 27 Vgl. Habicht et al.: Parodie, S. 49. 28 Theodor Verweyen: Theorie und Geschichte der Parodie / Teil I Vorlesungsskript an der Universität Erlangen-Nürnberg 05.07.2001 III. http://www.erlanger liste.de/vorlesung/parodie_0.html abgerufen am 29.06.12. 29 Hierbei handelt es sich um eine Parodie auf den Ritterroman, welcher eine nennenswerte Gemeinsamkeit mit dem behandelten EVIL ED aufweist: Der Konsum
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denen Genres entwickelt sich schließlich auch die schon genannte filmische Genreparodie. Mittlerweile ist wohl jedes Filmgenre parodistisch rezipiert worden. Da es sich beim vorliegenden Objekt jedoch um eine Parodie auf Splatterfilme handelt, soll der Fokus auf dem Genre Horrorfilm liegen. Um eine Parodie zu verstehen, muss der Rezipient eine profunde Kenntnis der Originalvorlage besitzen. Im Fall des Films EVIL ED wird ein Großteil der komischen Wirkung durch intertextuelle Bezüge zu anderen Filmen und parodistische Darstellung bekannter Filmmotive hergestellt. Genrekenntnis ist also für einen verständnisvollen Genuss des Films unabdingbar. Für das Gesamtkonzept der Parodie ist es im behandelten Film weiterhin unerlässlich, dass der Rezipient nicht nur das Genre des Horrorfilms kennt, er muss auch mit der beschriebenen Situation der Zensur und der daraus resultierenden Diskrepanz zwischen Zensoren und Filmfans vertraut sein. Nur so ist es ihm möglich, z.B. die zuvor beschriebene Szene wirklich richtig interpretieren zu können. Und nur so ist es ihm möglich, zu beurteilen, ob in der Szene, in welcher ein Psychopath eine Frau verstümmelt unumgänglich ist, eine derart übertriebene Gewaltdarstellung zu verwenden. Dramaturgisch dient diese Szene primär dazu, zu erklären, warum Edward verrückt wird. Die extremen Grausamkeiten, denen er sich aussetzen muss, zersetzen seinen Verstand. Darüber hinaus wird hier ein mit einem Klischee gespielt, welches sinngemäß den Tenor der Horrorfilmfeinde, Zensoren und Jugendschützer wiedergeben könnte: In Splatterfilmen beobachten wir Sex und Gewalt in ihrer abartigsten Kombinationsmöglichkeit, sabbernde Irre kompensieren ihre sexuelle Erregung dadurch, dass sie wahre Blutorgien veranstalten.30. Hier sind somit zwei narrative Interpretatio-
von Medien führt dazu, dass sich der überforderte Rezipient in der medialen Welt verliert und sie für die Realität hält. 30 Eine Reise durch die Archive der Literatur und Medienberichte, welche sich mit dem Thema Jugendschutz und Gewalt in Medien beschäftigen, zeigt dass sich diese Vorstellung nachhaltig behauptet. Vgl. u.a. Gersdorff, Glogauer sowie Hartmut Reichardt (Hg.): ›Videoterror‹ als gesellschaftliches und individuelles Phänomen. Bestandsaufnahme, Einschätzung und mögliche Gegenstrategien. Loccum: Evang. Akad. Loccum, Protokollstelle 1985.
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nen festzuhalten: Eine erklärende (Motivation für Edwards Zerfall) und eine satirische (das Bild des Splatterfilms aus Zensorensicht).31 In der deutschen Schnittfassung des Films wurde die besagte Szene, welche Edward an seinem Schneidepult bearbeitet, tatsächlich entfernt. Der Rezipient sieht nun lediglich eine Version der Szene, die um jegliche physische Gewaltdarstellung erleichtert wurde. Die vorher so offensichtlich im Film klaffende Lücke, die Edward durch seine Bearbeitung des Films schafft, ist aber weiterhin im Film erhalten. Die oben beschriebene Darstellung eines Filmes, der von den Zensoren im wahrsten Sinne des Wortes beschnitten und zerstört wird, wird damit unkenntlich gemacht. Warum Ed den Film schneidet und was ihm auf visueller Ebene mit den Splatterfilmen zugemutet wird geschweige denn, was man sich unter den mysteriösen Filmen der »loose limbs«-Reihe, die seinen seelischen Zerfall begründen, vorzustellen hat, wird somit völlig unverständlich. Darüber hinaus verliert der Film so ein wichtiges parodistisches Element und die Selbstironie in Bezug auf das Genre Splatterfilm wird somit unkenntlich gemacht. Und auch das parodistische Bild, das von den Zensoren gezeichnet wird (es handelt sich um mit der Materie völlig überforderte Menschen, die keinerlei Zugang zu Horrorfilmen haben) und das im direkten Zusammenhang mit den genannten Stereotypen (der Messerschwingende sabbernde Lüstling als Sinnbild des Horrorfilms per se) steht, wird abgeschwächt. Ähnlich verhält es sich mit der nächsten zu beschreibenden Szene. Wieder sitzt Edward an seinem Schneidetisch und betrachtet den neuen Teil der »loose limbs«-Reihe. Man sieht denselben geistesgestörten Mörder, wie in der zuvor geschilderten Szene. Diesmal befindet er sich in einem Operationssaal und ist in einen grünen Chirurgenkittel gekleidet. Vor ihm auf einem Operationstisch liegt sein nächstes spärlich bekleidetes Opfer. Er trennt der attraktiven blonden Frau zuerst einen Fuß mit einem Fleischer-
31 Auf die vermeintlich völlig kranken Inhalte der Splatterfilme wird übrigens im ganzen Film angespielt. Beispiele hierfür sind das »splatter and gore department«, die Filme der »loose limbs«-Reihe oder die von Edward geschilderte »beaver rape scene« mit einem tödlichen Bazooka-Finale, in der eine Mischung aus Sodomie, Vergewaltigung und extraordinärer Gewalt und Brutalität zelebriert wird. Die Prämisse der Filmmacher ist die, dass ein Splatterfilm nach Ansicht nicht eingeweihter Menschen ausschließlich besonders krankes Futter für kranke Hirne liefert.
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beil ab, dann hackt er auf das panisch schreiende Opfer ein, wobei er zu seiner Verzückung mit dem fontänenartig emporschießenden Blut der Frau bespritzt wird. Die Szene läuft, als Kinotrailer für den fünften Teil der »loose limbs«-Reihe erkenntlich werdend, aus. Zurück bleibt ein seelisch stark beansprucht wirkender Edward, der die Filmrolle in einer Schachtel verstaut. In der deutschen Schnittfassung ist auch diese Szene nahezu vollständig entfernt worden, es werden keinerlei Gewalttätigkeiten gezeigt. Die Intentionen besagter Szene sind denen der zuerst beschriebenen sehr ähnlich. Wieder geht es um den Wahnsinnigen, der unter orgiastischer Freude Sex und Gewalt kombiniert. Wie schon im Beispiel zuvor geht durch die Entfernung auch hier die selbstironische Intention der Szene verloren. Auch die vernichtende Härte, mit der die Szenen auf Edwards sensibles Hirn einwirken, lässt sich wie im obigen Beispiel nach dem Einschreiten der deutschen Zensur nur erahnen. Darüber hinaus tauchen Teile der Szene an anderer Stelle im Film auf. Hier sitzen ein paar jugendliche Splatterfans in einem Kinosaal und konsumieren die Rohfassung des besagten »loose limbs«-Films. Die eben geschilderte Szene wird in Teilen gezeigt, der Fokus liegt jedoch nicht auf den Gewalttaten selbst (diese sind nur akustisch erkennbar), sondern auf den Reaktionen der jungen Zuschauer. Diese ergötzen sich popcornessend an den bei ihnen zugleich Schrecken und Freude hervorrufenden »Metzelszenen«32. Die Gegenüberstellung des unterschiedlichen Konsums von Gewaltszenen präsentiert ein divergentes Bild: Während der Mittvierziger Edward über den Gewalttaten seinen Verstand verliert und zur Nachahmung angestachelt wird, gehen die genrekundigen Spaßkonsumenten vollkommen unbeschadet aus der Konfrontation mit den blutrünstigen Inhalten hervor. Dies ist genau das Gegenteil von dem, was Publikationen und Öffentlichkeitsarbeit des Jugendschutzes seit Jahrzehnten propagieren: Nicht die Jugendlichen, die sich freiwillig für den Konsum entscheiden, werden zu Nachahmungstätern, sondern der erwachsene, pädagogisch tätige Edward. Der Zuschauer erlebt eine Aufhebung bzw. Umkehr der sog. ›Tatsachen‹. Rose merkt hierzu in ihrem Werk zur Parodie an: »Wenn sie die Erwartungen des Lesers aufhebt, kann die Parodie gleichzeitig auch die Identifikation des Lesers mit einer veralteten oder auch ›falschen‹ literarischen und sozialen Wirklichkeit aufdecken.«33
32 Ein Terminus der BPjM. Vgl. a.a.O. 33 Rose: Parodie, S. 11.
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Dies ist genau das, was mit den besagten Szenen erreicht wird. Um den Kontrast in den Reaktionen Edwards und der Jugendlichen auf die gesehenen Szenen narrativ richtig einordnen und somit diese Botschaft des Films verstehen zu können, ist es jedoch notwendig, die so verheerend wirkende Mischung aus Sex und Blut zu kennen. Eine Hauptaussage des Films lautet »Gewalt in Medien beeinflusst nur Menschen, die diese Filme nicht als das begreifen, was sie sind: Entertainment.« Da es sich bei den umstrittenen Splatterfilmen um eine konkret benannte Materie handelt, muss diese Konkretion auch im Film klar werden. Da es sich um visuelle und akustische Eindrücke handelt, müssen diese exemplarisch dargestellt werden, um den Gegenstand der Diskussion zu begreifen. Um die Botschaft zu verstehen, muss der Zuschauer das sehen und hören, was für den Einen unerträgliche Tortur, für den Anderen ein lustiger Zeitvertreib ist. Dieser Erkenntnis kann sich auch der Jugendschutz nicht entziehen. So wurde im Jahr 1984 vor der Ausstrahlung der ZDF-Dokumentation MAMA, PAPA, ZOMBIE (DE, R: Claus Bienfait, 1984), die sich mit Jugendschutz und Gewaltvideos befasste, in der Ankündigung des besagten Machwerks mit den Worten »[…] werden viele von Ihnen, liebe Zuschauer, solche Scheußlichkeiten noch nie gesehen haben. Wir können aber auf Ausschnitte aus diesen Filmen nicht verzichten, sie sind als Dokumente zum Verständnis unerlässlich […]« auf die bevorstehenden visuellen Schockmomente hingewiesen. Im Laufe der Dokumentation bekommt der Zuschauer einige extrem blutige Splatterszenen zu sehen, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens Jugendschützer, Pädagogen und Zensurbehörden in hitzigste Erregung versetzten und zur Beschlagnahmung einiger Filme führten. Basierend auf den bis hierher gewonnenen Erkenntnissen stellt sich die Frage, inwieweit das Herausschneiden jeglicher Gewaltszenen aus dem Film selbigen als Beispiel für einen gewalttätigen Horrorfilm unbrauchbar macht und ihn somit einer wichtigen satirischen Komponente beraubt. Die geschnittene deutsche Version des Films EVIL ED ist um ungefähr dreieinhalb Minuten kürzer als die Originalfassung. Nahezu alle Kürzungen betreffen Darstellungen genretypischer Splatterfilmgewalt. Es wird somit völlig unverständlich, was es an den kritisierten Splatterfilmen auszusetzen gibt. Würde man einen Artikel über kubistische Malerei lesen, ohne auch nur ein einziges beispielhaftes Bild zur Verfügung zu haben, so würde sich einem gattungsunkundigen Menschen die bildliche Vorstellung ebenso wenig erschließen, wie es im Beispiel vom geschnittenen EVIL ED der Fall
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sein dürfte. Sicher ist den eingeweihten Genrefans klar, um was für Stoffe es sich in der Zensurdiskussion handelt, einem Genreunkundigen wird es jedoch nicht mehr deutlich, welche Art von Gewaltdarstellungen in diesen Filmen praktiziert wird. Darüber hinaus ist das »ironische Hervorrufen der Erwartungen«34, die ein Kenner der Originalvorlage mit dem parodierten Stoff verbindet, seit je her ein wesentliches funktionelles Motiv der Parodie. Wie Lange treffend feststellt, beruhen Genres auf einem Wiedererkennungseffekt.35 Im Fall des Splatterfilms sind dies vor allen Dingen die namensgebenden Gewaltszenen.36 Über den Splatterfilm hinausgehend hat Lange in ihrer Arbeit zur Filmwissenschaft festgestellt, dass die Berührung der Tabus von »Eros und Thanatos« sowie der bewusste Bruch der selbigen zumindest bei vielen Horrorfilmen ein typisches Mittel zur Furchterzeugung sind.37 Sie stellt fest, dass viele Horrorfilme ihren »Thrill« aus eben dieser schonungslosen Konfrontation mit dem »Schrecklichen« beziehen.38 Betrachtet man nun die bereits erörterte stetige Wandlung des Horrorfilms und seiner »Ästhetik der Gewalt«39 zu immer extremer werdenden Darstellungen, so wird deutlich, dass diese stilbildenden Elemente für einen parodistischen Umgang mit dem Genre Splatterfilm unabdingbar sind. Diese essentiellen Elemente sind allesamt aus dem Film entfernt worden. Somit präsentiert sich dem Beobachter ein Kuriosum: Ein Film, der die Zensur kritisiert und dessen parodistische Aspekte sich zu einem guten Teil darauf beziehen, dass Gewaltdarstellungen ein wichtiges Stilmittel des ihn einschließenden Genres sind, fällt der Zensur zum Opfer und wird um seine Gewaltdarstellungen beschnitten. Dieser an sich schon an Satire grenzende Zustand wird dadurch, dass die Zensoren in der Realität genau das tun, was der fiktive Zensor Edward an seinem Schneidetisch zelebriert, noch weiter gesteigert: Sie zerstören einen Film, indem sie ihn wichtiger narrativer
34 Rose: Parodie, S. 6. 35 Lange: Einführung in die Filmwissenschaft, S. 86. 36 Dies sieht auch Sabine Seifert, Mitarbeiterin der FSK, so. Vgl. Sabine Seifert: Der Splatterfilm in der Prüfpraxis der freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft. In: BPjM-Aktuell Nr. 4 (2008), S. 12-18, hier: S. 12. 37 Lange spricht hier von einer »Kehrseite der schwarzen Pädagogik«. Lange: Einführung in die Filmwissenschaft, S. 113. 38 Ebd. S.114 39 Ebd. S.115
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Elemente berauben.40 Unter diesem Gesichtspunkt mutet es nahezu gewollt komisch an, dass die Szene, die Edward entfernt, auch von den realen Zensoren entfernt worden ist. Der Rezipient erlebt die Zensur der Zensur! Nun stellt sich die Frage, wie es zu erklären ist, dass ein Film derart missverstanden wird, dass es zu einem so (anscheinend) unfreiwillig komischen Akt der Zensur kommt. Um dies zu verstehen, ist es unerlässlich Rekurs auf die deutschen Bestimmungen zum Jugendschutz zu nehmen sowie die Begründung für die Bewertung und Bearbeitung des Films EVIL ED zu betrachten. Wie deutlich geworden ist, sind die Gewaltdarstellungen in EVIL ED in ihrer Drastik als narratives und stilistisches Mittel unabdingbar. Es handelt sich bei ihnen zunächst einmal um überspitzt dargestellte Stereotype, die einen selbstironischen Blick auf den Splatterfilm werfen und somit eine wichtige narrative Funktion in der Konzeption als Genreparodie einnehmen. Weiterhin sind sie für ein Verständnis der Kritik an den gängigen Bewertungs- und Zensurvorgängen wichtig. Sie markieren den Unterschied in der Wahrnehmung von Zensoren und Filmfans. Darüber stellen die heftigen Gewaltszenen in ihrer Form der Inszenierung eine genretypische Eigenart dar, die stilistisch nicht vom Splatterfilm zu trennen ist. Ergänzend sei hier noch kurz angemerkt, dass die zum Teil betont unrealistische und übertriebene Inszenierung beim Genrekenner augenscheinlich dazu bestimmt ist, Gefühle der Erheiterung hervorzurufen (diese Form der Inszenierung wird in Fankreisen auch als »splatstick«41 bezeichnet). Von diesen Tatsachen ausgehend, folgt nun ein kurzer Blick auf die Ablehnung einer Freigabe des Films für den deutschen Markt durch die FSK. Diese bezog sich im Jahr 1996 zunächst noch auf die ungeschnittene Version des Films. So heißt es dort:
40 Darüber, ob diese Tatsache den Zensoren nicht aufgefallen ist oder ob sie ihnen einfach egal war, lässt sich nur spekulieren. 41 Die englischsprachige Wikipedia nimmt Rekurs auf Peter Jacksons Erstlingswerk BAD TASTE aus dem Jahr 1987, wenn sie den Terminus »splatstick« wie folgt definiert: »These comedic gore films have been dubbed ›splatstick‹, defined as physical comedy that involves evisceration.« http://en.wikipedia.org/wiki /Splatter_film (abgerufen am 31.01.12).
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»Bei diesem Film handelt es sich um eine Aneinanderreihung von Grusel- und Ekeleffekten, wodurch eine starke Ängstigung und Übererregung erzielt wird, so daß die Beeinträchtigung der psychischen Entwicklung Jugendlicher sehr wahrscheinlich ist. Motiviert werden die vielen Gewalttaten durch die einseitige Zeichnung von Personen und Ambiente. Dem steht kein nachvollziehbarer Inhalt entgegen, so daß die Gewaltdarstellungen isoliert und selbstzweckhaft wirken. Dies betrifft insbesondere auch die Splatter-Elemente, die zum Ende des Films immer drastischer werden.«42
Ähnlich liest sich die positive Entscheidung der BPjM zugunsten eines Indizierungsantrages aus dem Jahr 1997, welcher dem (mittlerweile durch die FSK bearbeiteten und ab 18 Jahren freigegebenen) Film eine schwere Jugendgefährdung bescheinigt. So heißt es dort: »Der Videofilm EVIL ED ist antragsgemäß zu indizieren. Sein Inhalt ist offenbar geeignet (§ 15a Abs. 1 GjS), Kinder und Jugendliche sozialethisch zu desorientieren […] Der Film wirkt verrohend und damit in einem, die Verhandlung im vereinfachten Verfahren (§ 15 a GjS) rechtfertigenden Maße, sozialethisch desorientierend.«43
Im Detail richtet sich der Vorwurf der Verrohung auf einzelne Gewaltszenen, deren jugendgefährdendes Potential wie folgt begründet wird: »Dabei ist es weniger die visuelle Detaillierung von Gewaltaktionen als vielmehr das an mehreren Stellen des Films spürbare Ringen um besondere Unbarmherzigkeit, was die Richtung der Entscheidung gewiesen hat. […] Die jugendgefährdenden (hier gewalthaltigen) Passagen sind, wie ihr Umfeld, handwerklich solide inszeniert, jedoch von keiner nennenswerten oder gar herausragenden künstlerischen Gestaltung. Gewaltdarstellungen der ersten Hälfte sind in Teilen stark verfremdet und als Halluzinationen eines hauptamtlichen Zensors schlüssig in die Gesamtkonzeption des Kunstwerkes eingebunden. Nach etwa 45 Minuten kippen Filmhandlung und -darstellung in ein konzeptloses, plump aufdringliches und blutiges Horror- und Splatterspektakel.«44
42 Freiwillige Kontrolle der Filmwirtschaft FSK: Jugendentscheid nach der Prüfsitzung vom 31.07.1996. Wiesbaden, 1996, S. 1. 43 Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften: Entscheidung Nr.5143 (V) vom 18.9.1997. Bonn, 1997, S. 3. 44 Ebd., S. 4f.
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Diese Beurteilung wird mit Zitaten selbsternannter Filmkritiker belegt. Hierbei ist zu vermerken, dass sowohl der ›Filmkritiker‹ Joe Hill als auch die BPjM einen Umbruch im Film feststellen wollen, nach dem sich die dargestellte Gewalt aus ihrem narrativen Rahmen löst: »Daß EVIL ED die Tätigkeit eines Filmzensors zu fadenscheinigen Aufhänger des nachfolgenden Splatterspektakels nimmt, ist kein hinreichendes Indiz für ›zielsichere Ironie‹. Hierin waren sich bereits Antragsteller und FSK-Arbeitsausschuß einig. Beide bescheinigen dem Film, keinerlei Thema zu verfolgen, sondern vielmehr einzig und allein auf die Drastik und Intensität visueller Gewaltakte zu setzen. […] Diese sind auch im zweiten Teil derart absurd und überzogen, daß eine Verwechselung mit der Realität ausgeschlossen ist.« 45
Der Erkenntnis, dass die Gewalt in EVIL ED, wie im vorliegenden Text aufgezeigt worden ist, überzogen und unglaubwürdig erscheint, folgt nun ein erneutes Beispiel dafür, in welchem Maße die Gutachter der BPjM und der FSK mit dem Medium Splatterfilm und seinen typischen Elementen überfordert waren: »Die Wahl einer psychiatrischen Klinik als Splatterlocation, der Mißbrauch von Infusionsschläuchen und sonstigen medizinischen Apparaturen, die unsinnige hämische Folter eines Klinikinsassen etc. schaffen jedoch eine zutiefst inhumane, verrohende Atmosphäre, die auch durch sporadisch eingestreute komödiantische Elemente (z.B. Auftritt der GSG-9) keinerlei Brüche erleidet.«46
Hier lässt sich klar feststellen: Weder die FSK noch die BPjM haben die parodistische Inszenierung der Gewaltdarstellungen und Genrestereotype verstanden. Nur so lassen sich die ›festgestellten‹ selbstzweckhaften und verrohenden Eigenschaften des Films erklären. Wie im vorliegenden Text gezeigt worden ist, handelt es sich beim Splatterfilm um ein Genre, welches seine spezifische Konnotation im Wesentlichen aufgrund drastisch dargestellter Gewaltszenen erhält. Somit sind sie für einen Film, der sich in seiner Gesamtkonzeption als Splatterfilm versteht, absolut unverzichtbar. Darüber hinaus ist das Hervorheben des »Schauerlichen und Grauenhaften«
45 Ebd., S. 5f. 46 Ebd., S. 5.
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seit jeher das Motiv, das Horror in Literatur und Film ausmacht.47 Die Motivik des dargestellten Schreckens im Horrorfilm entzieht sich somit, sofern man sie als wesentlichen Bestandteil einer Kunstform akzeptiert, einer möglichen Verurteilung nach gängigen gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was »inhuman« oder »verrohend« wirkt. Sie ist ein notwendiges Handwerkszeug des Künstlers, der Horror erschafft. Einen solchen Film mit der Intention des Jugendschutzes zu beschneiden oder ihn sogar zu verbieten ist ein Akt, dessen Notwendigkeit sich nicht plausibel begründen lässt. Ausgehend von der Tatsache, dass es sich bei in Horrorfilmen dargestellter Gewalt um notwendige Stilmittel handelt, erfüllt sie einen wichtigen Zweck. Der hier wie so oft von der FSK gemachte Vorwurf der Selbstzweckhaftigkeit erscheint somit obsolet. Im vorliegenden Fall verhält sich sogar noch einmal anders: Die Gewaltdarstellungen dienen dazu, ein Genre zweifelsfrei kenntlich zu machen und zu parodieren, sind also unverzichtbar. Darüber hinaus erfüllen die Darstellungen zumindest zum Teil eine narrative Funktion: Sie liefern die Begründung für Edwards geistigen Zerfall. Außerdem dient zumindest eine Szene der Verifizierung des Vorwurfs, das Schneiden von Filmen zerstöre deren Atmosphäre und flüssigen Ablauf. Dass all diese Einsicht an den Augen der deutschen Zensoren vorbeigegangen sein muss, wird spätestens beim Lesen der Indizierungsentscheidung deutlich. Die fehlende Kenntnis des Genres führt nicht nur dazu, dass die Gewaltszenen in ihrer parodistischen Bedeutung ignoriert werden, sie sorgt auch dafür, dass die Unabdingbarkeit von Gewaltdarstellungen für einen Horrorfilm nicht erkannt und gebührend berücksichtigt wird. Ein Hauptproblem ist hier sicherlich der abwertende Umgang mit dem Medium Horrorfilm. Die Notwendigkeit von Gewalt wird zwar erahnt, jedoch mit einer simplen Bemerkung gleich wieder weggewischt: »Das 3er-Gremium ist […] zu dem Ergebnis gelangt, daß auch bei summarischer Prüfung der im unteren Bereich anzusiedelnde künstlerische Stellenwert des Filmes die extreme Jugendgefährdung nicht aufzuwiegen vermag […].«48 Demnach liegt die Begründung für einen Indizierungsbeschluss darin, dass der Film nicht künstlerisch genug sei, um die darin enthaltene Gewalt
47 Vgl. Catherine Shelton: Unheimliche Inskriptionen. Eine Studie zu Körperbildern im postklassischen Horrorfilm. Bielefeld: Transcript, 2008. 48 BPjM 1997, S. 5.
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zu rechtfertigen. Dies fußt auf einer tatsächlichen gesetzlichen Grundlage. Die Diskussion darüber, ab wann ein Film als »künstlerisch« genug gilt um sich damit über die Interessen des Jugendschutzes hinwegsetzen zu können, ist ein ewiges Streitthema vor deutschen Gerichten. Die Frage danach, was Kunst eigentlich ist stellt hierbei ein nahezu unlösbares Problem dar.49 Spätestens hier muss in oben angeführter Indizierungsbegründung interveniert werden: Wer entscheidet in dieser über den künstlerischen Stellenwert von Filmen? Warum ist künstlerisch hochwertige Gewalt in Fragen der Zensur anders zu behandeln als weniger anspruchsvoll verpackte? Das Phänomen ist nicht neu. Bereits im Jahr 1932 sollte in den USA die Zensur einer Theaterinszenierung von Edgar Allan Poes The Black Cat (erfolglos) mit der Begründung abgewiegelt werden, dass es sich schließlich um Poe handeln würde.50 Diese fragwürdige Vorgehensweise reiht sich nahtlos in die zahllosen Ungereimtheiten und repressiven Maßnahmen ein, denen das Medium Film in Deutschland seit jeher ausgesetzt ist. All dies soll nun nicht als eine generelle Kritik am Jugendschutz gesehen werden. Vielmehr ist es ein Anliegen des vorliegenden Textes, auf die vollkommene Willkür in der Anwendung der gesetzlichen Vorgaben und die fehlende, offensichtlich durch Fachunkenntnis verursachte, Rücksichtnahme auf das Gesamtkunstwerk Film durch die deutschen Jugendschutzbehörden hinzuweisen. Der vorliegende Fall liegt nun mittlerweile 15 Jahre zurück. Viel hat sich seitdem an den Maßstäben der Bewertung geändert. Wie schon beschrieben, ist dem nötigen Ansteigen der Intensität in den Gewaltdarstellungen auch in den Bewertungen durch die Jugendschutzbehörden Tribut gezollt worden Die heute zugelassenen Gewaltdarstellungen hätten noch in den späten 90er Jahren sicher für rege Diskussionen gesorgt. Auch das Verständnis für unterschiedlich motivierte Gewaltdarstellungen und ihre mitunter genregebundene Notwendigkeit ist gewachsen.51 Das Grundproblem ist jedoch dasselbe geblieben: Der Jugendschutz ist mit dem Problem der Gewaltdarstellungen in seiner Gesamtheit schlicht überfordert. Es fehlt in erster Linie an cineastischem Verständnis für das Genre Horror-
49 Bettina Brockhorst-Reetz: Repressive Maßnahmen zum Schutze der Jugend im Bereich der Medien Film, Video und Fernsehen. München: Beck, 1989, S. 5ff. 50 Aldgate / Robertson: Censorship in Theatre and Cinema, S.158. 51 Vgl. hierzu Seifert: Splatterfilm in der Prüfpraxis.
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film. Ob sich in absehbarer Zukunft ein (durch einen Generationswechsel bedingter) Wandel in diesem Bereich vollziehen wird bleibt abzuwarten.52 Schließlich ist den gewonnenen Erkenntnissen noch etwas hinzuzufügen: Das geschilderte Phänomen der unfreiwilligen Verstärkung der satirischen Darstellung von zensorischem Vorgehen durch einen ebenfalls zensorischen Umgang mit dem Film ist ein belustigender Effekt, der sich lediglich auf dem deutschen Videofilmmarkt ergeben hat. Die schwedische Jugendschutzbehörde, die sich mit der Freigabe von Filmen beschäftigt, das schon angesprochene biografbyrå, ließ den Film in unbearbeiteter Form mit der (in Schweden höchstmöglichen) Altersfreigabe ab 15 Jahren für den Verleih und Verkauf zu. Wie bereits angedeutet wurde, werden die spezifischen Jugendschutzbestimmungen von Land zu Land individuell definiert und umgesetzt.53 Hier zeichnet sich die eigentliche Komik ab, deren Hervorhebung dieser Text dienen soll: Der Film EVIL ED liefert eine Genreparodie, welche auf satirische Weise die Filmzensur in Schweden während der 90er Jahre behandelt. Diese ist aber objektiv betrachtet weit weniger rigide vorgegangen, als es ihr im Film unterstellt worden ist. Erst die Bearbeitung des Films durch eine genreunkundige Behörde in Deutschland hat
52 Die vermutlich in EVIL ED kritisierte schwedische Prüfbehörde (biografbyrån) ist jedenfalls 2010 geschlossen worden. 53 Ähnliche Beispiele für die Differenz in den Bewertungen deutscher und schwedischer Prüfbehörden sind z.B. anhand der Filme THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE
(US, R: Tobe Hooper, 1974) und BRAINDEAD (NZ, R: Peter Jackson,
1992) nachzuvollziehen. Der erste ist sowohl in Schweden als auch in Deutschland einem totalen Verbot unterzogen worden. Während der Film jedoch in Schweden später in einer leicht modifizierten Fassung freigegeben wurde, erging es dem geschnittenen Film in Deutschland schlechter. Die gekürzte Fassung wurde im Jahre 1985 ebenfalls verboten. Seit 2003 ist einzig und allein eine extrem stark geschnittene Fassung mit der FSK-Freigabe ab 16 Jahren in Deutschland erhältlich. Noch deutlicher verhält es sich mit BRAINDEAD. Der Film, der in Schweden seit jeher in einer ungeschnittenen Form mit der Altersfreigabe ab 15 Jahren erhältlich war, wurde in Deutschland in seiner ungeschnittenen Fassung beschlagnahmt. Eine deutlich gekürzte Fassung wurde wegen schwer jugendgefährdenden Inhalten zunächst indiziert, später ebenfalls beschlagnahmt. Auch dieser Film ist in Deutschland nur in einer völlig verstümmelten Fassung mit der FSK-Freigabe ab 16 Jahren erhältlich.
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die im Film geschilderten Vorwürfe erfüllt. Durch ein totales Missverständnis der parodistischen Elemente und ihrer narrativen Funktionen ist es zu einer ›self-fulfilling prophecy‹ gekommen: Die unkundige Herangehensweise durch überforderte Zensoren hat zu einer Sinnentfremdung und inhaltlichen Zerstörung des Films beigetragen. Dies ist jedoch nur für denjenigen ärgerlich, der den Film nicht in seiner ursprünglichen Form kennt. Bei Kenntnis der Originalversion erschließt sich dem Betrachter hingegen ein komisches Bild: Die Verstärkung der parodistischen Wirkung durch das Zerstören parodistischer Elemente. Der Effekt ist derselbe geblieben – das Zeigen von gewalttätigen Handlungen und Amputationen dient der Offenlegung von absurden Zensurvorgängen. Es wurde lediglich die zu beobachtende Handlung verändert. Statt einer Amputation von Gliedmaßen mit einem Messer oder einem Fleischerbeil erleben wir nun eine Amputation von Bildmaterial mittels eines Schneidetisches. Inhalte und Werkzeuge ändern sich, die Geschichte bleibt in Film und Realität dieselbe. Der Film greift hier der Realität vor: Wir erleben die ›self-fulfilling parody‹.54
54 Ich möchte mich herzlich für die freundliche Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der FSK und der BPjM bedanken. Ohne ihre Hilfe wäre es mir bei weitem nicht so schnell möglich gewesen, die notwendigen Einsichten in die Bewertungs- und Freigabevorgänge sowie die internen Fragestellungen (etwa den Umgang mit dem Genre Splatterfilm) der genannten Behörden zu erlangen.
Fremde Nachbarn? Interskandinavische Rollenbesetzungen in VILLMARK und NABOER
JUDITH WASSILTSCHENKO
Denken über Film ist meist Denken über Bilder. Vielen kulturwissenschaftlichen Filmanalysen liegt daher die Vermutung zugrunde, dass Film Gesellschaft im Kleinen abbildet. In diesen Analysen wurde auffallend häufig auch an Horrorfilmen herausgearbeitet, dass Filmrollenbesetzungen einer bestimmten Politik zu folgen scheinen; sehr kurz zusammengefasst: dass weiße, männliche, junge, gesunde, heterosexuelle Charaktere häufig besser davonkommen und länger leben bzw. als beklagenswerte Opfer inszeniert werden, während Weiblichkeit, Ethnizität, Nicht-Heterosexualität, Alter, Krankheit oder Versehrtheit als visuell erfassbare Markierungen dienten, entweder für in rascher Folge und dramaturgisch kaum zu betrauernde oder betrauerte Opfer – oder den/die KillerIn, das Böse, die Gefahr. Zu untersuchen, welchen Figuren innerhalb eines Film die guten und schlechten Rollen zukommen, sollte Erkenntnisse über außerfilmische soziale Verhältnisse liefern, die wiederum auf die Filmproduktion eingewirkt haben mögen. Wenn nun Film versucht, anhand seines Personal einen Querschnitt durch die Gesellschaft oder Teile von ihr zu inszenieren, dann kann ein breites Figurenspektrum durch konventionalisierte Zuschreibungen wie Geschlecht, Ethnie, Schichtzugehörigkeit, Generation, Sexualität etc. dafür eingesetzt werden, um Menschen als unterscheidbar, als sympathisch oder unsympathisch, als AußenseiterIn oder AngepaßteR, als ähnlich wie oder
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anders als die anderen zu markieren. Dabei muss es nicht immer nur das personifizierte Böse sein (häufig steht auch erst zum Schluss des Films fest, wer der/die MörderInnen eigentlich sind und mit welcher Motivation sie getötet haben; bis dahin können oft mehrere Figuren dafür in Betracht kommen), von der im Laufe der Geschichte das Unheimliche, Gruselige, Bedrohliche ausgeht und die die erforderliche, kontinuierlich Gefahr verheißende Stimmung trägt. Über eine gesamte Spielfilmlänge eine beständige Kulisse der Ungewissheit und des Zweifels darüber aufrechtzuerhalten, wie die Figuren zusammen interagieren, wer auf wen angewiesen ist, wer wem hilft, wer wen opfert oder verrät, wem überhaupt zu trauen ist, ist in Horrorfilmen für das gewünschte emotionale Erlebnis – Schaudern, Gefangensein, Mitleiden – mindestens ebenso wichtig wie konkret dargestellte Gewalt, vielleicht sogar wichtiger. Vielfach ereignen sich innerhalb der Geschichte kleine und kleinste Konflikte zwischen den ProtagonistInnen, die die Dramatik und die Spannung ansteigen lassen, da sie oft nach dem gleichen Muster funktionieren: In der Gefahrensituation müssen die Bedrohten zusammenhalten, denn wenn sie sich entzweien, haben sie weniger Chancen gegenüber der Bedrohung. So ist für Moldenhauer, Spehr und Windszus Horrorfilm-Schauen gar Feldforschung und Lebensschule: »Die Filme inszenieren laborähnliche Situationen, in denen Menschenexperimente durchgeführt werden. Vorangetrieben werden die Geschichten durch die Notwendigkeit, handeln zu müssen, Entscheidungen zu treffen: Wer traut wem, wer übernimmt welche Rolle, wer bleibt zurück? Was an Universitäten mit dem Stanford Prison Experiment und dem Milgram Experiment begann, setzt der Horrorfilm als populärwissenschaftliche Aufklärung fort. Das hat nichts Unmenschliches. Ganz im Gegenteil. […] Die experimentelle Neugier schiebt die Grenzen des Menschlichen […] weiter vor: die ›normale Welt‹ wird als Illusion gezeigt, und auch in der Extremsituation gibt es richtiges und falsches, moralisches und unmoralisches Handeln, helleres und dunkleres Grau.«1
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Benjamin Moldenhauer / Christoph Spehr / Jörg Windszus: Law of the Dead. 10 Thesen zum modernen Horrorfilm. In: dies. (Hg.): On Rules and Monsters. Essays zu Horror, Film und Gesellschaft. Hamburg: Argument, 2008, S.8.
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Andersartigkeit, Variation, Unterscheidbarkeit und Identifikationspotential werden, so mag man meinen, dem Medium Film naturgemäß über visuelle Markierungen oder durch Bilder hergestellt. Neben diesen Bildern wird die Akustik des Horrorfilms als Element des Horrors, der Spannung, der Verunsicherung und des Unheimlichen weitestgehend vernachlässigt. Dabei ist das auditive Erlebnis die Hälfte dessen, was den Film als sinnliche Erfahrung insgesamt ausmacht. Die Anziehungskraft des Films ist ja gerade die als realistisch wahrgenommene Unmittelbarkeit, die sich aus der Kombination aus bewegten Bildern und vermeintlichen Originaltönen ergibt. Für den Horrorfilm mit seinen unheimlichen oder brutalen Darstellungen sind der Ton, das Geräusch und die Musik wichtige Erfüllungsgehilfen in der Erschaffung der Filmillusion. Vereinzelt wird in der Literatur sogar dafür plädiert, den Begriff des Horrorfilms erst auf Tonfilme und keinesfalls auf Stummfilme anzuwenden.2 Zwar setzen wir uns freiwillig der Schau des Grauenhaften aus und können die Augen schließen, wenn uns eine Szene zu schlimm erscheint – aber die Ohren können wir nicht schließen. Vielleicht hat gerade diese Unkontrollierbarkeit der akustischen Rezeption dazu beigetragen, den Hörsinn dem Sehsinn kulturell unterzuordnen, wie Gunter Süß darlegt: »Der Ton, so scheint es, ist allgemein in westlichen Kulturen die ›große Unbekannte‹. Dies mag mit der historisch konstruierten Hierarchie der Sinne begründbar sein, die das Sehen an die oberste Stelle setzt und zumindest seit der Aufklärung dem Visuellen den Vorrang zuspricht.«3
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Vgl. Kinnard zitiert nach Caspar Tybjerg: Shadow Soulsand Strange Adventures: Horror and the Supernatural in European Silent Film. In: Stephen Prince: The Horror Film. New Brunswick u.a.: Rutgers Univ. Press, 2004, S. 15 f.
3
Gunter Süß: Sound Subjects. Zur Rolle des Tons in Film und Computerspiel. Trier: WVT, 2006, S. 2. Hervorhebung im Original. Die kaum unumgängliche Verwendung von Metaphern des Visuellen beim Denken über Film, die Süß beschreibt und die sich auch in diesem Artikel finden, ist der gewachsenen Vormachtstellung des Sehsinns in unserer Kultur geschuldet, die den anderen Sinnen ein geringer qualifiziertes Rezeptionspotenzial beimisst. Süß verweist bei diesem Anlass auf den Artikel von Donncha Kavanagh: Ocularcentrism and its Others. A Framework for Metatheoretical Analysis. In: Organization Studies 25:3 (2004), S. 445-464, der für einen Überblick sehr empfohlen wird.
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Der Horror erreicht uns über Sprache und Geräusche auch, wenn wir als mündige ZuschauerInnen von der freiwilligen Selbstkontrolle durch unsere Augenlider Gebrauch machen. Für jeden Horrorfilm sind Narrative von Konflikt, Gefahr, Bedrohung, Ungewissheit, Zweifel, Hilflosigkeit und Tod von Nöten. Das Element nun, welches gleichzeitig akustisches Signal und durch die Erzählung leitende handlungserläuternde oder -motivierende Figurenrede ist, ist die gesprochene und zu vernehmende Sprache, deshalb verdient es zumindest einen Versuch bisherige wissenschaftliche Praxen um die Möglichkeit einer akustischen Filmanalyse zu erweitern. Im Zuge bisheriger hauptsächlich visuell orientierter Untersuchungen wurden und werden also rassistische, sexistische und anderweitig diskriminierende Tendenzen in der Figurenausgestaltung und ihrer charakterlichen Repräsentation aufgedeckt, die ihre Verankerung in den Normen und Werten der Mehrheitsgesellschaft haben sollen, in der der Film entstanden ist.4 Da sich die Diskussionen nicht auf rein akademische Publikationen beschränken5, sondern sich auch im breiter zugänglichen Medium Magazin wiederfinden, darf davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse als Kritik an den Filmen gelesen (und oft auch so geschrieben) und die Vorwürfe, grobe Diskriminierungen medial zu inszenieren und somit zu verfestigen von ProduzentInnen, RegisseurInnen und Drehbuchschreibenden verstanden werden. Wenn Jason Colavito in seiner umfassenden Abhandlung über Wissen und Wissenschaft in Horrorfilmen schreibt: »It might almost seem that scientists and academics take a special interest in horror because horror has taken a special interest in them«6, dann meint ›horror‹ in diesem Fall die kreative und ökonomische ProduzentInnenseite. Eine derzeitige Genera-
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Vgl. z.B. Harry M. Benshoff: America on Film. Representing race, class, gender, and sexuality at the movies. Chichester u.a.: Wiley-Blackwell, 2009. Und ders.: Monsters in the closet. Homosexuality and the horror film. Manchester u.a.: Manchester Univ. Press, 1997.
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Analog zu Benshoff und vielen anderen wissenschaftlichen Beiträgen heißt es im Untertitel des Filmmagazins Jump Cut. A review of contemporary media: »Looking at media in its social and political context. Pioneers since 1974, analyzing media in relation to class, race, and gender.« www.ejumpcut.org/home .html , Stand 19.12.2011, 18.10 Uhr.
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Jason Colavito: Knowing Fear. Science, Knowledge and the Development of the Horror Genre. Jefferson u.a.: McFarland& Co., 2008, S. 405.
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tion kulturwissenschaftlich belesener FilmemacherInnen sucht offenbar nach Auswegen, ohne rassistische und sexistische Klischees ein komplexes Figurenspektrum anzubieten, an dem sich die Handlung entfalten kann (was ihnen nicht immer gelingt). Es scheint besonders in Skandinavien Versuche zu geben, so etwas wie einen politisch korrekten Horrorfilm zu erschaffen, in dem keine Figuren als sozial marginalisiert markiert werden. Wie aber werden dann TrägerInnen von Sympathie und Antipathie, Identifikation oder Misstrauen geschaffen? Wie wird die Gesellschaft im Kleinen inszeniert, wenn alltägliche Fremdzuschreibungen und Klischees nicht mitinszeniert werden sollen? Wie erzeugt man eine (wahrgenommene) Andersartigkeit zwischen einzelnen Figuren, an denen die für Handlung notwendigen Konflikte einen Aufhänger finden? Meiner Meinung nach hat der skandinavische Film und darunter besonders der ›skrekkfilm‹ oder ›grøsser‹ für diesen Zweck das Mittel interskandinavischer Rollenbesetzungen erwählt, also das Besetzen von Schlüsselcharakteren mit SchauspielerInnen und dementsprechend SprecherInnen aus den jeweils anderen skandinavischen Ländern als dasjenige, in dem ein Film produziert wurde. Mittels dieser speziellen Besetzungspolitik wird eine subtile ›Otherness‹ geschaffen, welche jedoch nicht als Diffamierung gesellschaftlich ohnehin schon problematisierter Bevölkerungsgruppen daherkommt. Im Folgenden sollen zuerst zwei ›skrekkfilmer‹ aus jüngerer Zeit, VILLMARK (NO, R: Pål Øie, 2003) und NABOER (NO, R: Pål Sletaune, 2005), vorgestellt und dann auf ihre Besetzungspolitik hin untersucht werden. Es wird deutlich werden, dass sich zumindest für den eigenen Markt die Besetzungspolitik mit AkteurInnen aus mehreren skandinavischen Ländern als probates Mittel etabliert zu haben scheint, das Fremde im Eigenen und damit das eigentlich Vertraute, jedoch trotzdem Andere, und häufig das latent Unberechenbare, Unheimliche und Gruselige medial zu repräsentieren, ohne damit leicht zu identifizierende visuelle Stereotype zu transportieren. Zuvor jedoch ein kurzer Rückblick: In DE DØDES TJERN (NO, R: Kåre Bergstrøm, 1958)7, der als erster norwegischer Horrorfilm gilt, unternimmt eine Gruppe junger Leute begleitet von einem älteren Freund einen Woche-
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Die gleichnamige Romanvorlage von Bernhard Borge erschien 1942. Bernhard Borge ist das Pseudonym des norwegischen Schriftstellers André Bjerke. Er schrieb auch das Drehbuch und spielt in der Verfilmung die Figur des Gabriel Mørk.
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nendausflug in ein Ferienhaus im Wald. Die Hütte gehört der Familie einer der jungen Frauen und sie sorgt sich um ihren Bruder, der sich zuvor dort aufgehalten hat, nun aber unauffindbar ist. Vom ansässigen Amtmann erfahren sie, dass sich um den nahegelegenen See eine Legende rankt. Das Gewässer, an dem sich ein Verbrechen ereignet haben soll, versetzt angeblich Menschen in Schwermut und bringt sie dazu sich zu ertränken – ins Wasser zu gehen. Diese Legende, der verschwundene Bruder, seine mysteriösen Tagebuchaufzeichnungen in der Hütte, die Abgeschiedenheit und unterschiedliche Ansichten der ReiseteilnehmerInnen über Verhaltensweisen in dieser Ungewissheit um die Geschehnisse geben nun den Rahmen für die Stresssituation vor, in der die Gruppe agieren muss, besonders als einer der ihren tatsächlich auch in dem Gewässer ertrinkt. Vornehmlich erscheint die Gruppe recht homogen, so dass bei diskursiver Lesart zu fragen wäre, welche gesellschaftlichen Interaktionen und Reibungen anhand welcher Codes aufgezeigt und zur (außerfilmischen) Debatte gestellt werden sollen. Zumindest ließe sich die Gruppe in Männer und Frauen aufteilen. Die Männer sind deutlich in der Überzahl und ihre Personenrede trägt weite Teile des Films. Doch auch das Alter fungiert hier als Merkmal der Trennung und Kategorisierung. Während die meisten der Ausflügler ca. Ende 20 oder Anfang 30 sein sollen, sticht die Figur des Kai Bugge mit ca. Ende 40 heraus. Er ist auch derjenige, der den ›geheimnisvollen‹ Beruf des Psychotherapeuten ausübt und der vertrauliches Wissen über einige der beteiligten Personen hat. Über einen längeren Zeitraum wird in der Erzählung die Vermutung genährt, dass Bugge in dieser angespannten unheimlichen Situation nicht zum Besten der Gruppe handelt. Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse 1958, die hier gezogen werden könnten, sind die Unterrepräsentation von Frauen im öffentlichen Raum und als handelnde Akteurinnen8 sowie Konflikte zwischen einer älteren und einer jüngeren Generation. Während sich in DE DØDES TJERN die Gruppe, die Gesellschaft im Kleinen, hauptsächlich an unterschiedlichen Ansichten zu wissenschaftsgeleiteter Vernunft und (Aber-)Glaube aufreibt, hat sich dieser Fokus in VILLMARK verschoben. VILLMARK gilt gemeinhin als Remake von DE DØDES
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Dagegen kann allerdings eingewendet werden, dass die Figur der Sonja aufgrund ihres Mutes und ihrer sportlichen Fähigkeiten zur Lösung des Rätsels beträgt.
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und verfügt über unübersehbare Parallelen, aber auch gravierende Unterschiede. Auch hier reist eine Gruppe junger Leute angeführt von einem etwas älteren Mann zu einer einsamen Hütte an einem See, der eine magische Anziehungskraft auf Menschen haben soll. Auch an diesem See scheint eine Person verschwunden und auch hier stirbt einer der Reiseteilnehmer während des Aufenthalts. Doch in VILLMARK, knapp 50 Jahre nach DE DØDES TJERN, entzünden sich die Konflikte innerhalb der Gruppe eher an dem nun ausdifferenzierten heterogenen sozialen Gefüge und den unterschiedlichen Vorstellungen über Gehorsam und Eigeninitiative, Corpsgeist und Individualismus. VILLMARK erreichte die Auszeichnung Special Mention beim Cinénygma Luxembourg International Film Festival.9 Die norwegische Wikipedia führt ihn als ersten ›skrekkfilm‹, der das Genre seit den 2000er Jahren in Norwegen wieder fruchtbar gemacht habe. 10 Erzählt wird die Geschichte des Fernsehproduzenten Gunnar (Bjørn Floberg), der seine neuen MitarbeiterInnen Lasse, Per, Elin und Sara zu einem verlängerten Teambuilding-Wochenende in die Hütte seines Vaters im Wald mitnimmt. Er plant eine neue Reality-TV-Serie, in der die Kandidaten eine Zeit in der Wildnis (norw.: villmark) zubringen; seine MitarbeiterInnen sollen eine solche Erfahrung allerdings zuvor selbst machen. Zigaretten und Mobiltelefone nimmt er ihnen vorher ab. Einzige technische Errungenschaft in der Hütte ist ein altes Tonbandgerät. Nach einigem Zurückspulen hört man eine mehr als 30 Jahre alte Unterhaltung zwischen Gunnar und seinem Vater, die mit einer Warnung an das Kind vor dem See endet. An besagtem Weiher entdecken Lasse (Kristoffer Joner) und Per (Marco Iversen Kanic) ein Zelt mit Camping-Utensilien sowie ein zum Trocknen aufgehängtes rotes Kleid. Im Zelt findet Lasse Zigaretten, Alkohol und eine Kamera. Am Ufer bemerken sie ein Seil, welches ins Wasser führt. Als Gunnar hinzukommt, zieht Per an dem Seil und eine weibliche Wasserleiche kommt kurzzeitig an die Oberfläche. Lasse und Per wollen hierauf sofort den Ausflug beenden und in der nächsten Ortschaft Hilfe verständigen. Doch Gunnar verbietet es ihnen und auch, Sara (Sampda Sharma) und Elin TJERN
9
http://www.nfi.no/english/Norwegian+Films/Search+the+film+data-base/Film? key=33932, Stand 17.12.2011, 19.20 Uhr.
10 http://no.wikipedia.org/wiki/Villmark_%28film%29, Stand 17.12.2011, 19.30 Uhr.
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(Eva Röse) davon erzählen. Lasse will daraufhin allein in die nächste Ortschaft gehen und verläuft sich. An einigen Bäumen sieht er geschlagene Spuren und auf dem Boden liegen Zweige seltsam angeordnet. Nach dem Fund am See geschehen merkwürdige Dinge. Elin wird in der Dunkelheit mit einem toten Kaninchen beworfen. Als Lasse noch einmal in das Zelt geht und den Alkohol und die Zigaretten stiehlt, wird er durch die Zeltwand gewürgt, was deutliche Male an seine inem Hals zurücklässt. Abbildung 1: VILLMARK
Produktionsfoto, Spleis A/S, 20003. V.l.n.r. Marco Iversen Kanic, Sampda Sharma, Bjørn Flobberg, Eva Röse, Kristoffer Joner
An einem Tag wird Per zur Strafe füür einen Regelverstoß auf Gunnars Geheiß am Boden gefesselt, während ddie anderen eine wahrhaftige Sisyphosaufgabe lösen müssen, die Gunnarr sich s für sie ausgedacht hat. Zurück bei der Hütte sehen sie, dass Per verscchwunden ist. Lasse verlässt, verärgert über Gunnars geringe Besorgtheit, t, die Hütte und trinkt den Alkohol und raucht die Zigaretten, die er im Wald ald versteckt hatte. Als Gunnar dies sieht, bindet er ihn an einen Baum. Man sieht eine Person in dem roten Kleid durch den Wald laufen. Sara befreit Lasse und sie gehen hinunter zum See, an dem nun ein Feuer brennt. An einnen Baum gelehnt finden sie Per tot auf, ein Zelthering steckt in seinem Hals.. Sie tragen ihn zum Haus und konfrontieren Gunnar damit. Daraufhin erzäählt Lasse den Frauen von der Toten im Wasser. Sie sind empört ob Gunnarss geringer Anteilnahme an den schrecklichen Ereignissen, worauf Lasse ihhn aus der Hütte schmeisst. Sara und Lasse wollen sich daraufhin zum Au uto durchschlagen. Er stolpert und verliert sein Headlight, so dass sie ihn im i Dunkeln nicht mehr sieht. Während-
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dessen ist Elin mit einem Gewehr bewaffnet in der Hütte geblieben. Als sie hinausspäht und Pers Leiche verschwunden ist, verbarrikadiert sie sich. Gunnar kommt zurück und ist sichtlich verstört. Sara sucht unterdessen Lasse und sieht in der Ferne sein Headlight. Als sie näher kommt, ist es aber ein fremder Mann in dem roten Kleid, der sie jagt und niederschlägt. Ihren Schrei hören Elin und Gunnar in der Hütte. Gunnar findet ihre blutverschmierte Lampe, nimmt sich ein Beil und läuft zum See. Am See macht Gunnar das Zelt auf und findet Sara gefesselt und geknebelt, aber lebendig. Sie versucht ihn zu warnen, doch er wird rücklings von einem Stein am Kopf getroffen und weggeschleift. Lasse ist zum See gelangt, nimmt sich Gunnars Beil und verletzt den offenbar wahnsinnigen Bewohner des Camps an der Seite. In einem Gerangel drückt ihn der Camper unter Wasser, bis er bewusstlos wird. Elin ist mit dem Gewehr hinzugekommen und schießt den fremden Mann an. Gunnar kann unterdessen Sara befreien. Die beiden Frauen kümmern sich um Lasse, während Gunnar auf den Camper zugeht, der sich das Gewehr geschnappt hat. Er erschießt damit Gunnar, der auf ihn fällt und ihn so dadurch unter Wasser drückt, bis er ertrinkt. Abbildung 2: VILLMARK
Filmstill, Spleis A/S, 2003
Die letzten Szenen spielen sich auf einem Polizeirevier ab, wo Sara, Elin und Lasse ihre Aussagen zu Protokoll geben und mit einem Beamten die Fotos untersuchen, die mit der Kamera aus dem Zelt gemacht wurden. Lasses Stimme spricht aus dem Off mit Per. Eines der Bilder zeigt ein
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deutsches Touristenpärchen. Die deutsche Frau war im See ertrunken und ihr Mann darüber wahnsinnig geworden. Auch in den heute multikulturell und multiethnisch geprägten skandinavischen Gesellschaften können ethnische Codierungen dazu dienen, Filmfiguren mit wiedererkennbaren Markierungen der Andersartigkeit zu versehen, um das Bild einer heterogenen Gesellschaft im Kleinen zu erzeugen, mit allen Zuschreibungen die das Publikum bewusst oder unbewusst aus gesellschaftlichen Diskursen abrufen kann. Aber gerade für die Betrachtung von Horrorfilmen lohnt sich eine Erweiterung des ›race‹-Konzeptes der Cultural Studies auch auf andere europäische, gar skandinavische, Nationalitäten. Es findet sich hier die Figur der Sara, einer Norwegerin mit indisch-migrantischem Hintergrund und damit eine visuelle Inszenierung von Andersartigkeit gegenüber den anderen westeuropäisch aussehenden SchauspielerInnen. Doch dabei widerfährt ihr wie den anderen eine symbolische und damit ebenfalls visuelle Gleichmachung, eine ›soziale Neutralisierung‹, wie sie mit verschämtem Product Placement nicht mehr zu erklären ist: Alle Charaktere der Gruppe tragen exakt die gleichen Funktionskleider einer bekannten schwedischen Outdoormarke – sie wirken geradezu uniform. Ein Unterscheidungsmerkmal, das jedoch gegeben ist, ist Elins Sprache. Das Schwedische, vertreten durch die schwedische Sprache der Schauspielerin Eva Röse, dient hierbei als das Fremde im Eigenen. NorwegerInnen, SchwedInnen und DänInnen (ferner die kleineren skandinavischen Länder) bezeichnen sich nicht zuletzt durch eine lange gemeinsame Geschichte, gemeinsame Kultur und die nur dialektal voneinander abweichenden Sprachen als ›brødrefolk‹ (dt. Brüdervölker).11 Dennoch dient das Schwedische
11 Vgl. Troels Fredrik Troels-Lund: De tre nordiske Brødrefolk. Kopenhagen: Schubotheske Forlag, 1906. Und 2005 kondoliert die damalige Präsidentin des Nordischen Rats, die Isländerin Rannveig Guðmundsdóttir, allen SkandinavierInnen, die Verwandte bei dem Tsunami an Weihnachten 2004 in Südostasien verloren haben mit den Worten: »[...]Der er nationalsorg i hele Norden og jeg kondolerer med alle de pårørende for ofrene. I sådanne tider mærker vi den stærke samhørighed der er mellem de nordiske brødrefolk og hvor tæt sammen vi står.«Meine Übersetzung: »Es herrscht ein Nationalkummer in ganz Skandinavien und ich kondoliere allen Angehörigen der Opfer. In solchen Zeiten erkennen wir die starke Zusammengehörigkeit, die es zwischen den nordischen
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und das Schwedischsein hier dazu, eine gewisse Andersartigkeit in die Figurenkonzeption zu bringen. Elin gehört zwar innerhalb des Machtkomplexes Vorgesetzter/Angestellte zu der von Gunnar auf ihre Tauglichkeit zu prüfenden MitarbeiterInnen-Gruppe, sie hebt sich aber auch deutlich von ihnen ab. Sie ist etwas älter als die anderen, albert nicht herum wie sie und beklagt sich nicht über die Verhältnisse. Im Gegensatz zu den in der Wildnis völlig deplatzierten Wohlstandskindern Lasse, Per und Sara, nimmt sie die Gegebenheiten klaglos an. Sie überblickt bedacht die Lage und handelt, im Filmverlauf immer deutlicher werdend, engagiert zum Wohle der anderen und opponiert mit ihnen zusammen gegen Gunnar, als sein Verhalten auch für sie nicht mehr tragbar erscheint. Da kurzzeitig angedeutet wird, dass Gunnar und Elin früher einmal ein Verhältnis gehabt hätten, ist zuerst nicht klar, ob sie ihm daher besondere Loyalität entgegen bringen wird oder gerade deshalb nicht. Die symbolische Verbindung bei gleichzeitiger Kontrastierung der Figuren Gunnar/Elin kommt auch dadurch zustande, dass (nur) sie beide ein Gewehr für die Jagd zur Verfügung haben, einen Gegenstand also, dem in Horrorfilmen aufgrund der Inszenierung lebensbedrohlicher Situationen ein besonderer Stellenwert zukommt. Wie funktioniert es nun, dass das so Ähnliche, das eigentlich doch Vertraute dazu dienen kann, Suspense im Film aufrecht zu erhalten und Zweifel über Gewogenheiten der Figuren zueinander zu sähen, wenn diese Rolle nun nicht mehr eine allzu offensichtliche Andersartigkeit übernimmt? Hier bietet Sigmund Freuds bekannter Essay Das Unheimliche einen Zugang und interessanterweise beginnt ja auch er seinen Artikel mit einem Exkurs über die Sprache bzw. über die etymologische Herleitung des Wortes ›unheimlich‹, welches aus der Not entstand, die beiden Bedeutungen des Wortes ›heimlich‹ (1. bekannt, gewohnt, dem Heim zugehörig, 2. verborgen, geheimnisvoll, nicht jedem zugänglich) auseinanderzuhalten: »Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.«12 Nach Freud ist es in unserem Erle-
Brüdervölkern gibt, und wie eng wir zusammenstehen.« http://www.norden.org/ sv/aktuellt/nyheter/nordisk-raads-nye-president-kondolerer, Stand 22.12.2011, 20.10 Uhr. 12 Sigmund Freud: Das Unheimliche. [Zuerst erschienen in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V, 1919.]. Stu-
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ben nicht das Unbekannte, das unheimlich ist. Im Gegenteil, das Bekannte, das »Heimliche-Heimische«13 sei es, das aufgrund von Verdrängung14 mit der Vorsilbe »un« belegt werde und von dem nun, obwohl vertraut, eine ängstigende Wirkung ausgehe. Er unterscheidet hier jedoch zwischen eben diesem Unheimlichen im Erlebten und dem Unheimlichen in der Fiktion15 und kommt zu dem »[p]aradox klingende[n] Ergebnis, daß in der Dichtung vieles nicht unheimlich ist, was unheimlich wäre, wenn es sich im Leben ereignete, und daß in der Dichtung viele Möglichkeiten bestehen, unheimliche Wirkungen zu erzielen, die fürs Leben wegfallen.«16 Nicht bis ins Mark erschütternd, so doch mit einem Moment der Irritation und mit einem Abwägen seitens der Zuhörenden empathisch darauf zu reagieren, wirkt einE SprecherIn einer verwandten, aber eben nicht der gleichen Sprache wie die anderen Figuren in einem Film. Dieses Moment der akustischen Irritation wird im skandinavischen Fernsehalltag (Nachrichten, Reportagen, Dokumentationen) für gewöhnlich mit simultan eingeblendeten Untertiteln begleitet und abgemildert – doch nicht so im (Kino-)Film, hier wirkt das Verstandene, aber zugleich Andere unmittelbar und kann, wie noch zu zeigen sein wird, auch werkästhetisch eingesetzt werden. Denn auch im zweiten hier zu besprechenden Film NABOER dient die Sprache dazu, dem Figurenspektrum eine weitere Komponente hinzuzufügen und eventuell Verunsicherung zu erzeugen. Die männliche Hauptperson John (Kristoffer Joner), die als unzuverlässiger Erzähler den Blick, das Wissen und die Sympathien des Publikums durch die Geschichte lenkt, muss sich gegen drei Frauen erwehren, die ihn mal anziehen, mal abstoßen, und ihn mit widersprüchlichen Aussagen verwirren. Als endlich ein ›Geschlechtsgenosse‹ auftaucht, ist es ausgerechnet der neue Freund seiner ExFreundin, gespielt von Mikael Nyqvist, einem Schweden. Auch wenn diskussionswürdig ist, ob NABOER dem Genre nach ein Horrorfilm oder eher ein Psychothriller ist, so soll er doch hier behandelt werden, da er einer der schrecklichsten und brutalsten norwegischen Filme überhaupt ist. Er wurde
dienausgabe. Band IV Psychologische Schriften. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt/Main: Fischer, 1970, S. 250. 13 Ebd, S. 268. 14 Ebd, S. 276. 15 Ebd, S. 269 ff. 16 Ebd, S. 271 f. Hervorhebung in Original.
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aufgrund seiner »Verknüpfung von Gewalt und sexueller Lust«17 als erst zweiter Film in der norwegischen Filmgeschichte mit einer Altersgrenze von 18 Jahren versehen18. NABOER nahm an vielen nationalen und internationalen Filmfesten teil und gewann einige Preise, darunter die Amanda für Kristoffer Joner als besten Schauspieler. John (Kr. Joner) ist vor einiger Zeit von seiner Freundin Ingrid (Anna Bache-Wiig) verlassen worden. Er hat die Trennung noch nicht verwunden und arbeitet viel, um sich abzulenken. Als Ingrid eines Tages vorbeikommt, um ihre restlichen Sachen abzuholen, erfährt er, dass sie einen neuen Freund hat. An einem anderen Tag stellt sich Johns Nachbarin Anne (Cecilie A. Mosli) bei ihm vor und bittet ihn um einen Gefallen. Als er sie auf einen späteren Moment vertrösten will, fragt sie für ihn unerwartet direkt: »Du har ikke mulighet om en gang?«Geht es nicht vielleicht gleich? Er willigt ein und folgt ihr in die Nachbarswohnung. Darin stapeln sich Möbel, einige Räume sind nur zum Teil eingerichtet, außerdem finden sich große Vorräte an Lebensmitteln. Anne bittet John einen großen schwarzen Schrank vor die Wohnungstür zu schieben. Im Wohnzimmer stellt sich Kim (Julia Schacht) vor, die Anne als ihre Schwester angekündigt hatte. Anne und Kim verwickeln John in ein für ihn unangenehmes Gespräch. Sie scheinen Dinge aus Johns und Ingrids Privatleben zu wissen und Anne kommentiert ihre für John befremdliche Wohnsituation mit einem Satz, den eigentlich Ingrid stets zu sagen pflegte (»Folk er enten forskjellige eller så er de helt like.« Menschen sind entweder unterschiedlich oder aber total gleich.). Als John sich wundert, dass sie gewisse Dinge über ihn wissen, ist es wieder Anne, die lakonisch bemerkt: »Sånn er det å være naboer«, so ist es eben, Nachbarn zu sein. An einem anderen Tag bittet Anne John erneut um einen Gefallen. Sie möchte, dass er auf Kim aufpasst, während sie Besorgungen erledigt. Als sie erzählt, dass Kim nicht alleine gelassen werden kann, da sie von Johns Vormieter gekidnappt und vergewaltigt worden sei, erregt sie sein Mitleid und er willigt ein, hinüber zu gehen. In der Nachbarwohnung behauptet Kim nun, nicht Annes Schwester und auch nicht überfallen worden zu sein. Sie bedrängt John sexuell und als er gehen möchte, verschließt sie die Tür und läuft mit dem Schlüssel weg. Auf seiner Suche nach ihr dringt er im-
17 http://www.filmweb.no/film/article79912.ece, Stand 17.12.2011, 19.00 Uhr. 18 http://no.wikipedia.org/wiki/Naboer, Stand 17.12.2011, 19.11 Uhr.
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mer tiefer in die verschiedenen Räume der Wohnung vor, die auf verwirrende Weise durch Türen und Flure miteinander verbunden sind. Sie treffen sich in einem anderen Raum, der sehr gediegen möbliert ist. Kim präsentiert ihn als Annes Zimmer. Sie beginnt ein anzügliches Gespräch mit ihm. Dann erzählt sie, wie sie einmal Sex mit drei Männern gleichzeitig hatte, lässt am Ende jedoch offen, ob das wirklich passiert ist. Kim beginnt John zu schlagen, erst leicht, dann immer heftiger. John will sie aufhalten, aber sie fordert ihn auf, auch sie zu schlagen. Er wehrt sich weiter, doch nach einem besonders heftigen Schlag von ihr, ohrfeigt er sie. Sie macht weiter, schlägt auch mit ihren Fäusten. John beginnt nun auch härter zurückzuschlagen. Als beide bluten, zieht Kim ihr Top aus und verschmiert ihrer beider Blut auf ihrem baren Oberkörper. Sie küssen sich, schlagen sich weiter gegenseitig wie im Rausch, ziehen sich gegenseitig stürmisch die Kleider aus und haben schließlich Sex. Anne taucht im Türrahmen auf, beobachtet beide eine Weile und geht dann. Zurück in seiner Wohnung betrachtet John sich im Spiegel. Er muss weinen, als er sein lädiertes Gesicht und sein blutgetränktes Hemd sieht. In einem Rückblick erfahren die ZuschauerInnen, dass es bei Ingrids Besuch, bei dem sie ihre Sachen abholen will, zu einer Auseinandersetzung kommt. John ist aufgebracht, als er erfährt, dass Ingrid Åke intime Details aus ihrer Beziehung erzählt. Nach dem Ereignis mit Kim geht John hinüber, er will Anne und Kim zur Rede stellen. Er geht wieder durch die verschlungenen Flure und sucht sie. Anne schließt eine Tür hinter ihm. Einmal meint er einen Mann in einem der Gänge zu sehen. Als er Kim findet, fragt sie ihn, warum er sie geschlagen hätte. Er entgegnet, dass sie das doch gewollt hätte und außerdem auch ihn geschlagen hätte. John vermutet noch einen Mann in der Wohnung gesehen zu haben und geht zu Annes Zimmer. Dort sitzen Anne und ein fremder Mann in derselben Situation wie Kim und John zuvor. Sie reden erst, dann küssen sie sich und schließlich schlägt der Mann Anne. John wendet sich um und will gehen, doch der Mann holt ihn ein. Er stellt sich als Åke vor und fragt John über Ingrid aus. John flüchtet in einen Raum, der wie ein Zimmer in seiner eigenen Wohnung eingerichtet ist. Er geht weiter in ein Zimmer, das seinem Schlafzimmer gleicht. Dort findet er Kims Leiche. Er irrt durch die Räume, befindet sich dann in seinem Wohnungseingang und schiebt einen großen schwarzen Schrank vor die Tür. Als er auf den Flur tritt und in Richtung der Nachbarswohnung schaut, sieht er nichts als eine Wand. Er versucht mit einem Hammer die Wand einzu-
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schlagen, wie auch in seiner Wohnung die Wand, die an die Nachbarswohnung grenzen müsste. Johns Arbeitskollege kommt, um nach John zu sehen. Als John ihm endlich öffnet, fragt er ihn, ob er wirklich auf dem Hausflur stünde und ob er die Tür der Nachbarwohnung sehe. Als der ihm sagt, dass er doch der einzige sei, der auf der Etage wohne, verbarrikadiert sich John. Er geht durch seine Wohnung. Durch die geöffnete Badezimmertür sehen die ZuschauerInnen den erschlagenen Åke in der Dusche liegen. In einer weiteren Analepse, die chronologisch an die vorherige anschließt, will John Ingrid davon abhalten, zu gehen. Sie sagt ihm noch einmal ausdrücklich, dass sie seine sexuellen Fantasien darüber, dass sie mit mehreren Männern gleichzeitig oder nacheinander schläft, abartig findet. John will Ingrid aufhalten und erwürgt sie. Der Arbeitskollege hat Hilfe geholt und mehrere Männer versuchen nun, die Tür zu Johns Wohnung aufzubrechen. Der sitzt derweil in seinem Schlafzimmer und spricht mit Ingrid, deren Stimme man nur hört, sie aber nicht sieht. Sie versichern sich beide, dass nun alles gut sei. Er legt sich zu ihr ins Bett und die ZuschauerInnen sehen nun Ingrids nackte Leiche mit Würgemalen am Hals und aufgerissenen Augen. Eine ganz andere als Elins, im Filmverlauf positive Rolle in VILLMARK, ist dagegen hier die Figur des Åke. Als Åke als zweiter Mann hinzukommt, wird die weibliche Majorität von nebenan zwar ausgeglichen, jedoch eine höchst fragwürdige Balance eingerichtet. Tatsächlich ist er nämlich Verbündeter der Frauen auf beiden Ebenen. Er ist Ingrids neuer Partner und er ist Annes Komplize in der Nachbarwohnung. Er erscheint mit seinen Fragen, Meinungen, Vorlieben und in seinem Äußeren gleichzeitig als Johns Spiegelbild, das Hoffnung auf Erklärung und Rettung verheißt, und als surreale Traumfigur, die unmögliche Aufgaben stellt und die Atmosphäre der Hilflosigkeit nährt. Er begegnet John mit einer ständig alternierenden Mischung aus Wohlwollen und Gewalt, Verständnis und Abscheu. Mit seiner ruhigen tiefen Stimme und dem massigeren Körperbau wirkt er sehr viel souveräner und tatkräftiger, aber auch bedrohlicher als der zunehmend verzweifelte John. Diese hier beispielhaft vorgestellte Besetzungspolitik findet sich in skandinavischen Horrorfilmen mannigfach. Schlüsselfiguren werden mit SchauspielerInnen aus den jeweils anderen skandinavischen Ländern besetzt. Die Sprache, die verständlich, irgendwie vertraut und doch nicht die eigene ist, setzt hier die entscheidenden Akzente – im wahren Wortsinn –
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um eine sublime ›Otherness‹ in der Figurenkonstellation zu etablieren. In VARGTIMMEN (SE, R: Ingmar Bergman, 1968) lernen die Zuschauer ein zurückgezogen lebendes, ganz auf sich fixiertes Ehepaar kennen. Johan Borg (Max von Sydow) ist ein schwedischer Künstler, seine schwangere Frau Alma ist mit der Norwegerin Liv Ullmann besetzt. Alma versucht das dunkle Wesen ihres Mannes, seine Ängste und Wünsche, zu ergründen, liest gar seine privaten Aufzeichnungen, aber sie versteht ihn nicht. Er und die anderen seltsamen Figuren des Films scheinen ihrer eigenen grotesken Logik zu folgen, während Alma allein nachvollziehbar für die ZuschauerInnen handelt, denkt und fühlt. In Lars von Triers Miniserie RIGET (DK, 1994/1997) ist es wiederum der schwedische Oberarzt Stig Helmer (Ernst Hugo Järegård), der aufgrund eines ihm unterlaufenen Kunstfehlers sein Heimatland verlassen hat und nun in Dänemark arbeitet und dort mit seiner unleidlichen Art seine Kollegen drangsaliert. In INSOMNIA (NO, R: Erik Skjoldbjærg, 1997) ermittelt ein schwedischer Kriminalpolizist (Stellan Skarsgård) in einem Fall in Norwegen, wo er selbst lebt. Als er versehentlich einen norwegischen Kollegen erschießt und darüber schweigt, wird er vom mitwissenden Täter des ersten Verbrechens erpresst und leidet seitdem unter Schlaflosigkeit. Geheimnisvoll benimmt sich die mit einer Schwedin besetzte Hotelangestellte (Karin Park19) in SKJULT (NO, R: Pål Øie, 2009). Will sie dem als Kind von seiner Mutter misshandelten und geflohenen Kai Koss (Kristoffer Joner) helfen oder schaden? Lange Strecken des Films bleibt das Publikum im Unklaren über ihre Motive.20 Nur kurz erwähnt werden, da nicht zum Horrorgenre gehörig, sollen die dänischen Familiendramen EFTER BRYLLUPET (R: Susanne Bier, 2006) und HÆVNEN (R: ebenfalls Susanne Bier, 2010), in denen Vaterfiguren herausstechen, die mit Schweden besetzt sind.
19 Die Sängerin Karin Park ist gebürtige Schwedin, lebt aber seit längerer Zeit in Norwegen und kann durchaus fließend norwegisch sprechen. Dennoch wurde neben der Regie-Entscheidung, diese Rolle mit gerade ihr zu besetzen, auch noch der weitere Entschluss getroffen, sie hier ausdrücklich schwedisch sprechen zu lassen. 20 Dieser Film ist auch für eine weiterführende sound-orientierte Untersuchung interessant, da akustische Elemente wie Musik und Naturgeräusche sowie Geräte der Tonerzeugung bzw. -übertragung, darunter Telefon, Funkgerät, Radio, Lautsprecher, Telespiel u.a. wichtige Rollen spielen.
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Unübersehbar und -hörbar ist jedoch die Überzahl an norwegischen Horrorfilmen, die sich dieser Technik bedienen und bei genauerer Durchsicht, lässt sich hier noch eine Verfeinerung in der Vorgehensweise feststellen. Denn man könnte in der sprachlich-akustischen Analyse sogar noch einen Schritt weiter gehen und dann feststellen, dass in einigen Filmen mithilfe einer innernorwegischen Besetzungspolitik gearbeitet wird, um ein vielfältiges und voneinander unterscheidbares Personenspektrum mit positivem oder negativem Identifikationspotenzial zu erzeugen und so Unsicherheit und Zweifel, also einige atmosphärische Grundzutaten für den Horrorfilm, zu schaffen. Kai Bugge in DE DØDES TJERN ist nicht nur die älteste Figur (abgesehen vom Amtmann der Kommune, der die Gruppe mehrmals kurz besucht) unter den Reisenden. Sie ist auch diejenige, die über psychologisches Spezialwissen verfügt, welches für die Klärung der Geschehnisse eine entscheidende Rolle spielt. Des Weiteren wird auf Bugges berufliche Beschäftigung mit Hypnose angespielt – eine Therapietechnik, die seit jeher und nicht zuletzt in Literatur und Film mit dem Verdacht der mentalen Manipulation und Machtausübung in Verbindung gebracht wird. Darüber hinaus ist er innerhalb der Gruppe der einzige der mit einem anderen Dialekt spricht. Während sie alle gemeinsam aus Oslo zu der Reise aufgebrochen sind und die jüngeren Leute dementsprechend auch mit Oslo-Dialekt sprechen, ist die Figur des Kai Bugge mit Erling Lindahl besetzt, der in Bergen, also an der Westküste, geboren wurde.21 In NABOER behauptet Johns Nachbarin Anne, dass sie und Kim Schwestern seien, Kim dementiert dies später aber, was nur ein Moment der Verunsicherung in ihrer beider insgesamt verstörenden Verhalten ist. Das (norwegische) Publikum hat diese Aussage wahrscheinlich von Anfang an
21 Der so entstehende sprachliche Kontrast zwischen ost- und westnorwegischem Dialekt ist vergleichbar mit dem, den Braunmüller für die in Jütland angesiedelte Erzählung E Bindstouw (1842) des Dänen Steen Steensen Blicher beschreibt: »Die Dialektwahl als ganze ist wiederum eindeutig ikonisch motiviert: Es werden zwei, sich deutlich voneinander abhebende Dialektformen verwendet, die diesseits und jenseits eines markanten Isoglossenbündels angesiedelt sind, nämlich West- und Ostjütisch.« Kurt Braunmüller: Zur Ausdrucks-, Appell- und Darstellungsfunktion von Dialekten in der Literatur. Semiotische Untersuchungen anhand skandinavischer Prosatexte. In: Paul Goetsch (Hg.): Dialekte und Fremdsprache in der Literatur. Tübingen: Narr, 1987, S. 20.
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bezweifelt, ist dementsprechend schon zu Beginn des Films gewarnt und muss die Figuren für unglaubwürdig halten, da Anne und Kim als angebliche Schwestern mit unterschiedlichen Dialekten sprechen. Während Anne, mit Cecilie A. Mosli besetzt, einen nordnorwegischen Dialekt spricht, verrät die Sprache Kim, gespielt von Julia Schacht, als aus Ostnorwegen kommend.22 Ein Beispiel aus dem Krimi-Genre mag verdeutlichen, dass das Publikum sprachliche ›Fehlbesetzungen‹ nicht oder nur schwer gewillt ist anzunehmen: Als in den langerwarteten Verfilmungen der Varg VeumRomane des norwegischen Schriftstellers Gunnar Staalesen die Hauptfigur des Bergenser Detektivs mit dem Ostnorweger Trond Espen Seim besetzt wurde, gab es einen Aufschrei der Entrüstung hauptsächlich seitens der westnorwegischen Öffentlichkeit, der über Monate hinweg hitzige Debatten in Presse, Fernsehen und Internet nach sich zog. Seim wurde persönlich beleidigt und viele Menschen, die sich äußerten, drohten mit dem Boykott der Filme. 23 Wenn es in diesem Fall eher Wut über eine Art akustischen Betrug oder Beleidigung war, die von (potentiellen) ZuhörerInnen geäußert wurde, so kann auch sie als emotionale Reaktion ähnlich wie Verunsicherung und Einschüchterung gezählt werden. Die Sprache fungiert in den hier beschriebenen Horrorfilmen also als akustisches und zugleich narratives Element, dem man sich als ZuschauerIn nicht entziehen kann und das Irritation, Verunsicherung und Zweifel hervorruft. Zum einen dient sie dazu, Filmfiguren mit einer nicht-visuellen Markierung zu versehen, die sie als anders als die Mehrheit der kleinen
22 Wie fielen wohl die Reaktionen auf Seiten des Publikums aus, wenn in einem deutschen Film ein Geschwisterpaar präsentiert würde, von dem eineR Rheinisch und der/die andere Sächsisch oder in einem amerikanischen Film ein Geschwister Englisch mit amerikanischem und eins Englisch mit einem britischen Akzent spräche oder zu sprechen versuchte. Je nach Filmgenre können diese Brüche in erwarteten sprachlichen Kongruenzen entweder komische oder eben verunsichernde Effekte haben. Vergleichbare, hauptsächlich negative Reaktionen beschreibt Shane Walshe: Irish English as Represented in Film. Frankfurt/Main: Lang, 2009, S. 1 und 175. 23 Man beachte bitte den Kommentarthread am Ende dieser Filmkritik im Kulturund Boulevardteil der Internetausgabe von Bergens Tidende http://old.bt.no/ bergenpuls/film/--Varg-Veum-har-hatt-uflaks-1275371.html, Stand 17.12.2011, 17.30 Uhr.
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›Film-Gesellschaften‹ und somit als latent unberechenbar, gefährlich oder gar selbst gefährdet zeichnet. Zum anderen ist es möglich mit dem gezielten Einsatz von gesprochener Sprache, den Inhalt von Figurenrede und damit die Charaktere selbst als unglaubwürdig und nicht einschätzbar erscheinen zu lassen und so wiederum eine Horroratmosphäre aufzubauen oder aufrecht zu erhalten. Meines Erachtens wurde damit – ungeachtet dessen, dass dieses Stilmittel in skandinavischen Filmen schon über einen längeren Zeitraum immer wieder Anwendung gefunden hat – in jüngerer Zeit und explizit in Horrorfilmen die Zwickmühle umgangen, sowieso schon marginalisierte und diskriminierte Gruppen als visuell leicht zu identifizierende Agenten entlang der Konfliktlinien der Handlungen zu positionieren und so gegebenenfalls eine mediale Diskriminierung fortwährend zu rekonstituieren. Als dieser Technik intrinsische Besonderheit muss beachtet werden, dass sie außerhalb Skandinaviens womöglich gar nicht wahrgenommen wird, da die Filme entweder synchronisiert werden oder das breite Publikum den Unterschied der Sprachen nicht versteht bzw. hört, während es sich auf Untertitel konzentriert – und im Sonderfall der norwegischen Dialektpolitik vielleicht noch nicht einmal in den skandinavischen ›Brudervölkern‹. Folglich müsste für diese ZuschauerInnen ein Horrorfilm, der so zu Werke geht, an Suspense und Irritation verlieren, da die akustischen Markierungen des Andersseins nicht wahrgenommen werden. Diese subtile Art des Horrors erreicht vielleicht nur denjenigen/diejenige, der/die ihn tatsächlich versteht. Um dies und das weitere Potenzial einer auditiven Filmanalyse herauszuarbeiten, sollten sich zukünftige werkästhetische Untersuchungen mehr als bisher der Akustik und Sprache in Filmen widmen und rezeptionsorientierte Forschung sollte in jedem Fall die ZuhörerInnen von Horrorfilmen ebenso im Fokus haben wie die ZuschauerInnen.
Die Natur ist Satans Kirche Lars von Triers ANTICHRIST1 D ANIEL K EHLMANN
Alles, was man über diesen Film hört, ist wahr. Seine Brutalität ist fast unerträglich, er ist blutig, dunkel und grausam, er enthält eine Verstümmelungsszene, die man, hat man sie gesehen, lieber nicht gesehen hätte, und sein Weltbild ist im umfassenden Wortsinn mittelalterlich. Denn es geht, nicht zum ersten Mal bei Lars von Trier, um den Teufel. Jener Regisseur, der am Ende jeder Folge seiner Krankenhausserie GEISTER den Zuschauer ironisch lächelnd mit dem Erkennungszeichen der Satanisten – die rechte Hand zur Faust geballt, Zeige- und kleiner Finger weggestreckt – in die Nacht entließ, hat nun jenseits allen Humors mit dem Fürsten der Finsternis ernst gemacht. Ein Ehepaar hat leidenschaftlichen Sex unter der Dusche, vernachlässigt deshalb die Aufsicht über den kleinen Sohn, dieser stürzt aus dem Fenster und stirbt. Die Frau, gespielt von Charlotte Gainsbourg, wird mit Verlust und Schuld nicht fertig, alle Therapieversuche scheitern, nichts kann sie aus ihrer Lethargie holen, bis ihr Mann, ein Psychotherapeut, beschließt, die Sache selbst zu übernehmen. Willem Dafoe verkörpert ihn als kühlen Rationalisten, als einen Profi, der jahrelang gelernt hat, sich nicht aus der Reserve locken zu lassen. Er beschließt, die Angstattacken seiner Frau durch eine Konfrontationstherapie zu bekämpfen, und so ziehen sie sich in jene Waldhütte zurück, in der die Frau, an ihrer Dissertation über 1
Der Text erschien erstmalig in Die Zeit Nr. 37 vom 03. September 2009. Daniel Kehlmann hat einem Zweitabdruck erfreulicherweise zugestimmt.
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Hexenverbrennungen schreibend, allein mit dem Sohn den letzten Sommer verbracht hat. Nun beginnt ein Abstieg in die Hölle, ein Kammerspiel des Schreckens mit nur zwei Darstellern, gipfelnd in einem Ausbruch der Gewalt, wie man ihn außerhalb von Splattermovies noch selten auf der Kinoleinwand gesehen hat. Immer wieder hat Lars von Trier die traditionellen Motive der Aufklärung auf den Kopf gestellt: Das Selbstverständliche ist bei ihm das Falsche, die altgewohnten Formeln des Humanismus sind im Unrecht. So erschienen in DOGVILLE (2003) Verzeihen und christliche Milde als unzureichende Antwort auf die Niedertracht der Menschen, und die Maschinengewehrsalven, mit denen die erniedrigte Grace (Nicole Kidman) zum Schluss die Bevölkerung der Stadt Dogville ohne Gnade niedermähen ließ, kamen auch für den Zuseher als tiefe Befriedigung. DOGVILLE, scheinbar ein Film über die Güte, entpuppte sich als ein Film darüber, dass Güte nicht ausreicht, und am Ende von MANDERLAY (2005), scheinbar ein Film über die Sklavenbefreiung, waren es die Sklaven selbst, die die Freiheit als unerträgliche Zumutung ablehnten. Einen solchen Umschlag gibt es auch in von Triers neuem Film ANTICHRIST. Was, wenn die Hexenverbrennungen berechtigt waren? Wenn es den Teufel gibt und wenn böse Frauen existieren, die mit ihm im Bunde sind? Denn in der Waldeinsamkeit stellt sich heraus, dass genau dies der Fall ist. Auch Paranoide können Feinde haben, sagt ein altes Scherzwort, und so könnte man hinzufügen: Auch Menschen mit Angstneurosen haben manchmal etwas, vor dem es sich zu fürchten lohnt. Der forschende Psychotherapeut findet heraus, dass seine Frau im Zuge ihrer Dissertation mit dem Teufel selbst in Kontakt getreten ist, er findet heraus, dass »die Natur Satans Kirche« ist, dass die Frau ihren Sohn den ganzen Sommer lang auf subtile Art gequält hat und dass die ängstliche Erstarrung, in die sie sich nach dessen Tod geflüchtet hat, der Furcht vor ihr selbst entsprang. Durch die erfolgreiche Therapie, in der er ihr beibringt, die Angst vor der Natur, vor Gras, Bäumen und Wind, zu überwinden, weckt er auch das Dunkel in ihr wieder auf – und zugleich ersteht draußen in der Welt der Schrecken von Neuem. Auch für den zunächst so besonnenen Mann versinkt die Welt in einer surrealen Bilderflut: Tiere sprechen, erschlagene Raben erstehen flatternd aus dem Tode auf, und ein Fuchs spricht die Worte »das Chaos regiert« – bis man am Höhepunkt in einer Rückblende noch einmal die Szene vom Tod des Kindes sieht, fast wie am Anfang, doch mit einem winzigen
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Unterschied, der für den, der ihn bemerkt, schockierender ist als alle blutigen Gewaltszenen zuvor. Diesmal gibt es keine Dogma-Ästhetik, keine Handkamera, keinen Minimalismus der Ausdrucksmittel; von Trier schöpft aus dem ganzen Vorrat der Illusionen: Zeitlupen und Farbverfremdungen, aufwendig arrangierte Traumtableaus, ja sogar – welcher puristische Dogma-Fan hätte sich das träumen lassen? – computerbearbeitete Einstellungen. Und dennoch rutscht der Film nie ins Konventionelle ab: viel zu intensiv die Konzentration auf das Wechselspiel der beiden Hauptdarsteller, auf das ständig sich verändernde Machtgefüge zwischen ihnen. ANTICHRIST ist ein virtuoses Spiel der Identifikationssteuerung. Ob man es will oder nicht, ist man zu Beginn ganz auf der Seite der trauernden Frau, ist mit ihr eingenommen gegen den von Willem Dafoe grandios verkörperten arroganten Ehemann, und ob man es will oder nicht, ist man am Ende auf seine Seite hinübergewechselt. Vor allem ist das natürlich das Verdienst von Charlotte Gainsbourg. Immer schon haben von Triers Filme davon gelebt, dass er eine große Schauspielerin bis an die Grenze des emotionalen Zusammenbruchs geführt hat. Doch im Unterschied zu Emily Watson in BREAKING THE WAVES, zu Björk in DANCER IN THE DARK und Nicole Kidman in DOGVILLE hat die Hauptdarstellerin von ANTICHRIST keine verfolgte Unschuld zu spielen, sondern deren Gegenteil; sie wandelt sich vom armen Seelchen zu einer wölfisch heulenden Irren, einer Furie des Entsetzens, einer teuflischen Präsenz. Charlotte Gainsbourg steht all das zu Gebote: sämtliche Stadien von der verängstigten Mutter bis hin zur Satansgefährtin, deren finaler Verbrennung man förmlich entgegenfiebert. Seit Stanley Kubrick in THE SHINING hat niemand mehr versucht, was Lars von Trier hier unternimmt, nämlich aus scheinbar trivialen Motiven des Horrorgenres etwas existenziell Ernstes, ein genuines Kunstwerk zu schaffen. In diesem Sinn ist ANTICHRIST wohl das Gegenstück zu Quentin Tarantinos INGLOURIOUS BASTERDS. Während Tarantino einem Thema, das nach höchstem Ernst zu verlangen scheint, durch Witz, Respektlosigkeit und Frivolität neues Leben abgewinnt, behandelt von Trier einen Stoff, wie geschaffen für flache Genrefilme, mit unerwarteter Direktheit und mit ungebrochenem Pathos. Dennoch verleugnet der Film seine Wurzeln nicht, und es ist es ebenso albern, von Trier nun Frauenfeindlichkeit vorzuwerfen, wie es lächerlich wäre, die Macher von TEXAS CHAINSAW MASSACRE für die negative Darstellung geistig Behinderter zu rügen: Wahrer Horror ent-
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steht nun einmal nicht aus gerechter Abbildung sozialer Wirklichkeiten. Dass aus der Fleischeslust Unheil erwächst, dass der Teufel der Herr der Natur ist, dass es Hexen gibt, die mit ihm im Bunde sind, und dass gegen seine dunkle Gewalt keine Therapie, sondern nur entschlossene Gegengewalt und reinigendes Feuer helfen, sind ja keine sozialpolitischen Thesen, sondern altbewährte Motive des Märchens und der Schauerromantik. ANTICHRIST überschreitet aber alle Konventionen der Gattung durch eine unvergleichliche atmosphärische Kraft, wenn die zunächst idyllische Natur sich in albtraumhafte Bilder der Fäulnis und des Ekels auflöst oder wenn das Autoritätsverhältnis zwischen dem souveränen Mann und seiner hilfsbedürftigen Frau sich auf Strindbergsche Weise ins Gegenteil verkehrt. Diesen Film zu sehen ist nicht angenehm, und ja, eine bestimmte kurze Gewaltszene wird man fürs Leben nicht mehr vergessen. Aber sie ist nicht der eindrücklichste Moment dieses meisterhaft komponierten Werks. Vielleicht hat einen noch nie ein Film so intensiv die Gegenwart des Bösen als metaphysisch zerstörerische Macht empfinden lassen. Weniger war von Lars von Trier nicht zu erwarten. Darin aber, wie er alle Erwartungen wieder einmal zugleich düpiert und übertrifft, zeigt er sich von Neuem als einer der bedeutendsten und innovativsten Filmregisseure unserer Zeit.
Import/Export Globaler Kulturaustausch im Horrorgenre am Beispiel von FRITT VILT und REYKJAVÍK W HALE W ATCHING MASSACRE J UDITH W ASSILTSCHENKO
Wenn etwas Schreckliches, Brutales und Ekelhaftes dazu dienen kann, dass eine moderne Öffentlichkeit und eine kreative Branche weltumspannend und generationenübergreifend an Inhalten, Motiven, Stoffen, Fragen, Aussagen, Ästhetiken und Produktionsweisen partizipiert und somit eine gemeinsame Basis für Diskurse und Diskussionen schafft, ist das zuerst nicht leicht zu akzeptieren. Doch speziell für Horror fiction wurde neben ihrer subkulturellen Attraktivität wiederholt eine ausdifferenzierte und lustvoll betriebene Intertextualität und Intermedialität festgestellt, die sich in Adaptionen, Remakes, Zitaten und Ausgriffen in andere Kunstformen äußert und auf ein von vielen AkteurInnen betriebenes außerfilmisches Kommunikationsfeld hindeutet, welches untersuchungswürdig ist. Die skandinavischen Länder waren bisher im cinephilen Bewusstsein nicht als die typischen Horrorfilm produzierenden Länder bekannt. Dabei entstanden einige der ersten Spielfilme mit gruselig-fantastischem Inhalt dort und unter der Leitung von Skandinaviern, u.a. die Lagerlöf-Verfilmungen HERR ARNES PENGAR (SE, R: Mauritz Stiller, 1919) und KÖRKARLEN (SE, R: Victor Sjöström, 1921), HÄXAN (SE, R: Benjamin Christensen, 1922) und Carl Theodor Dreyers VAMPYR (DK, 1932).1 Danach verlagerte 1
Tommy Kvarsvik zitiert einen Artikel des Guardian, in dem Jonathan Jones argumentiert, dass die Bilder Edvard Munchs mit ihrer düsteren Ästhetik und
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sich die Produktivität und damit die öffentliche Aufmerksamkeit jedoch in andere Erdteile. Besonders die USA sind neben Japan seit den 1960er Jahren in mehreren Horror-Konjukturen das Mekka dieses Genres. Gegen Ende des letzten Jahrtausends begann allerdings erneut eine rege Produktionstätigkeit in verschiedenen Ländern und auch Skandinavien tun sich seitdem durch eine Vielzahl von Horrorfilmen (und Literatur) hervor. Wie eng die dortigen Horrorkultur/en dabei mit den jeweils anderen verbunden sind und welche kulturellen Aufgaben sie erfüllen, welche medialen Leistungen sie erbringen, soll in diesem Artikel zusammengetragen werden. Als Indikator dafür dienen Ähnlichkeiten, Verweise, Huldigungen, aber auch Abwandlungen und Verweigerungen in den Rezeptions- und Produktionsgewohnheiten, die auf mehreren Ebenen auszumachen sind. An zwei ausführlichen Filmbesprechungen aktueller skandinavischer ›skrekkfilmer‹ (norw. für dt. Horrorfilme) soll dann exemplarisch gezeigt werden, wie traditionell oder innovativ, in jedem Fall wie kommunikativ Horrorfilm sein kann und welche kulturelle Reichweite er erlangen kann.2
Thematik, die um die Jahrhundertwende unter anderem in Berlin ausgestellt wurden, die frühen deutschen expressionistischen Filmemacher stark beeinflusst hätten, welche ihrerseits Wegbereiter für die zeitgenössischen damaligen Horrorfilme waren. Jonathan Jones: Horror’s coming home. In: The Guardian 2007, zitiert nach Tommy Kvarsvik: Da skrekken kom til Norge – en studie av hva som skremmer i norsk horrorfilm. Unveröffentlichte Masterarbeit. Universitetet i Agder. Kristiansand 2009, S. 57. In diesem Zusammenhang kann noch ergänzt werden, dass es von der Maske des Killers in der populären 1990er USHorrorfilm-Reihe SCREAM (US, R: Wes Craven, ab 1996) heißt, sie sei dem verzerrten Gesicht in Edvard Munchs Bild Der Schrei nachempfunden. 2
Problematisch daran ist, dass beständig von einer ZuschauerInnenwirkung ausgegangen wird, die selten messbar ist; nicht für alle Filme liegen ZuschauerInnenzahlen der Kinobesuche oder Datenträger-Verkäufe (geschweige denn Downloads) vor und schwer einzuschätzen ist auch die Meinung der ZuschauerInnen über die Filme. Gleichfalls können in komplex ausgestalteten und hochgradig arbeitsteiligen Filmindustrien nicht alle Produktionsverhältnisse durchschaut werden, so dass die für die Entstehung der Filme offenbar günstigen Verhältnisse und Arbeitsinteressen hier einfach angenommen und/oder vorausgesetzt werden. Dass der Rezeption überhaupt eine solche Aufmerksamkeit gewidmet wird, liegt darin begründet, dass Horror sich über die Empfindungen
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Horror im Medium Film hat zahlreiche Sub-Genres entwickelt und als eine Form der kulturellen Korrespondenz darf gelten, dass diese, sobald sie auftauchen und von den RezipientInnen angenommen werden, eine Nachfrage generieren und neue Filme dieser Art entstehen lassen. Für nahezu die gesamte Bandbreite an Unterkategorien und Filmformaten finden sich skandinavische Beispiele. Es gibt Kino- und Fernsehfilme, Kurzfilme sowie TV-Serien über Flüche und Heimsuchungen, Monster und Bestien, Vampire, Geister, Zombies, Splatter- und Slasherfilme und jüngst auch eine fiktionale Dokumentation à la BLAIR WITCH PROJECT (US, R: Daniel Myrick und Eduardo Sánchez, 1999). Mit der Suchfunktion3 des großen OnlineFilmlexikons IMDb.com lassen sich für Schweden 93 Titel ausmachen, Dänemark 71, Norwegen 48, Finnland 45, Island 9. Genres und Stoffe, die in Skandinavien eher unterrepräsentiert bzw. noch nicht vorhanden sind, sind Horrorfilme über Außerirdische4 und die in letzter Zeit so betitelten ›torture porns‹ wie die HOSTEL- (US, R: Eli Roth u.a., ab 2005) und SAWReihen (US, R: Darren Lynn Bousman u.a., ab 2004). Eben dieses serielle Erzählen ist in diesem Filmgenre zu einer häufigen Praxis geworden, welche sowohl die inhaltliche wie die Produktions- und Rezeptionsebene betrifft. Sie bietet sich für Genres wie Action- und Horrorfilme offenbar an und hat sich etabliert, man denke an Reihen wie FRIDAY 13TH (US, diverse
des Publikums konstituiert, »because horror is one of the rare genres that are defined not primarily by period or formal idiosyncrasies, but by the effect they produce in the audience.« Steffen Hantke: Introduction. Horror Film and the Apparatus of Cinema. In: Ders. (Hg.): Horror Film: Creating and Marketing Fear. Jackson 2004, S. viii, zitiert nach Tommy Kvarsvik: Da skrekken kom til Norge, S. 8 f. 3
Je nach Suchkategorie schlägt die Seite jedoch unterschiedlich viele Filme pro Land/Sprache vor, so dass die angegebenen Zahlen womöglich nicht korrekt sind. IMDb.com als größte Online-Filmdatenbank ist zwar ein unerlässliches Instrument in der Beschäftigung mit Film, als digitale und partizipative Datenquelle wandelt sie jedoch beständig ihre Form und ihre Inhalte. Die Zahlen müssen daher als ungefähre Richtwerte betrachtet werden und können zumindest einen Eindruck vom Verhältnis der Produktionsländer untereinander bieten.
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Hier findet sich bisher nur der Kinder- und Jugendhorrorfilm VIKAREN (DK, R: Ole Bornedal, 2007).
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Filme, R: Sean S. Cunningham u.a., ab 1980), NIGHTMARE ON ELMSTREET (US, diverse Filme, R: Wes Craven u.a., ab 1984), HALLOWEEN (US, diverse Filme, R: John Carpenter u.a., ab 1978), POLTERGEIST (US, diverse Filme, R: Tobe Hooper u.a., ab 1982), SCREAM (US, diverse Filme, R: Wes Craven, ab 1996) etc.. In Skandinavien findet sich diese Form erstmals in der FRITT VILT-Reihe (NO, R: Roar Uthaug u.a., ab 2006) wieder. ›Backwoods‹- oder ›cabin in the woods‹-Settings sind international, aber auch in norwegischen und schwedischen Filmen oft vertreten und scheinen sich landschaftlich geradezu aufzudrängen, während zu beobachten ist, dass dänische Filme den Horror eher in der Stadt ansiedeln als in der Wildnis. In Verbindung mit dieser Art Schauplatz ist mitunter ein sehr typisches amerikanisches Motiv vorzufinden: tödliche Begegnungen von vermeintlich zivilisierten Stadtmenschen mit rohen Hinterwäldlern, den ›hillbillies‹ oder ›rednecks‹. Auch wenn dieses Motiv kaum einen wiedererkennbaren Anknüpfungspunkt in den sozialdemokratisch geprägten skandinavischen Wohlfahrtsstaaten hat, wurde doch ein paar Mal versucht, es hier aufzugreifen (z.B. ROVDYR, NO, R: Patrick Syversen, 2008) oder an lokale Gegebenheiten anzupassen, wie im Fall der ›fishbillies‹ später noch ausführlich beschrieben wird. Eine direktere Art der Bezugnahme zwischen älteren und neuen oder fremdsprachigen Filmen und Filmkulturen ist das Remake. Hier kann verzeichnet werden, dass einigen skandinavischen Filmen eine amerikanische Neubearbeitung widerfahren ist, darunter beispielsweise NATTEVAGTEN (DK, R: Ole Bornedal, 1994), der unter dem bloß übersetzten Titel NIGHTWATCH 1997 ebenfalls von Ole Bornedal mit den bekannten SchauspielerInnen Ewan McGregor, Nick Nolte und Patricia Arquette noch einmal verfilmt wurde. Identisch sind die Titel der beiden Versionen von INSOMNIA. 1997 erschien die filmische Erzählung um den ungewollt zum Täter gewordenen schlaflosen Polizisten unter der Regie von Erik Skjoldbjærg in Norwegen. Christopher Nolan zeichnet für das US-Remake von 2002 verantwortlich, in dem zur Überraschung vieler Robin Williams die Rolle des Bösewichts übernahm, der bis dahin hauptsächlich mit sympathischen und lustigen Rollen besetzt wurde. Diskussionswürdig ist, ob es sich bei zwei neuerlichen amerikanischen Produktionen um Literaturadaptionen oder um Remakes schwedischer Romanverfilmungen handelt. Formal sind LET ME IN (R: Matt Reeves, 2010) und THE GIRL WITH THE DRAGON TATTOO (R: David Fincher, 2011) Verfilmungen der schwedischen Romane Låt den rät-
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te komma in5 und Män som hatar kvinnor6. Die große zeitliche Nähe zu den vorangegangenen schwedischen Erst-Verfilmungen sowie die im Fall der Larsson-Adaption (R: Niels Arden Oplev, 2009) auch übernommene Ästhetik und Kameraführung (bis hin zu identischen Kameraeinstellungen in einigen Schlüsselszenen) legen aber den Verdacht nahe, dass es sich hierbei also vorrangig um Remakes der schwedischen Filme und nicht oder erst nachrangig um Literaturadaptionen handelt. Der Umstand, dass beide Filme in Europa auf großes Interesse stießen, wird den Anlass zur Auseinandersetzung mit diesen Geschichten gegeben haben, wie es für die oben erwähnten amerikanischen Remakes ebenfalls zu vermuten ist. Nicht zuletzt ergeben sich zwischen Produktion und Rezeption mediale Strudel, in denen Begriffe, Stoffe und Motive oder gar ganz konkrete Filmplots von einer Kulturszene in die nächste und auch wieder zurück gesogen werden. Der durchschlagende Erfolg der geschickt beworbenen LowBudget-Produktion BLAIR WITCH PROJECT7 veranlasste einige Filmschaffende in anderen Ländern sich mit der Idee und Technik des Dokumentarfilms und dem modernen Mythos des found footage auseinanderzusetzen und für ihre lokalen Gegebenheiten und Geschichten zu nutzen.8 So entstanden danach Filme wie [ƔREC] (E, R: Jaume Balagueró / Paco Plaza, 2007) und TROLLJEGEREN (NO, R: André Øvredal, 2010), die die als origi-
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John Ajvide Lindqvist: Låt den rätte komma in. Stockholm: Ordfront, 2004.
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Stieg Larsson: Män som hatar kvinnor. Stockholm: Norstedt, 2005.
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Produziert wurde BLAIR WITCH P ROJECT von der Firma Haxan Entertainment, die sich wiederum nach dem frühen schwedischen halbdokumentarischen Horrorfilm HÄXAN (dt. die Hexe) von Benjamin Christensen benannte, wie sowohl der BLAIR WITCH PROJECT- als auch der HÄXAN-Seite auf IMDb.com zu entnehmen ist, z.B. http://www.imdb.com/title/tt0013257/trivia, Stand 17.02.12.
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Für mehr Unmittelbarkeit und Realismus traten Mitte der 1990er Jahre öffentlichkeitswirksam auch die RegisseurInnen der Dogma 95-Bewegung aus Dänemark ein. Jedoch blieben diese Spielfilme dabei immer eindeutig autor- und kunstwerkzentriert im Gegensatz zu den zahlreichen Mockumentaries, die ihre Herkunft, ihren Spielfilmcharakter, ihre RegisseurInnen, ErzählerInnen, ProtagonistInnen und ihr impliziertes Publikum zu verschleiern suchen und parodistisch mit dem Thema Authentizität spielen. Gemein ist beiden Genres jedoch die Idee, die Sehgewohnheiten der ZuschauerInnen und den Film als Konstrukt zur Debatte zu stellen.
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nell empfundene und nun endgültig für Horrorzwecke erschlossene vermeintlich billige und unmittelbare Dokumentar-Ästhetik mit einer sehr viel besser ausgestatteten Produktion zitierten. Der ästhetische und poetologische Einfluss des amerikanischen BLAIR WITCH PROJECT ist zwar unübersehbar, wurde jedoch nicht als Remake inszeniert, sondern in lokale Kontexte und selbstständige Geschichten überführt. Diese aber wurden und werden nunmehr als direkte Remakes in den USA erneut produziert: 2008 erschien QUARANTINE (R: John Erick Dowdle) und für 2014 ist TROLL HUNTER angekündigt, über den zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Informationen vorliegen. Nun jedoch zuerst zu einem Film, der wie schon angekündigt, ein Meilenstein in der skandinavischen Filmgeschichte ist, da es sich bei ihm um den Auftakt zur ersten dort angesiedelten Slasher-Reihe handelt. FRITT VILT kam am Freitag, den 13. Oktober 2006 in die norwegischen Kinos und wurde dort im selben Jahr von 260.000 Menschen gesehen.9 FRITT VILT nahm 2007 und 2008 an zahlreichen Filmfestivals und -wettbewerben teil, darunter Amsterdam Fantastic Film Festival, San Francisco International Film Festival, Fright Fest London und Lisbon International Horror Film Festival sowie Slamdance Film Festival. Er erlangte beim Kosmorama Trondheim International Film Festival die Auszeichnungen ›Kanon Award for Best Sound‹ und ›Kanon Award for Best Producer‹ sowie auf dem Grossmann Film and Wine Festival, Ljutomer den Vicious Cat Award.10 International wird er auch unter dem Titel COLD PREY vermarktet.
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Die norwegische Wikipediaseite zu FRITT VILT: http://no.wikipedia.org/wiki/ Fritt_vilt, Stand 18.12.11.
10 FRITT VILT in der Online-Datenbank des Norwegischen Filminstituts: http://www.nfi.no/english/norwegianfilms/search/Film?key=31309 (18.12.11).
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Abbildung 1: FRITT VILT
Filmstill, Fantefilm A/S, 2006. V.l.n.r. Endre Martin Blindheim Midstigen, Viktoria Winge, Tomas Alf Larsen, Ingrid Bolsø Berdal, Rolf Kristian Larsen
Eine Gruppe von Freunden ist auf dem Weg zum Snowboardfahren. Das Paar Ingunn (Viktoria Winge) und Mikal (Endre Martin Blindheim Midstigen) sitzt wild knutschend auf der Rückbank des Wagens. Außerdem sitzt dort noch Morten Tobias (Rolf Kristian Larsen). Eirik (Tomas Alf Larsen) fährt das Auto und seine Freundin Jannicke (Ingrid Bolsø Berdal) sitzt auf dem Beifahrersitz. Sie unterhalten sich über die kommende Fahrt und die Beziehungsverhältnisse der fünf werden in einigen Repliken skizziert. Am Ziel angekommen, besteigen sie einen Berg, um auf der anderen Seite abzufahren. Bei der Abfahrt stürzt Morten Tobias und zieht sich einen offenen Bruch zu. Die Freunde leisten erste Hilfe und wollen die Rettung verständigen, doch sie haben keinen Handyempfang. Da entdeckt Jannicke ein Gebäude in der Nähe, das sich als geschlossenes Hotel entpuppt. Eirik kontrolliert das Telefon, doch die Leitung ist tot. Sie verarzten den Verletzten notdürftig und beschließen dort zu übernachten. Eirik, Mikal und Ingunn erkunden das Hotel, während Jannicke bei Morten Tobias bleibt. An der Rezeption findet sie das Gästebuch und schlägt es auf. Eirik kann im Keller den Generator zum Laufen bringen, daraufhin gehen einige Lampen an und altmodische Musik kommt aus einem Kassettenrekorder. Ingunn und Mikal finden ein Zimmer, das vollkommen ausgebrannt ist und berichten dies den anderen. Jannicke blättert im alten Gästebuch; der letzte Eintrag von 1975 lässt den Schluss zu, dass in dem Hotel ein Junge verschwunden ist. Ein Foto von zwei Erwachsenen und einem Kind, das im Gesicht ein Mal hat, liegt dem Buch bei. Als es daran geht, sich für die Nacht einzurichten, bereiten Jannicke und Eirik ein Lager im Kaminzimmer. Mikal nimmt sich einen Zimmerschlüssel aus der Rezeption und hält
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ihn Ingunn hin. Auf dem Hotelzimmer weist Ingunn Mikals sexuelle Annäherungsversuche ab. Er verlässt das Zimmer und geht den Gang hinunter, zögert, will umkehren, geht dann aber doch hinunter an die Bar. Ingunn sucht im Zimmer ihre Sachen zusammen. Als sie sich nach ihrer Halskette bückt, die sie verloren hat, wird sie von einer Eisaxt im Rücken getroffen. Sie wirft einen Blick auf die Person hinter sich und versucht aus dem Zimmer zu kriechen, wird jedoch zurück ins Innere gezogen. Ihre Schreie können die anderen unten nicht hören, dafür ist die Musik zu laut. Sie kann noch einmal auf den Flur und dann in den Keller laufen, doch kurz vor den Stufen ins Erdgeschoss schneidet ihr der Killer (Rune Melby) jedoch den Weg ab. Jannicke setzt sich zu Mikal an der Bar und versucht zu erfahren, was passiert ist. Er klagt, dass er Ingunns wechselweise Annäherung und Zurückweisung nicht deuten könne. Jannicke bringt ihn darauf, dass Ingunn noch nie mit einem Mann geschlafen habe und deshalb unsicher sei. Nun bereut er sein unsensibles Verhalten. Am nächsten Morgen will er Ingunn Frühstück aufs Zimmer bringen, aber auf sein Klopfen folgt keine Reaktion. Eirik will zum Auto zurückgehen, um Hilfe zu organisieren. In kurzer Distanz zum Haus findet er Ingunn tot. In dem Moment trifft ihn die Axt am Kopf. Jannicke und Mikal stoßen im Keller auf zurückgelassene Gegenstände von Gästen und Speisereste. Sie entdeckt ein Kästchen mit Zeitungsartikeln über die Familie, die sie auf dem Foto im Gästebuch gesehen haben. Darin ist zu lesen, dass vor 30 Jahren ein Junge im Gebirge verschwand und kurz darauf auch seine Eltern, als sie nach ihm suchten. Mikal bemerkt, dass die vermeintlich vergessenen Dinge in der Kammer wie Kleidung und Autoschlüssel ihrem Aussehen nach nicht so alt sein können. Als Jannicke gehen will, fällt das Kästchen um und unzählige Eheringe fallen heraus. Morten Tobias ist währenddessen in die Hotelküche gehumpelt und versucht Konserven zu öffnen. Jannicke will nach Ingunn schauen, entdeckt eine riesige Blutlache und verständigt die beiden anderen. Als sie gemeinsam zum Zimmer gehen, findet Mikal Ingunns Kette. Da fällt ihnen die Kammer im Keller wieder ein und sie ahnen, dass sie nicht allein sind. Mikal will das Zimmer verlassen und nach Ingunn suchen, wird aber im Speisesaal vom Killer angegriffen. Er kann aus der Eingangstür fliehen und klettert auf das Vordach, von wo aus er den Angreifer sehen kann, der kurz vor die Tür tritt. Mikal kann in den oberen Flur zu Jannicke und Morten Tobias gelangen. und beschwört Jannicke, dass sie gegen den Mann keine
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Chance hätten und auf Skiern fliehen müssten. Morten Tobias müsse mit seinem verletzen Fuß zurückbleiben. Als das für Jannicke nicht in Frage kommt, springt er aus dem Fenster und rennt zu einem kleinen Gerätehaus, wird dort aber vom Killer eingeholt, der ihm das Genick bricht. Jannicke und Morten Tobias müssen alles vom Hotelzimmer aus mit ansehen. Sie können in die Küche gelangen und Jannicke befiehlt Morten Tobias, sich zu verstecken. Sie selbst rennt zu dem Schuppen und versucht Skier und einen Schlitten für ihrer beider Flucht bereitzumachen, als sie ein Gewehr entdeckt und sich an die Patrone erinnert, die sie am Tag zuvor in der Rezeption gefunden hatte. Sie lädt das Gewehr und holt Morten Tobias aus der Speisekammer. Jannicke hat nun einen Plan. Sie muss den Killer in den Keller locken und ihn erschießen, damit er sie nicht verfolgen kann, wenn sie in ihrem langsamen Tempo fliehen, deshalb schaltet sie den Generator aus. In der Kellerkammer findet Jannicke aber Eiriks Schlüssel. Sie entdeckt die Leichen von Ingunn und Mikal und dann auch Eirik – er ist am Leben und weiß nicht, was geschehen ist. Morten Tobias findet derweil ein Teppichmesser und nimmt es an sich. Da sich Eirik nicht bewegen kann, lässt sie ihn vorerst zurück. Sie versteckt sich mit Morten Tobias vor der Kammer. Als der Killer mit einer Taschenlampe hinunterkommt, will Jannicke ihn dort erschießen, doch er macht das Licht aus. Als der Killer die Tür öffnet, schiebt er Eirik vor sich her und Jannicke kann gerade noch danebenschießen. Da durchbohrt er Eirik von hinten mit seiner Eisaxt. Morten Tobias fordert Jannicke auf zu fliehen, wohl wissend, dass er selbst gleich getötet wird. Sie läuft los, doch da taucht der Killer hinter Ihr auf und schlägt sie nieder. Sie kommt auf dem Schlitten zu sich, neben und über ihr liegen ihre toten Freunde. Der Killer zieht sie alle zu einer vereisten Felsspalte und schmeißt Mikal, Ingunn, Eirik und Morten Tobias hinein. Zuvor bemerkt Jannicke das Teppichmesser in Morten Tobias' Tasche, sie kann es an sich nehmen und als der Killer sie packen will, kann sie ihm den Cutter in die Schulter rammen. Es beginnt ein Kampf um seine Axt, in dem Jannicke ihm seine Skimaske und -brille vom Gesicht reißen kann. Sie sieht in das Gesicht eines Mannes mit einem Mal über dem Auge, wie es auch der Junge in den Zeitungsartikeln hatte. Letztlich kann sie ihm auch seine Waffe entreißen, ihm diese zuerst ins Bein und dann in die Brust rammen und ihn dann in die Tiefe stoßen. Während er fällt, werden Rückblicke aus seiner Kindheit gezeigt. Er war der Junge, der in den Bergen vermisst wurde.
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Schon der Vorspann zu Beginn des Films hatte gezeigt, wie er gejagt und in eine Spalte gestoßen wurde – von seinen eigenen Eltern. Man sieht die vier toten jungen Leute und ihn in der Mitte wie sie am Fuße der Spalte liegen. Die letzte Einstellung zeigt Jannicke am Rande der Felsspalte knien. Abbildung 2: FRITT VILT
Filmplakat, Fantefilm A/S, 2006
Abbildung: 3 FRITT VILT
Filmstill, Fantefilm A/S, I. Bolsø Berdal
Eine spezielle Figurenkonzeption, die zu einer sehr einflussreichen Konvention innerhalb des Horrorgenres, speziell des amerikanischen Slasherfilms, und von dort aus eine Art Exportschlager wurde, ist das von Carol Clover so benannte und definierte ›final girl‹: die junge Frau, die Sympathieträgerin des Publikums, die als einzige überlebt.11 Das Erleben Jannickes und der ZuschauerInnen wird daher gleich zu Anfang miteinander verknüpft, indem in der Autoszene die Kamera von Jannickes Position in den Innenraum des Autos filmt bzw. von ihrer (Beifahrer-)Seite. Weiterhin ist sie Clovers Typologie entsprechend intelligent, unprätentiös und hat Organisationstalent. Mit ihrer dunklen Kurzhaarfrisur sieht sie gegenüber der
11 Vgl. Carol Clover: Men, Women and Chainsaws. Gender in the modern Horror Film. Princeton/NJ: Princeton Univ. Press, 1993.
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blonden, langhaarigen Ingunn auch eher burschikos aus.12 Doch so wie sie uns im Verlauf des Films bekannt wird, lassen sich auch Unterschiede zu den klassischen ›final girls‹ feststellen. Der gravierendste ist sicherlich, dass Jannicke in einer festen Beziehung mit Eirik lebt. Zwar wird das Publikum ZeugIn einer kleineren Krise des Paars, doch diese wird recht schnell überwunden. Jannicke lebt also in einer intakten und aktiven Liebesbeziehung. Es gibt keine expliziten intimen Szenen zwischen den beiden, aber als sich Eirik zum Auto aufmacht, tröstet er sie mit dem Gedanken an ein ruhiges Wochenende, wenn diese Situation überstanden ist. Sie hingegen fragt ihn neckisch, ob sie dann wirklich bloß Ausruhen wollten. Beide bestärken sich, an diesem erotischen Gedanken festzuhalten. Ingunn wiederum scheint durch ihr Aussehen und ihr anfängliches Benehmen das typische erste Opfer eines Slashers zu sein, welches gemäß den Konventionen hübsch und sexuell offensiv ist. Der brutale Tod dieser ›cuties‹ wurde deshalb als die filmische Umsetzung strenger Moralvorstellungen interpretiert. Doch so promiskuitiv wie das Publikum sie zuerst einschätzt ist sie nicht – im Gegenteil, sie möchte vorerst nicht sexuell aktiv werden – das erste Opfer ist sie trotzdem. Diese Motive und Figurenkonstellationen können sich also nach intensivem Zitat (oder vielleicht gerade dadurch) in vielen Filmen und über die Zeit durchaus weiterentwickeln. Zu vermuten wäre, dass veränderte gesellschaftliche Verhältnisse hier ein Abbild finden. Sicher jedoch wird mit der zunehmenden Platzierung von weiblichen Filmhelden in männlich dominierten Filmgenres nun ein gemischteres und damit breiteres Publikum erreicht.13 Die Darstellung des Killers in FRITT VILT erfolgt dagegen nach klassischem Muster eines Slashers. Dem Publikum wird in Analepsen nahegelegt, dass der ›fjellmann‹ durch ein dramatisches Kindheitserlebnis zum Monster wurde. Von seinen eigenen Eltern im Winter in eine Felsspalte gestoßen, konnte er überleben und hat sich dafür nicht nur an ihnen gerächt, sondern an allen, die das Hotel und die Umgebung seitdem betreten haben. Als besonderes Andenken bewahrt er fetischartig die Eheringe seiner Opfer
12 Ebd., S. 39 f. 13 Anders Marklund: The Shining in Jotunheimen. Der Norwegische Berg-Slasher FRITT VILT (2006) und die Voraussetzungen für einen lokalen HorrorfilmZyklus. In: Jörg van Bebber (Hg.): Dawn of an evil millennium. Horror/Kultur im neuen Jahrtausend. Darmstadt: Büchner, 2011, S. 339.
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auf. Furchterregend an ihm sind seine enorme Größe und Stärke, die einen totalen Kontrast zu dem kleinen, hilflosen Jungen bieten, den die ZuschauerInnen eingangs um sein Leben rennen sehen. Entsprechend der Tradition der Teenie-Slasher ist er maskiert. Er trägt mehrere Lagen aus Kleidung, eine Jacke mit Fellkapuze, eine Skibrille und eine Skimaske. Als Jannicke ihm am Ende die Maske vom Gesicht reißen kann, sieht man darunter einen fast verletzlich anmutenden Mann, der wie der Junge auf dem Foto ein ungewöhnlich großes Hämangiom über dem linken Auge hat. Auch die psychosoziale Konstitution des ›fjellmann‹ entspricht also der anderer Horrorfilm-Killer – er ist »permanently locked in childhood«14. Mit dem Mordversuch seiner Eltern an ihm hat sein Leben in der Gesellschaft aufgehört. Auf eine Weise ist er in dieser biographischen Phase des damals ca. 10jährigen stehen geblieben. Eine Metapher dafür ist das Hämangiom in seinem Gesicht, das sich nicht zurückgebildet hat, was es normalerweise im Verlauf der Kindheit tut. Mit einigen Übereinstimmungen aber auch Modifikationen reiht sich der Film so in das bereits gut etablierte Sub-Genre der Slasher-Filme ein. Doch apropos: Reihe, eingangs wurde schon erwähnt, dass das serielle Erzählen ebenfalls zur dramaturgischen und poetologischen Formenlehre dieser Filme gehört. Tatsächlich sind bis heute insgesamt drei FRITT VILTFilme entstanden. Das Sequel FRITT VILT II (R: Mats Stenberg; 2008) spinnt die Geschichte weiter, in dem es davon ausgeht, dass der ›fjellmann‹ nur vermeintlich tot war und aufgrund seiner speziellen physischen Beschaffenheit, die Verwundung und Unterkühlung überleben konnte. Jannicke muss sich ihm, nun gemeinsam mit den Personen in dem Provinzkrankenhaus, in das sie eingeliefert wurde, stellen und ihn erneut zur Strecke bringen. Das Prequel FRITT VILT III (R: Mikkel Brænne Sandemose, 2010) hingegen führt uns zurück in die 1980er Jahre und erklärt anhand der Geschehnisse um eine frühere verschwundene Gruppe Jugendlicher ausführlicher als die Andeutungen im ersten Teil, wie der Sohn des Gastwirt-Paares zum Killer wurde. FV III ist dabei das allererste Prequel der norwegischen Filmgeschichte.15 Auf der RezipientInnen-Seite befriedigen diese Filme die Neugier, die durch ungelöst gebliebene Fragen und Ge-
14 Clover: Men, Women and Chain Saws, S. 28. 15 John Berge: Fritt vilt III sett av nesten 80.000. Artikel vom 18.10.10 auf www.release.no, Stand 18.02.12.
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heimnisse entstehen und wirken damit ähnlich wie eine TV-Serie. Betrachtet man die Produktions-Seite, wäre es aus ökonomischer Sicht geradezu fahrlässig, einen gut angenommenen Plot nicht auf seine Erweiterbarkeit hin zu befragen und gegebenenfalls folgende Filme zu drehen, zumal ein genre-bewusstes Publikum sich an Slasher-Serien eher als die Norm, denn als Ausnahme erinnert. So erzielte FV II tatsächlich noch höhere Besucherzahlen als der erste Film, nämlich fast 270.00016, und FV III wurde allein am ersten Wochenende in den norwegischen Kinos von ca. 80.000 Menschen gesehen. FRITT VILT korrespondiert neben (Teenie-)Slasher-Streifen jedoch auch mit einem anderen kanonisch gewordenen Spielfilm, dessen Einfluss auf das gesamte Genre unbestritten hoch ist. Schnee + Hotel = THE SHINING, diese Assoziation haben sogar Menschen, die selten oder nie Horrorfilme schauen und vielleicht noch nicht einmal THE SHINING (US, R: Stanley Kubrick, 1980) selbst gesehen haben. Dieser Eindruck verstärkt sich bei der Beschäftigung mit FRITT VILT,17 denn ein genauerer Blick offenbart die mal allgemeineren, mal sehr speziellen Zitate aus diesem Spielfilmklassiker. Auch in FRITT VILT nähert sich die Gruppe dem Hotel auf einer einsamen Straße in einer Winterlandschaft und auch hier spielt die Handlung vorwiegend in einem abgeschiedenen Hotel, in dem sich keine Gäste befinden. Wie in dem psychologischen Horrorfilm THE SHINING dient auch hier eine Axt als Mordinstrument und wie im Kubrick-Film stirbt Uthaugs Killer ebenfalls im Freien, in der Kälte, im Schnee. Eine konkretere Übereinstimmung ist schon das Verstecken in der Speisekammer und das direkteste Zitat, das wie eine Verbeugung vor einem großen Vorbild erscheint, ist die Zimmernummer 237, die in Schlüsselszenen beider Filme auftaucht.18 Darüber hinaus weist FRITT VILT auf einer Metaebene genau auf diese erwähnten Zitate und damit auf die viel beschriebene Selbstreflexivität von Horrorfilmen als (pop-)kulturelle Konstrukte und Produkte, als moderne Märchen oder Sagen, deren Topoi sich in ein globales kommunikatives Gedächtnis einschreiben können. In dem Kellerraum des Hotels, der sich später als Behausung des Killers herausstellt, finden Jannicke und Mikal alte
16 Anders Marklund: The Shining in Jotunheimen, S. 337. 17 Vgl. den Titel des hier zitierten Artikels von Marklund. 18 Für den Hinweis auf die eklatante Häufung dieser SHINING-Zitate in FRITT VILT danke ich recht herzlich Uta Scheer.
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Zeitungsausschnitte, in denen das verlassene Berghotel als »Ondskapens hotell« (dt. Hotel des Bösen) bezeichnet wird. ONDSKAPENS HOTELL ist wiederum der offizielle norwegische Filmtitel für THE SHINING.19 Das heißt, dass der Ausdruck nicht einfach Teil einer reißerischen Schlagzeile ist, sondern die fiktive Zeitung zitiert hier einen allgemein bekannten Film, bei dem sie meint, Bezüge zu aktuellem Geschehen herstellen zu können. Sowohl die Filmfiguren als auch die (norwegischen) ZuschauerInnen muss dieser Ausdruck sofort an den Klassiker der Filmgeschichte denken lassen. Diese Gedankengänge und Bezugnahmen funktionieren allerdings nur, weil ›das Hotel im Schnee‹ seit THE SHINING eine Ikone innerhalb der Filmkunst geworden ist. Schnee, Berge, Wälder, Seen, Fjorde, Polarnächte, unberührte Natur – es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass die Natur in skandinavischen Horrorfilmen eine größere Rolle spiele, als in den Filmen aus anderen Ländern, und dass dies das Spezifikum dieser Horrorkultur sei. Yvonne Leffler versucht zu erklären, welchen Mangel die Natur in Texten und Filmen ausgleichen soll: »Scandinavian horror stories are, like FROSTBITE, set in specific Scandinavian environments using regional folklore and local traditions to enhance the local atmosphere, as well as to intensify the gothic mode. The gothic castle or gothic city is here replaced by the Nordic wilderness, the arctic climate and the darkness of the long winter nights.«20
Auf skandinavische Gothic Novels des 19. Jahrhunderts wie auch auf Horrorfilme der 1980er und 2000er Jahre gleichermaßen bezugnehmend argumentiert sie weiter, dass die Natur nicht nur Setting, sondern als lebendiger
19 Kvarsvik: Da skrekken kom til Norge, S. 95. In Norwegen wird in ausländischen Filmen zwar nicht die Figurenrede synchronisiert, sondern untertitelt, die Filmtitel werden jedoch, sofern kein Eigenname, immer übersetzt bzw. ein norwegischer Titel dafür ersonnen. 20 Yvonne Leffler: The Gothic Topography in Scandinavian Horror Fiction. In: Shona Hill und Shilinka Smith (Hg.): There be Dragons out there. Confronting Fear, Horror and Terror. Oxford: Inter-Disciplinary.net, 2009, S. 140. Free PDF: http://www.scribd.com/doc/57368290/FHT-2-Final, Stand 10.04.12. Hervorhebung im Original.
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Organismus den Rang einer Protagonistin erhält, die zielgerichtet handelt, und mitunter die eigentliche Widersacherin der Figuren sei. »The scenery is not mainly, as in most gothic fiction, an emotionally coloured landscape, that expresses the emotional state of the main characters or the narrator. Instead it is the generating locus of action or an acting character in the story. It has a life of its own and acts as an alien force or organism, threatening the protagonist. Its function is not solely, as in most gothic fiction, to enhance the atmosphere by causing mists and storms but to literally attack, invade and transform the protagonist into a savage creature. In Scandinavian fiction the landscape or the force of nature may even act as an external antagonist fighting the protagonists and preventing them from reaching their goal.«21
Dem muss erst einmal widersprochen werden, da bei weitem nicht (mehr) alle skandinavischen Horrorgeschichten, -filme und -fernsehserien wie Leffler behauptet in der freien Natur, in der ›wilderness‹, angesiedelt sind. Als Beispiele lassen sich unter anderem der bereits erwähnte NATTEVAGTEN, RIGET (DK, R: Lars von Trier, 1994/97), KAT (DK, R: Martin Schmidt, 2001), NABOER (NO, R: Pål Sletaune, 2005) und BAG DET STILLE YDRE (DK, R: Martin Schmidt, 2005) nennen. Auch in dem von ihr angeführten Roman Låt den rätte komma in ist der Schauplatz der modernen sterilen Sozialbausiedlung für die Handlung sehr viel bedeutsamer, als die wenigen Baumgruppen, die darin übrig gelassen wurden.22 Ähnlich wie Leffler sieht auch Kvarsvik die Natur als zusätzliche Gegnerin im aktuellen norwegischen Horrorfilm, zu der sich die Figuren verhalten müssen. »Nordmenn har gjennom alle år måttet kjempe mot det vi kjenner som ›naturen‹ i form av regn og vind, sludd og snø, og at naturen er farlig er ikke bare overtro. Mange mennesker har mistet livet i kamp mot ›naturkreftene‹, og på mange måter blir menneskets kamp mot naturen en slags styrkeprøve [...]. De som ikke er sterke nok klarer seg ikke, mens de som er det, overlever – og kommer styrket ut av det.
21 Ebd., S. 142. 22 Vgl. Niels Penke: Vampirtristesse und Sozialbauelend. Sozialrealistisches Erzählen in John Ajvide Lindqvists Vampirroman So finster die Nacht (2004). In: Jörg van Bebber: Dawn of an Evil Millennium. Horror/Kultur im neuen Jahrtausend. Darmstadt: Büchner, 2011.
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Ved å legge handlingen ute i naturen, kan en altså si at horrorfilmens protagonister er nødt til å kjempe to kamper på en gang – den ene mot monsteret i filmen, og den andre mot selve naturen.«23
Unter den zweifellos zahlreichen Filmen und Geschichten, die in der freien Natur spielen, finden sich des Weiteren ja auch solche, in denen menschengemachte Gebäude oder Gefährte wie Schiffe, Hotels, Krankenhäuser und Wohnhäuser eine ebenso gruselige Rolle spielen und manchmal Attribute des Vegetativen und Kognitiven zu besitzen scheinen (z.B. SKJULT [NO, R: Pål Øie, 2009]). Diese können damit in der Tradition des ›haunted house‹ gesehen werden und ein Ersatz für oder eine Variation der ›gothic castles‹ sein, von denen Leffler sagt, es gäbe sie in der skandinavischen Horrorkultur schlichtweg nicht. In ANTICHRIST (DK, R: Lars von Trier, 2009), gibt es wiederum eine märchenhaft lebendige Natur, eine beseelte ›wilderness‹, eine ›gothic topography‹. Doch als ein Symbol für die psychischen Zustände der Charaktere, ist sie keine profane Umwelt oder Landschaft, die unvermittelt Kräfte freisetzt, die zuvor bloß niemand wahrgenommen hat. Dazu spielt der Film weder in Skandinavien noch wurde er dort gedreht. Dennoch kann und soll nicht abgestritten werden, dass die gezeigte skandinavische Landschaft eine Horroratmosphäre begünstigt, die hilft, das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, Kultur und Natur, Mensch und Tier, Zivilisation und Wildnis bzw. Wildheit zu thematisieren oder gar effektvoll in Frage zu stellen. So bietet Kvarsvik dann auch noch eine lebensweltliche Erklärung für den Gebrauch der Natur in norwegischen
23 Kvarsvik: Da skrekken kom til Norge, S. 124. Hervorhebung im Original. Meine Übersetzung: »NorwegerInnen mussten zu jeder Zeit gegen das kämpfen, was wir als ›Natur‹ in Form von Regen, Wind, Graupel und Schnee kennen, und dass die Natur gefährlich ist, ist nicht bloß Aberglaube. Viele Menschen haben Ihr Leben im Kampf gegen ›die Naturkräfte‹ verloren und auf viele Weisen wird der Kampf des Menschen gegen die Natur zu einer Art Bewährungsprobe [...]. Die, die nicht stark genug sind, schaffen es nicht, während die, die es sind, überleben – und gestärkt daraus hervorgehen. Indem die Handlung in die Natur verlegt wird, kann man also sagen, dass die ProtagonistInnen des Horrorfilms zwei Kämpfe auf einmal kämpfen müssen – den einen gegen das Monster im Film, den anderen gegen eben diese Natur.«
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Horrorfilmen an. Das Setting appelliere an die gewohnten sinnlichen Eindrücke der RezipientInnen und wirke wie ein gemeinsamer Nenner. »[E]n annen årsak til at de aller fleste norske horrorfilmer foregår ute i naturen, er nettopp dette at nordmenns forhold til natur er såpass sterkt – og at naturen dermed fungerer som felles referanseramme og noe alle kan forholde seg til. I tillegg til bruk av kjente lyder osv. blir det å legge handlingen til norsk natur, noe som på mange måter legger handlingen til seernes eget, kjente miljø. I stedet for å la det som skjer utspille seg på en fremmed planet, skjer handlingen i et miljø som minner mye om det området en selv er fortrolig med. Selv for bymennesker trenger en som regel ikke å reise sålangt for å komme ut av byen og inn i den norske ›villmarka‹.«24
Doch da diese Filme auch von Nicht-NorwegerInnen bzw. Nicht-SkandinavierInnen gesehen werden, dürften auch kommerzielle Erwägungen auf der ProduzentInnen-Seite bestehen, die faszinierende skandinavische Natur, wie sie nicht zuletzt auch durch den Tourismus bekannt ist, medial zu nutzen. »Og når det gjelder det at naturen er ›norsk‹, kan det også tenkes at en av grunnene til at denne blir så hyppig brukt, er for å få filmene til å skille seg ut internasjonalt og skape et særegent uttrykk. Flere av filmene [...] åpner med store oversiktsbilder av et norsk landskap, og Død snø åpner til og med med musikken I Dovregubbens hall av Edvard Grieg. I tillegg går i filmen Martin rundt med en genser med et tydelig norsk flagg på. På den måten tydeliggjøres det at filmen er norsk, og at den er noe ›annet‹ enn det de utenlandske seerne er vant til å se. I skrivende stund er Død snø solgt til
24 Ebd., S. 125 f. Hervorhebung im Original. Meine Übersetzung: »[E]ine andere Ursache dafür, dass die meisten norwegischen Horrorfilme in der Natur spielen, ist ja gerade, dass das Verhältnis der NorwegerInnen zur Natur so stark ist – und die Natur damit eine gemeinsame Referenz darstellt und etwas, zu dem sich alle verhalten können. Zusätzlich zu dem Gebrauch bekannter Geräusche usw. wird, indem die Handlung in die norwegische Natur verlegt wird, auf vielfältige Weise die Handlung in ein den ZuschauerInnen eigenes, bekanntes Milieu verlegt. Anstelle das Geschehen auf einem fremden Planeten spielen zu lassen, geht die Handlung in einem Milieu vor sich, die stark an die Umgebung erinnert, mit der man selbst vertraut ist. Selbst Stadtmenschen müssen in der Regel nicht lange fahren, um heraus und in die ›norwegische Wildnis‹ zu kommen.«
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ca. 50 land, blant annet til Jemen, der det er liten tvil om at den norske naturen vil oppleves som svært eksotisk.«25
Die Natur tritt hier als quasi-nationales Symbol gleichberechtigt neben Kulturgüter wie Architektur, Musik, Literatur, Kunst und Religion.26 Sie scheint gar mit ihr verwoben und sei dabei für eine ganz eigene spezifisch norwegische Horrorkultur wie gemacht, die neben Film auch Musik inkludiere. Deshalb fragt und fordert Vegard Larsen in einem Artikel im Dagbladet, den Kvarsvik zitiert: »Hvorfor dyrker ikke norske filmskapere horrorsjangeren? Vi har hensynsløs natur, beksvarte netter og øde landskap. Kulturarven består av myter og sagn om troll, nøkken og det som verre er. Og i ei tid da det er tørke på horrorfilmfronten internasjonalt, og Hollywood-filmene som produseres nærmest bare er reinnspillinger av gamle klassikere, har vi muligheten til å seile opp som ledernasjon. Midnattssolas, svartmetallens og skrekkfilmens rike!«27
25 Ebd., S. 126. Hervorhebung im Original. Meine Übersetzung: »Und wenn es darum geht, dass die Natur ›norwegisch‹ ist, ist auch denkbar, dass einer der Gründe für ihren häufigen Gebrauch ist, dass sich die Filme international abheben und einen eigenen Ausdruck erschaffen sollen. Mehrere der Filme beginnen mit großen Panoramen einer norwegischen Landschaft und DØD SNØ beginnt sogar mit der Musik I Dovregubbens hall [= In der Halle des Bergkönigs, Anm. J.W.] von Edvard Grieg. Dazu läuft Martin in dem Film mit einem Pullover mit einer deutlich sichtbaren norwegischen Flagge darauf. Auf diese Weise wird herausgestellt, dass der Film norwegisch ist und dass es sich hierbei um etwas ›anderes‹ handelt, als die ausländischen ZuschauerInnen gewohnt sind zu sehen. Zum jetzigen Zeitpunkt wurde DØD SNØ in ca. 50 Länder verkauft, unter anderem in den Jemen, wobei kaum ein Zweifel besteht, dass die norwegische Natur dort als ziemlich exotisch erlebt wird.« 26 In der aktuellen Broschüre der offiziellen schwedischen Tourismusvertretung Visit Sweden heißt es auf Seite 34 in der Kategorie Natur: »Die Natur anbeten – unsere schwedische ›Nationalreligion‹. Die Liebe der Schweden zur Natur ist vermutlich unsere stärkste nationale Eigenschaft.« Schweden. Ihr offizieller Schwedenführer. Visit Sweden. 2011. 27 Vegard Larsen: God nedsabling. Dagbladet 2006. Zitiert nach Kvarsvik: Da skrekken kom til Norge, S. 126. Meine Übersetzung: »Warum kultivieren nor-
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Norwegen hat eine Horrornatur und ist deshalb prädestiniert für eine Horrorkultur? Diese simple Formel greift zu kurz, denn es wird dabei vergessen, dass besonders der postmoderne Horrorfilm gerade nationale Selbstbilder gekonnt auf den Prüfstand stellt und hinterfragt. In vielen Filmen übernimmt die Natur daher nicht einfach die Rolle eines weiteren Monsters wie Kvarsvik und Leffler es als Erklärung anbieten, sondern der Film inszeniert Terror und Tod in der schönen Landschaft während harmloser Freizeitaktivitäten und karikiert so auch das patriotische Verhältnis zur Natur, zum Landleben und zum Wander-, Berg- und Wintersport. Der Schrecken schlägt zu, wenn übers Wochenende eine ganze Nation dem Einen nachgeht: ›friluftsliv‹ (dt. etwa Aktivität/Erholung im Freien). In VILLMARK (NO, R: Pål Øie, 2003) will ein Chef seine jungen, von der Natur entfremdeten Angestellten hart für den Alltag28 machen, doch die Survival-Tour artet aus, so dass es für sie am Ende tatsächlich ums Überleben geht. In FRITT VILT ertönt zu Anfang des Films aus dem Autoradio die aktuelle Wettervorhersage für die Osterfeiertage, die traditionell für Kurzurlaube genutzt werden, mit dem Verkehrshinweis, dass nun viele Menschen unterwegs zu den Wintersportgebieten seien. Kurz zuvor im Vorspann wurden noch Zeitungsartikel und Nachrichtenmeldungen collagenhaft eingeblendet, die darüber aufklärten, dass laut Statistik über Ostern jedeR vierte NorwegerIn in die Berge fährt, aber auch von verschwundenen und umgekommenen WandererInnen und SkifahrerInnen berichteten. In FVIII wundert sich der örtliche Polizist über die mangelhafte Ausrüstung und Kondition der Ausflügler, die verbotenerweise das geschlossene Hotel suchen wollen, in dem 12 Jahre zuvor der Junge und seine Eltern verschwanden.29 In DØD SNØ (NO, R: Tommy Wirkola, 2009) ist es ein Wandersmann
wegische FilmemacherInnen nicht das Horrorgenre? Wir haben brutale Natur, pechschwarze Nächte und Einöde. Das Kulturerbe besteht aus Mythen und Sagen über Trolle, den Nöck und Schlimmeres. Und in einer Zeit, in der an der internationalen Horrorfilmfront Ebbe ist und die Hollywood-Filme, die produziert werden, fast nur Neuverfilmungen alter Klassiker sind, haben wir die Möglichkeit, uns zur Leitnation aufzuschwingen. Das Reich der Mitternachtssonne, des Black Metals und des Horrorfilms!« 28 Den Alltag im Film-/Fernsehbusiness übrigens! 29 Die Region Jotunheimen (dt. das Heim der Riesen), die in allen drei FRITT VILT-Filmen bzw. ihren Paratexten als Ort des Geschehens erwähnt wird, liegt
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aus der Region, der die Gruppe Studierender, die vergnügt mit Schneescootern zu einer einsamen Hütte fahren, kritisch nach ihrem Respekt vor der Umgebung und der Lokalgeschichte befragt. Der Horror findet diejenigen, die in den Filmen die Natur als ihren erweiterten Garten, Partykeller oder Laufsteg betrachten, da es zu ihrem Selbstverständnis gehört, sich unreflektiert die Natur zu Eigen zu machen, obwohl sie in vielen Fällen selbstverständlich für sich die Stadt mit ihren Annehmlichkeiten und Zerstreuungen als Alltagsumfeld gewählt haben. ›Friluftsliv‹ ist Tradition und Sport, aber auch längst Event und Mode; der high-end Outdoor-Ausstatter norrøna war gar einer der Hauptsponsoren von FRITT VILT. Auf der intradiegetischen Ebene erleben wir die Natur also vielleicht als brutal gegenüber den ProtagonistInnen, doch die eigentliche Brutalität besteht außerfilmisch darin national-relevante Symbole, Orte und Traditionen zu entehren, indem Horror fiction sie mit Gewalt, Perversion und Tod in Verbindung bringt. Als weitere Verschränkung mit anderen Kunstformen, Medien und besonders aktueller Jugend- und Popkultur dient die Musik. Sie unterstützt zugleich sowohl die schon angesprochenen humoristischen und sarkastischen Züge in den Filmen als auch die touristisch-mediale Bekanntheit von dargestellten Land und Leuten. Als am Ende von FRITT VILT Jannicke als einzige der Gruppe überlebt, schließt der Film mit dem Song All my Friends are dead der international bekannten norwegischen Punkrockband Turbonegro. In DØD SNØ wird die große Schlacht von Martin und Roy gegen die Nazizombies mit dem Gute-Laune-Schlager Min dag von Åge Aleksandersen untermalt. Der Trailer zum Film, der auch die besagte Schlachtszene zeigt, ist indes gar mit dem Schlusschor über Schillers Ode an die Freude aus dem Finalsatz von Beethovens 9. Symphonie in d-Moll op. 125 unterlegt und zitiert damit die filmische Unerhörtheit beides – erhabene klassische Musik und sinnloses Gemetzel – zusammenzubringen, wie es beispielsweise auch APOCALYPSE NOW (US, R: Francis Ford Coppola, 1979) mit der Einspielung des Walkürenritts von Richard Wagner während eines amerikanischen Helikopterangriffs im Vietnamkrieg machte.
im Herzen des Landes, ist die Wiege des norwegischen Bergsports und besticht mit einer beeindruckenden alpinen Landschaft. Schon der Dramatiker Henrik Ibsen lässt seine Figuren Brand (1866) und Peer Gynt (1867) in den gleichnamigen Theaterstücken teilweise dort agieren. Siehe Henrik Ibsens skrifter. Bd. 5. Vigdis Ystad (Hg.) Universitetet i Oslo. Oslo: Aschehoug, 2007.
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Auch im nun folgenden zu besprechenden Film verortet als erstes Musik die Handlung und stimmt gleichzeitig auf Bedrohung und Gewalt ein. In der Eingangsszene von REYKJAVÍK WHALE WATCHING MASSACRE wird eine anomische, rauschhafte Atmosphäre verbreitet, indem die aggressive Stimmung in einem Nachtclub skizziert wird, in dem gerade die isländische Hardrockband Dr. Spock auftreten. Als Untermalung des DVD-Menüs ist dieselbe Band zu hören, wie sie den größten Single-Erfolg der bekanntesten isländischen Sängerin Björk It’s Oh so Quiet neu interpretiert. Gepfiffen und gesummt zieht sich das Lied im Übrigen wie ein musikalischer roter Faden durch den gesamten Film. Wie in FRITT VILT und vielen anderen aktuellen Produktionen werden in RWWM reihenweise nationale Klischees, Selbst- und Fremdbilder ironisch desavouiert, und hüben wie drüben der Nordsee ist aktueller Horrorfilm nur als global kommunizierendes intertextuelles Phänomen zu erleben. REYKJAVÍK WHALE WATCHING MASSACRE hatte seine Uraufführung am 4. September 2009 auf Island und ist einer von bisher wenigen isländischen Horrorfilmen. Auf isländisch firmiert er als ›spennutryllir‹, was wortwörtlich Spannungsthriller bedeutet, Horrorfilm dagegen heißt auf isländisch ›hryllingsmyndir‹. Júlíus Kemp, der bisher hauptsächlich als Produzent tätig war, führte Regie und das Drehbuch stammt von Musiker, Komponist und Schriftsteller Sjón. Im Ausland wird er auch unter den Titeln HARPOON und HARPOON: WHALE WATCHING MASSACRE vertrieben. Die deutschen Touristinnen Hannah (Ragnhildur Steinunn Jónsdóttir) und Annette (Pihla Viitala) amüsieren sich in einem Club in Reykjavík, wo ein Hardrock-Konzert stattfindet. Die Stimmung ist der Musik entsprechend wild und aggressiv. Einige Gäste streiten und prügeln sich. Hannah geht schließlich mit einem Isländer nach Hause, während Annette allein ins Hotel geht, da sie für den nächsten Morgen die Teilnahme an einer Whale Watching-Tour gebucht hatten. Tags darauf sammeln sich am Kai das japanische Ehepaar Yuko (Miwa Yanagizawa) und Nobuyoshi Tanaka (Carlos Takeshi) samt ihrer Dolmetscherin Endo (Nae Yuuki), die AmerikanerInnen Leon (Terence Anderson) und Marie Ann (Miranda Hennessy) sowie der betrunkene und pöbelnde Franzose Jean Francois (Aymen Hamdouchi). Außerdem sind noch drei ältere Frauen dabei, von denen zwei, Helga (Halldóra Geirharðsdóttir) und Asa (Guðlaug Ólafsdóttir), Isländerinnen und eine, Signy (Hanna María Karlsdóttir), wahrscheinlich Norwegerin ist, die sich grob sexistisch und rassistisch über den afroamerikanischen Leon
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äußern. Annette, die verschlafen hat, kann gerade noch auf das Schiff springen, bevor es ablegt. Am Kai versuchte ihnen zuvor ein junger einheimischer Mann (Snorri Engilbertsson), Souvenirs zu verkaufen. In der Kombüse eines irgendwo vor Anker liegenden Walfängers isst eine Mutter (Guðrún Gísladóttir) mit ihren beiden Söhnen Tryggvi (Helgi Björnsson) und Siggi (Stéfan Jónsson) während sie sich über den Niedergang Islands unterhalten. Einst seien sie ein Land stolzer Wikinger und Walfänger gewesen, jedoch beraubten heutige internationale Artenschutzabkommen sie ihrer Arbeit und Lebensgrundlage. Zur selben Zeit informiert auch Kapitän Pétur (Gunnar Hansen) gerade seine Passagiere auf dem Fischerboot Póseidon, das für diesen Zweck als Ausflugsschiff dienen muss, über Island und betont, dass das Land stolz sei nach Norwegen und Japan auf dem dritten Platz unter den Walfangnationen zu sein. In einigen Szenen werden die Charaktere skizziert: Annette lernen wir als sorgende, verständnisvolle Person kennen, ebenso Leon, der Japaner entpuppt sich als unsympathischer Despot, wenn er schlecht über seine Frau spricht und Endo respektlos behandelt. Die drei älteren Frauen empören sich sogleich über sein Verhalten und bedenken ihn mit einem Schimpfwort. Annette, die sich beim Sprung aufs ablegende Schiff verletzt hatte, wird von Björn (Thor Kristjansson), dem Kollegen Péturs, verarztet und er möchte ihr das Schiff zeigen. Die isländische Familie auf dem Walfänger beschäftigt sich mit dem Anfertigen von kleinen Walfiguren, als sie einen Funkspruch der Póseidon hört. Kapitän Pétur findet keine Wale zum Beobachten und er will sich erkundigen, ob vielleicht andere Seeleute in der Nähe Wale gesichtet haben und die Position durchgeben können. Tryggvi gibt ihm einen Kurs durch und gemeinsam geht die Familie dann in eine Kabine des Schiffs und ermordet einen englisch sprechenden Mann, den sie dort gefangen hält. Auf der Póseidon führt Björn Annette in eine Kajüte und befiehlt ihr, sich auf das Bett zu legen. Jean Francois klettert derweil auf einen Mast an Deck. Als er das Gleichgewicht verliert und herunterstürzt, durchbohrt er dabei Pétur mit einem Stab, den er im Fallen gegriffen hatte. Auf der Suche nach Hilfe, entdeckt Marie Ann Björn, der dabei ist Annette, zu vergewaltigen. Sie kann ihn zwar überreden herauszukommen, um nach Pétur zu sehen, geht jedoch weg, als Annette sie um Hilfe bittet. Björn unternimmt jedoch nichts Hilfreiches, sondern setzt sich ins Beiboot und fährt weg. Die Stimmung unter den Touristen wird nun aggressiv verzweifelt. Die Mobiltelefo-
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ne haben auf See keinen Empfang. Leon und Marie Ann beruhigen Pétur, der kurz darauf verstirbt. Endo findet eine Leuchtrakete, die von Leon abgefeuert wird. Als ein kleineres Motorboot auf sie zukommt, erwarten sie deshalb Rettung. Es ist Tryggvi vom Walfänger, der sie an Bord seines Schiffes bringt, da angeblich ein aufkommender Sturm verhindere, den nächsten Hafen anzusteuern. Leon hat sofort das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt, doch spätestens als Siggi, der andere Sohn, einer der Isländerinnen einen Hammer in die Stirn rammt, brechen alle in Panik aus und flüchten in verschiedene Richtungen. Der schockstarren anderen Isländerin schneidet Tryggvi die Kehle durch und auch Mamma schnappt sich eine Harpune und geht auf die Jagd. Nobuyoshi springt ins Meer und versucht davonzuschwimmen, doch Tryggvi kann ihn mit einer hydraulischen Walfangkanone töten. Annette erwacht gefesselt aus ihrer Bewusstlosigkeit und muss erdulden, von Siggi mit grünem Schleim und Blut beschmiert zu werden, der sie so zu einer »good fishwife» machen will. Tryggvi kommt und macht ihm deutlich, dass sie zuerst Leon unschädlich machen sollten, bevor sie sich den anderen widmen. Doch Siggi hegt Ehrfurcht vor Leon, den er als »svarti Jésus«, schwarzen Jesus, bezeichnet. Leon und Marie Ann entdecken Mamma, die Signy mit einer Harpune traktiert und fordern sie auf, das zu unterlassen. Gleichzeitig schickt Endo die traumatisierte und willenlose Yuko zwischen die Leute, deren Rucksack sie mit gefundener Munition und Spiritus befüllt hat, nicht ohne sich ihre Papiere und Wertsachen anzueignen. Im Gerangel durchbohrt Mamma Signy und Yuko, die mit einem Feuerzeug, das Endo ihr in die Hand gedrückt hatte, ein Feuer entzündet, das sie beide verbrennt und auch Mamma erfasst. Annette kann sich unterdessen befreien und versucht hinauszufinden. Endo gelingt es, das kleine Motorboot zu starten, auf dem sich auch Jean Francois versteckt hat, der sie anfleht, ihn für Geld mitzunehmen. Marie Ann und Leon bitten sie auf sie zu warten, doch Endo fährt davon. Hannah hat derweil in Reykjavík isländische Freunde gefunden. Als sie Annette auf dem Handy anruft und tatsächlich erreicht, glaubt sie Annette, ihre unglaublich klingende Horrorgeschichte nicht. Leon und Marie Ann bemerken, dass Annette noch am Leben sein muss, und ersterer will sie suchen. Endo und Jean Francois haben Land erreicht und kommen zu einem Leuchtturm. Leon findet zur selben Zeit Annette und kann sie an Deck bringen. Marie Ann muss auf der Brücke mit Siggi kämpfen und schießt mit Leuchtmunition auf ihn. Ein Geschoss geht dabei zum Fenster hinaus
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und erfüllt ihren eigentlichen Zweck, während ein zweites in Siggis Auge explodiert. Endo und Jean Francois treffen im Leuchtturm Anton, den jungen geistig und körperlich etwas eingeschränkten Mann, der ihnen am Anfang des Ausfluges Souvenirs verkaufen wollte. Abbildung 4: REYKJAVÍK WHALE WATCHING MASSACRE
Filmstill, The Icelandic Filmcompany u.a., 2009. Carlos Takeshi
Unterdessen entdeckt die Küstenwache die Póseidon. Sie sehen den toten Pétur und das Signal vom Walfänger. Marie Ann und Annette können vom Schiff springen und in eine Rettungsinsel klettern, während Leon an Bord mit Tryggvi kämpft. Er kann ihn vorübergehend einsperren und ermutigt die Frauen, die Rettungsinsel vom Schiff zu lösen und sich retten zu lassen, er selbst will an Bord auf die Küstenwache warten. Endo entdeckt derweil, dass Anton nur vorgibt, behindert zu sein und verspricht ihm Geld, wenn er ihr hilft. Er tötet Jean Francois und Endo setzt den Leuchtturm in Brand, was die Aufmerksamkeit der Küstenwache auf sich zieht. Annette und Marie Ann werden in ihrer Rettungsinsel nicht entdeckt und Marie Ann gibt Annette dafür die Schuld. Siggi kann Tryggvi noch befreien, bevor er stirbt, und Tryggvi und Leon treffen sich zum Showdown auf dem Deck, das nun von der Küstenwache beleuchtet und beobachtet wird. Die Beamten können die Situation jedoch nicht einschätzen und da Leon Tryggvi ein Gewehr entreißen konnte, glauben sie, dass die Gefahr von ihm ausgeht. Sie erschießen Leon, der gerade noch abdrücken kann und somit auch Tryggvi erschießt. Marie Ann und Annette werden von einem Orca attackiert und bei einem Streit darum, wie sie sich nun verhalten sollen, stößt Marie Ann Annette ins Meer. Beim Versuch, das Tier zu vertreiben, reißt der Wal Marie Ann mit in die Tiefe. Die letzten Szenen spielen in einem Flugzeug, in
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dem eine erleichterte und vergnügte Endo sitzt, die sich Yukos Identität angeeignet hat, und auf der Titelseite des Fréttablaðið vom »Blódbað í hvalveiðiskipi« (dt. Blutbad auf Walfangschiff) liest. Im Meer unter dem Flugzeug treibt Annette. Während der Titelpate und Klassiker THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (US, R: Tobe Hooper, 1974) als Sozialkritik gelesen wurde, die eine dystopische Vision von politisch und wirtschaftlich vernachlässigter Landstriche und ihrer degenerierten asozialen BewohnerInnen zeichnet, kommt bei RWWM die Ökokritik hinzu. Die Reisenden sowie Kapitän Pétur und Larusson, der Reiseveranstalter, nehmen teil an dem Diskurs, dass das Beobachten der bedrohten Wale eingebunden in ein Tourismuskonzept eine unblutige, bessere, sanftere Art der Ausbeutung sei, durch das eine Volkswirtschaft ja ebenfalls Einnahmen erzielen könne. Sehr kreativ und sarkastisch wird jedoch ein komplexerer Gedankengang ausgebreitet, da reine Sozialkritik oder reine Ökokritik nicht das Mensch-Natur-Gefüge als Ganzes erfassen kann. RWWM fragt danach, wer sich ein reines Gewissen leisten kann, wer es sich leisten kann, zu verzichten. Internationale Naturschutzabkommen sichern Staaten mit fragilen Ökosystemen zwar das Wohlwollen und die Anerkennung aufgeklärter Partnerstaaten. Doch lassen sie auch Menschen in einem Spannungsfeld von Tradition, Ökonomie und Ökologie zurück, deren Lebensgrundlage damit innerhalb einer oder weniger Generationen verschwindet und sich verlagern muss.30 In der Filmrealität von RWWM, scheinen nicht alle zu profitieren, weder von einem wieder eingeschränkt betriebenen Walfang, noch vom sich auf Naturphänomene konzentrierenden Tourismus. Die einstige Walfang-Familie um Mamma versucht sich nun mit der Herstellung kleiner Walfigurinen für Touristen über Wasser zu halten, führt aber offensichtlich ein ärmliches unattraktives Leben auf ihrem alten Schiff. Sie beklagen, dass eine fern von ihrer Le-
30 Durch ein Moratorium der Internationalen Walfangkommission wurden 1986 alle Fangquoten für alle Walarten auf Null gesetzt. Dies ist jedoch rechtlich nicht bindend und so gibt es (inzwischen wieder) einige Länder, welche Walfang betreiben. Anders als die öffentlich kaum beachteten Faröer und Grönland, stehen die größeren Nationen Japan, Norwegen und Island immer wieder in der Kritik, die sich vorbehalten, der angeblichen Tradition des Walfangs nachzugehen. Island nahm 2003 den wissenschaftlichen und 2006 den kommerziellen Walfang wieder auf.
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benswirklichkeit vermutete abstrakte Weltpolitik Island und somit auch sie von selbstständigen Jägern zu abhängigen Dienstleistern gemacht hat. Aus den amerikanischen ›hillbillies‹ sind hier die isländischen ›fishbillies‹ geworden, wie sie einE anonymeR RezensentIn nennt31. In RWWM treffen also zwei ethische Ansprüche – Tierschutz und Menschenwürde – aufeinander und verweben sich zu einem interessanten Problem, für das einige schwarzhumorige Bilder gefunden wurden. Nachdem die ZuschauerInnen also von Mamma, Tryggvi und Siggi schon erfahren haben, dass es um Islands Seefahrerstolz aus ihrer Sicht nicht zum Besten bestellt ist, hören sie kurz darauf von Kapitän Pétur, dass sich das Land nach Japan und Norwegen auf »dem dritten Platz« unter den Walfangnationen befindet.32 Nun fällt auf, dass sich unter der multinationalen Touristengruppe drei JapanerInnen und wahrscheinlich auch eine Norwegerin befinden (die Nationalität einer der älteren Frauen wird nicht erwähnt, die drei reden jedoch englisch miteinander; Signy ziemlich akzentfrei und Asa und Helga mit einem starken isländischen Akzent). Es treffen hier also VertreterInnen der drei großen Walfangnationen aufeinander und das drittplatzierte Island macht nun Jagd auf Japan und Norwegen. Durch den Film töten sie sich gegenseitig auf ›nationaltypische‹ Art und verhandeln auf diese Weise, wer von ihnen auf Platz eins, zwei oder drei ist. Als Nobuyoshi von Bord springt und an Land schwimmen will, erschießt ihn Tryggvi mit einer Harpunenkanone und lässt ihn mit einer Winde zurück zum Schiff holen, an dessen Heck seine Leiche dann baumelt. Mamma fordert Signy auf, wie ein Wal zu singen, bevor sie sie (deshalb würde es Sinn ergeben, wenn sie eine Norwegerin wäre) und Yuko mit einer Harpune aufspießt, woraufhin Yuko kamikazegleich die von Endo gebastelte Brandbombe zündet, die sie alle drei tötet. Endo ersticht am Ende Anton, den Leuchtturmwärter, mit zwei Essstäbchen. Er trägt dabei ein Sweatshirt, auf dem japanische Schriftzeichen um einen roten Totenkopf angeordnet sind, dessen Schädelwölbung an den roten Kreis in der japanischen Flagge erinnert. Da nicht angedeutet wird, dass Annette aus dem Meer gerettet wird und Endo im Flugzeug am sichersten erscheint, triumphiert Japan. Auch Jean Francois
31 REYKJAVÍK WHALE WATCHING MASSACRE auf IMDb.com: http://www.imdb. com/title/tt1075749/ Stand 28.02.12. 32 Wie diese Zählung erfolgt, wird im Film nicht erläutert, sie lässt sich aber mit Walfang-Allgemeinbildung akzeptieren.
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wird als Franzose geschichtsbewusst enthauptet. Marie Ann muss feststellen, dass nicht alle Orcas gutmütige Menschenversteher wie in Hollywoods FREE WILLY (US, R: Simon Wincer, 1993) sind, und Leon fällt in einer unübersichtlichen Situation der spontanen Fehleinschätzung der weißen Gesetzeshüter über Gut und Böse zum Opfer. Zu guter Letzt soll noch eine spezielle binationale Verbindung erläutert werden: Ähnlich wie die Crossovers KING KONG VS. GODZILLA (J, R: Ishiro Honda, 1962) oder FREDDY VS. JASON (US/I, R: Ronny Yu,2003), so ist auch das einzelne erneute Auftauchen von fiktiven oder realen Persönlichkeiten aus dem globalen Horroruniversum eine Form von Zitation, Intertextualität und Selbstreferenzialität und kann damit für Wiedererkennung und somit positive Publikumsreaktionen sorgen. Dass in RWWM ein alter Bekannter des Genres auftritt, fällt nicht sofort auf. Er ist älter geworden, er trägt diesmal keine Maske und er steht auf der guten Seite: Gunnar Hansen als Kapitän Pétur. Der in Reykjavík geborene isländisch-us-amerikanische Schauspieler ist einem breiten Publikum durch seine Rolle des Killers Leatherface in eben jenem pate-stehenden THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE von 1974 bekannt geworden. Wie in anderen Kunstformen und Filmgenres, so haben auch Horrorfilm-Bösewichte das paradoxe Potential zu berühmtberüchtigten Publikumslieblingen zu werden. Aus dem Vorangestellten wird deutlich, auf welche Weisen die usamerikanische Horrorkultur seit Jahrzehnten beständiger Impulsgeber für europäische und darunter skandinavische Produktionen ist, wie aber wiederum auch skandinavische Filme die große US-Filmindustrie beeinflussen können. Motive, Stoffe, Erzählweisen und Techniken, die überzeugen, werden aufgegriffen und es wird mit ihnen weiter gearbeitet, sie fließen in die skandinavischen Filmkulturen ein, bereichern sie und verhelfen ihnen zu neuer Dynamik. In umgekehrter geographischer Richtung scheint die kulturelle Bereicherung indessen anders zu verlaufen. Originelle und originäre europäische und skandinavische Stoffe (oder solche, die dafür gehalten werden) werden in den USA direkter aufgenommen, indem Remakes mit amerikanischen SchauspielerInnen entstehen und die Handlung mitunter nach Nordamerika verlagert wird. In FRITT VILT sind die Film-Ikonen des ›final girl‹ und des ›Hotels im Schnee‹ aufgegriffen und nicht nur nach Norwegen, sondern auch in norwegische kulturelle Kontexte überführt worden. Dabei kann verzeichnet werden, dass der beharrliche und globale Gebrauch eines Bildes es um wei-
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tere Bedeutungsebenen bereichert. RWWM bedient sich eines (leicht abgewandelten) Film-Titels und sogar des Personals eines Marksteins der Horrorfilmgeschichte sowie einiger seiner Motive. Diese Translozierung wurde ebenfalls mit genuin isländischer Färbung durch aktuelle national-politische Fragen und Ausstattung mit lokaler Popkultur vorgenommen. Was dadurch einmal mehr deutlich wurde: Auch der skandinavische Horrorfilm hat sich im letzten Jahrzehnt ein Stück weit aus seiner subkulturellen Randlage befreit und erfährt heute mehr Beachtung. Er hat dabei nichts von seinem Potenzial verloren, auch große gesellschaftliche oder gar philosophische Fragen mit zeitgemäßen Mitteln zu diskutieren. Mit der filmischen Verknüpfung von Gewalt, Leiden, Tod, fragmentierter und unästhetischer Körperlichkeit auf der einen Seite und quasi-heiligen Traditionen und nationalen kulturellen Selbstbildern auf der anderen Seite sowie einer Einbettung des Ganzen in eine von schwarzem Humor und Zynismus untermalten Dramaturgie ist der aktuelle Horrorfilm und dazwischen der skandinavische ein regelmäßiger und zuverlässiger Lieferant von notwendiger Gesellschaftskritik.
(De-)Konstruktion von Rollenbildern Sex, Gender und Sexualität schwedischer Nachtwandler in Film- und TV-Produktionen B ENJAMIN R YAN S CHWARTZ Seit einigen Jahren kommt niemand mehr an den Vampiren vorbei: Die blassen Blutsauger sind ›in‹. Im Fernsehen warten neuerdings sogar Arztserien und Musical Comedys mit Vampirepisoden auf. Insbesondere das Erfolgsrezept ›junge menschliche Frau trifft charmanten Vampir‹ ist allgegenwärtig. Und immer wieder treffen wir auf die Frage: Was sagt die Popularität des antiquierten, dunklen Vampirs über den Feminismus oder Un-Feminismus der heutigen Generation aus?
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Widmet man sich dem Vampirismus aus wissenschaftlicher Perspektive, so fällt auf, dass ein kulturelles Interesse an Nachtwandlern im europäischen
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Jutta Wimmler: Bilder des Maskulinen. Der Vampir im Angesicht von Post- und Third-Wave-Feminismus. In: Theresia Heimerl / Christian Feichtinger: Dunkle Helden. Vampire im Spiegel religiöser Diskurse in Film und TV. Marburg: Schüren, 2011, S. 82. (Hervorhebungen im Original).
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Raum2 bereits lange Zeit vor dem ersten medialen Vampir-Hype bestand, da sich die Geschichte der volkstümlichen Berichterstattung über Wiedergängererscheinungen bis mindestens ins 16. Jahrhundert zurück verfolgen lässt.3 Auf literarischer Ebene gelang dem Vampir der Durchbruch allerdings erst nach der Veröffentlichung des berühmten Romans Dracula von Bram Stoker (1897), dessen Publikation ca. 300 Jahre nach den frühesten Aufzeichnungen erfolgte. Gewann er primär im Rahmen der Epoche der Schauerromantik an Popularität, so hat sich der Vampir inzwischen als klassische Horrorfigur etabliert4, die auf medialer Ebene nicht mehr wegzudenken ist. Dank der Erfindung des Cinématographen durch die Gebrüder Lumière im späten 19. Jahrhundert und der steigenden Beliebtheit öffentlicher Filmvorführungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand der Vampir eine weitere ›Bühne‹, auf der er sich inszenieren und präsentieren konnte. Seither wird der Figur des Nachtwandlers, wie auch Jutta Wimmler in ihrem Aufsatz Bilder des Maskulinen5 hervorhebt, eine bedeutsame Rolle zuteil, die nicht zuletzt auf seinen Facettenreichtum6 zurückzuführen ist: Der Vampir hat eine Wandlung vom südosteuropäischen Schreckgespenst zum medialen Exportschlager durchlaufen, er ist ›in‹ geworden und findet sich heute vor allem in einer Vielzahl internationaler Film- und TV-Produktionen wieder. Obgleich der gegenwärtige Vampir-Hype sicherlich auf die Vermarktung des amerikanischen Bestsellers Twilight (Stephenie Meyer, 2005) zurückgeführt werden kann, ist auch die Anzahl an Medienprodukten beeindruckend, die skandinavische Vampire in den Mittelpunkt ihrer Erzählung
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Claude Lecouteux: Die Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos. A. d. Frz. von Harald Erhardt. Düsseldorf u. a.: Artemis & Winkler, 2001. S. 183-205. Sowie: Annett Stülzebach: Vampir- und Wiedergängererscheinungen aus volkskundlicher und archäologischer Sicht. In: Concilium medii aevi 1 (1998). S. 97-121.
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Stülzebach: Vampir- und Wiedergängererscheinungen, S.103.
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Georg Seeßlen / Fernand Jung: Horror: Grundlagen des populären Films. Marburg: Schüren, 2006, S. 46, 52-56.
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Wimmler: Bilder des Maskulinen, S. 82-99.
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So wäre es beispielsweise vermessen von dem Vampir im sprichwörtlichen Sinne zu sprechen, da sich Vampirfiguren allein schon in ihrem Aussehen, sowie ihren Fähigkeiten und Absichten voneinander unterscheiden.
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stellten oder gar selbst im nordeuropäischen Raum gedreht wurden. Besonders interessant erscheint dabei der Blick auf schwedische Vampire, da sie mit den traditionellen Geschlechterrollen zu brechen scheinen und dementsprechend eine optimale Basis für genderwissenschaftliche Untersuchungen bieten. Der schwedische Vampir kann durchaus dominant-weibliche, feminisiert-männliche, a-, metro- oder bisexuelle Züge und Leidenschaften aufweisen, wie beispielsweise LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN (SE, R: Thomas Alfredson, 2008, dt. SO FINSTER DIE NACHT, 2008), TRUE BLOOD (US, R: Alan Ball, 2008-2011) und FROSTBITEN (SE, R: Anders Banke, 2006) gezeigt haben. Doch worin liegt die Besonderheit schwedischer Vampire genau? Was macht sie im Kontext gegenwärtiger gesellschaftlicher Veränderungen so interessant und worauf verweist ihr derartiger Bruch mit traditionellen Geschlechterrollen? Der folgende Aufsatz soll Antworten auf eben diese Fragen offenlegen, und wird sich dementsprechend vor allem aus genderwissenschaftlicher Perspektive mit schwedischen Vampirfiguren auseinandersetzen. Dabei soll zuerst in einem Grundlagenkapitel definiert werden, welche Charakteristika dem Wiedergänger als ›klassischer‹ Horrorfigur zuzuordnen sind und worin die Funktion medialer Vampire liegt. Im darauffolgenden Abschnitt wird dann Tomas Alfredsons LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN einer genderwissenschaftlichen Analyse unterzogen. Da der Film einen sehr ambivalenten Umgang mit dem patriarchalischen Rollenverständnis demonstriert und die Vampir-Protagonistin Eli dennoch als ›Andere‹ stigmatisiert, soll für die Untersuchung Simone de Beauvoirs feministische Theorie zum weiblichen Geschlecht herangezogen werden, die wiederum einen Exkurs zu Lacan impliziert. Das dritte Kapitel widmet sich dann dem Vampir als sexuellem ›Grenzgänger‹ und Performancekünstler und zeigt am Beispiel Eric Northmans (TRUE BLOOD) inwiefern sich Judith Butlers ›performatives‹ Modell medial inszenieren lässt. Hier soll vor allem die Entwicklung Erics fokussiert werden, da dieser sich auf sexueller und genderwissenschaftlicher Ebene von Staffel zu Staffel weiter zu entwickeln scheint. Abschließend gilt es, allgemeine Grundsätze der progressiven Funktion schwedischer Vampire im genderwissenschaftlichen Kontext zu formulieren.
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E NTSTEHUNG , C HARAKTER MEDIALEN V AMPIRS
UND
F UNKTION
DES
In erster Linie liegen der Figur des medialen Vampirs einzelne kulturhistorische Charakteristika von Wiedergängern zugrunde, die im volkstümlichen Bereich zu verorten sind, wo der Glaube an Vampire seit Jahrhunderten eine bedeutende Rolle spielt und sich dementsprechend ein Mythos um jene Nachtwandler entwickelte.7 Es ist davon auszugehen, dass dieser ›Mythos Vampir‹ ursprünglich dem Erklärungsversuch diverser Kulturen entsprang, die bestimmte Realereignisse ohne entsprechendes medizinisches Fachwissen zu entschlüsseln versuchten.8 Banalerweise ist die Entstehung des traditionellen Vampirglaubens folglich auf Pest und Cholera-Epidemien sowie Infektionskrankheiten zurückzuführen, die durch einen Tierbiss übertragen wurden. Vor allem die Tollwut9 ist an dieser Stelle anzuführen, da ihr Krankheitsverlauf einzelne Symptome aufweist, die sich als klassische
7 Vgl.: Lecouteux: Die Geschichte der Vampire, S. 183-205. Sowie: Stülzebach: Vampir- und Wiedergängererscheinungen, S. 97-121. 8
Siehe: Heinz Schott: Vampirismus in der Medizingeschichte. In: Christian Begemann / Britta Herrmann / Harald Neumeyer (Hgg.): Dracula Unbound. Kulturwissenschaftliche Lektüren des Vampirs. Freiburg u.a.: Rombach, 2008, S. 35-49. Und: Peter Mario Kreuter: Der Vampirglaube in Südosteuropa. Studien zur Genese, Bedeutung und Funktion. Rumänien und der Balkanraum. Berlin: Weidler, 2001, S. 81-101.
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Kreuter schreibt hierzu mit Verweis auf die Forschungsergebnisse des Neurologen Juan Gómez-Alonso: »Nach Gómez-Alonso entstand der Vampirglaube im Gefolge von Tollwutepidemien, wie sie beispielsweise in Ungarn von 1721 bis 1728 wüteten. Die Tollwut wird durch den Speichel eines infizierten Tieres übertragen, meist durch einen Biss [...]. Nach unspezifischen Symptomen wie Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und Rötung der Bißstelle stellen sich bei etwa 80% der Erkrankten die klassischen Merkmale ein: Unruhe, Panikattacken, dann Krampfanfälle vor allem der Schlund-, Kehlkopf- und Atemmuskulatur, die durch Lichteinwirkung und Spiegelungen hervorgerufen werden, völlige Schlaflosigkeit, schaumartiger Speichelfluß und brennender Durst, schließlich Hydrophobie und unkontrollierbare Wutanfälle [...]. Einzeln Elemente des Krankheitsverlaufs können sogar Elemente des Vampirglaubens erklären helfen.« Siehe: Kreuter: Der Vampirglaube in Südosteuropa, S. 100.
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Vampirmerkmale manifestiert haben: Gerötete Bissstellen, Unruhe, Lichtempfindlichkeit, Schlaflosigkeit und brennender Durst sind auch von den modernen ›Blutsaugern‹ nicht mehr wegzudenken, wurde der ›Mythos Vampir‹ doch im Rahmen der Konstruktion des medialen Wiedergängers um einige ›phantastische‹ Merkmale10 erweitert, die zur Stereotypisierung der Figur beitrugen. Auf literarischer Ebene muss insbesondere Dracula als prägend eingestuft werden, da Stoker mit seinem diabolischen Antihelden sozusagen den medialen ›Ur‹-Vampir erschuf11, der wiederum durch die Erfindung des Cinématographen projizierbar wurde und damit stoffliche Beschaffenheit erlangte.12 Ebenfalls wichtig ist zum Verständnis der Entwicklung des medialen Vampirs aus dem mythischen Glauben heraus, dass Film und Mythos generell stark aneinander gekoppelt sind. So schreibt beispielsweise Marcus Stiglegger in Ritual & Verführung: »Für den Filmtheoretiker und -praktiker Béla Balázs hat der Film »die Rolle übernommen, die früher einmal Mythen, Legenden und Volksmärchen gespielt haben«. Er meint damit nicht etwa Film als Mythenreservoir, sondern vielmehr als Produktionsform neuer Mythen [...]. [D]as mythische Denken ist zyklisch angelegt [...]. Auch das Medium Film eignet sich diese zyklische Form an: im westlichen Kino [...] werden gezielt immer dieselben Fabeln variiert und reproduziert, als gelte es, dem heiligen Mythos permanente Gegenwart zu gewähren. Das führt so weit, dass gar eine Erwartung des Publikums konstatiert werden kann, dass das Vertraute, aber stets neu Bewegende zyklisch wiederkehre.«13
Folglich ist das Medium Film als Katalysator von Mythen zu verstehen, da es diese nicht nur aufgreift, sondern sie vielmehr neu erfindet. Im Sinne Roland Barthes’ trägt der Film somit zu einer »Verdichtung« des ursprünglichen Mythos bei und reagiert dadurch gleichzeitig auf die Belange seines
10 Zur Bedeutung der Phantastik siehe: Seeßlen: Horror, S. 57-64. 11 Vgl.: ZDF Mediathek: Dracula lebt! Das Vermächtnis des Grafen. 12 Siehe: Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2001. Sowie: Siegfried Kracauer: Kult der Zerstreuung. In: Das Ornament der Masse. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1963, S. 311-317. 13 Marcus Stiglegger: Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel & Sinnlichkeit im Film. Berlin: Bertz + Fischer, 2006. S. 26-28.
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Publikums. In eben diesem Kontext ist auch der ›Mythos Vampir‹ mit all seinen stereotypen Grundeigenschaften (u. a. lange, spitze Zähne und Blutdurst) zu verstehen, obgleich er doch Spielraum für Variationen einzelner Eigenschaften bietet und dadurch Vampire per se als wandelbare Gestalten zur optimalen Projektionsfläche für ihr Publikum macht. Aufgrund seiner Wandelbarkeit wird dem medialen Vampir ebenfalls im Rahmen der Identitätssetzung eine bedeutsame Rolle zuteil. Christian Begemann, Britta Herrmann und Harald Neumeyer halten in diesem Zusammenhang fest: »Derjenige also, der im Spiegel kein Bild wirft, wird selbst zu einem Spiegel und lenkt den Blick auf das Unreflektierte, auf normalerweise ausgeblendete bedrohliche Bereiche und Möglichkeiten des Eigenen und damit auf ein anwesend Abwesendes. Zum einen versinkt dieses ›Andere‹ damit nicht im Ungewußten und Unbewußten, sondern wird dem Bewusstsein zugänglich gemacht. Zum anderen ist es keineswegs das schlechthin Inkommensurable, sondern wird entlang der Grenzen des Humanen phantasiert, die sich dabei als bedenklich durchlässig erweisen und deshalb immer neu errichtet und verteidigt werden müssen. Der Vampir läßt sich daher als eine li14
minale Figur deuten.«
Die Figur des Vampirs eröffnet demnach den Blick auf das Spiegelbild des ›Eigenen‹ und evoziert damit als liminal angelegter Charakter automatisch die Auseinandersetzung mit dem ›Anderen‹.15 Obwohl in seiner Korporalität vom Prinzip her dem Menschen gleich, repräsentiert der Vampir die ›Alternative‹, die Kehrseite des menschlichen Lebens. Nicht umsonst ist er daher als Nachtwandler angelegt, verkörpert in traditionellem Sinne insbesondere auf der Leinwand bis in die 1970er Jahre16 das negative menschli-
14 Christian Begemann / Britta Herrmann / Harald Neumeyer (Hgg.): Diskursive Entgrenzung. Der Vampir im Schnittpunkt kultureller Wissensbestände. In: Dracula Unbound, S. 16. 15 Auf die Begrifflichkeiten ›Eigener‹ und ›Anderer‹ aus Lacans Theorie zum Spiegelstadium soll im Analysekapitel zu LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN genauer eingegangen werden, da an dieser Stelle auch das theoretische Konzept dazu erläutert wird. 16 Vgl. dazu: Seeßlen: Horror, S. 70-71.
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che Ebenbild und zeichnet sich als Verführer aus, der sich bewusst auch über sexuelle Normen hinwegsetzt. Geht man nun davon aus, dass ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ lediglich soziale Konstrukte sind, die von keinem Menschen gänzlich erfüllt werden,17so verweist die Vampirfigur in ihrer Liminalität auf diesen tiefverwurzelt-zwiespältigen menschlichen Zustand und bietet zugleich die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem ›Anderen‹, was wiederum zur eigenen Identitätssetzung beiträgt. Begemann, Hermann und Neumeyer äußern sich auch hierzu in ihrer Entschlüsselung des Buchtitels Our Vampires, Ourselves (Nina Auerbachs, 1995), wo es heißt, dass der Vampir die Verhältnisse von »Eigenem« und »Anderem« zueinander aufzudecken vermag und somit auf eine »gleichzeitige Bewegung von Differenz- und Identitätssetzung« hinweist.18 Die Figur des Nachtwandlers kann demnach als Instanz betrachtet werden, die mitunter die Identitätsstiftung des Rezipienten prägt, da sie, so Begemann, Hermann und Neumeyer, »kulturellen Subjekten als Spiegel [...], als zweifellos dunkler und verzerrender, aber vielleicht auch zur Kenntlichkeit entstellender Spiegel«19 dient. Als liminal angelegte Figur überschreitet der Vampir somit oft Grenzen, dient als Ventil für menschliche Wünsche, Träume und Phantasien, besitzt die Fähigkeit von einem Stadium in das nächste überzugehen und vor allem aber die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von ›Eigenem‹ und ›Anderem‹ – oder im de Beauvoirschen Sinne formuliert ›Männlichkeit‹ zu ›Weiblichkeit‹ – zueinander aufzudecken. Es sind genau diese grenzüberschreitenden Fähigkeiten, die den Vampir für den Forschungsbereich der Gender Studies so interessant machen, fungiert er doch im Idealfall als mediales Konstrukt, das die Grenzen des patriarchalischen Rollenverständnis aufweicht und invertiert, wenn nicht gar eliminiert, da er von Natur aus als Untoter seine Rolle am Rande der Gesellschaft – irgendwo menschlich und dennoch nicht am Alltag beteiligt – einnehmen musste und die sozialen (Macht-)Strukturen somit durchaus kritisch hinterfragen kann.
17 Auf diese These soll im Rahmen des TRUE BLOOD-Kapitels noch genauer eingegangen werden, da hierfür Judith Butlers theoretischer Rahmen notwendig ist. 18 Begemann / Herrmann / Neumeyer (Hrsg.): Diskursive Entgrenzung, S. 16. 19 Ebd.
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D ER › WEIBLICHE ‹ V AMPIR ALS STIGMATISIERTER ›ANDERER ‹ IN T HOMAS ALFREDSONS L ÅT DEN RÄTTE KOMMA IN Der im Jahr 2008 von der Produktionsfirma EFTI produzierte schwedische Spielfilm LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN erzählt die Geschichte des 12-jährigen Oskar (Kåre Hedebrant), der als Außenseiter von seinen Mitschülern gemobbt und physisch malträtiert wird. Davon bekommen seine Eltern, die getrennt leben, jedoch nichts mit, da die Mutter viel arbeitet und der Vater trinkt. Als Oskar allerdings der Vampirin Eli (Lina Leandersson) begegnet, findet er in ihr eine verständnisvolle Freundin, die zur Steigerung seines Selbstbewusstseins beiträgt. Ungeachtet von sozialen Konventionen verbringen die beiden ihre Freizeit miteinander und helfen sich gegenseitig in schwierigen Situationen. So rettet Eli Oskar schließlich vor seinen Peinigern und Oskar gelingt es Eli zu warnen, als ein Nachbar sie töten will. Obwohl ihr Charakter klassische weibliche Züge enthält – sie trägt Mädchenkleidung, schulterlanges Haar und hat weiche Gesichtszüge – stellt Eli schnell klar, dass sie kein Mädchen ist, als Oskar sie fragt, ob sie mit ihm zusammen sein möchte [TC 00:53:42–00:55:41]. Auf eine berührend naive Weise hat dieser Umstand für Oskar keine Bedeutung, wie er Eli bereits in einer vorangestellten Szene zugesichert hat, als diese ihn fragte, ob er sie auch mögen würde, wenn sie kein Mädchen wäre. Bei der Beziehung der beiden handelt es sich vielmehr um eine kindliche, vorpubertäre Vorstellung des ›Nicht-Allein-Seins‹, die Oskar zeigt und die über die Tatsache hinwegtäuscht, dass beide Protagonisten ohne den jeweils anderen der sozialen Isolation ausgesetzt wären. Auch Rochelle Wright hat diesen Aspekt untersucht und verweist darauf, dass der Film an dieser Stelle vor Augen führt, wie ›miteinander gehen‹ von 12-Jährigen interpretiert wird, nämlich als »affirmation of friendship and loyalty quite disconnected from overt sexuality«20. Sex, Gender und Sexualität sind dementsprechend innerhalb der filmischen Erzählung aus der Beziehung Eli-Oskar gänzlich herausgelöst, da die beiden Hauptcharaktere diese sozialen Konstrukte nicht thematisieren. Unterzieht man LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN jedoch einer Filmanalyse, so wird schnell
20 Rochelle Wright: Vampire in the Stockholm suburbs. LET THE RIGHT ONE IN and genre hybridity. In: Journal of Scandinavian Cinema 1.1 (2010), S. 55-70.
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deutlich, dass der Film vor allem die Konstruiertheit von Gender vorführt und das sozial geprägte binäre Geschlechtssystem dadurch einer Demontage aussetzt. Von Oskar wird sie zwar entsprechend der infantilen Vorstellung von Freundschaft als ›normale‹ Freundin wahrgenommen, dem Zuschauer präsentiert sich Eli allerdings eindeutig als ›Andere‹ im Lacan’schen Sinne, da sie einerseits durch ihre uneindeutige Identität von der Norm abweicht und darüber hinaus, als Vampir stigmatisiert, ohnehin die ›monströse‹ Kehrseite des ›Eigenen‹ (Mensch) darstellt. Doch worauf beziehen sich die Begriffe ›Eigener‹ und ›Anderer‹ prinzipiell und inwiefern stehen sie in Korrelation zueinander? Generell sind die Termini ›Eigener‹ und ›Anderer‹ primär in ihrem sozialpsychologischen Kontext zu erfassen. Sie decken die Relation von ›Bekanntem‹ zu ›Unbekanntem‹, beziehungsweise ›Bewusstem‹ oder ›Sein‹ zu ›Unbewusstem‹ oder ›Nicht-Sein‹ auf. An dieser Stelle muss auf Lacans Theorie vom Spiegelstadium verwiesen werden, der diese Termini entlehnt sind und aus der hervorgeht, dass das Subjekt beim Blick auf sein Spiegelbild sein ›Dasein‹ erkennt, jedoch zugleich die eigene ›Unvollkommenheit‹ realisieren muss und basierend auf der Auseinandersetzung mit dem erblickten ›Anderen‹ sein ›Selbst‹ fantasiert und modelliert, um die Anerkennung seiner Umwelt zu erlangen und seiner eigenen ›Einbildung‹ zu entsprechen.21 Der Blick auf den ›Anderen‹ evoziert demnach automatisch die Auseinandersetzung mit dem ›Eigenen‹ und fördert zudem die Reflekti-
21 Achim Perner schreibt hierzu in Einführende Bemerkungen zu Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion im Hinblick auf die Arbeiten von Cindy Sherman folgendes: »Das Sein des Menschen ist nicht einfach Bewußt-Sein (Das bedeutet, daß das Bewußtsein des Menschen nicht in seinem Sein, sondern in seiner Beziehung zum Anderen fundiert ist, was einen gewissen Seinsverlust oder Seinsmangel zur Folge hat, der die Voraussetzung für das Blühen seiner Phantasie darstellt [...]).« Es empfiehlt sich jedoch, den gesamten Artikel Perners zu lesen, um die hier nur grob skizzierte Terminologie Lacans in ihrer Gesamtheit erfassen zu können. Siehe dazu: Achim Perner: Einführende Bemerkungen zu Jacques Lacan. Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: Schriften I, S. 61-70. Im Hinblick auf die Arbeiten von Cindy Sherman. www.freud-lacan-berlin.de/res/Perner_Einfuehrung_Spiegelstadium.pdf (abgerufen am 14.08.2011).
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on im Verborgenen liegender Träume, Wünsche oder Fantasien.22 Auch wird sich das Subjekt durch den Blick auf sein Abbild der eigenen Unvollkommenheit bewusst, was schließlich die aggressive Spannung des Menschen fördern kann. Dazu heißt es in Achim Perners Aufsatz zu Lacans Spiegelstadium: »Wegen dieser Nicht-Identität zwischen dem Subjekt und seinem Selbst, wegen der Spaltung, die seine Identifikation mit seinem Spiegelbild hervorgerufen hat und wegen der Entfremdung, die damit einhergeht, ist das Verhältnis des Menschen zu sich selbst von einer aggressiven Spannung gekennzeichnet, die sich in unterschiedlicher Weise symbolisch zeigen [...] oder handelnd manifestieren kann, von der Grimasse, der finsteren Miene und dem aufgesetzten Gesicht [...] bis zum Angriff auf den Anderen, dessen Blick das Subjekt nicht erträgt [...].«23
Für die Beziehung vom ›Eigenen‹ (Mensch) zum ›Anderen‹ (Vampir) lassen sich nun folgende Punkte festhalten: 1. Auf der Suche nach seiner eigenen Identität begegnet der Mensch in seinem Umfeld seinem Abbild, dem Vampir. Dieser führt ihm die menschliche Unvollkommenheit vor Augen, da er über Eigenschaften verfügt (Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit, Unsterblichkeit, enorme Kraft, etc.), die der Mensch nicht besitzt, jedoch mitunter begehrt. Dementsprechend ist die Vampirfigur nicht nur die Abbildung des Subjekts ›Mensch‹, sondern dient zugleich als Vorbild und gestaltet dadurch die Identität – und in Lacan’schem Sinne ebenfalls das ›Selbst‹ des Menschen – mit. 2. Auch der Vampir befindet sich auf der Suche nach seiner Identität als ›Anderer‹ und vergleicht sich mit seinem äußerlichen Ebenbild, dem Menschen.24 Die vampirische Unvollkommenheit manifestiert sich in seinen wortwörtlich ›dunklen‹ Eigenschaften. So nährt er sich beispielsweise von Blut, um zu überleben, kann wie im Fall Elis
22 Dem Streben nach Anerkennung und Vollkommenheit. 23 Perner: Einführende Bemerkungen zu Jacques Lacan. Unter: www.freud-lacanberlin.de/res/Perner_Einfuehrung_Spiegelstadium.pdf. 24 Besonders deutlich tritt diese Identitätssuche bei Bill Compton im Verlauf der ersten Staffel von TRUE BLOOD zum Vorschein, da sich dieser Vampir – ähnlich wie Edward Cullen in Stephenie Meyers Bis(s) zum Morgengrauen – als unvollkommen, kaum menschlich und monströs, kurzum als potenzielle Gefahr betrachtet.
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nicht in das binäre Geschlechtssystem eingeordnet werden und ist zudem nicht im Stande, sich tagsüber unter Sonneneinstrahlung im Freien aufzuhalten. Diese Andersartigkeit führt entweder zur Adaption des menschlichen Verhaltens oder aggressiver Ablehnung gegenüber der menschlichen Spezies an sich.25 3. Was beide Wesen, sowohl Menschen als auch Vampire, gemeinsam haben, ist ihr liminal angelegtes Dasein: Auf der Suche nach der eigenen Identität und der Auseinandersetzung mit ihrem ›Selbst‹ kommen sie nicht umher, den Blick auf ihr jeweiliges Spiegelbild zu werfen. Dadurch wird die Existenz des jeweils ›Anderen‹ dem eigenen Bewusstsein zugänglich gemacht, um an dieser Stelle nochmals ein Zitat von Begemann, Herrmann und Neumeyer aufzugreifen.26 Obgleich Eli Oskar gegen Ende des Films rettet, indem sie seine Peiniger umbringt, ist es nicht die destruktive Komponente des Vampirs, die der Film in den Vordergrund stellt. Vielmehr steht die beiderseits gewinnbringende Beziehung der beiden sozialen Außenseiter im Fokus der Erzählung, wie auch Rochelle Wrights Interpretation des Filmtitels LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN preisgibt. Der englische Titel LET THE RIGHT ONE IN kann mit ›Bitte den Richtigen herein‹ ins Deutsche übersetzt werden und spielt in doppeltem Sinne auf die Beziehung Oskars und Elis zueinander an, da Eli als Vampir nicht nur sprichwörtlich herein gebeten werden muss, um das Haus ihres Freundes zu betreten, sondern ihn auch an ihrem Gefühlsleben teilhaben lässt und vice versa. Im Lacan’schen Sinne erfolgt also eine Auseinandersetzung mit dem jeweils Anderen, die wiederum eine Identitätsset-
25 Stellt Bill Compton den menschlichen Vampir dar, der sich größtenteils von synthetischem Blut ernährt und dadurch seiner ›dunklen‹ Natur entsagt, so ist Russell Edgington das extreme Gegenbeispiel in TRUE BLOOD, da dieser an die Überlegenheit der Vampire glaubt und nicht davor zurück schreckt, seine Macht öffentlich zu demonstrieren (Episode 3.9: EVERYTHING IS BROKEN). 26 »Er lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf die anthropologische Dimension des Vampirismus, sondern hinsichtlich des Verhältnisses von Eigenem und ›Anderem‹ auch auf eine gleichzeitige Bewegung von Differenz- und Identitätssetzung. Er markiert die Funktion der Vampire, den jeweiligen kulturellen Subjekten als Spiegel zu dienen, als zweifellos dunkler und verzerrender, aber vielleicht auch zur Kenntlichkeit entstellender Spiegel.« Siehe: Begemann / Herrmann / Neumeyer: Diskursive Entgrenzung, S. 16.
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zung initiiert. Wright schreibt über den Filmtitel in ihrer Publikation über Vampire in the Stockholm suburbs: »The notion of letting the right one in also has a wider application, alluding to exclusion and how it may be overcome through shared understanding, by allowing another to be part of one’s internal space.«27
Die soziale Ausgrenzung der beiden Protagonisten, die sie in ihrer jeweiligen Umgebung als ›Andere‹ klassifiziert – Eli ist als Vampir kein wirklicher Bestandteil der Gesellschaft, genauso wie Oskar nur schlecht in sein Umfeld integriert ist28 –, schweißt sie zusammen und ermöglicht ihnen aufgrund dieser Gemeinsamkeit in ihrem »Leidensgenossen« zumindest eine Bezugsperson zu finden, der sie sich öffnen können. Zudem bezeichnet Wright Elis Charakter als »Mysterium«, das ihre persönlichen Geheimnisse wie eine schützende Hülle umgibt, die sie nur allzu gerne mit Oskar teilt.29 Doch inwiefern ist diese Aussage gerade in Bezug auf die Gender-Komponente des Films von Bedeutung? Sowohl Oskar als auch Eli weichen maßgeblich von der Norm eines patriarchalisch geprägten, binären Geschlechtersystems ab, wie aus Wrights »Not only is Oscar at a pre-sexual stage of development, in many ways his presentation is the opposite of a commonly accepted, socially constructed ideal of masculinity [...]. From her first encounter with Oscar, Eli behaves in a conventionally ›masculine‹ manner by taking the initiative, setting the parameters, encouraging him to fight back against his tormentors and assuring him she will help him if needed«
27 Wright: Vampire in the Stockholm suburbs, S. 58. 28 Letzteres geht vor allem aus den Szenen hervor, in denen Oskar von seinen Mitschülern gemobbt wird. Hier muss auf eine der berührendsten Szene verwiesen werden, die dem Zuschauer die Schikane offenbart, der Oskar permanent ausgesetzt ist: Nach dem Krafttraining findet Oskar seine Cordhose durchnässt in der Schultoilette wieder. Den Heimweg durch die schneebedeckte Winterlandschaft muss er in seiner kurzen Sporthose antreten, wobei seine nackten Beine der Kälte ausgesetzt sind [TC 00:46:53–00:47:46]. 29 Übers. nach Wright: Vampire in the Stockholm suburbs, S. 58.
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hervorgeht.30 Betrachtet man zuerst Elis Charakteristika als Vampir, so fällt interessanterweise auf, dass sie kaum vom Stereotyp des medialen Nachtwandlers abweicht. Wie einige ihrer Artgenossen verfügt auch sie über enorme Kräfte, kann sich der Schwerkraft widersetzen, ernährt sich von Blut, schläft am Tag in einer sargähnlichen Kiste, würde im Sonnenlicht verbrennen und muss, um ein fremdes Zimmer betreten zu können, verbal hereingebeten werden. In diesen Punkten unterscheidet sie sich also nicht im Geringsten von anderen (schwedischen) Vampiren wie beispielsweise Eric Northman aus TRUE BLOOD. Wirft man jedoch einen präziseren Blick auf die Konstruktion von Elis Gender so stechen vor allem zwei interessante Merkmale hervor, die von Bedeutung sind: 1.) Die Neutralisierung des Sexus31 und 2.) die Abwesenheit der phallisch konnotierten, langen spitzen Zähne. Die Neutralisierung von Elis Geschlechtszugehörigkeit manifestiert sich vor allem auf zwei Ebenen, nämlich der auditiven und der visuellen. Wie bereits zuvor geschildert, definiert Eli sich nicht als Mädchen, wenngleich sie sich auch weiblich kleidet. Keimen im Zuschauer zuerst nur geringe Zweifel auf, als die Protagonistin Oskar fragt »Und wenn ich kein Mädchen wäre, würdest du mich dann auch mögen?« [TC 00:39:25–00:40:34], so wird Eli bezüglich ihres Geschlechts im Verlauf der Geschichte stets expliziter, da sie ihren Freund direkt verbal damit konfrontiert, dass sie »kein Mädchen« ist [TC 00:53:42–00:55:41]. Schließlich wird dem Rezipienten auch der visuelle Beweis für Elis Andersartigkeit geliefert, da der Zuschauer ihre biologisch nicht vorhandene Weiblichkeit aus Oskars subjektiver Perspektive mit ansieht [TC 01:25:51–01:27:28]. Die Szene beginnt in der Wohnung von Oskars Mutter. In einem Close Up sieht der Zuschauer, wie Oskar den Startknopf des Schallplattenspielers betätigt und den Lautstärkeregler hochdreht. Es folgt ein langsamer Aufwärtsschwenk, bis Oskars Oberkörper und Kopf zu sehen sind. Der Junge beginnt sich im Takt der Musik nach hinten zu bewegen, bis er schließlich in einem Western Shot zu sehen ist. Dann tanzt er zur rechten Bildseite,
30 Oskars Divergenz soll im Rahmen dieses Aufsatzes jedoch nicht diskutiert werden, da der Fokus auf den schwedischen Vampirfiguren liegt und Wrights ohnehin einige genderwissenschaftliche Ansätze zu LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN bietet. Siehe: Wright: Vampire in the Stockholm suburbs, S. 61. 31 Der Begriff ›Sexus‹ bezieht sich hier auf das biologische Geschlecht.
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wobei ihm die Kamera mit einem Schwenk folgt. Während Oskar weitertanzend den Bildausschnitt verlässt, fixiert sich die Kamera auf die geöffnete Durchgangstür. Die Geschwindigkeit des Schwenks verlangsamt sich und Eli betritt den Raum. Sie bleibt stehen und die Kamera zeigt sie ebenfalls in einem Western Shot. Elis Haar ist nass, der Körper von einem blauen Badetuch bedeckt und in der linken Hand hält sie blutverschmierte Kleidung. Ihr ernster Blick ist zuerst nach unten gerichtet, wandert dann zu ihrer rechten Seite und schließlich zu ihrer linken bis sie Oskar erblickt. Im Vordergrund tanzt Oskar nun von der rechten Seite in den Bildausschnitt zurück, Eli folgt seinen Bewegungen, die Kamera schwenkt leicht mit. Elis ernste Miene ändert sich in ein Lächeln und sie beginnt ebenfalls den Kopf im Takt der Musik zu nicken. Dann tanzt Oskar im Hintergrund des Bildes auf Eli zu, beugt sich zu ihr über und sagt, dass sie sich einen Rock seiner Mutter ausleihen könne. Er nimmt Eli die dreckige Kleidung aus der Hand und deutet mit seiner rechten auf das Zimmer am linken Bildrand, in das Eli sich dann begibt. Die Kamera folgt der Bewegung mit einem sanften Linksschwenk, Oskar geht ebenfalls in Richtung des Zimmers und legt Elis Kleidung auf der Kommode links neben der Zimmertür ab. Dann hält er einen kurzen Moment inne und begibt sich schließlich vorsichtig zu dem Zimmer, das Eli zum Umkleiden aufgesucht hat. In einer neuen Kameraeinstellung sieht man, wie Oskar in einem Close Up am Türrahmen vorbei in das Zimmer schaut. Sein Blick senkt sich. Es folgt ein weiterer Close Up im Gegenschuss aus der subjektiven Perspektive. Darin ist Elis nackter Genitalbereich zu sehen, der keine weiblichen Merkmale, dafür allerdings eine große Narbe aufweist. Die Kamera zoomt herein und Eli streift sich ein Kleid über, das den Bereich bedeckt. In einem weiteren Close Up ist Oskar aus der Gegenschussperspektive zu sehen, wie er die Augen aufreißt und schnell hinter dem Türpfosten verschwindet. Die nächste Einstellung zeigt Oskar am linken Bildrand in einem Close Shot, wie er am Plattenspieler steht, während im Hintergrund Eli ins Bild tritt. Sie lächelt, dreht sich einmal im Kreis, dann klingelt es. Eli blickt hinter sich. Oskar macht die Musik aus, dann rennt er Eli entgegen, schiebt sie mit seinem linken Arm durch eine weitere Tür, rennt zurück zur Kommode und greift nach Elis dreckiger Kleidung. Er rennt wieder zu seiner Freundin und zieht sie nach hinten aus dem Bild heraus in ein anderes Zimmer. Es folgt ein weiterer Close Shot aus dem Badezimmer. Eli öffnet das Fenster im Vordergrund und steigt auf die Fensterbank, Oskar kommt zu ihr geeilt. Die Klingelge-
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räusche werden penetranter, sodass Oskar sich zur Türe umdreht und ruft, er komme gleich, da er noch auf der Toilette sei. Dann blickt er aus dem geöffneten Fenster, schaut nach unten, lehnt sich leicht vor und schaut schließlich zu seiner Linken. In einem Long Shot sieht man, wie Oskar und Eli, die nun auf ihrer Fensterbank sitzt, sich anschauen. Eli winkt ihm zu. Ein letztes Close Up zeigt Oskar wie er vor Freude Eli zulächelt und ihr nachschaut. Wie aus dieser Szene eindeutig hervorgeht, hat die Protagonistin in der Tat Recht mit ihrer Aussage, dass sie kein Mädchen sei, zumindest nicht auf biologischer Ebene. Der dem Zuschauer präsentierte Genitalbereich wirkt nicht zuordenbar, da er auf einen ersten Blick weder weibliche noch männliche Geschlechtsmerkmale aufweist und dadurch neutralisiert wirkt. Aufgrund dieser Asymmetrie und vor allem auch durch die subjektive Perspektive Oskars, die der Zuschauer hier miterlebt – Oskar ist sichtlich erschrocken über den verstümmelten Genitalbereich Elis –, wird Eli eindeutig als ›Andere‹ klassifiziert: Nicht nur handelt es sich bei diesem Charakter um einen Vampir, der dem vertrauten ›Eigenen‹ – dem Menschen – als negatives Ebenbild gegenüber steht, auch weicht Elis Sexus von den bekannten Kategorien – ›weiblich‹ oder ›männlich‹ laut binärem Geschlechtssystem – ab und isoliert sie daher in doppeltem Sinne. Die Protagonistin verkörpert dementsprechend den Nicht-Zustand, da sie weder lebendig noch tot, weder weiblich noch männlich ist. Komplizierter werden diese Zusammenhänge zudem, bezieht man die Abwesenheit der für Vampirerzählungen üblichen Phallussymboliken mit ein. Wie sich in diversen Publikationen nachschlagen lässt, symbolisieren lange oder gar spitze Gegenstände und Formen im Freud’schen Sinne den Phallus und stehen somit für ›Potenz‹, ›Aggressivität‹ und ›Macht‹, auch im sexuellen Bereich.32 Der Vampir als »Blutsauger«, »Meister der Gedankenkontrolle« und »unwiderstehlicher Verführung«33 greift in Form seiner langen, spitzen Zähne, mit denen er geradezu das Fleisch seiner Opfer penetriert, diese Bildsprache auf, beweist dadurch seine Potenz und behauptet zugleich seine einzigartige Machtposition. Doch was geschieht, wenn eine
32 Siehe hierzu: Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen. Einleitung von F.-W. Eickhoff. Frankfurt/Main: Fischer, 102004. 33 Vgl. Seeßlen: Horror, S. 70-71.
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derartig klassische Symbolik aus einer Vampirerzählung entfernt wird? Welche Folgen ergeben sich daraus? Die Abwesenheit der phallisch konnotierten Vampirzähne, nimmt dem Nachwandler einen bedeutsamen Teil seiner Macht, da sie einer Kastration gleich kommt. Im Fall von LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN sorgt sie gar dafür, dass der Vampir gänzlich seiner Potenz beraubt wird und dadurch nicht mehr in die vorhandenen Geschlechterkategorien einzuordnen ist. Elis Charakter, den wir zwar Blut trinken aber stets ohne Vampirzähne sehen, demonstriert auf unverkennbare Weise, wie diffus die Sexualität einer medialen Vampirfigur durch eine derartige Kastration erscheint. Da sie weder den einen ›männlich-aktiven‹ Zustand, noch die andere ›weiblichpassive‹ Rolle gänzlich erfüllt, befindet sie sich in einem Zwischenstadium, das den Film aus genderwissenschaftlicher Perspektive so komplex und zugleich progressiv erscheinen lässt, da die Reduktion phallischer Symbole die Andersartigkeit des Vampirs potenziert. An dieser Stelle muss nun auf eines der wichtigsten Zitate der feministischen Theorie verwiesen werden, das von Simone de Beauvoir stammt und in direktem Zusammenhang mit Lacans Theorie zum Spiegelstadium steht. In ihrem Werk Das andere Geschlecht (1949) schreibt de Beauvoir: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, sondern wird es. [Der Mann] ist das Subjekt, er ist das Absolute: [Die Frau] ist das Andere.«34 De Beauvoir thematisiert damit die devote Rolle der Frau in der damaligen Gesellschaft und stellt ihre Zuweisung als ›Andere‹ in einem patriarchalischen System in Frage. Wollte de Beauvoir mit ihren Überlegungen in erster Linie auf die sozialen Missstände und das Ungleichgewicht im Ansehen von Männern und Frauen ihrer Zeit verweisen, so ist ihr indirekt doch viel mehr mit diesem Ansatz gelungen, da sie, so Regine Gildemeister, »in gewisser Weise die Debatte um die ›soziale Konstruktion von Geschlecht‹« angestoßen hat und damit eine Vorläuferin auf dem Gebiet der Gender Studies war.35 Verstand die Gesellschaft bis in die 1950er Jahre unter dem Begriff ›Geschlecht‹ ausschließlich die biologische Ausprägung von Geschlechtsmerkmalen und bezog keinerlei soziale Faktoren mit ein, so ermöglichte die
34 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. München u. a.: Droemer, 1951, S. 10-11. 35 Regine Gildemeister: Soziale Konstruktion von Geschlecht. uk-online.unikoeln.de/remarks/d3911/rm695955.pdf (14.12.2011).
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Unterscheidung von ›sex‹ und ›gender‹ durch angelsächsische Sexualwissenschaftler fortan präzisere wissenschaftliche Untersuchungen. Der Begriff ›Sex‹ bezeichnet seither das biologische Geschlecht, das heißt die Kombination von anatomischen, physiologischen, morphologischen, hormonellen und chromosomalen Eigenschaften, während ›gender‹ auf das kulturell geprägte, soziale Geschlecht abzielt.36 Gildemeister hält in diesem Kontext bezogen auf die Genderrollen fest, dass: »[i]m Mittelpunkt [...] die kulturelle Variabilität der an Frauen und Männer gerichteten Verhaltenserwartungen, Eigenschaftszuschreibungen und sozialen Positionierungen [stand], die eng mit der jeweiligen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern korrespondierten. Die Untersuchung von ›sex‹ und ›gender‹ richtete sich damit gegen die in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft verbreitete ›Natur der Frau‹Argumentation. Die soziale Ordnung und vor allem: die soziale Ungleichheit der Geschlechter wurde nicht als Folge körperlicher Differenzen gesehen, sondern in den Kontext sozio-kultureller Normierungen gestellt. Diese, so wurde betont, seien historisch spezifisch und daher wandelbar.«37
Es sind die Gender Studies (dt. ›Geschlechterstudien‹), die sich eben diesen Zusammenhängen widmen und die sozialen sowie kulturellen Faktoren untersuchen und damit gleichzeitig die Konstruiertheit von ›gender‹ beziehungsweise ›Geschlecht‹38 aufzudecken versuchen. Wenn das ›Geschlecht‹ als soziokulturelle Größe nun gesellschaftlich normiert ist, so ist auch die »traditionelle Rolle der Frau«39 als soziokulturelles Konstrukt einzustufen. Zugleich wird deutlich, welche Kritik aus Simone de Beauvoirs Ansatz hervorgeht, nämlich dass Subjekten des weiblichen Sexus in einer patriarchalischen Gesellschaft die soziale Rolle
36 Ebd. 37 Ebd. 38 An dieser Stelle sei nochmals unterstrichen, dass das biologische Geschlecht im Rahmen dieser Arbeit primär als ›Sexus‹ bezeichnet wird, während der Begriff ›Geschlecht‹ durchaus auf ›gender‹ bezogen ist. 39 Gildemeister bezieht sich mit ihrem Terminus ›Natur der Frau‹-Argumentation darauf und enttarnt zugleich die Lücke in der damals vorherrschenden Argumentationslogik auf, da diese eben keinen Unterschied zwischen ›sex‹ und ›gender‹ machte.
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›Frau‹ – aufgeladen mit einer Vielzahl an negativ bewerteter Items (zum Beispiel: sanft, passiv, emotional, abhängig, etc.)40 – zugewiesen wird, über die sie schließlich als dem ›Mann‹ unterlegenes Objekt stigmatisiert und damit zur ›Anderen‹ gemacht wird.41 Es ist eben dieser Konstruktionscharakter von ›Weiblichkeit‹, den LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN dem Zuschauer durch die überspitzt als von der Norm abweichend konzipierte Vampirin Eli vor Augen führt. In dreifacher Hinsicht repräsentiert sie das ›Andere‹, das auf die Norm bezogene ›NichtSein‹ im Lacan’schen Sinne: Eli ist ohne Sexus ausgestattet, kleidet sich jedoch ›weiblich‹; sie ist ein Vampir, ernährt sich von Blut und ist dementsprechend als ›Monster‹ stigmatisiert.42 Sie ist biologisch sowie in ihrem Verhalten weder eindeutig ›männlich‹ noch ›weiblich‹43 und weicht auch als nicht menschliches Wesen von der Norm ab. Mit all diesen Eigenschaften wird Eli im Gender-Diskurs vor allem eine Rolle zuteil: Sie dient aufgrund der potenzierten ›Andersartigkeit‹ als Figur der sozialen Machtlosigkeit. Vergleicht man zudem das Buch mit dem Film, so wird Elis Trennung von Gesellschaft und Norm umso deutlicher, da sie in der Romanvorlage als Mensch in der Tat ›männlich‹ war und im Rahmen der Transformation zum Vampir wortwörtlich eine ›Kastration‹ erleiden musste.44
40 Ebd. 41 Ebd. 42 Interessant ist übrigens, dass der Film nur ›weibliche‹ Vampire zeigt. Dies bekräftigt die Annahme, er wolle auf die gesellschaftliche Missstellung der Frau verweisen, da beide betroffenen Vampircharaktere durchaus sympathisch skizziert sind. Hierin weicht LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN stark von MainstreamProduktionen aus Hollywood ab und bleibt zugleich dem Ideal des schwedischen Kinos treu. Vgl. dazu: Michael Lachmann / Hauke Lange-Fuchs (Hgg.): Film in Schweden. In: Film in Skandinavien. Berlin: Henschelverlag, 1993, S. 163-211. Sowie: Hans-Jürgen Hube: Film in Schweden. Berlin: Henschelverlag, 1985. 43 Wright beschreibt Eli als androgynen Charakter, da durchaus ›maskuline‹ Verhaltenszüge (Aggression) zu erkennen sind. Vgl.: Wright: Vampire in the Stockholm suburbs, S. 61. 44 Hierauf verweist bei LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN nur noch die maskuline Schreibweise von ›Richtiger‹ (die Endung ›e‹ in ›rätte‹ indiziert dies). Vgl: Wright: Vampire in the Stockholm suburbs, S. 61.
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Abschließend lässt sich nun festhalten, dass in der Überspitzung der Konstruktion von Elis Charakter die Progressivität dieser schwedischen Vampirfigur liegt, da sie durch ihre Stigmatisierung als »Anderer« auf die Missstände der sozialen Zwangsisolation und die Fragwürdigkeit eines patriarchalisch geprägten, binären Geschlechtssystems verweist. Zugleich nimmt Eli aufgrund ihrer androgynen Eigenschaften und ihres Entscheidungspotenzials eine Vorbildfunktion für Oskar ein. Ihre Aufforderung »Du musst dich wehren!« initiiert ansatzweise ein stereotyp-männliches Verhalten Oskars und trägt somit in gewissem Maße zu seiner Identitätsfindung bei, da er sein Selbst (›Eigenes‹) durch die Auseinandersetzung mit Eli (›Anderer‹) neu konstituieren kann. Auch macht dieser Prozess umso deutlicher, dass es sich bei ›Männlichkeit‹ als genderspezifischem Faktor um ein soziales Konstrukt handelt, dass erlernbar ist, da es sich über stereotype Verhaltensweisen des Subjekts postuliert.
D ER
SCHWEDISCHE V AMPIR E RIC N ORTHMAN ALS SEXUELLER G RENZGÄNGER IN DER AMERIKANISCHEN TV-S ERIE T RUE B LOOD Bei der vom amerikanischen Privatsender HBO produzierten TV-Serie TRUE BLOOD handelt es sich – kurz gefasst – um die Verfilmung der von Charlaine Harris verfassten Sookie Stackhouse-Reihe, in der die gleichnamige Protagonistin über telepathische Fähigkeiten verfügt und sich mit ihrem ›übernatürlichen‹ Umfeld auseinandersetzen muss, zu dem auch der schwedische Vampir Eric Northman zählt. Tritt Eric Northman (Alexander Skarsgård) in der ersten Staffel nur gelegentlich am Rande des Haupterzählstranges45 in Erscheinung, so wird ihm ab der zweiten Staffel in gesteigertem Maße immer mehr Bedeutung zuteil, bis er in Staffel vier schließlich als Sookies (Anna Paquin) Liebhaber eine
45 Die erste Staffel rückt neben der aufkeimenden Liebe zwischen Sookie Stackhouse und dem Vampir William ›Bill‹ Compton vor allem eine Mordserie an überwiegend jungen Frauen in den Vordergrund, hinter der Drew Marshall steckt, ein Vampire hassender Bürger Bon Temps.
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tragende Rolle einnimmt.46 Dabei verändert sich nicht nur die Bedeutung seines Charakters, es ist vielmehr die Wandelbarkeit seiner Eigenschaften und charakterlichen Ausprägungen selbst, die Eric Northman im Rahmen der Gender Studies so interessant machen, ist seine Figur doch durchzogen von Ambiguität. Wie manifestiert sich nun aber diese Ambiguität und in welchem Ausmaß offenbart sie sich insbesondere auf genderwissenschaftlicher Ebene? An dieser Stelle muss einleitend auf das Performativitätskonzept nach Judith Butler verwiesen werden, bevor exemplarisch die Deutung von Eric Northmans Verhalten auf Freud’scher Basis erfolgen kann.47 In ihrer Studie Gender Trouble (1990, dt. Das Unbehagen der Geschlechter) legt Butler bereits zu Beginn die Aufsplittung einzelner Kategorien im genderwissenschaftlichen Diskurs offen, zu denen unter anderem die Termini ›Sex‹ (anatomisches Geschlecht), ›Gender‹ (Geschlechtsidentität) und ›Begehren‹ (Sexualität) zählen.48 Butler enttarnt die Geschlechtsidentität dabei als »kulturelle Konstruktion«, die als »vielfältige Interpretation des Geschlechts«49 zu denken sei und demnach variabel ist. Hierzu heißt es: »Wenn wir jedoch den kulturell bedingten Status der Geschlechtsidentität als radikal unabhängig vom anatomischen Geschlecht denken, wird die Geschlechtsidentität selbst zu einem freischwebenden Artefakt. Die Begriffe ›Mann‹ und ›männlich‹ können dann ebenso einfach einen männlichen und einen weiblichen Körper be50
zeichnen wie umgekehrt die Kategorien ›Frau‹ und ›weiblich‹.«
Anders formuliert bedeutet dies, dass die Termini Mann/männlich sowie Frau/weiblich im Rahmen der Gender Studies unabhängig vom anatomi-
46 An dieser Stelle sei bereits vorab erwähnt, dass der Fokus aus genderwissenschaftlicher Sicht im Rahmen dieses Aufsatzes auf dem Geschehen der ersten drei Staffeln liegt, da diese besonders ergiebig erscheinen. 47 Hier sei bereits angemerkt, dass Judith Butler selbst auf Sigmund Freud zurückgreift, um die Konstitution der Sexualität (Begehren) zu entschlüsseln. Vgl. dazu: Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991, S. 93-104. 48 Siehe: Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 22-24. 49 Ebd., S. 22. 50 Ebd., S. 23 (Hervorhebungen aus dem Originaltext übernommen).
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schen Geschlecht des Subjekts Anwendung finden, da sie lediglich auf performativen Akten beruhen, die zu einer Konstruktion eben dieser kulturell bestimmten Kategorien führen. Besonders deutlich äußert sich Butler hierzu nochmals gegen Ende des Kapitels Identität, anatomisches Geschlecht und die Metaphysik der Substanz, in dem sie schreibt: »Innerhalb des überlieferten Diskurses der Metaphysik der Substanz erweist sich also die Geschlechtsidentität als performativ, d. h., sie selbst konstituiert die Identität, die sie angeblich ist. In diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat vorangeht [...]. Hinter den Äußerungen der Geschlechtidentität (›gender‹) liegt keine geschlechtlich bestimmte Identität (›gender identity‹). Vielmehr wird diese Identität gerade performativ durch diese ›Äußerungen‹ konstituiert, die angeblich ihr Resultat 51
sind.«
Genauso wie demzufolge die Geschlechtsidentität eine inszenierte Größe darstellt – der eingedeutschte Begriff ›Performance‹ verweist in aller Deutlichkeit hierauf, hebt er doch bereits den theatralischen Charakter hervor –, da sie als (Fremd-)Zuschreibung auf Basis der Selbstdarstellung des Individuums erfolgt, ist auch der Geschlechterbegriff als performatives Instrument zu verstehen, wie aus einem weiteren Kapitel (Sprache, Macht und die Strategien der Verschiebung, S. 49-62) hervorgeht, worin Butler schreibt: »Wir werden zeigen, daß das Geschlecht nicht länger als ›innere Wahrheit‹ der Anlagen und der Identität gelten kann, sondern eine performativ inszenierte Bedeutung ist (und also nicht ›ist‹), die eine parodistische Vervielfältigung und ein subversives Spiel der kulturell erzeugten Bedeutungen der Geschlechtsidentität (gendered meanings) hervorrufen kann, sobald sie von ihrer naturalisierenden Innerlichkeit und 52
Oberfläche befreit ist.«
Versteht man nun sowohl Geschlecht als auch Geschlechtsidentität als performative Akte, die durch parodistische Aufarbeitung enttarnt oder gar in-
51 Ebd., S.49. 52 Ebd., S.61.
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vertiert werden können, so stellt sich unumgänglich die Frage, wie es sich dann mit der Sexualität verhält: Kann das Begehren im Rahmen der Gender Studies ebenfalls als inszenierte Größe verstanden werden und wenn ja, wie gestaltet sich eine derartige Performance insbesondere im Medium Film? An dieser Stelle muss der Fokus nun auf Eric Northman gelegt werden, da dieser Charakter aufgrund seiner Ambiguität und Selbstdarstellung im Kontext der Butler’schen Theorie als ›Performancekünstler‹ in Erscheinung tritt. Wie bereits zuvor erwähnt, zeichnet sich seine Rolle durch eine enorme Wandelbarkeit aus: Eric ist in seinem Verhalten keineswegs limitiert – er ist vielmehr im Stande seinen Habitus der jeweiligen Situation anzupassen und dementsprechend klassisch ›männliche‹ beziehungsweise ›weibliche‹ Verhaltensweisen hervorzubringen. Während der ersten Staffel von TRUE BLOOD begegnet Eric dem Zuschauer als stereotypisch maskuliner Charakter, den vor allem sein brutales, emotionsloses Durchsetzungsvermögen als Sheriff des fünften Bezirks von Louisiana53 ausmacht. Dabei wird bereits in der ersten Folge, in der er auftaucht (1.4: ESCAPE FROM DRAGON HOUSE), seine Bestimmtheit im Umgang mit ihm physisch Unterlegenen – seien diese Mensch oder Vampir – deutlich. Als William ›Bill‹ Compton (Stephen Moyer) gemeinsam mit Sookie Stackhouse das Fangtasia54 aufsucht, damit Sookie, die Gedankenleserin ist, in der Vampirgemeinde Hinweise zu einem Mordfall sammeln kann, werden die beiden von Eric aufgefordert, ihm Gesellschaft zu leisten. Bill missfällt dies sehr, da er um die Gabe der Telepatin weiß und sie vor Eric schützen will, jedoch muss er sich dem Befehl des Sheriffs beugen, als dieser darauf besteht, dass sie ihm Gesellschaft leisten. Erics persönliches
53 Im Rahmen des Serienuniversums von TRUE BLOOD existiert eine eigene Macht- und Überwachungshierarchie: An oberster Stelle steht dabei der Magister, dem die absolute Befehls- und Entscheidungsgewalt obliegt. Ihm sind generell alle Vampire zur Loyalität verpflichtet (allerdings ist davon auszugehen, dass sich seine Autorität auf bestimmte Staatsgebiete wie beispielsweise Nordamerika begrenzt). In der Rangfolge stehen nach dem Magister die Könige und Königinnen, die ähnlich der Rolle eines Gouverneurs jeweils einen Bundesstaat kontrollieren. Die jeweiligen Bundesstaaten wiederum sind in einzelne Bezirke unterteilt, die von ihrem jeweiligen Sheriff kontrolliert werden. Dabei sind die Sheriffs ihren Königinnen und Königen zu absolutem Gehorsam verpflichtet. 54 Hierbei handelt es sich um eine Bar, die Eric gehört.
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Interesse an Sookie wird in diesem Kontext bereits deutlich, da er Bill keines Blickes würdigt sondern stattdessen die Telepatin fokussiert und bedauert, dass sie Bills »Freundin« ist.55 Noch deutlicher wird Erics Durchsetzungsvermögen, das im klassischen Sinne als positiv besetztes Item mit Männlichkeit56 assoziiert wird, betrachtet man den weiteren Verlauf der ersten Staffel. So demonstriert er beispielsweise seine Machtposition als Sheriff gegenüber Bill, indem er Sookie ihre Gabe für seine eigenen Bedürfnisse nutzen lässt (1.8: THE FOURTH MAN IN THE FIRE) und Bill nach einer dabei auftretenden Komplikation dem Tribunal des Magisters ausliefert (1.9: PLAISIR D’AMOUR / 1.10: I DON’T WANNA KNOW).57 Seine Machtposition stärkt Eric in diesem Zusammenhang, indem er Bill vor dem Magister in seine Schranken verweist, was wiederum dazu führt, dass dieser sein vom Tribunal auferlegtes Urteil annehmen und einen neuen Vampir erschaffen muss. Dies hat Bill während seines Vampirdaseins zuvor noch nie getan, da es gegen seine ethischen Prinzipien verstößt. Der Akt des »Machens«58 ist ihm zutiefst zuwider, jedoch hat er Eric und dem Magister gegenüber keine andere Wahl, da er ihnen in der Hierarchie untergeordnet und somit zum Gehorsam verpflichtet ist. Folglich zwingt Erics Auslieferung Bill dazu, gegen seine menschlichen Grundsätze zu verstoßen – dem schwedischen Vam-
55 In TRUE BLOOD erheben die Vampire ihren unangefochtenen Anspruch auf einen Menschen, indem sie ihn als ihr Eigentum betrachten. Bill stellt folglich Sookie als seine Freundin vor, um sie zu schützen. Auf seinen Anspruch »Sookie ist mein!« reagiert Eric ihm gegenüber dementsprechend spitz mit der Feststellung »Wie schade – für mich.« (1.4: ESCAPE FROM DRAGON HOUSE). 56 Vgl.: Regine Gildemeister: Soziale Konstruktion von Geschlecht. uk-online.unikoeln.de/remarks/d3911/rm695955.pdf (abgerufen am 14.12.2011). 57 Eric will mit Sookies Hilfe herausfinden, wer von der Fangtasia-Belegschaft Gelder veruntreut hat. Als Sookie den Vampir Longshadow enttarnt, will dieser sie umbringen, was Bill durch die Pfählung Longshadows zu verhindern weiß. Jedoch ist es Vampiren für gewöhnlich untersagt, ihresgleichen zu töten, um einen Menschen zu retten. Dementsprechend liefert Eric Bill dem Magister aus, damit dieser im Tribunal ein Urteil fällen kann. 58 »Machen« bezeichnet in der Serie die Erschaffung eines neuen Vampirs. Der Schöpfer einen solchen »Abkömmlings« wird dementsprechend als »Macher« (engl.: »maker«) bezeichnet.
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pirsheriff wird somit gleichzeitig psychische Gewalt zuteil, die auf ein emotionskaltes Verhalten schließen lässt. Mit Beginn der zweiten Staffel präsentiert sich Eric dann zum ersten Mal von einer zumindest ansatzweise emotionalen, jedoch keiner Zeit harmlosen Seite.59 Auch hier weiß er geschickt, die ihm Unterlegenen zu manipulieren, um seinen Vorteil aus den jeweiligen Situationen zu ziehen und seine Ziele im eigenen Interesse zu verwirklichen. So steht vor allem die Suche nach Erics Macher Godric im Zentrum der zweiten Staffel, da dieser verschwunden ist.60 Um ihn zu finden, benötigt Eric abermals Sookies telepathischen Fähigkeiten. Diese willigt gegen Bills Willen ein, Eric zu helfen, um ihren Freund Lafayette (Nelsan Ellis) aus dessen Gefangenschaft zu befreien (2.3: SCRATCHES). Zeigt sich Eric zwar einerseits menschlich, indem er seine emotionale Verbundenheit zu Godric (Allan Hyde) offenbart, so tritt er andererseits jedoch durch seinen skrupellosen Umgang mit den Menschen in Erscheinung, wie aus den ersten beiden Folgen der zweiten Staffel hervorgeht (2.1: NOTHING BUT THE BLOOD / 2.2: KEEP THIS PARTY GOING). Einen Mitgefangenen Lafayettes bringt der Vampir kurzerhand um, als dieser ihm mit einem Silberkreuz das Gesicht verbrennt. Rasend vor Wut demonstriert Eric in dieser Szene seine physische Überlegenheit und reißt den Gefangenen in Stücke. Dementsprechend kann Erics Emotionsvermögen nicht als rein menschliche Komponente verstanden werden, vielmehr sticht auch hier die Ambivalenz seines Charakters hervor: Eric ist aus genderwissenschaftlicher Perspektive niemals ›nur‹ mit positiven (Stärke, Durchsetzungsvermögen, etc.) oder negativen Items (Schwäche, Emotionalität, etc.) behaftet, sondern
59 Wobei man durchaus von einer ambivalenten Emotionalität sprechen muss: Die Suche nach Godric zeigt einerseits Erics menschliche Züge aufgrund der gar liebevollen Sorge um seinen Macher. Andererseits schreckt Eric aber nicht davor zurück auf grausame Art potenzielle Zeugen zu verhören und unter unwürdigen Bedingungen einzusperren, so auch Sookies Freund Lafayette (2.1: NOTHING BUT THE BLOOD / 2.2: KEEP THIS PARTY GOING). 60 Generell sei dazu angemerkt, dass in dieser Staffel zwei Haupthandlungsstränge existieren: Während Sookie, Bill und Eric in Dallas nach dem verschwundenen Godric suchen, wird Bon Temps unter dem Einfluss von Maryann Forrester in einen nahezu apokalyptischen Zustand versetzt.
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er ist im Stande sie in einer Person zu vereinen und affektartig auszutauschen. Im Butler’schen Sinne wird dadurch der parodistische Charakter der Geschlechtsidentität deutlich, die Eric ›performt‹, insbesondere da auf seinen Wutausbruch und die Tötung des Gefangenen nahezu direkt die eitle Frage »Ist da Blut in meinem Haar?« folgt (2.2: KEEP THIS PARTY GOING). Die Parodie besteht hier vor allem aus einer banalen Kombination von physischen und visuellen Merkmalen, betrachtet man allein Erics Aussehen in dieser Szene: Mit langen blonden Haaren, in die Erics Abkömmling Pam zuvor Foliensträhnen eingezogen hat, die durch den Akt der Tötung und die damit verbundenen Blutspritzer im Haar ruiniert sind, wirkt der Vampir hier gar metrosexuell. Er kombiniert seine physische Macht, die als ›männlich‹ und damit positiv konnotiertes Item zu werten ist, mit einem eher femininen codierten Schönheitsbewusstsein. Ganz im Sinne der Metrosexualität61, die an sich bereits den Sinn der unterschiedlichen Kategorien ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ hinterfragt, dabei jedoch grundsätzlich die Heterosexualität als maßgebliche Norm untermauert, tritt Eric demnach in Erscheinung. Besonders interessant wird das Verhalten des schwedischen Vampirs allerdings mit der dritten Staffel, da die Serie hier den performativen Charakter des sexuellen Begehrens offenlegt, indem sie Eric in einer homoerotischen Szene zeigt und damit seine bis zu diesem Zeitpunkt strikt ausgelebte Heterosexualität invertiert. Zum Zeitpunkt seines homoerotischen Kontakts mit Talbot (Theo Alexander), dem Ehemann Russell Edgingtons (Denis O’Hare), befindet sich Eric am Hofe des Vampirkönigs von Mississippi. Er hat Edgington ver-
61 Rhymer Rigby hält definierend über den metrosexuellen Mann fest: »Neu ist dieser Typ Großstädter nicht, doch erst in den 90ern wurde ein Adjektiv für ihn geschaffen: metrosexuell. Der Ausdruck bezeichnet heterosexuelle Männer mit einer Vorliebe für sonst eher als feminin geltende Interessen wie Mode. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde dieses Phänomen erschöpfend dokumentiert. Allmählich ist es nichts Ungewöhnliches mehr, dass heterosexuelle Männer auf ihr Aussehen und ihre Kleidung achten und sich für Dinge wie Familie, Ernährung und Kunst interessieren.» Siehe: Rhymer Rigby: Der metrosexuelle Manager. http://www.ftd.de/karriere-management/karriere/:geschlechterbild-imjob-der-metrosexuelle-manager/60163907.html (abgerufen am 15.02.2012).
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sprochen, sich in dessen Abwesenheit um Talbot zu kümmern, da dieser über die zeitaufwendigen königlichen Geschäfte seines Gemahls höchst unerfreut ist.62 Nachdem Eric und Talbot sich beim Schach duelliert haben, fordert Talbot ihn auf, sich zu entkleiden. Eric folgt der Aufforderung und bald darauf küssen sich die beiden. Auf Talbots Frage, ob er schon lange nicht mehr mit einem Mann sexuell verkehrt habe, gibt Eric keine direkte Auskunft und sagt stattdessen, er habe längere Zeit nicht mehr mit Vampiren geschlafen (3.8: NIGHT ON THE SUN). In einer weiteren Szene sieht man die beiden dann nackt beieinander liegen: Eric küsst Talbots Oberkörper und Bauch, bevor er ihn dazu auffordert, sich umzudrehen. Talbot willigt lüstern ein, jedoch zieht Eric hinter ihm kniend einen spitzen Gegenstand hervor, rammt Edgingtons Gemahl diesen in den Rücken und bringt den Vampir dadurch um. Wie lässt sich nun jedoch eine derartige Szenenfolge im Butler’schen Kontext verorten? Welche Motive stecken hinter Erics homoerotischem Intermezzo und warum gipfelt dieser sexuelle Kontakt in der Tötung Talbots? An dieser Stelle muss nun zuerst auf Siegmund Freuds Verständnis der Trauerverarbeitung verwiesen werden, da diese im Zusammenhang mit der Bildung des Ichideals steht und folglich einen Identifikationsprozess voraussetzt.63 Butler behandelt diesen Punkt in der Mitte des zweiten Kapitels von Das Unbehagen der Geschlechter. Dazu heißt es: »In der Erfahrung, einen geliebten Menschen zu verlieren, so führt Freud [im Aufsatz Trauer und Melancholie] aus, verleibt das Ich [den] Anderen seiner Ich-Struktur ein, indem es die Merkmale des Anderen übernimmt und ihn gleichsam durch magische Initiationsakte ›am Leben erhält‹. Der Verlust des begehrten und geliebten Anderen wird durch einen spezifischen Akt der Identifizierung überwunden, der darauf abzielt, den Anderen gleichsam in der Struktur des Selbst zu beherbergen: ›Die Liebe hat sich so durch ihre Flucht ins Ich der Aufhebung entzogen‹ [...]. Durch die
62 An dieser Stelle sei angemerkt, dass mit dem Thema Homosexualität in TRUE BLOOD generell recht unbeschwert umgegangen wird. Sowohl unter Vampiren als auch Menschen wird diese unproblematisch eingestuft. Vgl. dazu: Theresia Heimerl / Christian Feichtinger (Hgg.): Dunkle Helden: Vampire als Spiegel religiöser Diskurse in Film und TV. Marburg: Schüren, 2011. 63 Vgl.: Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 93-104.
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ständige Verinnerlichung seiner Attribute wird der Andere tatsächlich zu einem Teil 64
des Ich.«
Anders formuliert bedeutet dies: Verliert das Subjekt einen geliebten Menschen, so kann es im Rahmen der Trauerbewältigung einzelne Merkmale des verlorenen Objektes übernehmen. Dem Anderen (Verlustobjekt) wird dadurch ein Part des Ichs (Charakter des Subjekts) zugeteilt. Des Weiteren schreibt Butler zu Freuds Verständnis von Geschlechtsidentität im Kontext der Theorie zum Ödipuskomplex: »Ungeachtet dessen aus welchem Grund der Junge die Mutter verwirft (sollen wir den Vater als Rivalen oder als Objekt des Begehrens konstruieren das gleichsam über sich selbst als Objekt ein Verbot verhängt?), wird diese Verwerfung zu einem grundlegenden Moment dessen, was Freud die ›Festigung‹ der Geschlechtsidentität nennt. Sobald der Junge die Mutter als Objekt des Begehrens verliert, verinnerlicht er entweder diesen Verlust durch eine Identifizierung mit ihr, oder er verschiebt seine heterosexuelle Neigung, indem er seine Zuneigung zum Vater verstärkt und seine Männlichkeit ›festigt‹.«65
Folglich kann der Verlust der Mutter als Objekt der Begierde das männliche Subjekt entweder dazu verleiten, sich mit ihr zu identifizieren und sich dadurch einzelne Eigenschaften einzuverleiben, oder alternativ dazu führen, dass sich der Sohn den Vater zum Vorbild nimmt und dementsprechend seine eigene Männlichkeit stärkt. Setzt man diese Erkenntnisse nun in Relation zur Handlung in der dritten Staffel von TRUE BLOOD, so wird die Motivation hinter Erics Verhalten deutlich: Bereits in der fünften Folge dieser Season (3.5: TROUBLE) erfährt der Zuschauer im Rahmen eines Flashbacks von Eric, dass seine Familie von Werwölfen überfallen und brutal ermordet wurde. Bei diesem Überfall haben die Wölfe die wikingische Königskrone von Erics Vater gestohlen und einer vermummten Gestalt übergeben. Seinem sterbenden Vater versprach Eric Rache für diesen Angriff. Die gestohlene Krone erkennt der schwedische Vampir in der besagten Episode in Russell Edgingtons Reli-
64 Ebd., S.94 (Hervorhebung von mir, B. S.). 65 Ebd., S.96.
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quiensammlung wieder und weiß somit nach einer mehr als tausendjährigen Suche, wer seine Familie ermorden ließ. Die Tötung Talbots erfolgt dementsprechend aus Rache und enttarnt Erics homoerotisches Intermezzo als Inszenierung: Um sein Racheziel zu erreichen, imitiert – es kann hier aufgrund der zeitlich begrenzten Präsenz des weiblich definierten Begehrens nicht von einer Übernahme gesprochen werden – der schwedische Vampir Eric (männliches Subjekt im Freudschen Sinne) das weibliche Verhalten des begehrten Verlustobjekts (seiner Mutter)66 und verführt dadurch sein homosexuelles Opfer Talbot. Der Einfluss des Vaters, der wiederum Eric stark geprägt hat, da er den Willen seines Vaters durchsetzen möchte und dementsprechend Rache nehmen will, offenbart sich dann im Akt der Tötung: Nachdem Eric Talbot aufgefordert hat, sich umzudrehen und dieser einwilligt, suggeriert die Kameraperspektive und die Positionierung der beiden Charaktere, dass als nächster Akt die sexuelle Penetration erfolgen müsste. Diese bleibt jedoch aus. Stattdessen kündigt Eric Rache für den Verlust seiner Familie an und penetriert Talbots Oberkörper schließlich mit einem spitzen Gegenstand, der eindeutig phallischen Charakter besitzt und damit als Männlichkeitssymbol gilt, was die Orientierung an der Vaterfigur untermauert.67 Es lässt sich also festhalten, dass Erics sexuelles Begehren in diesem Kontext inszeniert ist und folglich seine Wandelbarkeit abermals hervorhebt. Einerseits verfügt er damit über ein klassisches Vampirmerkmal, nämlich die Anlage zur Liminalität, die sich hier im Wechselspiel von ›Heterosexualität‹ und ›Homosexualität‹ zeigt. Andererseits tritt er durch seinen grenzüberschreitenden Umgang mit Geschlechter- und Sexualnormen jedoch auch besonders in Erscheinung und sticht dadurch als schwedischer Vampir hervor, den man gar als ›Performancekünstler‹ bezeichnen kann, ist er doch im Stande sein Verhalten dem jeweiligen Kontext anzupassen und die Grenzen zwischen ›männlichem‹ und ›weiblichem‹ Verhalten zu verwischen, wodurch im Sinne Butlers der performative Charakter von Geschlechtsidentitäten zum Vorschein kommt.
66 Diese bedeutet für Eric einen Verlust im doppelten Sinne, da sie nach dem Angriff der Werwölfe zuerst stirbt (3.5: TROUBLE). 67 Vgl. dazu: Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 96-97.
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F AZIT Wie sich gezeigt hat, stellen schwedische Vampire in Film- und TVProduktionen einen facettenreichen Untersuchungsgegenstand für den Bereich der Gender Studies dar, eben weil sie mit traditionellen Geschlechterrollen brechen und als liminale Wesen deren Gültigkeit in Frage stellen. Sowohl die Analyse des Vampircharakters Eli aus der schwedischen Filmproduktion LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN als auch die Untersuchung des schwedischen Vampirs Eric Northman aus der amerikanischen TV-Serie TRUE BLOOD haben darauf schließen lassen. Handelt es sich bei Eli allerdings um einen dominant-weiblich konzipierten Charakter, der sich vor allem durch seine sozial ausgegrenzte Position am Rand der Gesellschaft als ›Anderer‹ positionieren muss und somit auf die Fragwürdigkeit soziokultureller (Geschlechter-)Normen verweist, so stellt Eric Northman den Gegenpol hierzu dar, greift er doch das System der binären Geschlechterkategorien direkt an, indem er sie ungeniert miteinander kombiniert und dadurch im Butler’schen Sinne ›parodiert‹. Den schwedischen Vampirfiguren wird dadurch vor allem eine Rolle zuteil, nämlich die des ›Aufklärers‹ im Bereich der Geschlechterstudien: Sie treten als progressive Charaktere mit einer Tendenz zur Gesellschaftskritik in Erscheinung. Besonders auffällig erscheint dabei das dreigliedrige Zusammenspiel der Konstruktions-, Dekonstruktions- und Performanzfaktoren, das diesen Figuren immanent ist. So hat ein erster Blick auf die schwedischen Vampircharaktere beider Produktionen, LÅT DEN RÄTTE KOMMA IN und TRUE BLOOD, gezeigt, dass sowohl Eli als auch Eric in höchstem Maße ›konstruiert‹ sind und nur eine Dekonstruktion dieser Figuren zur Entschlüsselung ihrer Funktion für den Bereich der Gender Studies führt. Die geschlechtslose Eli ist als Vampir konzipiert, der sich von Menschenblut ernährt und sich weiblich kleidet, obgleich ihr dominantaggressives Verhalten traditionsgemäß als ›männlich‹ zu werten ist. Sie ist somit als filmischer Charakter facettenreich gestaltet, weicht sie doch in vielerlei Hinsicht von der sexuellen Norm ab. Bei der Dekonstruktion68 ihrer Eigenschaften wird deutlich, dass Eli sich als das ›Nicht-Sein‹ bezie-
68 Zum Dekonstruktionsbegriff siehe: Jonathan Culler: On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism. 25th Anniversary Edition. London, New York: Routledge, 2007.
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hungsweise das ›Andere‹ im Lacan’schen Sinne lesen lässt und dadurch einerseits zur identitätsstiftenden Instanz für Oskar wird, der einzelne Charakteristika von ihr übernimmt. Andererseits verweist sie, wie auch der Blick auf Wrights Artikel gezeigt hat, als sozialer Außenseiter auf die Missstände gesellschaftlicher Exklusion, zu denen auch die Ausgrenzung aufgrund einer uneindeutig ›männlichen‹ oder ›weiblichen‹ Geschlechtsidentität zählt. Sogar als Vampir nimmt sie im Vergleich zu bekannten Nachtwandlern wie beispielsweise Graf Dracula die Rolle als ›Anderer‹ ein, da sie nicht über die sonst typischen Vampirzähne verfügt und somit ihrer phallischen Potenz beraubt ist. Auf progressive Weise steht Eli damit als schwedischer Vampir für eine neue Vampirgeneration, die sich nicht mehr nur über ihre patriarchalisch-aristokratische Machtposition69 definiert, sondern eben aufgrund ihrer Außenseiterrolle das Interesse des Publikums auf sich zieht und den Zuschauer zur kritischen Hinterfragung vorgegebener Normen anregt. Ähnlich wie Eli kombiniert auch Eric Northman ›männliche‹ und ›weibliche‹ Eigenschaften in seiner Figur, jedoch gibt es keinen Zweifel an seinem eindeutig männlichen Sexus. Zwar legt er Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild– ganz im Sinne der Metrosexualität –, wie sich unter Bezug auf Butlers Performativitätskonzept allerdings herausarbeiten lässt, handelt es sich hierbei keineswegs um eine negative Eigenschaft, sondern vielmehr um eine mannigfaltige »Interpretation des Geschlechts«.70 Da Butler zufolge die Begriffe ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ nicht Sexus gebunden sind und unabhängig vom anatomischen Geschlecht des Subjekts verwendet werden können, ist Eric Northmans grenzüberschreitendes sexuelles Verhalten als Performance-Akt zu werten: Eric, der insbesondere durch seinen Hang zur Ambiguität auffällt – es wurde gezeigt, dass er stets die vermeintlichen Gegenpaare ›männlich‹ und ›weiblich‹ in sich vereint –, nimmt als schwedischer Vampir dementsprechend die Rolle des Performancekünstlers ein, der durch seine Wandelbarkeit den Sinn des binären patriarchalisch-geprägtem Geschlechtssystems hinterfragt. Da er situationsbedingt seine eigene Sexualität und Identität inszeniert, legt er gleichzeitig die performative Basis von Sex, Gender sowie Sexualität offen
69 Bram Stokers Graf Dracula und Anne Rices Vampir Lestat verkörpern diesen Vampirtypus. 70 Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 22.
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und parodiert die kategorische Zuweisung eines binären Rollensystems im gleichen Rahmen, woraus sich auch maßgeblich der progressive Anspruch seiner Figur ergibt. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Besonderheit schwedischer Vampirfiguren in Film- und TV-Produktionen wohl gerade in ihrer Fähigkeit liegt, sich über soziokulturelle Grenzen hinwegzusetzen und deren Kategorisierungscharakter kritisch zu hinterfragen. Dadurch tragen sie nicht nur zur Aufklärung bei sondern setzen auch ein klares Zeichen gegen Diskriminierung und soziokulturelle Ausgrenzung wie der Blick auf Eli und Eric Northman gezeigt hat. Aufgrund ihrer eigenen Abweichung von der Norm und dem aufgeschlossenen Umgang damit, bedeuten sie Fortschritt in multipler Hinsicht. So ließe sich beispielsweise auch die Protagonistin Annika Wallén aus Anders Bankes FROSTBITEN in einem ähnlichen Kontext untersuchen, sticht sie doch zuerst als alleinerziehende Mutter und Ärztin hervor, die sowohl Kind als auch Karriere zu managen versucht, bevor sie in einen Vampir verwandelt wird. Auch hier erscheint der schwedische Vampir als sympathischer Außenseiter, der dem Zuschauer auf eine intelligente Art und Weise aufzeigt, dass es sich bei gesellschaftlichen Normen, zu denen auch das binäre Geschlechtssystem zählt, lediglich um soziokulturelle Konstrukte handelt, die aufgebrochen und invertiert werden können. Genauso wie die Vampirfigur an sich, sind diese wandelbar und können dementsprechend progressive Veränderungen durchlaufen.
Die Sauna und die Dekonstruktion des Mannes Das Verhältnis von Räumlichkeit und Männlichkeitskonzepten in SAUNA S ABINE P LANKA
D IE K ONSTRUKTION
DES SOLDATISCHEN
M ANNES
Michel Foucault schreibt zur Figur des Soldaten: »Das ist die Idealfigur des Soldaten, wie sie noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts beschrieben wurde: der Soldat ist zunächst jemand, der von weitem zu erkennen ist. Er trägt Zeichen: die natürlichen Zeichen seiner Kraft und seines Mutes und seines Stolzes; sein Körper ist das Wappen seiner Stärke und seiner Tapferkeit.«1
Bereits im Krieg wird der »soldatische Körper«2 einer Dekonstruktion unterzogen, um sich innerhalb der Machtmaschinerie wieder neu und zugunsten der Macht, respektive des Kampfes neu zusammensetzen zu lassen.3
1
Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Frz. v. Walter Seitter. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994, S. 173.
2
Wilhelm Greiner: Kino Macht Körper. Konstruktionen von Körperlichkeit im neueren Hollywood-Film. Alfeld/Leine: Coppi-Verlag, 1998, S. 181.
3
Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 176.
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Diese neu konstruierten und vervollkommneten Körper, um erneut Foucault zu zitieren, werden im Krieg unterworfen: »[Die Disziplin] spaltet die Macht des Körpers; sie macht daraus einerseits eine ›Fähigkeit‹, eine ›Tauglichkeit‹, die sie zu steigern sucht; und andererseits polt sie die Energie, die Mächtigkeit, die daraus resultieren könnte, zu einem Verhältnis strikter Unterwerfung. […] [D]er Disziplinarzwang [verkettet] eine gesteigerte Tauglichkeit und eine vertiefte Unterwerfung im Körper miteinander […].«4
Der Soldat soll also dem höheren Ziel des Krieges dienlich sein, funktionieren und seinen Körper den maschinenhaften Prozessen des Kriegsgeschehens überlassen. Der Soldat hat zu funktionieren im Krieg und Befehle bedingungslos auszuführen. Doch diese Unterwerfung ist bisweilen nur von kurzer Dauer, denn die Macht, die der Soldat auszuüben legitimiert ist qua seines Status und qua seiner Aufgabe, verführt – und trennt den Mann immer weiter von der Natur der Dinge, zieht ihn im Grunde immer weiter in die Unnatürlichkeit der Kriegsmaschinerie hinein. Dabei folgt der Krieg im Besonderen der zyklischen Prozesshaftigkeit von Maschinen im Allgemeinen: »Die Maschine ist nur funktionstüchtig, wenn sie wiederholt. Wenn sie nicht mehr wiederholt, ist sie beschädigt, kaputt. Die Natur dagegen wiederholt nicht.«5 Der Mann ist eingebunden in diese künstlichen Prozesse, zugleich steigt ihm die ausgeübte Macht zu Kopf: Er vergisst im Zuge dieser maschinellen Prozesshaftigkeit die naturhaften Verläufe, die einmalig und unwiederbringlich sind. »[D]as Volk der Männer hat diese Lektion offenbar vergessen. Sie wollen zum Gipfel aufsteigen und dort bleiben, während die anderen, die Frauen zum Beispiel, sich mit der Erde beschäftigen und sie, die Männer, den Weg zwischen Himmel und Erde aus den Augen verlieren. […] Immer und immer wieder haben sie Sehnsucht nach
4
Foucault: Überwachen und Strafen, S. 177.
5
Luce Irigaray: Das weibliche Geschlecht. In: dies.: Genealogie der Geschlechter. Aus dem Frz. v. Xenia Rajewsky. Freiburg (Breisgau): Kore, 1989, S. 169198, hier S. 173.
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ihren ursprünglichen mütterlichen Wurzeln, aber sie zerstören oder widersetzen sich der Unmittelbarkeit dieser Sehnsucht in der Kultur.«6
Luce Irigaray stellt den Mann der Frau gegenüber und entwickelt damit einhergehend die Opposition Unnatürlichkeit (=Maschine) vs. Natur. Die Natur schreibt sie der Frau zu, die zu der Natur eine enge Beziehung hat und diese ›Wurzeln‹ auch nicht vergisst. Den Mann sieht sie nicht nur als von der Natur entfremdet, sondern sogar als Teil der Maschine, was dazu führt, dass der Mann »die unbestimmten Kräfte der Natur und [damit] seine eigensinnigen Triebe gezähmt [hat] und […] sie – und dadurch sich selbst – in der Gesellschaft nutzbar [macht].«7 Das alles geht einher mit einer alles umfassenden Rechtsausübung durch die Männer: »[D]as Volk der Männer [behauptet], die ganze Wahrheit zu besitzen und beansprucht das Recht, überall Recht zu setzen: in der Philosophie, dem Recht, der Politik, der Religion, der Wissenschaft etc…«8 Die daraus hervorgehende Macht und die Verhältnisse zwischen Mann und Frau beschreibt Pierre Bourdieu anhand gesellschaftlicher Strukturen: Er weist den öffentlichen Raum dem Mann zu und damit auch alle Tätigkeiten, die im öffentlichen Raum vollzogen werden: »Sache der Männer, die auf der Seite des Außerhäuslichen, des Offiziellen, des Öffentlichen, des Aufrechten, des Trockenen, des Hohen, des Diskontinuierlichen stehen, sind alle kurz dauernden, gefährlichen und spektakulären Handlungen, die, wie das Schlachten des Rindes, das Pflügen oder das Ernten, nicht zu reden vom Töten und vom Kriegsführen, Unterbrechungen im gewöhnlichen Lauf des Lebens darstellen.«9
Die Frau hingegen ist »von allen öffentlichen Orten, der Versammlung, dem Markt, ausgeschlossen, wo sich die Spiele abspielen, die, wie die Spie-
6 7
Irigaray: Das weibliche Geschlecht, S. 173f. Christoph Kucklick: Das unmoralische Geschlecht. Zur Geburt der Negativen Andrologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2008, S. 117.
8
Irigaray: Das weibliche Geschlecht, S. 183.
9
Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Aus dem Frz. v. Jürgen Bolder. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2005, S. 57.
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le der Ehre, für gewöhnlich als die ernstesten des menschlichen Daseins gelten.«10 Diese Präsentation der Männer, diese Selbstpräsentation, hat letztlich ›nur‹ den Zweck, ihr Ansehen unter anderen Männern als »wahrhafter Mann«11 aufrechtzuerhalten: Der Mann muss im öffentlichen Raum Ruhm, Ehre und Auszeichnung unter seinesgleichen erwerben, um als wahrer Mann zu gelten. Der Mann will – er muss sogar – dem gesellschaftlichen Ideal des wahren Mannes gerecht werden, seine »Männlichkeit [muss] in ihrem wahren Wesen aktueller oder potentieller Gewalt von den anderen Männern bestätigt und durch die anerkannte Zugehörigkeit zur Gruppe der ›wahren Männer‹ beglaubigt werden.«12 Diese Faktoren führen dazu, dass ein Bild von vollkommener Männlichkeit entsteht: Das Bild eines Mannes, der in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit – und in diesem Fall auch dem Krieg – erfolgreich sein Bild als wahrer Mann verteidigen kann. Schafft er das nicht, befürchtet er selbst, als schwach wahrgenommen und in »typisch weibliche Kategorie[n] der ›Schwachen‹, der ›Schwächlinge‹, der ›Waschlappen‹, der ›Schwulen‹ usf. eingeordnet zu werden.«13 Der Mann konstruiert somit ein Bild von sich in der Öffentlichkeit, um sich als wahrer Mann präsentieren zu können. Gerade in Filmen kann man diesen Aufbau, dieses Spiel des Mannes um seine Rolle in der Öffentlichkeit beobachten, so auch im finnischen Film SAUNA aus dem Jahr 2008 von Regisseur Antti-Jussi Annila. Mit SAUNA ist ein finnischer Horrorfilm entstanden, der sich hinter anderen mitunter subtil inszenierten Horrorstreifen nicht zu verstecken braucht. Obwohl es viele bemerkenswerte skandinavische Horrorstreifen gibt – z.B. SKJULT (NO, R: Pål Øie, 2009, engl. HIDDEN), VILLMARK (NO, R: Pål Øie, 2003, dt. DIE TOTE AM SEE) oder auch NATTEVAGTEN (DK, R: Ole Bornedal, 1994, dt. NACHTWACHE / engl. NIGHTWATCH) –, ist Finnland bisher mit Filmen aus dem Horrorgenre kaum in Erscheinung getreten. Nennenswert sind hier v.a. VALKOINEN PEURA (R: Erik Blomberg, 1952, dt. DAS WEIßE RENTIER) und DARK FLOORS (R: Pete Riski, 2008), zwei Pro-
10 Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 89f. Dazu auch S. 57. 11 Ebd., S. 93. 12 Ebd., S. 94. 13 Ebd., S. 95f.
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duktionen, die für Aufsehen sorgten. Außerdem muss an dieser Stelle RARE EXPORTS – A CHRISTMAS TALE (R: Jalmari Helanderdt, 2010, dt. RARE EXPORTS – EINE WEIHNACHTSGESCHICHTE) genannt werden, der sich ebenfalls Horrorelemente bedient, diese aber sehr unterhaltsam umsetzt und mit der besinnlichsten Zeit des Jahres verknüpft. Allerdings sind an der gelungenen Umsetzung neben Finnland auch Norwegen und Schweden an der Produktion beteiligt. Daher erscheint es mehr als erfreulich, dass mit SAUNA eine finnische Produktion für Aufsehen sorgen konnte. »Thankfully Finland is here to claim the throne and show the world that the dreary, dark long winters can produce something that is better than most of all the movies that are produced out there«14, so wird auf der Web-Site rubbermonsterfetishism konstatiert.
K ONSTRUKTION
DES
M ANNES
IM
F ILM S AUNA
Der Film SAUNA zeigt die beiden finnischen Brüder Erik und Knut, die in die Maschinerie des Krieges eingebunden sind und zusammen mit russischen Delegierten die Grenze zwischen Finnland und Russland ziehen sollen. Erik ist auf Seiten der Skandinavier der Wortführer, sein Bruder Knut ist hingegen der gelehrte Kartograph, der Grenze und Grenzpunkte auf seiner Karte festhält. Die Handlung des Films ist verlagert ins 16. Jahrhundert und erfüllt somit mit der Figur Eriks das eingangs beleuchtete Foucault’sche Ideal soldatischer Männlichkeit. Auch die anderen Männer, die dem Zuschauer präsentiert werden, passen sich diesem Idealbild an, lediglich Knut hebt sich durch seine zurückhaltende Art von dem Idealbild des Kriegers ab. Die Grenzziehung führt die Kommission immer tiefer in die Wälder, bis sie auf einen Einsiedler und dessen Tochter treffen und von ihnen verköstigt werden. Knut, ansonsten immer beherrscht, droht von seinen Trieben und Gelüsten, die er – umgeben ausschließlich von Männern – nicht in normalem Maße hat ausleben können, überwältigt zu werden: Er kommt der jungen Frau immer näher, steht ihr Auge in Auge gegenüber. Dort er
14 http://rubbermonsterfetishism.blogspot.com/search?q=sauna 20.07.2012).
(abgerufen
am
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wird nicht übergriffig, zumindest nicht aktiv körperlich. Er sperrt die junge Frau zusammen mit ihrem Vater im unterirdischen Vorratsbunker ein, die Männer ziehen weiter, Vater und Tochter sterben. Doch je weiter die Kommission in die Wälder, die Steppen und schließlich den Sumpf eindringt, desto häufiger und intensiver erscheint die Frau Knut als Geist und scheint ihn zu verfolgen. Sie scheint ein Vorbote des Grauens zu sein, das sich später inmitten des Sumpfes manifestieren wird – ausgelöst durch die Abnabelung des Mannes von der Natur, der sie, v.a. in Gestalt der Frau, nicht wertschätzt. Die Divergenz der beiden Brüder wird einerseits optisch in deren äußerer Gestalt, andererseits aber auch in deren Verhalten mehr als deutlich. Erik wird eingeführt als der von Foucault beschriebene Soldat: Neben seiner körperlichen Gestalt – sein Körper strotzt vor Kraft, und mutig zieht er in das unbekannte, zu kartographierende Gebiet – ist er ausgestattet mit den Attributen eines Soldaten: Waffen, Harnisch und einem Pferd, das ihn über die Köpfe der laufenden Soldaten und somit in eine exponierte Stellung erhebt. Er nutzt die Natur, verbindet sich aber nicht mit ihr. Sein Bruder Knut hingegen ist das genaue Gegenteil: Der Kartograph ist in seiner schmächtigen Gestalt konträr zu seinem Bruder angelegt – und erscheint durch seine schon optisch angelegte Unterlegenheit als perfektes ›Einbruchstor‹ des Mythisch-Phantastischen in die Welt des nüchternen, taktisch agierenden Kriegers, der mit aller Gewalt zur Natur zurückgeholt wird. Knut ist kein Krieger im Sinne Foucaults: Er ist nicht kräftig, nicht mutig, er geht nie voran und ist ›nur‹ der Kartograph, der die von den aktiven Kriegern ausgehandelten Grenzen auf Papier einzeichnet. Erik ist nicht nur Soldat, der erfolgreich seine Position verteidigt, er ist auch als Wortführer anerkannt, wenn ihm die anderen Delegierten folgen und seinen Mut als Schild nutzen, um eigene Unsicherheiten zu verdecken. Erik ist im Sinne Bourdieus anerkannt als der Mann, der von anderen Männern in seiner Rolle bestätigt wird.15
15 Etwas Ähnliches ist zu beobachten im Film EYES WIDE SHUT (1999) von Stanley Kubrick, der anschaulich das Bild eines erfolgreichen Mannes in der Gesellschaft zeigt: Anerkannt und geschätzt ist der Arzt William ›Bill‹ Harford Teil der Gesellschaft, Teil des gesellschaftlichen Lebens. Eingeladen zu gesellschaftlichen Ereignissen, bewegt er sich eloquent unter den anderen geladenen Gästen.
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Doch natürlich kann dieses Bild des immer erfolgreichen Mannes in der Gesellschaft im Sinne von Dramatik und Spannung im Film nicht bestehen bleiben. Um es noch strenger zu formulieren: Es darf so nicht bestehen bleiben, sondern muss sich auflösen.
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DES
M ANNES
Der Held, der Mann, normalerweise in der Gesellschaft von Männern anerkannt in seiner Rolle und dadurch zu Höchstleistungen angespornt und sich dadurch immer mehr entfernend von der Natur im Sinne Luce Irigarays, muss scheitern. Sein Erfolg, sein Ansehen, im Grunde er selbst, all das muss dekonstruiert werden, was durchaus mit der antiken Vorstellung der Hybris einhergeht, was übersetzt nichts anderes als Übermut bedeutet und letztlich die Reaktion der Götter hervorruft, die auf die sittliche Schuld des Menschen reagieren bzw. schon andauerndes Glück als Grund für ein Einschreiten sahen.16 Diese Dekonstruktion, die an dem Helden exerziert wird, hat zur Folge, dass der Held anschließend wieder aus seinen Fragmenten neu zusammengesetzt wird – zu einem neuen Ich.17
16 Vgl. Hansgerd Delbrück: Hybris. In: Günther Schweikle / Irmgard Schweikle (Hgg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: Metzler, 2
1990, S. 212. Dazu auch Albin Lesky: Die griechische Tragödie. Stuttgart:
Kröner, 51984, S. 14. 17 Eine mehr als zutreffende literarische Analogie findet sich in Hermann Hesses Steppenwolf, das zeigt dem Leser die Dekonstruktion Harry Hallers, der sich im Kabinett bildlich zersplittert aus Spiegelscherben wieder neu zusammensetzt, um die vielfältigen Facetten seiner Persönlichkeit zu erkennen und sich selbst und auch dem Leben mit mehr Humor zu begegnen: »Unter Lachen […] drehte er mich um, daß ich dem riesengroßen Wandspiegel gegenüberstand. In dem sah ich mich. Ich sah, einen winzigen Moment lang, den mir bekannten Harry, nur mit einem ungewöhnlich gutgelaunten, hellen, lachenden Gesicht. Aber kaum, daß ich ihn erkannt hatte, fiel er auseinander, löste sich eine zweite Figur von ihm ab, eine dritte, eine zehnte, eine zwanzigste, und der ganze Riesenspiegel war voll von lauter Harrys oder Harry-Stücken, zahllosen Harrys, deren jeden ich nur einen blitzhaften Moment erblickte und erkannte. […] und alle waren
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Auf den Film im Allgemeinen bezogen bedeutet das, dass der dargestellte Mann, der sich seiner selbst und damit einhergehend seines Bildes in der Gesellschaft so sicher ist, einfach scheitern muss, zumal nachvollziehbarerweise im Sinne der Filmhandlung ein Spannungsbogen erzeugt werden soll.18 Hinsichtlich des Films SAUNA im Besonderen findet sich dementsprechend ebenfalls diese Dekonstruktion des Mannes – und natürlich ist es Erik, der vor den Augen des Zuschauers systematisch seines exponierten Soldaten-Status enthoben wird. Die Dekonstruktion nimmt stetig während des Handlungsverlaufs zu und steigert sich systematisch: Ist Erik zu Beginn der Handlung noch Besitzer eines Pferdes, das ihn durch die Wälder trägt
ich, und jeder wurde blitzschnell von mir gesehen und erkannt und war verschwunden, nach allen Seiten liefen sie auseinander, nach links, nach rechts, in die Spiegeltiefe hinein, aus dem Spiegel heraus.« Hermann Hesse: Der Steppenwolf. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1974, S. 228). »Wir zeigen demjenigen, der das Auseinanderfallen seines Ichs erlebt hat, daß er die Stücke jederzeit in beliebiger Ordnung neu zusammenstellen und daß er damit eine unendliche Mannigfaltigkeit des Lebensspiels erzielen kann.« (E bd., S. 246) Dass die Dekonstruktion des menschlichen Körpers und dessen Neugestaltung generell filmisch immer wieder ein aufgegriffenes Motiv ist, wird deutlich z.B. auch im Film MINORITY REPORT (2002): Hier ist es John Anderton, der seine Augen opfern und gegen neue Augen eintauschen muss, um dem System entkommen zu können, das ihn verfolgt. Auch hier findet sich eine partielle Deund folglich Neukonstruktion, die aber nicht symbolisch, sondern in der Tat körperlich vollzogen wird. Vgl. dazu auch Heike Endter: Ökonomische Utopien und ihre Bilder in Science-Fiction-Filmen. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2011, S. 154f. Auch in HELLRAISER (GB, R: Clive Barker, 1987) wird die Destruktion und anschließende Neukonstruktion des menschlichen Körpers eindrucksvoll zur Schau gestellt. 18 Auch hier lässt sich wieder Stanley Kubricks EYES WIDE SHUT anfügen: Bill Harford wird enttarnt, als er sich und seinen Einfluss überschätzt und sich Zutritt zur geheimnisvollen Orgie verschafft. Er wird vor allen anderen – geladenen – Teilnehmern der Orgie im wahrsten Sinne des Wortes bloßgestellt: Man nimmt ihm die Maskierung, die ihn verschleiert und unkenntlich gemacht hat. Nun ist er der einzige Demaskierte, der auch noch bildlich im Zentrum und damit der Aufmerksamkeit der anderen Menschen steht.
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und seine exponierte Stellung als Soldat, der an dem Prozess der Grenzziehung beteiligt ist, unterstreicht – Erik steht im Grunde über allen anderen Männern, respektive allen Fußsoldaten, und erhebt sich über sie –, so muss er sein Pferd aufgeben, als die Gruppe den Sumpf erreicht, und zu Fuß weitergehen. Erik wird somit der Teil genommen, der ihn – im wahrsten Sinne des Wortes und v.a. bildlich – über die anderen erhebt. Folglich steht er nun mit allen anderen Männern auf gleicher Stufe und wird gleichzeitig angreifbarer. Das zeigt sich u.a. in den Verhandlungen bezüglich der Grenzziehung, die sich schleppend hinziehen und dazu führen, dass die Kommission länger als geplant in dem Dorf im Sumpf ausharren und nächtigen muss. Der Verlust des Pferdes ist es, der Erik ein erstes Element seines Soldatenseins nimmt. Seine Dekonstruktion als ›besonderer‹ Soldat hat somit begonnen. Damit einhergehend wird bereits hier deutlich, dass die Natur beginnt, das politische, ›maschinelle‹ Geschehen, nämlich die willkürliche Grenzziehung, zu behindern und auszubremsen. Erik muss sich zusammen mit den anderen Männern per pedes durch den Sumpf schlagen. Als sie auf das Dorf treffen und zusammen mit dem Dorfältesten entscheiden müssen, wie die Grenze gezogen werden soll, macht sich die Macht der Natur immer stärker bemerkbar, sind es doch die naturhaftmythischen Kräfte der sich am Rande des Dorfes befindlichen Sauna, die nicht nur die Dorfbewohner beeinflussen, sondern auch die Neuankömmlinge. Nachdem Knut der Sauna zum Opfer gefallen und von ihr vereinnahmt wird – es scheint fast so, als sei er eine Leerstelle, die von den Mächten der Sauna besetzt wird, weshalb er spannenderweise der Figur eines Avatars gleicht, die auch extern beeinflusst und gelenkt werden kann –, sucht er die Konfrontation mit seinem Bruder. Erik erkennt, dass es die Sauna sein muss, die das Geschehen initiiert hat und dass er seinem Bruder von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten muss – und entledigt sich seiner Rüstung. Er ist somit nicht nur ungeschützt, sondern nun auch endgültig aller Zeichen im Sinne Foucaults entledigt, die ihn als Soldaten kennzeichnen – und zu denen eben auch das Pferd als Attribut gerechnet werden kann, da es der Beförderung des Soldaten dient und ihn über den fußläufigen Soldaten erhebt. Dementsprechend ist es nicht nur eine Dekonstruktion des Soldaten in seiner Rolle innerhalb des Krieges, die hier vollzogen wird – durch das Ab-
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legen seiner Rüstung entsagt er dem Krieg und nimmt Abstand davon –, sondern durch die Tatsache, dass der Soldat mittels seiner Zeichen auch gesellschaftliche Anerkennung erfahren kann, findet gleichzeitig die Dekonstruktion seines gesellschaftlichen Ansehens, seiner gesellschaftlichen Rolle, kurzum: die Dekonstruktion seines gesellschaftlichen Ansehens als Mann statt. Damit einhergehend findet auch eine soziale Dekonstruktion statt: Die Sauna lässt durch Knut alle Dorfbewohner töten, darunter folglich auch alle Männer, die eine gesellschaftliche soziale Ordnung bilden könnten. Das führt dazu, dass Erik nicht mehr im Sinne Bourdieus durch andere Männer sowohl in seiner Rolle als Soldat als auch in seiner Rolle als Mann bestätigt werden kann. Er ist entblößt, schutzlos – gerade optisch deutlich zu sehen – und kann sich der Gewalt, die an ihm ausgeübt wird, nicht mehr erwehren, sondern lässt alles geschehen. Diese Dekonstruktion führt im Sinne Luce Irigarays dazu, dass der Mann, der sich wider die Natur verhalten und sich von ihr entfremdet hat – hier zu sehen erstens anhand der Tatsache, dass der Mann ein Soldat und in die künstlichen Prozesse des Krieges eingebunden ist, und dass er zweitens in dieser Rolle zusammen mit anderen Männern die Natur willkürlich unterteilen und Völkern zuteilen will/muss –, zurückgeworfen wird auf seine natürlichen Ursprünge, im Grunde auf sich selbst. Gleichzeitig – und hier gewinnt die Sauna an Bedeutung – findet die Dekonstruktion innerhalb eines Raumes statt, innerhalb dessen sich Erik bewegt. Die Sauna grenzt den Soldaten hermetisch ab von der Außenwelt und unterbindet so den Kontakt zur Außenwelt, der einhergeht mit sozialen Kontakten.
D IE S AUNA ALS K ATALYSATOR Die Sauna ist hier der Ort, der für die Dekonstruktion Eriks maßgeblich verantwortlich ist. Ihre mythischen Kräfte sind es, die erst Knut vereinnahmen, um dann in dessen Gestalt personifiziert die Dorfbewohner auszuschalten und um anschließend den Soldaten Erik als den größten Gegner der Natur, gebündelt in der Sauna, für dessen Taten zur Rechenschaft zu ziehen – der Untertitel des Films ›Wash your Sins‹ verweist genau auf diesen Aspekt.
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Die Funktion der Sauna innerhalb der Narration scheint die eines Katalysators zu sein: Sie verändert einen vorhandenen Zustand, nämlich den Zustand des Mannes, aber auch den Zustand des topografisch-kartografischen Ortes, an dem sie errichtet wurde. Im Gegensatz zu einem Katalysator, der eine positive Entwicklung begünstigt, führt dieser Katalysator allerdings zu einer Regression allen Lebens, das sich im Dorf aufhält. Nach den Mönchen, die nach Aussagen der Dorfbewohner lediglich ihre Kutten zurückgelassen haben, sind es die Dorfbewohner, die der Gewalt der Sauna zum Opfer fallen. Auch die Delegierten, die die Grenze markieren sollten, werden ausgelöscht, so dass im Dorf quasi alles auf Anfang gesetzt wird. Der Weg für einen Neuanfang im Dorf, in der Natur scheint bereit. Diese verlorene Nähe des Menschen, respektive des Mannes zur Natur und deren Wiederherstellung scheint das primäre Ziel zu sein, dem die Sauna dient. Dafür spricht auch die Ansicht Luce Irigarays, die die Männer als entfremdet von der Natur und als in den Krieg gezogene Wesen beschreibt, während die Frauen diejenigen sind, die immer wieder den Weg zur Natur zurückfinden.19 Dementsprechend scheinen es die Männer zu sein, die anscheinend mit Gewalt zurückgeholt werden müssen zur Natur und folglich büßen für ihre ›Sturheit‹ und Starrheit, immer wieder den Weg zurück zur Natur zu verweigern. Ein Pendant zur Sauna findet sich übrigens in Stanley Kubricks 2001 – A SPACE ODYSSEY in dem mysteriösen Monolithen, der zwar augenscheinlich Fortschritte in Gang setzt, die aber letztlich auch darin münden, dass das Sternenkind geboren wird in der Hoffnung auf eine bessere Menschheit, die aus ihren Fehlern gelernt hat. Gemeinsam ist beiden zusätzlich ihre Zeitlosigkeit: Beide Objekte, die zudem in ihrer unnatürlichen Gestaltung – der Monolith ist schwarz, glatt poliert und reflektiert das Licht bis zu einem gewissen Grad, die Sauna ist ein glatter grauer Kubus, der aus Beton des 21. Jahrhundert gebaut zu sein scheint – inmitten der Natur stehen, insofern schon selbst eine Diskrepanz zur Natur darstellen, setzen zyklische Prozesse in Gang, die die Menschheit bzw. Männer in ihrer Entwicklung zurückwerfen. Aufgeladen durch diese katalysatorische Funktion entzieht sich die Sauna selbst partiell ihrer ursprünglichen Bestimmung: Ihre mythischen Grundlagen werden nutzbar gemacht für den Horrorfilm.
19 Vgl. Irigaray: Das weibliche Geschlecht, S. 173ff.
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Die Geschichte der Sauna20 ist eng verknüpft mit antiken Badekulturen und Reinigungszeremonien, zu denen auch das trockene Schwitzbad, von den Römern Laconicum genannt, gehörte. Die römische Badekultur ging nach dem Ende des Römischen Reiches über in orientalische Badekulturen, die das Schwitzbad im Mittelalter zusammen mit der Badekultur wiederaufleben ließen. »[V]or allem das Schwitzbad als allgemein verbreitete Stätte der Reinigung, der Körperpflege und als volkstümliche[r] Treffpunkt der Gesellschaft«21 rückte in den Fokus und trug zur Blüte der Badekultur im Spätmittelalter bei. Nachdem im 17. und 18. Jahrhundert die Badekultur einen Rückschritt erlitt – schlechte alltägliche Hygieneverhältnisse prägten die ständische Gesellschaft, statt Wasser verwendete man Schminke und Puder –, entdeckte man gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Badekultur erneut. »Aber erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts begann die älteste Form des Schwitzbades, in der Gestalt der finnischen Sauna, in Mitteleuropa wieder bekannt zu werden.«22 Die Ursprünge der finnischen Sauna finden sich in den ältesten Überlieferungen finnischer Volksdichtungen. Auf H.P. Viherjuuri rekurrierend, benennt Kammeier die zwei Grundvoraussetzungen für die Entstehung »des finnischen Schwitzbades: Die Notwendigkeit, nach schwerer Arbeit, wie Waldroden, die Glieder wieder gelenkig zu machen, und das Vorhandensein von Wald – als Gegenstand der harten Arbeit sowie als Quelle für Brenn- und Baumaterial.«23
Neben dem Umstand, dass die Sauna der Schwitzkur dient, haben Frauen in der Sauna ihre Kinder bekommen, was nicht nur daran lag, »daß dieser Raum sicher am hygienischsten war, [sondern dass sich dort] auch einiger Aberglaube mit den dort wohnenden Schutzgeistern [verband]. Zu Weihnachten badete man in der Sauna, und bei Hochzeiten nahm die Braut allein oder mit dem
20 Nach Hans Detlef Kammeier: Das große Saunabuch. Mit einer Saunageschichte von Siegfried Lenz Unter Dampf gesetzt. München: Hornung, 1972. Siehe dazu auch Manfred Höckert / Gerhart Schönfeld: Sauna. Planung – Konstruktion – Ausführung. Berlin: Verlag für Bauwesen, 81996. 21 Ebd., S. 21. 22 Ebd., S. 22. 23 Ebd., S. 27.
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Bräutigam gemeinsam ein Saunabad, bei dem die guten Geister beschworen wurden.«24
Saunen können also quasi als mythisches Kulturgut verstanden werden, das von Generation zu Generation weitergegeben wird und fest in der Kultur und damit auch im alltäglichen Leben verwurzelt ist. So ist es nicht verwunderlich, dass die Sauna gegenwärtig – auch als Gemeinschaftssauna – fester Bestandteil ist von z.B. Ein- oder Mehrfamilienhäusern oder Studentenwohnheimen und in Kellern, Dachgeschossen oder Gärten (ein)gebaut werden kann.25 Es ist gerade die Verbindung von Körperkult und (Geburts-)Ritus zu mythischen naturhaften Elementen, die sich als nutzbar für den Film SAUNA erweist, der durchaus – v.a. wenn man sich das Ende des Films ins Gedächtnis ruft – als Horror-Film26 angesehen werden kann. Grob kann aber festgehalten werden, dass der Horror-Film, »als besondere Form des Phantastischen, nicht bloß das ungefährliche und veräußerte Träumen [ist]; das Genre entsteht vielmehr durch die Reibung zwischen Wirklichkeit und (Alb-)Traum. Das eine maskiert sich als das andere, und mehr noch: Der Traum wird hier wie die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit wie der Traum erzählt. […] In Horrorfilmen befinden wir uns auf einer Wanderung zwischen den Welten, und es ist keineswegs ausgemacht, welche von beiden die größeren Schrecken bereit hält. […] Horror entsteht, organisch gleichsam, wenn sich die alte Form des Mythos in den Rissen des neuen Wissens ausbreitet.«27
24 Ebd., S. 29. 25 Siehe dazu Klaus P. Scheid.: Sauna. München: Callwey, 1962. 26 Aufgrund der Vielschichtigkeit des Genres, das von unterschiedlichen Merkmalen geprägt ist, kann eine ausführliche Definition hier nicht erfolgen. Stattdessen muss hier der Verweis auf das Buch von Seeßlen und Jung verwiesen werden, das in aller Ausführlichkeit neben der historischen Entwicklung auch auf alle Spezifika des Horror-Films eingeht. Georg Seeßlen / Fernand Jung: Horror. Geschichte und Mythologie des Horrorfilms. Marburg: Schüren, 2006. 27 Seeßlen/Jung: Horror, S. 14.
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Genau das ist es, was SAUNA dem Zuschauer zeigt: Den Einbruch des Mythischen in eine Welt, die mittels rationaler Mechanismen vermessen, begrenzt und kartographiert werden soll. Es ist die Sauna, die das Monster hervorbringt, das die Dorfbevölkerung auslöscht und die Macht der Sauna durchsetzt. Dass es sich dabei um eine zunächst unsichtbare Macht handelt, die sich des schmächtigen, so gar nicht kriegerisch wirkenden Bruder Eriks bemächtigt, der daraufhin eine ins Gegenteil verkehrte Macht und Kraft besitzt, die ihn dazu befähigt, das Dorf auszulöschen, bis er seinem Bruder gegenübersteht, ist ein weiteres typisches Motiv aus dem Horror-Genre und markiert den Einbruch des Mythisch-Phantastischen in die Welt des Realen: »In der Phantastik des Horror-Genres gibt es […] das Wunderbare nicht als Errettung oder Erlösung; das Wunderbare (das Unerklärliche) ist das Problem des Genres.«28 Es sind die unaufgelösten Widersprüche zwischen Menschlichem und Natürlichem29, die bereits die Werke der Gothic Novel kennzeichneten und die sich im hier vorliegenden Film mehr und mehr verbinden zu einem unentwirrbaren Konglomerat. Unterstützt wird diese Verbindung durch den Umstand, dass die Sauna die Zeichen verliert, die sie semantisch auf visueller Ebene als Sauna kennzeichnen: Es handelt sich hier nicht mehr um die ›luxuriöse‹ hölzerne Blockhütte mit Sitz- und Liegebänken sowie einer Luke für den entweichenden Dampf30 – oder um eine in eine Wohnung eingebaute hölzerne Konstruktion –, sondern um einen betonartig wirkenden Block, der lediglich mit einer Tür ausgestattet in einem Teich steht und völlig fremdartig, geradezu deplatziert in der Natur steht. Innerhalb des Kubus werden jedoch auch Elemente der volkstümlichen Sauna beibehalten: Das Feuer, das seine flackernden Schatten auf die Wände wirft, die Hitze, die das Feuer erzeugt – und natürlich die bereits im volkstümlichen Gebrauch der Sauna angelegte Verbindung zum Mythischen, die hier genutzt und handlungsrelevant ausgebaut wird. Die ›Benutzer‹ betreten hier allerdings die Sauna nicht ganz freiwillig, sondern werden dazu gezwungen, fast schon magisch angezogen – was den Eindruck des Phantastischen unterstützt. Die Reinigung wird demjenigen,
28 Seeßlen/Jung: Horror, S. 60. 29 Vgl. ebd., S. 61. 30 Siehe dazu Kammeier: Saunabuch.
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der sie betritt, quasi aufgezwungen, er kann sich ihrer Macht nicht erwehren. Das liegt auch daran, dass die Sauna beide Männer hermetisch von der zivilisierten (Um-)Welt trennt und sie mit sich selbst konfrontiert, sie dementsprechend auf sich selbst zurückwirft. Die Zivilisation, die vom Menschen beherrschte und kontrollierte Welt, die hier repräsentiert wird durch die Menschen, die willkürlich Grenzen ziehen und sich so die Natur/die Welt untertänig machen, spielt keine Rolle mehr. Die Sauna stellt somit der Zivilisation, repräsentiert durch die Menschen, ihre immanent eingeschriebenen archaischen Strukturen gegenüber, die aber gleichzeitig einen Neubeginn implizieren – und der narrativ bereits einmal stattgefunden hat durch die neuen Dorfbewohner, die das Dorf von den Mönchen übernommen haben, da diese auf mythische Weise verschwunden sind. Auf bildlicher Ebene wird das verdeutlicht durch den Umstand, dass hinter dem in die Sauna eingetretenen Erik die Tür plötzlich verschwindet und kein Eingang mehr zu erkennen ist. Die Sauna ist zu einem hermetischverschlossenen Raum geworden, aus dem es kein Entrinnen gibt, und der zusätzlich auch jede Orientierung verweigert. Gleichzeitig scheint sich das Innere des Raumes unwirklich auszuweiten, wenn Erik beginnt, die Schwärze des Raumes zu erkunden und dem flackernden Feuerschein folgt.
D IE S AUNA ALS H ETEROTOPIE UND O RT DES M YTHISCHEN Damit entspricht die Sauna als Raum den Orten, die Foucault als Heterotopien bezeichnet, als Orte, »die vollkommen anders sind als die übrigen. Orte, die sich allen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen. Es sind gleichsam Gegenräume.«31 Und diese Gegenräume folgen auch ihren eigenen Gesetzen, die mitunter nur über Umwege zu erklären sind. In diesem Sinne ließe sich auch
31 Michel Foucault: Die Heterotopien. In: ebd.: Die Heterotopien/Les hétérotopies. Der utopische Körper/Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausg. Übersetzt v. Michael Bischoff. Mit einem Nachw. v. Daniel Defert. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2005, S. 7-22, hier S. 10.
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sicherlich das Ende des Films erklären: Erik sitzt einerseits in der Sauna, erfährt aber eine Spaltung, indem ein Teil seines Ichs plötzlich in der freien Natur und damit außerhalb der Sauna dem Mädchen auflauert, das er eigentlich zu ihrem eigenen Schutz weggeschickt hat.32 Er überfällt und tötet sie. Verstörend ist Eriks Anblick: Anstelle seines Gesichts klafft ein Loch dort, wo Augen, Nase, Wangen und Stirn sein sollten, Blut läuft in einem Strom aus dieser Wunde –ein Motiv, das typisch für das Genre des Horrorfilms ist33 – und tropft in den weißen Schnee – Sinnbild der Unschuld und unbefleckten Reinheit des Mädchens, das getötet wird.34 Dementsprechend liegt eine Deutung im Sinne klassischer Horror-Topoi nahe: Das Blut, verstanden als Sitz der Seele, entströmt Erik und macht aus ihm ein animalisches Wesen, das nicht mehr zur Artikulation fähig und der wichtigsten Sinne beraubt ist.
32 Spannenderweise schreibt Foucault weiterhin zur Heterotopie »In aller Regel bringen Heterotopien an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind.« (Foucault: Die Heterotopie, S. 14). Hier hat man den Eindruck, dass die Sauna Erik in einen externen Raum transportiert, der aber ebenfalls von ihr kontrolliert wird und ihren Gesetzmäßigkeiten unterliegt. 33 Blut, auch gerne in Strömen fließend, ist generell ein typisches Motiv für Horrorfilme: Zunächst als Sitz der Seele angesehen, wandelt sich die Bedeutung des Blutes und wird zu einem Objekt mit Happening-Charakter, um dann in einer neuen Welle des Horror-Films, dem realityhorror, angesiedelt in der dem Zuschauer bekannten Normalität, als »Mythos von der Reinigung durch das vergossene Blut« zu erscheinen (Seeßlen/Jung: Horror, S. 74-77, hier bes. S. 76). Mit eine der bekanntesten Szenen strömenden Blutes findet sich wohl in Stanley Kubricks THE SHINING: Hier ist es das aus den sich öffnenden Fahrstuhltüren schwappende Blut, das sich förmlich in den Hotelflur ergießt und in immer neuen Visionen der Protagonisten auftaucht. Der reinigenden Funktion wird hier eine überschwemmende Bildlichkeit entgegengesetzt, die alles und jeden zu verschlucken scheint und sowohl das Gute wie das Böse unter sich begräbt. 34 Das wir hinsichtlich der Farbgebung an Schneewittchen erinnert werden (weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz), mag sicherlich auch gewollt sein, um zusätzlich die Grausamkeit, die dieser Szenerie innewohnt, noch zu unterstreichen.
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Erik wird somit weiter destruiert: Es findet eine Spaltung von Körper und Seele statt, die seinem Körper, der Hölle auf bildlicher Ebene in Form des Blutes entströmt. Damit einhergehend verändert sich seine Körpersprache und wird ebenfalls zurückgeworfen: Erik verliert zusammen mit seiner Sprache, seinem Sehsinn und seiner Fähigkeit, sich zu artikulieren, seinen aufrechten Gang und bewegt sich auf allen Vieren vorwärts. Dementsprechend folgt er seinen Instinkten, um dem Mädchen zu folgen und es zu töten.Diese Reduktion führt letztlich zur Auslöschung Eriks und des Dorfes, um einen Neubeginn mit aufgeklärteren Menschen im Dorf wagen zu können, die im Einklang mit der Natur leben. Die optische Unnatürlichkeit der Sauna, die im Kontrast zu der sie umgebenden Natur steht, mag zunächst irreführend sein, fügt sich aber dennoch nahtlos in die Argumentation ein, wenn man bedenkt, dass sie in sich mythisch – eben heterotop – ist und die Zeit zu überdauern scheint. Die Sauna – und auch andere heterotope Orte – müssen von geradezu unendlicher, den Menschen überdauernder Zeitlosigkeit und dementsprechend ›konstruiert‹ sein. Damit entspricht die Konstruktion der Sauna nicht nur der eines heterotopen Ortes, sondern auch der von Foucault beschriebenen Heterochronie, die oftmals mit der Heterotopie einhergeht: »Es zeigt sich, dass Heterotopien oft in Verbindung mit besonderen zeitlichen Brüchen stehen. Sie sind, wenn man so will, mit den Heterochronien verwandt.«35 In der Sauna, deren mythische und katalysatorische Kraft an diesem so unnatürlich wirkenden Ort ihre ganze Wirkung entfalten kann, markiert einen Ort, an dem Raum und Zeit miteinander verschmelzen zu einem Nirgendwo und Nirgendwann. Alles wird ort- und zeitlos, die Protagonisten
35 Foucault: Die Heterotopien, S. 16. Foucault formuliert weiter: »So ist der Friedhof der Ort einer Zeit, die nicht mehr fließt.« (ebd.). Ein derartiges Beispiel findet sich par excellence in Stanley Kubricks THE SHINING: Das Overlook-Hotel – der Name allein sagt es bereits – ist eine solche von Foucault beschriebene Heterotopie, die mit einer Heterochronie einhergeht. Allein die Tatsache, dass das Hotel auf einer alten Indianer-Begräbnisstätte erbaut wurde, stigmatisiert den Ort geradezu als mythischen Ort, an dem die Gesetze der Logik außer Kraft gesetzt werden und Zeit und Raum in einem Punkt zusammenfallen. »In aller Regel bringen Heterotopien an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind.« (ebd., S. 14).
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werden an diesem Gegenort, der gesellschaftlichen Räumen und Orten widerspricht und seine eigenen Gesetze hat – insofern schon per se mythisch ist –, mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert – ganz im Sinne der Foucault’schen Kombination von Heterotopie und Heterochronie.
D IE S AUNA ALS O RT UND DER T RIEBE
DER
Z ERSTÖRUNG
Die destruktiven Triebe, die sich bereits in der Tat der Delegierten zeigen, das Land willkürlich aufzuteilen, es aufzuteilen, zu zerstören in seiner Ganzheit, kulminieren zusätzlich in Erik, der das Töten als Teil seiner selbst auffasst – und auch in diesem Punkt mit den Auffassungen Luce Irigarays übereinstimmt: »Die Männer verletzen oder töten lächelnd, höflich und aus Pflicht. Sie sind sich des Schlechten, des Übels nicht bewußt, zumindest nicht in dem Moment, in dem sie es ausführen, obwohl sie doch Anspruch auf das absolute Bewußtsein erheben, dem Instrument, mit dem sie die Kultur verriegelt haben.«36
Der Eros scheint in seiner Person keinen Platz zu finden.37 Der Destruktionstrieb, bei Erik noch kontrolliert durch die ›Öffentlichkeit‹ bzw. das Eingebunden sein seiner Person in die sich immer wiederholende Maschinerie des Krieges, der wiederum im Sinne Luce Irigarays als Maschine verstanden werden kann – »Die Maschine ist nur funktionstüchtig, wenn sie wiederholt. Wenn sie nicht mehr wiederholt, ist sie beschädigt, kaputt. Die Natur dagegen wiederholt nicht.«38 –, wird geradezu entfesselt durch die Sauna. Gleichzeitig erscheint der Trieb gesichtslos – im wahrsten Sinne des
36 Irigaray: Das weibliche Geschlecht, S. 182. 37 Die Begrifflichkeiten Eros und Todestrieb, auch Destruktionstrieb genannt, gehen auf Siegmund Freud zurück, der Folgendes dazu festhält: »Ziel des [Eros] ist, immer größere Einheiten herzustellen und so zu erhalten, also Bindung, das Ziel des [Todestriebs] im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören.« (Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen. Frankfurt/Main: Fischer, 51997, S. 45). 38 Irigaray: Das weibliche Geschlecht, S. 173.
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Wortes: Ohne Gesicht, ohne die Möglichkeit zu kommunizieren und v.a. ohne zu sehen, angewiesen auf Berührungen und Kontakte zur Natur, kriecht Erik animalisch an das Mädchen heran und tötet sie. Das Grauen, das Töten erscheint gesichtslos und damit dem Menschen universell eingeschrieben. Die Sauna scheint das auslösen zu wollen, um ein Gleichgewicht zwischen den Trieben innerhalb des Menschen auf der einen Seite und eine Verbindung den Menschen, respektive des Mannes zur Natur auf der anderen Seite herzustellen. Dafür spricht auch der Umstand, dass die Sauna ›zyklisch‹ vorzugehen scheint. Die Mönche, die vorher das Dorf bewohnten, sind ebenso verschwunden, wie es später die Dorfbewohner sein werden, auf die die Brüder und die anderen Delegierten treffen. Die Sauna dekonstruiert somit nicht nur den Mann als einzelnes Individuum, sondern mit ihm auch die gesamte patriarchal gesteuerte Dorfgesellschaft und dreht die Uhr damit auf Null, auf einen Neubeginn zurück.
F AZIT SAUNA präsentiert sich als Horrorfilm erstaunlich zurückhaltend und setzt einzelne Aspekte und Motive sparsam, aber letztlich wirkungsvoll, ein, um das Grauen zu verbildlichen. Der eigentliche Horror besteht hier in der langsamen, aber nicht aufzuhaltenden Dekonstruktion der Menschen, vornehmlich der Männer, und der von ihnen konstruierten Gesellschaft. Dazu bricht langsam unaufhörlich die Phantastik in die rational geprägte Welt der Männer ein und setzt laufend und systematisch Dekonstruktionen in Gang. Insofern zeigt sich, dass Körperkonstruktionen – und folglich eben auch -dekonstruktionen – an Raumkonstruktionen gebunden sein können, mitunter sogar gebunden werden müssen. Letztlich ausschlaggebend für die Dekonstruktion des Mannes ist in diesem Fall die Sauna, in der das Phantastische seinen Ausgangspunkt hat, die Dekonstruktion sowohl der Männer im Besonderen als auch der Gesellschaft im Allgemeinen in Gang setzt und sich dabei phantastischer Mechanismen bedient. Die Sauna fungiert dementsprechend nicht wie eine herkömmliche Sauna – alleine ihr Erscheinungsbild grenzt sie deutlich von einer herkömmlichen Sauna ab –, sondern entspricht einem Katalysator, der Prozesse in Gang setzt.
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Der Film zeigt somit die Konfrontation zwischen der Natur, symbolisiert durch die Sauna, und widernatürlichen Verhaltensweisen, namentlich der Domestikation und Beherrschung der Natur durch Männer, die sich widernatürlich verhalten und die Natur zu kontrollieren versuchen. Die Sauna gewinnt jedoch diesen ›Kampf‹ und macht aus dem kontrollierten, rational denken Menschen ein animalisches, triebgesteuertes Wesen, das auf seine Triebe zurückgeworfen wird und keiner Kommunikation und somit auch keiner Interaktion mehr fähig ist. Insofern hängen die Konstruktion und somit auch die Dekonstruktion von Männlichkeit in Gestalt des soldatischen Mannes wesentlich von der zunehmenden Beeinflussung der Sauna ab. Je näher die soldatischen Männer der Sauna kommen, desto größer wird die Beeinflussung durch sie und desto stärker werden die Männer, die sich widernatürlich verhalten, in ihrer Männlichkeit dekonstruiert – allen voran Erik, der das Paradebeispiel von Männlichkeit ist und vor den Augen aller ›auseinander genommen wird‹. Die Männer, v.a. Erik, werden damit zurückgedrängt zur Natur, zu ihren Instinkten und werden zu animalischen Wesen, bereit, ihre ›Artgenossen‹ – ganz im Sinne der Natur – zu eliminieren, um der Natur wieder ihren Lauf lassen zu können und um ein neues Leben im Einklang mit der Natur zu ermöglichen. Damit wird ein Raum, der eigentlich im Zeichen absoluter Intimität steht, zu einem Raum, der heterotop geprägt ist und der das Konzept von absoluter Männlichkeit, das hier seinen Höhepunkt findet im soldatischen Mann, langsam aber sicher zerstört. Somit zeigt sich, dass die Konstruktion von Männlichkeit an bestimmte Räumlichkeiten gebunden ist – und von diesen nachhaltig beeinflusst werden kann.
»Aufstehen!« – »Einsatz!« DØD SNØ UND DIE W IEDERKEHR DES VERGANGENEN N IELS P ENKE
Dank der moralischen Entrüstung, die meist scheinbare, manchmal auch tatsächliche Tabubrüche in der medialen Aufbereitung nach sich ziehen, und entgegen aller berechtigten Kritik, haben Nazis ungebrochene Konjunktur in vielen Bereichen der Popkultur. Literatur, Musik, Computerspiele, Fashion, Lifestyle und Film – überall begegnen wir Begriffen, Uniformen, Emblemen und Codes, die im Unterschied zu deren Verwendung unter Neonazis, keine explizite politische Botschaft oder ein solches Bekenntnis darstellen wollen. »For most people it is probably no more than a variant of camp«1, wie Susan Sontag bereits 1974 in ihrem Essay über den Fascinating Fascism festgestellt hat. Zwischen ›Nazi-Chic und Nazi-Trash‹ hat Marcus Stiglegger jüngst das Feld beschrieben, auf dem besagte enthistorisierten Phänomene angesiedelt sind, die in verschiedensten Erscheinungsformen den Nationalsozialismus und seine Insignien als Faszinosa inszenieren und dabei »ein ebenso makaberes wie genießbares Bild einer mordenden Gesellschaft zeichnen«.2 Genießbar werden diese Bilder vor allem über die Doppelstrategie der Enthistorisierung, die mit einer Entpolitisierung einhergeht, einzelne Elemente isoliert und komplexe, moralisch herausfordernde Zusammenhänge zu ein-
1
Susan Sontag: Fascinating Fascism. In: dies.: Under the Sign of Saturn. New York: Farrar, Straus, Giroux, 1980, S. 73-105, hier: S. 97.
2
Marcus Stiglegger: Nazi-Chic und Nazi-Trash. Faschistische Ästhetik in der populären Kultur. Berlin: Bertz + Fischer, 2011, S. 13.
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zig ästhetischen Phänomenen werden lässt. Im Film haben sich dabei, nach den Sadiconazista-Produktionen und den auf diese zurückgehenden Exploitationfilmen der 1970er Jahre vor allem im Horrorgenre zahlreiche Filmschaffende effektheischender Nazimotivik bedient. Die Synthetisierung klassischer Vertreter aus dem Figurenarsenal des Horrors – Vampire, Werwölfe, Zombies oder ›mad scientists‹ – mit Emblemen und Ideologemen des Nationalsozialismus hat sich in Teilen als fruchtbare Erweiterung etablierter Konzeptionen und Figurationen erwiesen, allerdings auch zahlreiche zweifelhafte Produktionen im B-Movie-Sektor hervorgebracht. Ob in der Verschränkung von Sexualität und Faschismus im Sadiconazista-Kontext, in der Adaption für den Horrorfilm oder außerfiktiven Lifestyleelementen, bestand die bisherige Gemeinsamkeit dieser Phänomene in einer unterschiedlich semantisierten und ästhetisch umgesetzten Phantasie, die auch bei Susan Sontag schon als Pointe erkannt wurde: »The fantasy is death.«3 Als provokative Geste oder fetischisiertes erotisches Stimulans wird diese Phantasie anschaulich, ebenso in der Darstellung des ultimativen destruktiven Potentials, als welches Nazifiguren im Horrorkontext auftreten. Sind diese Darstellungen auf der Produktionsebene weitestgehend als ahistorische Spielereien zu verstehen, so sind sie es im Bereich der Rezeption nicht mehr, wenn die Kontexte, in die ein solcher Text4 stößt, die isolierte Wahrnehmung eines solchen Phänomens nicht zulassen. Dies scheint in Norwegen, durch eine nicht hinreichend aufgearbeitete Besatzungsvergangenheit und politische Entwicklungen der Gegenwart bedingt, der Fall zu sein. Die Splatterkomödie DØD SNØ (international: DEAD SNOW), die sich als der bisher einzige skandinavische Beitrag zum Subgenre des Zombie-Films ebendieser Rudimente nationalsozialistischer Symbolik bedient, ist am 22.07.2011 auf der norwegischen Ferieninsel Utøya von der Realgeschichte eingeholt worden. Anders Behring Breivik, Rassist, Nationalist und politisch motivierter Überzeugungstäter, tötete gezielt 77 Menschen, die seinen rigiden Vorstellungen einer geschlossenen Gesellschaft nicht entsprechen.
3
Sontag: Fascinating Fascism, S. 105.
4
Im Anschluss an einen erweiterten Textbegriff, wie etwa Julia Kristeva (vor allem Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman, 1967) produktiv gemacht hat, lassen sich alle kulturellen Hervorbringungen als narrativ strukturiert und damit als Text begreifen.
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Doch der immer wieder sogenannte »Teufels-Killer«5 von Utøya ist in seinem Hass auf »Multikulturalisten« und »Kulturmarxisten«6 weniger der wahnsinnige, unzurechnungsfähige Einzeltäter als den die Massenmedien, allen voran vielrezipierte Boulevardorgane wie BILD und vergleichbare internationale Zeitungen ihn gerne sehen wollten und darin zunächst auch fatalerweise am 29.11.2011 von den Gerichten bestätigt wurde, als vielmehr ein Kristallisationspunkt weitverbreiteter Anschauungen. Breiviks Tat zum reinen Irrsinn zu erklären, delegiert diese als einen unvorhersehbaren, unkalkulierbaren Ausbruch eines Einzelnen in ein gesellschaftliches Abseits, ein extremum, aus dem die rechtsradikalen Ideen sich längst in die bürgerliche Gesellschaft zurückgearbeitet haben. Denn weder Breiviks ›islamkritische‹ Haltung eines kulturellen Rassismus‘, sein Hass auf alle(s) Linke(n) oder seine terroristisch artikulierte Gewalttätigkeit, der »angriffslustige Nationalismus«7 im Kleinen, sind singulär. Vielmehr sind diese Phänomene in allen westlichen Gesellschaften vorzufinden, und zwar längst nicht allein an deren ›Rändern‹, sondern gerade auch in deren sogenannter Mitte8, die zwar Recht und Gesetz, Demokratie und Toleranz für
5
So wurde Breivik seit dem 24.07. fortgesetzt u.a. in der deutschen BILD tituliert, vgl. http://www.bild.de/suche.bild.html?type=article&query=teufelskiller &resultsStart=30&resultsPerPage=10. Aber auch in der norwegischen Presse ist wiederholt von »djevel« die Rede gewesen. Auch die Diskussion, ob Breivik einen Exorzismus benötige, bekräftigt diese ›Deutung‹, vgl. http://www.dag bladet.no/2012/02/10/kultur/debatt/anders_behring_ breivik/religion/djevelutd rivelse/20171608.
6
Vgl. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,776272,00.html. Die Nachweise in Breiviks Manifest sind legion.
7
Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte. Anhang. Hg. v. Rolf Tiedemann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, S. 674-690, hier: S. 675.
8
Dies ist in Norwegen mindestens ebenso der Fall wie in Deutschland, jedoch bereits beim Blick auf die Parlamentszusammensetzung deutlicher erkennbar. Die rechtspopulistische ›Fremskrittspartiet‹ (dt. Fortschrittspartei) konnte bei den Wahlen im Jahr 2009 22,9% auf sich vereinen und stellt die zur Zeit zweitstärkste Fraktion im Storting. Zur Einschätzung der Fremskrittspartiet vgl. Me-
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sich beansprucht, aber auch blinde Flecken besitzt. Denn, wie nicht zuletzt 2011 überdeutlich gezeigt hat, übersieht sie beständig – und systematisch – Gefahren von Rechts, oder spielt diese aus politischem Kalkül gegen andere, emanzipatorische, vermeintlich ebenso gefährliche Bedrohungen für die bürgerliche Gesellschaftsordnung aus und verzichtet damit darauf, einen aktiven Beitrag gegen regressive, teils offen faschistische Kräfte zu leisten, denen entschieden zu begegnen nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts kategorischer Imperativ sein sollte. Gewiss ist Breiviks Tat nicht mit den Verbrechen nationalsozialistischer Provenienz zu vergleichen, dennoch ist 2011 konzentrierte, politisch motivierte rechte Gewalt in einem Maße ins mediale Interesse getreten, wie sie – die bei PolitikerInnenn und JournalistInnen häufig festzustellenden Überraschungsbeteuerungen bestätigen dies – von vielen für nicht möglich gehalten wurde. Und diese Gewalt zum Ausdruck eines individuellen Wahnsinns zu erklären, ist bereits Teil jenes Problems, das viele Gesellschaften haben, unter ihnen vor allem die deutsche und die norwegische: ein politisches Erbe, das sich ohne permanente Selbstreflexion und -kritik, klare Positionen und dementsprechendes Handeln auf allen Ebenen nicht ›bewältigen‹ lässt – oder gar, um in der Sprache des hier behandelten Genres zu bleiben, »verwesen« könnte.9 Vergangenheit ist jedenfalls niemals vorbei solange ihre Ursachen und Ausgangsbedingungen noch Bestand haben. Denn das, was verdrängt oder ›vergessen‹ wird, drängt – und dringt letztenends – auch wieder hervor.10 Eine Grundannahme der Freudschen Psychoanalyse kann auch als eine Grundfigur des Horrorfilms verstanden werden, denn aus dem psychisch, emotional oder sozial Verdrängten entspringt der Horror: die Angst, wenn die durch Erziehung und ein darüber vermitteltes Normsystem unterdrückten Gefühle sich doch einstellen. Oder wenn der im Hochsicherheitstrakt vermeintlich sicher weggeschlossene
lanie Haas, Oskar Niedermayer, Richard Stöss (Hg.): Die Parteiensysteme Westeuropas. Wiesbaden: VS-Verlag, 2006, S. 527-535. 9
Wie der Titel des Aufsatzes von Sven Jüngerkes und Christiane Wiegand Vergangenheit, die nicht verwesen will diese Option indiziert.
10 Im Anschluss an Freuds Theorie vom ›Unheimlichen‹ ist diese Figur für den Horrorfilm wiederholt festgestellt worden. Vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Anna Freud u.a. Bd. XII. Frankfurt/Main: Fischer, 1999 , S. 227-278.
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›Psychopath‹ auf einmal wieder freikommt, die definierten Grenzen überschreitet und sich zum nicht länger unterbundenen selbstbestimmten Handeln ermächtigt. Der norwegische Exportschlager DØD SNØ aus dem Jahr 2009 zeigt, im vielleicht unglücklich gewählten Modus der Komödie, genau dies: die Wiederkehr des partiell ›Vergessenen‹, in Wirklichkeit jedoch nur Verdrängten und Unbewältigten in Gestalt von für alle im Film auftretenden menschlichen Figuren todbringenden deutschen SS- und Wehrmachtssoldaten.11
S YNOPSE
UND
ANALYSE
DlD SNl ist nach dem KILL BILL-Pastiche KILL BULJO: THE MOVIE (2007) der zweite Film des norwegischen Regisseurs Tommy Wirkola. Er wird nach einem zunächst undeutbaren Vorspiel und Vorspann mit einer genrestereotypen Ausgangsszene eröffnet: Junge Menschen, fröhlich und entspannt, auf dem Weg in die Ferien. Nach Jungen und Mädchen getrennt und auf zwei Autos verteilt, fahren sie auf gut geräumten Straßen durch den Schnee. Sie beabsichtigen, einem nationalen Stereotyp entsprechend, sich über Ostern12 dem ›friluftsliv‹ (dt. etwa Freiluftaktivitäten) nachzugehen und mit Nichtstun und Schneepartien von ihren Medizinstudien zu erholen. Dass Martins (Vegar Hoel) Reiselektüre Accident and Emergency Medicine dabei auf die spätere Haupthandlung vorverweist, ahnt niemand. Aus den Radios ertönt Musik, die Stimmung ist gut, in den neckischen Plaudereien
11 Florian Schulz bezeichnet DØD SNØü ]ZDU als Allegorie, die die »klassischen Zombiearchetypen« mit »Klischeenazis« parallelisiere, aber wenn dem wirklich so sei, bliebe die eigentliche, nicht explizit formulierte Botschaft des Films die gleiche. Vgl. Florian Schulz: Dead Snow. Ein Film von Tommy Wirkola. 13.12.2009.
In:
http://www.mannbeisstfilm.de/kritik/Tommy-Wirkola/Dead-
Snow/1856.html (abgerufen am 27.07.2012). 12 Einer klischierten Annahme nach verbringen alle Menschen in Norwegen ihre Osterferien im Ski- und/oder Hüttenurlaub. Film, Fernsehen und Werbung arbeiten gezielt an und mit diesem Mythos, obwohl faktisch nur 3-5% der norwegischen Gesamtbevölkerung Ostern auf diese Weise verbringt. Vgl. dazu Thomas Hylland Eriksen: Myten om påskefjellet. In: Dagbladet. Online unter http://folk.uio.no/geirthe/Paskefjellet.html (abgerufen am 27.07.2012).
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geht es um die Attraktivität der Mitreisenden. Seit TEXAS CHAINSAW MAS(US, R: Tobe Hooper, 1974) und dem Slasher-Prototypen FRIDAY THE 13TH (US, R: Sean Cunningham, 1980) ist diese Ausgangslage in unzählbaren Nachahmungen wiederholt worden. Jugendliche in Ferienstimmung auf dem Weg in regionaltypisch verschieden inszeniertes Hinterland, das für die meisten von ihnen den Tod bedeuten wird. Die topische Struktur vom Hinterland als ›backwood‹ wird in Wirkolas Film landes- und jahreszeitenspezifisch zur nicht weniger entlegenen Schneelandschaft. Gedreht wurde in Alta (Finnmark) und Målselv (Troms), in lebensfeindlichen und daher äußerst dünnbesiedelten Gebieten nördlich des Polarkreises. Doch unter der friedlichen, weißen Oberfläche lauert das Böse, das – dreckig, grau, erbarmungslos – seinen Weg zurück ans Tageslicht finden soll. Den Gesprächen ist zu entnehmbar, dass Vegards (Lasse Valdal) Freundin und Hüttenbesitzerin Sara (Ane Dahl Torp) ihren Freunden vorausgefahren ist. Die anfängliche Fluchtszene kann somit für die Handlung erschlossen und als weitere Antizipation der kommenden Gefahr, von der die Sieben zu diesem Zeitpunkt noch nichts ahnen, gelesen werden.13 Im Øksfjord angekommen, deutet nichts darauf hin, dass sich das Ferienidyll bald zum locus horribilis wandeln wird. Erlend (Jeppe Laursen) wirft sogar die Frage auf, wie viele Filme derart begännen, dass eine Gruppe junger Menschen zu einer Hütte aufbräche, und bekommt einschlägige Genrefilme genannt, die die autoreferentiellen und intertextuellen Beziehungen DØD SNØs offenlegen: EVIL DEAD 1 und 2, FRIDAY THE 13TH, APRIL FOOL‘S DAY (US, R: SACRE
13 Die Musik dieser Szene, die mit Edvard Griegs I Dovregubbens hall (deutsch meist In der Halle des Bergkönigs) aus der Peer Gynt Suite unterlegt ist, antizipiert bereits die weitere Handlung des Films. Das Thema von Griegs Suite steigert sich in dem Moment zum Stakkato, als Peer von den Trollen als heiratsunwilliger Fremder erkannt wird und das gemeinschaftlich vorgetragene »Slagt ham!« (Henrik Ibsen: Peer Gynt. In: Skrifter Bd. 5. Hg. v. Vigdis Ystad. Oslo: Aschehoug, 2005ff., S. 547) – »Schlachtet ihn!« – den Tötungswunsch der Trolle artikuliert. Damit greifen Wirkola und co. nicht nur eine allgemein bekannte, geradezu (national-)stereotype Musik auf, sondern auch filmhistorisch auf ein prominentes Vorbild zurück. Der Kindermörder Hans Beckert (Peter Lorre) in Fritz Langs M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (1931) verspürt zu eben dieser Musik seinen unwiderstehlichen Drang zu töten, die den gesamten Film leitmotivisch durchzieht.
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Fred Walton, 1986), zu denen im weiteren Verlauf noch TERMINATOR (US/GB, R: James Cameron, 1984) und INDIANA JONES AND THE TEMPLE OF DOOM (R: Steven Spielberg, 1984) durch markierte Zitate hinzukommen, die Erlend situativ adaptiert. Sein Ausruf »Fortune and glory, kid«, hervorgerufen durch die Entdeckung eines Schatzkästchen in der Bodenluke, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht als böses Omen erkannt werden, das sich ironisch gebrochen im weiteren Verlauf als fatal erweisen soll. Erst als ein älterer, im Abspann lediglich als ›Turgåer‹, als Wanderer bezeichneter Mann (Bjørn Sundquist) auftaucht und um Kaffee bittet, werden die jungen Urlauber über einen lokalen Fluch aufgeklärt, der seit dem Zweiten Weltkrieg über der Gegend liegen soll, als die Deutschen größtenteils von der einheimischen Bevölkerung erschlagen worden waren und wenige Überlebende der Einsatzgruppe sich in die Berge geflüchtet hatten.14 Bezeichnenderweise spricht der Mann von Oberst Herzog (Ørjan Gamst) und seinen SS-Soldaten als »onde satans jävler«, als »böse Satansteufel«, und ruft damit eine klischeehafte Geschichtsdeutung auf, die im Folgenden noch näher zu behandeln ist. Die Studenten jedoch schenken der
14 Nach der Besetzung Norwegens im Anschluss an das sog. ›Unternehmen Weserübung‹ im Frühling 1940 wurden insgesamt sechs Einsatzkommandos der ›Einsatzgruppe Norwegen‹ unter dem Oberbefehl des SS-Oberführers Heinrich Fehlis in Norwegen stationiert. Auf eines dieser Einsatzkommandos, wahrscheinlich das sechste, ›Tromsö‹, spielt der Wanderer durch die Nennung des Wortes »Einsatz« an. Auf dieses historische Kapitel wurde auch bereits im Zusammenhang mit dem norwegischen Musiker Varg Vikernes Bezug genommen. Während er wegen Mordes eine Haftstrafe verbüßte, ließen UnterstürzerInnen, die einen Befreiungsversuch unternahmen, aktionsbegleitend T-Shirts mit dem Slogan »Support your local Einsatzommando« drucken. Neben den großflächigen Buchstaben zierten das Shirt auch ein SS-Totenkopf, das Logo von Vikernes’ Band Burzum und Runen. Vikernes, der aus der Haft heraus als fanatischer Neonazi in Erscheinung trat, ließ unter dem Titel Vargsmal seine an die altisländischen Spruch- und Weisheitsdichtungen der Havamál angelehnten rassistischen und antisemitischen Interpretationen zur germanischen Mythologie veröffentlichen und spielte ebenfalls bei der Gründung der Northern Heathen Front (NHF) eine entscheidende Rolle. Er gilt als eines der maßgeblichen Vorbilder für das (Sub-)Genre des National Socialistic Black Metal (NSBM) und Popularisator völkischer Inhalte in bestimmten Teilen der Metal-Szene.
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Erzählung über die Untoten keinen Glauben. – In der nächsten Szene wird der Mann zum Opfer der Zombies, gegen deren überraschenden Angriff er sich nicht verteidigen kann. Als Vegard am nächsten Tag zur Suche nach seiner Freundin aufbricht, entdeckt er schließlich die Leiche des Mannes, kann seinen Freunden jedoch nicht darüber berichten, da er im Schnee einbricht und in ein Tunnelsystem gerät, das die Sage von den Nazizombies zu bestätigen scheint. Er findet dort Waffen, Uniformen, eindeutige Partei-Abzeichen sowie den abgetrennten Kopf seiner Freundin Sara, der den Ernst der Lage klar werden lässt. Chris (Jenny Skavlan) fällt, nachdem sie mit Erlend Sex gehabt hat, dem Genreklischee des Slasher-Films folgend, dass vor- oder außereheliche Kontakte zu unmittelbarer Strafe führen, den Zombies als nächste zum Opfer. Unmittelbar anschließend bricht der Zombie-Angriff auf die Holzhütte und den Rest der Gruppe los, der die Verbliebenen schnell begreifen lässt, dass es sich um die untoten Nazis handelt, an die sie nicht hatten glauben wollen. Erlend, der Entdecker des Schatzes, verliert dabei als nächster und auf spektakuläre Weise das Leben. In der forcierten intertextuellen Verschränkung bekannter Motive und übermarkierter Anspielungen, entfaltet der Film sein volles Potential, das ihm unter Genrefans große Beliebtheit verschafft hat.15 Die Suche nach dem in der Vorratsluke verborgenen Goldschatz, den die Besucher entdecken und damit die Zombies alarmieren, hat die toten Nazis im Øksfjord gehalten. Motivisch PIRATES OF THE CARIBBEAN (2003, R: Gore Verbinski) durchaus nicht unähnlich, fügt sich auch dieses Element ins Zitationsverfahren Wirkolas, das den gesamten Film prägt und ein Gewebe zahlreicher, bekannter und markiert gesetzter Anspielungen und Motive bildet. Diese entfalten aus dem vorausgesetzten populärkulturellen Vorwissen des Publikums einerseits durch die Variation des Bekannten situative Komik, andererseits beschwören sie eine
15 Vgl. die zahlreichen Rezensionen in den Onlinefilmdatenbanken: http://www. ofdb.de/film/161094,Dead-Snow.
Die überwiegend positiven Publikumsmei-
nungen z.B. in der International Movie Data Base und Rotten Tomatoes bestätigen dies; der Spaßfaktor zählt neben den zahlreichen Verweisen auf bekannte Genreklassiker zu den Hauptbegründungen für positive Bewertungen. Vgl. http://www.imdb.com/title/tt1278340/reviews?filter=love und http://www.rotten tomatoes.com/m/dead_snow (abgerufen am 27.07.2012).
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Ahnung davon, dass das innerfiktive Geschehen für die Protagonisten ausweglos ist. Genährt wird diese Ahnung unter anderem über das als metafiktionaler Verweis funktionierende T-Shirt Erlends, das auf Peter Jacksons BRAINDEAD (1992) referiert, den es antizipiert und seinen Träger einen ebensolchen erleiden lässt: Sein Kopf wird auseinander gerissen, das üppige Hirn fällt effektvoll zu Boden.16 Sam Raimis EVIL DEAD erscheint als dominantester Prätext, der nicht nur in Motivwahl und deren Gestaltung wiederzuerkennen ist, sondern auch in der Verschränkung von Humor und Splatter, die ihre Vorbilder darin ernst nimmt und damit anders als in BRAINDEAD keine reine GenrePersiflage erzielt wird. Da sich die Gruppe ohne Hilfe von außen in der Falle wähnt, werden Hanna (Charlotte Frogner) und Liv (Evy Kasseth Røsten) losgeschickt, während Martin und Roy (Stig Frode Henriksen) die Hütte bewachen. Auf dem Weg zu den Autos werden die zwei Frauen von den Zombies entdeckt und Liv getötet. Hanna kann sich zunächst retten, indem sie sich mit einem Wiedersacher in den Abgrund stürzt – später wird sie aus Versehen von Martin erschlagen. Martin und Roy können die Hütte unterdessen nicht lange verteidigen, da sie diese mit einem verunglückten Molotow-Cocktail selbst in Band setzen. Im Geräteschuppen rüsten sie sich mit Spalthammer und Kettensäge, um sich ebenfalls zu den Autos durchzuschlagen. Hier erreicht der Film seinen dramaturgischen Höhepunkt, denn auch sie werden von mehreren Zombietrupps angegriffen, die sie vorerst allesamt spektakulär besiegen können. Ein Höhepunkt dieses Kampfes ist als Vegard mit seinem Schneescooter zu ihnen stößt und diesen in BRAINDEAD-Manier statt des Rasenmähers zur Vernichtung der Zombies verwendet. Er wird trotzdem nach kurzem von fünf Untoten zugleich erdolcht und zerrissen. Martin, der nach einem Biss glaubt, infiziert worden zu sein und sich bald auch zu verwandeln, sägt sich mit der Kettensäge seinen rechten Arm ab. Dennoch scheinen er und Roy entkommen zu können als sie zwischenzeitlich nur noch Oberst Herzog gegenüberstehen. Dieser ruft allerdings mit seinem einzigen gesprochenen Wort »Aufstehen!« unzählbare Zombies zurück an die Oberfläche. Die weitere Flucht gestaltet sich schwierig, auf der Roy von Herzog mit seinem eigenen Hammer erschlagen wird. Als der
16 Nahezu identisch wird diese Tötungsart auch in Kevin Tenneys BRAIN DEAD (2007) von einem Zombie an seinem vormaligen Anglerkollegen praktiziert.
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mt, erkennt Martin, dass der Oberst nur Roy jedoch die Taschenuhr abnimm an der Rückeroberung des Schatzess iinteressiert ist und kehrt zur inzwischen te zurück. Ein Happyend scheint jedoch vollständig niedergebrannten Hütte en aushändigt. Er macht sich davon und möglich als er Herzog das Kästchen erreicht schließlich auch die Autos. Beim B Hantieren mit dem Zündschlüssel fällt ihm neben diesem eine Münzee in den Fußraum – der letzte Teil von u holen gekommen ist. »Oh faen«, »oh Herzogs Schatz, den dieser sich zu scheiße«, ist die letzte Erkenntnis dees Films. Abbildung 1: Oberst Herzo zog und sein Einsatzkommando
Filmstill, Eufforia Film, 2009.
G ESCHICHTE Sven Jüngerkes und Christiane Wiiegand haben den untereisischen Aufenthaltsort der Nazis in Anlehnung aan Jan Assmans Vorstellung zurecht als iert, in der die traumatischen Erinnerun»Krypta der Erinnerung« identifizier ie nicht ausschließlich die eigene ist und gen an die Vergangenheit, die »die will […] latent überdauern und das koldie offensichtlich nicht verwesen wi lektive Unbewusste strukturieren.«177 DØD SNØ wird somit auch als Beitrag
17 Sven Jüngerkes / Christiane Wiegan and: Vergangenheit, die nicht verwesen will. Die Wiedergeburt des Nazi-Zombie ie-Films und das Erbe der Besatzung: Dqd Snq (2009) & co. In: Jörg van Beb ebber (Hg.): Dawn Of An Evil Millennium. Horror/Kultur im neuen Jahrtausend nd. Darmstadt: Büchner, 2011, S. 557-563,
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zur Besatzungszeit Norwegens und der sich daran anschließenden Vergangenheitsbewältigung lesbar. Im Film selbst jedoch bleibt die Erinnerungsleistung blass. Außer dem Erkennen, es mit lebensgefährlichen Untoten zu tun zu haben, wird die historische Dimension dieser Wiederauferstehung nicht weiter thematisiert. Susanne Maerz hat die Bedeutung der Besatzungszeit als einen der entscheidenden Faktoren für die kollektive Identitätsbildung Norwegens herausgearbeitet, die über eine Setzung des Eigenen dem Fremden, Deutschen, gegenüber sich in der Nachkriegszeit vollzogen hat.18 Als problematische Tendenz dieses Identitätsbildungsprozesses hatte bereits Anne Eriksen die Mythisierung der Okkupationszeit festgestellt: »For nazismen forstås ikke bare som ideologi og politisk system, det er en sterk tendens til å opfatte den som identisk med ondskapen selv: Nazismen er det tjuende århundres materialisering av det ondes prinsipp. I vestlig kultur fungerer den i dag som den sterkeste og mest levende metafor for det onde, med Hitler i rollen som Det Onde Mennesket. Nazismen har dermed gitt moderne vestlig kultur den demonologi som religionen ikke lenger synes i stand til å levere på en overbevisende måte.«19
hier: S. 561. Die dort verbliebenen Deutschen sind, in Anlehnung an den britischen Science Fiction-Film THE FROZEN DEAD (1966, R: Herbert J. Leder), im ewigen Eis konserviert worden. Während Leders Film die Experimente eines Dr. Norberg inszeniert, der zwanzig Jahre nach Kriegsende eingefrorene NaziGrößen wiederzubeleben versucht, so bleibt der unmittelbare Wiederbelebungsakt der Wirkola-Zombies unthematisiert. 18 Vgl. Susanne Maerz: Die langen Schatten des Besatzungszeit. »Vergangenheitsbewältigung« in Norwegen als Identitätsdiskurs. Berlin: Berliner Wiss.Verl., 2008, darin vor allem S. 65ff. Dies lässt sich mit der bereits von Jüngerkes / Wiegand zitierten »Mythomotorik von nationalen Identitätskonstruktionen« zur Deckung bringen, die Jan Assmann in Das kulturelle Gedächtnis beschrieben hat. Eine ihrer Funktionen liegt darin, »die Deutung von Vergangenheit und die mögliche Struktur von Zukunftsentwürfen narrativ zu formen«, zitiert bei Jüngerkes / Wiegand, S. 559. 19 Anne Eriksen: Det var noe annet under krigen. 2. verdenskrig i norsk kollektivtradisjon. Oslo: Pax Forlag, 1995, S. 170. [»Denn der Nazismus wird nicht nur als Ideologie und politisches System verstanden, es gibt auch eine starke Tendenz, diesen als identisch mit dem Bösen schlechthin anzusehen: Der Nazismus ist die Materialisierung des bösen Prinzips im 20. Jahrhundert. In der westlichen
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In einer von pseudoreligiösen Vorstellungen geprägten Geschichtsdeutung werden die Norweger zum verführten Volk und Hitler als universelles »Prinzip des Bösen« und Verkörperung »des Bösen Menschen« dämonisiert und zur mythisch-übermenschlichen Figur erhoben. Genau innerhalb dieser Denkfigur bewegt sich der warnende Wanderer, der mit seiner Rede von den »bösen Satansteufeln« dieselbe Mythisierung vollzieht. Eriksen hat das Problematische und Fatale dieser delegierenden Geschichtsdeutung in ihrem Resümee auf die prägnante Feststellung gebracht, dass »Myten gir ikke kunnskap, den stjeler historien.«20 In dem Moment, da Geschichte zum mythischen Geschehen umgedeutet wird, wird sie menschlicher Verursachung und Beeinflussung enthoben, der Mensch zum passiven Opfer, Schuld an einen oder zumindest wenige »Verführer« delegiert und eine praktische Lehre aus dem Geschehen für die Zukunft unmöglich. Roland Barthes hat, im Anschluss an Marx‘ diese Funktion des Mythos als »Entziehung der Geschichte« beschrieben, hinter der er die »Unverantwortlichkeit des Menschen« als Kern bürgerlicher Mythenbildung erkannt hat.21 Dieses problematische Verhältnis zur Geschichte, die einerseits als fremd und unangenehm überwunden, bewältigt oder vergessen werden soll, andererseits aber von grundlegender Bedeutung für die nationale Mythenbildung, das nation building, ist und derer sich somit nicht ohne Verlust positiv gedeuteter Vergangenheitsbezüge entledigt werden kann, spiegelt sich in DØD SNØ auch auf Figurenebene wider: Ich und Nicht-Ich, das erwünschte Eigene und das unerwünschte, abjekt gesetzte Eigene werden wiederholt explizit thematisiert.22 Julia Kristeva hat in ihrer Studie über den
Kultur fungiert er heutzutage als die stärkste und lebendigste Metapher für das Böse, mit Hitler in der Rolle des ›Bösen Menschen‹. Der Nazismus hat dadurch der modernen westlichen Kultur jene Dämonologie gegeben, die die Religion nicht mehr in überzeugender Art und Weise zu liefern in der Lage scheint.« Übers. NP] 20 Ebd., S. 174. [»Der Mythos vermittelt kein Wissen, [sondern] er stiehlt die Geschichte.« Übers. NP] 21 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Deutsch von Helmut Scheffel. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1964, S. 141. 22 Vgl. Tommy Kvarsvik: Da skrekken kom til Norge. En studie av hva som skremmer i norsk horrorfilm. Masteroppgave, Kristiansand 2009, S. 117-119. Kvarsvik bezieht sich vor allem auf die »›hverdaglige‹ abjekter« »bpsj, tiss og
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Horror die Abspaltung als grundlegende Bestimmung des Abjekten definiert. Das Abjekte ist das vom Ich Abgespaltene, ein ihm ursächlich Zugehöriges, das als ihm entgegengesetzte Projektionsfläche bedeutend bleibt.23 Dieser psychologische Reflex lässt sich auch auf das dem Film eingeschriebene Geschichtsverständnis und die norwegische Diskursgeschichte übertragen. Über deren partielle Ablehnung sich das Nationalbewusstsein kollektiv als widerständig phantasiert, und die Erkenntnis, dass dem nicht wirklich so ist und das, was zur Sympathie mit dem NS und der Kollaboration geführt, lange nicht überwunden ist, generiert einen Horror, der die Figuren zur Flucht und letztlich zum Scheitern antreibt wie die Filmemacher, die den Modus der Komödie und damit der Verschleierung wählen, um der unangenehmen Konsequenz einer fundamentalen Selbst- und damit notwendigerweise einer Nationalismuskritik auszuweichen. Die Abspaltung des deutschen Einflusses, der Kollaboration – des, in der Sprache Kristevas ›Dreckigen‹ und Verwerflich-Verworfenen, das in den Zombies Gestalt annimmt – geht einher mit dem Regressionswunsch, mit eben dem Abjekten zu verschmelzen. Dies gelingt nolens volens einigen der Figuren im Film, die durchs Gefressenwerden mit den Zombies vereinigt werden. Vor diesem Hintergrund agieren die Figuren in DØD SNØü symptomatisch, die eine »ahistorische Lebensweise»24 pflegen, sich unpolitisch verstehen und mit der Vergangenheit ganz offensichtlich nichts anfangen können. Selbst dann nicht, wenn sie explizit darauf gestoßen und vor einem allzu leichtfertigen Treiben gewarnt werden. Ob darin eine konkret als solche formulierte Kritik an einer »geschichtsvergessenen Spaß-Generation«25 der Verantwortlichen steckt, wie Jüngerkes und Wiegand schreiben, ist nicht ohne weiteres zu bestätigen. Zwar ist ihnen zweifellos zuzustimmen, dass »[i]n den Untoten Anwesenheit und Abwesenheit von Vergan-
spd«, die im Film wiederkehrend thematisierten Alltagsabjekte »Scheiße, Pisse und Sperma«. 23 Dazu vor allem das erste Kapitel Approaching Abjection in Julia Kristeva: Powers of Horror. An Essay on Abjection. New York u.a.: Columbia Univ. Press, 2010, S. 1-18. 24 Jüngerkes / Wiegand: Vergangenheit, die nicht verwesen will, S. 557-563, hier: S. 560. 25 Ebd.
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genheit gebündelt [sind]« und sie als »die handlungs- und kommunikationsleitenden Akteure« agieren, »die die Differenz von Geschichtsverlust und Geschichtsbewusstsein markieren und sie damit aufheben«26; dass aber »[a]uf diese Weise dem Zuschauer dieses Rituals der Drastik eine Erfahrung der geschichtsphilosophischen Katharsis beschert [wird]«, würde ich in Zweifel ziehen, denn die kathartische Funktion bleibt eine Leerstelle. Die forcierte Verunsicherung, die etwa Clive Barker für seine Romane und Filme beabsichtigt27, aus der heraus Normalitätskonstruktionen kritischer Reflektion unterzogen werden und die Rezipierenden damit nicht nur ästhetisch, sondern auch intellektuell herausfordern, ist in DØD SNØ so nicht zu erkennen. Dies mag wiederum auch in der Machart des Films begründet liegen, in dessen Verlauf zahlreiche bekannte Genremuster nachgezeichnet werden, deren Effekt gerade das Gegenteil von Verunsicherung ist. Über ein derart forciertes Wiedererkennen des Bekannten und bereits Erfahrenen ist kein realer Schrecken mehr möglich. Die Wiederholung bestimmter Elemente, die zur Ausbildung von festen Mustern, patterns, des Genres geführt hat, hat zugleich das Publikum gegen die Wirkung der Bilder imprägniert. So auch der Schock, mit dem der Film endet. Er erregt erneut Gelächter – »oh faen«. Das Gelächter beschert allerdings kein Happyend, das Lachen ist weder bitter noch kathartisch, nur eine abermalige Bestätigung des PIRATES OF THE CARIBBEAN-Flairs, in dem sich die fluchhafte Handlungsstruktur schließlich bestätigt. In den ebenso exzessiven wie innovativen Splatterszenen beweist sich die Verlegung des klassischen ›backwood‹-Settings in die nordnorwegische Schneelandschaft allerdings als äußerst glücklich und effektvoll. Der strahlend weiße (Neu-)Schnee stellt eine ideale Grundlage dar, auch ohne den
26 Ebd., S. 562. 27 Vgl. Linda Badley: Writing Horror and the Body. The Fiction of Stephen King, Clive Barker and Anne Rice. Westport [u.a.]: Greenwood Press, 1996. Badley zitiert dort aus einem Interview mit Clive Barker: »›A lot of horror is written to reassure people the values they bring to the book are…correct,‹ Barker said in 1990, with King in mind, adding, ›I’m not writing horror to reassure people.‹« Zitiert nach Badley, S. 73. Ihrer Einschätzung nach leistet Barkers Kunst, dass sich ein großenteils eher »reaktionäres« Genre wie das des Horrors für Tabus und kontroverse Ideen öffne und es ihm gelänge, Splatter in eine »iconography of confrontation and paradox« zu verwandeln. Ebd., S. 74.
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kulturgeschichtlichen Referenzrahmen der Verbindung von Blut und Schnee zu bemühen28, das frisch vergossene und verspritze Blut nachhaltig in Szene zu setzen. Der natürliche Kontrast erzeugt eine gesteigerte Sichtbarkeit, deren Resonanz das tatsächliche Geschehen um eine ästhetische Komponente erweitert. Hier liegt auch der Konnex zum Titel des Films, der ursprünglich, in Anlehnung an die norwegisch-schwedische Krimi-Serie DXVüGHPü-DKUüüDOVüRØD SNØüJHSODQWüZDU Doch aber Død Snø – toter Schnee – in seinen ursprünglichen Aggregatszustand verwandeltes Wasser? Ein verdoppelter metaphorischer Ausdruck für Lebloses? Oder nur eine leere Phrase, deren semantischer Gehalt sich im kurzen Wohlklang erschöpft? Schnee ist das, woraus die Toten und damit der Tod kommen. Schnee ist es, in dem die menschlichen Figuren den Tod finden. Schnee ist es, der als von Toten bevölkert, schließlich übrigbleibt. In der Verschränkung dieser Referenzmöglichkeiten wird der im Grunde unschuldige (weiße) Schnee zur Bühne des Todes, dessen Abgesandten er Schutz bietet und auf dem sie reiche Ernte halten. Es wurde bereits auf das feine Detail hingewiesen, dass sich die Filmhandlung zu Ostern ereignet – nur in einem Nebensatz im Gespräch mit dem Wanderer werden die »påskeferie«, die Osterferien, erwähnt. Die Auferstehung Christi geht mit dem Wechsel der liturgischen Farbe vom Karfreitags-Rot zum Oster-Weiß einher. Ein ironischer Kunstgriff, der eine Perversion der christlichen Vorstellung von der Wiederkehr des Erlösers und der mit ihm verbundenen Hoffnungsverheißung, den Tod überwunden zu haben, darstellt. Demgegenüber zeigt DØD SNØ die Wiederkehr jener Toten, die keinerlei Hoffnung verheißen und keine Erlösung anbieten, sondern den sofortigen und brutalstmöglichen Tod bescheren.
28 Blutstropfen im Schnee haben seit der prominenten Szene zu Beginn des sechsten Buches in Wolfram von Eschenbachs Parzival, in der der titelgebende Held sich durch das Blut einer Schneegans seiner Frau Condwiramurs erinnert, eine ganze Reihe von literarischen Wiederholungen erfahren. Im Märchen hat die Königin angesichts dreier Blutstropfen eine Vision ihrer späteren Tochter Schneewittchen, in Selma Lagerlöfs Herr Arnes Penningar (1904) oder Peter Hoegs Frqken Smillas fornemmelse for sne (1992) setzen Blutspuren im Schnee ähnliche handlungsmotivierende (Erkenntnis)prozesse in Gang, die zudem oft im Zusammenhang mit Schuld stehen. Dieser Aspekt bleibt in DØD SNØüDXV. 29 Vgl. http://www.imdb.com/title/tt1278340/trivia (abgerufen am 27.07.2012).
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R ÜCKBLICK : N AZIZOMBIES
UND
E XPLOITATION
Tommy Wirkola hat zwar in Interviews durchaus den Bezug zur norwegischen Geschichte betont, diesen zugleich aber durch den gedankenlosen Umgang mit den historischen Elementen wieder unterlaufen. In einem Interview mit der Los Angeles Times vom 28.06.2009 nennt er einige Entscheidungen in der Konzeption von DØD SNØ, den er ganz bewusst auf Norwegisch gehalten und gegen die vorherrschende englischsprachige Filmleitkultur in Skandinavien gesetzt hat. Auch dem, wie er sagt, ernsten und langweiligen norwegischen Film habe er etwas entgegensetzen wollen. Über allem habe aber die Absicht gestanden, den ersten skandinavischen (Nazi-)Zombie-Film zu machen – und dabei die eigene Geschichte mit einzubeziehen: »We thought it would be natural to mix in our own war history, that's really strong in Norway.«30 Der Mix ist dabei jedoch deutlicher ausgeprägt als konkrete historische Bezüge, und wenn diese doch feststellbar sind, bewegen sie sich im Bereich unreflektierter Geschichtsdeutung. Ein Verhältnis, das jedoch auch seine filmischen Vorbilder hat. Jüngerkes und Wiegand haben betont, dass Nazizombies »das Genre auf[brechen], indem sie sich gerade nicht ins typische Erwartungsschema eines Zombie- oder Kriegsfilms fügen.«31 Dieser ›Aufbruch‹ ist zugleich ein Synonym für die Beliebigkeit, mit der Horror und Historie in Beziehung gesetzt werden. Denn auch wenn die Produzenten die erste skandinavische Symbiose von Nazi und Zombie vollzogen haben, handelt es sich um eine seit dreißig Jahren etablierte Kombination im Horrorfilm, die bereits eigene Stereotype hinsichtlich der Handlungsorganisation und in der Darstellung der bedrohlichen Zombies ausgebildet hat. Nazis figurieren ohnehin, wie Julian Petley schreibt, als »icons of the monstrous in horror movies«32, die, um das primitivistisch-nachmensch-
30 Mark Olsen: ›Dead Snow‹ What's more evil than Nazi zombies? 28.06.2009. Online verfügbar unter: http://articles.latimes.com/2009/jun/28/entertainment/ca -indiefocus28 (abgerufen am 27.07.2012). 31 Jüngerkes / Wiegand, S. 563. 32 Julian Petley: Nazi Horrors. History, Myth, Sexploitation. In: Ian Conrich: Horror Zone. The cultural experience of contemporary horror cinema. London [u.a.]: I. B. Tauris, 2010, S. 205-224, hier: S. 205. Petley liefert zudem einen guten Überblick über Figurationen von Nazis im (Horror)film.
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liche Gebaren der Zombies erweitert, zum ultimativen Bösen geraten.33 Als zweifach monströses Wesen potenziert der Nazizombie die Bedrohung, die nach Steve Neale Kennzeichen des Monströsen schlechthin ist. Unabhängig davon in welcher Gestalt es auftritt, gilt, dass es »disrupts and challenges the definitions of the ›human‹ and the ›natural‹«34. Damit steht es in markiertem Gegensatz zum normgebenden menschlichen Subjekt, das seinen Verstand anwendet, um sich des Monströsen zu erwehren und es schließlich in Übereinstimmung mit den innerfiktiv gültigen Vorstellungen von Recht und Moral auch zu eliminieren.35 Damit besitzt die Naziploitation einen qualitativen Vorsprung gegenüber konventionellen Zombie-Filmen darin, dass sie über eine gesteigerte Provokationskraft auf der Ebene politischer Symbole und Abzeichen verfügt. Vom ironischen Spiel bis zur lustvollen Zurschaustellung des moralisch Verworfenen, Stigmatisierten und außerhalb der Kunst juristisch Verbotenen ist das ostentative Zeigen von Nazi-Paraphernalia eine Konstante im Exploitationfim.36 Uniformen, ein Hakenkreuz-Banner oder der
33 Vgl. dazu ein Interview mit Tommy Wirkola, in dem er diese These als Vorüberlegung formuliert: http://www.filmschoolrejects.com/features/exclusive-tom my-wirkola-talks-dead-snow.php (abgerufen am 27.07.2012) 34 Steve Neale: Genre. London: British Film Institute, 1980, S. 21. 35 Der Eliminierungsdrang, der sich scheinbar nicht integrierbaren Figuren gegenüber äußert, ist eine Grundfigur des literarischen und filmischen Horrors. Von einem um Restitution bemühten konservativen Geist, für den das Prinzip des alter non datur gilt, sind viele (klassische) Horrorfilme getragen. Sie zeigen Grenzüberschreitungen und Ordnungsverletzungen, sei es durch einen Dracula, King Kong oder extraterrestrische Wesen, die jedoch von Vertretern der ›richtigen‹ Ordnung – Priestern, Polizisten, Militär oder Wissenschaftlern – bezwungen und eliminiert werden. 36 Vgl. Marcus Stigleggers Arbeiten Nazi-Chic und Nazi-Trash sowie Sadiconazista, die sich ausführlich mit der Verbindung von faschistischer Ästhetik und Exploitation auseinandersetzen. Im Anschluss an Ephraim Katz definiert Stiglegger Exploitation als »die Intention des Filmemachers, aus einem populären Thema mit reißerischem Potential ein Höchstmaß an spektakulären Effekten zu gewinnen«, die sich vor allem solcher Sujets bedienen, die »die Voraussetzungen für die explizite Darstellung von Gewalt- und Sexualakten garantieren […].« Mar-
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SS-Totenkopf haben bei ihrem erstmaligen Gebrauch eine stärkere Wirkung als es die taumelnden Untoten allein hätten, indem sie auf realitätsnahe, wenn auch pseudohistorische Phänomene referieren. SHOCK WAVES (US, R: Ken Wiederhorn, 1977, deutscher Untertitel DIE SCHRECKENSMACHT DER ZOMBIES), ist der erste Film, der Weltkriegswiedergänger als Nazizombies aufbietet. Ein marodes Kreuzfahrtschiff kollidiert in der Nacht mit einem gespenstischen Schiff, das kurz darauf nicht mehr zu sehen ist. Das Ausflugsschiff havariert, läuft auf eine Sandbank auf und die Passagiere stranden auf einer scheinbar verlassenen Insel. Das zivilisationsferne Setting findet sich hier also ebenso wie das Motiv der Warnung, die ein zunächst unsichtbarer Inselbewohner ausspricht und den Neuangekommenen rät, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden. Dieser gibt sich später als ehemaliger SS-Kommandant zu erkennen und klärt die Gestrandeten darüber auf, dass durch ein Seebeben sein Schiff mitsamt einer Spezialeinheit wieder aufgetaucht ist. Diese aus Mördern rekrutierte und durch medizinische Experimente in gleichermaßen blinde wie mordlüsterne Untote verwandelte Truppe trachtet den Passagieren nach dem Leben und dezimiert diese einer stereotypen Genrelogik entsprechend auf eine einzige Überlebende, das ›finalgirl‹ Rose (Brooke Adams). SHOCK WAVES ist ein in fast jeder Hinsicht dürftiger Film, der allerdings eine raumsemantische Grundstruktur geprägt hat, die in einigen nachfolgenden Nazizombieproduktionen wieder aufgegriffen wurde. Die SS-Einheit nämlich ist nicht endgültig vernichtet, sondern nur vergessen und von den Elementen überdeckt worden, bis sie durch ein akzidentelles Naturereignis wieder befreit wurde. Das Meer fungiert wie der Schnee in DØD SNØ als zweifaches Movens der Handlung: zum einen sind sie der Grund, aus dem die späteren Opfer ihre jeweiligen Reisen antreten, zum anderen plausibilisieren sie die Fortexistenz der vorübergehend untergetauchten Nazis, die unter dem elementaren Schutz jahrzehntelang unerkannt bleiben konnten. Mit arrivierten Genredarstellern besetzt – John Carradine tritt als Kapitän auf, Peter Cushing ist in der Rolle des SS-Kommandanten zu sehen – inspirierte SHOCK WAVES mehrere Regisseure bei der Stoffauswahl wie auch bei dessen Umsetzung. Jean Rollins LE LAC DES MORTS VIVANTS (F, 1981, ebenfalls unter dem Titel ZOMBIE LAKE) orientiert sich deutlich an Wieder-
cus Stiglegger: Sadiconazista. Faschismus und Sexualität im Film. St. Augustin: Gardez! Verlag, 2000, S. 44.
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horns Vorbild und greift das Motiv der Wiederkehr aus dem Wasser explizit wieder auf: Von der Résistance getötete deutsche Wehrmachtssoldaten, die in einen See geworfen wurden, kommen aus diesem mit grün getünchten Gesichtern wieder hervor, um sich die über Bevölkerung und besonders eine weibliche Sportmannschaft herzumachen. Ungefähr zeitgleich entstand NIGHT OF THE SS-ZOMBIES, (US, R: Joel M. Reed), der ebenfalls 1981 veröffentlicht wurde und seine Story unmittelbar mit dem Zweiten Weltkrieg verknüpft. Dieser hat im Bayrischen Gebirge kein Ende gefunden, sondern Amerikaner und Deutsche stehen sich nach wie vor kriegerisch gegenüber – durch ein amerikanisches Kampf-Gas am (Über)Leben gehalten und mit dem Bedürfnis ausgestattet, Menschenfleisch zu konsumieren. Der wie die meisten anderen des frühachtziger »Nazi zombie cycle«37 auch als ›Kultfilm‹ gehandelte LA TUMBA DE LOS MUERTOS VIVENTES (E/F, R: Jess Franco, 1983, zeitgleich entstand auch eine französische Fassung unter dem Titel L'ABÎME DES MORTSVIVANTS, international wurde der Film als OASIS OF THE ZOMBIES vermarktet) inszeniert zombifizierte deutsche Soldaten als Wächter eines Goldschatzes, den sie bereits zu Lebzeiten durch afrikanische Wüsten transportiert hatten, bevor sie von Alliierten getötet wurden und in ihrem Nachleben gegen Schatzsucher verteidigen. DØD SNØ zeigt sich durch übereinstimmende Motive von Francos Film beeinflusst. Nach einer Zäsur Mitte der 1980er Jahre gewannen Nazizombies erst nach der Jahrtausendwende wieder an Attraktivität. Der US-amerikanische Film HORRORS OF WAR (R: Peter John Ross und John Whitney, 2006) der von Kritik und Publikum gleichermaßen disqualifiziert38 wurde, erschöpft sich darin, altbekannte Motive in einer auffallend unzeitgemäßen Optik zu bedienen. Diese erinnert (unfreiwillig?) an SHOCK WAVES, wobei der Vorspann zunächst noch ambitioniert gewirkt hatte. In handlungsarmen einundneunzig Minuten liefern sich US-Alliierte kleine Scharmützel mit unbedarften »Krauts«, die aber Dank des erpressten Dr. Schaltur über nachmenschliche Kampfmaschinen verfügen, die sich wie so viele Zombies vor ihnen auch schon per Kopfschuss liquidieren lassen. Im Finale stehen sich der verwandelte Schaltur und ein GI gegenüber, der sich ebenfalls
37 Petley: Nazi Horrors, S. 208. 38 Vgl. etwa die DVD-Bewertungen unter http://www.amazon.com/Horrors-WarJon-Osbeck/dp/B000UTOKKM (abgerufen am 27.07.2012).
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selbst infiziert hat und den vermeintlich unbesiegbaren Zombiewissenschaftler mit nur einem Schlag besiegen kann. An der Grenze vom BMovie zum Trash-Film, dessen selbstreflexiven, ironisch-subversiv und letztlich vor allem humoristischen Komponenten HORRORS OF WAR jedoch völlig fehlt, gelingt den Regisseuren Ross und Whitney ein handwerklich erschreckend schwacher und konzeptionell ärmlicher Film, dessen eigentliche Schockwirkung sich eher über die völlige historische Indifferenz entfaltet, mit der die erzählte Geschichte als isolierte Teilhandlung des allgemeinen Kriegsgeschehens dargestellt wird. Von den wirklichen, im Titel großspurig angedeuteten Schrecken des Krieges zeigt der Film kaum welche, außer vielleicht am resignativen Schluss, der einen erneuten Einsatz ankündigt, da die Deutschen noch weitere Zombieeinheiten in Front gebracht haben und der scheinbar gewonnene Kampf nur eine Episode unter vielen gewesen ist. Die britische Produktion OUTPOST (R: Steve Barker, 2008) fällt im Vergleich mit den anderen hier aufgeführten Filmen zunächst gesamtästhetisch aus dem Rahmen. Besetzung, Bildsprache, Sound und Effekte verraten einen anderen qualitativen Anspruch, auch wenn dieser einen ähnlich abstrusen Plot verfolgt. Ein Ingenieur heuert einige Söldner für eine Mission in Osteuropa an, bei der er, wie sich erst spät herausstellt, eine Maschine sucht, mit der die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ihre Soldaten unverwundbar machen wollten. Dies misslang, hatte jedoch den Nebeneffekt, dass die getöteten Soldaten in einem Feld gefangen gehalten wurden, in dem sie als unsichtbare Untote weiter existieren konnten, um sich zum Kampf gegen die Söldner zu rematerialisieren. Mit DØD SNØü teilt OUTPOST die Grundstruktur einer territorialen Fixierung der Nazizombies, die zu dessen Schutz alle Eindringlinge töten und ihren ›Schatz‹ behüten. Die erzielte Wirkung auf das Publikum ist dabei freilich eine andere. Die klaustrophobisch engen Bunkerschächte, die diffusen Lichtverhältnisse und nicht zuletzt die weit dämonischeren Zombies mit ihrem glatzköpfigen Anführer (der im Abspann lediglich als ›The Breather‹ geführt wird) erschaffen einen ungebrochenen Horror, der durch den kollektiven Tod der Figuren zusätzlich eine pessimistische Tendenz gewinnt, denn die angeforderte Verstärkung scheint genau das gleiche Schicksal zu erwarten. Ein Sequel (OUTPOST 2: BLACK SUN) ist bereits angekündigt, der Nazispuk auch hier noch nicht gebannt.
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Der seit 2006 in Produktion befindliche FRANKENSTEIN’S ARMY (NL/ US, R: Richard Raaphorst), der bislang nur in Form zweier Trailer und einigen Filmstills öffentlich gemacht wurde, weicht vor allem ästhetisch von allen anderen hier genannten Filmen ab. Ganz in schwarz-weiß gehalten, wird bereits über den Titel ein Rückbezug auf den Schauerroman anvisiert. So mutet der Film zunächst auch in der soldatischen Leichenfledderei auf dem Friedhof gothisch an, paart diese Eindrücke mit beunruhigenden Fabrikationsszenen, in denen die Herstellung der Nazizombies in industrieller Fertigung gezeigt wird. THE 4TH REICH des Regiedebütanten Shaun Robert Smith, der gleich mit Genregrößen wie Tom Savini oder Doug Bradley aufwarten können wird, wird zum Zeitpunkt dieser Aufzeichnungen für 2013 angekündigt. In jüngster Zeit wurden auch in Alan Balls Serie TRUE BLOOD (US, 2008ff.) Untote als vermeintliche Nazis prominent inszeniert. Die Vampire Godric und Eric, beide skandinavischen Ursprungs, verbargen sich, wie die Episode BEAUTIFULLY BROKEN (3.02) zeigt, zu Kriegszeiten in der SS; wenn auch nicht als überzeugte Nationalsozialisten wie die ihnen verfeindeten Werwölfe. Eine Institutionenkritik legt Drehbuchautor Mark Hudis Vampir Bill in ME AND THE DEVIL (4.05) in den Mund, wenn er über die Camouflage-Taktik der Vampire verrät, dass sie sich zu allen Zeiten in mächtigen Organisationen wie der Katholischen Kirche, Fox News, Google oder eben der SS verborgen hätten. Formen der – zwar pseudo- – historischen Verankerung, die auf die außerfiktive Welt referieren, diese kommentieren und vielleicht subvertieren. Solche Bezüge sind bei Wirkola nicht feststellbar. Denn das effektvolle Spiel mit Zeichen überwiegt die Konzeption und auch letztendlich das Produkt. »We thought, what is more evil than a zombie? A Nazi zombie, of course.«39 Das reale Böse, das sich durchaus allegorietauglich in Gestalt dieser Chimären hätte darstellen lassen, wurde indes nicht mit umgesetzt. Wie in den bereits erwähnten Vorläufern sind ein historischer Kommentar oder die Bildung eines Problembewusstseins kaum als Ziele des Films zu erkennen, stattdessen ein auf unterhaltsame Genrevariationen und massenkompatibel inszenierte Splattereffekte gegründetes Amüsement. So kann DØD SNØ trotz seiner professionellen Machart und seines selbstironi-
39 Interview abrufbar unter http://articles.latimes.com/2009/jun/28/entertainment/ ca-indiefocus28 (abgerufen am 27.07.2012).
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schen Charakters, auch vor dem Traditionshintergrund des Genres, als Exploitationfilm gewertet werden, der sich beispielsweise von den Filmen George R. Romeros gravierend darin unterscheidet, dass er kein kritischer Kommentar sein möchte. Romero hingegen hat seine Zombies immer als politisches Moment gesehen: »I always thought of the zombies as being about revolution, one generation consuming the next.«40 Diese Lesart ließe sich freilich auch auf DØD SNØ anwenden. Doch mit welcher Aussage, wenn nicht mit einer zutiefst regressiven, die das Vergangene als siegreich feiert und als unterhaltsames Spektakel inszeniert. Der Humor wirkt als allzu starkes Distanzierungs- und Relativierungsmedium, das dem eigentlichen und dem dargestellten Grauen viel von seinem Schrecken nimmt. Deshalb schrieb ich am Anfang, dass die Inszenierung als Komödie unter den gegebenen Umständen unglücklich gewählt ist, denn die narrative Grundstruktur des Films greift ein gravierendes gesellschaftliches Phänomen auf und hätte eine solche Darstellung verdient, die das kritische Potential nicht zum Großteil einem schnöden Amüsement opferte. Denn dass dem Publikum das Lachen im Halse stecken bleibe, kann aufgrund der bisherigen Rezeptionszeugnisse nicht angenommen werden. Durch den Modus der Komödie kann der Film viel von seinen expliziten Splatterszenen herunterspielen und gar als »feel-good film«41 wahrgenommen werden; nur selten konnte bisher über zerbrochene Köpfe, abgetrennte Gliedmaßen, herausgerissene Eingeweide und eben mordlüsterne Nazis gelacht werden. Doch, und das ist das entscheidende, gibt der Film bzw. Regisseur Tommy Wirkola mit der Wahl des Modus Komödie zu viel vom Potential der ernsten Thematik preis, die mit kritischen Untertönen versehen, durchaus ein produktiver Beitrag zum Problem der ganz offensichtlichen nicht überwundenen Vergangenheit, und parabolisch gelesen, auch der konkreten Gefahren wiederkehrender faschistischer Denk-
40 Zitiert nach: Henry Powell: »One Generation Consuming the Next« The Racial Critique of Consumerism in George Romero’s Zombie Films. Honors Theses. Paper 462, 2009. http://digitalcommons.colby.edu/honorstheses/462 (abgerufen am 27.07.2012). 41 Nathan Lee spricht in einer Rezension von »Scandinavia's first Nazi zombie horror slasher feel-good film«. Nathan Lee: A Scandinavian Splatterfest, Relishing Its Cliches. http://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=10541 8682 (abgerufen am 27.07.2012).
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und Handlungsweisen hätte sein können. So erschöpft sich das Politische darin, dass Hammer und Sicher zwar einmal, durchaus ironisch und symbolisch zugleich, dafür genutzt werden einen Nazizombie unschädlich zu machen. Aber eben nur einen, der kaum pars pro toto für die Vernichtung des Bösen stehen kann. Die performative Bannung des Schreckens bleibt also aus. Am Ende gewinnen die Deutschen und der Spuk, dem die jungen Menschen zum Opfer gefallen sind, bleibt inner- wie außerhalb der Fiktion bestehen. Ein Tauwetter, das das Eis bräche und schonungslos offen legte, was im Geheimen fortbesteht, ist nicht zu erkennen. Der Schatz des Oberst Herzog lauert – ebenso wie er selbst – als faszinierendes und bedrohliches Potential fort.
Zwischen Nachahmung und Neuinterpretation Horror- und Mysteryfilme aus Skandinavien und ihre US-Remakes P ETRA S CHRACKMANN
Gerade mal zwei Jahre nachdem der schwedische Vampirfilm LÅT DEN 1 RÄTTE KOMMA IN (SE, Tomas Alfredson, 2008) Kritiker und Zuschauer begeistern konnte, fand bereits ein US-Remake den Weg auf die Kinoleinwände, in welchem die düster-poetische Geschichte aus dem schwedischen Blackeberg nach Los Alamos, New Mexico, versetzt wurde. Einer möglichen ablehnenden Haltung der skeptischen Fangemeinde kam der amerikanische Regisseur Matt Reeves zuvor, indem er versicherte, dass man vom Remake LET ME IN (US, R: Matt Reeves, 2010) mehr als eine typische ›Hollywoodisierung‹ erwarten könne. In Interviews drückte er wiederholt seine große Verehrung für den Originalfilm und die Romanvorlage von John Ajvide Lindqvist2 aus und betonte, dass an der schwedischen Originalversion schlicht nichts zu verbessern sei.3 Da ihn die Geschichte jedoch 1
Internationaler Titel: LET THE RIGHT ONE IN, deutscher Titel: SO FINSTER DIE NACHT.
2
John Ajvide Lindqvist: So finster die Nacht. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, 2007. (Orig. 2004).
3
Vgl. Ian Berriman: Refashioned With Passion. In: SFX Magazine 202 (2010), S. 69-70, hier: S. 70. Alastair Upham: Once Bitten, Twice Shy. In: Total Film 173 (2010), S. 113-115.
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enorm bewegt habe, habe er sie gerne noch einmal in einem US-amerikanischen Setting erzählen wollen. Reeves zufolge handelt es sich bei seinem Remake um eine äußerst werkgetreue Adaption im Geiste von Lindqvists Geschichte4 und keinesfalls um eine schnell produzierte und bloß auf kommerziellen Erfolg ausgerichtete Amerikanisierung: »The thing about a lot of remakes is there’s a sense of a soulless retread with the people involved. Obviously, you know why producers want to make a project – they’re trying to get involved with a project where they can make money, and the studios are the same way. But if the filmmakers behind it all similarly don’t share a passion for the story, then I think you get an empty, soulless retread and people feel like it’s an insult to the original film. I don’t know what people will think of our film, but I can say that we certainly didn’t make it that way.«5
Reeves’ Anliegen, das Kinopublikum nicht nur von der Qualität seines Werkes zu überzeugen, sondern auch seine integren Absichten für das Remaking eines beliebten Filmes zu vermitteln, deutet an, wie kontrovers Neuverfilmungen diskutiert werden. Remakes, so scheint es, eilt ein wenig schmeichelhafter Ruf voraus. Als Filmproduktionen, welche sich offen als ›Neuverwertung‹ eines anderen Werkes zu erkennen geben, haftet ihnen oftmals ein Hauch der Unoriginalität an. In Zeiten, in denen sogenannte Prequels, Sequels und Reboots erfolgreicher Filme fast in regelmäßigen Abständen auf den Markt geworfen werden und insbesondere die weltweit dominierende US-Filmindustrie die globalen Filmmärkte systematisch nach interessanten Drehbüchern zu durchforsten scheint, ist es leicht, Remakes als ein weiteres Beispiel für die angebliche Ideenlosigkeit und rein kommerziellen Interessen Hollywoods abzustempeln. Das Phänomen Remake geht jedoch über finanzielle Motive und bloße filmische Wiederholung hinaus. Schon die Tatsache, dass sich das Remaking kaum auf die Ebene der Produktionspraktik reduzieren lässt, sondern – ähnlich wie bei Neuinszenierungen von Theaterstücken – immer auch eine Frage von Adaption und Interpretation eines Stoffes ist, zeigt deutlich, dass eine verallgemeinernde (ab-)wertende Beurteilung filmischer ›Wiederverwertung‹ schlicht zu kurz greift. Durch den intertextuellen Bezug auf frühe-
4
Upman: Once Bitten, S. 115.
5
Berriman: Refashioned, S. 69-70.
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re filmische Werke zeigen Remakes gleichermaßen zeitgeschichtliche, filmästhetische sowie kulturell bedingte Eigenheiten und Entwicklungen auf, wie sie auch (Neu-)Interpretation und Bearbeitung der Vorlage sind. Der vorliegende Beitrag macht es sich explizit nicht zum Ziel aufzuzeigen, wie Hollywood aus rein finanziellen Interessen ›filmisches Recycling‹ betreibt und dadurch originelle Filme ›ruiniert‹. Stattdessen werden Remakes im Spannungsfeld von Intertextualität, Zitat und Adaption näher untersucht. Dazu bedarf es erst einiger einleitender Ausführungen zum Remake-Begriff, wobei die Aspekte Produktion, Distribution sowie Rezeption mitzubedenken sind. Im Fokus des Beitrags stehen schließlich Remakes als Produkte des (gegenseitigen) filmischen Austausches zwischen Skandinavien und den USA. Aufgezeigt wird dies am Beispiel von drei transnationalen Remake-Filmpaaren, jeweils bestehend aus einem dänischen bzw. schwedischen Film und dessen US-Remake. Anhand des dänischen Erfolgs-Horror-Thrillers NATTEVAGTEN6 (DK, R: Ole Bornedal, 1994), der mit NIGHTWATCH7 (US, R: Ole Bornedal, 1997) vom selben Regisseur in den USA neuinszeniert wurde, wird mitunter auf die jeweiligen Produktionsbedingungen der beiden Filme eingegangen. Anschließend richtet sich der Blick auf zwei neuere Remake-Paare, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise das Thema Geister behandeln: Dies sind zum einen der dänische Mysteryfilm MIDSOMMER (DK, R: Carsten Myllerup, 2003) und dessen US-Horror-Pendant SOLSTICE (US, R: Dan Myrik, 2008); zum anderen der schwedische Mysteryfilm DEN OSYNLIGE8 (SE, R: Joel Bergvall/Simon Sandquist, 2002), der auf dem gleichnamigen Roman von Mats Wahl (2000)9 beruht und in den USA als THE INVISIBLE10 (US, R: David S. Goyer, 2007) neu verfilmt wurde. Am Beispiel der drei Filmpaare wird aufgezeigt, wie US-Remakes auf Vorgängerwerke aus Skandinavien zurückgreifen und wie sich im Prozess der Neuverfilmung Aspekte wie Genre und Figurenzeichnung entscheidend verändern können. Abschließend werden allfällige filmübergreifende Gemeinsamkeiten im in-
6
Auf der deutschen DVD betitelt mit NIGHTWATCH. NACHTWACHE – DAS ORIGINAL.
7
Deutscher Titel: FREEZE – ALPTRAUM NACHTWACHE.
8
Deutscher Titel: INVISIBLE – GEFANGEN IM JENSEITS.
9
Mats Wahl: Der Unsichtbare. München: dtv, 2006. (Orig. 2000).
10 Deutscher Titel: UNSICHTBAR – ZWISCHEN DEN WELTEN.
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terkulturellen filmischen Austausch zwischen Skandinavien und den USA herausgearbeitet.
»T HE PLEASURE OF THE PIRATED TEXT « 11 – Ü BERLEGUNGEN ZUM R EMAKE -B EGRIFF Der ursprünglich aus dem Filmjournalismus und der Filmindustrie stammende12 Begriff Remake bezeichnet als umbrella term die bewusste Neuinszenierung eines bereits existierenden Filmes. Wie bei anderen Formen der filmischen Adaption, etwa Literaturverfilmungen, wird grundsätzlich im Vor- oder Abspann auf das Vorgängerwerk verwiesen, dessen Nutzungsrechte vorgängig erworben worden sind. Alleine am Copyright-Verweis lässt sich eine Definition von Remakes jedoch kaum festmachen, da dies all jene Filme ausschließen würde, die ein Plagiat begehen und ihre Quelle nicht nennen.13 Im Grunde umfasst der Begriff eine Reihe unterschiedlicher Formen filmischer Bezugnahmen und Wiederholungspraktiken14, die sich im Lauf der Filmgeschichte herausgebildet haben und bis heute aus unterschiedlichen Motiven erfolgen. Nach Forrest und Koos reflektieren Re-
11 Andrew Horton / Stuart Y. McDougal: Introduction. In: Dies. (Hg.): Play It Again, Sam. Retakes on Remakes. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1998, S. 1-11, hier: S. 4. 12 Leo Braudy: Afterword. Rethinking Remakes. In: Andrew Horton / Stuart Y. McDougal (Hg.): Play It Again, Sam. S. 327-334, hier: S. 327. 13 Die Referenzialität zwischen einem solchen »unacknowledged remake« und seiner filmischen Vorlage wird dabei vor allem extratextuell vermittelt, etwa durch Institutionen wie Presse, Marketing, Filmverleih etc. Vgl. Constantine Verevis: Film Remakes. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2006, S. 22. 14 Unterschiedliche Klassifikationsschemata des Remakes bieten u. a. Michael B. Druxman: Make it Again, Sam. A Survey of Movie Remakes. South Brunswick: A. S. Barnes, 1975. Robert Eberwein: Remakes and Cultural Studies. In: Horton/Mcdougal (Hg.): Play It Again, Sam. Retakes on Remakes. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1998, S. 15-33. Thomas Leitch: Twice Told Tales: Disavowal and the Rhetoric of the Remake. In: Jennifer Forrest / Leonard R. Koos (Hg.): Dead Ringers. The Remake in Theory and Practice. Albany: State University of New York Press, 2002, S. 37-62.
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makes die historischen, wirtschaftlichen, sozialen, politischen sowie ästhetischen Voraussetzungen, unter denen sie entstanden sind.15 In den frühen Jahren der Filmgeschichte beispielsweise wurden Filme beim Verschleiß von Filmkopien schlicht erneut gedreht. Auch beim Aufkommen neuer technischer Möglichkeiten wie dem Ton- und Farbfilm oder neuer Spezialeffekte realisierte man Filme neu. Zum einen konnte man so beim Publikum bereits bewährte Stoffe nutzen, um neue Technologien zu testen, zum anderen blieben Publikumserfolge aktuell, indem man die technisch bald als veraltet geltenden Filme den neuen Sehgewohnheiten der Zuschauer anpasste.16 Zweifellos spielt der finanzielle Aspekt bei Remakes eine entscheidende Rolle, da durch den Rückgriff auf fertig geschriebene Drehbücher der Produktionsprozess und damit auch die Kosten erheblich minimiert werden können. Allerdings sind Remakes mehr als Produkte einer konservativen Marktstrategie, die auf bewährte ›Rezepte‹ setzt, zumal sie es ebenfalls ermöglichen, Stoffe zu aktualisieren, in ein neues – auch kulturelles – Setting zu versetzen oder Regisseuren die Gelegenheit bieten, ihre eigenen Werke als Selbstremake mit neuen technischen wie finanziellen Mitteln und Ideen zu readaptieren. Folglich muss die Vorstellung einer Neuverfilmung als bloße Imitation und Repetition eines eigenständigen Originalfilms hinterfragt werden, da sie Remakes kaum über die vereinfachende Dichotomie von (origineller) Vorlage und (als grundsätzlich minderwertig eingeschätzter) Kopie hinauskommen lässt, wie dies auch bei Literaturverfilmungen öfters zu beobachten ist.17 Genaue Wiederholung – sowohl bei Genres wie auch bei Remakes – ist nach Lim ohnehin unmöglich: »[…] generic repetition inevitably encodes difference or novelty. Generic repetition is always inexact, never a precise iteration.«18
15 Vgl. Jennifer Forrest / Leonard R. Koos: Reviewing Remakes: An Introduction. In: Dies. (Hg.): Dead Ringers: The Remake in Theory and Practice. Albany: State University of New York Press, 2002, S. 1-36, hier: S. 3f. 16 Vgl. Forrest / Koos: Reviewing Remakes, S. 29. 17 Zur Kritik am Konzept der Werktreue bei Literaturverfilmungen vgl. etwa Brian McFarlane: Novel to Film. An Introduction to the Theory of Adaptation. Urbana/Chicago: Clarendon Press, 1996, S. 8-11. 18 Bliss Cua Lim: Translating Time. Cinema, the Fantastic, and Temporal Critique. Durham/London: Duke University Press, 2009, S. 193.
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Zentral für das Phänomen Remake ist deshalb weniger der Aspekt der Repetition, sondern die Tatsache, dass es sich um eine weitgehend institutionalisierte Form von Intertextualität handelt, wobei das Remake auf ganz unterschiedliche Weise auf seine Vorlage Bezug nehmen kann – etwa durch Anspielungen, Zitate, die Wiederaufnahme beziehungsweise Bearbeitung von narrativen oder stilistischen Elementen, aber auch durch paratextuelle Übernahmen, etwa des Titels.19 In Anlehnung an Genette ist das Remake als Hypertext lesbar, welcher durch Transformation von seinem vorangehenden Film (dem Hypotext) abgeleitet wurde.20 Gerade für ein Publikum, das beide Versionen des Filmes kennt, oszillieren Remakes so zwischen Vertrautem und Neuem und konstituieren Horton und McDougal zufolge »a particular territory existing somewhere between unabashed larceny and subtle originality. Remakes, in fact, problematize the very notion of originality. […] [They] invite and at times demand that the viewer participate in both looking at and reading between multiple texts«21. Aufgrund der gewählten Referenzwerkewerden zwei grundlegende Formen von Remakes unterschieden: Das sogenannte Archivremake greift auf einen älteren Film zurück, der durch die Neuverfilmung eine Aktualisierung erfährt.22 Diese kann sich beispielsweise in Handlungsverlauf, veränderter Figurenkonstellation, Filmästhetik, aber auch im Aufgreifen aktueller gesellschaftlicher, politischer oder historischer Ereignisse und Diskurse niederschlagen. Demgegenüber ist das internationale bzw. transnationale Remake seltener eine zeitgeschichtliche Neusituierung, sondern eher mit
19 Verevis: Film Remakes, S. 21. 20 Vgl. Christian Knöppler: Intertextualität und das Filmremake. In: Marion Grein / Miguel Souza / Svenja Völkel (Hg.): Polyphonie, Intertextualität, Intermedialität: Ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Aachen: Shaker 2010, S. 113-146, hier: S. 121-123. Zum Thema Intertextualität und Remake vgl. auch Verevis: Film Remakes, S. 18-22. 21 Horton / McDougal: Introduction, S. 4. 22 Vgl. Leitch: Twice-Told, S. 38.
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einer Übersetzung23 zu vergleichen, bei der eine filmische Vorlage aus einer anderen kulturellen Situation in die eigene übertragen wird.24 Die Tatsache, dass Remakes häufig als Hollywood-typisches Phänomen25 wahrgenommen werden, erklärt sich unter anderem durch die spezifischen Produktions- und Distributionsumstände der US-Filmindustrie, welche schon rein sprachlich auf ›übersetzende‹ transnationale Remakes angewiesen ist: Im Gegensatz etwa zu vielen europäischen Ländern hat sich in den USA keine vergleichbare Synchronindustrie herausgebildet, und auch das Zielpublikum für untertitelte Filme ist klein26, weshalb ausländische Filmefast ausschließlich in amerikanisierter Remake-Version an ein breiteres US-Publikum gelangen. Gerade die Neuinszenierung von Filmstoffen aus anderen Ländern erfährt jedoch immer wieder scharfe Kritik, derzufolge Remaking häufig dezidiert nicht als interkultureller Dialog zu verstehen ist, sondern vielmehr als US-Kulturimperialismus27 interpretiert werden muss. Den US-Filmemachern wird vorgeworfen, dass die filmischen Vorlagen beim Remaking ihrer kulturspezifischen Eigenheiten entledigt und in altbekannte, Hollywood-typische Schemata gepresst werden, während den Originalfilmen höchstens in limitierter Form Zugang zum USMarkt gewährt wird. Die marktdominierende Position der US-Filmstudios
23 Hollywood-Remakes britischer Filme zeigen allerdings, dass eine sprachliche Übersetzung nicht zwingend ist, z. B. DEATH AT A FUNERAL (GB, R: Frank Oz, 2007/US, R: Neil LaBute, 2010). 24 Vgl. Knöppler: Intertextualität, S. 137. 25 Dies spiegelt sich auch in der Forschungsliteratur wider, die sich besonders auf das US-Remake konzentriert und gerade beim transnationalen Remake vor allem den filmischen Import in die USA im Blickfeld hat. Vgl. Sandra Kühle: Remakes. Amerikanische Versionen europäischer Filme. Ramscheid: Gardez!, 2006. 26 Vgl. Kühle: Remakes, S. 9-10. Zu Erklärungsansätzen dieser Entwicklung siehe Forrest / Koos: Reviewing Remakes, S. 24-25. 27 Zum Diskurs um Hollywood-Remakes, globalisiertes Copyright und Kulturimperialismus vgl. Myoungsook Park: Hollywood’s Remake Practices under the Copyright Regime. French Films and Japanese Horror Films. In: Scott A. Lukas / John Marymsz (Hg.): Fear, Cultural Anxiety, and Transformation. Horror, Science Fiction, and Fantasy Films Remade. Lanham [et. al.]: Lexington Books, 2009, S. 107-128.
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ermöglicht es zudem, dass die US-Remakes meist auch international vertrieben werden und den Erfolg ihrer Vorlagen in deren Ursprungsländern nicht selten sogar übertreffen können.28 Eine zu starke Polarisierung von Hollywood und dem Rest der filmproduzierenden Welt ist allerdings in mehrfacher Hinsicht problematisch: Längst sind internationale Kooperationen verbreitet, und US-Filme gehören in vielen Ländern zum integralen und fast selbstverständlichen Teil der populären Imagination, weshalb eine strikte Trennung zwischen Hollywood29 und nationalen Filmindustrien kaum mehr möglich sein dürfte. Zudem führt die undifferenzierte Gleichsetzung der »generic practice«30 des Remakingmit der US-Filmindustrie zu einer vereinfachenden Dichotomie zwischen Europa und Amerika, zwischen vermeintlicher Kunstproduktion und anspruchsloser Unterhaltungsindustrie, welche die USA letztlich als ›Unkultur‹ darstellt, die nur massenhaft kopieren/imitieren, aber selbst kaum Neues abseits festgefahrener Formeln kreieren kann. Gerade in Anbetracht dessen, dass Remakes keineswegs nur in den USA produziert werden, dürfte diese Gegenüberstellung von Kunst und Kommerz wohl vor allem etwas über die vorurteilsbehaftete Sicht der Alten auf die Neue Welt aussagen und weniger über die tatsächliche US-Filmproduktion sowie über Remakes und deren transformatives Potenzial.31
28 Der für 1,2 Millionen US-Dollar produzierte Horrorfilm RINGU (JP, R: Hideo Nakata, 1998) etwa erzielte im Heimmarkt einen Gewinn von 6,6 Millionen USDollar, weltweit 20 Millionen US-Dollar. Das Remake THE RING (US, Gore Verbinski, 2002) erreichte bei 40 Millionen US-Dollar Produktionskosten in Japan ein Einspielergebnis von 8,3 Millionen US-Dollar, weltweit sogar 230 Millionen US-Dollar. Vgl. Lim: Translating Time, S. 233. 29 Hollywood ist hier notabene nicht nur als nationale Filmindustrie der USA zu verstehen, sondern als die »international institutionalization of certain standards and values of cinema, in terms of both audience expectations, professional ideologies and practices and the establishment of infrastructure of production, distribution, exhibition, and marketing, to accommodate, regulate, and reproduce these standards and values«. Andrew Higson: The Concept of National Cinema. In: Screen 30/4 (1989), S. 36-46, hier: S. 38. 30 Vgl. Lim: Translating Time, S. 193. 31 Vgl. Forrest / Koos: Reviewing Remakes, S. 29: »while it is very convincing to discuss the American remake of foreign films in terms of the theft of the integ-
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Die Praktik des Remaking, so zeigt sich, bezeichnet mehr als einen einseitigen Prozess »from authenticity to imitation, from the superior selfidentity of the original to the debased resemblance of the copy«32, der sich vor allem auf Textebene festmachen lässt und durch marktstrategische Überlegungen erklärbar wird. Neben Produktions- und Distributionsaspekten sind ebenso die jeweiligen Diskurse um den Kulturexporteur USA sowie um Remakes an sich fester Bestandteil einer kritischen Beschäftigung mit dem Phänomen. Nicht zuletzt spielt die Ebene der Rezeption eine entscheidende Rolle, denn immerhin sprechen Remakes häufig ein heterogenes Publikum an, das ganz unterschiedliches Vorwissen (über die Vorlage und dessen Produktion/Distribution wie auch über das jeweilige Genre) zum Rezeptionsvorgang mitbringt. Damit spannt sich bei Remakes ein komplexes dialogisches Beziehungsgeflecht zwischen verschiedenen Texten, Autoren und Rezipienten auf, welches im Folgenden anhand der gewählten Remake-Paare näher beleuchtet wird.33 Ein Däne als Wiederholungstäter – Das Selbstremake am Beispiel von NATTEVAGTEN (1994) und NIGHTWATCH (1997) In der jüngeren Geschichte des dänischen Filmschaffens, welches ab Mitte der Neunzigerjahre auch international zunehmend rezipiert worden ist, nimmt Ole Bornedals erster Kinospielfilm NATTEVAGTEN in mehrfacher
rity of other national identities, as well as in terms of Hollywood’s effort to standardize, Coca-Cola-ize the world, this position facilitates the convenient omission of other cultures from such ›reprehensible‹ practices. We are led to believe that European films adapt, readapt, cite, pay homage to, parody, but do not remake, the former activities being linked to artistic and literary traditions of high culture, the latter being representative of American films and their ties to commerce and commercial interests. […] The truth, however, is that every national cinema [...] remakes both its own films and those of other countries; every national cinema is both a business and a producer of art.« 32 Verevis: Film Remakes, S. 58. 33 Constantine Verevis (Film Remakes) untersucht Remakes demgemäß anhand dreier Hauptkategorien: Industrie (Produktion, Filmindustrie und -geschäft, Autoren und deren Intention beim Remaking); Text (Plots, Strukturen, Taxonomien) sowie Kritik (Rezeption, Diskurs).
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Hinsicht einen prominenten Platz ein. Der im In- und Ausland bei Publikum und Kritikern34 gleichermaßen erfolgreiche Thriller war der erste dänische Film überhaupt, der die Rechte für ein Remake an ein US-Filmstudio verkaufen konnte. Ferner bediente sich der Film zu einer Zeit, als in Dänemark vornehmlich Komödien, historische oder psychologische Dramen sowie intellektuelle Künstlerfilme produziert wurden, ganz bewusst bekannter Genrekonventionen nach dem Vorbild Hollywoods, was zu jener Zeit äußerst ungewöhnlich war.35 Auch weil sich NATTEVAGTEN moderner als bisherige dänische Kassenschlager gab und vor allem bei einem jungen Publikum Anklang fand, markiert der Film Regisseur Ole Bornedal zufolge den Auftakt einer Verschiebung vom mehrheitlich realistisch geprägten, eher intellektuellen Kunstfilm zum publikumsfreundlicheren Unterhaltungsfilm: »[NATTEVAGTEN] made use of a contemporary cinematic language while mobilising the classic thriller genre, and it was driven uniquely by a strong sense of narrative desire, by a tight dramaturgical set-up. What is more, it pursued certain entertainment values almost shamelessly. I don’t think the film is a great work of art, but it did help to legitimate the idea that even European film art can make good use of generic stories.«36
Die Übernahme typischer Elemente aus dem Hollywoodkino stellt kein Plädoyer für die ›Hollywoodisierung‹ des dänischen Films oder für den
34 Der Film ist mehrfach preisgekrönt und wurde u.a. an den Filmfestspielen in Cannes gezeigt. Hjort und Bondebjerg führen 456344 verkaufte Kinotickets in Dänemark an (vgl. Mette Hjort / Ib Bondebjerg: The Danish Directors. Dialogues on a Contemporary National Cinema. Bristol/Portland: Intellect 2000, S. 235). Ole Bornedal erwähnt im Audiokommentar zum Film, dass sogar 15 % der dänischen Bevölkerung den Film gesehen haben sollen. Vgl. Ole Bornedal: Audiokommentar. In: ders.: Nightwatch. Nachtwache – Das Original. Dänemark 1994 (DVD: Leipzig: Kinowelt Home Entertainment 2009). 35 Vgl. Birger Langkær: A Story With a Style. Nightwatch and Contemporary Danish Film. In: Lennard Højbjerg / Peter Schepelern (Hg.): Film Style and Story. A Tribute to Torben Grondal. Copenhagen: Museum Tusculanum Press, 2003, S. 101-122, hier: 109-112. 36 Mette Hjort / Ib Bondebjerg: The Danish Directors, S. 234.
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Wandel zum anspruchslosen Popcornkino dar, denn Bornedal spricht hier weniger den bereits erwähnten Gegensatz zwischen US-Unterhaltungsfilm und europäischem Kunstfilm an. Vielmehr empfand er, dass viele dänische Filme zu der Zeit zu intellektuell und für das Publikum wenig zugänglich waren, was er vor allem darin begründet sah, dass die Gatekeeper filmischen Geschmacks, insbesondere des Danish Film Institutes, lange Zeit stark antikommerziell eingestellt waren: »Anything that even remotely resembled a commercial success was slaughtered, and the Danish film industry became a playground for spoilt intellectuals«37, kritisierte Bornedal die damaligen Tendenzen im dänischen Filmbetrieb. Was Dänemark lange nicht ermöglichte, bot Hollywood, das Filmemachern (bei allem Drang zum filmischem Erfolg) größere Freiheiten bei der Umsetzung ihrer Visionen gewährte: »[…] the director’s sense of narrative pleasure is completely uninhibited; it’s unconstrained by intellectual requirements having to do with what might be considered proper or a matter of good taste«38. Umgesetzt werden konnte NATTEVAGTEN dank der Finanzierung durch die 50/50Regelung des 1989 Film Act.39 Die Regelung ermöglichte es, bei anderweitiger Finanzierung des halben Produktionsbudgets für die zweite Hälfte bis maximal 3 Millionen KronenUnterstützung vom Staat zu erhalten. Erstmals war es damit möglich, Filme zu realisieren, ohne für das gesamte Projekt den Segen einer (vor allem akademischen) Fachjury erhalten zu müssen.40 Genau besehen bietet der Film tatsächlich eine recht konventionelle Thriller-Handlung, anderen (internationalen) Genre-Vertretern nicht unähnlich. Allerdings stellen populäre Genres an sich bereits Wiederholungen stets ähnlicher prototypischer Muster dar; entsprechend erschließt sich die Besonderheit eines Werkes aus einem bestimmten Genre eben gerade nicht durch dessen Einzigartigkeit, sondern dadurch, wie die historisch herausge-
37 Ebd., S. 233. 38 Ebd., S. 234. 39 Vgl. Mette Hjort: Small Nation, Global Cinema. The New Danish Cinema. Minneapolis/London: University of Michigan Press, 2005, S. 13-14. 1997 wurde die 50/50-Regelung zur 60/40-Regelung mit einem obersten Beitrag von 5 Millionen Kronen modifiziert. 40 Mette Hjort / Ib Bondebjerg: Danish Directors, S. 233.
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bildeten Genremuster variiert werden.41 Bornedal präsentiert mit NATTEVAGTEN einen gleichermaßen genretypischen wie innovativen Film, indem er Genrekonventionen aufgreift, diese aber auch ironisch bricht. Möglich ist dies, weil im Grunde zwei parallel laufende Handlungsstränge erzählt werden, die erst nach und nach ineinandergreifen: Der ›private‹ Handlungsstrang um den 24-jährigen – und für einen Filmhelden recht passiven – Jurastudenten Martin Bork ist relativ realistisch erzählt und trägt zur spannungsgeladenen Atmosphäre des Filmes immer wieder einen Schuss schwarzen Humors bei. Die Wette, die Martin mit seinem ausgeflippten Freund Jens abschließt, ist eine letzte Dummheit vor dem endgültigen Erwachsenwerden: Wer die Wette gegenseitiger Herausforderungen verliert, wird zur bürgerlichen Kleinfamilie verdammt und muss heiraten. Die Thriller-Handlung dagegen erzählt, wie Martin seine neue Stelle als Nachtwächter in der Pathologie eines Kopenhagener Krankenhauses antritt, und ist selbstredend auf Spannung ausgelegt. Sein unheimlicher Arbeitsplatz, der nekrophile Serienmörder, der Prostituierte ermordet und skalpiert, sowie Martins allmähliche Verstrickung in den Fall, die ihn selbst zum Hauptverdächtigen werden lässt, steckt bekannte (wenn auch gekonnt inszenierte) Konventionen des Thrillers beziehungsweise Horrorfilms ab. Für die Dramaturgie des Kriminalfalls werden zudem immer wieder wichtige Informationen in die Erzählung gestreut – nicht selten auch in stark redundanter Form42 –, um den reibungslosen Verlauf der Filmereignisse zu gewährleisten. Besonders in den ersten Filmminuten wird auf diese Weise viel Exposition präsentiert, wodurch falsche Fährten über die Identität des Mörders gestreut werden; zudem gibt es von Anfang an klare Hinweise auf spätere Ereignisse, die zum Teil erst zu entschlüsseln sind, wenn man den Film ganz gesehen hat.43
41 Vgl. Eggo Müller: Genre. In: Hans-Otto Hügel (Hg.): Handbuch Populäre Kulturen. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2003, S. 212-215, hier: S. 213. 42 Zur narrativen und stilistischen Redundanz vgl. Birger Langkær: Story With Style, S. 108-109. 43 Dies geschieht etwa in der ersten Filmszene, als Kalinka auf den Serienmörder verweist, von dem gerade in den TV-Nachrichten berichtet wird. Auf dem Bildschirm wird Kommissar Wörmer gezeigt, der – wie erst viel später klar wird –
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Bornedal weiß die Klaviatur des populären Genre-Kinos durch den Einsatz von spannungserzeugender Musik oder durch Kameraarbeit zu bedienen, um gezielt eine unheimliche Atmosphäre aufzubauen.44 Insbesondere subjektive Kamerafahrten und unerwartetes Heranzoomen erhöhen den Spannungs- und Gruseleffekt. Auffällig ist, dass solche Effekte gerade in der ersten Filmhälfte vor allem in Szenen gezeigt werden, in denen gar keine echte Gefahr für den Protagonisten droht. So werden beispielsweise Martins Emotionen eindrücklich durch die Kamerabewegung verbildlicht, als er an seinem ersten Arbeitstag das Licht in der Leichenhalle versehentlich angelassen hat. Weil ihm der Raum unheimlich ist, tastet er nur mit der Hand durch die Tür nach dem Lichtschalter; die Kamera, die dabei immer schneller werdend durch den Raum auf Martin zurast, steht dabei für das imaginäre Unheimliche, das nicht vorhandene Monster, vor dem sich Martin fürchtet. Der Film spielt mehrfach mit dem (Un-)Wissen der Figuren respektive der Zuschauer: Als Kalinka in Joyces Wohnung deren Leiche findet und bemerkt, dass der Mörder noch vor Ort ist, bleibt ihr dessen Identität verborgen; nur das Publikum erfährt, dass es sich beim Mörder um Kommissar Wörmer handelt. An anderer Stelle beginnt ein visuelles Verwirrspiel für die Zuschauer, als Martin kurz vor dem Showdown die Identität des Mörders entdeckt hat und die Kamera von der Leichenhalle durchs Krankenhaus zu Martin wandert, der in seiner Nachtwächterstation mit dem Mörder Wörmer telefoniert. Die Szene erinnert an den Anfang des Filmes, als das Bild fast schon suchend durch Martins und Kalinkas Wohnung fährt, ohne dass eine tatsächliche Person anwesend wäre, deren Perspektive die Kamerabewegungen darstellen könnte. Anders als beim Filmeinstieg erweist sich dieser erste Eindruck hier als falsch, denn die Kamerafahrt von der Leichenhalle zu Martin zeigt die Perspektive Wörmers, der – Mitte der Neunzigerjahre noch wenig verbreitet – ein Handy benutzt, um Martin in Sicherheit zu wiegen. Die Kamerafahrt wechselt somit für die Rezipienten erst mitten in der Szene vom vermeintlich auktorial-subjektiven Erzählen
selbst der Mörder ist. Von den Zuschauern unbemerkt, wird der Mörder somit schon zu Beginn entlarvt. 44 Birger Langkjær beschreibt vier Formen, wie Kamerabewegungen im Film verwendet werden: 1. re-framing, 2. moving point-of-view, 3. mental movement, 4. narrative movement. Vgl. Birger Langkær: Story With Style, S. 109-112.
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zur Ich-Perspektive des Mörders und setzt damit die Unberechenbarkeit des Serienmörders auch bildlich um. Für Bornedal bedeutete das Angebot des US-Filmstudios Miramax, den Film noch einmal als Remake für den US-Markt drehen zu können, einerseits den potentiellen Einstieg ins US-Filmbusiness45, andererseits bot sich ihm damit die Gelegenheit, mit höherem Budget und bekannteren Schauspielern eine professionellere Version seines Filmes umzusetzen. Neben dem Regisseur waren auch der Produzent Michael Obdel, der Kameramann Dan Lausten und der Komponist Joachim Holbek erneut beteiligt. Bornedal nutzte das Remake, um bisherige Schwachstellen auszubessern, indem etwa die Dialoge verbessert wurden (das Drehbuch schrieb er zusammen mit Steven Soderbergh) und Lücken auf Handlungsebene geklärt wurden. Erst im Remake wird beispielsweise erklärt, dass Joyce von Anfang an mit dem Mörder in Verbindung stand und von ihm manipuliert wird, damit Martin unter Mordverdacht gerät. Ebenso hat man die Gelegenheit genutzt, verpasste Chancen doch noch zu ergreifen: Im dänischen Original wird Martin lediglich davor gewarnt, die Tür zur Leichenhalle nicht zufallen zu lassen, solange er sich darin befindet, da es auf der Innenseite keinen Türgriff gibt – im Remake hingegen wird das Ganze zugespitzt, als Martin tatsächlich vom Mörder Inspector Cray in die Leichenhalle eingesperrt wird. In der Inszenierung lassen sich im Remake vereinzelt veränderte Details erkennen, welche zur schaurigen Atmosphäre beitragen: Die Bäume vor dem Gebäude, in dem sich Martins neuer Arbeitsplatz befindet, sowie ein Teil der Eingangshalle sind von Anfang an in schwarze Planen gehüllt, was Assoziationen zu einem Leichensack hervorrufen könnte. Weitaus häufiger sind aber Intensivierungen im Remake: Anstatt nur von seinem Job Mundgeruch zu bekommen, wie ihm sein Nachtwächtervorgänger prophezeit hatte, wird Martin zuhause prominent vor dem offenen Kühlschrank gezeigt, was durchaus auf die gekühlte Leichenhalle sowie die konservierten Organe im Labor verweisen könnte. Auf inhaltlicher Ebene stimmt das Remake weitgehend mit dem dänischen Original überein. Viele Dialogzeilen, die Inszenierung der Figuren
45 Der Vertrag mit Miramax beinhaltete, dass Bornedal bei drei Filmen Regie führen sollte. Vgl. Hjort / Bondebjerg: Danish Directors, S. 236. Seine HollywoodKarriere endet jedoch bereits nach NIGHTWATCH und einem Einsatz als Produzent bei MIMIC (US, R: Guillermo del Toro, 1997).
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und sogar Kameraeinstellungen und -bewegungen wurden größtenteils übernommen. Einige Veränderungen lassen sich durch kulturelle Unterschiede erklären – so wäre es in einem US-amerikanischen Setting offenbar nicht glaubhaft gewesen, dass Marie wie ihr dänisches Vorbild Lotte im Remake angehende Priesterin ist. Die Figur wurde allerdings nicht kulturell angepasst, sondern auf eine kaum näher charakterisierte, hübsche junge Frau reduziert, die vor allem als James‘ Freundin (und Ärgernis) auftritt.46 James wird dafür viel deutlicher als möglicher Mörder inszeniert, indem er wilder und rücksichtsloser als sein dänisches Pendant Jens dargestellt wird. Seine Motivation für die Wette ist nicht mehr die Verweigerung, erwachsen zu werden, sondern das verzweifelte Suchen nach einem ultimativen Kick, der seine Abgestumpftheit zu durchbrechen vermag. Auch dies macht ihn lange zum Hauptverdächtigen für Figuren wie Zuschauer – zumindest für jene, welche die dänische Filmvorlage nicht kennen.47 Während die Dreharbeiten Bornedal zufolge ziemlich reibungslos verliefen, gestaltete sich die Postproduktionsphase problematischer: Nach Testscreenings musste der Film umgeschnitten werden, so dass Löcher in der Handlung entstanden, welche Zuschauern, die das dänische Original bereits kennen, sofort auffallen dürften. Am deutlichsten fällt hier die Liebesszene zwischen Martin und Kalinka in der Leichenhalle auf, die im Remake komplett gestrichen wurde, vielleicht weil die Szene für ein amerikanisches Publikum zu makaber war. Damit wird jedoch ausser dem Zelebrieren des Lebens im Angesicht des Todes in der dicht gestrickten Handlung auch auf ein wichtiges Puzzleteil verzichtet, dessen Fehlen im fertigen Film sehr wohl bemerkbar ist. Die Einmischung zu vieler Beteiligter und der Anspruch von Miramax, einen veritablen Hit zu produzieren, obwohl der Film für Bornedal dafür »too European and too different«48 war, führte dazu,
46 Katherine und Marie stellen überhaupt wenig wichtige Figuren für das Remake dar; so erfährt man etwa bei beiden nicht, was sie beruflich machen. 47 So folgt James' Beschwerde darüber, dass seine Freundin Marie immer weniger zu Experimenten bereit ist, nur kurz auf die Einstiegsszene, in der die Zuschauer sehen konnten, wie der Mörder seine Fantasien bei einer Prostituierten auslebt. Praktisch bis zur Auflösung der Identität des Mörders werden immer wieder Hinweise gestreut, dass James der Täter sein könnte. 48 Vgl. Hjort / Bondebjerg: Danish Directors, S. 236. Bornedals Einschätzung, dass europäische und amerikanische Filme sich insbesondere durch »the diffe-
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dass der Filmstart mehrfach verschoben wurde und das Remake eher durchzogene Kritiken erhielt. Dass NATTEVAGTEN im direkten Vergleich mit NIGHTWATCH fast durchgehend als besser eingeschätzt wird, hat wohl auch mit den Erwartungen an das Remake zu tun. Während auf der Autorenseite Bornedal wie erwähnt im Grunde genommen denselben Film noch einmal in perfektionierter Weise erzählen wollte, erwarteten die Zuschauer, dass das Remake eine eigenständige Version der Geschichte erzählt, dass sich also eine deutliche Veränderung erkennen lassen sollte. Schauspieler Ewan McGregor, der im Remake die Hauptrolle von Martin übernahm, kritisierte zum Beispiel die Entscheidung, die Schauspieler in beiden Filmversionen weitgehend dasselbe machen zu lassen. McGregor kommentierte seine Eindrücke folgendermaßen: »[…] Hollywood’s good at picking up people who are hot […]. Someone’s hot in Europe, they try and put them to good use. Very often they’re brought over here and not allowed to do what made them great in the first place and they disappear – I’m thinking about the guy that directed NIGHTWATCH, Ole Bornedal, who I made the remake with. […] Miramax fucked up his movie. He did just film it frame-by-frame like the original and he should have brought something else to it, but then Miramax started fucking around with the end and they took all the interesting things out of the movie. So NIGHTWATCH ended up a kind of slightly spooky but bland movie, whereas the original is really weird and terrifying.«49
Interessanterweise formuliert McGregor hier, obwohl er ja am Film selbst beteiligt war, die Haltung vieler Rezipienten. Gerade in Dänemark war das Interesse an NIGHTWATCH recht groß; man war einem Remake also nicht von Anfang an abgeneigt. Doch stellte sich das Resultat als eine seltsame Mischung heraus, die zu viel von dem, was das Original besonders gemacht hatte, ›verloren‹ hatte und gleichzeitig nicht genügend Innovation beinhaltete, um überhaupt ein Remake zu rechtfertigen. Hier wird die eingangs bereits erwähnte Vorstellung der Studio-Bosse, die angeblich ohne Interesse
rence between silence and noise« (ebd.) auszeichnen, dürfte allerdings auch etwas vereinfachend sein. 49 Nev Pierce: The Total Film Interview. Ewan McGregor. In: Total Film 100 (2005), S. 102-107, hier: S.105.
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an der Integrität des Filmes Änderungen am Werk formen, um einen finanziellen Hit zu erhalten, erneut erkennbar. Auffällig ist, dass sich das Remake bereits vor den Credits von der ersten Szene an als Thriller zu erkennen gibt, indem es – ähnlich einem Slasher-Film – mit der Ich-Perspektive des Mörders einsetzt und sich so von Anfang an eindeutig in eine Genre-Tradition einreiht. Durch das Zusammenschneiden von Bildern der Mordopfer und Aufnahmen von Martins Geburtstagsparty wird zudem schon in den Credits deutlich, dass die beiden Handlungsstränge untrennbar miteinander verbunden sind. Die dänische Version des Filmes führt das Publikum weitaus langsamer an den Mörder heran und deckt erst allmählich auf, wovon der Film eigentlich handelt. Dies zeigt sich besonders in der Szene, in der sich erstmals alle wichtigen Figuren und Handlungsstränge kreuzen, was wiederum erst im Nachhinein erkennbar wird: Bei ihrem Treffen im Restaurant werden Martin, Joyce und Jens im Restaurant ganz offensichtlich in einer einzigen kurzen Einstellung von jemandem beobachtet. Aus wessen Perspektive man die drei sieht, wird im Film nicht explizit erklärt, die Verbindung dieser Einstellung mit dem Mörder wird erst nachträglich (und auch nur implizit) klar, wenn man dessen Identität bereits kennt. Rückblickend erweist sich diese Szene als eine Schlüsselstelle des Films, da Martin, der Nachtwächter, Jens, der Anstifter der Wette, Joyce, die unfreiwillige Helferin und das Opfer des Mörders, sowie der Mörder, der einst selbst Nachtwächter war und als Polizist in die (vermeintliche) Aufklärung des Falles verstrickt ist, hier erstmals alle aufeinandertreffen. Die Einschätzung vieler, dass NIGHTWATCH ein kaum bemerkenswerter Thriller wie viele andere sei, lässt sich, von den Produktionsschwierigkeiten einmal abgesehen, vielleicht auch damit erklären, dass einiges, was NATTEVAGTEN besonders machte, schlicht nicht übersetzbar war. Ein beachtlicher Teil des Charmes von Bornedals ursprünglicher Version liegt letztlich auch darin, dass sich der Film bei allen Gruselelementen und effektiver, an Hollywood angelehnter Inszenierung nicht ganz ernst nimmt und wiederholt Ironie einsetzt. Bestes Beispiel dafür ist der Schluss, der das Erzählte nicht mit dem Schrecken der Thriller-Handlung abschließt, sondern eine Doppelhochzeit zeigt, die es gleichzeitig schafft, die Wette zwischen Martin und Jens weiterzuziehen und mit Humor aufzulösen. Im Remake wird die fehlende Doppelhochzeit durch die betonte Männerfreundschaft ersetzt; die ›wahre‹ Beziehung ist offenbar die zwischen den
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Männern, und so schwören Martin und James nach den überstandenen schrecklichen Erlebnissen nicht ihrer jeweiligen Freundin, sondern einander, gemeinsam alt zu werden. Auch die wiederholten Meta-Anspielungen tragen dazu bei, dass NATTEVAGTEN für viele Zuschauer interessanter ist als sein Remake. Indem die Figuren konventionelle Abläufe und Aussagen von Filmen erwähnen und diese unverkennbar als nicht realistisch markieren, wird darauf hingewiesen, dass es sich eben gerade nicht um einen Hollywood-Film handelt, sondern um die Geschichte einer Gruppe junger Leute in Dänemark. Das Spiel mit der Fiktionalität wird in NATTEVAGTEN so weit getrieben, dass Martin am Ende direkt in die Kamera blickt und damit die sogenannte vierte Wand durchbricht. Intertextuelle Verweise und Meta-Anspielungen gibt es auch im Remake – tatsächlich sieht Bornedal dies als typische Eigenschaft zeitgenössischer Filme50; allerdings belässt das Remake es weitgehend dabei, Anspielungen auf andere Filme51 zu machen. Zwar sind im Remake Martins Augen am Ende ebenfalls im Fokus der Kamera, die Fiktionalität des Filmes wird aber nicht aufgebrochen. Stattdessen verliert das Bild die Farbe; die Geschichte wird zu einer Newsmeldung und verweist damit zurück auf den Anfang des Filmes, womit sich der Kreis der Erzählung ohne jegliche ironische Brechung schließt. Gender- und Genre-Rochade – M IDSOMMER (2003) und SOLSTICE (2008) Weniger bekannt als der Erfolgsfilm NATTEVAGTEN ist der dänische Mystery-Film MIDSOMMER, der von den mysteriösen Ferienerlebnissen einer Gruppe Jugendlicher erzählt. Die Handlung ist relativ einfach, wird jedoch
50 Vgl. Hjort / Bondebjerg: Danish Directors, S. 235. 51 Dies reicht von einfachen Zitaten, etwa Jack Nicholsons »Here’s Johnny!« aus THE SHINING (US, R: Stanley Kubrick, 1980) über die Nachahmung eines Facehuggers aus ALIEN (US/GB, R: Ridley Scott, 1979) bis zur ›celebrity intertextuality‹, indem nämlich Brad Dourif als Stationsarzt auftritt, dessen (im dänischen Original nicht so dargestellte) Freigiebigkeit beim Verschreiben von Pillen an seine berühmte Rolle als Irrenhausinsasse im Film ONE FLEW OVER THE
CUCKOO’S NEST (US, R: Milos Forman, 1975) anspielt. Zur ›celebrity
intertextuality‹ vgl. Verevis: Film Remakes, S. 20-21.
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auf spannende Weise erzählt: Zu Beginn des Filmes besucht der Protagonist Christian mit seiner Schwester Sofie eine Party zur Feier des Schulabschlusses. Dort schluckt Sofie eine Menge Schlaftabletten und nimmt sich so das Leben; warum sie es getan hat, bleibt ein Rätsel. Ein paar Monate später reist Christian mit seinen Freunden Trine, Anja, Mark und Jannick nach Schweden, um wie jedes Jahr im Ferienhaus am See das Midsommerfest zu feiern. Doch dieses Jahr ist alles anders: Christian hat immer wieder das Gefühl, dass ihn jemand beobachtet. Seltsame Dinge geschehen: Die Autoscheinwerfer gehen nachts plötzlich von selbst an, er hört wiederholt unwirkliches Kinderlachen, und selbst nachdem er Sofies Schlüsselbund in den See geworfen hat, kehrt dieser bald zu ihm zurück. Er ist sich sicher, dass es Sofie ist, die ihm etwas mitteilen will. Seine Freunde glauben, dass er sich alles nur einbildet und sich bloß schuldig fühlt, weil er Sofies Probleme nicht bemerkt hatte. Nur die neue schwedische Bekanntschaft Linn teilt seinen Glauben, dass etwas Übernatürliches vorgehen könnte. Während des Midsommerfestes überreden Linn und Christian die anderen zum Gläserrücken – und tatsächlich bekommen sie Antwort vom 10-jährigen Mädchen Malin, das vor Monaten verschwunden ist. Durch das Gläserrücken werden sie an eine Stelle im Wald geführt, wo sie Malins Leiche entdecken. Erst jetzt erkennt Christian, dass Sofies Schlüsselbund in Wahrheit dem Mädchen gehörte und dass darin ein Abschiedsbrief versteckt ist, der die Vorfälle aufklärt: Sofie und Trine hatten damals Malin unter Alkoholeinfluss überfahren, den Unfall vertuscht und das Mädchen im Wald neben einem Findling vergraben. Aus Schuldgefühlen nahm sich Sofie deshalb das Leben, und auch Trine kann mit ihrer Tat nicht länger leben und stürzt sich am Ende von einer Klippe. Malin kann nun in Frieden ruhen, da ihr Tod aufgeklärt und ihr Körper gefunden wurde. Obwohl MIDSOMMER wenig Action bietet und kaum Schockmomente enthält, ist der Film äußerst routiniert inszeniert und enthält einige Szenen, in denen durch den Einsatz spannungssteigernder Musik und unheimlicher Geräusche – etwa das unerklärliche Kinderlachen – eine beklemmende Atmosphäre kreiert wird. Auch hier erweist sich der Film im Nachhinein als genau durchkomponiert, denn viele Hinweise auf die tatsächlichen Vorgänge werden früh angekündigt, ohne dass man sie von Anfang an einordnen kann. So gehen jedes Mal, wenn das Auto über ein bestimmtes Straßenstück fährt, aus mysteriösen Gründen Motor und Radio aus. Wie sich herausstellt, geschah genau dort der Unfall, bei dem Malin starb. Auch die
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Stelle, an der das Mädchen vergraben wurde, wird gezeigt, bevor man die Bedeutung des Ortes versteht: Beim Joggen begegnet Christian einem Elch, dem er zu einem Findling im Wald folgt, der ihm ein seltsames, jedoch nicht unbedingt negatives Gefühl vermittelt. Die Zuschauer werden zudem wiederholt auf eine falsche Fährte gelockt: Malins kauziger Großvater Persson etwa taucht mehrfach plötzlich auf und wird spätestens dann (fälschlicherweise) als potenziell gefährlich eingeschätzt, als Christian in seinem Haus den Hut findet, den Sofie auf dem letzten Foto trägt, das es von ihr gibt. Dieser ist aber nur in Perssons Besitz, weil er ihn auf der Suche nach Malin gefunden hat; hier lässt sich die eigentliche Bedeutung der Hinweise ebenfalls erst im Nachhinein verstehen. Wirkungsvoll ist nicht zuletzt, dass die übernatürliche Komponente des Filmes ohne große Effekthascherei inszeniert ist und komplett darauf verzichtet wurde, den Geist bildlich darzustellen. Stattdessen wird die Anwesenheit des Geistes, insbesondere bevor man weiß, wer für die seltsamen Ereignisse verantwortlich ist, nur durch Musik und Geräusche oder durch Kameraeinstellungen aus Malins Perspektive angedeutet. Malins Präsenz wird besonders dann fast greifbar, als die Freunde am Gläserrücken sind und die Kamera vom Findling im Wald langsam zum Haus am See heranfährt, ohne dass man weiß, wer beziehungsweise ob da überhaupt jemand näher kommt. Letztlich ist das Nichtdarstellen des Geistes umso effektiver, weil erstens die Geschichte durch den Verzicht auf Spezialeffekte glaubhafter scheint und die Zuschauer ihrer eigenen Fantasie überlassen sind; zweitens wirkt so die Verzweiflung von Sofie und Trine umso stärker, da es eben nicht das übernatürliche Wesen ist, das sie verfolgt, sondern beide vielmehr durch ihre Schuld von innen heraus zerfressen werden. Das US-Remake SOLSTICE nimmt im Vergleich zu seiner dänischen Vorlage einige interessante Veränderungen vor, wobei die auffälligsten Figurenkonstellation und Situierung betreffen. Aus den Geschwistern Christian und Sofie wurden die Zwillinge Megan und Sophie aus New Orleans. Dass nun eine Frau im Zentrum steht, hat einigen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Story; zum einen, weil weibliche Hauptfiguren in Horrorfilmen durchaus Tradition haben und Megan als Frau emotionaler agieren kann als dies Christian in MIDSOMMER tat, zum anderen, da viel stärker an ihrer
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geistigen Gesundheit gezweifelt wird, als das bei einem Mann wohl der Fall wäre.52 Dass man sich beim Original eher punktuell bedient, statt diesem genau zu folgen, zeigt sich darin, dass viel klarer eine Genrezugehörigkeit sichtbar gemacht wird, denn bereits mit den ersten seltsam-schaurigen Bildern gibt sich SOLSTICE als übernatürlicher Teen-Horrorfilm zu erkennen.53 Um das Mysterium um die Ereignisse noch zu verstärken, werden die genauen Umstände von Sophies Tod, der bereits vor Filmbeginn stattgefunden hat, erst nach und nach gelüftet.54 Dies geschieht nicht durch herkömmliches Nachforschen oder die willentliche Kommunikation mit einem Geisterwesen, sondern vor allem durch plötzlich einsetzende Visionen, die Megan von ihrer Schwester hat. Als Zwilling hat sie auch nach dem Tod eine starke Verbindung zu Sophie, die sie immer wieder Dreck und blutige Finger sehen lässt. Zudem taucht – für die Figuren lange nicht sichtbar – in Spiegeln und Reflexionen auf Fensterscheiben immer wieder ein seltsames Schattenwesen auf, das Megan zu verfolgen scheint und dreckige Finger- und Fußabdrücke hinterlässt. Aus vorerst unerklärlichen Gründen ist auch wiederholt Schlamm in Megans Nähe, etwa in den Wasserhähnen. Dabei wird zunehmend ein Gefühl der Bedrohlichkeit vermittelt, das durch gruselige Wendungen, etwa dem plötzlichen Verderben von Lebensmitteln, noch verstärkt wird.
52 So möchte etwa Christian, der hier das Pendant zur Trine-Rolle in MIDSOMMER ist, Megan einfach nach Hause schicken, da sie emotional zu aufgewühlt sei und Sophie immer ähnlicher wird, die sich ja (vermeintlich?) das Leben genommen hat. 53 Seine Zugehörigkeit zum Genre Horrorfilm lässt sich wohl auch auf paratextueller Ebene vermuten, da der Regisseur Daniel Myrick u. a. einst Co-Regisseur beim Erfolgshorrorfilm THE BLAIR WITCH PROJECT (US, R: Daniel Myrick / Eduardo Sánchez, 1999) war. 54 Dies könnte man auch als Indiz dafür sehen, dass man von einem Kinopublikum ausging, das den Originalfilm nicht kennt, da hier das Geheimnis deutlich im Zentrum steht. Im Unterschied dazu steht etwa NIGHTWATCH, der ja bereits in den ersten Filmsequenzen die Taten des Mörders sehr deutlich präsentiert. Zu Strategien von Remakes bekannter Filme vgl. Leitch: Twice-Told Tales, S. 4244.
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Viel deutlicher als im Originalfilm wird die Umgebung zum Schlüssel des Rätsels, denn die Reise von Dänemark nach Schweden wird hier umgedeutet zum viel grösseren Gegensatz zwischen der Stadt New Orleans und den abgelegenen, unzivilisierten Sümpfen Louisianas, die im Film zum einen mit Hinterwäldlern und überhaupt typischen Horrorfilmtropen abgeschiedener Orte in Verbindung gebracht werden, zum anderen stark mit Voodoo und dunklen Mächten assoziiert sind. Nick, das US-Pendant zur Figur der Linn, gehört als Cajun einer anderen Kultur an und ist mit dem Übernatürlichen vertraut; so hilft er Megan mit einer Voodoo-Zeremonie im See, zu den Geistern Kontakt aufzunehmen. Bei der Sonnenwende erfährt Megan schließlich, was tatsächlich mit ihrer Schwester passiert ist, indem sie Schlamm erbricht und die Wahrheit sozusagen aus ihrem Unterbewussten an die Oberfläche drängt: Ihre Schwester hatte mit ihrem damaligen Freund Christian Malin überfahren und wurde von diesem dazu überredet, das Mädchen in den Ruinen im Sumpf zu vergraben. An der letzten Weihnachtsfeier schließlich wurde Megan von dem rachegetriebenen Schlammgeist von Malin heimgesucht, wobei angedeutet wird, dass sie sich nicht wirklich das Leben genommen hat, sondern vom Geist ermordet wurde. In einem (etwas gehetzt wirkenden) Finale jagen sich die Jugendlichen gegenseitig durch die Sümpfe, wobei Christian schließlich dem Geist begegnet, auf der Flucht vor ein Polizeiauto rennt und stirbt. Dass sich SOLSTICE viel eindeutiger als seine dänische Vorlage bekannten Genrekonventionen zuordnen lässt, macht das Remake zwar relativ vorhersehbar.55 Gerade der Einbezug eines Rachegeistes, der die Lebenden heimsucht, vermindert freilich die Konflikte, die in Sophie und Christian vorgehen, da es letztlich um Strafe und nicht um Schuld respektive Selbstbestrafung geht. Zudem ist der Geist wenig überzeugend umgesetzt worden und wirkt in den wenigen Szenen, in den man ihn wirklich sehen kann, alles andere als furchteinflößend. Indem sich das Remake im Gegensatz zu MIDSOMMER wohl auch viel einfacher einem bestimmten Genre zuteilen
55 Wenig einfallsreich ist etwa die Tagline auf der DVD des Filmes: »Der längste Tag des Jahres ist der kürzeste deines Lebens«, der eher an einen billigen Slasherfilm erinnert.
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und dürfte deshalb auch um einiges besser zu vermarkten sein, was gerade im konkurrenzgeprägten US-Markt durchaus von Vorteil ist.56 Dreimal unsichtbar – Mats Wahls Roman Der Unsichtbare (2000) und dessen Verfilmungen D EN OSYNLIGE (2002) und T HE INVISIBLE (2007) Ein letztes interessantes Remake-Beispiel stellt die doppelte Verfilmung von Mats Wahls Kriminalroman Der Unsichtbare57dar, welche der triangulären Beziehung zwischen einem Film, seinem Remake und der zugrundeliegenden literarischen Vorlage entspricht, die Leitch als grundlegend für Remakes ansieht.58 Bereits die erste in Schweden produzierte Verfilmung stellt eine ziemlich eigenständige Adaption des Romans dar und weicht zum Teil recht stark von der Romanhandlung ab. Die zweite, US-amerikanische Filmversion versetzt die Ereignisse nach Seattle, stellt aber keine Readaption59 des Buches dar, sondern bezieht sich weitgehend auf den schwedischen Film. Teilweise greift das Remake jedoch Elemente des Buches wieder auf, welche der erste Film weggelassen hatte. Auffällig ist, dass DEN OSYNLIGE einige Elemente des Romans gezielt auswählt und komplett umwertet. Der Roman handelt von den Untersuchungen von Kommissar Harald Fors, der in einer Kleinstadt nach dem verschwundenen Schüler Hilmer Erikson sucht. Während der Polizist nach und nach aufdeckt, dass in der Stadt rechtsradikale Jugendliche verschiedene
56 Vgl. Müller: Genre, S. 213: »Während Genres für Rezipienten spezifische Erwartungen und Erlebnisversprechen generieren, sind Genrekonzepte für Produzenten Muster, die als Vorbild und Leitfaden im kreativen Prozess fungieren; für Distributeure dagegen machen sie Märkte und Absatzzahlen kalkulierbar.« 57 Um Roman und Film klar zu unterscheiden, wird der Roman, der mir nur auf Deutsch vorliegt, im Folgenden mit dem deutschen Titel benannt. 58 Vgl. Leitch: Twice-Told Tales. Leitchs Ansatz muss jedoch kritisch betrachtet werden, da bei weitem nicht allen Filmen beziehungsweise Remakes eine literarische Vorlage zugrunde liegt. 59 Vgl. ebd, S. 45-46: »The simplest of these stances is the readaptation of a wellknown literary work whose earlier cinematic adaptations the remake ignores or treats as inconsequential. The goal of the readaptation, like that of the literary translation, is fidelity (however defined) to the original text«.
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Delikte begangen haben, ohne dass jemand etwas dagegen unternehmen will, wird er ohne sein Wissen vom Verschwundenen begleitet, der aus erst unerfindlichen Gründen unsichtbar geworden ist.60 Wie sich herausstellt, wurde Hilmer von drei rechtsradikalen Mitschülern grundlos verprügelt und im Wald vergraben. Der Junge wird einige Tage nach seinem Verschwinden zwar noch lebend gefunden, seine Verletzungen sind jedoch zu schwerwiegend und er stirbt schließlich. Der Roman zeichnet dabei ein ausführliches Bild einer kleinen Stadt, in der soziale Probleme bewusst ignoriert werden, um die Touristen nicht zu vergraulen und keine einfachen Lösungen für das Problem in Sicht sind. Hilmers Unsichtbarkeit steht dabei zum einen für seinen Zustand am Rande des Todes, zum anderen stellt das Verbrechen an ihm eine Tat dar, die niemand sehen will, da die Konsequenzen für die Stadt und vor allem für deren Finanzen zu gravierend scheinen. DEN OSYNLIGE geht demgegenüber völlig andere Wege. Anstatt soziale Konflikte und Rassismus ins Zentrum zu stellen, konzentriert sich der Film vor allem auf die inneren Vorgänge des Protagonisten Nicklas und stellt damit nach Gast eine psychologische Adaption des Romans dar.61 Bereits der veränderte Name der Hauptfigur zeigt, dass man sich gegenüber der literarischen Vorlage bewusst Freiheiten erlaubt hat. Nicklas möchte nach London, um dort eine Autorenschule zu besuchen, doch seine Mutter will von seinen Wünschen nichts wissen und hat sein Leben bereits völlig verplant. Nur seinem besten Freund Peter, der immer wieder wegen Geldproblemen an die kriminelle Bande der Mitschülerin Annelie gerät, erzählt er, dass er heimlich nach London abhauen will. Als Annelie mit gestohlenen Juwelen erwischt wird, vermutet sie, dass Peter sie verpfiffen hat; der wiederum schwärzt Nicklas an, da er meint, dieser sei bereits in London und
60 Hilmers Unsichtbarkeit ist im Roman nicht als tatsächliche Geister-Existenz zu verstehen; vielmehr wird Hilmers Geist durch die Polizeiuntersuchung noch etwas in der Welt der Lebenden gehalten: »Und neben ihm lag Hilmer und weinte. Er wünschte, er könnte das Zimmer verlassen, aber das war unmöglich. Er hatte keine Kraft mehr, seine einzige Möglichkeit war, Fors zu folgen. Denn so ist es mit den Unsichtbaren, sie können sich nur bewegen, wenn wir an sie denken.« Wahl: Der Unsichtbare, S. 78-79. 61 Vgl. Wolfgang Gast: Grundbuch Film und Literatur. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse. Frankfurt/Main: Diesterweg, 1993, S. 51.
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damit in Sicherheit. Nicklas‘ Pläne wurden jedoch von seiner Mutter entdeckt, weshalb er sich doch gegen die Reise entschied. Aus Rache verprügeln Annelie und ihre Bande Nicklas schwer, und weil sie glauben, dass er tot ist, verstecken sie ihn im Wald. Am nächsten Morgen ist Nicklas unsichtbar geworden. Nach vergeblichen Versuchen, mit anderen zu kommunizieren, meint er erst, er sei tot. Er entdeckt jedoch, dass er nur in einer Art Zwischenexistenz zwischen Leben und Tod gefangen ist, weshalb er sich auf die Suche nach seinem Körper macht. Wie sich herausstellt, ist ausgerechnet Annelie die Einzige, die ihn zu hören scheint. Nicklas‘ Körper wird zwar gefunden, seine Verletzungen sind jedoch zu gravierend. Weil seine Mutter die lebenserhaltenden Maschinen nicht abschalten lassen will, bittet er Annelie, seine Mutter dazu überreden. Am Ende stirbt Nicklas und Annelie stellt sich der Polizei. Interessant ist, dass der Film die Grundidee der Unsichtbarkeit aus dem Roman aufnimmt, diese jedoch nicht mehr als Metapher liest, sondern als fantastische Geschichte umsetzt, in welcher der Unsichtbare tatsächlich als Geist herumirrt und vergeblich bei der Aufklärung des an ihm selbst verübten Verbrechen zu helfen versucht, um sein Überleben zu sichern. Das Ganze wird dabei nicht als Schauergeschichte oder rückwärtsgewandter Kriminalfall inszeniert, sondern gleichsam als Wettlauf gegen die Zeit sowie als Emanzipationsweg eines jungen Mannes, der sich erst im Tod die Möglichkeit erkämpfen kann, seinen eigenen Weg zu gehen. Wiederholt wird gezeigt, wie repressiv seine Mutter sein Leben für ihn ausrichtete.62 In gewisser Weise ist Nicklas mit seinen Wünschen und Träumen für seine Mutter also bereits von Anfang an unsichtbar. Gleichzeitig war Nicklas nie aktiv genug, um sich von dem ihm vorgesehenen Weg zu lösen. Freiheit und Selbstbestimmung sind für ihn somit nur im Tod möglich; umgekehrt könnte man interpretieren, dass Nicklas für seine Mutter überhaupt erst dann sichtbar wird, als er bereits nicht mehr bei ihr ist. Damit stellt Nicklas‘ Tod im Grunde kein trauriges Ende dar, sondern ist vielmehr als Erlösung sowie als Aussöhnung zwischen Mutter und Sohn zu verstehen. Spannend ist auch, dass die Antagonistin Annelie zu Beginn zwar als grausame Schlägerin gezeigt wird, am Ende aber weder eine eindimensionale Verbre-
62 Bei Filmanfang wird etwa eine Traumsequenz seines Geburtstagsfestes gezeigt, in der Nicklas beim Gedanken, wie sein Vater zu werden, wie seine Mutter es sich stets gewünscht hatte, in die Garage geht und sich erschießt.
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cherin ist, noch über ihre Taten hinweggesehen wird. Annelie kann ihre Tat zwar nicht mehr zurücknehmen, aber sie kann als Vermittlerin zwischen Mutter und Sohn doch noch etwas Gutes tun und steht am Ende für ihre Taten ein.63 Interessant ist nun, dass das US-Remake sich zwar – mit Ergänzungen vom Buch64 – recht eng an die Filmvorlage hält, einige Dinge jedoch komplett umwertet. So trifft etwa Nick am Anfang seiner Unsichtbarkeit einen anderen Geist, was laut Regisseur eine vom Studio erwünschte Ergänzung war, um Nicks Geisterexistenz für die Zuschauer klarer zu machen. Mehrfach sind Stellen im Remake zu finden, in denen innere Vorgänge durch äußere Ereignisse beziehungsweise Action ersetzt werden, entweder, um sie für das Publikum zugänglicher zu machen, oder um die Erzählung spannender und dringlicher zu machen; zum Beispiel wenn Nick seine Frustration an seiner Mutter (die er nicht berühren kann) auslässt, oder wenn der Wettlauf gegen die Zeit und um Nicks Leben intensiviert wird, als (kurz bevor sein Körper entdeckt wird) die Schleusen des Staudammes geöffnet werden und Nicks Geist versucht, seinen Körper vor dem Ertrinken zu retten. Besonders auffällig ist der Umgang mit der Figur von Annie, die hier näher gezeigt wird und unmissverständlich eine mögliche Liebespartnerin für Nick wäre, wenn sich die beiden nur früher und unter weniger ernsten Bedingungen kennengelernt hätten. Die enge emotionale Bindung, die Annie noch etwas deutlicher als in DEN OSYNLIGE zum unsichtbaren Nick aufbaut, geht sogar so weit, dass sie am Ende Nicks Platz einnimmt und für ihn stirbt, damit er überleben kann. Indem Nick nun nicht stirbt, stellt seine kurze Zeit als Unsichtbarer für ihn auch deshalb eine Art zweite Chance dar, weil er die Möglichkeit hatte, Einblick in das Leben anderer zu erhalten, etwa in das lieblose, einsame Leben von Annie, und hinter die Fassade seiner Mutter blicken konnte, deren Handlungen gegenüber Nick anders als im schwedischen Original kaum hinterfragt werden.
63 Demgegenüber zeigt Annelie im Roman keinerlei Reue und kann aus pessimistischer Sicht vielleicht als Verkörperung einer abgestumpften, gewalttätigen Jugend gelesen werden. 64 Zum Beispiel wurde die Rolle des ermittelnden Polizisten wieder etwas vergrößert, der in der schwedischen Version im Vergleich zum Buch deutlich weniger zentral vorkam.
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Regisseur David S. Goyer erklärt im Audiokommentar der DVD, dass das Ende seines Filmes wie ein typisches Hollywood-Remake, in dem das obligatorische Happy End künstlich angepappt wird, scheinen mag. Allerdings ist Annie im Remake trotz ihrer Taten ebenso Sympathieträgerin wie Nick, weshalb ihr Tod durchaus auch traurig ist. Obwohl sie am Ende ihre Taten wiedergutmachen will, musste sie aus Goyers Sicht sterben, um für ihre Taten zu sühnen.65 Dies kann insofern als problematisch gelesen werden, da der Film im Versuch, ihr Verhalten zu rechtfertigen, vor allem ihrem Umfeld die Schuld für ihr Handeln gibt. Ihr Tod scheint eine harte Strafe zu sein, denn wenn man ihre – allerdings nur metaphorische – Unsichtbarkeit in der Gesellschaft auf ihre soziale Herkunft zurückführt, mutet Annies Tod am Ende fast schon schicksalhaft an. Und das will bei einer Geschichte, in der es derart zentral um das Finden des eigenen Weges geht, doch nicht recht passen. Recyceln, adaptieren, wiederholen? Remakes sind keine Genres an sich, sondern bezeichnen intertextuelle Strukturen, die in unterschiedlicher Weise auf einen oder mehrere bereits existierende filmische Texte zurückgreifen und diese auf mannigfaltige Weise adaptieren, umwerten oder gänzlich neu interpretieren können. Durch diesen Antwortcharakter ist die Beschäftigung mit ihnen mehr als ein bloßes Untersuchen dessen, was übernommen wurde und was bei der übersetzenden Neuverfilmung ›verlorenging‹ respektive was die USFilmindustrie weggelassen hat. Gerade bei transnationalen Remakes dürften (populär-)kulturelles Kontextwissen, Wertvorstellungen, Vorurteile und persönliche Rezeptionserfahrungen sämtlicher Beteiligter an einem Werk mit einfließen, so dass der zu berücksichtigende Intertext unendlich groß werden kann.
65 David S. Goyer / Christine Roum: Audiokommentar. In: David S. Goyer: Unsichtbar. Zwischen zwei Welten. USA, 2007 (DVD: o.O. Buena Vista Home Entertainment, 2007).
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Die überschaubare Anzahl von US-Remakes aus Skandinavien66 deutet an, dass sie kaum auf typische inhaltliche Aspekte zu reduzieren sind, genauso wenig wie die skandinavischen Filme, die ihnen zugrunde liegen, alle offensichtliche schwedische oder dänische Themen behandeln oder diese besonders skandinavisch umsetzen. Es zeigt sich jedoch eine Tendenz, dass die Remakes das Erzählte verdeutlichen, erzählerische Unschärfen bereinigen – auch in Bezug auf das Fantastische – und insbesondere in Bezug auf Genrezugehörigkeit eindeutiger machen. Zudem ist mehrfach zu beobachten, dass innere Vorgänge durch Ereignisse und durch Action umgesetzt werden oder Ungezeigtes plötzlich sichtbar gemacht wird. Ob es legitim ist, skandinavische Filme als offener und weniger generisch zu bezeichnen als ihre US-Remakes, ist jedoch fraglich, denn immerhin übernehmen sämtliche untersuchten skandinavischen Filme unmissverständlich Stilmittel und inhaltliche Aspekte aus dem Hollywoodkino und erweisen sich so bereits vor dem Remake als vom Remaker (also der USFilmindustrie) beeinflusst. Umso wichtiger ist es, sich verallgemeinernder Schlussfolgerungen bewusst zu sein: Wenn beispielsweise Goyer erklärt, dass er die Euthanasie in THE INVISIBLE bewusst weggelassen habe, weil dies »zu schwedisch«67 und deshalb unpassend für einen US-Film sei, scheint es naheliegend, dies als moralische Wertung zu lesen, die wertkonservativen Ursprungs ist oder sich zumindest an ein solches Massenpublikum richtet. Vielleicht spielt uns unsere Sicht der USA diesbezüglich aber auch schlicht wieder einmal einen Streich.
66 Die hier berücksichtigten Remakes decken selbstredend nicht alle existierenden Beispiele ab; ein nicht berücksichtigtes Remake wäre etwa INSOMNIA (NO, Erik Skjoldbjærg, 1997 / US, R: Christopher Nolan, 2002). 67 Goyer / Roum: Audiokommentar, 2007.
Autorinnen und Autoren
Jacke, Andreas, geb. 1966, lebt seit 1986 in Berlin. 1996 Magister über Benjamins Rechtsphilosophie. 2002 Promotion über Marilyn Monroe und die Psychoanalyse in den Filmwissenschaften. Buchpublikationen über Marilyn Monroe (2005), Stanley Kubrick, (2009), Roman Polanski (2010) und David Bowie (2011). Kehlmann, Daniel, geb. 1975, Studium der Philosophie und Germanistik in Wien. Seit 1997 mehrere Romanveröffentlichungen (Ich und Kaminski, 2003; Die Vermessung der Welt, 2005; Ruhm, 2009). Poetikdozenturen in Mainz, Wiesbaden und Göttingen, zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Rezensionen und Essays in Der Spiegel, Guardian, FAZ, Süddeutsche Zeitung, Literaturen, Die Zeit u.a. Daniel Kehlmann lebt als freier Schriftsteller in Wien und Berlin. Mamar, Anna-Marie, geb. 1986. Sie studierte im Bachelor Skandinavistik und Germanistische Linguistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Universität Göteborg. Für den Master in Komparatistik wechselte sie zur Georg-August Universität Göttingen. Studienbegleitend absolvierte sie ein Volontariat im Literarischen Zentrum Göttingen im Bereich Literaturmanagement. Zudem wirkte sie in der Redaktion der Zeitschrift norrqna mit. Derzeit entwicklungspolitischer Freiwilligendienst im Centre for Environmental Education in Pune (Indien). Penke, Niels, geb. 1981, Studium der Germanistik, Skandinavistik und Philosophie in Braunschweig und Göttingen. Magister 2008, Promotion
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2011 mit einer Arbeit über Ernst Jünger. Lehrt derzeit an der Universität Göttingen. Forschungsgebiete: Horror, Phantastik, Autorschaft, Literatur und Sport, Völkische Literatur, Sagarezeption. Planka, Sabine, geb. 1980, Studium der Germanistik, Allgemeinen Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte. 2005 Magisterarbeit zum James Bond-Vorspann. 2008 Promotion zur Dr. phil. mit einer Arbeit zu Orakeln und Wahrsagetechniken im Film. Arbeitet aktuell an der Universität Siegen. Veröffentlichungen zu diversen Themen aus dem Bereich Film sowie zur Kinder- und Jugendliteratur. Forschungsbereiche: Motivforschung in Literatur, Kultur und Film, Topographien und Räume im Film, Genderaspekte, Science Fiction- und Horror-Filme, Kinder- und Jugendliteratur. Tätigkeit als Rezensentin für die Zeitschrift MEDIENwissenschaft (Marburg: Schüren Verlag). Schrackmann, Petra, lic. phil., studierte Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, Europäische Volksliteratur und Englische Literaturwissenschaft. Sie arbeitet als wissenschaftliche Assistentin, Lehrbeauftragte und wissenschaftliche Mitarbeiterin des SNF-Projektes »Übergänge und Entgrenzungen« am Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich und verfasst eine Dissertation zu Verfilmungen fantastischer Kinder- und Jugendliteratur. Schwartz, Benjamin Ryan, geb. 1986, studierte Literary, Cultural and Media Studies (Englisch/Deutsch) an der Universität Siegen, sowie Media Production - TV and Film an der Murdoch University und der University of Sunderland. Er leitet als Produzent die Firma Smooth Motion Pictures Ltd. und lehrt zudem ›Wissenschaftliches Schreiben im Studium‹. Bisherige Publikationen und Vorträge erfolgten in den Bereichen: American, Gender und Horror Studies, sowie zu den Themen Psychologie, Gesellschaftskritik und Propaganda in Mainstream-Produktionen. Seven, Hauke, geb. 1978, wuchs als Pastorensohn im Südharz auf. Zunächst 4 Jahre lang Arbeit als Pflegehelfer in Alten- und Behindertenpflege. 2003 Abitur und anschließendes Magisterstudium der Skandinavistik und der Ur- und Frühgeschichte an der Georg August Universität Göttingen mit den Schwerpunkten Tiermythologie und nordeuropäische Ikonographie.
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Seit 2010 Doktorand am skandinavischen Seminar in Götttingen. Passionierter Cineast und Horrorfan seit früher Jugend. Stiglegger, Marcus, Dr. phil. habil. Akadem. Oberrat für Film- und Bildanalyse an der Universität Siegen. Promotion 1999 zum Thema Sexualität und Faschismus im Film (St. Augustin 1999). Zahlreiche Buchpublikationen und -beiträge über Filmästhetik, Filmgeschichte und Filmtheorie. KoHerausgeber der Schriftenreihen Medien/Kultur und Kultur & Kritik. Aktuelle Publikation: Nazi-Chic und Nazi-Trash. Faschistische Ästhetik in der populären Kultur, Berlin 2011; Terrorkino. Angst/Lust und Körperhorror, Berlin 2010; David Cronenberg (Hrsg., 2011); Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel & Sinnlichkeit im Film, Berlin 2006, u.v.a. Herausgeber des Print- und Onlinemagazins :Ikonen:. Schreibt regelmäßig für die Magazine epd Film, film-dienst, und Splatting Image. Mitglied der GfM (AK Populärkultur und AK Filmwissenschaft), der Fipresci sowie des AK Asiaticum der Uni Mainz. Teichert, Matthias, geb. 1976, Studium der Skandinavistik, Germanistik und Anglistik in Tübingen und Newcastle-upon-Tyne. Promotion 2006 in Tübingen. 2006-2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Projekt »Edda-Kommentar« in Frankfurt/Main. Seit 2008 Juniorprofessor für Skandinavistische Mediävistik an der Universität Göttingen. Interessenund Forschungsschwerpunkte: Germanische Heldensage und Mythologie; nordeuropäische Sport- und Spielgeschichte; Antikerezeption; Phantastik, Horror, Science Fiction. Wassiltschenko, Judith, geb. 1980. Nach kaufmännischer Lehre und Studium der Skandinavistik und Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie in Göttingen und Bergen/Norwegen seit 2011 tätig in verschiedenen Abteilungen und Arbeitsgruppen des Seminars für Deutsche Philologie der Universität Göttingen. Wennerscheid, Sophie, studierte Kulturpädagogik, Skandinavistik, Germanistik, Philosophie und Theologie. 2006 promovierte sie an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über das Verhältnis von Angst und Begehren im Werk Søren Kierkegaards. Die Arbeit erschien 2008 im Verlag Matthes & Seitz Berlin unter dem Titel Das Begehren nach der
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Wunde. Seit 2008 arbeitet Sophie Wennerscheid als Juniorprofessorin für Neuere skandinavische Literatur und Kultur am Institut für Nordische Philologie/Skandinavistik der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt zum Thema Phantasmen der Kraft und Kraft der Phantasmen untersucht sie literarische Verhandlungen von Kraft und Energie in der skandinavischen Literatur der Moderne. Weitere Informationen unter www.sophie-wennerscheid.de.
Film Bettina Dennerlein, Elke Frietsch (Hg.) Identitäten in Bewegung Migration im Film 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1472-5
Tobias Ebbrecht Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis Filmische Narrationen des Holocaust 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1671-2
Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch Januar 2013, ca. 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1091-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Film Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich, Lars Alberth (Hg.) Kulinarisches Kino Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film Januar 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2217-1
Daniela Schulz Wenn die Musik spielt ... Der deutsche Schlagerfilm der 1950er bis 1970er Jahre April 2012, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1882-2
Michael Wedel Filmgeschichte als Krisengeschichte Schnitte und Spuren durch den deutschen Film 2010, 464 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1546-3
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Film Micha Braun In Figuren erzählen Zu Geschichte und Erzählung bei Peter Greenaway
Dagmar Hoffmann (Hg.) Körperästhetiken Filmische Inszenierungen von Körperlichkeit
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2010, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1213-4
Nicole Colin, Franziska Schössler, Nike Thurn (Hg.) Prekäre Obsession Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder Oktober 2012, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1623-1
Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti (Hg.) Spuren eines Dritten Kinos Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema Januar 2013, ca. 270 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2061-0
Hauke Haselhorst Die ewige Nachtfahrt Mythologische Archetypen und ihre Repräsentationen im Film »Lost Highway« von David Lynch März 2013, ca. 340 Seiten, kart., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2079-5
Christiane Hille, Julia Stenzel (Hg.) Cremaster Anatomies Medienkonvergenz bei Matthew Barney März 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2132-7
Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Das Undenkbare filmen Atomkrieg im Kino März 2013, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1995-9
Asokan Nirmalarajah Gangster Melodrama »The Sopranos« und die Tradition des amerikanischen Gangsterfilms 2011, 332 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1843-3
Elisabeth Scherer Spuk der Frauenseele Weibliche Geister im japanischen Film und ihre kulturhistorischen Ursprünge 2011, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1525-8
Annette Simonis Intermediales Spiel im Film Ästhetische Erfahrung zwischen Schrift, Bild und Musik 2010, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1520-3
Tina Welke Tatort Deutsche Einheit Ostdeutsche Identitätsinszenierung im »Tatort« des MDR Juli 2012, 402 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2018-4
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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