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German Pages 176 [194] Year 2010
William James
Der Sinn des Lebens
William James
Der Sinn des Lebens Ausgewählte Texte Herausgegeben von Felicitas Krämer und Helmut Pape a Aus dem Amerikanischen von Andreas Hetzel
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ü http: t //dnb.d-nb.de abrufbar.
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ISBN 978-3-534-22055-7
Inhalt Inhalt.................................................................................................................
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Vorwort ............................................................................................................
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Einleitung .........................................................................................................
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1. William James: Leben und geistige Entwicklung ...............................
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2. Die Entstehung einer Philosophie aus der Psychologie ......................
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3. Moral und Sinn in der alltäglichen Praxis: Pragmatismus ..................
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4. Freiheit und Sinn in einer Welt harter Tatsachen................................
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5. Moralische Einsamkeit: Die Grenzen der Jamesschen Ethik ..............
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6. James über die Unsterblichkeit der Seele............................................
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William James: Die Texte ................................................................................
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1. Ist das Leben lebenswert?.............................................................................
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2. Was gibt einem Leben Sinn?........................................................................
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3. Der Ethiker und das sittliche Leben .............................................................
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4. Der Wille ......................................................................................................
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5. Die Unsterblichkeit des Menschen ............................................................... 151 6. Anmerkungen ............................................................................................... 170
WILLIAM JAMES
Vorwort Der vorliegende Band stellt eine Auswahl jener Arbeiten von William James über Ethik, Lebenskunst und Moralpsychologie vor, die die Herausgeber für f ebenso wichtig wie einflu f ssreich halten. Es gilt, James neu zu entdecken: nämlich als Denker, der Probleme der Ethik und Lebenskunst von der Psychologie her mit viel Mut und auf der Basis großer Lebenserfahr f ung ebenso pragmatisch wie spekulativ durchdenkt. Die vorliegende Auswahl soll deshalb Leserinnen und Leser neugierig machen und sie ermutigen, James neu zu entdecken. Drei der ffünf hier vorgestellten Arbeiten – Ist das Leben lebenswert?, Was gibt einem Leben Sinn? und Der Ethiker und ddas sittliche Leben – lagen in einer inzwischen überholten, damals jedoch verdienstvollen Übersetzung von Wilhelm Flottmann in dem Band William James. Essays über Glaube und Ethik aus dem Jahre 1948 vor. Der Übersetzer Andreas Hetzel hat bei seiner Arbeit Flottmanns Übersetzung berücksichtigt. James’ Ingersoll-Vorlesung an der Harvard Universität Die Unsterblichkeit des Menschen war bisher nicht übersetzt. Sie ist hier erstmals und vollständig übertragen. Diese Vorlesung wurde von James umgearbeitet und ab 1897 separat in zwei Auflagen als Broschüre oder kleines Buch veröffen f tlicht. Der Wille ist die erste Übersetzung des größten Teils des Kapitels 26 „Will“ aus dem zweiten Band von James’ monumentalen, fast 1400 Seiten starken Principl i es of Psych s ology. Dieses Kapitel ist eines der längsten der beiden Bände. Wir haben jene Teile des Kapitels nicht aufgen f ommen, die sich mit Positionen der zeitgenössischen Psychologie beschäftigen oder auf Detailprobleme der Psychologie am Ende des 19. Jahrhunderts eingehen. Eine Kurzfas f sung der Principl i es, die im Englischen den Titel Psych s ology. Briefe e r Course r trägt, wurde 1909 in deutscher Übersetzung von Marie Dürr veröffentlicht und ist, wo es möglich war, von Andreas Hetzel eingearbeitet worden. Andreas Hetzel hat die mühevolle und in vieler Hinsicht undankbare Aufgabe der Übersetzung stilistisch elegant und mit philosophischem Gespür für das Jamessche Denken bewältigt. Die Herausgeber danken ihm dafür herzlich und nachdrücklich. Einer von uns, Helmut Pape, hat die Arbeiten an diesem Band und an seinem Teil der Einleitung während seiner Zeit als Fellow des von Prof. Dr. Horst Bredekamp und Prof. Dr. John Krois geleiteten DFG-Forschungskollegs „Bildakt und Verkörperung“ an der Humboldt Universität zu Berlin abschließen können. Für diese wertvolle Unterstützung und die stimulierende Atmosphäre des Kol-
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Vorwort
legs, ohne die diese Edition nicht hätte abgeschlossen werden können, dankt er den Leitern und dem Team des Kollegs. Ursprünglich war dieser Band als zweiter Teil einer Auswahlausgabe der Jamesschen Schriften geplant. (Der erste Teil sollte einige der weniger bekannten Schrifte f n über Pragmatismus und Psychologie enthalten.) Die Herausgeber danken der WBG, dass sie bereit war, diesen zweiten Teilband in ihr Verlagsprogramm aufzunehmen. Felicitas Krämer und Helmut Pape Eindhoven und Bamberg, April 2010
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Einleitung
1. William James: Leben und geistige Entwicklung William James liebt und zitiert Walt Whitman, der über eines seiner Bücher gesagt hat: „Wer dies Buch berührt, berührt einen Menschen“. Mit diesem Satz kann man auch die Arbeiten von James charakterisieren. Ob mit Zustimmung oder mit Abneigung: Wer sich mit der Philosophie von William James intensiver beschäftigt, kann sich der Unmittelbarkeit, Leidenschaft und dem durchaus spekulativen Engagement seines Denkens – das gut mit Ironie und Humor zusammengeht – nur schwer entziehen. William James ist mit Fragen und Erfahrungen aus seinem eigenen Leben auch in seinen philosophischen Arbeiten gegenwärtig. Vielen Lesern, insbesondere unter den Philosophen, ist ein solcher Denkstil nicht nur ungewohnt – er stößt manchmal auch auf deutliche Ablehnung. Philosophen haben doch abgeklärt und abstrakt zu denken, was häufig f mit „philosophisch“ gleichgesetzt wird. Ihr eigentlich philosophisches Interesse am Allgemeinen oder gar Universalen sollte ihr Denken gegenüber den peinlichen, nämlich individuellen und persönlichen Problemen und Haltungen rein erhalten, die bestenfalls den Anlass zum Philosophieren bieten. Doch spätestens seit Montaignes Essais kennen wir dazu eine fruchtbare Alternative: die Treue gegenüber der eigenen Erfahrung und dem eigenen Leben. Daraus kann ein Philosophieren erwachsen, das die Beziehung zum Leben nicht nur zum Ausgangspunkt, sondern auch zum Maßstab und Bezugspunkt macht, wenn es um Fragen des Sinns, der Lebenskunst und der Befähigung der Menschen zur Moral geht. Wie schreibt Montaigne im dritten Buch der Essais: „Wußtest du dein Leben recht zu bedenken und in die Hand zu nehmen? Dann hast du die größte aller Aufga f ben vollbracht! – Um die Kräfte zu zeigen und zu entfalten, bedarf die Natur keines bedeutenden Menschenschicksals; sie kann es in allen gesellschaftlich f en Schichten tun, mit oder ohne Vorhang. Einen sittlichen Wandel, nicht Bücher zuwege zu bringen ist uns aufgegeben; und nicht Schlagen und Provinzen zu gewinnen, sondern Ruhe und Ordnung in unserm täglichen Verhalten: Recht zu leben – das sollte unser großes und leuchtendes Meisterwerk sein! Alle andern Dinge wie Herrschen, Horten und Häuserbau r n sind höchstenfal f ls Anhängsel und Beiwerk.“ (Michel de Montaigne, Essais, übersetzt v. H. Stilett, Frankfurt 1998, S. 560)
Doch zurück zu James. Wie lebte dieser Mensch, welche Erfah f rungen machte er mit dem Leben, dass er lernte, derartig mutig und lebendig zu denken und zu schreiben? Das Leben von William James war nicht das eines Gelehrten, der 1
Der Autor der ersten fünf Teile der Einleitung ist Helmut Pape, Universität Bamberg. Der sechste Teil wurde von Felicitas Krämer, Technische Universität Eindhoven (NL), verfasst.
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Einleitung
strebsam seinen Weg geht. Er wurde am 11. Januar 1842 in New York als der erste Sohn von Henry und Mary James geboren und starb am 26. August 1910 in Chorcorua, New Hampshire. Sein jüngerer Bruder, Henry James jun. (1843– 1916), ist der erste amerikanische Schriftstelle f r, der literarischen Weltruhm erlangte und gerade heute wieder vermehrt gelesen wird. Henry lebte zunächst in Frankreich und dann vor allem in England und schildert in seinen psychologisch subtilen und einfühl f samen Romanen z. B. die Nöte und Empfindungen eines Kindes – ganz aus dessen Erfahrungsperspektive und in dessen Sprache. Er thematisiert u. a. die von ihm selbst erlebte, zwischen Faszination und Missbilligung schwankende Europaerfah f rung der Amerikaner. Henry erzählt seine Romane häufig f so, dass er den „Bewusstseinsstrom“ einer Person wiedergibt: eine Konzeption, die eine der großen Leistungen, ja ein Kernstück der Psychologie von Bruder William bildet. Der Vater beider Brüder und der Schwester Alice, die William ein Leben lang nah verbunden blieb und ihn unterstützte, war Henry James sen. (1811–1882). Eine ihn tief erschütternde, halluzinatorisch-religiöse Erfahrung hatte Henry sen. zum überzeugten Swedenborgianer gemacht. Henry sen. hatte reich geerbt, lebte unabhängig. So konnte er es sich leisten, als offensiver und expliziter Bewunderer des Neo-Mystikers Swedenborg auch publizistisch aufzutreten. Er war der Überzeugung, dass man das Seelenheil durch Selbstaufopf f ferung unter dem Einfluss göttlicher Liebe gewinnen könne. Seine ganze Kraft widmete er nicht nur der Verteidigung seines Verständnisses der mystischen Lehren Swedenborgs – die u. a. ein ganzes, hierarchisch geordnetes Reich von Engeln unter Gottes Thron ausmalen. Er entwickelte daraus auch einen Zugang zu Problemen der sozialen Gerechtigkeit. Er vertrat einen religiös inspirierten Sozialismus, den er in Vorträgen und Schriften öffen f tlich bekundete. Es war ein geistig reges, von politischen, metaphysischen und religiösen Debatten geprägtes Elternhaus, in dem William James aufwu f chs und das auch seine Erziehung bestimmte. Die Familie reiste häufig längere Zeit in Europa und wohnte insbesondere in Frankreich, Deutschland und Italien. James ging 1859–1860 in der Schweiz und in Deutschland zur Schule, wo er später auch u. a. in Leipzig und Heidelberg studierte. Dies waren damals noch Universitäten, deren Ruf nur mit Harvard und Princeton heute zu vergleichen ist. Aus den ausgeprägten und eigenwilligen Überzeugungen von Henry James sen., dessen metaphysisch-theologisches Hauptwerk Substance and Shadow d ist, entstand aber kein engstirniger Dogmatismus. Man pflegte in der Familie James einen offenen politischen, aber auch religiös-metaphysischen Diskurs. William James’ Interessen und Denken wurden entsprechend nicht dogmatisch in ihrem Inhalt, sondern in der Wachheit gegenüber allen möglichen allgemeinen Themen durch diese diskursiven und sozialen Erfahrungen geprägt. Dazu trug sicher auch die offene gastliche Atmosphäre des Hauses bei. Denn zu den Freunden, Bekannten und Besuchern von Henry James sen. gehörten z. B. David Thoreau, Ralph W. Emerson und Nathaniel Hawthorne. William übernahm zwar nicht die religiösen und metaphysischen Überzeugungen seines Vaters, hielt aber an dessen Haltung der Toleranz und dessen weit gespannten Interessen ffest. Er blieb auch lebenslang an religiösen, sogar an spiritis-
William James: Leben und geistige Entwicklung
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tisch-übersinnlichen Phänomenen und an der Vielfalt religiöser Erfahrungen interessiert. So nimmt es nicht wunder, dass er die positive Wirkung der Religion für das Leben auch im Rahmen seines Pragmatismus verteidigte und an der Hypothese einer übersinnlichen Existenz der Seele soweit interessiert war, dass er seinen Bruder Henry bat, sich noch drei Wochen nach seinem, Williams, Tod in derselben Stadt aufzuhalten, um eventuell aus dem Jenseits gesendete Signale zu empfangen. James hatte ein ausgeprägtes Talent zum Zeichnen und Malen. Sein Leben lang, noch als Psychologe und Philosoph, hat William seine Manuskripte mit Zeichnungen versehen. Seine erste Berufsentscheidung war, Maler zu werden: Er notiert 1860 „ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ,Kunst‘ meine Berufung ist“. Die Ausbildung zum Maler war aber auch Teil der Auseinandersetzung mit den weltanschaulich motivierten Zumutungen und Vorschlägen des Vaters. Daraufhin wurde er 1860–1861 von dem damals berühmten Porträt- und Landschaftsmaler William Morris Hunt unterrichtet, was er aber nur ein halbes Jahr durchhielt. Doch auch von den Wissenschaften, denen sich William nun zuwandte, hielt der Vater nicht viel. 1861 schrieb er sich in der Harvard Universität an der Lawrence Scientific f School ein, wo er den etwas älteren Charles S. Peirce kennenlernte, mit dem er dort Chemie studierte. Dies war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten. Diese Freundschaft f sollte schließlich dem glücklosen, im Alter hungernden Peirce das Leben retten: Er lebte jahrelang von einer durch James im Freundeskreis organisierten Unterstützung. 1864 wechselte William in die Medizin, an die Medical School, die er mit dem MD (Doktor der Medizin) abschloss. Er praktizierte jedoch niemals als Arzt. 1865–1866 beteiligte sich James an der sogenannten Thayer Expedition, die ihn unter der Leitung des damals sehr bekannten Geologen Louis Agassiz in den Dschungel Brasiliens fführte. Auf dieser Reise zog James sich mehrere Krankhe k iten zu, die in einer gesundheitlichen K Krise mündeten. Er erlitt eine Depression, an die sich weitere seelische und körperliche Probleme anschlossen und noch den Abschluss seines Medizinstudiums im Jahre 1869 überschatteten. James blieb sein ganzes Leben lang kränklich, was er durch den häufigen Besuch von Bädern und durch Kuren auch in Europa zu kkurieren trachtete. Er war z. B. mehrere Male in Bad Nauheim (bei Frankfur f t) zur Kur, wie ich anlässlich eines Vortrags über James in Bad Nauheim vor einigen Jahren entdeckte. Bereits ab 1870 veröffentlichte James Aufsätze zu psychologischen Themen. Und schon 1873 (bis 1876) wurde er in Harvard für den Unterricht in Anatomie und Physiologie angestellt. Von nun an ging es schnell voran: 1875 gab James in Harvard die erste Lehrveranstaltung in experimenteller Psychologie auf amerikanischem Boden und 1876 wurde er zum Professor für f Psychologie ernannt. 1885 wechselte er auf eigenen und sehnlichen Wunsch das Fach und wurde Profes f sor für Philosophie. Wie entwickelte sich das Jamessche Denken und wo haben die in diesem Band versammelten Arbeiten ihren Ort? Sehen wir zunächst einmal von den epochalen Arbeiten in der Psychologie ab, die uns in den folgenden Abschnitten
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Einleitung
beschäftigen werden, so ergibt sich das folgende Bild: James war ein begnadeter Redner und nahm regelmäßig zu politischen und sozialen Fragen in Zeitungen Stellung und hielt viele Vorträge auch vor Laien. Er wurde von Instituten, Universitäten und Studentenvereinigungen im ganzen Land zu Vorträgen eingeladen. Dies ist aber nur der äußere Grund dafür, dass Vorträge, die er thematisch zu Sammelbänden zusammenfasste, zu der wichtigsten Darstellungsform seiner Philosophie wurden. Der tiefere Grund ist sicherlich, dass eben diese lebensnahe, an allgemeine Erfahrungen anknüpfende Art des Philosophierens von James geschätzt und kultiviert wurde. Deswegen finden sich viele für die Entwicklung der Jamesschen Philosophie entscheidende Arbeiten z. B. in dem Band The Will to Believe and other Essays in Popular Philosophy von 1897, dem auch zwei Aufsätze des hier vorgelegten Bandes (Ist das Leben lebenswert? und Der Ethiker und das sittliche Leben) entstammen. Der Aufsatz Was gibt einem Leben Sinn? wurde dem Band Talks to Teachers 2 on Psychology and to Students on Some of Life’s Ideals entnommen, der Vorträge zu moralischen, lebenskünstlerischen und politischen Themen versammelt. In diesem im Jahr 1899 veröffentlichten Band behandelt James lebendig, gelehrt, kenntnisreich und einfühlsam politische und psychologische Fragen und Probleme ebenso wie Lebens- und Sinnkrisen. Ein Buch ganz anderer Art sind dagegen 3 die Varieties of Religious Experience von 1902. Sie sind aus Vorlesungen, den in Edinburgh gehaltenen Gifford-Lectures, hervorgegangen. James behandelt religiöse Fragen als Psychologe und Pragmatist, der mit einer ebenso offenen wie kritischen Einstellung, sensibilisiert durch die religiösen und metaphysischen Diskussionen mit seinem Vater, den Zusammenhang religiöser Erfahrungen mit anderen psychischen Phänomenen offenlegt, ohne dabei den besonderen Wert dieser Erfahrungen im Leben des Einzelnen zu leugnen. Die in diesem Band erstmals übersetzten Vorlesungen Die Unsterblichkeit des Menschen nutzt James, um deutlich zu machen, dass die Annahme der Unsterblichkeit von den gängigen psychologischen Theorien her weder ausgeschlossen werden kann noch ihnen widerspricht (Human Immortality, New York 1898). Doch am berühmtesten und einflussreichsten ist der Band Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking von 1907. Auch die heutige Diskussion um den Pragmatismus, dessen Wahrheits- und Bedeutungsbegriff, nimmt immer darauf Bezug. Kurz vor seinem Tod im Jahre 1910 veröffentlicht James A Pluralistic Universe. Dies ist gleichfalls eine umgearbeitete Vorlesungsreihe, in der er sein pluralistisches Welt- und Menschenverständnis am klarsten und ausführlichsten entwickelt. In diesem Jahr setzt James sich auch noch in der Aufsatzsammlung The Meaning of Truth (1909) mit der heftigen und einseitigen Kritik vieler deutscher und englischer Philosophen, z. B. auch von Bertrand Russell, an der Wahrheits- und Bedeutungstheorie des Pragmatismus auseinander. 2
Als Teil der kritischen Ausgabe der Jamesschen Werkausgabe unter demselben Titel wieder veröffentlicht von der Harvard University Press, Cambridge, MA, und London 1983. 3 Auf Deutsch erschienen als: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt 1997.
Die Entstehung einer Philosophie aus der Psychologie
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Der dritte und letzte Entwicklungsschritt auf James’ Denkweg war der sogenannte „Radikale Empirismus“. Dabei handelt es sich um die These, dass es einen neutralen Stoff f gibt, eine reine Erfahrung, die so rein ist, dass in ihr der Unterschied zwischen dem Objekt der Erfahrung und dem Subjekt, das diese 4 Erfahrung macht, vollständig aufgehoben ist. Dieser auch als neutraler Monismus bezeichnete Ansatz ist vom Pragmatismus unabhängig und bringt eine metaphysisch-spekulative Seite und ein idealistisches Moment seines Denkens zum Vorschein, das auch in seiner Theorie der Unsterblichkeit einer Allseele explizit wird: Die gesamte Wirklichkeit wird zu einem Zusammenhang neutraler, reiner Erfah f rung. Der radikale Empirismus wurde aber erst in dem posthum veröffen f tlichten Band Essays in Radical E Empiricism (1912) zugänglich gemacht.
2. Die Entstehung g einer Philosophie aus der Psychologie Prägend, d. h. die Leitlinien, Daten und Motive seines Philosophierens defin f ierend, waren seine intensiven, die damalige Front der Forschung definierenden Arbeiten in dem soeben eigenständig gewordenen Fach der Psychologie. Schon 1878 unterschrieb der junge Harvard-Professor James den Verlagsvertrag für die Principles i of Psych s ology (PP) mit dem Verleger Holt, der sehr besorgt war, dass der geplante Band nicht schnell genug ffertig wurde. Denn William hatte ihm gesagt, er würde „erst“ in zwei Jahren damit fert f ig sein. Dass die Principl i es erst 12 Jahre später in zwei dicken Bänden erscheinen würden, hätten damals wohl beide nicht ffür möglich gehalten. Heute, 120 Jahre nach Erscheinen dieses Werks, ist deutlich, dass James 1890 mit den PP viel mehr als nur einen wichtigen Beitrag zur jungen Wissenschaft f der Psychologie vorgelegt hatte. Vielmehr sind ihm schon damit Beiträge zur Philosophie des Geistes, philosophischen Anthropologie, Wissenschaftsth f eorie der Psychologie ebenso wie zur Ethik und Lebenskunst gelungen. Eben dies belegt auch das in diesem Band aufgenommene Kapitel über den Willen. Denn seine mit und in der Psychologie einsetzende Philosophie ist eine Philosophie der menschlichen Existenz, des körperlichen Seins: ein Denken, das das alltägliche Leben und das Gewicht der Lebenserfahrung in die Psychologie integriert. Hätte es damals schon Preise für wissenschaftliche Prosa gegeben – die ebenso genaue, klare und selbst in Spezialdiskussionen verständliche Sprache der PP hätte jeden Preis verdient. Die PP können deshalb auch heute noch Vergnügen bereiten: Sie können als eine Folge von Essays über die Empfindlichkeit, Unwahrscheinlichkeit und Unzugänglichkeit menschlichen Lebens gelesen werden. Die PP sind von beeindruckender Vielseitigkeit: Da werden naturwissenschaftliche Resultate der Physiologie neuronaler Prozesse mit introspektiven und 4
Der den radikalen Empirismus explizierende Aufsatz Eine Welt reiner Erfahr f ung wurde mit anderen zugehörigen Arbeiten erstmals in dem Band William Jam J es. Pragmatismus und radikaler Empirismus, hg. von C. Langbehn, Frankfurt f 2006, in deutscher Übersetzung veröffen f tlicht.
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Einleitung
alltäglichen Beobachtungen systematisch reflektiert verbunden. Denn auch die Ergebnisse physiologischer und psychologischer Forschung konfro f ntiert und bewertet James anhand von Common Sense Überlegungen und Erfahrungen. So entsteht, wie auch das Kapitel Der Wille in diesem Band zeigt, eine Art kritischer Common Sense Methodik: Die Einbeziehung von eigenen Körpererfahrungen – die weit über die heute auf Körperbewegung und -lage eingeschränkte Propriozeption hinausgehen – wird zu einer Form der gehärteten theoretischen Refle f xion psychologischer Probleme ausgestaltet. James versucht dadurch die Grenzen der Psychologie näher zu bestimmen. Die PP liefern dem Leser aber auch ein Panorama fas f t aller traditionellen Theorien des Geistes. Doch James entwickelt aus seiner Auseinandersetzung keine einheitliche, alle geistigen Phänomene und Funktionen verbindende, Theorie des Geistes. Dabei fehlt es nicht an verbin r denden Momenten. Bei allen Themen – ob es um den Erwerb von Verhaltensgewohnheiten, um das Selbstbewusstsein, Aufmer f ksamkeit, Empfin f dung, Zeit- und Realitätswahrnehmung, Emotionen, Erinnerung oder rationales Denken geht – stets versucht James, körperliche Erfahr f ungen und physiologische Eigenschaften geistiger Phänomene aufzuweisen und zur Bestimmung der konkreten Erfahrungsbedingungen zu nutzen. Doch ihm geht es nicht darum, die aufge f wiesenen Aspekte der verschiedenen geistigen Phänomene theoretisch zu vereinheitlichen. Im Gegenteil: James erteilt explizit dem Unternehmen einer einheitlichen Super-Theorie des Geistes eine Absage. Der Pluralismus, den James später als Pragmatist artikulieren wird, bestimmt bereits die Praxis und Theorie seines Denkens in der Psychologie. James setzt sich mit geistigen Phänomenen auf eine Weise auseinander, die zu einer ganz eigenen Ontologie der Kontinuität aller geistigen Phänomene führt. Denken und Bewusstsein werden weder monistisch durch ein Prinzip vereinheitlicht, noch werden sie auf diskrete geistige Ereignisse, also einzelne Gedanken, Vorstellungen oder Ideen, gegründet. Vielmehr wird das Modell eines zeitlich und räumlich kontinuierlichen Prozesses (stream of consciousness) angenommen: Bewusstsein und Denken bestehen wesentlich aus dem Zusammenhang des Verlaufs wechselnder Beziehungen. Für James sind somit der Zusammenhang, die Kontinuität und die Übergängigkeit der Bewusstseins- und Denkfor f men die primäre geistige Wirklichkeit. Mit dieser Kontinuitätsthese kommt James der Philosophie seines Lebensfreundes C. S. Peirce so nahe wie selten. Peirce plädiert in seiner Metaphysik unter dem Namen Synechismus entschieden dafür, dass kontinuierliche Übergänge die Grundstruktur der äußeren Wirklichkeit und des Geistes bilden. In seiner Rezension der PP hat Peirce deshalb gerade James’ Kontinuitätsthese als dessen höchste Errungenschaft gepriesen. Was bedeutet es konkret, dass das Bewusstsein stets im Fluss ist, und wie kann es dann einzelne Gedanken, Ideen, Wahrnehmungen geben? Jede für sich betrachtete isolierte Idee, eine Vorstellung oder ein Gedanke, ist eine diesen Strom verkürzende Darstellung, die selbst im Prozesskontinuum verbleibt. Kontinuierliche Zusammenhänge und Übergänge von einander verstärkenden oder schwächenden Beziehungen werden durch einen Gedanken, eine Idee oder Vorstellung also nur verkürzt. Im Zusammenhang des Bewusstseinsflu f sses gesehen
Die Entstehung einer Philosophie aus der Psychologie
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sind einzelne Ideen, Vorstellungen und Gedanken also in einen unscharf begrenzten Bereich von mehr oder minder starken Anklängen und Assoziationen eingebettet. Die einzelne Vorstellung, z. B. von einem Baum, ist selbst ein Ruhepunkt im Prozess des Verlaufs. Sie liegt als Verdichtung oder Überlagerung im Fluss eingebettet. Einzelne Bilder, Ideen, Gedanken sind somit aus der Veränderung gebildete, relativ konstant fortbestehende Teile des Flusses. Nur relativ zu ihrer schneller sich verändernden Umgebung sind sie konstant. Sie ähneln darin den Wirbeln eines Flusses, deren Bildung nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis des Strömens des Flusses ist. Ohne das Fließen des Flusses gibt es keine Wirbel und ohne Bewusstseinsstrom keine einzelnen Gedanken und Ideen. Dieser Ansatz hat Konsequenzen ffür die Bedeutung geistiger Phänomene: Erst die Umgebungsbeziehungen zu den anderen Gedanken, Gefüh f len, Stimmungen usw. geben einem Gedanken oder einer Idee ihre volle psychische Wirklichkeit und Bedeutung. Erst das reflektierende Denken des Psychologen oder aber das in Subjekte und Prädikate unterscheidende alltägliche Sprechen unterteilen den ansonsten kontinuierlichen Strom des Denkens und Fühlens. (In diesem Gedanken der grundlegenden Rolle der Kontinuität des Bewusstseinsstroms ist bereits im Keim eine Konsequenz angelegt, die James in seiner Spätphilosophie als „radikalen Empirismus“ zu der These entwickelt, dass es eine reine, neutral t e Struktur der Erfahrung gibt, die weder geistig noch materiell ist, sondern beides zugleich.) Wenn James die Kontinuitäts- und Übergangseigenschaften des Geistigen herausarbeitet, so tut er dies weiterhin dadurch, dass er den Beitrag körperlicher Prozesse und Empfindungen zu den kognitiven und affek f tiven geistigen Phänomen betont. So schlägt er z. B. in der Theorie der Emotionen (heute als JamesLange Theorie der Emotionen bekannt) vor, Emotionen von den körperlichen Vorgängen und Empfindungen her zu erklären. Dies verkürzt James zu der eingängigen, aber irreführenden Formulierung: „Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen.“ James gelingt es mit diesen Ansätzen, eine Alternative sowohl zu der Tradition der empiristischen Assoziationspsychologie Englands als auch zu den eher idealistischen oder transzendentalpsychologischen Ansätzen aus Deutschland und Frankreich zu entwickeln. Man kann deshalb die Bände der PP mit Gewinn als historische Einführ f ung und Ergänzung zur heutigen Philosophie des Geistes lesen: Fast alle heute strittigen Probleme und Vorschläge zu Geist und Bewusstsein und zum sogenannten LeibSeele Problem werden anhand der Tradition wie der damaligen Forschungslitera5 tur diskutiert.
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Die PP sind das einzige Psychologiebuch der Welt, das bis auf den heutigen Tag alle Bereiche moderner Psychologie behandelt, dabei lesbar bleibt und seit über 110 Jahren bis heute im Buchhandel erhältlich ist.
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Einleitung
3. Moral und Sinn in der alltäglichen Praxis: Pragmatismus Viele Menschen, nicht nur Moralphilosophen, sind der Auffa f ssung, die Begründung universaler Prinzipien der Moral würde den entscheidenden Teil der Ethik ausmachen. Ethik ist ffür sie allein die Theorie der allgemeinen, universale Gültigkeit beanspruchenden Prinzipien, Regeln und Imperative des richtigen menschlichen Handelns. Wer diese Sicht der Ethik vertritt, wird den Schrifte f n von James zur Ethik und Lebenskunst wenig abgewinnen können. James war der Auffas f sung, dass selbst dann, wenn es aufgr f und einer absoluten göttlichen oder vernünftig f en Ordnung eine universale Ethik geben würde, sie mit dem endlichen menschlichen Leben nicht direkt etwas zu tun hätte: In einer solchen Ordnung würden die individuellen Gegebenheiten, Zufälligkeiten und Probleme der menschlichen Existenz des Einzelnen noch gar nicht vorkommen. Es bedürfte erst der in den meisten Fällen nicht möglichen Vermittlung dieser absoluten Ethik mit der Zeitlichkeit, Zufäl f ligkeit und Komplexität, die Konfli f kte im Leben zwischen einzelnen Menschen ausmachen und bestimmen. James’ Verständnis moralischer Konflikte zwischen zwei Menschen ist, dass dabei zwei unvereinbare Welten aufei f nander treffe f n. Moralische Konfli f kte ergeben sich eben daraus, dass Menschen in Beziehung zueinander, zu ihrer Zeit und ihren individuellen Erfahrungen, Überzeugungen und Idealen nicht vergleichbar sind. Eine, wie James sagt, „apriorische“ universale Ethik würde sich entweder als tautologisch oder als irrelevant erweisen: Alle moralischen und lebensrelevanten Probleme wären noch offen f , weil eine universale Ethik die Tiefe des Konfli f kts nicht einmal beschreiben kann. In den ersten beiden Aufsätzen über den Sinn (Was macht das Leben bedeutsam t ?) und Wert menschlichen Lebens (Ist ddas Leben lebenswert?) und gleich zu Anfang des systematischen, nur der Ethik gewidmeten Aufsatzes Der Ethiker und ddas sittliche Leben schließt James deshalb die Möglichkeit einer apriorischen Ethik aus, wenn er schreibt: „Diese Abhandlung widmet sich in erster Linie dem Nachweis, dass eine dogmatisch und im Vorhinein aufgestellte Ethik ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Sofer f n wir etwas zum sittlichen Leben der Menschheit beitragen, bestimmen wir alle den Inhalt der Ethik mit.“ (S. 78)
Doch was ist Ethik dann, wenn sie keine universal und apriorisch gültige Theorie moralischer Prinzipien liefert? Ethik ist möglich, aber sie erwächst aus den geschichtlichen Lebensvollzügen und Werthaltungen der Menschen. Deshalb können wir nur in Beziehung auf historische Situationen in der Geschichte der Menschheit eine relevante und zutreffe f nde ethische Theorie formulieren. Was natürlich heißt, dass sie ffür vorhergehende oder künftige Situationen mehr oder weniger irrelevant ist. Denn James geht davon aus – und hier nähert er die Ethik einer Theorie der Politik und der Gerechtigkeit an –, dass es die von jeweils lebenden Menschen verfolgten Ideale und Forderungen sind, mit denen sich die Ethik auseinander setzen muss. Wir sind, betreiben wir philosophische Ethik, auf die gemeinsamen Lebensvollzüge der Menschen als unsere Daten verwiesen, weil wir alle durch unser moralisches Handeln mitbestimmen, was als moralisch
Moral und Sinn in der alltäglichen Praxis: Pragmatismus
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richtig oder falsch akzeptiert wird. Die philosophische Pointe der Jamesschen Ethik besteht also in dem Vorschlag, den phänomenologischen Reichtum der historischen Formen von Moral und Lebenskunst und damit auch die moralische Bedeutung der körperlichen Zeitlichkeit der Praxis alltäglichen Lebens der Menschen in ethischen Theorien einzubeziehen. James musste nicht erst den Pragmatismus entwickeln, um mit dem Vorrang der Praxis der Lebensvollzüge gegen den Anspruch universaler Ethiken argumentieren zu können. Er war vom Primat der Praxis schon vor der expliziten Formulierung des Pragmatismus – die durch Peirce um 1878 veröffentlicht wurde – fest überzeugt. Er notiert in einem Tagebucheintrag von 1868: „Jede gute Erfahrung sollte in der Praxis interpretiert werden. Vielleicht können wir nicht immer eine 6 Wirkung aufspüren, aber wir verlieren nicht, wenn wir es versuchen.“ Kein Interesse, kein lebendiges Motiv, keine Bindung an die Konstellation gelebten Lebens ist anders philosophisch fruchtbar zu machen als dadurch, dass interpretativ wirksam konkrete Praktiken theoretisch berücksichtigt werden. James’ moralische und lebenskünstlerische Arbeiten versuchen deshalb, sich gut pragmatisch jener Verallgemeinerungen und Abstraktionen zu enthalten, die eine Rückbindung auf eine konkrete Praxis ausschließen. Auch wenn er spekulativ über die Beziehung zwischen individuellem Bewusstsein und Allseele nachdenkt, hat er dabei die praktischen Wirkungen im Auge, die derartige Überzeugungen auf die Lebensführung der Glaubenden haben. James motiviert und durchdenkt also Fragen der Moral und Lebenskunst, der Psychologie und Philosophie von seiner eigenen Lebenserfahrung und ihrer Übertragbarkeit in alltägliche Lebenssituationen her. Diese Lebensbeziehung des Jamesschen Philosophierens werden wir noch genauer betrachten und dabei sehen können, dass insbesondere das Problem der Freiheit des Willens im Leben, das der Auszug aus Der Wille aus den Principles of Psychology diskutiert, für James von existentieller und auch theoretisch entscheidender Bedeutung ist. James versteht die Endlichkeit des menschlichen Lebens auf eine entschieden individualistische Weise. Im Vordergrund steht das individuelle, selbstbestimmte Ergreifen und Gestalten des eigenen Lebens und die individualistische Perspektive des Erfahrens und bewussten Glaubens an den eigenen freien Willen, der die Selbstbestimmung des Lebens ermöglicht. In einem Tagebucheintrag von 1870 macht James das Bekenntnis zur Selbstbefähigung und -bekräftigung des Wollens sogar zum Kern seines Menschen- und Selbstbildes: „Ich werde einen Schritt weiter mit meinem Willen gehen, nicht nur mit ihm handeln, sondern ebenso an ihn glauben; an meine individuelle Wirklichkeit und kreative Kraft. Sicher, mein Glaube kann nicht optimistisch sein – aber ich verlege das Leben (das wirkliche, das gute) in das Selbst, das den Wider7 stand des Ichs gegenüber der Welt beherrscht.“
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Übersetzt und zitiert nach G. E. Myers, William James. His Life and Thought, New Haven und London 1986, S. 388. 7 Übersetzt und zitiert nach G. E. Myers, William James. His Life and Thought, New Haven und London 1986, S. 389.
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Einleitung
Menschen sind zu einer selbsthaft bewussten und fre f ien Bestimmung ihres Wollens fähig, die in der Auseinandersetzung der Individuen mit der Welt einen Unterschied macht. Dies ist aber für f James keine Aussage ethischer Theorie, sondern eine der Lebenskunst und moralischen Anthropologie. Denn die wirksame Entscheidung über das eigene Handeln beschreibt die Möglichkeit moralischer Praxis für den einzelnen Menschen und nur die Möglichkeit von Ethik als Theorie: Nur wenn und insoweit Menschen aufgr f und eigener Entscheidungen ein selbst gewolltes Leben führen, sind sie auch moralische Wesen, die sich bewusst auf das Leben als ihr eigenes einlassen können. Daraus ffolgt: Es kann auch Menschen geben, die aus dem Raum des Moralischen herausfal f len, wenn es ihnen nicht gelingt, die Bedingung zu erfüllen, dass sie durch ihren Willen ein praktisches Selbstverhältnis zu ihrem eigenen Handeln herstellen. Man kann deshalb fragen: Gibt es ein menschliches Leben, das ohne diese Überzeugung von der Wirksamkeit des Willens das eigene Leben selbsthaft bestimmt? Ja, durchaus: Dies wäre eine Lebenspraxis, die Menschen ffraglos und ohne das Verhältnis des Wollens zum eigenen Leben vollziehen können. Ein Lebensvollzug, in dem wir uns nicht, wie wir sagen, „unserer selbst bewusst sind“, „uns selbst finden“, auch nicht „selbst bestimmen“, gleichwohl aber handelnd auf seinen Verlauf einwir8 ken. Auch ohne Bewusstsein der eigenen Rolle als Subje b kt ist dies möglich. Die bewusste Überzeugung, selbst über die Fähigkeit des willentlichen Einflusses zu verfügen und damit Verantwortung für das eigene Handeln zu tragen, hat James aber als Vorbedingung jeder Moral angesehen. Die theoretische Auszeichnung der Relevanz und des Rangs der individuellen Praxis des Wollens im Alltag menschlichen Handelns charakterisiert auch die Weise, wie James den Pragmatismus versteht. Die Einbeziehung der Praxis menschlichen Lebens ist in seinen Schriften zum Pragmatismus – anders als bei Peirce – niemals nur eine wissenschaftliche Methode, die sich auch durch eine andere Argumentationsweise austauschen lassen würde. Deshalb versteht James die bedeutungstheoretischen, wahrheitstheoretischen oder erkenntnistheoretischen Thesen des Pragmatismus existentiell und lebenskünstlerisch. Ja, er gibt ihm gelegentlich auch eine ethische Deutung: Der Pragmatismus wird so unter der Hand eine Weise, die Beziehung zwischen Lebensführung und den großen, offen f en Fragen der Philosophie zum Gegenstand des Philosophierens zu machen. Nach James ist ein Pragmatist ein Denkender, der philosophiert, indem er auch existentiell über sein Leben reflektiert. Der Pragmatist überwindet die abstrakten Glasperlenspiele der Philosophie und denkt von seiner Lebenspraxis aus: „Er wendet sich von Abstraktionen und Unzulänglichkeiten ab, von bloß verbalen Lösungen und falschen apriorischen Begründungen, geschlossenen Sys8
Das ffehlende Bewusstsein des praktischen Selbstverhältnis ist dabei von anderen Arten des Selbstbewusstseins zu unterscheiden, die auch dann vorhanden sein können, wenn praktisches Selbstbewusstsein fehlt: Wenn wir uns unserer selbst bewusst sind, z. B. eigene Erfahr f ungen explizit in Aussagen mit „ich“ uns selbst zuordnen können, so heißt das noch nicht, dass wir uns auch bewusst wirksam willentlich zum eigenen Leben verhalten. Denn dann müssten wir auch die Verantwortung für die von uns veranlassten Entscheidungen über die Optionen des Denkens und Handelns übernehmen.
Moral und Sinn in der alltäglichen Praxis: Pragmatismus
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temen und dem vermeintlich Absoluten und Ursprünglichen. Er wendet sich dem Konkreten und dem Angemessenen zu, den Tatsachen, den Handlungen und der Macht. [...] Er fordert, den offenen Himmel und die Möglichkeiten, die die Natur uns bietet, gegen das Dogma zu stellen, gegen g das Artifiz f ielle 9 und gegen den Anspruch auf endgültige Wahrheit.“ (S. 64)
James besteht als Pragmatist auf der Relevanz individueller Entscheidungen und Forderungen für die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Freiheit des Willens und Handelns. Ohne deshalb deren Anspruch auf empirisch aussagekräft k ige Ergebnisse zu leugnen, bestreitet James, dass aus der Psychologie und Neurophysiologie eine angemessene oder gar vollständige Theorie der menschlichen Lebenspraxis gewonnen werden kann. Ja, die Komplexität des menschlichen Geistes – „so komplex ist der menschliche Geist“ heißt es in Der Wille – weist letztlich über die Psychologie hinaus. Wir sahen schon, dass, ganz im Gegenteil, psychologische Theorien letztlich durch Common Sense Überlegungen und durch Körpererfahrungen beurteilt werden sollen. Diese Wissenschafte f n können auch niemals aufgrund ihrer eigenen empirischen Resultate beweisen, dass menschliche Freiheit und Verantwortung praktisch möglich oder unmöglich sind. Die Annahme der Neuropsychologie, dass z. B. allen bekannten geistigen Prozessen deterministische Gehirnprozesse zugrunde liegen, schließt die Möglichkeit der Freiheit keineswegs aus. Ja, er betont in Der W Wille: „[...] das Wollen ist eine ganz und gar psychische bzw. moralische Tatsache.“ (S. 159) So ergibt sich eine Jamessche Konzeption des Geistes, die eine Vielzahl von Perspektiven zu integrieren sucht und über die Erfah f rung des eigenen Körpers geistige Prozesse in einer moralischen Praxis einbettet. Diese komplexe Situation ist von einigen James-Interpreten – wie ich meine ffälschlicherweise – als mentalistische dualistische Auffa f ssung des Geistes interpretiert worden. Denn: James argumentiert ja zum einen als Begründer der modernen Psychologie von den empirischen Befunde f n der Physiologie und Psychologie aus. Zum anderen bezieht er die physiologische Basis des Geistes auf andere, introspektive und praktische Beziehungen und Befunde. Also betont er die Grenzen der Relevanz der Resultate der Psychologie. Eine dieser Grenzen wird durch die Körperempfin f dungen und eine andere durch den Vorrang der Lebenspraxis gezogen: Geist ist nur physiologisch betrachtet, jedoch nicht praktisch und philosophisch ein Gehirnzustand. 10 James ist deshalb einer der Stammväter des Enaktivismus in der modernen Philosophie des Geistes: Geistige Prozesse gewinnen ihre Bedeutung in den 9
Zitiert nach: William James, Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Denkweik sen, übersetzt, eingel. und hg. von K. Schubert und A. Spree, Darmstadt 2001. 10 Enaktivismus ist eine neue Theorie des Bewusstseins, die Geist aus den Handlungen und Umweltbeziehungen und nicht durch neuronale Prozesse erklärt. So schreibt Alva Noë in Out oof our Heads. Why h You Are Not N Your Brain, and Other t Lessons ffrom the t Biology of Consciousness, New York 2009: „Um Bewusstsein zu verstehen, müssen wir nicht nach innen blicken [...] sondern die Weise beobachten, wie jeder von uns, als ein ganzer Organismus, seine Lebensprozesse in und mit und in Antwort auf die uns umgebende Welt ausführt.“ (Übersetzt vom Verfasser, HP, ebenda, S. 7)
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Beziehungs- und anderen Umweltkontexten der alltäglichen Praxis. Das heißt sie können nur angemessen verstanden werden, wenn man die Bewegungs-, Handlungs- und Körperkontexte menschlicher Verhaltens- und Lebensweisen einbezieht. Geistige Prozesse können niemals allein durch die Eigenschaften einer physiologischen Basis erklärt werden: Ihr Sinn und ihre Bedeutung würden so verfehlt. Normative, intentionale und „interpretierende“ Begriffe f sind deshalb auch aus keiner Deutung der Neuro- und Biowissenschaften zu beseitigen. Ja, noch mehr: Praktisch und pragmatisch ist es sinnlos, Geist als einen Gehirnprozess zu verstehen. Halten wir unser bisheriges Ergebnis fest: James argumentiert für eine andere, nicht auf unabhängige universale Prinzipien setzende Auffass f ung der Beziehung von Ethik und endlicher, historischer Lebenspraxis. Er geht davon aus, dass die individuellen, biographisch zu meisternden Lebenssituationen der Menschen durch ihre Endlichkeit und Zeitlichkeit einen eigenen Wert und Bedeutung für f die Beurteilung von Erkenntnisansprüchen der Psychologie wie der Ethik besitzen. Die Praxis liefert aber vollzugsabhängige Gegebenheiten, die durch universale Prinzipien nicht einholbar oder ersetzbar sind. Deshalb ist das einzige allgemeine ethische Prinzip, das James akzeptiert, die Forderung, dass gut ein Ideal nur dann ist, wenn es ein Maximum von individuellen Bedürfnissen, Forderungen und Idealen einschließt. Ansonsten aber kann eine moralische Tat darin bestehen, gegen alle moralischen Regeln zu verstoßen, wenn die Situation es verlangt: „Das höchste ethische Leben – wie wenige auch der Bürde gewachsen sein sollten, es auf sich zu nehmen – besteht zu allen Zeiten im Überschreiten von Regeln, die für einen konkreten realen Fall zu starr geworden sind. Es gibt nur ein unbedingtes Gebot, und das lautet: Wir sollen immer und mit aller Anstrengung so handeln und uns so entscheiden, dass wir die größtmögliche Gemeinschaft des Guten erzeugen, die wir uns vorstellen können.“ (S. 93)
4. Freiheit und Sinn in einer Welt harter Tatsachen „Die für uns einfac f hsten Aspekte s der Dinge sind durch ihre Einfach f heit und Alltäglichkeit verbor r rgen. (Man M kann es nicht bemerke r n, – weil man es immer vor Augen hat.)“ Ludwig Wittgenstein, Philosophische Unt U ersuc r hungen, § 129
Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens hat Wittgenstein im Tractatus LogicoPhilosoph o icus geantwortet, dass die Antwort auf diese Frage das Verschwinden 11 der Frage ist. Ein konsequenter Praxis-Denker – eine Position, der, wie wir noch sehen werden, sich William James nur annäherte – könnte diesen dunklen Aus11
Die entsprechende Passage lautet: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“ (Tractatus logico-philosophicus, 6.52, 6.521)
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spruch so deuten: Wenn Menschen in ihrem Leben zuhause sind, und wenn ihr Leben gelingt, dann fragen sie nicht nach einem Sinn, der über das Leben, das sie führen, hinausgeht – und das dann erst eine Art höheren Sinn ergeben würde. Denn das Leben, das sich frag f los in alltäglicher Praxis zwischen Menschen mit jedem Blick, jeder Handreichung, jeder Begegnung ereignet, gelingt bereits auf ebenso fraglose wie sinnvolle Weise. Im Zwischenmenschlichen trägt es seinen Sinn in sich: Es ist das Teilen menschlicher Gegenwart zwischen Menschen, die einander in der Zeit und dem Raum ihres Lebens begegnen. Doch wer die Sinnfrage stellt, nimmt diesen fraglosen, alltäglichen Sinn häufig nicht zur Kenntnis. Er übersieht, dass menschliches Leben auf unspektakuläre Weise bereits gelingt, soll die Frage nach weiterem Sinn überhaupt fformulierbar sein. Nur aus dem Gelingen menschlichen Seins heraus lässt sich die Sinnfrage stellen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist also – wenn sie mehr ist als eine bloße Frage nach Zielen im Leben – ein Beleg dafür, dass bereits menschliches Leben miteinander gelungen ist. Die starke Sinnfrag f e aber zielt auf eine Antwort, die über diesen elementaren Sinn menschlicher Lebensteilung hinausgreift, ja ihn ignoriert. Fortdauerndes Glück, die Erfüllung von Idealen, Proje o kten und Zielen, von Hoffn f ungen und Wünschen, ein Zusammenhang aller Ereignisse im Leben als der eine allumfassende Sinn, werden oft damit gemeint. In der nächsten Steigerungsstufe f soll der Sinn sogar noch umfassender und allgemeiner gültig sein: Der eine Lebenssinn gilt dann erst als erreicht, wenn er durch einen religiösen, metaphysischen oder utopischen allumfassenden Sinn begründet ist, der nicht nur meine Wirklichkeit, sondern jedes individuelle Leben mit der gesamten Wirklichkeit verbindet. Dann gibt es nur noch den einen Sinn des Lebens, der als der eigentliche, höchste und einzige Sinn des menschlichen Lebens verstanden wird. Jener alltägliche Sinn des Gelingens menschlichen Lebens in der miteinander geteilten Gegenwart spielt für f die Suche nach dem höchsten und einzigen Sinn keine Rolle: Er kann keinerlei Sinn beitragen. Als einziger Sinn des Lebens zählt dann nur noch, was vom höchsten und allgemeinen Über-Sinn her das individuelle Leben als sinnvoll deutet. Dabei soll das Ganze des einzelnen Lebens und das Leben aller Menschen durch diesen höchsten Über-Sinn gerechtfert f igt und gedeutet werden können. Deshalb braucht es eine göttliche Ordnung, ein Ziel der Existenz des Universums oder mindestens ein Ziel der Geschichte, wie z. B. den Sieg des Proletariats, um einen höchsten Lebenssinn fes f tzulegen. Auf den ersten Blick scheint auch James den Lebenssinn in einer der höheren Versionen zu sehen. So heißt es gegen Ende des Aufsatzes Was gibt einem Leben Sinn?: „Der wirkliche Sinn des Lebens ist in aller Ewigkeit der gleiche, – nämlich die Vereinigung eines außergewöhnlichen Ideals, wie speziell auch immer, mit Treue, Mut und Ausdauer, mit den Schmerzen eines Mannes oder einer Frau. Was und wo auch immer das Leben sein mag, besteht die Chance, dass diese Ehe auch wirklich geschlossen werden kann.“ (S. 76)
Tatsächlich gibt James zu, dass nur die Existenz einer göttlichen Ordnung eine strikte moralische Ordnung unter den Menschen würde stiften können. Doch fügt er sogleich hinzu, dass dafür f bereits die geteilte Illusion der Existenz Gottes
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Einleitung
ausreichen würde. Bereits diese Illusion würde uns zu einem emphatischen Glauben an eine objektive moralische Ordnung motivieren. Es geht also um die moralische Motivation der Menschen durch ihre Überzeugungen von moralischer Objektivität. Und diese Überzeugungen sind davon unabhängig, ob Gott wirklich existiert oder nicht. Blicken wir noch einmal auf das obige Zitat und den Kontext, in dem es steht: James hatte dargelegt, dass es die Pluralität der verschiedenen, nicht miteinander verträglichen Ideale ist, die den Reichtum menschlichen Lebens ausmacht. Er fragt also eher: Wie können Menschen miteinander – gleichgültig welches der vielen Ideale sie haben – ihr Leben auf sinnvolle Weise gestalten? Und antwortet darauf, dass es auf die Vereinigung des Ideals mit der Lebenspraxis ankommt. Diese Vereinigung eines besonderen Ideals mit den praktizierten Alltagstugenden des Lebens – und das sind eben Treue, Mut, Ausdauer – bedeutet nicht, dass es der höhere Sinn des Ideals ist, der allein dem Leben Sinn verleiht. Die hier verwendeten Begriffe f „Vereinigung“ und „Ehe“ legen nahe, dass es eine fruchtbare Beziehung zwischen zwei gleichberechtigten Parteien sein sollte. Was ein außergewöhnliches Ideal jedoch mit sich bringt und for f dert, ist die Fähigkeit zur Veränderung bestehender, fest etablierter Praktiken. Doch die Praktiken sind nichts anderes als Verhaltensgewohnheiten, welche den Alltag eines Lebens fest f legen. Ein Ideal, schon gar ein außergewöhnliches, liefert eine Perspektive, welche die Veränderung von Gewohnheiten leiten und anregen kann. Gewohnheiten sind für f die Praxis von entscheidender Bedeutung. Denn Menschen gewinnen und stabilisieren durch ihre Gewohnheiten sich selbst und ihre Identität in den Wechselfäl f len des Lebens: Die Gewohnheiten bestimmen jene funktionierenden Weisen des Handelns, die – so schon Aristoteles – die Lebensweise des Menschen prägen. Das erste, sich wirklich mit psychologischen Themen befassende Kapitel der Principl i es of Psycho s logy, nach den methodischen und physiologischen Kapiteln, ist den Gewohnheiten des Handelns, Fühlens und Denkens gewidmet. Und es endet mit lebenskünstlerischen Ratschlägen, wie man neue Gewohnheiten einüben und alte ablegen kann! Wir verdanken es den Gewohnheiten, dass die Verbindung von Bewusstsein und Handeln im menschlichen Leben sowohl stabil ist als auch offen bleibt, und es sind Gewohnheiten des Verhaltens, 12 die sich aufgr f und unserer Erfahr f ung, Ideale und Ziele verändern müssen. Die stabile, kaum Aufme f rksamkeit erfor f dernde, gewohnheitsmäßige Ausfühf rung von Wahrnehmungen und Handlungen erfolgt häufig sogar vorbewusst und spontan. Sie schafft damit den Raum für die Wirksamkeit der bewussten Reflexion über mögliche Entscheidungen. So wird es möglich, dass wir unser Verhalten in Bezug auf die jeweiligen Bedingungen verändern. Die Gewohnheiten, die den von James erwähnten Alltagstugenden (Treue, Mut, Ausdauer usw.) entsprechen, können von einem Menschen dann verändert werden, wenn er sich ein Ideal 12
Deshalb wird auch die systematische Bedeutung von Verhaltensgewohnheiten (Engl. habits) bei allen drei klassischen Pragmatisten – Peirce, James und Dewey – zum charakteristischen Merkmal von Praxis. Dewey, der jüngste der drei Pragmatisten, hat in seinem Buch Human N Nature and Conduct eine umfassende und sozial reflektierte Theorie der habits vorgelegt.
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(Plan, Proje o kt, Ziel) zu eigen macht, das ein verändertes Verhalten von ihm ffordert. Nur wenn die Aufmer f ksamkeit und der Wille von Menschen in der Lage sind, ihre Gewohnheiten in neue Bahnen zu lenken, kann die Vereinigung eines Ideals mit dem Leben wirksam werden. Nun sagt James, dass wir keine Handlung einfach f nur allein durch eine willentliche Entscheidung auslösen können. Jede Handlung, die wir aufgrund einer bewussten Entscheidung vollziehen, besteht entweder aus ganzen H Handlungen oder aus Teilhandlungen, die wir bereits t ohne bewusste Entscheidung prakt r isch vollzogen haben. Der Vorrang der Praxis vor der Theorie gilt also auch für den Willen. Wir sahen: James entwickelt seine Konzeption des menschlichen Geistes und der Freiheit des Willens in der Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass geistige Prozesse körperlich und physiologisch basiert und in der Praxis verwirklicht sind. Doch in welchem Sinne und bis zu welchem Grade ist diese körperliche und physiologische Basis des Geistes wirksam? Im Kapitel Der Wille argumentiert James philosophisch und transdisziplinär für die Freiheit des Willens, ohne die physiologische Ebene determinierender Faktoren zu leugnen. Doch werden dabei auch die Grenzen der Aussagekraf k ft der Psychologie deutlich, deren Ergebnisse auf umfassendere, lebenspraktische Kontexte bezogen und in ihnen bewertet werden müssen. James’ Antwort auf die Frage, worin die Freiheit des Willens besteht, lautet in den Principles i allgemein, dass frei f er Wille eine Art von aufrecht gehaltener Aufmerksamkeit ist: Das Wollen ist eine besondere Weise, bewusst auf eine Möglichkeit des Handelns, Denkens, Wahrnehmens etc. aufmerksam zu werden und an ihr interessiert zu sein: „Die Schwierigkeit liegt nur darin, die Herrschaft im Bewusstsein zu gewinnen. [...] Diese Anspannung der Aufmerksamkeit ist der fundamentale Willensakt. Und die Arbeit des Willens ist in den meisten Fällen praktisch zu Ende, wenn die bloße Gegenwart der von Natur aus unwillkommenen Sache in unserem Bewusstsein gesichert ist.“ (S. 137)
Doch da sich aber mit den Mitteln der Psychologie niemals empirisch beweisen lässt, dass dieser Prozess der Ausrichtung der Aufmerksamkeit ohne determinierende spezifische physiologische Basis verläuft, kann es keinen psychologischen Beweis für die Freiheit des Willens geben. Die Frage, ob es einen ffreien Willen gibt, ffällt also aus der Psychologie heraus. Sie wird vielmehr durch Rückgriff f auf Common Sense Erfahrungen beantwortet: Wir wissen bereits, dass ein frei f er Wille existiert, weil wir immer wieder erfahren, dass vom freien Willen überzeugt zu sein selbst ein wirksamer Akt des freien Willens ist, der beobachtbare Konsequenzen für unser alltägliches Handeln hat. James stützt diese Antwort nun durch eine Kritik der Theorien und erzielten Ergebnisse der Psychologie und Neurophysiologie. Deren Relevanz und Aussagekraft k über eine Frage wie die nach der Freiheit des Willens muss den Erfahrungen gelingender Lebenspraxis untergeordnet werden. Denn nur so kann ein Kontext für die Interpretation der praktischen Geltung von Forschungsergebnissen gesichert werden, der für den ganzen Bereich menschlichen Lebens relevant ist. Das Urteil über die lebenspraktische Relevanz liegt jenseits der wissenschaftlichen Kompetenz, zu denen die Befunde einer Psychologie und Neuropsychologie berechtigen.
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Die Frage nach dem Beitrag des frei f en individuellen Denkens motiviert James’ moralische und lebenskünstlerische Überlegungen. Er ist bereits lebenspraktisch von der Wirksamkeit des freien Willens überzeugt und versucht deshalb anhand konkreter Fälle zu verdeutlichen, dass sich der freie Wille im bewussten Denken und Fühlen produktiv niederschlägt. Das heißt das Glauben an und Handeln gemäß einer Überzeugung kann für f das Leben eines Menschen einen wichtigen, ja entscheidenden Unterschied machen. So argumentiert James in dem Aufsatz The Will to believe (Der Wille zum Glauben), der dem Aufsatzband seinen Namen gegeben hat, dass Menschen ein Recht haben, sich auch bei unvollständiger Information in Fragen, die für ihr Leben dringlich sind, für eine Überzeugung frei zu entscheiden. Dies ist dann erforderlich, wenn in endlicher Zeit ausreichende Infor f mationen, die eine Frage objektiv entscheiden, nicht verfügbar sind. Wenn nämlich in einer Frage meine Entscheidung für oder gegen eine Überzeugung – z. B. der Existenz Gottes – für f den Erfolg f des eigenen Handelns oder die Gestaltung des Lebens entscheidend ist, so kann es sein, dass sie diese Folgen nur hat, wenn ich mich von ihr zu einem bestimmten Zeitpunkt, z. B. relativ früh im Leben, überzeugt habe und sie akzeptiere. Sich nicht zu entscheiden, wäre dann ebenfall f s eine Entscheidung. Doch es sind ganz konkre k te, existentielle Situationen, die James mit dem Willen zum Glauben in den Blick nimmt. Nehmen wir an, ein Schiff f sei in einem schweren Sturm in Seenot geraten. Wenn der Kapitän in dieser Situation von Anfang an überzeugt ist, dass es sowieso nicht möglich sei, das Schiff zu retten, so wird er schon durch seine negative Überzeugung jede mögliche Rettung behindern oder vereiteln. Jedenfalls dann, wenn er sich nicht mehr um Rettung bemüht. Nehmen wir dagegen an, der Kapitän würde die Rettung für möglich halten und jede Möglichkeit dazu nutzen. Selbst wenn dann in einem Augenblick die Rettung des Schiffs tatsächlich ausgeschlossen ist, so könnte sie doch im nächsten Augenblick wieder möglich werden. Einen anderen Aspekt berücksichtigt James dabei aber nicht: Die Überzeugung und das Verhalten des Kapitäns wird auch seine Mannschaft beeinflu f ssen, die dann zusammenarbeiten und jede Chance einer Rettung nutzen wird, wenn sie in dieser Haltung bestärkt und auf das Wahrnehmen von Rettungsmöglichkeiten gelenkt wird. In Allgemeinplätzen wie „Wer nicht kämpft, der hat schon verloren“ und in der Idee sich selbst erfül f lender Prophezeiungen schwingt diese Einsicht in die konstitutive Rolle bestimmter Überzeugungen mit. Die Verknüpfun f g von endlicher Lebenszeit und der Wirksamkeit von freien Entscheidungen eröffne f t einen Zugang zu der Frage, wie Lebenssinn, Erfah f rungen und Überzeugungen zusammenhängen: Einen Sinn hat das von jedem Menschen im Kreise seiner Zeit- und Lebensgenossen verbrachte endliche Leben dadurch, dass die eigenen Überzeugungen und Entscheidungen einen erfah f rbaren Unterschied ffür die Weise machen, wie wir unser Leben führen. Doch dafür benötigt ein jeder die Freiheit seines Willens und Handelns, soweit sie ihn zu Lebensmöglichkeiten anleitet. Es sind also die eigenen, frei f en Entscheidungen, die in moralischen und gar in lebensentscheidenden Fällen unser Handeln miteinander ermöglichen. In einer psychisch-philosophischen Krise des Jahres 1870
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waren es die Einsicht und die Selbstermutigung, dass der eigene Willen wirksam ist – durch den Glauben an ihn –, die James stärkte und half. Er schreibt: „Ich glaube, gestern hatte ich die Krise meines Lebens. Ich habe den ersten Teil von Renouviers zweiten Essais beendet und ich sehe keinen Grund, warum seine Definition des freien Willens – das Beibehalten eines Gedankens, weil ich mich dafür entschieden habe, obwohl ich andere Gedanke hätte haben können‘ – die Definition einer Illusion sein soll. Zumindest werde ich im Augenblick – bis zum nächsten Jahr – annehmen, dass dies keine Illusion ist. Meine erste fre f ie Willenshandlung soll es sein, an den freien Willen zu glauben.“ (Ralph Barton Perry, The Thought and Character oof William James, Boston 1935, Band 1, S. 323)
Die in diesem Band ausgewählten Texte von James machen deutlich, dass die Freiheit des Willens mit der Fähigkeit des Menschen, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, auf das Engste verknüpft f ist. Gerade weil ihm die Erklärung, warum der Willen frei f sein kann, so wichtig war, geht es James, ebenso wie dies in der heutigen Diskussion der Fall ist, um die Bedeutung der Resultate der Neurophysiologie für die alltägliche Praxis in Recht und Kultur. Wir sahen bereits, dass er zum einen die Möglichkeit einer in Ethik, Lebenskunst und in Fragen des Lebenssinns wirksam werdenden physiologischen Determiniertheit des psychischen Geschehens von deren interner Determiniertheit abgrenzt. James beabsichtigt keine Reduktion in die eine oder andere Richtung: – Weder gibt es eine übergreifen f de, transzendentale Wirklichkeit des Sinns und der Moral, die ffreie Entscheidungen so bestimmt, dass die physiologischen Bedingungen des Geistes gänzlich aufgehoben werden (nur im Unsterblichkeitstext deutet sich eine solche Möglichkeit in einem ganz anderen Zusammenhang an); – noch ist es möglich, die Ebene des Sinns und der Moral auf physiologische Prozesse zurückzuführen und individuelle moralische Entscheidungen in der Alltagspraxis in ihrer Wirksamkeit zu ersetzen. Wenn heute Neurophysiologen for f dern, dass im Strafrecht die Begriffe der Freiheit des Willens und die von Schuld und Verantwortung neu konzipiert werden müssten, weil unser Handeln durch Gehirnprozesse determiniert sei, so ist damit häufig f ein deterministisches und reduktives Verhältnis des moralischen Handelns 13 zu Gehirnprozessen unterstellt, das James explizit ausschließt. James leugnet nicht, dass es determinierende physikalische oder physiologische Bedingungen auch von geistigen und kulturellen Fakten gibt. Doch damit ist das Verhältnis der Neurophysiologie zu dem Bereich, in dem Freiheit, Moral und der Sinn des Lebens angesiedelt sind, noch keineswegs entschieden. James gesteht dem physikalistischen Deterministen viel zu. Er kritisiert aber, dass der Determinist die Einbettung der physikalischen Ebene in ein Netz höherstufiger Sinn- und Zweckbe k ziehungen meistens nicht ernst nimmt, ignoriert oder die Möglichkeit einer wertbestimmten Ordnung von moralischen Beziehungen ein13
Einige allgemeine Argumente gegen einen solchen reduktiven Determinismus entwickelt James z. B. in dem Aufsatz The Dilemma of Determinism, den er 1898 in The Will to Believe and other Essays in Popular Philosophy publizierte.
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fach ausschließt. Dabei könnte es sein, dass Freiheit und Moral dem Bestehen einer Welt harter physikalischer Tatsachen nicht widersprechen, sondern diese Ebene vielmehr überfor f men. In diesem Sinne argumentiert James kurz vor seinem Tod in einem Brief an Henry Adams vom 17.6.1910. Henry Adams vertrat eine deterministische Geschichtsauffassung, die er mit den vorgeblichen Konsequenzen des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik begründete. Dieser Satz besagt bekanntlich, dass in einem geschlossenen System die Verteilung von Energie immer nur zunehmen kann. Dies interpretiert Adams nun so, dass aufgr f und der Unausweichlichkeit des Wärmetods des Universums, der alle Unterschiede auslöschen wird, die menschliche Geschichte keinen Sinn haben kann. James’ Antwort auf Adams zeigt, wie er deterministische physikalische Sachverhalte aus dem umfassenderen Standpunkt menschlicher Interessen und Wertungen interpretiert: „Einige Materiekonfigurationen, die auf demselben Energieniveau liegen, sind, vom Standpunkt einer menschlichen Wertschätzung aus betracht t et, überlegen, während andere unterlegen sind. Physisch gesehen wird vielleicht das Gehirn eines Dinosauriers eine ebenso hohe Intensität des Energieaustausches aufwe f isen wie das eines Menschen, doch es vermag unendlich weniger Dinge, weil es als auslösende K Kraft nur die Muskeln des Dinosauriers in Bewegung zu setzen vermag. Das Gehirn des Menschen dagegen, indem es weit schwächere Muskeln in Bewegung versetzt, kann dadurch indirekt Erklärungen abgeben, Bücher schreiben, die Kathedrale von Chart a tres beschreiben usw. und sogar die Energien einer verlöschenden Sonne in Kanäle leiten, in die sie ansonsten nicht geraten wären – kurzum k , es macht Geschichte. [...] Der ,zweite Hauptsatz‘ ist gänzlich irrel r evant für die ,Geschichte‘ – außer insofern als er einen Endpunkt für die Geschichte des Ablaufs der Dinge vor diesem Endpunkt festlegt, und alles, was der zweite Hauptsatz besagt ist, was immer auch Geschichte sein mag, sie sich zwischen dem anfäng f lichen Maximum und dem finalen Minimum des Unterschiedes im Energieniveau entfalten muss.“ (Übersetzt nach: The Letters r of William JJames, ed. by Henry James, Boston 1920, S. 344–347.)
Menschen stehen mit der situierten Endlichkeit ihres Lebens auf einer je historischen Position. Dies legt über die Welt der harten Tatsachen des unausweichlichen Wärmetods ein Netz von Beziehungen, die durch menschliche Werte und Interessen gefor f mt sind: Erst dadurch ist es möglich, dass menschliche Entscheidungen einige Sachverhalte und Handlungen als wert- oder sinnvoller auffa f ssen als andere. Wer die Frage nach dem Sinn des Lebens aber auf die Frage nach dem Determinismus der Gehirnprozesse zurückführ f t, der hat die Frage nicht verstanden. Er verfehlt die Frage nach dem Sinn ebenso wie derjenige, der einen Sinn in der menschlichen Geschichte deswegen verneint, weil der Wärmetod des Universums vorherbestimmt ist.
5. Moralische Einsamkeit: Die Grenzen der Jamesschen Ethik Wir wollen uns nun einer Grenze bzw. einem blinden Flecken in der Jamesschen Ethik zuwenden. Zu Anfan f g der Diskussion der Frage nach dem Lebenssinn hatte ich bereits angedeutet, dass James’ Einbeziehen der Lebenspraxis einer Ein-
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schränkung unterliegt, die verhindert, dass er zum konsequenten Pragmatiker und Praxis-Denker wird. Diese Einschränkung ist der radikale Individualismus des Jamesschen Philosophierens. In dem Aufsatz Der Ethiker und das sittliche Leben bestimmt James durch ein Gedankenexperiment den Gegenstandsbereich der Ethik. Er beschreibt eine Situation, die er moralische Einsamkeit nennt. Dies ist eine Welt, in der nur ein Mensch in einem physikalisch reich ausgestatteten Universum existiert. Die Wünsche, Ansprüche und Bedürfnisse dieses Menschen würden über Wert und Unwert entscheiden und hätten quasi-göttlichen Status, und er müsste sich nur um die Widersprüche zwischen seinen Idealen und Wünschen kümmern. Die Grenzen seiner Subje b ktivität ffallen mit den Grenzen der Moral zusammen, und es könnte keine ethischen Gebote oder Verbote geben. In der Situation des moralischen Dualismus von zwei Personen, die nebeneinander her leben, können wir ebenfalls keine ethische Einheitlichkeit erwarten: Die Welt teilt sich nach den ethischen Ansprüchen dieser beiden Personen entsprechend zweifach in Gutes und Böses auf, wenn, wie James annimmt, die beiden Personen einander in ihren Idealen und Werthaltungen ignorieren. James sieht hier zu Recht nichts anderes als eine Verdoppelung der moralischen Einsamkeit, ohne dass eine ethische Einheitlichkeit möglich oder nötig wäre. Erst in der Situation des moralischen Pluralismus, in der eine Vielzahl von Personen mit unterschiedlichen Idealen, Ansprüchen und Forderungen miteinander interagieren, stellt sich nach James das Problem einer vereinheitlichenden Ethik, die eine Vielzahl universeller Standpunkte aufeinander bezieht: „Wenn ein ideales Urteil objektiv besser sein soll als ein anderes, dann erlangt dieses Bessersein erst dadurch Fleisch und Blut, dass es in die konkret k e Wahrnehmung einer Person eingeht. Es kann nicht in der Luft hängen, es ist kein meteorologisches Phänomen von der Art des Nordlichtes. Sein esse ist genauso percipi i , wie das esse der anderen Ideale, zwischen denen es steht. Insofer f n muss der Philosoph, der wissen möchte, welches Ideal die größte Geltung beanspruchen kann und welche anderen Ideale ihm untergeordnet werden müssen, das Sollen auf die wirkliche Konstitution eines Bewusstseins zurückverfolgen; als strenger Ethiker muss er dieses Bewusstsein als ein Faktum anerkennen, hinter das er nicht zurückgehen kann. Dieses Bewusstsein macht das eine Ideal mit seinem Gefühl zu einem richtigen Ideal, das andere dagegen zu einem ffalschen.“ (S. 83)
Diese Disposition des Problems führt die Jamessche Ethik in eine Schwierigkeit, die sie gegen viele moralische Sachverhalte blind macht. Denn es ist ausgeschlossen, dass die moralische Einsamkeit des Individuums, die James als vormoralische Situation eingeführt hatte, unter seinen Annahmen ffür eine ethische Theorie jemals überwunden werden kann. Eine moralisch relevante Sachlage kann sich auch dann nicht einstellen, wenn wir es mit einer Vielzahl von Personen zu tun haben, also mit der Situation, die James als „moralischen Pluralismus“ beschreibt. James’ Annahmen und seine Problemexposition fführen deshalb seine Ethik in ein Paradox. Denn er kann keine Ethik formulieren, in der zwischenmenschliche Beziehungen moralisch bedeutsam sind, ohne dass dies auf individuelle Gefühle zurückführ f bar wäre.
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Der Grund dafür f ist der fol f gende: Nach dem Jamesschen Diktum, dass jedes Sollen nur dadurch gerechtfertigt werden kann, dass die „wirkliche Konstitution eines Bewusstseins“ erforsc f ht wird, ist allein die individuell zu ergründende moralische Unabhängigkeit von individuellen Gefühlen der Maßstab von moralischer Richtigkeit und entscheidend für die Gültigkeit ethischer Ideale und Forderungen. Dann ist aber auch jede zwischenmenschliche Beziehung nur insofern ethisch relevant, wie sie individuelle Gefühle auslöst. Diese Gefühl f e sind die einzige Basis der moralischen Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen. Doch damit ist jeder moralische Sachverhalt aus dem zwischenmenschlichen Bereich auf die moralische Einsamkeit des fühlenden Individuums reduziert. Nur dann, wenn James diese Prämisse aufge f ben würde, wenn z. B. ein Ideal von allen Individuen aufgr f und wechselseitiger Beziehungen akzeptiert werden würde, wäre diese Beschränkung der Ethik zu überwinden. Doch auch dann wäre nicht das Problem des moralischen Pluralismus gelöst, wie es sich für f James stellt, sondern es könnte einfach nicht mehr entstehen. Wir haben es also mit einem Problem zu tun, für das es, so wie es sich für f den Jamesschen Ansatz stellt, keine Lösung gibt. Und der Grund dafür ist die Weise, wie James menschliche 14 Individualität konzipiert. Die psychologische Basis dieses reduktiven Individualismus der Gefühl f e formuliert James am deutlichsten zu Anfang des Aufsatzes Über eine gewisse Blindheit der Menschen. Dieser Aufsatz beginnt mit einem radikal individualistischen Bekenntnis: „Unsere Urteile über den Wert der Dinge, ob groß oder klein, hängen von den Gefü e hlen (fee ( lings) ab, welche die Dinge in uns erregen. Wo wir ein Ding in Folge der Vorstellung, die wir von ihm haben, als wertvoll beurteilen, ist diese Vorstellung selbst bereits mit einem Gefühl verknüpft. Wenn wir gänzlich gefühllos wären, und wenn Vorstellungen die einzigen Dinge wären, mit denen sich unser Geist beschäftigen würde, so würden wir sofort alle Zu- und Abneigungen verlieren und unfähig sein, eine Situation oder Erfahrung des Lebens als wertvoller oder sinnvoller als irgendeine andere herauszuheben. Die Blindheit der Menschen, mit der sich dieser Vortrag beschäftigt, ist die Blindheit mit der wir alle gegenüber den Gefühlen von Geschöpfen und Menschen geschlagen sind, die verschieden von uns sind. Wir sind praktische Wesen und jeder von uns kann nur eingeschränkte Aufga f ben und Pflichten ausüben. Jeder neigt dazu, die Bedeutung seiner eigenen Pflich f ten und den Sinn der Situationen zu fühlen, die daraus entstehen. Aber dieses Gefühl ist in jedem von uns das Lebensgeheimnis, wofür wir uns ein Verständnis der anderen vergeblich erhoffen. Die anderen werden zu sehr von ihrem eigenen Lebensgeheimnis beherrscht, um sich für das unsere zu interessieren.“ (vgl. S. 171, i) 14
James hat deshalb auch in Äußerungen über Politik und gesellschaftl f iche Institutionen in diesen niemals die politisch-gesellschaftliche Form zwischenmenschlicher Beziehungen sehen können. Er sah sie lediglich als eine den Einzelnen „korrumpierende“ Macht. In einem Brief an William Salter heißt es beispielsweise: „Wir Intellektuellen in Amerika müssen alle daran arbeiten, das kostbare Geburtsrecht des Individualismus von diesen Institutionen frei zu halten. Jede große Institution ist notwendigerweise ein Werkzeug der Korruption – was immer Gutes sie auch bewirken mag. Nur in frei f en persönlichen Beziehungen kann man vollständige Idealität verwirklicht fin f den.“ (James Letters r , Band 2, Brief an William Salter vom 11.9.1899, S. 100 f.)
Moralische Einsamkeit: Die Grenzen der Jamesschen Ethik
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Wenn ausschließlich nicht kommunizierbare individuelle Gefühle den Sinn und die Geltung von Idealen und Werturteilen ausmachen, dann können wir in der Tat andere Menschen niemals verstehen: Die Individualität des Anderen bleibt verschlossen; sie bildet ein unzugängliches „Lebensgeheimnis“. Doch in Über eine gewisse Blindheit der Menschen erzählt James nur Geschichten, in denen zunächst er selbst oder jemand anders die Ideale und Gefühl f e von Menschen missversteht. Diese Geschichten enden immer damit, dass das Missverständnis in der Geschichte selbst oder im Aufsatz aufgeklärt wird. James reflektiert aber an keiner Stelle, warum seine Beschreibung von Situationen des anfänglichen NichtVerstehens der Ideale anderer Menschen durch die Beschreibung des späteren Verstehens aufgeklärt werden kann. Damit ist jedoch bereits die These widerlegt, die der Titel des Aufsatzes suggeriert: Dass Menschen immer für die Ideale und Werte der anderen Menschen blind sind. Die Frage, wodurch er in seinem Auff satz in der Lage ist, die zunächst unverstandenen Ideale anderer Menschen schließlich doch zu verstehen, stellt er nicht. Die Konsequenzen des moralischen Gefühl f s-Individualismus für die Jamessche Ethik sind klar: Selbst die nach James einzige zulässige allgemeine Aussage der Ethik, dass nur Ideale zu akzeptieren sind, die eine möglichst große Zahl individueller Wünsche, Forderungen und Ideale einbeziehen und berücksichtigen, macht nur aufgr f und der Annahme Sinn, dass die Wünsche, Forderungen und Ideale der Individuen unabhängig voneinander und unhintergehbar sind. (Die erkenntnistheoretische Schwierigkeit, wie man denn erkennen kann, dass mein Ideal möglichst viele Ideale anderer Menschen einschließt, wenn diese doch für mich unverständlich sind, soll hier wenigsten erwähnt, aber nicht weiter diskutiert werden.) Nun ist die moralische Toleranz, die aus diesem Gebot der Inklusion für den moralischen Alltag und moralische Auseinandersetzungen folgt, sicher richtig und überaus sympathisch. Aber ffolgt daraus, dass zwischenmenschliche Beziehungen keine moralischen Eigenschaften aufweisen? Dies ergibt sich nur, wenn man wie James annimmt, dass zwischenmenschliche Beziehungen allein wegen der durch sie verursachten individuellen Gefühl f e etwas zum Sinn des 15 Lebens und zur moralischen Identität von Personen beitragen. (Dass individuelle Gefühle in unsere Bewertungen, Ideale und moralischen Urteile eingehen und sogar entscheidend sein können, will ich nicht leugnen. Es geht lediglich darum, dass Gefühle nicht die einzige Basis und der einzige Maßstab ffür moralische Urteile und dafür sein können, ob etwas moralisch ist.) Die größte Stärke der Jamesschen Psychologie, Ethik und Lebenskunst erweist sich als ihre größte Schwäche: Indem Gefühl f e, Erfahrungen und die Körperlichkeit des Einzelnen zum unhintergehbaren Bezugspunkt werden, wird zwar einerseits deren psychologische und philosophische Bedeutung detailliert und konkret herausgearbeitet. Andererseits werden alle Beziehungen und Kontexte, in 15
In unserer Zeit hat R. Rorty z. B. in Kontingenz, Ironie und Solidarit d tät, Frankfurt 1992 f., und in anderen Schriften von James die Konzeption des inklusiven Ideals ebenso wie die Unhintergehbarkeit individueller Gefühle, Ansprüche und Intentionen übernommen und offensiv vertreten. Auch Rorty hat sich mit der individualistischen Begrenztheit dieser Konzeption niemals auseinandergesetzt.
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denen geistige Vorgänge ihre Bedeutung gewinnen, auf die Ebene individueller Erfahrung, Körperlichkeit und Interpretation heruntergebrochen. Damit wird aber die autonome Wirksamkeit zwischenmenschlicher und nicht strikt individuell begründeter Einflü f sse entweder verfäl f scht, umgedeutet oder sogar ganz aus der Betrachtung ausgeschlossen. Auch die durch den Pragmatismus eingeführte Beziehung von geistigen Prozessen zu Handlungen und ihre intersubjektiven Bedingungen wird von James ausschließlich bezogen auf individuelles Handeln und Fühlen verstanden, und so werden alle übrigen, davon unabhängigen Faktoren nicht sichtbar. Selbst sein expliziter Pluralismus ist durch diesen psycho-ontologischen Individualismus geprägt: Denn er geht von der stillen Annahme aus, dass eine Pluralität von Positionen vertretbar ist, die allein durch voneinander unabhängige Individuen konstituiert wird. Doch diese Individuen existieren beziehungslos nebeneinander – und wären als Menschen weder praxis- noch lebensfäh f ig. James hat diese Form des Individualismus aber nur implizit angenommen und konnte ihn deshalb auch 16 niemals explizit aufgeben. Die ethisch-lebenskünstlerischen einschneidensten Folgen dieses Individualismus bestehen darin, dass die Jamessche Ethik nicht zulassen kann, dass Beziehungen zwischen Personen und Dingen Wirklichkeit haben. Weil Beziehungen von den Gefühl f en und Erfahrungen des Einzelnen unabhängig wirksam sein können, bestimmen sie individuelle Gefühle so, dass dies aus der Perspektive des Individuums weder für es selbst verständlich noch theoretisch vom Individuum her erklärbar ist. Das intensive Interesse von James an Spiritismus und der Beziehung jedes individuellen Geistes zur All-Seele sind Versuche einer abstraktspekulativen Konstruktion von Zwischenmenschlichkeit. Auch der Begriff des „Bewußtseinsstroms“ in den Principl i es of Psychology ebenso wie die „reine Erfah f rung“ im radikalen Empirismus sind Ansätze, das Problem des absoluten 17 Individualismus auf einer Ebene aufzulösen, auf die es nicht gehört. Doch dadurch erneuert sich ffür James das Problem nur auf einer anderen Ebene: Es kommt zu der Konzeption einer Art universalen Individuums, einer Art HyperPerson. Doch was ist die Alternative? Zu dieser gelangen wir, wenn wir die Sorge um Andere, das Bedürfnis nach praktischer Lebensteilung mit anderen Menschen, zum Sinn des Lebens rechnen. Diese Annahme hatten wir zu Beginn im vierten Abschnitt über den Sinn als Position eines konsequenten Praxis-Denkens eingeführt – und schon angedeutet, dass James dem nicht folgen kann. Nehmen wir dies an, so würden auch etliche individuelle Forderungen und Wünsche bereits den Anderen mit einschließen können. Sie wären auch nicht durch allein individuelles Fühlen entstanden oder nur durch das Fühlen begründet. Es gäbe dann 16
Damit will ich nicht bestreiten, dass er ständig mit den Problemen kämpfte, die sich aus dieser starken Position ergaben. 17 Für seinen Freund C. S. Peirce sind z. B. Personen durch Gefühls- und Denkkontinua miteinander verbunden. r Und John Dewey und George H. Mead unterscheiden sich gerade dadurch von James, dass sie die Entstehung personaler Identität von dem Austausch zwischen Personen her denken.
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einen zwischenmenschlichen Lebenssinn. Darum geht es z. B. auch Terry Eagleton, wenn er gegen Ende seines Buchs Der Sinn des Lebens (Berlin 2008) den Lebenssinn u. a. durch die Liebe bestimmt. Diese versteht er nämlich nicht als rein individuelles Gefühl, sondern als Weise der wechselseitigen Lebensteilung: „Was wir Liebe genannt haben, ist die Art und Weise, in der wir unser individuelles Streben nach Erfüllung mit der Tatsache versöhnen, dass wir soziale Wesen sind. Denn Liebe heißt, für einen anderen den Raum zu schaffen, in dem er sich entfalten kann, während er dasselbe für uns tut. Die Erfüllung des einen wird zur Grundlage für die Erfüllung des anderen.“ (Ebenda, S. 139)
Noch radikaler auf den Beziehungscharakter setzt der Freiburger Philosoph Rainer Marten, wenn er in seinem Buch Lebenskunst (München 1993) die Liebe als Form der Lebensteilung beschreibt. Ihr Sinn liegt im praktischen Beziehungscharakter, den Marten mit dem Ausdruck „des Anderen sein“ charakterisiert. Damit ist gemeint, dass Liebe darin besteht, dass sie eine wechselseitige Beziehung zwischen zwei Menschen herstellt. Über das Selbst der beiden Liebenden sagt Marten: „Bin ich mir – liebend-geliebt – meiner selbst gewiß, dann hat das seinen Grund darin, dass ich – liebend-geliebt – des Anderen gewiß bin.“ (Ebenda, S. 34) Für James gerät eine solche Wechselseitigkeit von Beziehungen als Lebenssinn und -wert nicht einmal als Möglichkeit in den Blick. Deshalb ist selbst der moralische Pluralismus nichts anderes als die Multiplikation der moralischen Einsamkeit des Individuums.
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Ein Leben nach dem Tode? Die Unsterblichkeit der Seele Wohin gehen wir nach unserem Tode? Hinterlassen wir Spuren in der Welt, wenn wir einmal nicht mehr sind? Gibt es eine Seele, und lebt diese in anderer Form weiter, wenn sie die leibliche Hülle verlassen hat? Gibt es gar ein ewiges Leben nach dem Tod? Diese und ähnliche Fragen beschäftigen die Menschen seit Anbeginn und gehören zu den schwierigsten Problemen der Philosophie. William James, der im Jahre 1897 der Einladung Harvards gefolgt war, um dort die renommierten Ingersoll-Lectures zu halten, gibt ihnen in ihrer veröffentlichten Form den Titel On Human Immortality: Two Supposed Objections to the Doctrine und thematisiert darin die Unsterblichkeit der individuellen Seele. James orientiert sich in seinen Ausführungen an zwei möglichen Einwänden, die seiner Ansicht nach gemeinhin gegen die These von der menschlichen Unsterblichkeit erhoben werden. Der erste Einwand, den James thematisiert, besteht in der Annahme, unser Geist sei vollständig von unseren Hirnprozessen abhängig („dass alles geistige Leben, wie wir es heute kennen, vollständig von Hirnprozessen abhängt“, S. 154) und daher könne es kein Leben nach dem leiblichen Tode 18
Die Autorin dieses Teils der Einleitung ist Felicitas Krämer, Technische Universität Eindhoven (NL).
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geben. Der zweite Einwand lautet, dass die Vorstellung eines wie auch immer gearteten Jenseits, wie es sich im Falle individueller Unsterblichkeit darböte, keine wünschenswerte Vorstellung sei. Eine solche Welt wäre beispielsweise hoffnungslos überbevölkert („die unglaubliche und unerträgliche Zahl von Wesen, von denen wir aus unserer heutigen Sicht glauben müssen, dass sie unsterb19 lich sind, wenn es denn eine Unsterblichkeit gibt“, S. 165). Das erste Problem behandelt James ausführlich, während er das zweite nur skizziert.
Unsterblichkeit und das Leib-Seele-Problem: Ist der Geist vom Gehirn abhängig? Der erste und gewichtigste Einwand gegen die Unsterblichkeit der menschlichen Seele beruht nach James auf dem Leib-Seele-Problem: Wie können wir an ein Leben nach dem Tode glauben, wenn die Wissenschaften uns doch ein für allemal bewiesen haben, dass unser Bewusstsein nichts als eine „Funktion“ der grauen Zellen im Gehirn ist? Wie soll sich diese Funktion nach dem Tod des Gehirns noch aufrechterhalten? Was dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele entgegensteht, sind in den Augen der Wissenschaften die harten Fakten der physiologischen, empirisch ausgerichteten Psychologie, deren Mitbegründer William James selbst ist. Wie James zu Beginn seiner Vorlesung über die Unsterblichkeit schreibt, nähert er sich diesem existentiellen Thema zunächst nicht als Philosoph, sondern als Psychologe. Umso interessanter ist es zu sehen, dass James sich dennoch kritisch mit seinem eigenen Berufsstand und dessen Dogmen auseinandersetzt. Dies bedeutet einerseits, dass er den wissenschaftlichen Standpunkt durchaus ernst nimmt und ihn sogar zu seinem Ausgangspunkt wählt, wenn er die Frage nach der Korrelation von Gehirn- und Bewusstseinszuständen stellt. Andererseits wird jedoch deutlich, dass er den psychologischen Ansatz nicht unhinterfragt lässt, sondern ihn philosophisch beleuchtet. Dies tut er anhand einer Begriffsklärung des Terminus „Funktion“. Sein erster Schritt besteht entsprechend darin, den Begriff der „Gehirnfunktion“ näher zu erläutern. Dabei fördert er Erstaunliches zutage. Der vermeintlich „harte“ wissenschaftliche Begriff der Funktion lässt beträchtliche Interpretationsspielräume offen. Denn es ist keineswegs selbstevident, was eine Gehirnfunktion ist, und, wichtiger noch: es gibt offensichtlich mehr als nur eine solche „Funktion“. Sobald man jedoch mehrere Interpretationen des Begriffs der Funktion zulässt, eröffnet sich die Möglichkeit einer Deutung des Terminus „Funktion“, die die menschliche Unsterblichkeit nicht mehr ausschließt. Tatsächlich wird James die These vertreten, dass menschliche Unsterblichkeit wissenschaftlich und philosophisch betrachtet möglich ist: „Ich möchte Ihnen zeigen, dass die fatale Schlussfolgerung nicht so zwangsläufig ist, wie man gemeinhin denkt, und dass selbst dann, wenn unser Seelenleben (wie es sich uns hier unten auf Erden präsentiert) in aller Strenge 19
Vgl. dazu auch John McDermott, „Introduction“, in: William James, Essays in Religion and Morality, Cambridge 1982, S. xvii ff.
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als Funktion eines sterblichen Gehirns begriffen wird, damit überhaupt noch nicht ausgeschlossen wird, dass das Leben auch nach dem Tod des Hirns fortdauert.“ (S. 156)
„Wie ein Dom aus buntem Glas“: Die transmissive Funktion des Gehirns Wie gelangt William James zu dieser verblüffenden These? Schließlich hatte er als einer der Begründer der empirischen Psychologie in seinen Principl i es of Psych s ology doch gerade die Korrelation mentaler Prozesse mit Gehirnzuständen erfor f scht. Zentral ist für James die Idee einer „funk f tionalen Abhängigkeit“ des Bewusstseins vom Gehirn, die er als Wissenschaftle f r durchaus anerkennt. Was bedeutet sie? Und weshalb ist es James so wichtig, dass es mehrere Arten funktionaler Dependenz gibt? Wenn wir über Funktionen sprechen, so ergibt sich laut James daraus das missverständliche Bild einer Hervorbringungsrelation. Wenn wir sagen, das Bewusstsein sei eine Funktion des Gehirns, meinen wir damit dasselbe, wie wenn wir sagen, der Wasserdampf sei eine Funktion des Teekessels, Licht eine Funktion des elektrischen Kreislaufes f und Energie eine Funktion der Dynamik des Wasserfalls. In den genannten Fällen haben materielle Gegenstände die jeweiligen Effek f te, also Dampf, Licht und Energie, erst hervorzubringen. Ihre Funktion muss daher, ebenso wie die des Gehirns, eine „produktive“ Funktion genannt werden. Die Wissenschaftle f r gehen nach James nun irrtümlicherweise davon aus, dass es sich mit dem Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein analog verhalten müsse, das heißt, dass es sich ebenfalls zwingend um ein Produktionsverhältnis handelt und dass das Bewusstsein damit vom Gehirn abhängig ist. James hingegen ist der Meinung, dass dieses Verständnis zu eng ist, und füg f t zwei weitere Formen der Funktion hinzu: die sogenannte permissive und die transmissive Funktion. Offen f sichtlich bedeutet für ihn „permissiv“ einfach f „durchlässig“ oder „zulassend“: „Der Abzug einer Armbrust hat eine zulassende Funktion: Er beseitigt das Hindernis, das die Sehne ffesthält, und lässt den Bogen in seine natürliche Lage zurückschnellen“ (S. 188). Hingegen zeigt der Begriff „transmissive“ oder „Übertragungsfun f ktion“ eine beim Durchgang vor sich gehende Transfor f mation an: etwas wird beim Durchschreiten eines Mediums verändert, beispielsweise gefiltert, gebündelt oder gebrochen. In diesem Sinne versteht James das Gehirn als transmissives, das heißt als durchlässiges und zugleich tran r sfor f rmierendes, das heißt i umwandelndes Organ. Diese Möglichkeit übersieht die physiologische Psychologie. James zieht unterschiedliche Metaphern und Beispiele heran, um den Begriff f 20 der transmissiven Funktion näher zu erläutern. So wird beispielsweise die Energie des Lichts durch ein geschliffen f es Glasstück, ein Prisma oder eine Linse gefiltert und erhält dadurch eine spezielle Farbe und Form und kann auf ein be20
Vgl. zum Folgenden auch Krämer, Felicitas, „Seelenkunde zwischen Psychologie und Philosophie: William James und die Seele“, in: Crone, K., Schnepf, R., Stoltzenberg, J. (Hgg.), Über die Seele, Frankfurt am Main, 2010.
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stimmtes Ziel hin gebündelt werden. In ähnlicher Weise formen Orgelpfeifen und menschliche Stimmorgane Töne aus dem Luftstrom. Dabei ist es James in diesen Beispielen wichtig zu betonen, dass Licht und Luft keine Teile oder Produkte des Prismas oder der Orgel sind. Das Licht wird nicht von der Linse hervorgebracht und die Luft nicht von der Orgel. Vielmehr stammen sie von außerhalb und werden in diesen Medien nur gebündelt und transformiert, während sie sie durchwandern, und schließlich entweichen sie verwandelt wieder nach außen. Wie die Orgel und das Prisma im Beispiel nur Werkzeuge zur Bündelung des Lichts und zur Erzeugung von Tönen sind, so ist auch das Gehirn für James nur ein Instrument der Formung des Bewusstseins – aber das Bewusstsein wird von ihm nicht hervorgebracht. Es ist nicht möglich, James’ Vorstellungen in das heutige Vokabular der Philosophie des Geistes zu übersetzen. Naheliegend ist, dass er eine bestimmte Form des Funktionalismus vertritt, jedoch eine, die eine spiritistische Deutung offenhält und daher nicht ohne weiteres in die heutige Terminologie überführbar ist. Mit Putnams Funktionalismus verbindet James’ Vorstellung die multiple Realisierbarkeit des Bewusstseins. Doch während im Funktionalismus à la Putnam das Bewusstsein gerade die „große Unbekannte“ ist, erhält es bei James ja gerade einen Gehalt und eine spirituelle Bedeutung und fällt damit aus dem funktionalis21 tischen Paradigma wiederum heraus. Owen Flanagan rekonstruiert James’ Gedankengang in seinem Aufsatz Consciousness as a pragmatist views it affirmativ wie folgt: „Wenn das Denken eine transmissive Funktion des Gehirns ist und das Gehirn damit eher ein ,Durchleitungs-‘ als ein Produktionsorgan ist, dann ist die Idee kohärent, dass das Bewusstsein die folgenden vier Eigenschaften hat: Erstens gehört es einer anderen ontologischen Klasse an als das Gehirn, zweitens interagiert es während des Lebens einer Person mit deren Gehirn, drittens absorbiert und erhält das Bewusstsein die Identität, die Persönlichkeit und die Erinnerungen einer Person aufrecht, die sich aus dieser Interaktion ergeben, 22 und viertens kann es unabhängig vom Gehirn weiterexistieren.“
Flanagan fährt fort mit der Erläuterung, es sei selbstverständlich unklar, wie wahrscheinlich James’ Hypothese sei, und zugegebenermaßen habe sie den Beigeschmack des Altmodischen, aber letztlich könne auf der Basis der bislang bekannten Fakten über den menschlichen Geist in der Frage nach seiner Unsterb-
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Putnam, Hilary, Minds and Machines, Cambridge 1960, S. 27 ff.; wiederabgedruckt in Putnam, Hilary, Mind, Language, and Reality, Cambridge 1975. 22 Meine Übersetzung, FK. Flanagan, Owen, S. 42: „[...] if thought is a function of the brain in the sense that for embodied beings the brain permits and/or transmits thought, if it is a conduit more than a producer, then there is no incoherence in the idea that thought, including the stream of thought, can be (1) of a different metaphysical kind than the brain, which (2) interacts with the brain while we are alive, and that (3) absorbs and retains the identity, personality, and memories constitutive in this interaction, and finally (4) can continue to go on without the brain. [...] I will only add this much: James is right. All this is possible.“ Flanagan, Owen, „Consciousness as a pragmatist views it“, in: Putnam, Ruth Anna (ed.), Cambridge Companion to William James, Cambridge 1997, S. 25–48.
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lichkeit niemand etwas mit Gewissheit sagen. Er hält James’ Annahme der Möglichkeit eines unsterblichen Bewusstseins daher für korrekt. Owen Flanagans Rekonstruktion ist sicherlich zutreffe f nd. Andererseits bleibt in seiner Darstellung der dritten und vierten Bewusstseinseigenschaft eine Interpretationsoffen f heit bestehen: Was bedeutet es, dass das Bewusstsein durch seine Interaktion mit dem Gehirn die Identität, die Persönlichkeit und die Erinnerungen einer Person absorbiert und aufrecht erhält, die sich aus der Interaktion zwischen Bewusstsein und Gehirn ergeben? Heißt dies, dass das Bewusstsein durch seine Wechselwirkung mit dem Gehirn individuell geformt wird und dass es auch notwendig in individueller Form nach dem Erlöschen der Gehirnaktivität weiterbestehen bleibt? Flanagan legt sich hierauf nicht fest, auch wenn seine Formulierung dies zu suggerieren scheint. Meines Erachtens besteht hier innerhalb von James’ Schrift und vor allem zwischen dieser und dem Vorwort zur zweiten Auflage eine gewisse Spannung. Im Vorwort betont James, dass er ein individuelles Weiterbestehen des persönlichen Bewusstseins für möglich und mit seiner Auffas f sung der menschlichen Unsterblichkeit für vereinbar hält, wenn er schreibt „[…] dass der ,Ur-Ozean‘, aus dem der endliche Geist vom Gehirn gleichsam abgeleitet wird, nicht unbedingt in pantheistischen Begriffen konzipiert werden muss. Hinter den Vorhängen können sich […] genauso gut viele Bewusstseine verbergen wie eines. Die schlichte Wahrheit ist, dass man sich die geistige Welt hinter dem V Vorhang in einer so individualistischen Form vorstellen kkann wie man will, ohne dass dadurch die allgemeine These, der gemäß ä das Gehirn als transm r issives Organ verstanden wird, in irge r ndeiner Form F eingeschränkt würde. Aus einer extrem t individualistischen Sicht wäre das endliche Bewusstsein einer Person eine Art Auszug aus einer größeren, wahreren Persönlichkeit, die irgendwo hinter den Kulissen anzusiedeln ist.“ (S. 151)
Im Vorwort macht sich James also eindeutig für die Möglichkeit einer individualisierenden und gegen eine zu eindeutig pantheistische Interpretation stark. Auch einige der Metaphern innerhalb des Textes legen diese Lesart durchaus nahe (in den Orgelpfei f fen werden individuelle Töne, im Glasprisma individuelle Lichtstrahlen geformt). Dagegen löscht das Bild eines „Urozeans“ oder „Muttermeers“ des Bewusstseins alle Anklänge an Individualisierung geradezu aus. Was verbirgt sich nun hinter dieser Metapher?
Das Muttermeer des Bewusstseins: Zwischen Individualismus und Panpsy n chismus Ein anderes Bild, das James verwendet, ist das eines Schleiers mit unterschiedlich dicht gewebter Oberfläche, der an manchen Stellen stärker und an manchen schwächer von Licht durchflutet wird. Dieses Gewebe versinnbildlicht die Sphäre unseres alltäglichen Lebens, in der wir uns spiritueller Bedeutung nicht bewusst sind und die eine Quelle geistiger Energie („the life f of souls at its fullest“) verdeckt. Das Gehirn eines Individuums kann mit einer besonders durchlässigen Stelle in diesem Schleier verglichen werden: 23
Flanagan, S. 42 f.
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Einleitung „Stellen wir uns jetzt vor, dass unsere Gehirne solche dünnen und halbtransparenten Stellen im Schleier sind. Was folgt daraus? So, wie das weiße Licht mit all den Arten von Verfärbungen und Verzerrungen durch die Kuppel dringt, die ihm durch das Glas widerfahren, oder wie die Luft jetzt durch meine Glottis strömt und dabei in der Kraft und Qualität ihrer Schwingungen durch die Besonderheiten derjenigen Stimmbänder determiniert wird, die ihre Austrittsöffnung bilden und die Form und Gestalt meiner persönlichen Stimme festlegen, so bricht auch das Leben der Seele, wie sie in der ganzen Fülle ihrer Möglichkeiten existiert, durch unsere verschiedenen Gehirne in allen möglichen besonderen Formen in diese Welt ein, behaftet mit allen Unvollkommenheiten und Schrägheiten, die unsere endlichen Persönlichkeiten hier unten 24 charakterisieren. “ (S. 160)
Woher stammt nun das allgemeine Bewusstsein, das durch das individuelle Gehirn durchströmt und durch es transformiert und individuell geformt wird, ohne jedoch von ihm produziert zu werden? Für James entspringt es einem überindividuellen Bewusstsein. Mit dem Bild eines solchen Überbewusstseins schließt er durchaus an pantheistische Interpretationen an, auch wenn er sich im Vorwort der zweiten Auflage gegen eine zu eindeutig pantheistische Lesart verwahrt hatte. In jedem Falle ist das Überbewusstsein im Diesseits unserer Alltagswelt individuali25 siert und manfestiert sich in den Einzelbewusstseinen der Menschen. Damit existiert es bereits in einer transzendenten Welt und muss vom Gehirn nicht mehr 26 hervorgebracht werden. Im weiteren Fortgang von Die Unsterblichkeit des Menschen macht er deutlich, dass er an die Existenz einer Art Jungianischen, kollektivistischen Allbewusstseins glaubt, an ein „Muttermeer des Bewußtseins“, mit dem unser individuelles Bewusstsein in Kontinuität steht. In seinen im Band Essays in Psychical Research zusammengefassten Aufsätzen spricht James auch von einem „allgemeinen Bewusstseinsreservoir“, einem „kosmischen Bewusst27 sein“ und einem „panpsychistischen Bild des Universums“ . „Wir müssen nur die prinzipielle Kontinuität unseres Bewusstseins mit dem Ur-Ozean unterstellen, um den außergewöhnlichen Wellen erlauben zu können, gelegentlich über den Damm zu schwappen.“ (S. 193) Erfahren wird diese Kontinuität nach James oftmals in religiösen Erlebnissen, in denen das Individuum sich mit einer göttli28 chen Macht verbunden fühlt, die Energie und Sinn spendet. Das Individuum wird damit quasi zur Eintrittspforte des Transzendenten in die menschliche Le24
Vgl. dazu auch Krämer 2006, S. 111 ff. Vgl. Krämer 2010. 26 Cf. McDermott , ebenda, S. xvii. 27 Vgl. James, William, Essays in Psychical Research, The Works of William James, Cambridge, Mass. und London 1980. EPR S. 374 und ERM S. 85. Vgl. dazu Sprigge 1993, S. 242–251 und Hampe und Krämer 2002, Franzese 2008, 220 ff. und 135. Sprigge, Timothy L.S., James and Bradley: American Truth and British Reality, Chicago und Lasalle 1994. Hampe, Michael, Krämer, Felicitas (2002): Befreiende Erfahrungen. Zur Religion bei William James, in: Goodman-Thau, Eveline (Hg.), Zeit und Welt: Denken zwischen Philosophie und Religion. Heidelberg, S. 107–142. Franzese, Sergio, The Ethics of Energy: William James’s Moral Philosophy in Focus, Heusenstamm 2008. 28 Vgl. Krämer, Felicitas, Erfahrungsvielfalt und Wirklichkeit: Zu William James’ Realitätskonzeption, Göttingen 2006, S. 221–244. 25
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benswelt. Dieses Erleben der Verbu r ndenheit mit einem größeren Selbst beschreibt James in seinem Buch Die Vielfal f t religiöser Erfahrung, wobei er offen lässt, ob es sich dabei eher um etwas Göttliches handelt oder um eine Entität, die 29 einem allgemeinen menschlichen Bewusstsein ähnelt. Wie John McDermott ausfüh f rt, geht diese Idee eines Einflusses einer höheren Macht auf das Individuum auf James’ Beschäftigung mit dem durch Swedenborg inspirierten Werk seines Vaters zurück. Der Swedenborgianismus prägt für f solche Momente der Einsicht in eine höhere Realität und der Verbundenheit mit ihr den Begriff „influ f x“. Diese Ideen weisen ferner in die Richtung eines philosophischen Panpsychismus, wie James ihn in seinem Spätwerk A Pluralistic Universe r 30 in Anlehnung unter anderem an Fechner ausarbeiten wird. Es muss kaum eigens gesagt werden, wie erstaunlich James’ Anleihen an panpsychistische Spekulationen ffür diejenigen klingen müssen, die sich bislang ausschließlich mit James’ Pragmatismus oder seiner Psychologie auseinandergesetzt haben und ihn daher als regelrechten Anti-Metaphysiker wahrnehmen. Dagegen zeigt James in seiner Schrift f Die Unsterblichkeit des Menschen einmal mehr, dass er es versteht, wissenschaftliche, metaphysische und religiöse Doktrinen miteinander zu verbinden, anstatt sie gegeneinander auszuspielen. Seine Philosophie, in deren Rahmen er beispielsweise auch die Erfah f rungsmetaphysik des „Radikalen Empirismus“ entwickelt, schließt alle Bereiche der Erfahrung mit ein und sucht nach Erweiterung anstatt nach Abgrenzung. Wichtig ist ferner, dass James hier alleine mit Möglichkeiten operiert. Er betont, dass er nichts weiter sagen könne, als dass ein so beschriebenes Verhältnis zwischen individuellem Gehirn und Bewusstsein möglich sei und dass die wissenschaftlichen Fakten diese Möglichkeit zumindest nicht ausschließen. Auch vom heutigen Standpunkt aus ist zuzugestehen, dass die Neurowissenschaften James’ These des Gehirns als einer Transfor f mationsstätte eines größeren Bewusstseins nicht ausschließen können. Ob und wie genau das Gehirn Bewusstsein „produziert“, ist wissenschaftlich noch nicht im Detail erfor f scht – man denke nur an das Problem der „Supervenienz“ und an unser ungenaues Sprechen über die „Korrelation“ von mentalen mit Gehirnzuständen. Selbst die Hirnforschung ist mittlerweile davon abgekommen, Bewusstsein als etwas zu betrachten, was aus29
Cf. McDermott, ebenda, S. xvii. „All that is needed is an abnormal lowering of the brain-threshold to let them through. In cases of conversion, in providential leadings, sudden mental healings, etc., it seems to the subjec b ts themselves of the experience as if a power from without, quite different from the ordinary action of the senses or of the senseled mind, came into their life, f as if the latter suddenly opened into that greater life in which it has its source. The word ,influx‘, used in Swedenborgian circles, well describes this impression of new insight, or new willingness, sweeping over us like a tide. All such experiences, quite paradoxical and meaningless on the production-theory, fall very naturally into place on the other theory. We need only suppose the continuity of our consciousness with a mother sea, to allow for exceptional waves occasionally pouring over the dam. Of course the causes of these odd lowerings of the brain's threshold still remain a mystery on anyy terms.“ 30 Krämer, Felicitas, Erfah r rungsvielfalt und Wirkl W ichkeit: Z Zu William JJames’ Realitäts t konzept e ion, Göttingen 2006, S. 221–244.
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schließlich im isolierten Gehirn des Individuums vorhanden und an es gebunden ist. Zu den neuen Paradigmen der Wissenschaft gehören daher Thesen wie die des „Social Brain“, des „Extended Mind“ und der „Meme“. Und dass der menschliche Geist sich nicht aus sich selbst gebiert, sondern quasi aus der Interaktion mit der Außenwelt entsteht, kann man bereits bei George Herbert Mead lesen. So metaphysisch und spekulativ sich James’ Thesen über die transmissive Funktion des Gehirns und ein höheres Bewusstsein anhören mögen, so leicht lassen sie sich doch in eine Sprache übersetzen, die auch heute noch zu verstehen ist, wenn man sie auf aktuelle Theorien bezieht. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sich James in seiner Schrift Die Unsterblichkeit des Menschen zu seinen Ursprüngen in den Principles of Psychology verhält: Eines der Merkmale des Bewusstseinsstroms war es dort gewesen, sich zu „personalisieren“, d. h. sich zu jemandes Bewusstsein zu formen. Im Gegensatz dazu ist Bewusstsein für James in Die Unsterblichkeit des Menschen ein überindividuelles geistiges Prinzip, ein „Urozean des Bewusstseins“ – auch 31 wenn er im Vorwort eine individualisierende Interpretation verteidigt hatte. Die Existenz eines höheren, umfassenderen Selbst beschreibt die „eigentliche“ Realitätssphäre, während die Individualisierung des Bewusstseins letztlich daraus abgeleitet ist. Selbst in einer, wie er schreibt, „extrem individualistischen Sicht“ wäre „das endliche Bewusstsein einer Person eine Art Auszug aus einer größeren, wahreren Persönlichkeit“, die irgendwo hinter den Kulissen anzusiedeln ist (S. 151, Kursivierung der Verfasserin, FK). Das individuelle Bewusstsein ist im Bild des Urozeans lediglich verstehbar als ein marginaler Ausläufer eines größeren, umfassenden Bewusstseins. Aus diesem entspringt es, und in dieses kehrt es 32 letztlich nach dem Erlöschen der Gehirnprozesse zurück.
Der zweite Einwand: Die Schreckensvision des überbevölkerten Himmels Der zweite Einwand, der laut James gemeinhin gegen die menschliche Unsterblichkeit erhoben wird, ist ein normativer. Dieser Einwand behauptet, anders als der erste, nicht, dass menschliche Unsterblichkeit unmöglich sei, sondern dass sie nicht wünschenswert sei. Die meisten Menschen empfinden nach James regelrecht Angst und Unbehagen angesichts der Idee eines übervölkerten Himmels, in dem wir vielleicht diejenigen wiedertreffen, die uns bereits zu Lebzeiten geplagt haben. Gegen dieses Ressentiment gegen die Unsterblichkeit aller appelliert James an ein allgemeines Gefühl der menschlichen Solidarität und die Hoffnung 33 auf die unerschöpfliche Größe des göttlichen Geistes. Die Tatsache, dass wir 31
Vgl. Krämer 2010. Siehe S. 151 in diesem Band. Vgl. Krämer 2006, S. 107 f. 33 McDermott, ebenda, S. xviii: „James’s response to the second objection to the immortality of human life should be blocked by a simply quantitative objection. His argument is somehow old-fashioned, as he contends that an infinite God has infinite resources, and thereby satiety is an impossibility. In an expansive mood, even for James, he concludes his essay with these overbeliefs.“ 32
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uns vor einem Jenseits für f chten, in dem alles, auch der kleinste Grashalm, aufge f hoben und bewahrt ist, ist ffür James einzig ein Zeichen unserer intellektuellen Kleinlichkeit und der Tatsache, dass wir nicht in göttlichen Größenordnungen denken können. In seinem egalitären, „demokrati k schen Universum“, das er in Swedenborgianischer Tradition auch in seiner Schrift A Pluralistic Universe r darstellt, soll kein Einzelner von der Unsterblichkeit ausgeschlossen sein. In einer, wie McDermott schreibt, romantisch inspirierten, allinklusiven Geste deklamiert James schließlich, wenn es nach ihm gehe, sollten alle Individuen, selbst alle einzelnen Blätter aller Bäume, ihren Platz in der ttranszendenten Welt haben und in 34 ihr ffür alle Zeiten aufgehoben sein. Gottes Geist beziehungsweise das größere Selbst ist unendlich, und das Universum muss dementsprechend unendlich groß sein – auch, wenn wir Sterbliche es nicht denken können. Religiös gesprochen, ist es bereits ein Wunder, dass der großzügige Gott unsere fehlerhafte Existenz hier auf Erden erträgt. Warum sollte er ein Weiterleben aller dann nicht auch noch in 35 seine Unendlichkeit aufne f hmen können? Festzuhalten ist, dass es sich bei dieser Überlegung um den Ausdruck eines Wunsches handelt. James kontert den evaluativen Einwand, es könne nicht sein, was nicht sein dürfe (ein überbevölkerter Himmel wäre aabzulehnen), ebenfalls mit einer Berufung auf Werte, nicht auf Fakten. Einen Beweis ffür das Überleben aller Individuen kann James selbstverständlich nicht erbringen. Er beschränkt sich auf eine persönliche Wertaussage.
Die Konsequenzen: Die überindividuelle Unst U erblichkeit Tatsächlich vertritt James in Die Unsterblichkeit des Menschen die Auffa f ssung, dass auch nach dem Tod der Person und damit dem Erlöschen der Gehirnaktivität noch ein Weiterleben des Bewusstseins möglich ist. Wie bereits erwähnt, lässt der Text allerdings Deutungsmöglichkeiten hinsichtlich dessen offen, ob es tatsächlich ein individuelles Bewusstsein ist, das nach James nach dem Tode des Organismus weiterleben könnte, oder aber ob nicht doch eher ein Eingehen in einen allgemeinen Urozean des Bewusstseins erfol f gt. Zum einen betont James vor allem im Vorwort zur zweiten Auflag f e, dass 34
Vgl. McDermott, ebenda, S. xviii. Vgl. in diesem Band, S. 169: „Ich hoffe f nun, dass Sie mit mir darin übereinstimmen, dass die vermeintliche Schwierigkeit eines überbevölkerten Himmel auf einer rein subjektiven und illusorischen Vorstellung beruht. Sie ist ein Zeichen menschlicher Unfähigkeit, ein Überbleibsel einer alten engherzig-aristokratischen Einstellung, [. . .] und Sie werden glauben, dass dies tatsächlich ein demokratisches Universum ist, in dem Ihre armseligen Ausgrenzungsgesten keine Rolle mehr spielen. War Ihr persönlicher Geschmack beim Bevölkern dieser Erde gefragt? Wieso sollte er also gefrag f t sein, wenn es darum geht, die große Stadt Gottes zu bevölkern? Lassen Sie uns wie Hiob die Hand auf unseren Mund legen und dankbar k sein, dass wir in unserer persönlichen Beschränktheit überhaupt existieren. Ein Gott, der uns aushält, kann sicher auch noch viele andere seltsame, wunderbare r und vielleicht nur halb so schöne Wesen aushalten. Ich für f meinen Teil bin dann konsequenterweise gewillt, dass jedes Blatt, welches je in den Wäldern dieser Welt wuchs und im Wind rauschte, unsterblich werden soll.“ 35
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selbst persönliche Erinnerungen noch nach dem Tode in einer Art „Gedächtnis“ weitergespeichert werden könnten. Doch zum anderen macht er im Essay selbst deutlich, dass er, bei aller Abwehr einer zu deutlichen monistisch-pantheistischen Vereinnahmung, doch auch nicht einfach als ein Vertreter des christlichen persönlichen Unsterblichkeitsglaubens verstanden werden möchte. „Diese Überlegungen stehen Lehren der Präexistenz der Seele und der Wiedergeburt näher als der christlichen Unsterblichkeitslehre“ (S. 151). Nicht alle der im Zitat angespielten Religionen vertreten wiederum einen starken Individualismus. Zudem legen Parallelen zur Vielfa l lt religiöser Erfah f rung nahe, dass es sich bei dem Bewusstseinsreservoir um eine göttliche Macht handeln könnte, die sicherlich überindividuell zu verstehen ist. Wie deutlich James’ Individualismus in seiner Schrift f Die menschliche Unsterblichkeit letztlich hervortritt, oder wie weit er nur dem Wunsch entspringt, seinen Kritikern nicht zu viel Angriffs f fläche zu bieten, ist letztlich auf der Textgrundlage nicht eindeutig zu entscheiden. Denkt man James’ Bild eines Urozeans des Bewusstseins weiter, so lassen sich auch in unserem Leben individuelle Bewusstseine als Teile davon wahrnehmen. Einige Autoren der Neurophilosophie wie beispielsweise Thomas Metzinger vertreten die These, dass es nicht erst nach dem Tod kein individuelles Bewusstsein mehr gibt, sondern dass Individualität und Selbstsein bereits zeit unseres Lebens nur eine vom Gehirn produzierte Fiktion sind. Das Selbst ist in dieser 36 Sicht nichts als eine notwendige Illusion, die sich das Gehirn selber vorgaukelt. Folgt man hingegen, entgegen James’ Beteuerungen des Vorworts und eher der Bildersprache der Vorlesung selbst entsprechend, einer pantheistischen Lesart, kann der Gedanke eines Urozeans des Bewusstseins eine verstörende Wirkung haben. Ginge unser Geist nach dem Tode wirklich in ein solches Überbewusstsein ein, in dem sich individuelle Züge letztlich verwischen würden, verlören wir unwiederbringlich all das, was uns als Individuen ausmacht: unsere Persönlichkeit und unsere individuelle Lebensgeschichte. Wir würden keine individuellen Spuren im Universum hinterlassen; wären nur Gefäß f e, die dem Allbewusstsein für kurze Zeit, während unseres Lebens, eine individuelle Form gäben. Nach unserem Tod gäbe es nichts mehr, was von uns als Personen bliebe. Diese Idee steht dem christlichen Glauben an einen persönlichen Gott und der Auferstehung des Individuums radikal entgegen. Unter einer anderen Perspektive aber würde selbst eine solch radikalpantheistische Lesart wiederum neue Denkmöglichkeiten eröffne f n: Zum einen bedeutet der Eingang in ein Überbewusstsein nicht nur einen Verlust, sondern auch eine Entlastung. Nicht nur unsere persönlichen Leistungen und Triumphe werden weggewischt und zerrinnen, sondern auch unsere Mängel und Misserfolge und vor allem auch unsere moralischen Verfehlungen. Zum anderen sind menschliche Eigenschaften wie Intelligenz und Güte unter den Menschen ungleich verteilt. Wenn wir nun alle nach dem Tode in ein unterschiedsloses, über36
Metzinger, Thomas, Der E Ego-Tunne T l. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstse t insethik, Berlin 2009.
James über die Unsterblichkeit der Seele
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individuelles Allbewusstsein eingehen, haben alle Anteil an diesen Wesenszügen, um die wir zeit unseres Lebens als Individuen oft f so schmerzhaft ringen und wetteifern. Wäre es nicht schön, Intelligenz und Güte mit allen teilen zu können und paritätisch an den geistigen und moralischen Errungenschaften und Einsichten der wenigen teilzuhaben, von denen uns zu Lebzeiten das principium individuationis trennt? So könnte man selbst eine Idee nur überindividueller Unsterblichkeit letztlich als egalisierend und versöhnlich verstehen. In der Vorstellung eines pantheistischen Allbewusstseins würden wir die Verstorbenen nicht nur, wie der christliche Glaube es annimmt, wiedersehen, sondern hätten an ihrem Dasein sogar noch inniger Anteil als in diesem Leben, da wir ein Allbewusstsein mit ihnen teilen würden. So betrachtet, ist selbst die Idee einer überindividuellen Unsterblichkeit letztlich weniger verstörend als die kalte Vision eines Materialismus, in dem mit dem Hirntod alles Leben des Geistes unwiederbringlich vernichtet wird. Und darin liegt denn auch die Pointe von James’ Reflexionen zur menschlichen Unsterblichkeit: Was James in letzter Konsequenz ablehnt, ist die physikalistische Vorstellung, dass ein materielles Prinzip letztlich über den Geist triumphiert. Ob das Ur-Bewusstsein nun eine eher individualisierte oder doch überindividuelle Form haben möge – was für ihn zählt ist: Die letzte Wirklichkeit besteht in einer immateriellen Größe, einem Bewusstsein anderer Art, das selbst dann noch fortdauert, wenn das materielle Leben erloschen ist.
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Einleitung
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Ist das Leben lebenswert?
William James: Die T Texte *1
1. Ist das Leben lebenswert?
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Als William Hurrell Mallocks Buch vor etwa 15 Jahren unter diesem Titel erschien, konnte man in vielen Zeitschriften die scherzhafte Antwort finden, dass es 3 von der Leber bzw. von demje m nigen abhänge, der lebe. Die Antwort, die ich heute Abend zu geben beabsichtige, wird nicht scherzhaft f gemeint sein. In den Worten eines Shakespeare Prologs: „Ich komme nicht mehr, daß ihr lacht. Gestalten, Die eure Stirnen ziehen in ernste Falten, Die traurig, groß, stark, voller Pomp und Schmerz.“4
Dies wird mein Thema sein. In den tiefsten Tiefen unserer Herzen entfal f tet das größte aller Geheimnisse seine traurige Wirkung. Und ich kann mir nicht vorstellen, was einer Vereinigung wie der Ihrigen vorschwebt bzw. was sie von demjenigen erwartet, den sie einlädt, zu ihr zu sprechen, es sei denn, Sie hinter den oberflä f chlichen Schein des Daseins zu führen und Sie für mindestens eine Stunde vom an- und abschwellenden Chaos banaler Interessen und Erregungen abzulenken, die das Gewebe unseres Alltagsbewusstseins bilden. Ohne weitere Erklärung oder Entschuldigung bitte ich Sie nun also, sich mir anzuschließen und Ihre Aufmerksamkeit, die gewöhnlich sicher nicht dazu bereit ist, auf den verborgenen Basso continuo des Lebens zu richten. Erkunden wir für eine Stunde gemeinsam die einsamen Tiefen und schauen, welche Antworten sich in den letzten Winkeln und Falten der Dinge finden lassen. Vielen Menschen wird die Antwort auf die Frage nach dem Wert des Lebens von ihrem optimistischen Charakter diktiert, der ihnen die Existenz von etwas wirklich Bösem unmöglich erscheinen lässt. Die guten alten Gedichte Walt Whitmans können als Standardwerke dieser Art von Optimismus gelesen werden. Die pure Lebensfreu f de fließt mit einer solchen Kraft durch Whitmans Adern, dass sie die Möglichkeit jeder anderen Empfin f dung ausschließt: Die Luft einzuatmen, wie köstlich! Reden, gehen, etwas mit der Hand berühren! Dieser unglaubliche Gott zu sein, der ich bin! O du Erstaunen angesichts der Dinge, selbst der allerkleinsten! O du Geistigkeit der Dinge! Auch ich bete die Sonne an, im Aufga f ng, im Zenit, oder, wie jetzt, im Untergang; Auch ich klopfe an den Geist und die Schönheit der Erde und von allem was auf ihr lebt. [...]
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William James: Die Texte Ich singe noch für f den Letzten von der Gleichheit, modern oder alt, Ich singe vom endlosen Ausklang der Dinge, Ich sage, dass die Natur bestehen bleibt – dass der Ruhm bestehen bleibt, Ich bete mit einer elektrisi t erten Stimme, Denn ich sehe nicht eine Unvollkommenheit im Universum Und ich sehe nicht einen Grund oder eine Folge, über die zu klagen wäre.5
Ganz ähnlich klingt Rousseau, wenn er über die neun Jahre berichtet, die er in Annecy verbracht hat, und nur von glücklichen Erfahrungen berichten kann: „Wie aber das aussprechen, was weder gesprochen, getan noch gedacht, sondern nur genossen wurde, nur empfunden, ohne dass ich etwas anderes als den Grund meines Glückes anzugeben vermöchte, als eben diese Empfindung? Ich stand mit der Sonne auf und war glücklich, ich ging spazieren und war glücklich, ich sah Mama und war glücklich, ich verließ sie und war glücklich, ich durchstreifte die Wälder, die Wiesenmatten, irrte durch die Täler, las, war müßig, arbeitete im Garten, pflückte Früchte, half im Haushalte, und überallhin fol f gte mir das Glück: Es lag in keinem Dinge, sondern tief in mir selber und konnte mich für f keinen Augenblick verlassen. “6
Wenn Stimmungen wie diese auf Dauer gestellt und Haltungen wie diese verallgemeinert werden könnten, gäbe es niemals Anlass für solche Überlegungen, wie wir sie jetzt hier anstellen. Kein Philosoph würde ernsthaft die Frage aufwerf f fen, ob das Leben lebenswert sei, denn die Tatsache, dass dies ohne Zweifel so ist, wäre selbstevident, und das Problem würde eher mit der Frage selbst verschwinden, als dass eine Antwort auf sie gegeben werden könnte. Aber wir sind keine Zauberer, die den Optimismus auf Dauer stellen könnten; und neben den Manifestationen eines habitualisierten optimistischen Überschwangs finden wir immer auch solche eines Pessimismus, die den Optimismus permanent in Frage stellen. In dem, was als „periodisch wiederkehrender Wahnsinn“ bezeichnet wird, folgen Phasen der Melancholie auf solche des Überschwangs, ohne dass wir dafür irgendeinen äußeren Grund angeben könnten. Und oft f genug erscheint ein und derselben Person ihr Leben heute im vollen Glanz und morgen als Inbegriff allen Kummers, je nach den Schwankungen dessen, was die ältere medizinische Literatur als „Mischungsverhältnis der Säfte“ bezeichnet hatte. In der Sprache des Zeitungs-Witzes: „Es hängt von der Leber ab.“ Rousseaus wankelmütige Verfassung ändert sich, und schon sehen wir ihn, wie er in seinen späten Jahren von Melancholie, dunklen Wahnvorstellungen, Argwohn und Angst zerfresse f n wird. Manche Menschen sind bereits von Geburt an so unfäh f ig zu jedem Glück, wie es Whitman unmöglich war, unglücklich zu sein. Sie haben uns ihre Botschaft in Versen hinterlassen, die noch weit nachdrücklicher sind als dieje e nigen Whitmans, so etwa der ffeingeistige Leopardi. Oder, in unserer Zeit, James Thomson in seinem pathetischen Buch The City of Dreadful f Night, dem weniger Aufmerksamkeit zuteil wurde, als es aufgrund seiner literarischen Vollkommenheit verdienen würde, und zwar einfach deshalb, weil sich jeder für f chtet, diese Verse zu zitieren – sie sind zugleich äußerst düster und ehrlich. An einer Stelle beschreibt der Dichter eine Gemeinde, die zusammengekommen ist, um nachts in einer großen,
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dunklen Kathedrale einem Prediger zu lauschen. Die ganze Predigt ist zu lang, um hier zitiert werden zu können, aber sie endet wie folgt: meine Brüder, kurz sind unsere Tage, nach ein paar Jahren endet alle Plage: Bis dahin Atem schöpfen – ist das allzu schwer? Doch wer den dornigen Pfad nicht weitergehen mag, dem steht der Ausweg offen f in den Sarg, ohne die Furcht vor Strafgericht und Wiederkehr. Tief hallt sein Bass durchs Kirchenschiff, schwingt schließlich aus wie Orgelklang, wobei die Trauer in die Tasten griff; die frohe Botschaft – als ein Requiem drang sie zur Gemeinde, die der Schatten barg und die den Ausweg überdachte ,in den Sarg‘. [...] Und die Gemeinde, die der Schatten barg, verharrte lautlos nach dem Kanzelwort, über den Ausweg sinnend, in den Sarg‘; doch setzte diese Rede sich nicht fort, vielmehr schrillt plötzlich eine andere Stimme, durchzuckt das Kirchenschiff mit ihrem Grimme: – Wahr spricht der Mann, er redet nur zu wahr, wir überdauern alle nicht den Tod; ein Gott war nie, das Schicksal selbst ist bar des Erbarmens, verschwenderisch mit Müh und Not. Nur eine Chance hab ich in alle Ewigkeit, nur dieses Leben, das gelingen soll, das meine Geistesgaben weckt, das mich erfreut, mit Frau und Kind; der Harmonien voll mich bald umfängt in der geselligen Runde, bald ffasziniert mit Schätzen höchster Kunst, die mit den Herrlichkeiten der Natur im Bunde sie doch noch steigert dank der Musen Gunst; lustvoll am Leben sein, gesund und munter, sorglose Kindheit und der Jugend Glut, Erfolge, wo’s nicht drüber geht und drunter, ein abgeklärtes Alter, weisen Mut, Teilhabe an den hehren Menschenrechten, an den Erinnerungen aus vergangener Zeit, die Muße, das Gewirr der Fäden zu entfec f hten, auf die myriadenfach Ereignisperlen aufgereiht. Das ist die Chance, die niemals sich geboten, für mich ist das Verflossene nichtig, leer,
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William James: Die Texte auch lohnt es nicht, die Zukunft f auszuloten, denn diese Chance kommt ffür mich nimmermehr. Und doch, betrogen ward ich darum, kaum geboren, menschliche Würde war nur Lug und Trug, und die Enttäuschung, die sich nie verloren, zermartert mich. Ich starb nicht schnell genug. Nun ist mein Leben Gift vermischt mit Galle, denn schon zu Mittag zieht ein Nachtmahr auf, Jahre verschleudert man, sitzt in der Falle. Der Lohn? – So ist nun mal der Dinge Lauf. Sprecht nicht von Trost, wo alles trostlos ist, schweigt lieber still, befleckt kein Wort mit jener Fäulnis, die im Leben frisst, schweigt still, verzweifelt, schert euch fort! So überstürzt sich’s aus dem Seitenchor, bevor die schrille Stimme jäh verstummt, zur Widerrede wagt sich niemand vor, denn Leiden lähmt die Zunge unvermummt; zu guter Letzt erklärt der Prediger schlicht mir feuchtem Auge und gesenktem Angesicht: – Ihr armen Brüder, es ist nicht gelogen, vom Leben sind auf ewig wir betrogen, doch endet’s bald und kehrt für uns nicht wieder, wir wissen nichts davon, eh wir geboren, der Tod hat ihm verlässlich abgeschworen, das gibt mir Trost, hält die Verzweiflu f ng nieder. 7
„Es endet bald und wird nie wiederkehren“, „Du hast alle Freiheit, Schluss zu machen, wann immer Du willst“ – diese Verse ffließen in ehrlicher Schwermut aus Thomsons Feder und sind ein wirklicher Trost für alle, die die Welt wie der Dichter selbst eher als Jammertal ansehen denn als Quelle ewiger Freuden. Das Heer der Selbstmörder verkündet, dass es dieses Leben nicht wert ist, gelebt zu werden – ein Heer, das wie die berühmte Abendsalve der britischen Armee der untergehenden Sonne um die ganze Welt folgt und nie aufhör f t. Auch wir, die wir hier behaglich sitzen, müssen uns diesen Dingen stellen, denn wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt wie diese Selbstmörder und teilen dasselbe Leben. Schon die einfache intellektuelle Aufri f chtigkeit, erst recht aber Mannhaftigkeit und Ehrgefühl verbieten es, sie einfach f zu übergehen. „Wenn sich plötzlich“, so John Ruskin, „inmitten der Gaumenfreuden und heiteren Stimmungen einer Londoner Dinner-Party die Wand öffn f et und durch den Spalt all die menschlichen Wesen aus der nächsten Nachbarschaft, die nah am Verhungern und dem Elend ausgeliefert sind, ins Zentrum der Festgesellschaft f drängen würden; wenn sie, totenbleich, in schrecklicher Not, ohne jede Hoffnu f ng, Körper für Körper auf den weichen Teppich gelegt würden, jeder neben den Stuhl eines Gastes, – würden ihnen dann auch nur die Reste zugeworfen werden? Würde ihnen ein flü f chtiger Blick, ein kurzer Gedanke gewidmet?
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Die harten Fakten, die wirkliche Beziehung zwischen dem Reichen und Lazarus, werden nicht durch die Wand in Frage gestellt, die die Tafel vom Krankenbett trennt, – durch die wenigen Zentimeter (wie wenige!), die allein die Unbekümmertheit vom Elend trennen.“
II Um ohne Umschweife zum Kern meines Themas zu kommen, sollten wir uns einmal vorstellen, einen Mitmenschen zu überzeugen, der so zum Leben steht, dass sein einziger Trost in der Gewissheit liegt, „Du kannst Schluss machen, wann immer Du willst.“ Welche Argumente können wir aufbieten, um einen solchen Bruder (oder eine solche Schwester) dahin zu bringen, die Bürde des Lebens weiter auf sich zu nehmen? Herkömmliche Christen, die sich mit selbstmordgefährdeten Personen konfrontiert sehen, haben wenig mehr zu bieten als das negative „Du sollst nicht!“ Sie sagen, dass Gott allein über Leben und Tod entscheidet und dass es blasphemisch sei, seine Entscheidung vorwegnehmen zu wollen. Aber können wir nichts Gehaltvolleres und Positiveres finden, keine Argumente, mit deren Hilfe f der Selbstmörder wirklich sieht und in all seiner traurigen Gewissheit fühlt, dass das Leben trotz aller offensichtlichen Schattenseiten auch für f ihn lebenswert ist? Es gibt Selbstmorde und Selbstmörder (in den USA etwa 3000 pro Jahr) und ich muss offen bekennen, dass ich zu den meisten von ihnen mit meinen Vorschlägen kaum durchdringen würde. Wo der Selbstmord aus einer Geisteskrankheit oder einem psychotischen Schub heraus fol f gt, bleibt die Refle f xion machtlos und kann die Ausführ f ung der Tat nicht verhindern. Fälle wie diese gehören zu den unauflö f slichen Rätseln des Bösen, auf die ich am Ende meines Vortrags im Zusammenhang von Ausfüh f rungen zu religiöser Hingabe noch einmal zurückkommen werde. Meine Aufgabe ist hier zunächst wesentlich enger definiert, und meine Überlegungen haben sich mit dem metaphysischen tedium vitae zu befassen, das allen geistigen Menschen vertraut ist. Die meisten von ihnen haben sich auf Gedeih und Verderb einem geistigen Leben verschrieben. Viele von Ihnen studieren Philosophie und haben bereits den Skeptizismus und Realitätsverlust am eigenen Leibe gespürt, der zu viel Grübelei über die abstrakten Wurzeln der Dinge mit sich bringt. Dies ist natürlich die unvermeidliche Folge eines übermäßigen Studierens. Zu intensives Fragen gepaart mit zu wenig praktischer Verantwortungsübernahme führen mindestens genauso häufig f an den Rand des Abgrunds wie ein Übermaß an sinnlichen Erfah f rungen, an den Rand des Abgrunds, in dem Pessimismus, Albträume und die Haltung des Selbstmörders lauern. Gegen die Krankheiten der Reflexion können allerdings andere Reflexionen als wirksames Heilmittel dienen. Und über genau diese aus Reflexi8 on geborene Melancholie, diesen Weltschmerz , möchte ich im Weiteren sprechen. Ich möchte zunächst einräumen, dass ich meine letzte Evidenz aus nichts weniger Problematischem als aus einem Glauben im religiösen Sinne beziehe. So-
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weit mein Argument destruktiv ist, wird es bestimmte Meinungen überwinden, die sehr häufig f die Quellen des religiösen Glaubens ersticken. Und soweit es konstruktiv ist, wird es bestimmte Überlegungen, die darauf hinauslaufen, dass es normal und natürlich ist, diese Quellen sprudeln zu lassen, im hellen Tageslicht betrachten. Pessimismus ist ganz wesentlich eine religiöse Krankheit. In der Form, die Ihnen am ehesten einleuchten dürfte, besteht mein Argument in nichts anderem als in einer religiösen Forderung, gegen die es keinen stichhaltigen Einwand gibt. Nun lassen sich zwei Phasen der Genesung von dieser Krankheit unterscheiden, zwei verschiedene Ebenen, über die man von der mitternächtlich-düsteren Perspektive zu derjenigen des Tageslichtes vordringen kann, und ich muss sie ihrer natürlichen Abfol f ge nach behandeln. Die zweite Ebene ist die vollständigere und freu f dvollere, sie entspricht einem freieren religiösen Grundvertrauen und einer ffreieren religiösen Phantasie. Wie allgemein bekannt ist, finden sich Menschen, die in dieser Hinsicht von Natur aus sehr frei sind, und andere, die dies nicht sind. So treffen f wir zum Beispiel immer wieder auf Personen, die ohne Vorbehalte den Gedanken einer Unsterblichkeit der Seele akzeptieren, und wir treffe f n auf andere, denen diese Vorstellung in Bezug auf ihr eigenes mögliches Fortleben größte Schwierigkeiten bereitet. Diese letzteren verlassen sich ganz auf ihre Sinne, bescheiden sich mit ihren innerweltlichen Erfahrungen. Viele von ihnen empfinden eine Art intellektuelle Verpflichtung gegenüber dem, was sie „harte Fakten“ nennen, und nehmen Anstoß an leichtfertigen Exkursionen ins große Unbekannte, die andere Menschen aus bloßen Launen heraus unternehmen. Gleichwohl können Anhänger beider Gruppen in leidenschaftlicher Weise religiös sein. Sie können beide Vergebung und Erlösung herbeisehnen sowie nach einer Vereinigung mit der Weltseele suchen. Diese Sehnsucht kann aber, wenn ein Geist an „harten Fakten“ hängt, besonders an solchen, wie sie die exakten Wissenschaften heute anbieten, genauso leicht einen Pessimismus beför f dern wie sie immer dann zu einem Optimismus führt, wenn sie das religiöse Vertrauen und die religiöse Phantasie dazu inspiriert, sich zu einer anderen und besseren Welt emporzuschwingen. Aus diesem Grunde nenne ich den Pessimismus eine in seinem Innersten religiöse Krankheit. Die Deutung des Lebens als eines schrecklichen Albtraums kann eine Reihe von organischen Ursachen haben. Aber ihre größte reflexive Ursache war zu allen Zeiten der Widerspruch zwischen den natürlichen Phänomenen und der Sehnsucht des Herzens zu glauben, dass es hinter den Phänomenen einen Geist gebe, von dem die Natur nur ein Ausdruck sei. Was Philosophen „natürliche Religion“ nennen, war ein Versuch, diese Sehnsucht zu befriedigen; die Naturdichtung, an der unsere englischsprachige Literatur so reich ist, war ein anderer Versuch. Nun stellen wir uns einen Anhänger der zweiten unserer beiden Klassen vor, jemand also, dessen Einbildungskraft in Fesseln liegt und der die Fakten ernst nimmt. Nehmen wir darüber hinaus an, er hat eine starke Sehnsucht nach Transzendenz und Vereinigung und sieht zugleich, wie extrem schwierig es ist, die wissenschaftlich beschreibbare Ordnung der Natur theologisch oder poetisch
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auszudeuten. Zu welchem anderen Resultat kann diese Spannung führen als zu innerer Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit? Nun, diese innere Zerrissenheit kann auf eine der beiden fol f genden Weisen befri f edet werden: Die Sehnsucht nach einer religiösen Deutung der Phänomene kann absterben und nichts als die harten Tatsachen zurücklassen. Oder es werden zusätzliche Fakten entdeckt bzw. geglaubt, welche es erlauben, die religiöse Deutung aufre f chtzuerhalten. Diese beiden Lösungswege sind die beiden Phasen der Genesung bzw. die beiden Ebenen der Flucht aus dem Pessimismus, auf die ich kurz zuvor angespielt habe, die sich im Folgenden aber noch klarer abzeichnen werden.
III I Um mit der Natur zu beginnen, tendieren wir, sofern f wir religiöse Sehnsucht empfinden, normalerweise dazu, mit Marc Aurel zu sagen: „Oh Universum! Was du willst, das will auch ich!“ Unsere heiligen Schriften und Traditionen berichten uns von einem Gott, der Himmel und Erde geschaffen f hat, der sie anschließend betrachtet und sieht, dass sie gut sind. Wenn wir sie allerdings genauer betrachten, widersetzen sich dieje e nigen Teile des Himmels und der Erde, die wir mit unseren Sinnen erfassen können, jedem Versuch, sie in eine intelligible Ordnung zu bringen. Neben jedem anbetungswürdigen Phänomen findet sich unmittelbar ein zweites, ihm entgegengesetztes, das die religiöse Wirkung des ersten Phänomens auf unser Gemüt aufhebt. Schönheit und Hässlichkeit, Liebe und Grausamkeit, Leben und Tod gehen ein nicht zu lösendes Bündnis ein. Und anstelle der alten, heimeligen Vorstellung eines den Menschen liebenden Gottes überkommt uns die Vorstellung einer furchtbaren Macht, die weder liebt noch hasst, sondern alles ohne Sinn und Verstand auf den unvermeidlichen Untergang zusteuern lässt. Dies ist ein beklemmender, finsterer, albtraumhafter Blick auf das Leben. Seine 9 eigentliche Unheimlichkeitt oder Giftigkeit liegt darin, dass wir hier zwei Dinge zusammenbringen, die unmöglich zusammenstimmen können: Wir halten einerseits an der Vorstellung fest, dass hinter allem ein gütiger Geist waltet, andererseits aber auch an dem Glauben, dass der Gang der Natur nichts anderes sei als Ausdruck und Offen f barung dieses Geistes. Das tödliche Paradox, das große, die Melancholie gebärende Rätsel beruht auf dem Widerspruch zwischen der unterstellten Existenz dieses Geistes, der uns umgibt und besitzt, mit dem wir teilweise eins sind, und dem Charakt r er dieses Geistes, wie er sich im Gang der Dinge innerhalb der sinnlich erfah f rbaren Welt offenbart. Carlyle beschreibt das Ergebnis in einem Kapitel seines unvergleichlichen Sartor Resartus, das mit Das ewige Nein überschrieben ist: „Ich lebte“, schreibt der arme Teufelsdröckh, „in einer anhaltenden, nicht zu fassenden, feigen Angst; zitternd, verzagt, verschreckt durch ich weiß nicht was: Mir schien es, als hätte sich alles zwischen Himmel und Erde gegen mich verschworen, als wären Himmel und Erde der grenzenlose Rachen eines Ungeheuers, in dem ich mit rasendem Herz dem Verschlungenwerden entgegensah.“
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Dies ist das erste Stadium einer reflexiven oder spekulativen Melancholie. Kein roher Mensch kennt diese Art von Melancholie, kein Ungläubiger ffällt ihr zum Opfer. Sie ist die kranke Kehrseite einer enttäuschten religiösen Hoffn f ung und nicht einfach die notwendige Folge unserer Naturausstattung. Teufelsdröckh selbst hätte sich, wäre er nicht das Opfer eines anfänglich grenzenlosen Vertrauens in die Welt geworden, der er mit allen Sinnen verhafte f t war, dazu durchringen können, dem Chaos und der Verhextheit der Erfahrungen die Stirn zu bieten. Wenn er sich den Erfahrungen nach und nach stellen und auf die Vorstellung einer großen Einheit dahinter, die sich in allen einzelnen Erfahrungen ausdrückt, verzichten würde, wenn er die bitteren Erfah f rungen meiden und, sofer f n das die Gelegenheit erlaubt, geschickt die angenehmen auswählen würde, hätte er sich zu einem besseren Ergebnis durchringen können und hätte weit weniger Grund zur Klage. Eine gewisse Leichtigkeit, ein unbekümmertes ‚Ich mache mir nichts draus‘ ist ein starkes und praktisches Beruhigungsmittel gegen die Übel der Welt. Aber nein! Irgendetwas tief im Inneren von Teufelsdröckh und uns allen sagt uns, dass es wirklich einen Geist in allen Dingen gibt, dem wir eine gewisse Treue schulden und der uns dazu anhält, an unserem Optimismus fes f tzuhalten. Und so bleiben uns unser Fieber und unsere innere Zerrissenheit erhalten. Denn auf der sichtbaren Oberfläche der Natur zeichnet sich kein derartiger Geist ab und auf dem gegenwärtigen Stand unserer geistigen Entwicklung sind wir nicht in der Lage, über diese sichtbare Oberflä f che hinauszugehen. Ich zögere nicht, frank und ffrei zu bekennen, dass mir dieser wirkliche und echte Zwiespalt den unvermeidlichen Untergang jeder naiven natürlichen Religion mit sich zu bringen scheint. Es gab Zeiten, in denen Philosophen wie Leibniz unter ihren riesigen Perücken Theodizeen entwerfen f konnten und wohlbestallte Kirchendiener ausgehend von der Funktionalität der Herzklappen und der Eleganz des Hüftgelenks die Existenz eines „moralischen und intelligenten Schöpfers der Welt“ beweisen konnten. Aber diese Zeiten sind ein ffür alle Male vorbei. Wir Kinder des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Evolutionstheorie und mechanistischen Philosophie, kennen die Natur zu gut und unbefangen, um weiterhin einen Gott anbeten zu können, der sich in dieser Natur manifes f tieren soll. In der Tat geht alles, was wir über das Richtige und unsere Pflic f hten wissen, von der Natur aus, aber das gleiche trifft auch auf das Böse zu. Die sichtbare Natur ist vollkommen wandelbar und indiffere f nt, man könnte sie eher als ein moralisches Multiversum bezeichnen denn als ein moralisches Universum. Einer solchen Hure sind wir keine Treue schuldig, mit ihr in ihrer Gesamtheit können wir keine moralische Verbindung eingehen. Und es steht uns im Umgang mit ihren verschiedenen Teilen ffrei, uns in die Pflicht nehmen zu lassen oder zu zerstören und keinem anderen Gesetz zu folgen als dem der Klugheit, wenn wir uns auf den Zug der Natur berufen, der jeweils gerade unserem Eigeninteresse nutzt. Wenn es so etwas wie einen göttlichen Geist des Universums gibt, dann kann die Natur, so wie wir sie kennen, nicht sein letztes Wort an uns Menschen sein. Entweder gibt es also keinen Geist, der sich in der Natur zu erkennen gibt, oder er gibt sich nur unvollständig zu erkennen. Und das, was wir sichtbare Natur oder diese Welt nennen, wäre dann, wie es alle höheren Religionen unterstellt haben, nichts ande-
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res als ein Schleier oder ein oberflächlicher Schein, dessen wahre Bedeutung in einer dahinterliegenden, anderen, unsichtbaren Welt liegt. Ich kann also nicht umhin, es im Großen und Ganzen als Gewinn zu bewerten (obwohl es für poetisch veranlagte Gemüter wie ein Verlust erscheinen mag), dass der naturreligiöse Aberglaube, die Verehrung Gottes in Gestalt der Natur, seinen Einfluss auf gebildete Geister zunehmend einbüßt. Wenn ich meine persönliche Meinung hierzu vorbehaltlos zum Besten geben darf, dann würde ich sagen (auch wenn das für f gewisse Ohren blasphemisch klingen mag), dass der erste Schritt zu einer gesunden Einstellung gegenüber dem Universum darin besteht, gegen den Glauben an die Existenz eines solchen Gottes zu rebellieren. Eine solche Rebellion wäre im Wesentlichen das, was Carlyle in dem Kapitel, aus dem ich bereits zitiert habe, im Weiteren wie fol f gt beschreibt: „,Warum wimmerst und winselst Du ständig wie ein Feigling, kauerst Dich nieder und zitterst? Verächtlicher Zweifüßer! Hast Du kein Herz? Kannst Du nichts aushalten? Und als Kind der Freiheit, wenn auch verstoßen, Trophet selbst mit den Füßen treten, während er Dich auffr f isst? Soll es denn so sein, ich will der Gefahr ins Auge sehen und ihr widerstehen!‘ Und als ich dies dachte, war es als würde meine Seele von einem Feuerstrom erfasst und ich schüttelte alle niedrige Furcht für immer von mir ab.“ „So klang das ewige Nein mit aller Macht durch alle Winkel meiner Existenz, meines Selbst; und dann geschah es, dass sich mein ganzes Selbst in ursprünglicher, von Gott verliehener Kraft erhob und seinen Protest vorbrachte. Dieser Protest, die bedeutendste Tat meines Lebens, kann aus psychologischer Sicht auch treffend Empörung oder Trotz genannt werden. Das ewige Nein sagte: ‚Siehe, Du bist nun ein ausgestoßener Waise und das Universum gehört mir.‘ Worauf mein Selbst entgegnete: ‚Ich bin ffrei, gehöre Dir nicht und werde Dich ewig hassen!‘ Von diesem Moment an“, so Teufelsdröckh weiter, „fing ich an, ein Mann zu werden.“
Und unser armer Freund Thomson schreibt ganz vergleichbar: Wer ist der Elendste an diesem Schreckensort? Ich glaube ich, doch bin ich lieber der, dem’s nicht an Unglück ffehlt, als jener HERR, der solche Wesen schuf zur Schande sich mit seinem Wort. Gemeinste Kreaturen sind, an Dir gemessen, der Du den Odem gabst, o HERR und GOTT, doch ganz erhaben! Kummer, Sünde, Tod hat Deine Bosheit in die Welt gesetzt. Vergessen will ich Dir nie die Schmach allmächtiger Schuld, und alle Tempel, die zum Ruhme Dir errichtet, verlockten mich nicht, den Du ganz vernichtet, 10 zu tauschen noch zu winseln hier um Henkershuld.“
In unserer heutigen Gesellschaft sind wir das Schauspiel von Leuten gewöhnt, die sich etwas zugute halten auf den Bruch mit dem kalvinistischen Gott ihrer Väter – mit dem, der das Paradies und die Schlange erschuf und von Anfang an für die Sünder das ewige Feuer der Hölle vorsah. Manche dieser Leute haben ihre Anbetung auf humanere Götter gerichtet, andere haben der Theologie einfach gänzlich den Rücken gekehrt. Aber beide Gruppen kommen darin überein, uns zu versichern, dass es sie mit dem höchsten Glück erfül f lt, sich von dem Irrtum befreit zu
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haben, sie müssten diesem unmöglichen Idol gegenüber irgendein Gefühl f der Verehrung oder Verpflic f htung empfinden. Aus dem Geist der Natur ein Idol zu machen und es anzubeten, führ f t nun ebenfalls zu einem Irrtum. Und in religiösen Gemütern, die zugleich wissenschaftlich sein wollen, wird dieser Irrtum zum Nährboden einer philosophischen Melancholie, aus der uns nur die Zurückweisung des Idols befreien kann. Welcher Verlust an Freude auch immer mit dem Sturz dieses Idols einhergeht, so folgt auf ihn immer auch der Sturz des Wimmerns und Winselns. Mit dem Bösen an sich können die Menschen dann kurzen Prozess machen, da ihre Beziehung zu ihm nur noch rein praktischer Natur ist. Sobald es der Verstand in seine einzelnen Komponenten zerlegt, es bekämpft und sich nicht länger über seine vermeintlich göttliche Herkunft f den Kopf zerbricht, erscheint das Böse nicht länger von so immenser Bedeutung und verliert seine verwirrende, uns immer wieder heimsuchende Kraft. Hier also, auf dieser Stufe der Befreiung vom monistischen Aberglauben, kann der Selbstmordgefährdete bereits erste Antworten auf seine Frage nach dem Sinn des Lebens bekommen. In den meisten Menschen fin f den sich Quellen der Lebenskra k ft, die, wenn sie nicht länger von der Last einer unendlichen metaphysischen Verantwortlichkeit erstickt werden, instinktiv die richtigen Antworten finden. Die Gewissheit, dass man nun wann immer man will aus dem Leben scheiden darf und dass dies weder gotteslästerlich noch ungeheuerlich ist, ist schon an sich eine große Erleichterung. Der Gedanke an Selbstmord verliert den Charakter einer schuldbeladenen Versuchung oder Obsession. „Dieses kleine Leben ist alles, was wir aushalten müssen, 11 der heilige Frieden des Grabes ist uns auf jeden Fall sicher“
schreibt Thomson und fügt hinzu: „Ich wälze diese Gedanken und sie trösten mich.“ Inzwischen halten wir weitere 24 Stunden durch, wenn auch nur um zu lesen, was morgen in der Zeitung stehen und was uns der Briefträger bringen wird. Aber weit stärkere Kräfte als diese bloße Lebensneugier kann man selbst in Geistern wecken, die zum Pessimismus neigen. Denn wo die Regungen der Liebe und Bewunderung abgestorben sind, reagieren immer noch die Regungen des Hasses und des Kampfge f istes auf die entsprechenden Anlässe. Zur Überwindung dieses Bösen, das wir so intensiv empfinden, können wir immer auch etwas beitragen. Denn seine Quellen werden nun, wo nicht länger eine „Substanz“ oder ein „Geist“ hinter ihm stehen, als endliche erkennbar, und wir können mit jeder dieser Quellen einzeln ffertig werden. Es ist in der Tat bemerkenswert, dass Leiden und Beschwernisse in der Regel gerade nicht die Liebe zum Leben verringern. Im Gegenteil, sie verleihen ihm in der Regel einen ganz speziellen Reiz. Die mächtigste Ursache der Melancholie ist Übersättigung. Bedürftigkeit und Not spornen uns an und inspirieren uns. Das Gefühl der Leere überkommt uns erst in der Stunde des Triumphes. Die pessimistischsten Aussagen in der Bibel stammen nicht von den Israeliten in der Gefangenschaft, sondern aus den Tagen von Salomons Ruhm. Als Deutschland zertreten unter den Stiefeln von Napoleons Soldaten lag, entstand dort die optimistischste und idealistischste Literatur, die die Welt je gesehen hat; und erst als
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nach 1871 die Milliarden an französischen Reparationszahlungen das Land überschwemmten, machte sich ein Pessimismus breit, der bis heute anhält. Die Geschichte unseres eigenen Volkes ist ein einziger langer Kommentar über das Glück, das sich mit der Bekämpfung von Missständen einstellt. Oder nehmen wir die Waldenser, über die ich kürzlich etwas gelesen habe und die als Inbegriff f dessen gelten können, was starke Menschen zu verkraften in der Lage sind. Im Jahr 1485 forderte eine Bulle des Papstes Innocent VIII ihre Auslöschung. Sie erteilte allen, die sich dem Kreuzzug gegen die Waldenser anschlossen, die Absolution, sicherte ihnen Straffrei f heit, befreite sie von der Eidespflicht, rechtfer f tigte ihren Anspruch auf Besitz, den sie sich gewaltsam aneignen könnten und versprach jedem, der einen Häretiker tötet, Vergebung aller Sünden. „In Piemont gibt es keine Stadt“, schreibt ein Autor aus dem Kanton Vaudois, „in der nicht einige unserer Brüder umgebracht worden sind. Jordan Terbano wurde in Susa bei lebendigem Leibe verbrannt, Hippolite Rossiero in Turin und Michael Goneto, achtzigjährig, in Sarcena. Vilermin Ambrosio wurde auf dem Col di Menao gehängt, Hugo Chiambs aus Fenestrelle wurden in Turin die Eingeweide aus dem Leib gerissen. Peter Geymarali aus Bobbio wurden auf gleiche Weise die Eingeweide herausgerissen und stattdessen eine wilde Katze in den offenen Leib gesetzt, um ihn so noch weiter zu quälen. Maria Romano wurde in Rocca Patia lebendig begraben, Magdalena Fauno erlitt dasselbe Schicksal in San Giovanni. Susanna Michelini wurde in Sarcena an Händen und Füßen gefess f elt in den Schnee geworfen f , wo sie an Hunger und Unterkühlung starb. Bartolomeo Fache wurde in Fenile zunächst mit Säbelf n man die Wunden mit ungelöschtem Kalk füllte, so hieben traktiert, woraufhi dass er in qualvoll verendete. Daniel Michelini wurde in Bobbo die Zunge herausgerissen, da er Gott gepriesen hatte. James Baridari starb daran, dass man ihm mit Schwefel getränkte Hölzer in das Fleisch unter seinen Nägeln, zwischen seinen Fingern, in seine Nasenlöcher, in die Lippen und in den gesamten Körper getrieben und anschließend entzündet hatte. Daniel Rovelli wurde der Mund mit Schießpulver gestopft und entzündet, so dass der Kopf zerba r rst. Sara Rostignol schlitze man von den Beinen bis zur Brust auf und ließ sie am Weg zwischen Eyral und Lucerna verenden. Anna Charbonn r ier wurde gepfählt und auf dem Pfahl von San Giovanni nach La Torre getragen.“12 13
Und dergl r eichen mehr! 1630 löschte die Pest die Hälfte f der Bevölkerung des Vaudois aus, einschließlich von fünfzehn f der siebzehn Geistlichen. Die frei gewordenen Stellen wurden von Genf und der Dauphiné aus neu besetzt und die gesamte Bevölkerung des Vaudois lernte Französisch, um dem Gottesdienst folgen zu können. Mehr als einmal sank ihre Zahl aufgr f und immer neuer Verfolgungen vom normalen Wert, der etwa bei 25000 lag, auf 4000. Im Jahr 1686 stellte der Herzog von Savoyen die letzten 3000 Überlebenden vor die Wahl, entweder ihrem Glauben abzuschwören oder das Land zu verlassen. Sie wiesen dies zurück und kämpften solange gegen die Armeen Frankreichs und Piemonts, bis nur noch 80 waffe f nfäh f ige Männer lebten bzw. nicht in Gefangenschaft geraten waren, gaben dann auf und wurden geschlossen in die Schweiz deportiert. Aber im Jahr 1689 brachen 800 von ihnen, ermutigt von Wilhelm von Oranien und angeführt von einem ihrer Geistlichen, auf um ihre Heimat zurückzuerobern.
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Sie kämpften sich bis Bobi durch, wurden innerhalb eines halben Jahres auf die Hälfte reduziert, und konnten doch jeden Gegner, der sich ihnen in den Weg stellte, besiegen. Bis schließlich der Herzog von Savoyen, der seine Allianz mit Louis dem XIV., jenem Inbegriff f der Abscheulichkeit, aufkündigte und ihnen ein gewisses Maß an Freiheit gewährte, seit welcher Zeit sie sich wieder vermehrt und in ihren armseligen Alpentälern bis auf unsere Tage überlebt haben. Was sind schon unsere kleinen Sorgen im Vergleich dazu? Erfül f lt uns nicht der Bericht von einem so ausdauernd gegen eine Übermacht geführten Kampf mit Entschlossenheit gegenüber unseren, läppischen Mächten der Finsternis, den Mühlen der Politik, dem Nepotismus und dergleichen mehr? Wenn derartige Kämpfe zu einem erfolgr f eichen Ende geführt werden und dem Tyrannen das Messer auf die Brust gesetzt wird, dann ist das Leben lebenswert, ganz unabhängig davon, was es sonst mit sich bringt. Wir können also den Selbstmordgefährdeten, der davon ausgeht, in einer moralfreien Natur zu leben, dazu ermuntern, durchzuhalten und bis zum Ende des Kampfes seinen Mann zu stehen. Wir können diese Ermunterung gerade im Namen derjenigen Übel formu f lieren, die ihm so schwer auf dem Herzen liegen. Und die Zustimmung dazu, weiterzuleben, die wir ihm unter diesen Bedingungen abnötigen, ist nicht die heuchlerische „Fügung“, die die Anhänger Unterwürfig f keit verlangender Religionen anpreisen: Es ist keine „Fügung“ in dem Sinne, dass man einem despotischen Gott die Hand küsst. Es ist im Gegenteil ein sich Fügen, das sich auf Männlichkeit und Stolz gründet. So lange unser Selbstmordkandidat nicht ein Übel, das ihn persönlich und unmittelbar betrifft f , zu bewältigten sucht, so lange wird er sich nicht für das Übel im Großen und Ganzen interessieren. Die Forderung, dass wir uns mit dem Übel im Großen und Ganzen abfinden, uns ihm unterwerfen sollen, ist einfach f nur ein Ausdruck der Überzeugung, dass das Übel im Großen solange nicht unsere Sache ist, wie nicht unsere Auseinandersetzung mit unseren kleinen, privaten Übeln beigelegt sind. Einer Herausfor f derung dieser Art, die genau die Details benennt, wird von Menschen, deren normale Instinkte noch nicht abgestorben sind, sofor f t angenommen werden. Und unser Selbstmordkandidat wird sich durch diese Art von Herausfor f derung schnell dazu bewegen lassen, dem Leben wieder mit einem gewissen Interesse zu begegnen. Das Ehrgefühl reicht sehr tief. Wenn wir zum Beispiel erkennen, wie viele unschuldige Tiere in Viehtransportern und Schlachthöfen f haben leiden und ihr Leben lassen müssen, damit wir fett und kostümiert leben können, bequem hier zusammensitzen können, um diesen Erörterungen nachzugehen, dann wirft f dies ein fei f erliches Licht auf unsere Beziehung zum Universum. „Ist nicht“, wie ein junger Philosoph aus Amherst (der inzwischen verstorbene Xenos Clark) einst schrieb, „die Akzeptanz eines glücklichen Lebens unter solchen Bedingungen an sich schon eine Ehrensache?“ Werden wir nicht, als Ausgleich ffür all die Leben, auf die das unsere gebaut ist, dazu genötigt, ein gewisses Leiden auf uns zu nehmen, unter Leugnung eigener Ansprüche irgendetwas Sinnvolles mit unserem Leben zu anzustellen? Wenn in der Brust eines Menschen ein Herz schlägt, dann bedeutet diese Frage auch nur vernehmen zu können, sie in der einzig möglichen Weise zu beantworten.
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So sehen wir, dass bereits auf einer rein naturalistischen Ebene die instinktive Neugier, die Kampfeslust und das Ehrgefühl f das Leben denjenigen Menschen von Tag zu Tag lebenswerter erscheinen lässt, die, um ihre Hypochondrie loszuwerden, alle Metaphysik ablehnen und die auch der Religion und ihren möglichen positiven Wirkungen nichts schulden wollen. Ein armseliges Stehenbleiben auf der halben Stufe, f mögen jetzt vielleicht manche sagen. Aber sie müssten zumindest zugeben, dass es eine ehrenvolle Stufe f ist. Und niemand sollte es wagen, abfäll f ig von diesen Instinkten zu sprechen, die zum besten Teil unserer natürlichen Ausstattung gehören und an die die Religion letztlich anknüpfen f muss.
IV Jetzt gehe ich darauf ein, was die Religion zu diesen Fragen beizutragen hat und komme damit zum Kernpunkt meiner Ausführungen. Das Wort Religion hatte in der menschlichen Geschichte viele Bedeutungen. Wenn ich das Wort im Folgenden verwende, dann nur im Sinne von etwas Übernatürlichem, also im Sinne der These, dass die sogenannte Ordnung der Natur, die der Welt unserer Erfahrungen zugrunde liegt, nur ein Teil des Gesamtuniversums ist. Jenseits der sichtbaren erstreckt sich eine unsichtbare Welt und in Beziehung zu ihr liegt die ganze Wahrheit unserer gegenwärtigen, irdischen Existenz beschlossen. Der religiöse Glaube eines Menschen bedeutet für f mich, ganz unabhängig davon, welches spezielle Bekenntnis er enthält, im Wesentlichen den Glauben an die Existenz einer unsichtbaren Ordnung irgendeiner Art, in der die Rätsel der natürlichen Ordnung ihre Lösung finden. In den höher entwickelten Religionen wurde die natürliche Welt immer nur als die Fassade oder die bloße Vorhalle einer wahreren, ewigen Welt begriffen und zu einem Bereich der Erziehung, Versuchung oder Erlösung erklärt. In diesen Religionen muss man in der einen oder anderen Weise im natürlichen Leben sterben bevor man das ewige Leben erreichen kann. Die Auffass f ung, dass unsere physische Welt aus Wind und Wasser, in der die Sonne auf- und der Mond untergeht, uneingeschränkt als die von Göttern beabsichtigte und eingerichtete Welt gelten kann, finden wir nur in sehr frühen Religionen, etwa bei den ältesten Juden. Diese Naturreligion (die nach wie vor primitiv ist, obwohl Dichter und Wissenschaftler, deren guter Wille ihren Scharfsinn übertrifft, sie munter weiter in einer Weise kolportieren, die auf die Ohren unserer Zeit abgestimmt ist), hat, wie schon gesagt, aus der Sicht eines Kreises von Leuten Schiffb f ruch erlitten, zu dem ich mich selbst zähle und der mit jedem Tag größer wird. Diesen Leuten kann man nicht länger glauben machen, dass sich in der physikalischen Ordnung der Natur, wie sie uns die Wissenschaft beschrieben hat, auch nur eine einzige höhere geistige Absicht verbirgt. Sie ist einfach f nur Wetter, wie Chauncey Wright sie nennt, ein endloses Werden und Vergehen. Nun möchte ich Sie, wenn mir das in der noch verbleibenden Vortragszeit gelingen kann, davon überzeugen, dass wir allen Grund haben zu glauben, die physikalische Ordnung sei nur ein Teil einer umfassenderen Ordnung. Wir haben
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immer dann ein Recht, sie um eine unsichtbare, spirituelle Ordnung zu ergänzen, wenn uns das Leben dann lebenswerter erscheint. Da aber ein solcher Glaube vielen von Ihnen in bedenklicher Weise mystisch und unwissenschaftlich erscheinen dürfte, muss ich zunächst das eine oder andere Wort darauf verwenden, den Einspruch abzuschwächen, von dem Sie vielleicht denken, dass die exakte Wissenschaft ihn gegen mein Vorgehen erheben könnte. Der Mensch tendiert von sich aus zu einem gewissen Naturalismus und Materialismus, für den nur wirklich greifba f re Dinge als Fakten zählen. Diese Geisteshaltung hat sich die Wissenschaft f zum Götzen erhoben. Man kann diese Menschen am besten an ihrer Vorliebe für das Wort „Wissenschaftler“ erkennen. Ihr Totschlagargument, mit dem sie jede abw a eichende Meinung diskre k ditieren, besteht darin, sie als unwissenschaftlich zu bezeichnen. Wir müssen einräumen, dass es hierfür f keine einfache Entschuldigung gibt. Die Wissenschaft hat in den vergangenen dreihundert Jahren gewaltige Fortschritte gemacht und unser Wissen über die Natur im Allgemeinen wie im Besonderen ungeheuer erweitert. Außerdem haben Wissenschaftl f er als Berufsgruppe so bewundernswerte Tugenden an den Tag gelegt, dass es nicht weiter verwundert, wenn das den Jüngern des wissenschaftlichen Weltbildes zu Kopf gestiegen ist. So habe a ich gerade hier an dieser Universität mehr als einen Lehrenden sagen hören, dass alle Grundwahrheiten bereits von der Wissenschaft aufgedeckt worden seien und dass die Aufgabe der Zukunft nur noch darin bestünde, das Bild, um einige Details zu ergänzen. Doch sobald wir auch nur ein wenig über diese Dinge nachdenken, wird sich zeigen, wie barbaris r ch solche Äußerungen sind. Sie zeugen von einem solchen Mangel an wissenschaftlicher Einbildungskra k ft, dass es schwer zu verstehen ist, wie jemand, der aktiv wissenschaftlich tätig ist, zu so einer kru k den Fehleinschätzung gelangen kann. Denken wir einfac f h nur daran, wie viele absolut neue wissenschaftliche Konzepte in unserer Generation aufge f kommen sind, wie viele neue Probleme erkannt wurden, die vorher niemandem in den Blick geraten sind. Und dann sollten wir vor allem bedenken, wie jung die Karriere der Wissenschaft noch ist. Sie begann mit Galileo, vor nicht einmal dreihundert Jahren. Vier Denker nach Galilei hätten, wenn jeder seinem Nachfolger die Erkenntnisse gelehrt hätte, die zu seinen Lebzeiten erzielt wurden, genügt, die Fackel der Wissenschaft bis in diesen Raum an diesem Abend zu tragen. Tatsächlich würde eine viel kleinere Hörerschaft als die hier anwesende, sagen wir eine Hörerschaft f von 100 bis 120 Menschen, wenn jeder von ihnen für f seine Generation sprechen würde, genügen, uns bis in die dunkle Frühzeit der Geschichte zurückzuleiten, in eine Zeit vor jeder schriftlichen Überlieferung. Sollen wir glauben, dass solch ein Wissen, das wie ein Pilz über Nacht aufgeschossen ist, wenig mehr als auch nur einen fflüchtigen Hauch von dem umfassen kann, als was sich uns das Universum vielleicht einmal wirklich erweisen wird? Nein! Unsere Wissenschaft ist ein Tropfen f in einem Meer von Nichtwissen. Was auch immer sonst feststehen mag, dies steht mit Sicherheit fest – dass die Welt unseres gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Wissens in eine umfassendere Welt, welcher Art auch immer, eingebettet ist, von deren letztlichen Eigenschaften wir uns unter gegenwärtigen Bedingungen kein Bild machen können.
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Der agnostische Positivismus gibt dies zumindest theoretisch bereitwillig zu, er besteht allerdings darauf, dass wir daraus keinerlei praktischen Nutzen ziehen können. Seine Lehre will uns davon überzeugen, dass wir kein Recht haben, uns unseren Träumen hinzugeben oder Vermutungen über einen unsichtbaren Teil des Universums anzustellen, nur weil wir denken, dies könnte im Sinne unserer höheren Interessen liegen. Wir müssen unsere Überzeugungen immer mit evidenten Beweisen absichern, und wo solche Beweise nicht möglich sind, müssen wir uns aller Hypothesen enthalten. In abstracto ist dies natürlich eine ziemlich sichere Position. Wenn ein denkendes Wesen keine vitalen Bedürfni f sse in Bezug auf das Unbekannte hätte, deren Befriedigung darüber entscheiden würde, ob sein Leben, je nachdem, was die unbekannte Welt konkret k enthielte, erfül f lt oder sinnlos sei, dann wäre ein philosophisch neutraler Standpunkt und die Zurückweisung der Alternative, entweder das eine oder das andere glauben zu sollen, die weiseste Lösung ffür ihn. Aber unglücklicherweise ist eine solche neutrale Position nicht nur innerlich schwierig, sondern auch nach außen hin, in unseren praktischen und lebendigen Beziehungen, nicht konsistent lebbar. Dies liegt, wie uns die Psychologen gezeigt haben, daran, dass Glauben und Zweifel lebendige Einstellungen sind und unser Verhalten beeinflu f ssen. Unsere einzige Möglichkeit zu zweifel f n oder die Überzeugung, dass eine bestimmte Sache existiert, zurückzuweisen, besteht zum Beispiel darin, weiter so zu handeln, als würde sie nicht existieren. Wenn ich etwa nicht glauben möchte, dass das Zimmer kalt wird, dann lasse ich das Fenster geöffne f t und mache kein Feuer im Ofen, verhalte mich also so, als wäre es weiterhin warm. Wenn ich an Ihrer Vertrauenswürdigkeit zweifle, dann vertraue ich Ihnen keines meiner Geheimnisse an, gerade so, als wären Sie ihrer nicht würdig. Wenn ich an der Notwendigkeit zweifle, mein Haus zu versichern, dann lasse ich es solange unversichert wie ich denke, dass keine Notwendigkeit für eine Versicherung besteht. Und wenn ich also nicht glauben kann, dass die Welt göttlich ist, dann kann ich diese negative Haltung nur dadurch zum Ausdruck bringen, dass ich nicht so handele, als wäre sie es, was nur bedeuten kann, dass ich in bestimmten kritischen Fällen eben irreligiös handele. Wie Sie sehen können, stoßen wir im Leben unvermeidlich auf Situationen, in denen sich auch das Nichthandeln als Handeln erweist, die Handlungsenthaltung als Handlung zählt und wo nicht für etwas zu sein praktisch bedeutet, dagegen zu sein. In all diesen Fällen kann es keine wirkliche Neutralität geben. Und ist nicht alles in allem die Pflic f ht zur Neutralität dort, wo wir rein aus einer inneren Notwendigkeit zu einem Glauben geführt werden, die lächerlichste aller möglichen Forderungen? Ist es nicht einfach f blanker dogmatischer Irrsinn zu sagen, dass unsere innersten Interessen keine wirklichen Verbindungen mit den Kräften f unterhalten könnten, die die unsichtbare Welt möglicherweise in sich birgt? In anderen Fällen haben sich Vorahnungen, die auf unseren innersten Interessen basierten, als durchaus prophetisch erwiesen. Nehmen wir die Wissenschaft f selbst! Ohne einen mächtigen inneren Hang nach idealen logischen und mathematischen Harmonien wäre es uns wahrscheinlich nie gelungen, zwischen all den Unregelmäßigkeiten und Rissen der rauen natürlichen Wirklichkeit tat-
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sächlich solche Harmonien freizulegen. Kaum ein Gesetz oder eine Tatsache sind in der Wissenschaft festgestellt worden, nach der nicht zuerst, oft f im Schweiße des Angesichts des Forschenden, gesucht wurde, um ein inneres Bedürfnis zu befriedigen. Woher diese Bedürfnisse letztlich kommen, wissen wir nicht: Wir finden sie in uns vor und die biologische Psychologie klassifiz f iert sie als Darwins „zufällige Variationen“. Aber das innere Bedürfnis zu glauben, dass diese natürliche Welt nur das Zeichen für f etwas Geistigeres und Ewigeres ist, ist für f diejenigen, die es empfin f den, genauso stark und gebieterisch, wie es die innere Notwendigkeit einheitlicher Kausalgesetze für einen hartgesottenen Naturwissenschaftler ist. Durch die Bemühungen vieler Generationen hat sich das letztgenannte Bedürfni f s im Nachhinein als prophetisch erwiesen. Warum könnte nicht das erste Bedürfnis auch prophetisch sein? Warum sollten wir, wenn uns unsere Bedürfnisse über die sichtbare Welt hinausweisen, dann dies nicht als Zeichen für die Existenz einer unsichtbaren Welt deuten? Wer oder was hat, kurz gesprochen, das Recht, unser Vertrauen in unsere religiösen Impulse zu zerstören? Die exakte Wissenschaft hat sicher kein Recht dazu, denn sie kann allenfalls Aussagen über das machen, was existiert, nicht dagegen über das, was nicht existiert. Und die agnostische Maxime, „du sollst nichts ohne zwingenden augenfäl f ligen Beweis glauben“, drückt einfach das (einem jedem natürlich zuzugestehende) persönliche Bedürfni f s nach einem ganz bestimmten Typ von Beweis aus. Was meine ich nun eigentlich genau mit „Vertrauen“, wenn ich sage, dass wir unseren religiösen Impulsen vertrauen sollten? Beinhaltet dieses Vertrauen, dass ich eine unsichtbare Welt im Detail beschreiben kann und all dieje e nigen, die an etwas anderes glauben, mit einem Bannflu f ch belegen kann? Sicherlich nicht! Die Kraft des Glaubens wurde uns sicher nicht verliehen, um die Menschheit in Rechtgläubige und Ketzer zu unterteilen. Sie wurde uns vielmehr verliehen, um ihr gemäß leben zu können. Unseren religiösen Impulsen zu vertrauen, bedeutet zuallererst, in ihrem Lichte zu leben und so zu handeln, als ob die unsichtbare Welt, auf die sie verweisen, Wirklichkeit sei. Es liegt in der menschlichen Natur beschlossen, dass wir mit Hilfe f eines Glaubens leben und sterben können, der sich nicht auf ein einzelnes Dogma oder eine genaue Definition reduzieren lässt. Die bloße Versicherung, dass die uns vertraute natürliche Ordnung nicht das letzte Wort behalten wird, sondern nur ein Zeichen oder Oberflächenphänomen ist, gleichsam die äußere Fassade eines vielschichtigen Universums, das von ewigen geistigen Kräften gelenkt wird, diese Versicherung genügt solchen Menschen, damit ihnen das Leben trotz des gegenteiligen Anscheins, den die besonderen Umstände der physischen Existenz mit sich bringen, lebenswert erscheint. Wenn man andererseits diesen inneren Glauben, wie vage er auch sein mag, zerstört, dann wird mit einem mal alles Licht und aller Glanz des Daseins ausgelöscht. Oft genug füh f rt dies in den Wahnsinn und in die Neigung zum Selbstmord. Die Nützlichkeit des Glaubens sollte uns nun unmittelbar einleuchten. Wahrscheinlich würde ffast jedem von uns selbst das widrigste Leben lebenswert erscheinen, wenn wir sicher sein könnten, dass sich unser Mut und unser Durchhal-
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tevermögen ihm gegenüber in einer unsichtbaren, geistigen Welt auszahlen würden. Aber folgt denn, wenn wir zugeben, dass wir dessen nicht sicher sind, daraus bereits, dass der Glaube an eine solche Welt auf einer Stufe f steht mit dem Glauben an ein Wolkenkuckucksheim oder ein Schlaraffen f land? Oder könnte dieser Glaube nicht vielmehr Ausdruck einer lebendigen und legitimen Geisteshaltung sein? Es steht uns frei f , auf eigene Gefah f r hin alles zu glauben, was nicht unmöglich ist und das zu seinen Gunsten bestimmte Analogien anführen kann. Die allermeisten der miteinander konvergierenden Argumente zugunsten des Idealismus zielen auf den Beweis ab, dass sich die physische Welt nicht absolut setzen lässt. Durch eine Analogie zum Leben unserer Haustiere drängt sich der Gedanke auf, dass sich unser gesamtes physisches Leben möglicherweise parasitär zu einem geistigen Leben verhält, zu einer ffür uns nicht ffassbaren Dimension des Daseins, in die es zugleich eingebettet ist. So gehören zum Beispiel unsere Hunde zu unserem menschlichen Leben, ohne dass sie innerlich daran teilnehmen würden. Sie sind permanente Zeugen des äußeren Ablaufs von Vorgängen, deren innere Bedeutung sich ihrer Intelligenz konstitutiv entzieht, und das auch dann, wenn sie in diesen Vorgängen selbst die Hauptrolle spielen. So hat zum Beispiel mein Terrier einen Jungen gebissen, der ihn geärgert hat, und der Vater verlangte Schmerzensgeld. Der Hund kann bei allen Schritten der Verhandlung anwesend sein und auch sehen, wie das Geld schließlich ausgehändigt wird, ohne doch die leiseste Ahnung zu haben, was das alles bedeutet, und ohne Verdacht zu schöpfen, das Ganze könnte etwas mit ihm zu tun haben. In seinem natürlichen Leben als Hund kann er die Vorgänge niemals begreifen. Oder nehmen wir einen anderen Fall, der mich während meines Medizinstudiums tief erschüttert hat: den bedauernswerten Hund, den man im Rahmen der Lehre oder Forschung lebendig seziert. Er ist auf einem Brett fes f tgeschnallt, bellt laut seinen Henker an und durchleidet in seinem dumpfen f Bewusstsein buchstäblich die Hölle. Er kann in der ganzen Sache nicht den Funken eines Sinnes oder gar einer möglichen Erlösung erblicken. Und doch stehen hinter diesen auf den ersten Blick teuflisch wirkenden Vorgängen häufig humane Absichten, denen er sich vielleicht, würde man seinem armseligen und beschränkten Geist auch nur eine flüchtige Idee davon vermitteln können, in heroischer Religiosität ffügen würde. Mit seinem Leid sollen Fortschritte medizinischen Wissens und damit Hilfe f gegen zukünftif ges Leid von Mensch und Tier erkauft werden. Er kann zu einer wirklichen Erlösung beitragen. Wenn er rücklings auf dem Brett liegt, kann er unter Umständen unermesslich viel mehr leisten, als in einem normalen, glücklichen Hundeleben. Und doch bildet diese Leistung innerhalb des ganzen Vorgangs gerade das, was konstitutiv außerhalb seines Gesichtskreises bleiben wird. Wenden wir uns nun von hier aus dem menschlichen Leben zu. In Bezug auf das Leben des Hundes können wir die unsichtbare Welt sehen, weil wir in beiden Welten leben. In unserem menschlichen Leben kann, obwohl wir nur unsere Welt und die des Hundes sehen können, doch auch noch eine umfassendere Welt vorhanden sein, die unsere Welt mit einschließt aber für uns genauso unsichtbar bleibt wie die menschliche Welt für den Hund. Und möglicherweise besteht die
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wesentlichste Aufga f be unseres Lebens darin, an diese umfassendere Welt zu glauben. „Vie V lleicht! Möglicherwe r ise!“, hört man nun aber den Positivisten verächtlich ausrufen. „Welchen Nutzen kann wissenschaftliches Denken aus bloßen Möglichkeiten ziehen?“ Darauf würde ich erwidern, dass nicht nur das wissenschaftliche Denken, sondern auch das menschliche Leben in der Vielfalt all seiner Aspekte mit „bloßen Möglichkeiten“ zu tun hat. Wenn ein Mensch etwas Bedeutsames leistet, wenn er produktiv und schöpferisch ist, dann wird sein gesamter Lebensentwurf von „bloßen Möglichkeiten“ bestimmt. Alle Siege, Glaubensakte und Äußerungen des Mutes werden auf „bloße Möglichkeiten“ hin vollbracht. Kein Dienst an der Menschheit, keine Bezeugung von Selbstlosigkeit, keine wissenschaftliche Anstrengung, kein Experiment und kein wissenschaftliches Lehrbuch, die sich nicht der Möglichkeit des Scheiterns aussetzen würden. Nur dadurch, dass wir uns immer wieder aufs Spiel setzen, leben wir überhaupt. Und sehr häufig ist unser vorauseilender Glaube an ein noch nicht gesichertes Ergebnis das Einzige, was dieses Erge r bnis wirkl r ich eintreten lässt. Nehmen Sie zum Beispiel an, Sie haben sich während einer Bergexpedition verstiegen und in eine gefährliche Lage gebracht, aus der Sie sich nur durch einen kühnen Sprung befreien können. Wenn sie die Zuversicht haben, dass dieser Sprung gelingen kann, dann wächst auch in Ihren Beinen die nötige Kraft. f Wenn Sie sich den Sprung aber nicht zutrauen und an die wissenschaftlichen Gründe denken, die der „bloßen Möglichkeit“ eines glücklichen Ausgangs im Weg stehen, dann werden Sie so lange zögern, bis Sie sich schließlich nervös und zitternd in einem Augenblick höchster Verzweiflung abstoßen und in die Tiefe f stürzen! In einem solchen Fall (und er gehört zu einer Klasse) ist es sowohl weise wie mutig, an das zu glauben, was auf der Linie unserer Bedürfni f sse liegt, denn nur ein solcher Glaube vermag das Bedürfnis auch in eine Wirklichkeit zu überführ f en. Wenn Sie den Glauben zurückweisen, werden Sie im Nachhinein Recht bekommen und unwiderruflic f h zugrunde gehen. Doch auch wenn Sie glauben, werden Sie im Nachhinein Recht bekommen und sich retten können. Mit Hilfe f Ihres Glaubens oder Unglaubens verwirklichen Sie die eine oder die andere der beiden möglichen Welten, wobei beide Welten, bevor sie mit Ihrer Handlung intervenieren, tatsächlich nur im Modus „bloßer Möglichkeiten“ bestanden. Die Antwort auf die Frage, ob das Leben lebenswert sei, scheint mir von dem abzuhängen, was wir soeben diskutiert haben. Sie hängt letztlich von Ihnen ab, 14 von demjenigen, der lebt. Wenn Sie sich einem defaitistischen Weltbild überlassen und das allgemeine Übel mit Ihrem Selbstmord krönen, dann haben sie wirklich ein düsteres Bild gezeichnet. Sofern es Ihre eigene Welt betrifft f , verkörpert der Pessimismus, der sich in Ihrer Tat vollendet, ohne jeden Zweifel die letzte Wahrheit. Das Misstrauen, mit dem Sie dem Leben begegnen, hat diesem Leben jeden Wert geraubt, dem Sie ihm mit etwas mehr Beharrungsvermögen hätten verleihen können. Insofern hat das Misstrauen in seiner Beeinflus f sung Ihres gesamten Daseins eine divinatorische Kraft bewiesen. Stellen Sie sich demgegenüber vor, Sie würden die Welt nicht aus der Perspektive des Alptraums betrachten und darauf insistieren, dass diese Welt nicht die ultima rratio sei; nehmen Sie an, Sie fühlten sich, wie Wordsworth sagt, als eine Quelle von
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„Eifer und Kraft, aus dem Glauben zu leben so wie Soldaten durch ihren Mut leben, wie der Matros t e aus der Kraft seines Herzens gegen die stürmische See ankämpft.“15
Nehmen Sie an, Ihre unbändige innere Kraft zeige sich, werden Sie auch vom Schicksal mit allen Übeln bedacht, diesen Übeln gewachsen, ja, Sie fänden im stetigen Vertrauen auf das übergeordnete Ganze ein weit größeres Glück, als es alle passiven Vergnügungen mit sich bringen könnten. Haben Sie nicht Ihr Leben unter diesen Bedingungen selbst lebenswert gemacht? Was würde denn vom Leben bleiben, wenn es sich bei Ihren zum Kampf bereiten Fähigkeiten immer nur von seiner Schönwetterseite zeigte und Ihren Fähigkeiten keinen Rahmen böte, in dem sie sich bewähren könnten? Führen Sie sich bitte vor Augen, dass Optimismus und Pessimismus Defin f itionen der Welt sind, und dass unsere individuellen Reaktionen auf die Welt, so unbedeutend sie anfan f gs auch sein mögen, integrale Bestandteile des Ganzen sind und daher notwendig etwas zu seiner Definition beitragen. Jede einzelne Reaktion kann sogar das entscheidende Element in der Festlegung einer Defin f ition sein. Das fragile Gleichgewicht zwischen zwei großen Massen kann durch das Hinzufügen des Gewichts einer Feder auf einer der beiden Seiten aufgehoben werden. Der Sinn eines langen Satzes kann durch Hinzufüg f ung des Wörtchens nicht in sein Gegenteil verkehrt werden. Dieses Leben ist, so können wir fes f thalten, lebenswert, weil es das ist, was wir moralisch gesehen aus ihm machen. Und wir sind entschlossen, es, sofern f es an uns liegt, in dieser Hinsicht erfol f greich zu gestalten. In der Beschreibung von Arten des Glaubens, die sich selbst wahr machen, habe ich unterstellt, dass wir unsere Kraft und unsere Geduld dem Glauben an eine unsichtbare Ordnung verdanken, wobei diese Kraft f und die Geduld unsere sichtbare Welt für moralische Menschen erst zu einer guten Welt machen. Unser Glaube an das Gute in der sichtbaren Welt (wobei „das Gute“ jetzt einfach f die Eignung für ein moralisches und religiöses Leben bedeutet) hat sich, indem er sich auf unseren Glauben an die unsichtbare Welt stützte, selbst erfül f lt. Wird sich nun aber auch unser Glaube an die unsichtbare Welt in ähnlicher Weise selbst bewahrheiten? Wer kann das wissen? Wieder einmal hängt die Beantwortung der Frage von Möglichkeiten ab, und wieder einmal sind Möglichkeiten die wesentlichen Bestandteile der Situation. Ich gebe offen f zu, dass ich nicht einsehe, warum die Existenz einer unsichtbaren Welt nicht auch von den individuellen Antworten abhängen kann, die jeder Einzelne auf die Provokation des Religiösen gibt. Kurz gesagt: Vielleicht bezieht Gott aus der Treue unseres Glaubens Lebenskraft und eine Art Steigerung seines Seins. Ich wüsste nicht, was der Schweiß, das Blut und die Tragödien unseres Lebens sonst bedeuten sollten. Wenn dieses Leben kein wirklicher Kampf ist, mit dessen erfol f greichem Ausgang etwas auf ewig für das Universum gewonnen würde, dann wäre es nicht besser als die Aufführung von Laienschauspielern, aus der man sich ganz nach Belieben zurückziehen könnte. Aber wir haben ddas Gefühl, einem wirklichen Kampf beizuwohnen, so als ob es etwas wirklich Übles im Universum gäbe, das wir mit all unseren Idealen und Glaubensvorstellungen erlösen sollten. Und dies bedeutet, dass wir zunächst unser eigenes Herz von
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Furcht und Unglauben befrei f en müssen. Unsere Natur ist an ein halberlöstes, halbübles Universum angepasst. In unserem tiefsten Inneren finden wir dieses 16 17 Binnenleben (wie es kürzlich ein deutscher Wissenschaftler genannt hat), dieses stumme Reich des Herzens, in dem jeder allein wohnt mit seinen Wünschen und Abneigungen, seinem Glauben und seiner Furcht. Wie durch unterirdische Risse und Spalten jenes Wasser aus großen Tiefen emporströmt, das dann den Ursprung von Quellen bildet, so nehmen all unsere bewussten Handlungen und Entscheidungen ihren Anfang in diesen dämmrigen Tiefen der Persönlichkeit. Hier sind wir am intensivsten mit der Natur der Dinge verbunden und im Vergleich zu den Regungen dieser Seelenregion klingen alle abstrakten Behauptungen und wissenschaftlichen Gründe – zum Beispiel der Einspruch, den der Positivist gegen unseren Glauben einlegt – wie hohle Phrasen. Denn hier haben wir es vor allem mit Möglichkeiten und nicht mit vollendeten Tatsachen zu tun. Um meinen Freund William Salter von der Philadelphia Ethical Society t zu zitieren: „So wie sich das Wesen des Mutes darin erweist, das Leben auf eine bloße Möglichkeit hin aufs Spiel zu setzen, so zeigt sich das Wesen des Glaubens, wenn wir überzeugt sind, dass etwas Mögliches wirklich existiert.“ Dies sind also die letzten Worte, die ich an Sie richten will: Fürchten Sie das Leben nicht. Vertrauen Sie darauf, dass das Leben lebenswert ist, dann wird Ihr Glaube dazu beitragen, dass die Welt Ihr Vertrauen rechtfertigen wird. Der „wissenschaftlich exakte“ Beweis, dass Ihr Glaube gerechtferti f gt ist, wird sich vielleicht nicht vor dem Tag des jüngsten Gerichts (oder einem Zustand, den dieser Tag symbolisiert) geben lassen. Aber die Gläubigen unserer Tage oder zukünftif ger Generationen können sich an die Kleingeister, die unter irdischen Bedingungen nicht weiterleben wollen, mit den Worten wenden, die Heinrich IV. dem zu spät herbeieilenden Crillon nach dem eben errungenen Sieg als Gruß zurief: „Hänge dich auf, tapferer f Crillon! Wir kämpfte f n bei Arques, und du warst nicht dabei.“
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2. Was gibt einem Leben Sinn? i
In meinem letzten Vortrag Über eine gewisse Blindhei d t habe ich versucht, Ihnen ein Gespür dafür zu vermitteln, wie sehr das Leben mit Werten und Bedeutungen durchsetzt ist, die wir aufgrund unserer oberflächlichen Sichtweise und mangelnden Sensibilität häufig f nicht wahrnehmen können. Diese Bedeutungen bestehen für andere, aber nicht für f uns. Der Versuch, dies zu verstehen, ist mehr als eine bloße Angelegenheit müßiger Spekulation. Er hat eine immense praktische Bedeutung. Ich wünsche mir, dass ich Sie davon so überzeugen konnte, wie ich selbst davon überzeugt bin. Wir haben es hier mit der Grundlage unserer gesamten sozialen, religiösen und politischen Toleranz zu tun. Das Vergessen dieser Grundlage steht am Anfang aller blutigen Verbrechen, die ignorante Herrscher an den ihnen unterworfenen Völkern verüben. Das erste, was man im Umgang mit anderen Menschen lernen muss, ist der Respekt vor ihren je besonderen Weisen, glücklich zu sein, zumindest sofer f n diese Weisen nicht in einem gewaltsamen Konfli f kt mit unseren eigenen stehen. Niemand kennt alle Ideale. Niemand sollte sich anmaßen, sie frech abzukanzeln. Der Versuch, die Ideale der anderen dogmatisch zu beurteilen, ist die Wurzel der meisten Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten; er steht für diejenige Eigenart des menschlichen Charakters, über den die Engel die meisten Tränen vergießen. Jeder Jack sieht in seiner Jill eine Schönheit und Vollkommenheit, deren Zauber uns außenstehende Zuschauer völlig kalt lässt. Wer verfügt nun über die absolute Wahrheit des obje b ktiven Standpunktes, er oder wir? Wer hat die tiefere Einsicht in Jills Wesen? Ist Jack in dieser Angelegenheit maßlos und verrückt? Oder sind wir beschränkt, Opfer f einer pathologischen Unfäh f igkeit, Jills magischen Charme zu verspüren? Sicherlich das letztere; sicherlich kommt Jack der Wahrheit näher. Ganz bestimmt gehören die kleinen Lebensregungen der armen Jill zu den größten Wundern der Schöpfung und haben diese Form von Anteilnahme verdient, und es gereicht uns zur Schande, dass wir Jacks Gefühl f e nicht nachvollziehen können. Denn Jack sieht im Gegensatz zu uns, wie Jill wirklich ist. Er ringt darum, seine Seele mit der ihren zu vereinigen, ihre Gefühl f e vorauszusagen, ihren Wünschen zuvorzukommen, sich ihre Grenzen so mutig einzugestehen, und doch wissend, dass er sie nur unvollkommen verstehen kann. Denn auch er ist nach wie vor, selbst in diesem Fall, mit einer gewissen Blindheit geschlagen. Wohingegen wir empfin f dungslosen Klötze all dies nicht einmal versuchen, sondern uns damit zufri f eden geben, dass jener Teil der Ewigkeit, der den Namen Jill trägt, für f uns so wenig bedeutet, als würde er nicht existieren. Auch Jill, die sich selbst genau kennt, weiß, dass Jacks Art, sie wichtig zu nehmen, richtig und angemessen ist. Möge die alte Blindheit die beiden nie wieder in ihre Nebel hüllen! Wo würde jeder einzelne von uns stehen, gäbe es niemanden, der bereit wäre, uns so wahrzunehmen, wie wir wirklich sind, oder der bereit wäre, uns zu vergelten, wie wir ihn sehen? Wir sollten uns alle gegenseitig in dieser intensiven, gefühl f vollen und ernsten Weise wahrnehmen.
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Wenn Sie entgegnen, dass dies absurd sei und dass wir nicht alle Menschen gleichzeitig lieben können, möchte ich Sie lediglich darauf aufmer f ksam machen, dass es tatsächlich einige Menschen gibt, die mit einem enormen Vermögen zur Freundschaft und Empathie ausgestattet sind, und dass diese Menschen mehr über die Wahrheit wissen als solche, die engherziger sind. Problematisch an der gewöhnlichen Liebe zwischen Jack and Jill ist nicht ihre Intensität; problematisch sind vielmehr die mit der Liebe einhergehenden Eifers f üchteleien und Ausgrenzungen Dritter. Wenn wir diese problematischen Punkte ausblenden, sehen sie, dass das Ideal, das ich Ihnen zu zeigen versuche, nichts notwendig Absurdes enthält, wie undurchführbar es heute auch scheinen mag. Über uns liegt jedenfal f ls eine große Nebelbank angestammter Blindheit, die nur vorübergehend hier und da von fflüchtigen Enthüllungen der Wahrheit zerrissen wird. Es wäre vergeblich zu hoffen f , dass sich an dieser Lage all zu viel ändern wird. Unsere inneren Geheimnisse müssen für andere zum größten Teil unzugänglich bleiben, denn Lebewesen, die so praktisch sind wie wir, sind notwendigerweise kurzsichtig. Aber wenn wir nicht wirklich sehen können, wie es in den anderen aussieht, können wir dann nicht zumindest unser Wissen um unsere eigene Blindheit nutzen, um uns an dunklen Orten umsichtiger zu bewegen? Können wir nicht zumindest einigen der abscheulichen Intoleranzen, Grausamkeiten und aktiven Wahrheitsverdrehungen unserer Vorfahren entgehen? Für den Rest dieser Stunde lade ich Sie dazu ein, mit mir nach Prinzipien zu suchen, die unsere Toleranz weniger chaotisch machen. Und so, wie ich meine letzte Vorlesung mit einer persönlichen Erinnerung eingeleitet hatte, bitte ich Sie nun um Nachsicht für einen vergleichbar idiosynkratischen Zugang. Vor einigen Jahren verbrachte ich eine glückliche Woche im berühmten Sommerkurort am Chautauqua Lake. Sobald man diesen heiligen Bezirk betritt, fühlt man sich in eine Atmosphäre des Erfol f gs versetzt. Nüchternheit und Fleiß, Intelligenz und Güte, Ordnung und Idealismus, Wohlstand und Fröhlichkeit liegen hier gleichsam in der Luft. Alles wirkt wie ein seriöses und fleißiges Picknick gigantischen Ausmaßes. Sie treffen f hier auf eine Stadt mit vielen tausend Einwohnern, schön im Wald gelegen und mit allem ausgestattet, um die meisten grundlegenden, aber auch viele der überflüssigeren „höheren“ Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Es gibt hier ein erstklassiges College in voller Blüte, eine wunderbare Musikkultur, einen Chor mit siebenhundert Stimmen und möglicherweise das beste Open-Air-Auditorium der Welt. Sie können jede nur denkbare Art von Sport betreiben, Segeln, Rudern, Schwimmen, Radfahren, alle BallSportarten und noch weit Ausgefalleneres. Sie haben Kindergärten und mustergültige Grundschulen, offene Gottesdienste und spezielle Veranstaltungen ffür die unterschiedlichen Konfes f sionen und Sekten. Überall finden sich Trinkwasserspender und Sie können täglich populäre Vorträge von ausgewiesenen Experten hören. Sie finden die beste Gesellschaft f vor, und zugleich keine Mühen, keine Mangelerkran k kungen, keine Armut, keine Trunkenheit, keine Kriminalität und keine Polizei. Überall gibt es Kultur, Freundlichkeit und Gleichheit; alle Errungenschaften, ffür die die Menschheit in einem Jahrhunderte währenden Zivilisationsprozess gekämpft, geblutet und gestrebt hat, sind frei zugänglich. Sie bekom-
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men kurz gesagt einen Vorgeschmack auf das, was die menschliche Gesellschaft sein könnte, würde das Licht auf alle fallen und niemand im Schatten leiden. Ich wurde neugierig, blieb eine Woche, verzaubert vom Charme und der Leichtigkeit dieses Mittelklasse-Paradieses ohne Sünde, ohne Opfer, ohne Makel, ohne eine einzige Träne. Und wie habe ich mich doch gewundert, als ich mich bei der Rückkehr in die dunkle und böse Wirklichkeit dabei ertappte zu sagen: „Uff, was für eine Erleichterung! Jetzt etwas Ursprüngliches und Wildes, selbst wenn es so schlimm wäre wie das Massaker an den Armeniern, um das Gleichgewicht wieder ins Lot zu bringen! Diese Welt ist zu zahm, diese Kultur zu zweitklassig, diese Güte zu uninspirierend. Das menschliche Drama ohne einen Schurken oder einen Gewissensbiss? Diese Gemeinschaft ist so überkandidelt, dass Eiscreme und Mineralwasser das höchste zu sein scheint, was sie der Bestie im Menschen bieten kann. Diese Stadt köchelt in der lauen Sonne am See im eigenen Saft; mit der abscheulichen Unbedenklichkeit aller Dinge dort kann ich mich nicht abfinden. Ich möchte mich wieder der großen Wildnis dort draußen mit all ihren Sünden und Leiden aussetzen, um dort mein Glück zu versuchen. Es gibt dort die Höhen und Tiefen, Abgründe und hohen Ideale, das Leuchten des Schrecklichen und des Unendlichen, und es gibt tausendmal mehr Hoffnu f ng und Hilfe f als in dieser toten Gleichförmigkeit und Quintessenz aller Mittelmäßigkeit.“
Dies war die plötzliche Kehrtwendung, die mir meine gesetzlose Phantasie vor Augen führte! Vor mir waren, natürlich nur in Form einer kleinen Auswahl, alle Ideale ausgebreitet, um deren Verwirklichung sich unsere Zivilisation bemüht hat: Sicherheit, Intelligenz, Menschlichkeit und Ordnung; und auf eine solche Utopie erfol f gte nun instinktiv die feindselige Reaktion – nicht des natürlichen Menschen, sondern des sogenannten gebildeten Menschen. Liegt darin nicht ein Selbstwiderspruch oder eine Paradoxie, die ich als Profes f sor, der ein regelmäßiges Einkommen bezieht, entwirren und erklären müsste, wenn ich nur könnte? Ich dachte also nach. Vor allem habe ich mich gefragt, was genau in dieser Stadt des immerwährenden Sonntags (sabbatical city) feh f lte und dafür sorgte, dass sich hier keine wirklich höhere Art von Glück einstellte. Ich erkannte bald, dass es genau das Element war, welches der bösen Außenwelt ihren moralischen Stil, ihren Ausdruck und ihre Würze gibt, das Element der Schroffheit, um es einmal so zu nennen, das Element der Kraft und des Mutes, der Intensität und der Gefah f r. Was reizt und interessiert den Beobachter am menschlichen Leben, was heben die Romane und die Statuen hervor, an was erinnern uns die ernsteren öffen f tlichen Denkmäler? Es ist der ewige Kampf der Mächte des Lichts mit denen der Finsternis, ein Heldentum, das auch noch in größter Hoffnu f ngslosigkeit wieder und wieder den Sieg aus den Klauen des Todes reißt. Aber in diesem unsäglichen Chautauqua war nirgendwo ein Hauch des Todes zu spüren, und aus keiner Himmelsrichtung drohte irgendeine Art von Gefah f r. Das Ideal triumphierte so vollkommen, dass keinerlei Anzeichen einer früheren Schlacht mehr zu erkennen waren und nichts anderes blieb, als sich auf den Lorbeeren auszuruhen. Aber unsere menschlichsten Empfindungen gedeihen scheinbar nur angesichts der Erwartung, dass der Kampf weitergeht. Von dem Moment an, an dem nur
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noch die Früchte genossen werden, bekommt alles einen schalen Beigeschmack. Nur unter Schweiß und Mühsal, nur wenn der Mensch bis zum äußersten auf die Folter gespannt wird und doch überlebt, um sich gleich wieder von seinem Erfol f g abzuwenden und einem neuen, ausgefalleneren und noch mühsameren Ziel entgegen zu streben – nur dann lassen wir uns vom Leben dieses Menschen wirklich inspirieren; die Aufgabe aller höheren Formen der Literatur und bildenden Kunst scheint darin zu bestehen, uns genau diese Dinge nach Hause zu liefern und nahezulegen. In Chautauqua gab es keine Baugerüste, noch nicht einmal im historischen Museum des Ortes; und keinen Schweiß, mit der Ausnahme vielleicht einer leichten Feuchtigkeit auf der Stirn einiger Dozenten oder unter den Achseln der Spieler auf dem Fußballplatz. Ein solch extremer und umfassender Mangel an allem, was die menschliche Natur ausmacht, schien mir dann eine ausreichende Erklärung für die Inhaltslosigkeit von Chautauqua und den dort zu spürenden Mangel an wirklicher Lebensfreude zu sein. Aber ist das nicht ein bestürzendes Paradox? Es sieht so aus, dachte ich, als ob die romantischen Idealisten mit ihrem Pessimismus in Bezug auf unsere Zivilisation recht behalten würden. Eine unheilbare Mittelmäßigkeit hat sich über die gesamte Welt gelegt. Bürgerlichkeit und Plattheit, Gemeindefeste und Lehrerversammlungen treten an die Stelle der alten Höhen und Tiefen, des romantischen Kontrasts von Hell und Dunkel. Um das menschliche Leben in seiner wilden Intensität zu erhalten, müssen wir uns in Zukunft f wieder mehr von dieser Wirklichkeit abwenden, sie, wenn wir können, bei der Lektüre der Romanciers und Dichter vergessen. Die wirkliche Welt dort draußen, wie sie vielleicht nach wie vor jemandem in ihrer Schönheit und Sündigkeit erscheinen könnte, der für einen Moment dem Gefän f gnis von Chautauqua entflohen ist, gehorcht heute mehr und mehr solchen Idealen, die sie am Ende in ein gigantisches Freizeitlager in der Art von Chautauqua verwandeln wird. Was im Gesang soll leben, muss im Leben ii untergeh r n. Schon jetzt verdrängen Korrektheit, Fairness und kleine Kompromisse in unserem Land alle anderen Werte. Das höhere Heldentum und die alten iii selteneren Aromen verschwinden aus dem Leben. Mit diesen Gedanken im Kopf fuhr f ich mit der Eisenbahn nach Buffal f o, wo mich, in der Nähe dieser Stadt, der Anblick eines Arbeiters, der in schwindelerregender Höhe am Rand einer Eisenkonstruktion beschäftigt war, schlagartig wieder zur Vernunft brachte. Und nun sah ich in einem Geistesblitz, dass ich mich in die althergebrachte Blindheit verstrickt und das Leben durch die theoretische Brille des unbeteiligten Beobachters betrachtet hatte. Während ich echtes Heldentum und das Schauspiel des auf die Folter gespannten Menschen herbeisehnte, hatte ich nie die weiten Bereiche des Heldentums wahrgenommen, die mich unmittelbar, gegenwärtig und lebendig umgeben. Ich konnte mir Heldentum nur tot und einbalsamiert vorstellen, etikettiert und kostümiert wie in den Büchern der Romantik. Und doch lag es dort plötzlich vor mir, im täglichen Leben der Arbeiterklasse. Nicht nur unter Waffen f geklirr und auf Todesmärschen ist Heldentum zu suchen, sondern auf jeder Eisenbahnbrücke und in jedem ffeuersicheren Gebäude, das heute gebaut wird. In Güterzügen und auf dem Deck der Fracht-
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schiffe ist ebenso unaufhörlich Mut gefor f dert wie in Viehzuchtbetri t eben und in Minen, auf Holz-Flößen, bei der Feuerwehr und bei der Polizei; und der Forderung wird meist entsprochen. Dort wird, an jedem irgendwo anders, die menschliche Natur t an ihre äußersten Grenzen gefüh f rt. Und wo immer eine Sense, eine Axt oder eine Schaufel geschwungen werden, stellen sich Schweiß und Schmerzen ein; mit ihren ausdauernden K Kräfften ttrotzen sie stund t enlang äußersten Belastungen. Als ich inmitten all dieses von niemandem idealisierten heroischen Lebens um mich herum erwachte, ffiel es mir wie Schuppen von den Augen; und eine Welle der Sympathie mit dem gewöhnlichen Leben der gewöhnlichen Menschen, die größer war als alles, was ich jemals zuvor empfunden hatte, erfül f lte meine Seele. Es schien mir plötzlich so, als ob die Tugend mit schwieligen Händen und dreckiger Haut die einzige Tugend wäre, die es wert sei, beachtet zu werden. Jede andere Tugend posiert nur. Nur diese Tugend ist, im Gegensatz zu allen anderen, absolut ehrlich und einfach, sie erwartet weder Ehrungen noch Anerkennung. Dies sind unsere Soldaten, dachte ich. Diese sind die eigentlichen Säulen unserer Gesellschaft, die Spender unseres Lebens. Als ich vor vielen Jahren einmal in Wien war, hatte ich ein ähnliches Gefüh f l der Bewunderung und Ehrfurcht angesichts von Bäuerinnen, die täglich mit ihren Produkten vom Land auf den Markt kamen. Viele von ihnen waren sehr alt, runzelig und braungebrannt, mit Kopftüchern und kurzen Jäckchen. Mit Socken aus dicker Wolle an ihren Waden stapften sie durch die prächtigen Straßen, sahen weder nach rechts noch nach links, beugten sich der Pflicht, beneideten niemanden, waren demütig und bescheiden. Und doch trugen sie, wenn man genau darüber nachdachte, das gesamte Gefüge der Pracht und der Korruption dieser Stadt auf ihrem gekrümmten Rücken. Denn wo wäre etwas davon zu haben, ohne ihre unermüdliche, kaum entlohnte Arbeit auf den Feldern? Und so ist es auch bei uns: Nicht unseren Generälen und Dichtern, so dachte ich, sollten in einer Stadt wie Boston Denkmäler gewidmet werden, sondern den italienischen und ungarischen Arbeitern, die die U-Bahn gebaut haben. Sofern f jemand von Ihnen Tolstoi gelesen hat, dann sehen sie, dass ich ganz ähnlich empfand wie er. Ich teilte seinen Abscheu gegen alles, was üblicherweise als distinguiert gilt, und vergöttlichte ausschließlich den Mut, die Geduld, Freundlichkeit und Einfach f heit des aufre f chten natürlichen Menschen. Wo ist nun unser Tolstoi, ffragte ich mich, der die Wahrheit all dessen zu uns nach Hause, an unseren amerikanischen Busen trägt, der uns die Augen öfff net und uns von jener fal f schen literarischen Romantik entwöhnt, aus der sich unsere elende „Kultur“ – wie sie sich selbst nennt – speist? Göttliches fin f det sich hierzulande überall, und unsere „Kultur“ ist zu kleingeistig und beschränkt, um dies auch nur zu ahnen. Könnten uns Autoren wie William Dean Howells oder Rudyart Kipling hier weiterhelfen f ? Oder sind sie immer noch zu tief mit jener angestammten Blindheit geschlagen und nicht menschlich genug, um uns die inneren Freuden und die Bedeutsamkeit des Arbeiterlebens wirklich zu enthüllen? Müssen wir auf jemanden warten, der selbst als Arbeiter geboren wird, auff wächst und lebt, der aber durch die Gnade des Himmels auch über eine literarische Stimme verfügt?
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Und so beschloss ich diesen Tag mit dem Gefühl, dass sich mein Blick erweitert hatte, ja mit etwas, das es durchaus verdient, eine gesteigerte Einsicht in die religiöse Dimension des Lebens genannt zu werden. Was bedeuten schon in Gottes Augen die sozialen Differenzen, die geistigen und kulturellen Unterschiede, die Unterschiede in Sauberkeit und Mode? All die anderen Kuriositäten und Extravaganzen, aus denen die Menschen so wunderbarerweise ihren Stolz beziehen, wurden so unbedeutend, dass sie praktisch jede Relevanz verloren; und alles, was blieb, war die Tatsache, dass wir alle hier sind, eine Vielzahl von Schiffen f auf dem Meer des Lebens, die mit ihren je eigenen Gefah f ren kämpfen f , die jedes für sich all seinen Mut und seine Güte aufbi f eten. Mut, Geduld und Freundlichkeit zu praktizieren, ist der entscheidende Punkt bei der ganzen Sache; die Unterschiede der Positionen können letztlich nur als Angelegenheit der Diversifiz f ierung einer Oberfläche begriffen f werden, auf die sich die Effekte tieferliegender Tugenden auswirken. In dieser Hinsicht findet sich das tiefste menschliche Leben überall und währt ewig. Und wenn irgendwelche Eigenschaften von Menschen nur in einigen besonderen Individuen existieren, dann gehören sie zur bloßen Farbe und Dekoration der Oberfläche. Aus dieser Sicht werden die Leben der Menschen zugleicht erhöht und erniedrigt – erhöht in ihrer gewöhnlichen inneren Bedeutung, erniedrigt in ihrer äußeren Pracht und Herrlichkeit. Doch wir müssen gestehen, dass die Einsicht, die in dieser Umwertung liegt, wieder verdeckt zu werden droht; und das die überlieferte Blindheit immer wiederkehrt und uns einhüllt, so dass wir wieder einmal bei der Überlegung enden, die Schöpfung könne keinem anderen Zweck dienen, als Situationen der Bewährung und konventionelle Auszeichnungen ffür herausgehobene Einzelne zu schaffen. Dann muss wieder ein neuer Gleichmacher in der Gestalt eines religiösen Prophet auftr f eten – Buddha, Christus, der heilige Franziskus, ein Rousseau oder ein Tolstoi – um uns von unserer Blindheit zu erlösen. Doch nach und nach kommt es tatsächlich zu einigermaßen stabilen Fortschritten; denn die Welt wird tatsächlich menschlicher, und der Glaube an die Demokratie setzt sich immer weiter durch. Dies wurde, wie ich bereits ausgeführt habe, für einige Zeit zu meiner festen Überzeugung und erfüllte mich mit großer Zufrie f denheit. Ich habe die Sache hier in die Form einer persönlichen Erinnerung gebracht, so dass ich Sie direkter und vollständiger zu ihr führen und so Zeit sparen konnte. Aber jetzt werde ich den Rest der Angelegenheit mit Ihnen in einer unpersönlicheren Weise diskutieren. Tolstois Philosophie der Gleichheit begann lange Zeit vor dem Ausbruch seiner melancholischen Krise, die in seiner wunderbaren Schrift f Meine Beichte (1882) beschrieben wird und die seine im engeren Sinne religiösen Werke vorbereitet. In seinem Meisterwerk Krieg und Frieden (1868) – sicherlich der bedeutendste Roman aller Zeiten – wird die Rolle des eigentlichen Helden einem armen kleinen Soldaten namens Karataieff zugedacht, der so hilfsbereit, so heiter und so ffromm ist, dass sich dem Blick auf ihn, trotz seiner Unwissenheit und Schmutzigkeit, die Tore des Himmel öffnen f , die für Karataieff f selbst verschlossen bleiben; dieses Beispiel wird von Tolstoi offen f bar deshalb gegeben, um dem Leser die Präsenz Gottes in der Welt vor Augen zu fführen. Der arme kleine Kara-
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taieff wird von den Franzosen gefangen genommen; und als er vor lauter Elend und Fieber zu erschöpft ist, um weiter zu marschieren, wird er wie viele andere Gefangene beim berühmten Rückzug aus Moskau erschossen. Die letzte Ansicht die man von ihm bekommt, zeigt seine kleine Gestalt, die an einer weißen Birke lehnt und klaglos das Ende erwartet. „Je tieferen Einblick“, schreibt Tolstoi in Meine Beichte, „ich in das Leben der arbeitenden Menschen hatte, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, dass sie einen wirklichen Glauben hatten, dass ihr Glaube für sie unentbehrlich ist, dass er allein ihnen den Sinn des Lebens und die Möglichkeit des Lebens gibt. [...] Im Gegensatz zu den Menschen unseres Kreises, die um der Entbehr t ungen und Leiden willen gegen das Schicksal grollen und sich dagegen auflehnen, nehmen diese Menschen Krankheit und Kummer ohne jede Regung des Zweifels, ohne Widerstreben hin, in der ruhigen, festen Überzeugung, dass all dies – gut sei. [...] Je klüger wir sind, desto weniger begreifen f wir den Sinn des Lebens. In Leiden und Tod sehen wir nur eine hässliche Ironie, während diese Menschen ruhig leben, leiden und sich dem Tod nähern können, ja, leiden mit Ruhe, sehr häufig sogar mit Freudigkeit. [...] Und solche Menschen, denen all das fehlt, was ffür mich und Salomo das einzige Heil des Lebens ist, und die trotzdem das größte Glück empfinden, gibt es eine ungeheuere Menge. Solche Menschen, die den Sinn des Lebens begriffen f hatten, die zu leben und zu sterben wussten, zählten nicht nach zweien, nicht nach dreien, nicht nach zehnen, sondern nach Hunderten, Tausenden, Millionen. Sie alle [...] verrichteten still ihr Tagewerk, trugen Entbehrungen und Leiden, lebten und starben, und sahen darin nicht ein eitles Nichts, sondern ein Gut. Und ich gef ich in ihr Leben eindrang, [...] desto mehr wann diese Menschen lieb. Je tiefer gewann ich sie lieb, und desto leichter wurde es mir selber, zu leben. [...] Das Leben unseres Kreises, der Reichen, Besitzenden und Gebildeten wurde mir nicht nur widerwärtig, sondern verlor für mich jeglichen Sinn. Alle unsere Handlungen, unsere Anschauungen, unsere Wissenschaft, unsere Künste – alles bekam für mich eine neue Bedeutung: Mir war klar geworden, dass all dies nichts als Spielerei sei, dass man einen Sinn darin nicht suchen könne. Das Leben des gesamten arbeitenden Volkes aber, der ganzen Menschheit, die das Leben schafft, stand klar vor mir in seiner wahren Bedeutung. Ich hatte erkannt, das ist das Leben selbst. Der Sinn, deriv diesem Leben beigelegt wird, ist die Wahrheit, und so nahm auch ich ihn an.“
In ähnlicher Weise appelliert Robert Louis Stevenson an unseren Glauben an die elementare Tugendhaftigkeit der Menschheit: „Was für eine wunderbare Sache“, schreibt er, „ist dieser Mensch! Wie erstaunlich sind seine Eigenschaften! Seine arme Seele ist zwischen so vielen Nöten gefangen, von Rohheit und Niedergang umgeben, unwiederbringlich ist er dazu verurteilt, zum Opfer f seiner Mitmenschen zu werden; die, die ihn beschuldigt haben, ein barbarisches Wesen zu sein, waren ein fest f er Bestandteil seines Schicksals [...] [Aber] es spielt keine Rolle, wo wir hinschauen, in welcher Klimaregion wir ihn beobachten, in welchem Stadium der gesellschaftl f ichen Entwicklung, in welcher Tiefe f der Unwissenheit, mit welcher falschen Moral belastet; denken wir an einen Matrosen auf hoher See, der an Not und abscheuliche Vergnügen gewöhnt ist, dessen größte Hoffnu f ng das Spiel einer Geige in einer Kneipe oder ein herausgeputztes Weib ist, das sich ihm für f Geld verkauft, und der trotz all dem einfach, unschuldig, fröhlich, freu f ndlich wie ein Kind, ein ffleißiger Arbeiter, tapfer für andere die Gefahr auf sich
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William James: Die Texte nimmt, zu ertrinken. [...] Ein anderer, der in den Slums der Städte lebt, dessen Leben zwischen Millionen belanglosen mechanischen Beschäftigungen gef ung auf Veränderung in der Zukunft, f ohne jede Freude zwängt ist, ohne Hoffn in der Gegenwart, und doch fest f in seinen Tugenden, mit ehrlichen Augen, freundlich zu seinen Nachbarn, der sich vielleicht nicht vom Licht der Kaschemmen in Versuchung führen lässt. [...] Häufig f zahlt er der Welt ihren Hohn mit Arbeit zurück und steht fes f t über jedem Zweifel; [...] Überall wird eine Tugend gelebt oder empfun f den, überall Anstand des Denkens und Mut, überall die Insignien einer uneigennützigen Güte. – Ach, wenn ich Ihnen dies nur zeigen könnte! Wenn ich Ihnen diese Männer und Frauen überall auf der ganzen Welt zeigen könnte, in jeder Phase der Geschichte, unter der Herrschaft einer jeden Irrlehre, in allen Phasen des Niedergangs, ohne Hoffnu f ng, ohne Hilfe, ohne Dank, immer noch den aussichtslosen Kampf der Tugend kämpfen f d, immer noch um ein Fitzelchen Ehre ringend, die armen Kleinode ihrer Seelen!“v
All dies ist so wahr wie herrlich, und wir benötigen dringend unsere Tolstois und Stevensons, um dafür empfänglich zu bleiben. Aber Sie erinnern sich sicherlich an den Iren, der auf die Frage „Ist nicht der eine Mensch so gut wie der andere?“ antwortete: „Ja, und auch noch viel besser!“ Tolstois Kritik unserer sozialen Vorurteile scheint mir in einer vergleichbaren Weise überzogen zu sein. Seine Liebe gilt ausschließlich den Bauern, gegenüber gebildeten Menschen verschließt er sein Herz vollkommen. Nehmen wir an, dass es in Chautauqua wenig Möglichkeiten gegeben hat, sich moralisch zu bewähren, dass dort kaum Schweiß floss und sich die Belastung der Muskeln in Grenzen hielt. Gleichwohl können wir sicher sein, dass sich tief in den Seelen der Menschen dort eine moralische Kraft verbirgt, einige innere Spannungen und lebendige Tugenden, die sich bisher nicht gezeigt haben, die aber, wenn es denn darauf ankommen sollte, ans Tageslicht treten würden. Und schließlich drängt sich uns erneut die Frage auf: Ist es so sicher, dass die Kontexte und äußeren Umstände tugendhaften Handelns so wenig für die Bewertung des Ergebnisses zählen? Ist der funktionale Nutzen und die Bedeutung für das Große und Ganze bestimmter Tugenden wie Mut, Güte und Geduld nicht größer, wenn derjenige, der diese Tugenden ausübt, gebildet ist und langfri f stige Projekte verfolgt, als wenn er ein ungebildeter Niemand ist, der Holz schlägt und Wasser schöpft nur, um sich am Leben zu halten? Tolstois Philosophie ist sicher zutiefst erhellend, bleibt aber doch eine leere Abstraktion. Sie riecht zu sehr nach seinem orientalischen Pessimismus und Nihilismus, der die gesamte phänomenale Welt mitsamt ihren Tatsachen und Unterschieden zu einer geschickten Täuschung herabwürdigt. Unser westlicher gesunder Menschenverstand wird die Welt der Erscheinungen niemals als bloße Täuschung deuten. Er räumt ohne Einschränkungen ein, dass die inneren Freuden und Tugenden eine wesentliche Rolle im Leben spielen, aber er ist sich auch sicher, dass auch einige der Rollen der Nebendarsteller wichtig sind. Wenn die Romantik lächerlich wirkt, weil sie das Heroische nur dann anerkennt, wenn es in Büchern als solches bezeichnet und entsprechend kostümiert wird, dann ist es wirklich genauso lächerlich, es nur in den schmutzigen Stiefeln und verschwitzten Hemden der Erntearbe r iter zu erblicken. Es findet sich demgegenüber einfac f h in jeder Verkleidung: in Chautauqua, hier in Ihrem Col-
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lege, in der Lagerhalle und im Güterzug; und am Hof des russischen Zaren. Wenn wir die Bedeutsamkeit eines Menschen beurteilen, kombinieren wir instinktiv zwei Dinge. Wir begreifen sie als eine Art Summe (wenn eine solche Summe nur berechnet werden könnte) seiner inneren Tugend und seiner äußeren Position – nicht einzeln genommen, sondern beide miteinander verbunden. Wenn die äußeren Unterschiede keine Bedeutung für f das Leben hätten, warum sollte es dann eine solch immense Vielfalt davon geben? Sie müssen also ebenso wesentliche Bestandteile der Welt sein. Prüfen f wir einfach Tolstois Vergöttlichung der einfach f en Handarbeiter an den Tatsachen. Walter Wyckoff f beschreibt, nachdem er als ungelernter Arbeiter beim Abriss einiger Gebäude in West Point beteiligt war, den geistigen Zustand der Klasse von Menschen, der er sich vorübergehend freiwillig anschloss, wie folgt: „Die wichtigsten Merkmale unserer Lage liegen offen f zutage. Wir sind erwachsene Männer und haben keinen festen Beruf. Auf dem Arbeitsmarkt stehen wir bereit, dem Meistbietenden unsere Muskelkraft für so und so viele Stunden pro Tag zu verkaufen. Wir befinden uns also auf der untersten Stufe der Arbeitswelt. Und indem wir unsere Muskelkraft auf dem freien Markt ffür das verkaufen f , was immer sie auch einbringen wird, verkaufen wir sie unter besonderen Bedingungen. Es ist das einzige Kapital, über das wir verfügen. Wir haben keine Reserven zur Sicherung des Lebensunterhalts und können insofer f n nicht auf einen Mindestlohn bestehen. Wir verkaufen, f um drohenden Hunger abzuwenden. Im Großen und Ganzen haben wir nur die Wahl, unsere Arbeitskraft k zu verkaufen f oder zu verhungern; und da der Hunger sich schon nach ein paar Stunden einstellt, haben wir keine andere Möglichkeit, dieses Bedürfnis f zu befriedi f gen, als unsere Arbeitskraft sofort zu den Konditionen des Marktes zu verkaufen. [...] Der Arbei r tgeber kauft Arbeit auf einem für ihn kostspieligen Markt; er beansprucht von unserer Arbeitskraft so viel, wie er bekommen kann. Der Chef hat sich für diesen Zweck abgesichert und kennt seine Sache gründlich. Er hat das alleinige Kommando über uns. Er sah uns niemals zuvor, und er wird uns, wenn die letzten Trümmer weggeräumt sein werden, wieder auf die Straße setzen. In der Zwischenzeit muss er aus uns das größtmögliche Maß an körperlicher Arbeit herausquetschen, zu der wir einzeln und gemeinsam fähig sind. Wenn er einige von uns bis zur Erschöpfun f g antreibt und diese nicht in der Lage sein sollten, die Arbeit ffortzusetzen, wäre das für ihn kein Verlust, denn der Markt würde ihn bald mit anderen versorgen, die willig unsere Plätze einnehmen. [...] Wir wissen nicht viel, aber so viel sehen wir deutlich, dass wir unsere Arbeit am liebsten dort verkauft f haben, wo wir sie am teuersten verkaufen konnten, und dass unser Arbeitgeber sie am liebsten dort kauft, f wo sie am billigsten ist. Wenn er viel bezahlt, dann verlangt er das Äußerste an Arbeitskraft; und wir haben einen starken Drang soviel von dieser Kraft zu behalten wie wir können. Einer Arbeit wie der unsrigen feh f lt, so scheint es uns, alles, was der Arbeit eine gewisse Würde verleihen könnte. Wir empfinden keinen persönlichen Stolz über ihre Fortschritte und sehen keine Gemeinsamkeiten zwischen unseren Interessen und denen unserer Arbeitgeber. Wir kennen keine Freuden der Verantwortung, keinen Sinn für Leistung, sondern nur die dumpfe Monotonie der Abrissarbeit; unsere einzige Sehnsucht richtet sich auf das Signal der Sirene, das die Arbeit beendet, und nach dem Lohn. [...] Und indem wir sind was wir sind, der Bodensatz des Arbeitsmarktes, ohne Aussicht auf feste Anstellungen und ohne Organisation, die uns vertritt, haben wir keine anderen Erwartungen mehr, als unter
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William James: Die Texte dem wachsamen Auge unseres Chefs wie Lohnsklaven zu arbeiten und gefeu f ert zu werden. [...] All dies dient dazu, uns zu sagen, dass unser Leben hart, vi öde und trostlos ist.“
Und in solchen harten, öden und trostlosen Umständen sollte sicher niemand dauerhaft bleiben müssen. Doch warum leben Menschen so? Weil sie so schmutzig sind? Nun, Fridtjof Nansen wurde auf seiner Nordpolexpedition wesentlich schmutziger, und wir denken deshalb nicht schlecht über ihn. Ist es die Empfindungslosigkeit? Unsere Soldaten müssen erheblich empfindungsloser werden, und wir loben sie in den Himmel. Ist es die Armut? Die Armut begreifen wir in vielen Fällen als das letzte Tüpfel f chen auf einer heroischen Karriere. Ist es die sklavische Gebundenheit an eine Aufgab f e, der Verzicht auf die fein f eren Vergnügungen? Eine solche Sklaverei und ein solcher Verzicht zählen zum inneren Kern jeder höheren seelischen Kraft und definieren sie geradezu – man lese nur die Berichte über die Hingabe der Missionare, die alles ihrer Aufgabe opfern f . Nichts von all diesen Dingen, weder für sich genommen noch alle zusammen, macht also ein solches Leben so abstoßend. Ein Mensch kann tatsächlich wie ein ungelernter Arbeiter leben, dessen Tätigkeiten verrichten, und doch als eines der edelsten Geschöpfe f Gottes gelten. Möglicherweise gab es einige solcher Arbeitskameraden in dem Trupp von Arbeitern, den unser Autor beschreibt, aber der Strom ihrer Seele verlief unterirdisch. Und auch unser Autor musste sich freiwillig in die angestammte Blindheit begeben, um sie erkennen zu können. Selbst wenn es solche moralisch außergewöhnlichen Arbeiter gäbe, was machte sie dann anders als alle anderen? Es gibt nur eine Antwort: Ihre Seelen haben sich einem inneren Ideal verpflichtet, während ihre Kameraden nichts dergleichen kennen, was diesen Namen verdient hätte. Die Ideale anderer Menschen gehören zu den Geheimnissen, zu denen wir fast nie wirklich durchdringen, obwohl ein Mensch, wenn er solche Ideale hat, auch immer darüber sprechen wird. In Wyckoffs f eigenem Fall wissen wir genau, was das selbst auferlegte Ideal war. Teilweise hatte er sich selbst beweisen wollen, dass er zu einer solchen Anstrengung fähig sei; aber vor allem wollte er einen Einblick in das Leben seiner Arbeitskameraden gewinnen und so seinen eigenen Horizont und seine eigene Empathiefähigkeit erweitern. Aus diesem Grund bekommen sein Schweiß und seine Mühe eine gewisse heroische Bedeutsamkeit und machen uns geneigt, ihn außerordentlich wertzuschätzen. Aber wir können uns leicht vorstellen, dass seine Kameraden ganz andere Ideale haben, ganz zu schweigen von Frauen und Babys. Man kann sich von der Heilsarmee anwerben lassen und die Stimme einer Nachtigall in seinem Herzen hören, die während des gesamten Dienstes das Lied der Buße und Vergebung singt. Oder unter den Kollegen könnte ein Apostel wie Tolstoi oder sein Landsmann Bondaieff gewesen sein, der sich frei f willig der Arbeit überlässt und sie als religiöse Übung begreift. f Für viele war sicher auch Klassenbewusstsein und -solidarität ein leitendes Ideal. Und wer weiß, wie weit die höhere Männlichkeit der Armut, über die Phillips Brooks so eindringlich geschrieben hat, im Bautrupp verbreitet war? „Die Armut“, schreibt Brooks, „ist ein raues, ödes Land, ein Land, in dem ich dankbar bin, wenn ich eine Beere oder eine Wurzel zu kauen fin f de. Aber
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wenn ich wirklich in diesem Land lebe, ihm eine Chance gebe sich mir zu offenbaren, es nicht dadurch entehre, dass ich es die ganze Zeit nach den Maßstäben der anderen Länder beurteile, dann kommen allmählich seine Qualitäten ans Licht. Fürwahr, kein Land kann so klar und deutlich wie das Land der Armut die moralische Geologie der Welt zeigen. Sehen Sie, wie die harten Rippen [...] sich stark und deutlich abzeichnen. Kein Leben wie eines in Armut könnte einen in vergleichbarer Weise zum Herzen der Dinge führen und die Menschen ihre Bedeutsamkeit spüren lassen, könnte sie in vergleichbarer Weise ffühlen lassen, wie das Leben ist, wenn wir alle weichen Kissen abgestreift und weggeworfen haben [...]. In der Armut kommen sich die Menschen sehr nahe und blicken einander in die Herzen; und am höchsten und besten ist an der Armut, dass sie einen Glauben an Gott fordert und ausspricht [...]. Ich weiß, wie oberflächlich und gefühllos, wie zynisch ein Lobgesang auf die Armut scheinen mag [...]. Aber ich bin sicher, dass die Würde und Freiheit des Armen, seine Selbstachtung und seine Energie, von seiner inneren Gewissheit abhängen, dass die Armut eine wahre Art des Lebens darstellt, mit ihren eigenen Möglichkeiten der Charakterbildung, mit ihren eigenen Quellen des Glücks und der Offen f barung Gottes. Lassen Sie ihn der Charakterlosigkeit widerstehen, die oft mit Armut gleichgesetzt wird. Lassen Sie ihn darauf bestehen, den Zustand, in dem er lebt, zu respektieren. Lassen Sie ihn diesen Zustand lieben lernen, so dass er nach und nach, sollte er je reich werden, aus der niedrigen Tür der alten vertrauten Armut mit einem echten Schmerz des Bedauerns heraustret t en wird, und mit einem wahren Sinn für die Ehre des engen Hauses, in dem er so lange gelebt hat.“vii
Die Unergiebigkeit und Gemeinheit des Lebens der gewöhnlichen Arbeiter besteht darin, dass es gerade nicht von solchen idealen Quellen bewegt wird. Wozu werden die Rückenschmerzen, die nicht enden wollenden Stunden und die Gefahren geduldig auf sich genommen? Um eine Priese Tabak zu bekommen, ein Glas Bier, eine Tasse Kaffe f e, eine Mahlzeit und ein Bett, und um am nächsten Tag neu beginnen zu können und sich so weit wie möglich vor der Arbeit zu drücken. Das ist der wirkliche Grund, warum wir kein Denkmal für die U-Bahn-Arbeiter errichten, auch dann wenn sie unsere Wehrpflic f htigen sind, und auch dann, wenn in gewisser Weise unsere Stadt auf den Leiden ihrer Herzen, Rücken und Schultern gebaut ist. Und deshalb errichten wir unseren Soldaten Denkmäler, deren äußere Bedingungen sogar noch brutaler sind. Wir denken von den Soldaten, dass sie einem Ideal gefolgt sind, von den Arbeitern denken wir dagegen, dass sie keinem gefolgt sind. Sie sehen, wie sich der Plot langsam verdichtet, und wie seltsam sich die Komplexität dieser unserer wunderbaren menschlichen Natur unter unseren Händen zu entwickeln beginnt. Wir haben die Blindheit und Taubheit füreinander kennengelernt, die unser natürliches Erbe zu sein scheint. Und dieser zum Trotz, wurden wir dazu geführt, einen inneren Sinn anzuerkennen, der das Leben der anderen motivieren könnte, auch wenn er uns selbst auf ewig verschlossen bleibt. Und nun kommen wir dazu zu sagen, dass ein solch innerer Sinn für uns nur dann vollständig und gültig sein kann, wenn die innere Freude, der Mut und die Ausdauer des anderen mit einem Ideal verbunden sind. Aber was genau verstehen wir unter einem Ideal? Können wir es nicht genauer beschreiben? In gewisser Weise können wir das. Ein Ideal, muss zum Beispiel
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etwas sein, das wir geistig erfassen, etwas, dessen wir uns, sofern wir es haben, bewusst sind; und es muss mit dieser Art von Vision, Antrieb und Helligkeit einhergehen, die wir letztlich bei allen geistigen Tatsachen antreffen f . Zweitens muss in jedem Ideal ein Novum enthalten sein, es muss zumindest für denje n nigen neu sein, der von dem Ideal ergriffen wird. Abgestumpfte Routine lässt sich mit Idealität nicht vereinbaren, obwohl es sein kann, dass das, was für den einen neu ist, für den anderen eine abgestumpfte Routine darstellt. Daran sieht man, dass es nichts absolut Ideales geben kann: Ideale bleiben abhängig von denen, die ihr Leben an ihnen ausrichten. Darüber, wie wir aus der Gosse herauskommen, müssen sich die meisten von uns hier nicht den Kopf zerbrechen, aber ffür viele unserer Brüder ist es das legitimste und motivierendste Ideal. Nun sehen Sie sofor f t, dass Ideale, nackt, abstrakt und unmittelbar genommen, die wertlosesten Dinge im Leben sind. Jeder hat sie in der einen oder anderen Form, persönliche oder allgemeine, richtige oder ffalsche, hohe oder niedrige; und selbst die hoffn f ungslosesten Sentimentalisten, Träumer, Säufer, f Drückeberger und Verseschmiede, die niemals ein Quentchen Anstrengung, Mut oder Ausdauer zeigen, verfügen möglicherweise über eine reichhaltige Skala. Bildung, die unseren Horizont und unsere Perspektiven erweitert, ist ein Mittel zur Vervielfäl f tigung unserer Ideale sowie zur Erfin f dung neuer. Und Ihr Profes f sor wäre mit seinem gebügelten Hemd und seiner Brille, wenn ein Bestand an Idealen ganz allein ausreichend wäre, um einem Leben Bedeutsamkeit zu verleihen, der Mensch, der diese Bedeutsamkeit am absolutesten und tiefsten verkörpern würde. Tolstoi, der ihn ffür eine eingebildete und pedantische Karikatur halten würde, wäre völlig blind; und all unsere neuen Einblicke in die Göttlichkeit der körperlichen Arbeit zielten völlig an der Wahrheit vorbei. Aber solche Folgerungen sind, wie Sie instinktiv ffühlen werden, unberechtigt. Je mehr Ideale ein Mensch hat, desto mehr werden Sie ihn im Großen und Ganzen verachten, zumindest, wenn die Sache damit für f ihn erledigt ist und wenn keine der Tugenden des Arbeiters mit auf den Plan gerufen werden – wenn kein Mut bewiesen, keine Entbehrungen erlitten, kein Schmutz und keine Narben beim Versuch zugezogen werden, die Ideale zu verwirklichen. Es ist ganz offe f nsichtlich, dass etwas mehr dazu gehört als der bloße Besitz von Idealen, um einem Leben soweit Sinn und Bedeutsamkeit zu geben, dass es den anderen Menschen als Vorbild dienen kann. Inneren Seelenfrieden mag man vielleicht mit seinen Idealen erreichen, aber das ist eine rein sentimentale Angelegenheit. Um uns Außenstehenden, die wir uns um unsere eigenen Idealen kümmern, den Tribut unserer fre f iwilligen Anerkennung abzunötigen, muss ein Mensch seine Idealbilder mit dem harten Stoff f der Arbeitertugenden stützen; wenn wir einen tiefen, markanten und soliden Charakter haben wollen, müssen wir die sentimentale Oberfläche um die Dimension eines aktiven Willens erweitern. Die Bedeutsamkeit eines menschlichen Lebens, jedenfal f ls soweit sie öffentlich vermittelbar und erkennbar sein kann, ist also das Ergebnis einer Ehe zweier höchst unterschiedlicher Elternteile, von denen jedes allein unfru f chtbar bleibt. Die Ideale, für sich genommen, gewinnen keine Wirklichkeit, die Tugenden ffür sich genommen ergeben nichts Neues. Und lassen wir die Orientalisten und Pes-
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simisten sagen, was sie wollen, der tiefste – oder jedenfalls vergleichsweise tiefste – Sinn des Lebens scheint in der Art seines Fortschreiten zu liegen, in der seltsamen Vereinigung von Wirklichkeit mit der Neuheit von Idealen, denen vom Leben Konstanz verliehen wird. Die Aufgabe dessen, was wir Intelligenz nennen, besteht darin, neue Ideale zu erkennen. Nicht die Intelligenz aller Menschen reicht aus, um sagen zu können, welches Novum ideal ist. Für viele wird das Ideal anscheinend immer nur zu den älteren vertrauten Sachen gehören. In diesem Fall wird der Charakter, wenn auch nicht vollständig bedeutsam, so doch immerhin noch in einer pathetischen Weise bedeutend sein. Wenn wir nun also entscheiden sollen, welcher Faktor für den menschlichen Charakter am wichtigsten ist, die Kraft der Tugend oder die intellektuelle Weite, müssen wir uns auf die Seite Tolstois schlagen, und die einfach f e Treue zu seinem Ideal ernennen, die jeder gewöhnliche Mensch zeigen kann. Aber nun ffürchte ich, dass Sie mir sagen könnten, ich wäre mit all meinen Drehungen und Wendungen zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Es sieht so aus, als nehme ich Fäden auf, um sie gleich wieder fallen zu lassen. Zunächst ging ich auf Chautauqua ein, und ließ es liegen; dann auf Tolstoi und seine Heroisierung der niedrigen Arbeit, und ließ ihn liegen; und schließlich nahm ich mir Ideale vor und scheine nun auch die wieder fallen zu lassen. Aber beachten Sie bitte, in welchem Sinn ich sie fallengelassen habe. Es geschah immer nur dann, wenn die Ideale behaupten, dass nur sie allein das Leben von seiner Bedeutungslosigkeit erlösen können. Kultur und Raffinement allein reichen nicht aus, um dies leisten zu können. Idealische Bestrebungen genügen nicht, wenn sie nicht mit Mut und Schneid verbunden sind. Aber auch Mut und Schneid werden in ihrer zähen Ausdauer und Empfindungslosigkeit gefäh f rlich, wenn sie für sich allein stehen bleiben. Damit ein Leben obje b ktiv und signifikant bedeutsam werden kann, muss es eine gewisse Art von Vereinigung geben, eine chemische Verbindung zwischen diesen Prinzipien. Natürlich ist dies eine etwas vage Schlussfol f gerung. Aber in Fragen des Lebenssinns und des Wertes können Schlussfolgerungen nie völlig exakt sein. Die hilfrei f chere und sensiblere Antwort ist hier immer eine des mehr oder weniger, ein Gleichgewicht aus Gefühl, Einsicht und gutem Willen. Aber dies ist eine Antwort, ein echtes Ergebnis. Und mir scheint es, dass sich unsere Augen auf dem Weg zu dieser Antwort ffür eine Reihe wichtiger Phänomene geöffn f et haben. Einige von Ihnen sind sich nun vielleicht deutlicher als noch vor einer Stunde der Tiefe jener Werte bewusst, die Sie, verborgen in ffremden Leben, umgeben. Und wenn Sie fragen, wie viel Sympathie Sie für diese Werte aufbringen sollten, obwohl sie Ihren eigenen Idealen nicht entsprechen, haben sie in dieser Vorstellung einer Kombination der Ideale mit aktiven Tugenden gleichwohl einen groben Entscheidungsmaßstab. In jedem Fall hat sich Ihre Vorstellungskraft erweitert. Sie entdecken in der Sie umgebenden Welt das Baumaterial für ein wenig mehr Bescheidenheit Ihrerseits, für Toleranz, Ehrfurcht und Liebe zu anderen; und Sie empfinden ein gewisses inneres Glück angesichts der zunehmenden Bedeutsamkeit unseres gewöhnlichen Lebens. Dieses Glück ist eine religiöse Inspiration und ein Element geistiger Gesundheit. Es ist weit wertvoller als große
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Mengen jener technischen und genauen Infor f mationen, die wir Ihnen als Profes f soren vermitteln sollen. Um Ihnen zu zeigen, was ich mit diesen Worten meine, will ich kurz ein praktisches Beispiel geben und dann zum Ende kommen. Wir leiden heute in Amerika an dem, was allgemein die Arbeiter-Frage genannt wird. Wenn Sie in die Welt schauen, wird jeder von Ihnen sich mit den vielfäl f tigen Facetten dieser Frage konfrontiert sehen. Ich verwende den kurzen Begriff Arbeiter-Frage, um damit alle Arten von anarchistischer Kritik und sozialistischen Proje o kten ebenso abzudecken, wie die konservativen Widerstände, die sie provozieren. Soweit dieser Konfli f kt ungesund und bedauerlich ist – und ich denke, dass er dies nur in begrenztem Umfang ist –, besteht sein Ungesundsein allein in der Tatsache, dass die Hälfte unserer Landsleute völlig blind ist für die innere Bedeutsamkeit des Lebens der anderen Hälfte. Sie erkennen nicht die Freuden und Leiden, sie scheitern dabei, die moralische Tugend zu fühlen und sie vermuten nicht, dass hier geistige Ideale vorhanden sind. Beide Seiten missverstehen die jeweils andere auf der ganzen Linie, betrachten einander wie eine Gruppe von gefährlich gestikulierenden Automaten, oder machen, wenn sie versuchen, auf die inneren Motivationen zu schließen, die schrecklichsten Fehler. Oft kann sich der arme Mann den reichen nicht anders vorstellen als einen ffeigen, grenzenlos affek f tierten und verweichlichten Geizhals, der nach Sicherheit und Luxus strebt. Er ist für ihn kein Mensch, sondern eine Brieftasche oder ein Bankkonto. Und eine ähnliche Gier, die sich durch Enttäuschungen in Neid verwandelt, ist alles, was sich für viele reiche Menschen in den armen verkörpert. Und wenn der reiche Mann beginnt, sich gegenüber dem armen sentimental zu zeigen, begeht er große Fehler. So empfindet er etwa Mitleid angesichts genau der Aufga f ben und Anfälligkeiten des Armen, die streng genommen die Voraussetzung für die dauerhaftesten und charakteristischen Freuden des Reichen sind! Jeder ignoriert kurz gesprochen die Tatsache, dass Glück, Unglück und Bedeutsamkeit ein wirkliches Geheimnis sind, jeder heftet sie mit dem Anspruch der Ausschließlichkeit an irgendeinen lächerlichen Zug der äußeren Situation und jeder bleibt außerhalb des Horizonts des jeweils anderen. Die Gesellschaft hat sich vor diesem Hintergrund sicher in die Richtung auf ein neues und besseres Gleichgewicht entwickelt, und die Verteilung des Reichtums hat sich zweifellos langsam verändert. Solche Veränderungen hat es schon immer gegeben, und es wird sie bis zum Ende aller Zeiten geben. Aber wenn, nach allem, was ich gesagt habe, jemand von Ihnen erwartet, dass sie einen echten und wesentlichen Unterschied im großen Maßstab machen, das Leben unserer Nachkommen verwandeln werden, dann haben Sie die Botschaft meines gesamten Vortrags nicht erfas f st. Der wirkliche Sinn des Lebens ist in aller Ewigkeit der gleiche, – nämlich die Vereinigung eines außergewöhnlichen Ideals, wie speziell auch immer, mit Treue, Mut und Ausdauer, mit den Schmerzen eines Mannes oder einer Frau. Was und wo auch immer das Leben sein mag, besteht die Chance, dass diese Ehe auch wirklich geschlossen werden kann. Fitz-James Stephen schrieb vor vielen Jahren etwas hierzu, das weit beredter ist als alles, was ich dazu beitragen kann:
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„Die Great Eastern r oder einige ihrer Nachfah f ren werden vielleicht den Wellen des Atlantiks trotzen und die Meere überqueren, ohne dass die Passagiere das Gefühl haben, das ffeste Land verlassen zu haben. Die Reise von der Wiege zum Grab wird vielleicht mit einer ähnlichen Leichtigkeit vonstatten gehen. Fortschritt und Wissenschaft werden vielleicht vielen Millionen erlauben, ohne Sorgen, Schmerz und Angst zu leben und zu sterben. Sie werden eine angenehme Überfahr f t und viele gute Gespräche haben. Sie werden sich wundern, dass die Menschen überhaupt je an Schlachtenlärm, brennende Städte und sinkende Schiffe glaubten. Und wenn sie an das Ziel ihrer Reise kommen, dann werden sie ihres Weges ziehen und der Ort, den sie verlassen, wird sich ihrer nicht mehr erinnern. Aber es scheint unwahrscheinlich, dass sie ein vergleichbares Wissen in Bezug auf den großen Ozean, auf dem sie segeln, haben werden, mit seinen Stürmen und Wracks, Strömungen und Eisbergen, riesigen Wellen und mächtigen Winden, wie diejenigen, die jahrelang mit ihm kämpff ten, zusammengepfercht auf einem kleinen Boot, das, wenn es auch wenig andere Vorteile hatte, diejenigen, die auf ihm gefahren sind, mitten ins Zentrum der Zeit und der Ewigkeit geführt hat, zu ihrem Schöpfer und zu sich selbst, und sie zu einem klaren Blick auf ihre Beziehungen zu ihm und zueinander gezwungen hat.“viii
In diesem festen und dreidimensionalen Sinn, um ihn einmal so zu nennen, haben die Philosophen Recht, die behaupten, dass die Welt sich nicht verändert, dass es keinen wirklichen Fortschritt und keine wirkliche Geschichte gibt. Die geschichtlichen Wandlungen wären dann nur ein Oberflächenphänomen. Die sich verändernden Gleichgewichte und Umverteilungen vervielfäl f tigen dann nur unsere Möglichkeiten und räumen uns Chancen ein, neue Ideale zu entwickeln. Aber mit der Geburt eines jeden neuen Ideals verringert sich die Chance für f ein Leben, das auf älteren Idealen basiert, und es wäre vermessen, die Position eines allwissenden Kalkulators einzunehmen, der mit Zuversicht sagen kann, dass die absolute Summe des Lebenssinns einer bestimmten Epoche größer ist als die einer anderen. Ich weiß, ich spreche sehr allgemein und vermeide es, bestimmte Dinge anzusprechen, an die ich persönlich glaube. Aber man kann in einem Vortrag immer nur einen Punkt klären, und ich werde zufri f eden sein, wenn ich Ihnen meinen Standpunkt an diesem Abend zumindest ansatzweise habe vermitteln können. Es gibt Erfolge, und keine Veränderungen der äußeren Umstände des Lebens kann die Nachtigall von ihrer zeitlosen Bestimmung abhalten, in den Herzen der verschiedensten Menschen ihr Lied anzustimmen. Daran sollten wir uns vor allem erinnern. Wenn wir es nicht nur verbal zugeben können, sondern wirklich und wahrhaftig glauben, wie würden dann unser kkrampfha f ftes Insistieren, unsere Abneigungen und Ängste, dahinschmelzen! Wenn die Armen und die Reichen sich auf diese Weise sehen könnten, sub specie aeternit r tatis, wie sanft f würden sich ihre Konflik f te weiterentwickeln! Welche Toleranz und gute Stimmung würden in die Welt kommen, welche Bereitschaft f zu leben und leben zu lassen!
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3. Der Ethiker und das sittliche Leben
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Diese Abhandlung widmet sich in erster Linie dem Nachweis, dass eine dogmatisch und im Vorhinein aufge f stellte Ethik ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Sofern f wir etwas zum sittlichen Leben der Menschheit beitragen, bestimmen wir alle den Inhalt der Ethik mit. Solange nicht der letzte Mensch seine Erfahrungen gemacht und seine Antworten gegeben hat, kann es mit anderen Worten ebenso wenig eine endgültige Antwort in der Moral geben wie es eine letzte Antwort in der Physik gibt. In beiden Disziplinen gehören die Hypothesen, die wir vorläufig machen und die Handlungen, zu denen sie uns veranlassen, zu den Bedingungen, die fes f tlegen, wie diese Antwort lauten wird. Wie können wir nun als erstes denje n nigen charakterisieren, der eine Ethik zu entwerfen f sucht? Wir sollten ihn zunächst von allen Skeptikern unterscheiden. Der Ethiker will gerade kein Skeptiker sein. Aus diesem Grund kann man den ethischen Skeptizismus, der alles andere ist als ein Ergebnis philosophischer Ethik, nur als eine verbleibende Alternative zu aller Philosophie betrachten. Diese Alternative bedroht den Anfän f ger in der Philosophie und führt ihn dazu, dass er unter ihrem Einflu f ss entmutigt seinem ursprünglichen Ziel abschwört. Einem Ziel, das darin besteht, einen Überblick über die moralischen Beziehungen zu gewinnen, die auf dieser Welt Geltung beanspruchen, einen Überblick, der sie zur Einheit eines stabilen Systems verbindet und aus der Welt etwas macht, was man von einem ethischen Standpunkt aus ein wirkliches Universum nennen kann. Solange sich die Welt der Rückführung auf eine einheitliche Form nicht fügt und die Sätze der Ethik nicht gefes f tigt erscheinen, verfehlt der Philosoph sein Ziel. Gegenstand seines Studiums sind die Ideale, die er als in der Welt existierend vorfindet. Ihn leitet dabei seine gerade erwähnte Vision, diese Ideale in eine gewisse Form zu bringen. Die Verfolgung dieses Ziels kann als einer der bedeutendsten Faktoren innerhalb der Ethik angesehen werden, dessen Berechtigung nicht in Abrede gestellt werden darf. Es ist der positive Beitrag, den der Philosoph zur Lösung des Problems leistet. Aber es ist sein einziger positiver Beitrag. Zu Beginn seiner Untersuchung sollte er eigentlich keine anderen Ideale kennen. Wäre er am Sieg irgendeiner besonderen Art des Guten interessiert, dann würde er aufhören, Untersuchungsrichter des ganzen Falles zu sein und würde stattdessen zum Anwalt einer einzelnen Partei. Die Ethik befas f st sich mit drei Fragen, die strikt auseinander gehalten werden müssen. Nennen wir sie die psychologische Frage, die metaph a hysische Frage und die kasuistische Frage. Die psychologische Frage richtet sich auf die historische Genealogie unserer moralischen Ideen und Urteile. Die metaphysische Frage bezieht sich auf die eigentliche Bedeutung von Worten wie „gut“, „böse“ oder „Verpflichtung“. Die kasuistische Frage schließlich befasst sich mit dem Maß a des mannigfaltigen Guten und Bösen, das die Menschen anerkennen. Mit diesem Maßstab möchte der Philosoph die wahre Ordnung der menschlichen Verpflic f htungen aufstellen.
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I Die meisten Autoren, die zu unserem Thema Stellung nehmen, behandeln nur den psychologischen Aspekt. Wenn ein gewöhnlicher Theologe zu seiner Zufri f edenheit bewiesen hat, dass wir ein außerordentliches Vermögen namens „Gewissen“ benötigen, um sagen zu können, was gut und was schlecht ist, oder wenn ein populärwissenschaftlicher Schwärmer feierlich verkündet, dass der Apriorismus ein unzeitgemäßer Aberglaube ist und dass unsere moralischen Urteile Schritt für Schritt aus unserer Anpassung an die Umwelt hervorgegangen sind, dann glauben beide, sie hätten die Fragen der Ethik damit ein ffür alle Male beantwortet. Das vertraute Gegensatzpaar, Intuitionisten auf der einen und Evolutionisten auf der anderen Seite, das zur Charakterisierung aller möglichen Konfli f kte innerhalb der Ethik bemüht wird, bezieht sich in Wirklichkeit nur auf die psychologische Frage. Die Erörterung dieser Frage sieht sich so sehr auf besondere Einzelheiten verwiesen, dass es unmöglich ist, im Rahmen dieses Essays angemessen darauf einzugehen. Deshalb will ich meine eigene Meinung hierzu nur kurz und dogmatisch andeuten: Leute wie George und Jeremy Bentham, James und John Stuart Mill sowie Alexander Bain haben uns einen großen Dienst damit erwiesen, dass sie sich mit vielen unserer ethischen Leitbilder befas f st und nachzuweisen versucht haben, wie diese Leitbilder aus der Verbi r ndung einfac f her körperlicher Empfindungen mit Lust und Schmerz entstanden sind. Wenn sich etwas mit einer intensiven Lust verbindet, sind wir geneigt, es für gut zu halten. Und je unbestimmter dieses Gute ist, desto geheimnisvoller erscheint uns sein Ursprung. Es ist aber sicher nicht möglich, all unsere Gefühl f e und Neigungen derart einfach f zu erklären. Je gründlicher die Psychologie die menschliche Seele erforsc f ht, um so deutlichere Spuren sekundärer Gefühle ffindet sie, die die vielfältigen und interdependierenden Einflüsse der Umwelt auf unsere inneren Antriebe anders in Beziehung setzen als in Begriffen der Koexistenz und zeitlichen Abfolge, die alles sind, was der reine Empirizismus zugeben kann. Nehmen Sie etwa den Alkoholismus, die Schüchternheit, die Höhenangst, die Seekran k kheit, das Ohnmächtigwerden beim Anblick von Blut, die Empfänglichkeit ffür Musik, den Sinn für Humor, die Leidenschaft für Poesie, Mathematik oder Metaphysik: Nichts davon lässt sich vollständig durch Assoziation oder Nützlichkeit erklären. Zweifellos haben sie manches mit anderen Dingen gemeinsam, die man so erklären kann, und manches davon lässt einen künftigen Nutzen vorausahnen, da es in uns ja nichts gibt, was sich nicht irgendwie nutzen ließe. Ihren Ursprung jedoch haben sie in zufälligen Verschaltungen in unserem Gehirn, in Strukturen also, die unabhängig von der Wahrnehmung solcher angenehmen oder unangenehmen Gefühle entstanden. Viele unserer moralischen Anschauungen gehören sicher auch dieser sekundären, in der Hirnstruktur verankerten Art an. Sie beziehen sich auf abstraktere Passungsverhältnisse von Vorstellungen und widersprechen häufig f offen f allen aus Gewohnheit resultierenden Vorurteilen und allen Nützlichkeitserwägungen. Sobald wir über abgedroschene moralische Gemeinplätze, den Dekalog oder Poor 2 Richard’s Almanacs hinausgehen, verstricken wir uns in Reflexionen und kom-
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men zu Positionen, die aus der Sicht des gesunden Menschenverstandes nur als phantastisch und überspannt gelten können. Ein differe f nzierter Sinn für Gerechtigkeit, durch den sich manche Personen auszeichnen, ist entwicklungsgeschichtlich gesehen genauso exzentrisch wie die Leidenschaft für Musik oder für komplexe philosophische Spekulationen. Ein Gespür für f die innere Würde bestimmter geistiger Haltungen wie Friede, Gelassenheit, Bescheidenheit und Wahrhaftigkeit oder für f die sich im Charakter anderer Menschen offenb f arenden vulgären Züge wie Streitsucht, Furcht, rücksichtsloser Egoismus usw. lässt sich nur dadurch erklären, dass wir eine angeborene Vorliebe für f eine edle moralische Haltung rein um ihrer selbst willen haben. Das Edlere schmeckt besser, das ist alles, was wir dazu sagen könnten. Die „Erfah f rung“ bestimmter Konsequenzen kann uns zwar lehren, welche Dinge schlecht sind. Was aber haben Konsequenzen mit dem zu tun, was niedrig und gemein ist? Welche verborgenen Antriebe erfül f len uns mit Abscheu, wenn ein Mann zunächst den Liebhaber seiner Frau erschossen hat und wir dann hören, dass er sich wieder mit seiner Frau ausgesöhnt hat und beide behaglich zusammenleben? Oder wenn uns das Bild einer Welt vorgehalten würde, in der die Utopien von Charles Fourier, Edward Bellamy oder William Morris noch übertroffen f und Millionen Menschen glücklich leben würden – um den Preis allerdings, dass eine bestimmte verlorene Seele am Ende der Welt ein Leben in einsamer Qual führen müsste? Was sonst kann es sein, wenn nicht ein spezifisches und autonomes Gefühl f , das uns (selbst wenn wir den Drang verspürten, nach dem nahen Glück zu greifen) sofor f t ins Bewusstsein rufen würde, wie verwerflich das Auskosten eines solchen Glücks im vollen Bewusstsein seines Preises wäre? Welcher anderen Instanz als einem angeborenen Empfinden ffür einen moralischen Missklang kann man all die jüngeren Proteste gegen die gesamte Tradition einer vergeltenden Gerechtigkeit zuschreiben? Ich erwähne nur Tolstoi mit seinem Gedanken des Sich-nicht-Widersetzens, Edward Bellamy, der (in seinem Roman Dr. Hei H denhoff' f 's Process) Reue durch Vergessen ersetzt, und Jean-Marie Guyau mit seiner radikalen Verurteilung des Strafwesens. All diese Subtilitäten des moralischen Empfindens gehen ebenso weit über das hinaus, was man aus „Assoziationsgesetzen“ ableiten kann, wie die zarten Gefühle eines jungen Liebespaares über Verhaltenanweisungen bezüglich der „während der Verlobungszeit zu wahrenden Etikette“ hinausgehen, wie man sie in Benimmhandbüchern finden kann. Nein! Hier sind eindeutig rein innere Kräfte am Werk. Alle höheren, wirklich tiefgreifenden Ideale sind revolutionär. Sie lassen sich weit weniger als Resultate vergangener Erfahrungen erklären, denn als wahrscheinliche Ursachen zukünfti f ger Erfah f rungen. Sie sind nicht das Ergebnis einer Anpassung an die Umwelt: Im Gegenteil, die Umwelt muss lernen, sich ihnen anzupassen. Das ist alles, was ich im Moment zum psychologischen Aspekt des Themas 3 sagen kann. Im letzten Kapitel eines anderen Buches habe ich versucht, in allgemeiner Weise die Existenz von Beziehungen in unserem Denken nachzuweisen, die nicht lediglich die Verbindungen von Erfahrungen wiederholen. Unsere moralischen Ideale speisen sich mit Sicherheit aus vielen Quellen. Sie lassen sich
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nicht alle über den Wunsch erklären, körperliche Lust zu erlangen und Schmerz zu vermeiden. Dafür, f dass sie die psychologischen Tatsachen so nachdrücklich aufgezeigt haben, müssen wir den Intuitionisten dankbar sein. Ob wir diesen Dank auch den anderen Ideen dieser Schule entgegenbringen müssen, wird sich zeigen, wenn wir die anderen Fragen in Angriff f nehmen. Als nächstes ist die metaphysische Frage an der Reihe, die Frage also, was wir mit Worten wie „Verpflic f htung“, „gut“ und „schlecht“ meinen.
II Zunächst können wir fes f thalten, dass diese Worte in einer Welt, in der es keine fühlenden Wesen geben würde, keinen Sinn machten. Stellen wir uns einmal eine rein materielle Welt vor, die sich nur aus physikalischen und chemischen Tatsachen zusammensetzt und von Anfan f g an ohne einen Gott und ohne einen interessierten Beobachter existieren würde. Wäre es da überhaupt sinnvoll, von dieser Welt zu sagen, dass einer ihrer Zustände besser wäre als ein anderer? Oder, wenn gleich zwei dieser Welten existieren würden, die eine für besser oder schlechter als die andere zu halten, im moralischen Sinne besser oder schlechter und also nicht in dem Sinne besser oder schlechter, dass sie sich verschieden gut mit den privaten Interessen des Philosophen in Einklang bringen lassen? Gerade diese Privatinteressen müssen wir aus dem Spiel lassen, denn der Philosoph ist ja ein geistiges Wesen und wir fragen gerade, ob Gutes, Schlechtes und Verpflichtungen auf einer rein physikalischen Ebene vorhanden sind. In einer völlig empfindungslosen Welt gibt es keinen Zustan t d, in dem gut oder schlecht existieren könnten. Wie kann eine physikalische Tatsache einfach an sich selbst betrachtet „besser“ sein als eine andere? Bessersein ist keine physikalische Beziehung. In ihrer bloß materiellen Hinsicht kann eine Sache ebenso wenig gut oder schlecht wie angenehm oder schmerzhaft sein. Gut wozu? Gut für die Erzeugung einer anderen materiellen Tatsache, könnte an dieser Stelle jemand einwenden. Aber was könnte in einem rein materiellen Universum die Erzeugung jener anderen Tatsache erfor f derlich machen? Physikalische Tatsachen sind einfach f oder sie sind nicht. Weder wenn sie existieren noch wenn sie nicht existieren könnte man sinnvollerweise behaupten, dass sie Forderungen stellen. Wenn sie das täten, dann könnten sie das nur, weil sie Wünsche hätten. Und damit wären sie nicht länger rein physikalische Tatsachen, sondern Entitäten mit einer bewussten Empfindsamkeit. Gutsein, Schlechtsein und Verpflic f htungen müssen von irgendwem vertreten werden, um wirklich existieren zu können. Und der erste Schritt in der Ethik besteht darin zu sehen, dass eine rein unbelebte „Natur der Dinge“ sie niemals erkennen könnte. Moralische Beziehungen und Gesetze können nicht im Vakuum schweben. Sie sind vielmehr auf einen Geist angewiesen, der sie fühlt. Auf eine Welt, die nur aus physikalischen Tatsachen zusammengesetzt ist, können ethische Sätze keine Anwendung finden. Erst in dem Augenblick, in dem ein ffühlendes Wesen die Bühne des Universums betritt, besteht Aussicht auf die wirkliche Existenz von Gut und Böse. Die
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moralischen Beziehungen haben nun den ihnen gemäßen Zustand gefunden, und zwar im Bewusstsein dieses Wesens. Soweit es fühlt, dass etwas gut ist, macht es dies zugleich gut. Es ist gut eben ffür dieses Wesen. Und da es für f es gut ist, ist es schlechthin gut, denn das Wesen ist der alleinige Schöpfer f von Werten in diesem Universum und außerhalb seines Bewusstseins haben die Dinge keinerlei moralische Signifik f anz. In einem solchen Universum wäre es natürlich absurd, zu ffragen, ob die moralischen Urteile des einsamen denkenden Wesens wahr sind oder nicht. Die Beantwortung dieser Frage würde einen Maßstab außerhalb des Individuums voraussetzen, dem es sich unterwerfen müsste. Aber hier wäre unser Individuum eine Art göttliches Wesen, das keinem höheren Richter unterstünde. Nennen wir das hypothetische Universum, das er bewohnt, eine moralische Einsamkeit. Es leuchtet ein, dass in einer solchen moralischen Einsamkeit keine äußere Verpflic f htung möglich ist. Das gottähnliche denkende Wesen muss sich allenfalls darum sorgen, dass sich seine verschiedenen Ideale nicht widersprechen. Einige von ihnen werden ohne Zweifel wirksamer und ansprechender sein als die übrigen, ihr Gutsein wird ihn in einer tieferen und nachhaltigeren Weise reizen als die übrigen. Wenn er sie verletzt, werden sie ihn mit hartnäckigen Gewissensbissen quälen. So wird unser denkendes Wesen ihnen bei der Organisation seines Lebens einen zentralen Stellenwert einräumen oder aber unglücklich in einem inneren Zwiespalt verharren müssen. Doch in welchem Gleichgewicht es auch immer Ruhe finden und sein System in Ordnung bringen wird, ein richtiges System wird es nicht sein. Denn jenseits der Grenzen seiner eigenen Subjektivität hat nichts auf der Welt moralische Bedeutung. Wenn wir nun ein zweites denkendes Wesen mit seinen Neigungen und Abneigungen in dieses Universum einführ f en, so wird die ethische Situation weit verwickelter und man sieht sofor f t, dass sich mehrere Möglichkeiten ergeben. Eine dieser Möglichkeiten besteht darin, dass beide die jeweilige Haltung des anderen zu Fragen des Guten und des Bösen ignorieren und jeder weiter wie bisher seinen Neigungen nachgeht, gänzlich indifferent gegenüber den Gefühlen und Handlungen des anderen. In diesem Fall haben wir, im Vergleich zur moralischen Einsamkeit, eine Welt mit doppeltem ethischen Gehalt vor uns, die allerdings keine ethische Einheit aufweist. Je nach dem Standpunkt der beiden denkenden Wesen kann dasselbe Objekt in dieser Welt sowohl gut wie böse sein. Auch finden wir in dieser Welt noch keinen Maßstab, um beurteilen zu können, dass das moralische Empfinden des einen denkenden Wesens richtiger sei als das des anderen. Eine solche Welt wäre kurz gesagt kein moralisches Universum, sondern ein moralischer Dualismus. In ihr feh f lt nicht nur jeder feste Punkt, von dem aus sich der Wert der Dinge eindeutig beurteilen ließe, sondern es lässt sich noch nicht einmal die Forderung nach einem solchen fest f en Punkt stellen, da wir ja davon ausgegangen sind, dass die beiden denkenden Wesen gleichgültig auf die Handlungen und Einstellungen des jeweils anderen reagieren. Wenn wir die Zahl der denkenden Wesen beliebig zu einem Pluralismus vermehren, dann stoßen wir im Kontext der Ethik auf eine Welt, die derjenigen gleicht, welche die antiken Skeptiker beschrieben haben: Der Geist des Individuums gilt hier soweit
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als das Maß aller Dinge, dass man keine objektive Wahrheit, sondern nur eine Vielfalt subje b ktiver Meinungen geben kann. Doch wird sich der Philosoph, solange er an der Möglichkeit seiner Disziplin festhält, mit dieser Art von Welt nicht abfin f den. Unter den vielen vorfindbaren Idealen muss es nach seiner Ansicht auch solche geben, die eine weitere Geltung beanspruchen können als andere. Und diesen Idealen sollten, damit eine gewisse Ordnung herrsche, alle anderen untergeordnet werden. In dem Wort sollte macht sich mit Nachdruck eine Verpflic f htung geltend, deren Klärung unsere nächste Aufgabe sein wird. Da unsere bisherigen Erörterungen zu dem Ergebnis geführ f t haben, dass alles nur insofern gut oder richtig ist, als es von irgendeinem Bewusstsein als gut oder richtig empfunden wird, können wir sofor f t zugestehen, dass wirkliche Überlegenheit oder Autorität, durch die sich ffür den Philosophen bestimmte Meinungen gegenüber anderen auszeichnen, nicht durch irgendeine abstrakte moralische „Natur der Dinge“ zu erklären ist, die bereits vor den konkre k ten denkenden Wesen und ihren jeweiligen Idealen existiert hätte. Die Komparative „besser“ und „schlechter“ müssen genauso wie die positiven Attribute „gut“ und „böse“ als wirklich erkannt werden, um auch wirklich zu sein. Wenn ein ideales Urteil objektiv besser sein soll als ein anderes, dann erlangt dieses Bessersein erst dadurch Fleisch und Blut, dass es in die konkrete k Wahrnehmung einer Person eingeht. Es kann nicht in der Luft f hängen, es ist kein meteorologisches Phänomen von der Art des Nordlichtes. Sein esse ist genauso percipi wie das esse der anderen Ideale zwischen denen es steht. Insofern muss der Philosoph, der wissen möchte, welches Ideal die größte Geltung beanspruchen kann und welche anderen Ideale ihm untergeordnet werden müssen, das Sollen auf die wirkliche Konstitution eines Bewusstseins zurückverfol f gen. Als strenger Ethiker muss er dieses Bewusstsein als ein Faktum anerkennen, hinter das er nicht zurückgehen kann. Dieses Bewusstsein macht das eine Ideal mit seinem Gefühl zu einem richtigen Ideal, das andere dagegen zu einem ffalschen. Welches besondere Bewusstsein kann aber nun das Vorrecht beanspruchen, andere dazu zu verpflichten, sich einer Regel zu beugen, die von ihm selbst aufge f stellt wurde? Wenn eines der denkenden Wesen göttliche Züge hätte während alle anderen menschlicher Natur wären, würde es wahrscheinlich keinen Streit in dieser Sache geben. Das göttliche Denken würde als Vorbild akzeptiert, dem sich alle anderen zu beugen hätten. Aber die theoretische Frage, was selbst in diesem Fall die Grundlage der Verpflichtung abgeben würde, bliebe nach wie vor unbeantwortet. In unsere ersten Versuche, diese Frage zu beantworten, schleicht sich häufig eine Annahme ein, die auch gewöhnliche Leute machen, wenn sie über Fragen des Guten und des Bösen streiten. Sie stellen sich eine abstrakte moralische Ordnung vor, auf der die objektive Wahrheit basiert. Und jeder versucht dann zu beweisen, dass sich diese vorab bestehende Ordnung in seinen eigenen Vorstellungen besser repräsentiert findet als in den Vorstellungen des Gegners. Wir denken, dass der eine der beiden Kontrahenten nachgeben muss, weil sich der andere auf eine übergreifende abstrakte Ordnung berufen kann. Selbst wenn sich die Debatte nicht zwischen zwei endlichen denkenden Wesen sondern zwischen
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uns und Gott entspannt, folgen wir unserer alten Gewohnheit und stellen uns eine Art de jure-Beziehung vor, die allen bloßen Tatsachen vorausgeht, sich gleichsam über sie wölbt, und die es rechtfertigen würde, dass wir unsere Gedanken selbst dann denen des Gottes anpassen würden, wenn wir lieber weiterhin de facto an unseren eigenen Gedanken fes f thalten wollen. Aber von dem Moment an, in dem wir die Frage genauer betrachten, sehen wir nicht nur, dass es ohne einen wirkl r ich von einer konkreten Perso r n erhobenen Anspruch keine Verpf r flichtung geben kann, sondern auch, das d s überall dort, t wo ein Anspr s uch erhoben wird, d auch eine V Verrpfflichtung besteht. Der Begriff f „Anspruch“ ist umfangsgleich mit dem der „Verpflichtung“, beide decken sich genau. Unsere gewöhnliche Einstellung, in der wir glauben, einem überwölbenden System in sich gültiger moralischer Beziehungen unterworfen zu sein, ist daher entweder ein einfach f er Aberglaube oder sie muss als lediglich vorläufige Abstraktion eines jeden konkreten denkenden Wesens gelten, auf dessen wirkliche Forderung, so zu denken wie er, unsere Verpflichtung letztlich zurückgeführt werden muss. In einer theistischen Ethik wäre dieses denkende Wesen natürlich die Gottheit, die unser Universum geschaffen hat. Ich weiß sehr wohl, wie schwer es denje n nigen ffällt, die an die von mir als abergläubisch bezeichnete Ansicht gewöhnt sind, sich darüber klar zu werden, dass jeder de facto-Anspruch eine entsprechende Verpflic f htung schafft. Es ist tief in unserem Denken verwurzelt, dass etwas, was wir die „Geltung“ des Anspruchs nennen, ihm seinen verpflichtenden Charakter verleiht und dass diese Geltung etwas sei, was außerhalb der bloßen Existenz des Anspruchs als Tatsache liegt. Wir denken, dass sie sich aus irgendeiner erhabenen Dimension des Seins, in der das moralische Gesetz beheimatet ist, auf den Anspruch herabsenkt, etwa so, wie der magnetische Nordpol in einer scheinbar übernatürlichen Weise vom bestirnten Himmel herab auf den Stahl der Kompassnadel wirkt. Aber nochmals: Wie kann ein solch unorganischer abstrakter Charakter der Forderung zusätzlich zu der Forderung, die in dem konkret k en Anspruch selbst beschlossen liegt, existieren? Nehmen wir eine noch so geringfügi f ge Forderung, die ein noch so schwaches Geschöpf stellt. Sollte sie nicht allein um ihrer selbst willen erfüllt werden? Wenn nicht, muss bewiesen werden, warum nicht. Die einzig mögliche Art des Beweises bestünde im Anführen eines anderen Geschöpfes f , das eine konkurrierende Forderung stellen würde. Der einzig mögliche Grund dafür f , dass etwas existieren soll, kann nur darin bestehen, dass es sich jemand wünscht. Jeder Wunsch verhält sich innerhalb seines Bereichs gebieterisch. Er macht sich, durch die bloße Tatsache, dass er existiert, gültig. Manche Wünsche sind nur sehr kleine Wünsche. Sie werden von unbedeutenden Leuten geäußert und wir machen uns gewöhnlich nichts aus den Verpfli f chtungen, die sie ffür uns mit sich bringen. Doch die Tatsache, dass solche persönlichen Forderungen uns nur kleine Verpflic f htungen aufer f legen, ändert nichts daran, dass auch die größten Verpflic f htungen in persönlichen Forderungen bestehen. Wenn wir unpersönlich sprechen müssen, können wir jedesmal sagen, „die Ordnung des Seins“ gebiete diese oder jene Handlung oder lege sie uns als Pfli f cht
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auf, wenn sie sich durch die Wünsche dieses oder jenes konkreten Wesens äußert. Doch ist es besser, das Universum oder die Ordnung des Seins nicht zu personifif zieren, es sei denn, wir glauben an die wirkliche Existenz eines universalen oder göttlichen Bewusstseins. Wenn es ein solches Bewusstsein gibt, dann bedeuten seine Forderungen die größtmögliche Verpflic f htung, und zwar einfac f h deshalb, weil sie am meisten wiegen. Doch selbst dann wäre es abstrakt gesehen nicht richtig, dass wir sie beachten müssten. Es wäre nur konkret richtig, richtig nur aufgrund der Tatsache, dass sie wirklich erhoben werden. Nehmen wir an, wir beachten sie nicht, wie es ja in unserer unvollkommenen Welt auch tatsächlich die Regel zu sein scheint. Das sollte nicht so sein, sagen wir dann vielleicht, das ist nicht recht. Wie könnten wir dieses Unrecht-Sein aber durch die Vorstellung akzeptabel und verständlich machen, es liege in der Verletzung einer idealen und apriorischen Ordnung und nicht in der Enttäuschung der Erwartungen eines lebendigen und personalen Gottes? Meinen wir vielleicht, wir decken und schützen diesen Gott und machen seine Ohnmacht in Bezug auf uns weniger endgültig, wenn wir ihm mit dieser a priori-Decke helfen, aus der er etwas Wärme für seine weiteren Forderungen ziehen kann? Doch die einzige Macht einer Forderung, die ein lebendiger Gott oder eine abstrakte ideale Ordnung an uns richten kann, findet sich in den „ewigen Rubingewölben“ unseres Menschenherzens, je nachdem ob sein Takt auf den Anspruch reagiert oder nicht. Soweit das Herz ihn, wenn er von einem lebendigen Wesen erhoben wird, fühl f t, antwortet Leben auf Leben. Ein derart lebendig anerkannter Anspruch wird mit einer Gründlichkeit und Vollständigkeit anerkannt, die keine Vorstellung eines dahinter stehenden „Ideals“ vollendeter machen könnte. Wenn die Antwort des Herzens dagegen nicht erfol f gt, so bleibt das widerspruchsvolle Phänomen einer Ohnmacht der Ansprüche, die das Universum verkörpert, die kein Gerede über eine ewige Natur der Dinge beschönigen oder zerstreuen kann. Eine unwirksame apriorische Ordnung ist ebenso ohnmächtig wie ein unwirksamer Gott und in den Augen der Philosophie ebenso schwer zu erklären. Wir können jetzt das, was wir als den metaphysischen Aspekt der Ethik bezeichnet hatten, als genügend beantwortet ansehen. Wir haben gesehen, was die Wörter „gut“, „schlecht“ und „Verpflichtung“ im Einzelnen bedeuten. Sie stehen nicht für f irgendwelche absoluten Entitäten, die nicht durch persönliche Interventionen gestützt wären. Sie sind Gegenstände des Wünschens und Fühlens, die keine Verankerung in einem wie auch immer gearteten Sein an sich haben, abgesehen vom Dasein konkreter und lebendiger geistiger Wesen. Überall, wo solche geistigen Wesen mit ihren Urteilen in Bezug auf gut und böse und ihren wechselseitigen Forderungen existieren, gibt es auch zumindest in Grundzügen so etwas wie eine ethische Welt. Würden alle anderen Dinge, Götter, Menschen und höheren Sphären in diesem Universum zerstört und bliebe nur ein einsamer Fels mit zwei Bewohnern übrig, so würde dieser Felsen genau so eine moralische Natur haben wie eine Welt, zu der auch höhere, ewige Sphären gehören würden. Es wäre eine tragische Natur, da die Bewohner des Felsens sterben müssten. Solange sie jedoch am Leben wären, würde es gute und schlechte Dinge im Universum geben, darüber hinaus auch Verpflic f htungen, Ansprüche und Er-
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wartungen, Gehorsam, Ablehnung und Enttäuschung, Reue, Sehnsucht nach Harmonie und einem ruhigen Gewissen. Kurz, es würde ein sittliches Leben geben, dessen tätige Kraftentfal f tung keine andere Grenze kennen würde als die Stärke des wechselseitigen Interesses, das der Held und die Heldin ffüreinander aufbringen würden. Wir auf unserer Erde sind, soweit wir den offensichtlichen Tatsachen vertrauen können, in der gleichen Lage wie die Bewohner des Felsens. Ganz unabhängig davon, ob ein Gott im bestirnten Himmel über uns thront oder ob es keinen Gott gibt, bilden wir hier unten eine ethische Republik. Und die erste Konsequenz hieraus ist die ffolgende: Die Ethik hat eine ebenso echte und wirkliche Stellung in einem Universum, in dem der Mensch das höchste Bewusstsein verkörpert, wie in einem Universum, in dem auch ein Gott existiert. Die „Religion der Humanität“ liefert eine ebenso gute Grundlage für f die Ethik wie der Theismus. Ob das menschliche System die Forderung des Philosophen ebenso gut erfül f len kann wie ein Gott, wäre eine andere Frage, die wir beantworten müssen, ehe wir unsere Untersuchung abschließen können.
III I Wie Sie sich erinnern werden, war die letzte grundlegende Frage in der Ethik die 4 kasuistische. Hier befinden wir uns in einer Welt, in der die Existenz eines denkenden göttlichen Wesens von jeher von Seiten mancher Beobachter bezweifelt worden ist und vielleicht auch immer bezweifelt werden wird, und wo trotz einer Reihe von Idealen, über die unter den Menschen Konsens besteht, genau dieser Konsens in bezug auf viele andere Ideale nicht herrscht. Es ist kaum notwendig, dies literarisch zu illustrieren, da diese Tatsachen allgemein bekannt sind. Die Kriege zwischen Fleisch und Geist in jedem einzelnen Menschen, das Streben verschiedener Menschen, das sich auf dieselben, häufig f nicht teilbaren materiellen oder symbolischen Güter richtet, Ideale, die nach ethnischer Herkunft, f Umständen, Veranlagungen, philosophischen Überzeugungen usw. vollkommen gegensätzlich sind – all dies bildet ein offenbar unentwirrbares Labyrinth, zu dem es keinen Ariadnefaden gibt, der uns herausführ f en könnte. Und doch fügt der Philosoph, gerade weil er Philosoph ist, sein ganz besonderes und persönliches Ideal noch zu diesem allgemeinen Wirrwarr hinzu (mit dem er sich nur dann zufrieden geben würde, wenn er Skeptiker wäre). Und er beharrt darauf, dass es hinter all diesen individuellen Überzeugungen ein System der W Wahrrheit gibt, dass sich, wenn man sich entsprechend bemüht, auch ffreilegen lässt. Im Moment befinden wir uns selbst in der Position jenes Philosophen und müssen uns über alle Aspekte der Situation Klarheit verschaffen f . Zunächst wollen wir keine Skeptiker sein. Wir halten daran fest, dass es eine Wahrheit gibt und dass sie in Erfahrung gebracht werden kann. Darüber hinaus sind wir gerade zu der Einsicht gekommen, dass diese Wahrheit sich nicht selbst erweist, sondern dass sie nur im Handeln oder in Gestalt einer Überzeugung eines real existierenden Wesens bestehen kann. Es gibt allerdings offen f sichtlich kein real existieren-
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des Wesen, das mit absoluter Autorität ausgestattet wäre. Sollen wir dann einfach f unsere eigenen Ideale für verbindlich erklären? Nein, denn sofer f n wir echte Philosophen sind, müssen wir selbst die liebsten unserer eigenen spontanen Ideale unparteiisch zu jener Gesamtmenge von Idealen rechnen, die gerecht beurteilt werden wollen. Wie aber können wir auf der einen Seite den völligen moralischen Skeptizismus vermeiden und auf der anderen der Gefah f r entgehen, einen eigensinnigen persönlichen Maßstab einzuführ f en und dogmatisch darauf zu beharren? Das Dilemma wiegt schwer. Es wird nicht im geringsten leichter, wenn wir intensiver darüber nachdenken. Die Philosophie verpflichtet den Philosophierenden darauf, einen unparteiischen Maßstab zu suchen. Dieser Maßstab muss allerdings in den Forderungen irgendeines real existierenden Menschen verkörpert sein. Und wie kann er diesen Menschen auswählen, wenn nicht auf Grundlage einer Entscheidung, in die seine Sympathien und Vorurteile eingehen? Eine Methode bietet sich allerdings an und ist in der Geschichte immer wieder von ernsthafteren ethischen Schulen angewandt worden. Wenn sich die Fülle der Forderungen bei näherer Betrachtung als weniger chaotisch erweist als sie auf den ersten Blick erschien, wenn sie gleichsam ihre eigenen Gültigkeitskri k terien und ihren eigenen Maßstab automatisch mitlieferten, dann ließe sich das kasuistische Problem lösen. Wenn man fände, dass alle einzelnen moralischen Güter als Güter ein gemeinsames Wesensmerkmal teilen würden, dann würde der in jedem einzelnen Gut vorhandene Anteil dieses Wesens seinen jeweiligen Rang auf der Wertskala des Guten anzeigen und man könnte schnell Ordnung in das Ganze bringen. Denn dieses Wesen würde das Gute sein, auf das sich alle Denkenden geeinigt hätten, das vergleichsweise objektivste und universellste Gute, das auch der Philosoph sucht. Selbst seine eigenen privaten Ideale würden an ihrem Anteil daran gemessen und den ihnen angemessenen Platz in der Gesamtordnung der Ideale finden. Auf diesem Weg hat man Verschiedenes als das Wesen des Guten entdeckt und als Grundlage des ethischen Systems vorgeschlagen. So zum Beispiel, dass es eine Mitte zwischen zwei Extremen sein müsse, dass es von einem besonderen intuitiven Vermögen als solches erkannt würde, dass es den ihm gemäß Handelnden ffür einen Augenblick glücklich mache, dass es sowohl ihn wie andere langfristig gesehen glücklich mache, dass es zur Vollendung seiner Würde beitrage, niemanden schädige, dass es sich aus der Vernunft ergebe oder einem universalen Gesetz korrespondiere, im Einklang mit dem Willen Gottes stehe, dem Überleben der menschlichen Gattung auf diesem Planeten diene usw. All diese vielen Charakteristika sind angeführt worden, wenn es darum ging, zu klären, was eine Sache oder Handlung zu einer moralisch guten Sache oder Handlung mache. Keiner der Maßstäbe jedoch, die vorgeschlagen wurden, hat allgemein befriedigt. Manche können ganz offensichtlich keine universale Geltung beanspruchen, etwa das Merkmal, niemandem zu schaden oder einem universalen Gesetz zu folgen. Die ethisch angemessenste Handlungsweise ist oft f grausam und viele Handlungen sind gerade unter der Bedingung gutzuheißen, dass man sie als Ausnahmen begreift und nicht als Erfüll f ungen eines universalen Gesetzes. Andere
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Kriterien wie etwa der Einklang mit dem Willen Gottes sind nicht verifizierbar und bleiben nebulös. Andere wieder wie das Überleben der menschlichen Gattung bleiben bezüglich ihrer konkreten Folgen gänzlich unbestimmt und lassen uns immer dann im Stich, wenn wir am dringendsten auf ihre Hilfe f angewiesen sind. Ein Philosoph der Sioux-Indianer würde das Kriterium des Überlebens sicherlich ganz anders definieren als wir. Im Großen und Ganzen erscheint als das beste von diesen Kriterien und Maßstäben für das Gute die Fähigkeit, Glück zu erzeugen. Um aber nicht von vornherein zu versagen, muss dieses Kriterium auf unzählige Handlungen und Motive ausgedehnt werden, die niemals auf die Erzeugung von Glück abzielen. So werden wir schließlich auf unserer Suche nach dem universa r lsten Prinzip zu folgendem geführt: dass das Wes W en des Guten einfach darin besteht, einer Forderung zu entsprechen. Die Forderung kann sich schlechthin auf alles unter der Sonne erstrecken. Es liegt wirklich nicht mehr Grund zu der Annahme vor, dass sich all unsere Forderungen auf ein universales, allen einzelnen Forderungen zugrundeliegendes Prinzip zurückführen lassen, wie für die Annahme, alle physikalischen Phänomene seien die Manifestation nur eines Gesetzes. Die Grundkräfk te sind in der Ethik vermutlich ebenso vielfältig wie in der Physik. Die mannigfaltigen ethischen Ideale haben jenseits der Tatsache, dass sie Ideale sind, keine gemeinsamen Merkmale. Wir können kein einzelnes abstraktes Prinzip so anwenden, dass es dem Philosophen etwas wie einen wissenschaftlich exakten und universell anwendbaren kasuistischen Maßstab liefern würde. Ein Blick auf eine andere Eigenart des uns bekannten ethischen Universums wird dem Philosophen noch weitere Schwierigkeiten einhandeln. Als rein theoretisches Problem würde sich die kasuistische Frage nämlich nie stellen. Wenn der Ethiker nur nach dem besten denkbaren System der Erscheinungsfor f men des Guten fragte, stünde er in der Tat vor einer leichten Aufgabe. Denn alle Forderungen als solche verdienen prima facie Anerkennung und die beste, theoretisch vorstellbare Welt wäre dieje e nige, in der jede Forderung sobald sie gestellt wird auch erfüllt würde. Eine solche Welt müsste allerdings physikalisch völlig anders aufgebaut sein als unsere. Sie würde nicht nur einen n-dimensionalen Raum, sondern auch eine n-dimensionale Zeit benötigen, um all die Handlungen und Erfahrungen integrieren zu können, die in unserer Welt unvereinbar sind: So würden wir unser Geld verprassen und doch reich bleiben können, Urlaub nehmen und doch mit unserer Arbeit vorankommen, Jagen und Angeln gehen und doch den Tieren nichts zuleide tun, ständig neue Erfahrungen machen und doch die jugendliche Unbekümmertheit unseres Herzens bewahren usw. Eine solche Ordnung der Dinge wäre, ganz unabhängig von der Frage, wie sie zustande kommen könnte, ohne Frage das ideale System. Wenn der Philosoph a priori Universen erschaffen f und die Grundlage für f alle physikalischen Voraussetzungen liefern könnte, würde er ohne zu zögern genau diese Ordnung errichten. Doch diese unsere Welt ist nach einem gänzlich anderen Muster gestrickt und die kasuistische Frage stellt sich hier tragischerweise als eine praktische. Das Spektrum dessen, was tatsächlich möglich ist, ist hier weit begrenzter als das, was gefordert wird. Es besteht ein ständiges Missverhä r ltnis zwischen dem Ideal und
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der Wirklichkeit, welches nur dadurch aufgehoben werden kann, dass wir einem Teil unserer Ideale abschwören. Wir können uns ein Gutes kaum anders vorstellen als im Kontext einer Auseinandersetzung mit einer anderen Vorstellung des Guten, welches das gleiche Stückchen Raum und Zeit ffür sich beansprucht. Jedes Ziel meiner Wünsche scheint ein Ziel anderer Wünsche auszuschließen. Soll ich rauchen und trinken oder auf den Zustand meiner Nerven achten? Beides zugleich kann ich nicht. Soll ich meiner Zuneigung zu Amelia oder zu Henrietta folgen? Beide zugleich können nicht die Wahl meines Herzens sein. Soll ich meiner lieben alten republikanischen Partei treu bleiben oder strikt für Ehrlichkeit in allen öffentlichen Angelegenheiten eintreten? Beides zugleich geht nicht, usw. Insofern f ist die Forderung des Ethikers nach dem richtigen Maßstab für die angemessene Ordnung der Ideale das Resultat einer ausgesprochen praktischen Notwendigkeit. Ein Teil der Ideale muss geopfert f werden, und er muss unbedingt in Erfahrung bringen, welcher Teil genau. Er hat es mit einer tragischen Situation zu tun und nicht mit einer rein spekulativen Scherzfrage. Aufgrund der Tatsache, dass wir in eine Gesellschaft hineingeboren wurden, deren Ideale bereits größtenteils einer Ordnung unterliegen, sind wir blind gegenüber dieser wirklichen Schwierigkeit, mit der sich der Philosoph konfro f ntiert sieht. Wenn wir dem traditionell am höchsten geschätzten Ideal folgen, sterben entweder die anderen, die wir ermorden, oder, sofer f n sie wiederkommen und uns des Mordes bezichtigen, akzeptiert jeder, dass wir ihnen kein Gehör schenken. Mit anderen Worten: Unsere Umwelt bestärkt uns darin, nicht Philosophen zu sein, sondern Partei zu ergreifen. Der Philosoph jedoch kann, solange er an seinem eigenen Ideal der Objektivität fest hält, keinem speziellen Ideal das Gehör verweigern. Er ist mit Recht davon überzeugt, dass er die volle Wahrheit verstümmeln würde, wenn er sich nur an seiner eigenen intuitiven Vorliebe orientieren würde. Heinrich Heine soll an die Stelle von „Gott“ in seiner Ausgabe von Karl von Bunsens Werk Gott in der Geschichte den Namen des Verfassers in den Titel 5 gesetzt haben, so dass man nun „Bunsen in der Geschichte“ lesen konnte. Ohne dem guten und gelehrten Baron zu nahe treten zu wollen, darf man doch ruhigen Gewissens sagen, jeder einzelne Philosoph wird, möge seine Empathiefähigkeit auch noch so umfassend sein, eben diesen „Bunsen in der Geschichte“ in der moralischen Welt abgeben, zumindest sofern f er versucht, jener heulenden Meute von Forderungen seine eigenen Ordnungsideen überzustülpen, Forderungen, von denen jede einzelne darum kämpft, dem von ihr vertretenen Ideal Raum zum Atmen zu schaffen. Noch der allerbeste Mensch muss nicht einfach nur empfindungslos, sondern in einer ganz besonderen und geradezu lächerlichen Weise empfindungslos gegenüber vielem Guten sein. Als militanter Streiter dafür, dass jenes Gute, an dem ihm gelegen ist, nicht untergeht, befindet sich der Philosoph in genau der gleichen Lage wie jeder andere Mensch. Aber betrachten wir Zenon und Epikur, Johannes Calvin und William Paley, Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer, Herbert Spencer und Henry Newman einmal nicht mehr nur als Vorkämpfer bestimmter Ideale, sondern als Schulmeister, die fes f tlegen, was alle Menschen denken sollen: Welch groteskeres Vorbild
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könnte sich ein Satiriker für sein Stück wünschen? Der sprichwörtlich gewordene Versuch der Mrs. Partington, die steigende Flut des Nordatlantik mit ihrem Besen aufhalten zu wollen, war im Vergleich zu den Versuchen der Philosophen, den Inhalt ihrer beschränkten Systeme an die Stelle der großen Vielfalt des Guten zu setzen, welche die gesamte Menschheit unter Blut und Tränen in die Welt gesetzt hat, ein Akt der Vernunft. f Stellen wir uns diese individuellen Ethiker nicht mehr nur als Schulmeister vor, sondern als mit weltlicher Macht ausgestattete Päpste, die befugt wären, in jedem konkreten Konfliktfall zu entscheiden, welches Ideal man opfern f und welches man beizubehalten habe, dann lässt einen die bloße Vorstellung davon bereits erschaudern. All unsere verborgenen revolutionären Instinkte lehnen sich gegen den Gedanken auf, dass irgendein einzelner Moralist mit einer solchen Macht über Leben und Tod ausgestattet werden könnte. Besser ewiges Chaos als eine Ordnung, die auf den Regeln eines Lehnstuhl-Philosophen basiert, selbst wenn er der klügste seiner Zunft f wäre. Nein! Wenn der Philosoph seine Position als Richter beibehalten möchte, darf er nie zugleich eine der streitenden Parteien sein. Was kann er dann anderes tun, so ließe sich jetzt fragen, als in einen Skeptizismus zurückzufallen und den Anspruch, ein Philosoph sein zu wollen, aufzugeben? Doch zeichnet sich nicht bereits deutlich ein Ausweg ab, der ihm gerade als Philosoph und nicht als Vorkämpfer eines besonderen Ideals offen steht? Muss nicht der Grundsatz der Ethik, da alles, was gefordert wird, aufgrund dieser Tatsache gut ist und da zugleich nicht alle Forderungen auf unserer beschränkten Welt erfüllt werden können, einfach f lauten, dass wir jederzeit so vielen Forderungen genügen müssen, wie wir können? Demgemäß müsste dieje e nige Handlung die beste sein, die in demjenigen Sinne auf das beste Ganze abzielt, dass sie die geringste Summe von unzufri f edenen Reaktionen nach sich zieht. Auf der kasuistischen Werteskala müssten also dieje e nigen Ideale an oberster Stelle stehen, deren Durchsetzung sich mit dem geringsten Preis erkaufe u n lässt oder deren Verwirklichung die geringstmögliche Zahl anderer Ideale ausschließt bzw. gefährdet. Da Sieg und Niederlage nun einmal nicht zu vermeiden sind, ist der philosophisch erwünschte Sieg derjenige der inklusiveren Partei, der Partei, die selbst in der Stunde des Triumphes bis zu einem gewissen Grad den anderen Idealen, in denen sich die Interessen der Unterlegenen verdichten, Gerechtigkeit widerfahren lässt. Die menschliche Geschichte ist eine Geschichte der Kämpfe f von Menschen, die von Generation zu Generation eine immer inklusivere Ordnung zu etablieren versuchen. Wir müssen Wege erfin f den, unsere eigenen Ideale zu verwirklichen, die auch die Forderungen anderer berücksichtigt: Dieser Weg allein führt zum Frieden. In der Beschreitung dieses Weges hat die Gesellschaft durch eine Reihe sozialer Erfindungen neben manchen Erschütterungen ein relatives Gleichgewicht nach dem anderen gefunden, die denen der exakten Wissenschaften gleichberechtigt an die Seite gestellt werden können. Polygamie und Polyandrie, Sklaverei, Kriege aus Eigennutz und die Freiheit zu töten, Folter vor Gericht und despotische Willkür konnten den gegen sie erhobenen Klagen auf Dauer nicht widerstehen. Und wenn auch die Ideale mancher Person in Folge der Verbesserung der gesellschaftf
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lichen Gesamtsituation weniger berücksichtigt werden, so findet doch eine weit größere Zahl von ihnen in unserer heutigen Kultur und Gesellschaft eher Schutz als in frü f heren, wilderen Zeiten. Insoweit hat sich der kasuistische Wertmaßstab heute in der sozialen Wirklichkeit weit besser durchgesetzt als es der Philosoph selbst aus eigener Kraft vermöchte. Ein höchst gründliches Experiment hat gezeigt, dass die Gesetze und Bräuche des Landes der Gesamtheit der denkenden Menschen ein Maximum an Befriedigung gewähren. In strittigen Fällen spricht die Wahrscheinlichkeit stets zugunsten der in einer Gesellschaft f etablierten sittlichen Werte. Der Philosoph muss konservativ sein und beim Aufstellen seines kasuistischen Wertmaßstabs sollte er dieje e nigen Werte an die oberste Stelle setzen, die mit den Sitten der Gemeinschaft im Einklang stehen. Aber wenn er ein wirklicher Philosoph ist, sieht er, dass keines der etablierten Gleichgewichte menschlicher Ideale Endgültigkeit beanspruchen kann, sondern dass unsere gegenwärtigen Sitten und Gesetze, so, wie sie sich gegen früh f ere durchgesetzt haben, ihrerseits durch neu entdeckte sittliche Ordnungen überflüssig gemacht werden könnten, welche die Schwierigkeiten mit alten beheben, ohne dabei schlimmere neue mit sich zu bringen. „Die Regeln sind für f den Menschen gemacht und nicht der Mensch ffür die Regeln“ – dieser eine Satz genügt, 6 um Thomas Hill Greens Prolegomena zur Ethik unsterblich zu machen. Obwohl ein Mensch immer viel wagt, wenn er sich von althergebrachten Regeln ffrei macht und sich bemüht, ein größeres ideales Ganzen zu verwirklichen, als es diese Regeln zulassen, so muss doch der Philosoph zugestehen, dass es jedem jederzeit freisteht, sich auf diesen Versuch einzulassen, vorausgesetzt, dass er sich nicht scheut, dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen. Not herrscht aber immer. In jedem moralischen Regelsystem wird auf unzählige Personen Zwang ausgeübt, das System lastet schwer auf ihnen und unterdrückt vieles Gute. Dieses Gute rumort stets im Hintergrund und wartet auf die Gelegenheit, die es ffrei setzen könnte. Man schaue nur auf den Missbrauch, den die Einführung des Privateigentums mit sich bringt, so dass hierzulande heute sogar schamlos behauptet wird, eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung bestehe darin, den geschickteren Bürgern zu helfen, sich noch mehr zu bereichern. Man schaue auf die ungenannten und unnennbaren Leiden, die die im Ganzen ja durchaus positive Institution der Ehe für viele Verheiratete und Unverheiratete mit sich bringt. Man beachte nur, wie unter dem Regime einer sogenannten Gleichheit und eines Industrialismus, in dem Vertretertypen und Kleingeister das Sagen haben, viele Fähigkeiten und vieles Schöne, das in einer feu f dalen Welt gedeihen könnte, im Keim erstickt wird. Man schaue darauf, wie unsere Mildtätigkeit gegenüber den Armen und Ausgegrenzten mit jener Vernichtungspolitik kontrastiert, die bis heute die Grundlage jeden Fortschritts war. Man schaue auf all das Leid im alltäglichen Überlebenskampf und die Frage, wie man es vermindern könnte. Die Anarchisten, Nihilisten und Verfechter einer ffreien Liebe, die Anhänger der Aufhebung des Währungsmonopols, die Sozialisten und Vorkämpfer einer Steuergerechtigkeit, die Kritiker von Handelsbeschränkungen, die Verwaltungsreformer, die Prohibitionisten und die Tierschützer, die Sozialdarwinisten mit ihrer Forderung der Unterdrückung der Schwachen – sie alle
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entscheiden zusammen mit den konservativen Einwänden, die gegen sie ins Feld geführt werden, durch ein tatsächliches Experiment darüber, durch welche Art des Verhaltens ein Maximum an Gutem in dieser Welt erzeugt und erhalten werden kann. Diese Experimente kann man nicht a priori beurteilen, sondern nur dadurch, dass man nach ihrem jeweiligen Abschluss herauszufin f den sucht, ob die Schreie der Entrüstung, die das Experiment provoziert, lauter sind als die Begeisterungsrufe. Am Schreibtisch angestellte Überlegungen können das Ergebnis von Experimenten solcher Größenordnung noch nicht einmal vorausahnen. Welchen Wert hat schon das oberflächliche Urteil irgendeines Theoretikers in einer Welt, in der bereits jedes der Hunderte von Idealen von einem Genie verfoc f hten wird, das ausdrücklich dazu geboren wurde, um sich diesem Ideal zu verpflic f hten und bis in den Tod dafür zu kämpfen? Der reine Philosoph kann nur dem gewohnten Gang der Dinge folgen, ganz im Vertrauen darauf, dass der Weg des geringsten Widerstands stets in Richtung auf die reichere und umfassendere Ordnung führen wird und dass jeder neue Schritt uns unweigerlich ein Stück näher ans Himmelreich heranführen wird.
IV Dies alles läuft auf die Feststellung hinaus, dass die ethische Wissenschaft, soweit sie sich der kasuistischen Frage widmet, völlig der physikalischen gleicht und dass sie, statt auf einen Schlag aus deduktiven Prinzipien abgeleitet werden zu können, einfach auf ihre Stunde warten und bereit sein muss, ihre Schlussfolgerungen täglich neu zu überdenken. Natürlich spricht in beiden Wissenschaften die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die allgemein herrschenden Anschauungen wahr sind und dass die kasuistische Ordnung, an der sich die öffentliche Meinung orientiert, tatsächlich die richtige Ordnung ist. Die meisten von uns würden es sicherlich für f eine Dummheit halten, in der Physik und Ethik nach Originalität zu streben und Entwürfe zu entwickeln, die möglichst weit von den etablierten abweichen. Dann und wann wird aber gleichwohl jemand geboren, der das Recht hat, ein Original zu sein. Sein revolutionäres Denken und Handeln kann dann fruchtbringend sein. Er kann alte vermeintliche Naturgesetze durch angemessenere ersetzen oder an bestimmten Stellen moralische Ordnungen aufbr f echen und damit eine allgemeine Verbesserung der Lage bewirken. Insgesamt gesehen müssen wir demnach zu dem Schluss kommen, dass eine Philosophie der Ethik im altmodischen, absoluten Sinn des Wortes nicht möglich ist. Der Ethiker muss immer erst die Entwicklung der Tatsachen abwarten. Woher diejenigen, die neue Ideale schaffe f n, kommen und wie sie ihre Sensibilität entwickeln, entzieht sich unserem Verständnis. Und die Frage, welchem von zwei widerstreitenden Idealen jetzt und hier der Vorzug zu geben wäre, kann der Philosoph nur unter Hinzuziehung der Erfahrungen anderer Menschen beantworten. Ich sagte weiter oben bei der Behandlung der ersten, psychologischen Frage, dass die Intui t tionisten insofern Anerkennung verdienen, als sie sich eng an die psycho-
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logischen Tatsachen halten. Doch leider verspielen sie diesen ihren Verdienst wieder weitgehend dadurch, dass sie diese Tatsachen mit jener dogmatischen Einstellung vermischen, die ein sich organisch entwickelndes, fflexibles und kontinuierliches Leben durch absolute K Kriterien und ein bedingungsloses „Du sollst nicht!“ in ein aabergläubisches System von Reliquien und vermodernden Gebeinen verwandelt. Tatsächlich gibt es keine abs a olut bösen Dinge und kein absolutes Gutes. Das höchste ethische Leben – wie wenige auch der Bürde gewachsen sein sollten, es auf sich zu nehmen – besteht zu allen Zeiten im Überschreiten von Regeln, die für einen konkreten realen Fall zu starr geworden sind. Es gibt nur ein unbedingtes Gebot, und das lautet: Wir sollen immer und mit aller Anstrengung so handeln und uns so entscheiden, dass wir die größtmögliche Gemeinschaft des Guten erzeugen, die wir uns vorstellen können. Abstrakte Regeln können dabei im Prinzip helfen. Sie tun dies aber umso weniger, je tiefer unsere innere Schau dringt und je stärker damit unsere Berufung zum moralischen Leben ist. Denn jedes echte ethische Dilemma steht strenggenommen für eine einmalige Situation. Und die genaue Kombination von verwirklichten und enttäuschten Idealen, die aus jeder einzelnen Entscheidung hervorgeht, bildet jedes Mal ein vorbildloses Universum auf das keine bereits etablierten Regeln angewandt werden können. Der Philosoph kann daher im konkreten und drängenden Fall als Philosoph nicht besser entscheiden als alle anderen Menschen auch. Er sieht allerdings besser als die meisten anderen Menschen, um welche Art von Frage es sich immer handelt: nicht um die Frage des einen oder des anderen Guten als solchen, sondern um die Frage nach zwei geschlossenen Universen, zu denen dieses oder jenes Gute jeweils gehört. Er weiß, dass er stets für das reichere der beiden Universen plädieren muss, für das Gute, das man augenscheinlich am besten gestalten kann, das als Teil eines komplizierten Relationengefüges bzw. eines inklusiven Ganzen am tauglichsten erscheint. Aber welches besondere Universum das ist, kann er nie vorab wissen. Er weiß nur, dass ihm, wenn er einen schwerwiegenden Fehler begeht, die Schreie der Opfer das sofort zeigen werden. In all dem unterscheidet sich der Philosoph nicht von uns Nichtphilosophen, soweit wir instinktiv zu Gerechtigkeit und Verständniswillen neigen und ein offenes Ohr für f Klagen haben. Die Aufgabe des Philosophen lässt sich von derjenigen der heutigen Politiker nicht unterscheiden. Seine Bücher über Ethik müssen daher, soweit sie wirklich das moralische Leben betreffen f , denen der Literatur immer ähnlicher werden, die weit mehr Experiment und Motivation sind als Dogma. Ich denke an tiefgründigere Romane, Dramen und Predigten, an politische Bücher sowie solche über soziale und wirtschaftliche Reformen. Wenn man sie in diesem Sinne behandelt, können ethische Abhandlungen informativ und ffruchtbar sein. Niemals können sie allerdings endgü d ltig sein, abgesehen vielleicht von ihren abstraktesten und blassesten Konturen. Mehr und mehr aber müssen sie ihrer altmodischen, eineindeutigen Form abschwören, die sich so gern „exakt-wissenschaftlich“ präsentiert.
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V Der Hauptgrund, warum eine konkret k e Ethik niemals endgültig sein kann, liegt darin, dass sie auf den metaphysischen und theologischen Glauben warten muss. Weiter oben sagte ich bereits, dass wirkliche ethische Beziehungen nur in einer rein menschlichen Welt existieren. Selbst in einer von uns so definierten moralischen Einsamkeit würden wir, wenn das einsame denkende Wesen mehrere sich ablösende Ideale hätte, auf moralische Beziehungen stoßen. Sein heutiges Ich würde seinem zukünftigen Ich Forderungen stellen. Und manche dieser Forderungen werden dringend und apodiktisch sein, während andere sanft f und leicht daherkommen und insofern f auch einfach f ignoriert werden können. Wir nennen die apodiktischen Forderungen Imperat r ive. Wenn wir von ihnen zunächst keine Kenntnis nehmen, haben sie keineswegs ihre Relevanz ffür uns verloren. Die Regel, die wir verletzt haben, kehrt wieder und quält uns mit einer nicht enden wollenden Reihe von Konsequenzen, zu denen etwa Reue und Bedauern gehören. So kann die Verpflichtung im Bewusstsein eines einzelnen denkenden Wesens existieren, das nur dann vollkommenen Frieden findet, wenn es sich nach einem kasuistischem Maßstab richtet, der seinen stärksten Imperativen in Bezug auf das Gute den ersten Rang einräumt. Es liegt im Wesen dieses Guten, dass es grausam gegenüber seinen Nebenbuhlern ist. Nichts, was gegen es in die Waagschale geworfen f wird, vermag hier zu helfen. Wir sind äußerst unbarmherzig und verzeihen es uns nicht, wenn wir ein zu weiches Herz haben und uns scheuen, was auch immer für dieses Gute zu opfern f . Das moralische Leben des Menschen ist durch einen tiefen Konflikt zwischen einer Stimmung des Sich-Gehenlassens und einer emphatischen Stimmung geprägt. Befin f den wir uns in der ersten Stimmung, dann wird unser Handeln von der Angst vor dem gegenwärtig drohenden Übel bestimmt. Befinden wir uns dagegen in der zweiten, emphatischen Stimmung, nehmen wir das gegenwärtige Übel ohne zu zögern in Kauf, wenn nur das höhere Ideal verwirklicht wird. Das Potential zur emphatischen Stimmung steckt wahrscheinlich in jedem Menschen, aber es ist nicht bei allen Menschen gleich leicht zu wecken. Dazu sind heftigere Leidenschaften nötig, große Angst, intensive Liebe, heftige Empörung oder das tiefe Erfül f ltsein von einem Ideal wie Gerechtigkeit, Wahrheit oder Freiheit. Starke Widerstände spornen diese Leidenschaften an. Eine Welt, in der alle Berge abgeschliffen f und alle Schluchten aufge f füllt sind, bietet ihnen keine angemessene Wohnstätte. Aus diesem Grunde könnte diese Stimmung in einem einsamen Wesen auf ewig im Zustand der Latenz bleiben. Seine vielfältigen Ideale, von denen es weiß, dass sie nichts anderes sind als seine eigenen Neigungen, nähern sich einem Einheitswert: Er kann willkürlich mit ihnen umgehen. Aus demselben Grund fehlt dem Appell an unser moralisches Engagement auch in einer rein menschlichen Welt ohne Gott die letzte motivierende Kraft. Das moralische Leben bildet sicher auch in einer solchen Welt eine Symphonie vieler Stimmen, aber diese Symphonie wird nur innerhalb der Grenzen einiger armseliger Oktaven gespielt, wohingegen die unendliche Tonleiter möglicher Werte weitgehend unberücksichtigt bleibt. Viele von uns – wie Sir James Stephen in seinen berühm-
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ten Essays a by a Barrister – würden wahrscheinlich über die Idee, dass die emphatische Stimmung in uns nur durch die Ansprüche der Nachwelt geweckt werden, aus denen die Religion der Humanität ihre letzte Motivation bezieht, nur herzhaft lachen können. Wir lieben die Menschen der Zukunft f nicht intensiv genug, und wir lieben sie vielleicht umso weniger, je mehr wir von ihrer evolutionären Vollkommenheit, ihrer Bildung, ihrem hohen durchschnittlichen Lebensalter, ihrem Triumph über Kriege und Verbrechen, ihrer verhältnismäßigen Immunität gegenüber Schmerz und Krankheiten und allen ihren anderen negativen Vorzügen zu hören bekommen. Das ist alles zu vergänglich, sagen wir, wir sehen zu deutlich die große Leere dahinter. All dem fehlt die Note des Unendlichen und Geheimnisvollen, man kann es abtun mit dem Hinweis, dass es einen kalt lässt. Überflüssig, uns hier und jetzt für f diese guten Wesen abzuquälen oder dies von anderen zu verlangen. Wenn wir jedoch an die Existenz eines Gottes glauben, der obendrein auch noch Ansprüche stellt, eröffne f t sich die Perspektive der Unendlichkeit. Die Tonleiter der Symphonie wird unermesslich erweitert. Die stärkeren der idealen Imperative lassen sich jetzt plötzlich mit einer völlig neuen Verbi r ndlichkeit und neuem Nachdruck vernehmen, ihr Ruf gewinnt einen eindringlichen, überwältigenden, tragisch aufrüttelnden Klang. Sie klingen wie der Schrei von Victor Hugos Adler in den Alpen, „qui parle au précipice et que le gouffre f entend“; bei diesem Klang erwacht die emphatische Stimmung. Er klingt wie der Ruf der Trompete zur Schlacht, wie die donnernden Befehle der Anführer und wie das Kampfge f schrei. Das Blut gerät in Wallung und die Grausamkeit gegenüber geringfügi f geren Ansprüchen wirkt nicht abschreckend, sondern verstärkt nur noch die Freude, mit der sich die emphatische Stimmung aufmacht, höheren Ansprüchen zu genügen. Durch die in der gesamten Geschichte periodisch auftret f enden Kämpfe f des Puritanismus gegen die Gleichgültigkeit können wir ebenso den Widerstreit der emphatischen mit der ffreundlich-weichen Stimmung verfolgen wie den Gegensatz zwischen Ethiken einer unendlichen und geheimnisvollen Verpflichtung auf der einen und Ethiken der Klugheit und Bedürfni f sbefriedigung auf der anderen Seite. Die Fähigkeit zur emphatischen Stimmung ist so tief in unserem Wesen verankert, dass selbst dann, wenn es keine metaphysischen oder traditionalen Grundlagen für den Glauben an Gott gäbe, die Menschen gleichwohl einen Gott postulieren würden, um damit ihr hartes Leben rechtfertigen und dem Zufall des Daseins einen Sinn unterstellen zu können. Unsere Einstellung zu konkreten Übeln wäre in einer Welt, in der wir nur an endliche Forderungen glaubten, eine völlig andere als in einer solchen, in der wir um eines Unendlichen willen, das seine Forderungen an uns richtet, der Tragödie freudig ins Auge sehen. Den Gläubigen wächst jede Art von Kraft und Ausdauer, von Mut und Fähigkeit, mit dem Bösen im Leben zurande zu kommen, zu. Aus diesem Grund wird der emphatische Charakter auf dem Schlachtfel f d der Geschichte stets den bequemen Typ überdauern, und die Religion wird die irreligiöse Haltung ausstechen. Es will mir fer f ner scheinen – und damit komme ich endgültig zum Schluss –, dass das vom Ethiker geforderte stabile und systematische moralische Universum
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nur in einer Welt möglich ist, in der es ein göttliches Wesen gibt, das allumfassende Forderungen formuliert. Wenn es ein solches Wesen gäbe, würde sich der gültige kasuistische Maßstab aus der Art ergeben, in der dieses Wesen die unterschiedlichen Forderungen hierarchisiert. Seine Ansprüche würden die stärkste Resonanz finden, sein ideales Universum würde das umfassendste Ganze sein, das verwirklicht werden könnte. Wenn ein solches göttliches Wesen existiert, dann müsste jene Ethik, die wir als Vorbild anstreben, in seinem Denken bereits 7 eine reale Gestalt angenommen haben. Im Interesse unseres eigenen Ideals einer einheitlichen und systematischen moralischen Wahrheit müssen wir Philosophen daher ein göttliches Wesen postulieren und ffür den Sieg der Religion beten. Einstweilen bleiben uns die Gedanken eines unendlichen göttlichen Wesens selbst dann verborgen, wenn wir sicher von seiner Existenz ausgehen könnten. Die Tatsache, dass wir Gott postulieren, dient insofern f nur dazu, in uns die emphatische Stimmung auszulösen. Das tut sie in allen Menschen, selbst in denen, die kein Interesse an der Philosophie haben. Sooft f also ein Ethiker glaubt sagen zu können, wie gehandelt werden soll, steht er auf der gleichen Ebene wie der gewöhnliche Alltagsakteur. „Siehe, ich habe heute Leben und Gutes, Tod und Böses vor dein Angesicht gestellt. Darum wähle das Leben, dass du und dein Same leben.“ Wenn dieser Ruf an uns ergeht, werden einfac f h unser gesamter Charakter und unsere Persönlichkeit auf die Probe gestellt. Und wenn wir bei einer sogenannten Philosophie Zuflu f cht suchen, so offen f bart unsere Wahl genau dieser Philosophie sowie der Gebrauch, den wir von ihr machen, einfach f nur unsere persönliche Fähigkeit oder Unfähigkeit zum moralischen Leben. Vor dieser schonungslosen praktischen Prüfun f g können uns keine gelehrten Vorlesungen und keine ethischen Bibliotheken bewahren. Für den Gelehrten wie für den Alltagsmenschen liegt das erlösende Wort letztlich im stummen Wollen oder Nichtwollen ihres inneren Wesens und nirgendwo sonst. Das Wort fin f det sich weder im Himmel noch jenseits des Ozeans, sondern ist dir ganz nah, in deinem Mund und in deinem Herzen, damit du es tust.
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4. Der Wille
Begehren, Wünschen und Wollen sind mentale Zustände, die jeder kennt und die keine Definition klarer machen könnte. So wollen wir etwas empfinden, haben oder tun, das wir in diesem Augenblick noch nicht empfin f den haben oder tun. Wenn mit dem Begehren das Gefüh f l einhergeht, dass es nicht erfül f lt werden kann, dann wünschen wir einfach; aber wenn wir glauben, dass die Verwirklichung in unserer Macht steht, dann wollen wir, dass sich das gewünschte Empfinden, Haben oder Tun wirklich einstellt. Und es wird tatsächlich bald wirklich, entweder unmittelbar im Anschluss an das Wollen oder nachdem einige Vorbereitungen getroffen f worden sind. Die einzigen Ziele, die unmittelbar aus unserem Wollen ffolgen, scheinen Bewegungen des eigenen Körpers zu sein. Welche Empfin p dungen wir auch immer haben wollen und was auch immer wir besitzen wollen, beides erlangen wir nur als Resultat von ihnen vorausgehenden körperlichen Bewegungen, die wir zum jeweiligen Zweck vollführ f en. Diese Tatsache ist zu bekannt, um hier näher dargestellt werden zu müssen. Wir können also getrost mit der These beginnen, dass die einzigen direkten äußeren Wirkungen unseres Willens in Körperbewegungen bestehen. Den Mechanismus der Erzeugung dieser willkürlichen Bewegungen wollen wir im Folgenden näher studieren. Das Thema umfasst eine ganze Reihe einzelner Aspekte, die nur schwer in eine kontinuierliche logische Ordnung zu bringen sind. Ich werde sie nacheinander in einer der reinen Bequemlichkeit geschuldeten Reihenfol f ge abhandeln und dabei darauf vertrauen, dass der Leser am Ende ein klares und zusammenhängendes Bild gewinnen wird. Die Bewegungen, die wir bisher untersucht haben, waren automatische Reflexe und stellten sich (zumindest bei ihrem ersten Auftr f eten) für f den Akteur in unvorhergesehener Weise ein. Die Bewegungen, die wir nun zu untersuchen beabsichtigen, werden im Voraus angestrebt und intendiert. Sie werden im vollen Bewusstsein dessen vollzogen, was sie bewirken sollen. Daraus ffolgt, dass willkürliche Bewegungen sekundäre d und nicht primäre Funktionen unseres Organismus sein müssen. Dies ist das erste, was wir in der Psychologie der Willensbildung verstehen müssen. Reflexive, instinktive und gefühlsmäßige Bewegungen sind primäre Vollzüge. Die Nervenzentren sind hier so organisiert, dass bestimmte Reize gleichsam als Zünder korrespondierender explosiver Strukturen fungieren. Ein Lebewesen, das sich zum ersten Mal einer solchen Explosion ausgesetzt sieht, macht eine völlig neue Erfahrung. Neulich war ich mit einem kleinen Kind in einem Bahnhof, als gerade ein Eilzug vorbeidonnerte. Das Kind, das am Rande des Bahnsteigs stand, begann zu blinzeln, unregelmäßig zu atmen, wurde blass, brach in Tränen aus, rannte wie wild auf mich zu und verbarg sein Gesicht. Ich habe keinen Zweifel, dass der Junge von seinem eigenen Verhalten mindestens ebenso überrascht wurde wie von dem Zug und dass ihn sein eigenes Verhalten mehr überraschte als mich, der ich neben ihm stand. Wenn eine solche Reaktion bereits mehrfach aufgetreten ist,
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lernen wir natürlich, was wir von uns selbst erwarten können und sind dann in der Lage, unser Verhalten, auch wenn es weiterhin so unwillkürlich und unkontrollierbar ist, selbst zu antizipieren. Aber wenn der Akt, wie wir ihn bei willentlichen Handlungen korrekterweise nennen müssen, vorhersehbar ist, folgt daraus, dass kein Lebewesen, sofer f n es nicht mit hellseherischer Kraft ausgestattet ist, ihn beim ersten Male absichtlich vollziehen kann. Nun, wir verfügen ebenso wenig über eine prophetische Gabe, die uns erkennen lassen würde, welche Bewegungen in unserer Macht liegen, wie wir über eine prophetische Gabe darüber verfügen, zu welchen Wahrnehmungen wir ffähig sind. So, wie wir darauf warten müssen, dass sich die Wahrnehmungen einstellen, so müssen wir auch warten, bis 3 wir die unwillkürlichen Bewegungen wirklich vollziehen, bevor wir eine Idee von diesen Wahrnehmungen und Bewegungen fas f sen können. Wir lernen alle unsere Möglichkeiten nur auf dem Wege der Erfah f rung kennen. Wenn eine bestimmte Bewegung, nachdem sie einmal in einer zufäl f ligen, reflexhaften oder unwillkürlichen Weise ausgeführt wurde, ein Bild ihrer selbst in der Erinnerung hinterlassen hat, dann kann die Bewegung erneut angestrebt oder als Ziel anvisiert und bewusst gewollt werden. Aber es ist unmöglich zu sehen, wie sie vorher hätte gewollt werden können. Die erst r eV Vorraussetzun t g ffür ein absichtsvoll gefü e hrtes Leben ist also ein gewisser Bestand an Vorst r ellungen möglicher Bewegungen. Diese Vorstellungen bleiben nach dem unwillkürlichen Vollzug l dieser Bewegungen im Gedächtnis zurück. Nun kann die gleiche unwillkürlich abgelaufen f e Bewegung viele verschiedene Arten von Bildern im Gedächtnis hinterlassen. Wenn sie von einer anderen Person vollzogen wird, dann sehen wir sie natürlich oder spüren sie, sofern f die Gliedmaßen des anderen unseren eigenen Körper berühren. In ähnlicher Weise haben wir, sofern f die Bewegung Geräusche erzeugt, ein Klangbild von ihr, etwa dann, wenn es sich um eine der Bewegungen der Klangerzeugung beim Sprechen handelt oder um eine Bewegung beim Spielen eines Musikinstruments. Alle diese Fernwirkungen der Bewegung, um sie einmal so zu bezeichnen, stellen sich ebenfalls bei Bewegungen ein, die wir selbst vollziehen, und sie lassen unzählige geistige Vorstellungen zurück, mit denen wir jede einzelne Bewegung von allen anderen unterscheiden können. Sie sieht anders aus als andere, fühlt sich an verschiedenen Teilen des Körpers, die sie berührt, anders an und klingt anders als andere Bewegungen. Diese Fernwirkungen würden dann streng genommen ausreichen, um den Geist mit den erforde f rlichen Ideen auszustatten. Aber neben diesen Wahrnehmungen unserer Fernsinne haben wir, wenn wir selbst eine Bewegung ausführen, eine weitere Reihe von Eindrücken, solche nämlich, die aus den Körperpartien kommen, die tatsächlich bewegt werden. Diese kinästhetischen Wahrnehmungen, wie Henry Charlton Bastian sie genannt hat, sind innerleibliche Auswirkungen der Bewegung. Nicht nur unsere Muskeln sind mit affer f enten und effer f enten Nerven ausgestattet; auch die Sehnen, Bänder, die Berührungsflächen der Gelenke sowie die Gelenkhäute sind äußerst sensibel. Wenn sie in der für eine bestimmte Bewegung charakteristischen Weise gedehnt oder gedrückt werden, liefern sie uns genau so viele besondere Eindrücke wie Bewegungen möglich sind.
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Durch diese innerleiblichen Wahrnehmungen werden wir uns passiver Bewegungen bewusst – etwa wenn andere Personen unsere Glieder bewegen. Wenn Sie mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegen und eine andere Person Ihren Arm oder Ihr Bein geräuschlos in eine beliebige andere Position bringt, empfinden Sie deutlich, welche Position genau das ist und können die Bewegung sofor f t selbst mit dem Arm oder Bein der anderen Körperhälfte wiederholen. In ähnlicher Weise wird jemand, der plötzlich in der Dunkelheit aus dem Schlaf erwacht, sofor f t wissen, in welcher Position er gerade liegt, zumindest dann, wenn sein Nervenapparat normal funktioniert. Aber in Fällen von Krankheiten stellen wir manchmal fest, dass die inneren Wahrnehmungen der Glieder die Nervenzentren nicht erregen und dass dann das Gefühl für die eigene Haltung verloren geht. Erst vor kurzem haben Pathologen damit begonnen, diese Anästhesien mit der gebotenen Sorgfalt zu studieren, und wir haben hier sicherlich noch viel zu lernen. Selbst wenn die Haut empfin f dungslos ist und sich die Muskeln unempfänglich ffür die kram k pfar f tigen Schmerzen zeigen, die normalerweise auftreten, wenn wir sie einem starken elektrischen Impuls aussetzen, kann doch der Sinn ffür das passive Bewegtwerden bestehen bleiben. Fälle, in denen alle anderen Gefühle in einer Gliedmaße außer diesem einen ausgefalle f n sind, scheinen zu belegen, dass dieser Sinn hartnäckiger ist als alle anderen. An anderer Stelle (Principl i es of Psych s ology, Kapitel XX, „The Perception of Space“) habe ich zu zeigen versucht, dass die Gelenkflächen wahrscheinlich die wichtigste Quelle der innerleiblichen kinästhetischen Empfindungen sind. Aber die nähere Beschreibung der hier involvierten besonderen Organe ist für unsere momentane Frage unwichtig. Es genügt zu wissen, dass die Existenz dieser Empfindungen nicht geleugnet werden kann. Wenn die Fähigkeit zur Empfindung passiver Bewegungen sowie alle anderen Gefühle einer Gliedmaße verloren gegangen sind, dann erhalten wir Ergebnisse, wie sie Adolf von Strümpell im fol f genden Bericht eines erstaunlich anästhetischen Jungen beschreibt, dessen einzige Wahrnehmungsquellen das rechte Auge und das linke Ohr waren: „Alle Extremitäten können sehr weit passiv bewegt werden, ohne dass der Patient etwas davon spürt. Nur bei einer heftig f en Überstreckung der Gelenke, besonders der Knie, stellte sich ein vages Gefühl der Anstrengung ein, das sich aber nur selten genau lokalisieren ließ. Wir haben den Patienten oft, nachdem wir ihm die Augen verbunden hatten, durch den Raum getragen, ihn auf einen Tisch gelegt und die Arme und Beine in die phantastischsten und offensichtlich unbequemsten Haltungen gebracht, ohne dass er etwas davon geahnt hätte. Die Verwunderung, die sich in seinem Gesicht abzeichnete, wenn wir das Tuch vor seinen Augen entfernten f , lässt sich nicht in Worten fas f sen. Nur wenn sein Kopf herabhing, sprach er von Schwindel, konnte aber nicht den Grund dafür f ausmachen. Später schloss er manchmal aus den Geräuschen, die mit der Manipulation einhergingen, das gerade etwas Besonderes mit ihm angestellt wurde. [...] Er kannte kein Gefühl der muskulären Erschöpfun f g. Wenn wir ihm, während seine Augen verbunden waren, sagten, er solle seinen Arm heben und hoch halten, tat er dies ohne Mühe. Nach ein oder zwei Minuten begann der Arm jedoch zu zittern und senkte sich, ohne dass er sich dessen bewusst war. Er behauptete, dass er in der Lage sei, ihn weiterhin hoch zu
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William James: Die Texte halten. [...] Auch das Festhalten seiner Finger spürte er nicht. Er dachte immer, dass er seine Hand öffnete und schloss, während sie in Wirklichkeit fif 4 xiert war.“
Oder wir lesen von Fällen wie diesem: „Willkürliche Bewegungen können nicht mehr eingeschätzt werden, sobald der Patient aufhört, sie mit seinen Augen zu verfolgen. Wenn er dazu gebracht wird, die Augen zu schließen, und man ihn dann bittet, eine seiner Gliedmaßen entweder ganz oder teilweise zu bewegen, dann tut er dies, kann aber nicht sagen, ob die Bewegung groß oder klein, stark oder schwach ist, oder sogar, ob sie überhaupt stattgefun f den hat. Und wenn er zum Beispiel die Augen, nach dem er sein Bein von rechts nach links bewegt hat, öffnet f , erklärt er, dass er nur eine sehr ungenaue Vorstellung von der Reichweite der Bewegung hatte. [...] Wenn ich ihn bei der Ausführung einer bestimmten Bewegung hindere, dann nimmt er dies nicht wahr und geht davon aus, dass sich das Bein in der Position befinde f t, die er ihm geben wollte.“5
Oder von diesem Fall: „Wenn die Augen des Patienten mitten in einer vorher nicht eingeübten Bewegung geschlossen waren, blieb er mit der Gliedmaße in der Position, in der sie sich im Moment des Schließens der Augen befan f d und führte die Bewegung nicht zu Ende. Dann senkte sich die Gliedmaße nach einigen Schwankungen allmählich auf Grund ihres Gewichts (ohne ein Gefühl der Ermüdung). Dem Patienten war dies nicht bewusst, und er wunderte sich, als er die Augen öffnete, über die veränderte Position der Gliedmaße.“6 Ein ähnlicher Zustand kann leicht bei vielen Hypnotisierten erzielt werden. Dazu muss nur einer entsprechend veranlagten Person während der hypnotischen Trance erzählt werden, dass sie ihre Gliedmaße nicht fühlen kann, und sie wird gar nichts von der Haltung spüren, in die wir sie bringen.7
All diese Fälle, egal ob spontan entstanden oder experimentell erzeugt, zeigen die absolute Notwendigkeit irgendeiner Art von leitenden Empf m findung für die erfol f greiche Durchführung einer Kette von Bewegungen. Es liegt offen zu Tage, dass genauso, wie wenn die Bewegungen in einer Kette automatisch aufeinander ffolgen, jede spätere Bewegung in der Kette aus dem Eindruck abgeleitet werden kann, den die jeweils ffrühere bei ihrem Vollzug hinterlassen hat, wir auch dort, wo die Kette willentlich for f tgesetzt wird, bei jeder Bewegung genau wissen müssen, an welcher Stelle der Sequenz wir uns befin f den, zumindest wenn wir auf intelligente Weise das nächste Glied in der Kette bestimmen wollen. Ein Mensch, der seine Bewegungen nicht fühlen kann, wird die Sequenz nie sehr gut fortset8 zen können und sich sicher bald täuschen und in die Irre gehen. Aber Patienten wie die beschriebenen, die keine kinästhetischen Empfin f dungen haben, können sich immer noch auf ihren Gesichtssinn verlassen. So schreibt Strümpell über seinen Jungen: „Man konnte immer beobachten, wie sein Blick zunächst auf das vor ihm stehende Objekt gerichtet war, dann auf seinen eigenen Arm, und er nie aufhörte, ihm während der gesamten Bewegung zu folgen. All seine willkürlichen Bewegungen standen unter der permanenten Leitung des Auges, das als ein unverzichtbarer Führer immer seine Funktion erfüllte.“
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Ähnlich der Fall, den Landry de Thézillat beschreibt: „Mit geöffn f eten Augen konnte der Patient mit dem Daumen leicht jeden der anderen Finger berühren, mit geschlossenen Augen kommt es zwar auch zur Berührung, doch der Daumen trifft f den Finger, den er sucht, nur zufällig. f Mit geöffn f eten Augen ist er ohne zu zögern in der Lage, seine beiden Hände zusammenzubringen, aber wenn die Augen geschlossen sind, suchen sich seine Hände im Raum und treffen f sich nur durch Zufall.“
In Charles Bells bekanntem Fall einer Anästhesie konnte die Frau ihr Kind nur so lange sicher in den Armen halten, wie sie es anblickte. Ich habe selbst einen ähnlichen Zustand bei zwei Hypnotisierten erzeugt, deren Arm und Hand empfindungslos gemacht wurden, ohne sie zu lähmen. Während sie sahen, konnten sie ihre Namen schreiben, wenn sie ihre Augen aber geschlossen hatten, funktionierte es nicht. Die moderne Form, Taubstummen die Artikulation beizubringen, besteht darin, sie auf bestimmte Empfindungen in Kehlkopf, Lippen, Brust und an anderen Stellen aufmerksam zu machen; die Reproduktion, dieser Empfindungen bahnt die Fähigkeit zur Vokalisierung an. Normalerweise hindern uns die Fernempfindungen, die wir durch das Ohr erhalten, daran, in unserer Rede den Faden zu verlieren. Die Erscheinungen im Zusammenhang mit Aphasie zeigen, 9 dass dies normalerweise so abläuft. f Dies ist vielleicht schon alles, was über die Existenz des passiven Bewegungsempfindungen und ihre Unentbehrlichkeit für unsere willentlichen Handlungen gesagt werden muss. Wir können es daher als erwiesene Tatsache ansehen, dass unabhängig davon, ob in dem M Moment, in dem wir bewusst eine bestimmte Handlung ausfüh f ren wollen, sich noch etwas anderes in unserem Kopf o abspie s lt, t ein mentales Kon K zept e (mental conception), ddas sich aus Erinnerungsbildern der entsprechenden E Emp pfindungen zusammensetzt, vorha r nden ist und bestimmt, welche besondere Han H dlung wir vollziehen. Wird, wenn wir eine Handlung vollziehen wollen, darüber hinaus noch eine andere geistige Instanz benötigt? Wir müssen in diesem Kapitel von den einfachen zu den komplizierteren Fällen übergehen. Meine erste These lautet also, dass es nichts anderes geben muss, und dass bei einfach f en freiwilligen Handlungen nichts t anderes im Geist vorau r sgesetzt wird r als die kinästhetische Vorst V ellung, die durch die besondere Art der Handlung defin f iert ist. Eine starke Tradition innerhalb der Psychologie fordert, dass es zusätzlich zu diesen Vorstellungen der passiven Empfindung noch eine weitere Instanz geben muss, die für die mentale Bestimmung eines freiwilligen Aktes von wesentlicher Bedeutung ist. Während des Aktes muss selbstverständlich ein besonderer Energiestrom vom Gehirn in die entsprechenden Muskeln flie f ßen, und dieser ausgehende Impuls (so wird unterstellt) muss in jedem einzelnen Fall mit einem Gefüh f l sui generis verbunden sein, denn sonst (so sagt man) könnte der Geist niemals sagen, ob nun gerade der Impuls, der zu diesem Muskel füh f rt oder der, der zu einem anderen führt, der richtige ist. Dieses Gefühl f eines Impulses ausgehender Energie wurde von Wilhelm Wundt mit dem Namen Gefüh f l der Innervation belegt. Ich glaube nicht an seine Existenz und werde diesen Begriff sogar, was, wie ich fürchte einige Zeit in Anspruch nehmen wird, regelrecht kritisieren.
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Auf den ersten Blick scheint die Annahme eines Gefühls der Innervation sehr plausibel zu sein. Die Gefühle des passiven Bewegtwerdens, mit denen wir uns bisher befasst haben, stellen sich alle erst nach dem Vollzug der Bewegung ein. Aber wo eine Bewegung schwierig ist und Präzision verlangt wird, werden wir uns in der Tat bereits im Vorfeld der Menge und Richtung der Energie bewusst, die es aufzubringen gilt. Man muss nur Bowling oder Billard spielen oder einen Ball werfen, um seinen Willen auf frischer Tat zu ertappen, wie er tastend seine möglichen Anstrengungen abwägt und im Idealfal f l verschiedene Muskelkontraktionen so lange einübt, bis er genau die richtige hinbekommt, und dann sagt: „Leg los!“! Dieses vorwegnehmende Abwägen fühlt sich so sehr wie eine Reihe von vorläufige f n Ausbrüchen von Kraft in die Außenwelt an, die von rechtzeitigen, unwiderrufliche Taten verhindernden Korrekturen begleitet werden, dass die Feststellung, es würde eher von ausgehenden Nervenimpulse als von bloßen Überresten der früheren passiven Empfänglichkeit begleitet, sich wie selbstverständlich aufdrängt. Wir stellen deshalb fest, dass die meisten Autoren die Existenz von Gefühlen der Innervation als selbstverständlich angenommen haben. Am deutlichsten verteidigen sie Alexander Bain, Wilhelm Wundt, Hermann von Helmholtz und Ernst Mach. Aber trotz der Autorität, die diese Autoren mit Recht ausüben, kann ich nicht umhin zu denken, dass sie in diesem Fall fal f sch liegen, – dass die Entladung in die motorischen Nerven von keinem speziellen Gefühl f begleitet wird, und dass alle unsere Bewegungsvorst r ellungen, einschließlich solcher der Anstrengungen, die sie erfor f dern, sowie solcher, die sich auf ihre Richtung, ihren Umfang, ihre Kraft und ihre Geschwindigkeit beziehen, auf periph i ere Emp E pfindungen zurückgehen, entweder auf Empfin p dungen der Fernsi r nne oder auf innerleibliche Emp E findungen in den beweglichen Gliedma d aßen oder in anderen Körpe r rpartien, die in Folge einer sich ausbreitenden W Welle mit in die Bewegung einbezogen werde r n. Wie ich zeigen werde, lässt sich kein apriorischer Grund für die Existenz eines Bewusstseins der Bewegungsauslösung finden, allerdings sehr wohl gute Gründe dagegen. Die Vermutung spricht also gegen die Existenz eines Gefüh f ls der Innervation; und die Beweislast liegt bei denjenigen, die daran glauben. Falls sich die positiven empirischen Belege, die sie anführen, ebenfal f ls als unzureichend erweisen, dann scheitert das von ihnen angestrengte Verfahren und über das in Frage stehende Gefühl muss außergerichtlich entschieden werden. Zuallererst möchte ich zeigen, dass die Annahme des Gefühl f s einer Innervation unnötig ist. Ich kann mich nicht des Verdachtes erwehren, dass das scholastische Vorurteil, „die Wirkung müsse bereits in irgendeiner Weise in der Ursache enthalten sein“, etwas damit zu tun hat, dass die Psychologen so bereitwillig das Gefühl f der Innervation zugeben. Wenn der nach außen gehende Impuls eine Wirkung ist, welcher psychische Vorläufer könnte ihn dann besser enthalten oder vorwegnehmen als ein Gefühl für diesen Impuls? Aber wenn wir unseren Blick erweitern und die psychischen Vorgeschichten unserer Aktivitäten im größeren Zusammenhang betrachten, sehen wir, dass die scholastische Maxime überall zusammenbricht und dass ihre Verifikation in diesem Fall die allgemeine Regel eher verletzen als bestätigen würde. In der sich ausbreitenden Welle, im reflexar-
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tigen Handeln und im Ausdrücken von Emotionen sind die resultierenden Bewegungen in keiner Weise im Voraus in den Reizen enthalten, die sie verursachen. Letztere sind subje b ktive Empfindungen oder objektive Wahrnehmungen, die nicht im geringsten den Bewegungen ähneln oder sie vorwegnehmen. Wir werden diesen Reizen einfach f ausgesetzt, und, Hokuspokus, schon sind die Bewegungen da! Sie werden aus uns hervorgetrieben und überraschen uns selbst. Es erregt, wie unsere Ausfüh f rungen über den Instinkt gezeigt haben, nur Erstaunen, dass diese körperlichen Konsequenzen aus solchen psychischen Vorgeschichten folgen sollten. Wir erklären das Geheimnis mehr schlecht als recht im Rahmen der Evolutionstheorie und sagen, dass zufällige Abweichungen und die Vererbung dafür gesorgt haben, dass diese speziellen Begriffe in einer einheitlichen Folgebeziehung zueinander entstanden sind. Wir wissen allerdings nicht, warum überhaupt u irgendein Bewusstseinszustand allen Bewegungen voran gehen soll – zwischen beiden Dinge besteht eine wesentliche Diskontinuität. Aber wenn es überhaupt ein Bewusstseinszustand sein muss, warum muss es dann nach allem, was wir sehen können, eine bestimmte Art von Zustand sein und nicht einfach f irgendein beliebiger? Für einen Menschen, dessen sämtliche Muskeln sich bei bestimmten Gelegenheiten, etwa bei plötzlichen Geräuschen oder Berührungen, 10 kontrahieren, wäre es wie Mücken zu seihen und Kamele zu schlucken , wenn er sich vorstellte, dass bei einer anderen Gelegenheit die Vorstellung der durch die Kontraktion produzierten Gefühle ein unzureichendes geistiges Signal für die Kontraktion wäre und stattdessen darauf bestünde, dass ein zusätzlicher Vorläufer in Form eines „Gefühles des ausgehenden Signals“ erfor f derlich ist. Nein! Nach allem, was wir sehen können und im Lichte allgemeiner Analogiebildung sind die kinästhetischen Ideen, wie wir sie definiert haben, oder die Vorstellungen von Empfin f dungen der Haltung und Bewegung, die wir erhalten, so wahrsc r heinlich wie alle Gefühle der Innervation die letzten psychischen Vorläufer und Bestimmungsfakt f oren der verschiedenen Impulse, die aus dem Gehirn nach außen in die Muskeln gehen. Die Frage „Was sind die Voraussetzungen und Bestimmungsgründe“ ist eine Frage nach Fakten, die nur durch empirische Bele11 ge entschieden werden kann. Aber bevor wir die empirischen Daten näher betrachten, lassen Sie mich damit for f tfah f ren zu zeigen, dass es einen bestimmten apri a orischen Grund gibt, aus dem herau r s die kinästhetischen Vors V tellungen als letztes t in Frag r e kommen, wenn es darum geht, t psychische V Vorläufer der nach außen gehenden Imp I ulse zu benennen, und warum wir erwa r rten sollten, dass diese IImpulse mit keinen Empfindungen einherge r hen, warum also, kurz gesagt, t die angeblichen Emp E pfindungen einer Inne I rvation nicht existieren sollten. Ein allgemeiner Grundsatz der Psychologie lautet, dass sich das Bewusstsein aus allen Prozessen zurückzieht, bei denen es nicht länger von Nutzen sein kann. Dass das Bewusstsein dazu tendiert, sich so wenig wie möglich zu involvieren, kann als allgemein akzeptiertes Gesetz gelten. Das Gesetz der Sparsamkeit in der Logik ist hierfür f nur das bekannteste Beispiel. Wir werden uns eines jeden Gefühles immer weniger bewusst, das uns nicht länger als Zeichen bei der Verwirklichung unserer Ziele dienen kann, und wo ein Zeichen genügt, werden alle ande-
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ren überflüssig, und dasje s nige, das bleibt, funktioniert von allein. Wir beobachten dies in der gesamten Geschichte der Sinneswahrnehmung und im Erlernen jeder Kunstferti f gkeit. Wir ignorieren, mit welchem unserer Augen wir sehen, da sich eine feste mechanische Verbindung zwischen unseren Bewegungen und den Bildern auf der Netzhaut etabliert hat. Unser Sehen zielt auf Bewegungen ab, unsere Netzhautbilder geben die Signale für diese Bewegungen. Wenn jedes beliebige Netzhautbild automatisch eine Bewegung in die richtige Richtung nahe legen kann, warum müssen wir dann wissen, ob es sich im rechten oder im linken Auge befindet? Dieses Wissen würde, etwa beim Erlernen einer Kunstfäh f igkeit oder eines willkürlichen Bewegungsablaufs, eine überflüssig Komplikation darstellen. Der Schütze denkt am Ende nur an die genaue Position des Ziels, der Sänger nur an den perfek f ten Klang, der Seiltänzer nur an die Spitzen des Stabes, dessen Schwingungen er ausbalancieren muss. Die damit einhergehenden Mechanismen haben sich bei all diesen Personen so perfektioniert, dass jede Änderung der auf das Ziel gerichteten Gedanken äußerst fun f ktionell mit der einen Bewegung verbunden ist, die dieses Ziel verwirklichen kann. Solange sie Anfän f ger waren, dachten sie sowohl an die Mittel wie an die Zwecke: der Schütze an die Position seines Gewehrs oder Bogens oder an das Gewicht der Kugel; der Pianist an die sichtbare Position der Noten auf der Tastatur; der Sänger an seine Kehle und seinen Atem; der Seiltänzer an seine Füße auf dem Seil oder an seine Hand am Stab. Aber nach und nach gelang es ihnen allen, indem sie dieses überflüssige Bewusstsein ablegten, in ihren Bewegungen sicher und genau zu werden. Wenn wir nun den neuronalen Mechanismus willentlicher Handlungen analysieren, werden wir sehen, dass (aufgr f und dieses Prinzips der Sparsamkeit im Bewusstsein) der Bewegungsauslösung jedes Empfinden abgesprochen werden sollte. Wenn wir diese unmittelbaren psychischen Vorläufer f einer Bewegung als ihr geistiges Einsatzsignal bezeichnen, dann ist alles, was für f die Unveränderlichkeit der Sequenz der Abschnitte der Bewegung benötigt wird, eine fixierte Verbi r ndung zwischen den verschiedenen geistigen Einsatzsignalen und einer bestimmten Bewegung. Um eine Bewegung in perfek f ter Präzision auszufüh f ren, genügt es, dass sie sofor f t ihrem eigenen geistigen Einsatzsignal gehorcht und sonst niemandem, und dass dieses geistige Einsatzsignal unfähig f ist, irgendeine andere Bewegung auszulösen. Nun läge die einfac f hste mögliche Anordnung zur Hervorrufung willkürlicher Bewegungen darin, dass die Erinnerungsbilder der die Bewegungen unterscheidenden äußeren Wirkungen, egal ob sie über die 12 Fernsinne oder das innerleibliche Empfinden gewonnen wurden, selbst die psychischen Einsatzsignale bilden, und dass keine anderen psychischen Tatsachen eingreifen oder mit ihnen vermischt werden. Für eine Million verschiedener willkürlicher Bewegungen würden wir dann eine Million unterschiedener Prozesse im Kortex (jeder Prozess entspräche der Vorstellung oder dem Erinnerungsbild einer Bewegung) und eine Million verschiedene Wege der Entladung benötigen. Alles wäre dann eindeutig bestimmt, und wenn die Vorstellung richtig wäre, wäre es auch die Bewegung. Alles, was nach der Vorstellung kommt, könnte dann
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ganz empfin f dungslos sein und die Bewegungsauslösung selbst könnte unbewusst vollzogen werden. Die Anhänger einer Empfindung der Innervation sagen nun aber, dass die Bewegungsauslösung selbst gefühlt werden muss, und dass sie, und nicht die Vorstellung einer besonderen Auswirkung der Bewegung, das eigentliche mentale Einsatzsignal sei. So wird das Prinzip der Sparsamkeit geopfert und alle Eleganz und Einfachheit gehen verloren. Denn was kann durch die Zwischenschaltung dieses Relais des Gefühl f s zwischen der Vorstellung der Bewegung und der Bewegung selbst gewonnen werden? Jedenfalls nichts im Hinblick auf die Wirtschaftli f chkeit der neuronalen Prozesse; denn wir benötigen genauso viele Nervenbahnen, wenn wir eine Million Bewegungsvorstellungen mit einer Million motorischer Zentren verbinden wollen, von denen jedes mit einem besonderen Gefühl der Innervation ausgestattet ist, dass sich mit den von ihm ausgehenden Impulsen verbindet, wie wenn wir die gleiche Anzahl von Bewegungsbildern mit einer Million empfindungsloser motorischen Zentren verbinden. Und wir gewinnen auch nichts an Präzision. Denn die einzig denkba k re Weise, in der die Gefühle der Innervation weiter präzisiert werden könnten, bestünde vielleicht darin, einem Geist, dessen Bewegungsvorstellung vage ist, eine Art Ruhebereich einzuräumen, in dem er seinen Verstand vor dem Aussprechen des fiat sammeln kann. Allerdings sind die bewussten Unterscheidungen zwischen unseren kinästhetischen Vorstellungen viel schärfer als es, sofern f jemand davon berichtet hätte, die Schattierungen der Unterschiede zwischen den Empfindungen der Innervation wären. Aber selbst wenn dies nicht der Fall wäre, wäre es unmöglich zu sehen, wie ein Geist mit seinen unklar wahrgenommenen Vorstellungen viel über seine Innervations-Gefühl f e aussagen könnte, wären nicht dieje e nigen, die genau der Vorstellung entsprechen, so scharf unterschieden von denen, die ihr nicht entsprechen. Eine scharf empfangene Vorstellung wird auf der anderen Seite eine deutliche Bewegung so leicht direkt hervorrufen, wie es ein deutliches Gefühl f der Innervation wecken wird. Wenn Gefühl f e aufgr f und von Vagheit in die Irre gehen können, dann handeln wir bestimmt umso sicherer, je weniger Empfindungsstufen f zwischengeschaltet sind. Wir müssen also allein aus apriorischen Gründen, die Innervationsgefü e hle als reine Belastung betrachten und davon ausgehen, dass die peripheren Vorstellungen der Bewegung ausreichende geistige Signale sind, die Bewegungen einleiten. Die Wahrscheinlichkeit spricht damit gegen die Gefühle der Innervation. Diejenigen, die ihre Existenz verteidigen, sind verpflichtet, sie durch positive Beweise zu belegen. Diese Beweise könnten direkt oder indirekt geführt werden. Wenn wir sie introspektiv als etwas deutlich von den peripheren Gefühlen und Bewegungsvorstellungen Unterschiedenes fühlen können, deren Existenz niemand abstreitet, dann wäre dies ein sowohl direkter wie auch schlüssiger Beweis. Leider existiert kein solcher Beweis. Es gibt keinen introspektiven Beweis für f ein Gefüh f l der Innervation. Überall, wo wir ihn suchen und denken, wir hätten ihn, fin f den wir, dass wir stattdessen in Wirklichkeit nur eine periphere Empfindung oder eine periphere Vorstellung gefunden haben – eine Vorstellung für das, was wir empfin f den, wenn die Inner-
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vation vorbei ist, die Bewegung bereits im Vollzug ist oder schon abgeschlossen wurde. So ist zum Beispiel unsere Vorstellung davon, den Arm zu heben oder unsere Finger zu krümmen, ein mehr oder weniger lebhafter Sinn dafür f , wie sich der erhobene Arm oder die gekrümmten Finger anfühlen. Darüber hinaus gibt es kein anderes mentales Material, aus dem eine solche Vorstellung gemacht sein könnte. Wir können unmöglich eine Vorstellung von der Bewegung unserer Ohren haben, bevor sich unsere Ohren nicht wirklich bewegt haben. Das gilt für alle anderen Organe genauso. Seit den Zeiten David Humes war es ein Gemeinplatz der Psychologie, dass wir nur mit den äußeren Ergebnissen unseres Wollens vertraut sein können und nicht mit dem verborgenen inneren Mechanismus der Nerven und Muskeln, die 13 diese Resultate in erster Linie erzeugen. Diejenigen, die an das Gefüh f l der Innervation glauben, gestehen dies bereitwillig zu, sind sich aber der Tragweite nicht bewusst. Es scheint mir, dass wir als unmittelbare Folge davon an der Existenz des in Frage stehenden Gefüh f ls zweifeln sollten. Wer auch immer sagt, dass er, wenn er seinen Arm hebt, nicht weiß, wie viele Muskeln er dabei in welcher Reihenfol f ge und mit welcher Intensität kontrahiert, bekennt damit ausdrücklich ein hohes Maß an Unbewusstheit in Bezug auf Prozesse der Bewegungsauslösung. Nicht jeder einzelne Muskel kann ein eigenes, deutliches Gefüh f l der Innervation haben. Wundt, der diese hypothetischen Empfindungen in seiner psycho14 logischen Konstruktion des Raums sehr intensiv nutzt, ist selbst geneigt zuzugeben, dass zwischen ihnen keine qualitativen Unterschiede bestehen, sondern sich in allen Muskeln gleich anfüh f len und sich nur in ihrem Intensitätsgrad unterscheiden. Sie werden vom Geist nicht genutzt, um zu entscheiden, welche Bewegung er initiieren soll, sondern nur dazu, wie star t rk die Bewegung sein soll. Aber 15 wird damit nicht praktisch ihre Existenz überhaupt aufgegeben? Denn wenn sich überhaupt etwas ganz offen f sichtlich der Introspektion erschließt, dann die Tatsache, dass uns der Stärkegrad unserer Muskelkontraktionen vollständig durch die affer f enten Empfindungen einer objektiven Anstrengung in den Muskeln selbst und an ihren Ansatzpunkten, in der Umgebung der Gelenke, an den beweglichen Teilen des Kehlkopfes f , an der Brust, am Gesicht und am Körper, gegeben sind. Wenn wir an ein ganz bestimmtes Maß von Energie denken, die für f eine Kontraktion aufge f bracht werden muss, dann repräsentiert diese komplexe Gesamtheit der afferen f ten Empfindungen, die das Material unseres Denkens bildet, absolut präzise und unverwechselbar unsere Vorstellung über die genaue Stärke der zu vollziehenden Bewegung und den genauen Widerstand, der überwunden werden muss. Der Leser möge versuchen, seinen Willen auf eine bestimmte Bewegung zu richten, und dann darauf achten, was dazu führte, dass der Willen genau diese seine Richtung nahm. War es etwas oberhalb und jenseits der Vorstellung der verschiedenen Empfindungen, die die Bewegung, wenn sie vollzogen wird, bewirkt? Wenn wir von diesen Empfin f dungen absehen, bleibt dann irgendein Anzeichen, Prinzip oder Mittel der Orientierung übrig, mit dessen Hilfe f der Wille dann die richtigen Muskeln mit der richtigen Intensität innervieren kann? Ziehen wir diese Vorstellungen der Ergebnisse ab, bleibt unser Bewusstsein, weit ent-
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fernt davon, mit einem vollständigen Sortiment von Richtungen dazustehen, in die sich unser Wille auswirken kann, in einer absoluten Leere zurück. Wenn ich lieber „Peter“ als „Paul“ schreiben möchte, dann wird die Richtung, die mein Stift f nimmt, sofort von Gedanken bestimmter haptischer Empfindungen, alphabetischer Klänge und Erscheinungen auf dem Papier bestimmt, und von nichts anderem. Wenn ich eher das Wort Paul als das Wort Peter aussprechen möchte, dann wird diese Äußerung von dem Gedanken an den Klang meiner Stimme in meinem Ohr und von bestimmten Muskelempfindungen in meiner Zunge, meinen Lippen und im Kehlkopf bestimmt. All dies sind von außen kommende Empfin f dungen und zwischen dem auf sie gerichteten Gedanken, durch den die Handlung mental in ihrer Vollständigkeit spezifiziert wird, und der Handlung selbst, gibt es keinen Raum für eine dritte Art von mentalen Phänomenen. Es gibt in der Tat das fiat, das Element der Zustimmung oder der Entscheidung, dass der Akt ausgeführt werden soll. Dieses fiat steht ohne Zweifel, sowohl für den Leser wie ffür mich selbst, im Zentrum der Freiwilligkeit jeder Handlung. Es wird weiter unten ausfüh f rlicher behandelt, kann hier aber ganz vernachlässigt werden, denn es ist ein konstanter Koeffizien f t, der alle willentlichen Handlungen gleichermaßen betrifft f , und insofern nicht dazu dienen kann, zwischen ihnen zu unterscheiden. Niemand wird behaupten, dass sich die Qualität des fiat ändert, wenn wir zum Beispiel den rechten Arm statt des linken verwenden. Ein antizipatorisches Bild der sensorischen K Konsequenzen einer Bewegung ist dann zusammen mit dem fiat, t dem Willen also, dass diese Kon K sequenzen auch tatsächlich wirkl r ich werde r n sollen, der einzige psyc s hische Zustand, d den uns die Introspektion als Vorläufer f unserer ffreiwilligen Hand H lungen zu erkennen gibt. Eine introspektive Evidenz welcher Art auch immer lässt sich für f irgendein späteres oder begleitendes Gefüh f l, das mit dem nach außen gehenden Impuls einhergehen soll, nicht anfüh f ren. Die verschiedenen Grade der Schwierigkeit, mit denen das fiat gegeben wird, bilden eine Komplikation von größter Bedeutung und werden an späterer Stelle erörtert. Jetzt kann der Leser immer noch den Kopf schütteln und sagen: „Aber können Sie ernsthaft glauben, dass all die wunderbar genauen Einstellungen der Stärke meines Handelns, die erfolgen, damit es seine Zwecke erreichen kann, nichts mit der nach außen gehenden Innervation zu tun haben? Denken wir an eine Kanonenkugel und an eine Pappschachtel: Beide kann ich sofor f t und exakt auf den Tisch heben, die Kugel bleibt nicht am Boden, weil meine Innervation zu schwach, und die Schachtel fliegt nicht plötzlich in die Luft, weil die Innervation zu stark gewesen wäre. Könnten Darstellungen der verschiedenen sensorischen Effekte der Bewegung in den beiden Fällen so zart im Geist vorgezeichnet werden? Oder ist es glaubhaft, dass sie ohne jede fremde Hilfe die unbewussten motorischen Zentren so ffeinfühlig stimulieren?“
„Gerade deswegen!“, antworte ich auf beide Fragen. Wir verfüge f n über äußerst genaue antizipatorische Vorstellungen der sensorischen Effek f te. Wie sollen wir uns sonst die Überraschung erklären, die wir empfin f den, sobald jemand die leicht aussehende Pappschachtel mit Sand füllt, bevor wir sie anzuheben versuchen,
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oder die Kanonenkugel durch eine bemalte hölzerne Attrappe ersetzt? Überrar schungen ergeben sich immer nur, wenn wir etwas empfin f den, was von den erwarteten Empfin f dungen abweicht. Aber wenn wir die Objekte gut kennen, wird uns tatsächlich die geringste Diffe f renz zum erwartbaren Gewicht überraschen oder zumindest unsere Aufmerksamkeit erregen. Bei unbekannten Objekten schätzen wir das Gewicht nach dem Augenschein ein. Die Erwartung der entsprechenden Empfindung innerviert unseren Versuch, es aufzuheben, und wir „setzen“ das Gewicht zunächst sehr niedrig an. Von einem Augenblick auf den anderen entscheidet sich, ob wir es zu niedrig veranschlagt haben. Das erwartete Gewicht steigt, d. h. wir denken in einem Sekundenbruchteil an eine andere Stellung der Brust und der Zähne, an eine Spannung im Rücken und an ein heftigeres Gefühl in den Armen. Schneller als gedacht, haben wir die entsprechende Hal16 tung eingenommen und mit ihr hebt sich die Last vom Boden. Martin Bernhardt hat den handfes f ten experimentellen Nachweis dafür f erbracht, dass unsere Einschätzung der Stärke eines Widerstands genauso fein abgestuft f ist, wenn unser Wille passiv ist und wenn die Muskeln in unseren Gliedern durch direkte lokale Elektri t sierung kontrahiert werden, als wenn wir sie selbst 17 innervieren würden. David Ferrier hat diese Beobachtungen wiederholt und 18 bestätigt. Beide Autoren haben nicht allzu viel Wert auf Präzision gelegt und ihre Ergebnisse sollten nicht zu stark belastet werden. Aber zumindest scheinen sie zu zeigen, dass kein zusätzlicher Distinktionsgewinn aus einem Bewusstsein des efferen f ten Prozesses erwachsen würde, selbst wenn ein solches existierte. Da es keinen direkten introspektiven Beweis für die Gefühle der Innervation zu geben scheint, wäre zu fragen, ob es vielleicht eine indirekte k Evidenz oder zumindest Indizien geben könnte? Vieles wird uns hier angeboten; aber einer kritischen Prüfun f g hält nichts Stand. Lassen Sie uns sehen, was es ist. Wundt sagt: „Denn diese unsere Bewegungsempfindungen sind keineswegs bloß von der äußeren oder inneren Arbeit abhängig, die der Muskel leistet, sondern es ist offe f nbar außerdem auf sie die Stärke des Bewegungsimpulses von Einfluß, der von dem Centralorgan der Bewegungsnerven ausgeht. Dies ergibt sich namentlich aus ärztlichen Beobachtungen in Fällen krankhafter Veränderungen der Muskelwirkung. Ein Patient, der am Bein oder Arm halb gelähmt ist, so daß er nur noch mit großer Anstrengung das Glied bewegen kann, hat eine deutliche Empfindung von dieser Anstrengung: das Glied kommt ihm schwerer vor als früher, es ist ihm, als wäre es mit Blei beschwert; er hat also die Empfindung einer größeren Kraftleistung als früher, und doch ist die wirklich geleistete Arbeit die nämliche oder sogar eine kleinere. Er muß nur, um diese Kraftlei f stung zu vollfüh f ren, eine stärkere Innervation wirken lassen. “19
Bei vollständiger Lähmung werden sich die Patienten außerdem der größten Anstrengung bewusst, wenn sie ein Glied bewegen wollen, das absolut still auf dem Bett liegen bleibt und aus dem natürlich keine affer f enten Muskelempfin f dun20 gen oder anderen Gefühle kommen können. 21 [...] Insgesamt ist es also höchstwahrscheinlich, dass diese Gefühle der Innervation nicht existieren. Wenn die motorischen Zellen distinkte Strukturen sind, dann sind sie so empfin f dungslos, wie es die motorischen Nerven-Bahnen werden,
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wenn man ihre hinteren Wurzeln abschneidet. Wenn sie keine distinkten Strukturen sind, sondern nur die letzten Sinneszellen, diejenigen an der „Mündung des Trichters“, dann ist ihr Bewusstsein nur dasje s nige der kinästhetischen Vorstellungen und Empfindungen, und dieses Bewusstsein begleitet den Anstieg ihrer Aktivität und nicht ihre Entladung. Der gesamte Inhalt und das gesamte Material unseres Bewusstseins – des Bewegungsbewusstseins wie jedes anderen Bewusstseins – ist somit peripheren Ursprungs und kommt uns in erster Linie durch die peripheren Nerven zu. Wenn wir gefragt werden, was wir durch diese sensualistische Schlussfolgerung gewinnen, würde ich antworten, dass wir zumindest Einfachheit und Einheitlichkeit gewinnen. In unseren Untersuchungen über den Raum, den Glauben und die Gefühle ffanden wir heraus, dass das Empfindungsvermögen viel reicher ist als gemeinhin angenommen wird, und die aktuelle Untersuchung scheint in diesem Punkt mit den anderen Untersuchungen im Einklang zu stehen. Da der Sensualismus etwas sehr Ernüchterndes hat und alle innere Originalität und Spontaneität zu bedrohen scheint, muss gesagt werden, dass die Verteidiger der inneren Spontaneität ihr Heiligtum verraten, wenn sie in seinem Namen einen Kampf für das Bewusstsein der Energie ausfech f ten, die in die ausgehende Entladung investiert wird. Wir sollten demgegenüber auf ein solches Bewusstsein verzichten und all unsere Bewegungsgedanken als sensual verfasst interpretieren. Noch in der Betonung, der Auswahl und Parteinahme ffür einen dieser Bewegungsgedanken, noch wenn wir zu ihm sagen: „Sei du ffür mich alle Wirklichkeit“, gibt es genügend Spielraum für f unsere innere Initiative. Hier sollte, so scheint es mir, die eigentliche Grenze zwischen den passiven Materialien und der aktiven Seite des Geistes gezogen werden. Es ist sicherlich eine falsche Strategie, sie zwischen solchen Vorstellungen zu ziehen, die im Zusammenhang mit den ausgehenden neuronalen Impulsen stehen und solchen, die mit 22 den eingehenden verbunden sind. Wenn die Vorstellungen, zwischen denen wir in dem Moment unterscheiden, in dem wir uns anschicken, eine von zwei möglichen Bewegungen auszuführen, immer sensorischen Ursprungs sind, dann stellt sich die Frage: „Zu welcher sensorischen Ordnung gehören sie?“ Wir erinnern uns daran, dass wir zwei Arten kinästhetischer Eindrücke unterschieden hatten, die äuße u ren, die durch die Einwirkung der Bewegungsfol f gen auf das Auge, das Ohr oder die Haut usw. gemacht werden, und die innerleiblichen, also die Eindrücke in den beweglichen Teilen wie Muskeln, Gelenken usw. selbst. Geben nun ausschließlich die innerleiblichen Vorstellungen das geistige Einsatzsignal für f eine Bewegung, oder erfül f len die auf Fernsinne zurückgehenden Vorstellungen den gleichen Zweck? Es ist nicht zu bezweifeln, ddass das d geistige Einsatzsignal entwe t der eine innerleibliche Vorstellung oder eine den Fernsinnen korrespondierende Vorstellung ist. Es scheint so, dass am Beginn des Erlernens einer Bewegung die innerleiblichen Empfin f dungen weit wichtiger sind als das Bewusstsein, während dies später nicht mehr der Fall sein muss. Je geübter wir in einer Bewegung werden und je mehr wir die Vorstellungen, die als geistiger Auslöser dienen, verleiblichen, desto mehr entgleiten sie der Kontrolle des Bewusstseins. Uns interessiert, was im Bewusstsein haften bleibt; alles andere wollen wir so schnell wir können
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loswerden. Wir haben in der Regel kein substantielles Interesse an unseren innerleiblichen Bewegungsempfindungen. Was uns dagegen interessiert, sind die Ziele, die wir mit einer Bewegung erreichen wollen. Ein solches Ziel wäre etwa ein äußerer Eindruck, den das Auge oder Ohr, manchmal auch die Haut, die Nase oder der Gaumen empfängt. Wenn wir die Vorstellung des Ziels mit der richtigen motorischen Innervation verbinden, wird die gedankliche Repräsentation einer innerleiblichen Wirkung der Innervation überflüssig. Der Geist braucht diesen Gedanken nicht; das Ziel allein reicht vollkommen aus. Je besser wir eine Bewegung erlernen, desto eher genügt uns die bloße Zielvorstellung, um sie ausfüh f ren zu können. Zumindest sind die kinästhetischen Ideen, sofern f sie überhaupt aufgerufen werden, dann mit den lebendigen kinästhetischen Empfindungen überfordert und werden sofor f t von ihnen überholt, so dass wir keine Zeit haben, uns ihrer eigenständigen Existenz bewusst werden zu können. Während ich dies schreibe, habe ich weder eine von meinen Sinneseindrücken unterschiedene Erwartung des Aussehens noch des haptischen Gefühls der Buchstaben, die aus meiner Feder flie f ßen. Die Worte erklingen genauso in meinem geistigen Ohr, r wie sie es taten, bevor ich sie niederschrieb, aber sie erscheinen nicht vor meinem geistigen Auge oder in meiner geistigen Hand. Dies ergibt sich aus der Schnelligkeit, mit der oft f wiederholte Bewegungen auf ihr psychisches Einsatzsignal fol f gen. Ein Ziel, dem wir sofor f t zustimmen, wenn wir es wahrnehmen, innerviert direkt das Zentrum der ersten Bewegung in der Kette, die zu seiner Erreichung fführt, und dann rasselt die ganze Kette quasi-reflexhaft f herunter. Der Leser wird mit Sicherheit erkennen, dass dies für alle fließenden und ohne Zögern ausgeführten ffreiwilligen Handlungen gilt. Das einzige besondere fiat tritt hier zu Beginn der Kette auf. Ein Mann sagt sich: „Ich muss mein Hemd wechseln“, und unwillkürlich zieht er seinen Mantel aus und seine Finger öffnen in gewohnter Weise die Knöpfe f seiner Weste, etc. Oder wir sagen: „Ich muss nach unten gehen“, und ehe wir uns versehen, sind wir die Treppe heruntergestiegen und haben die Türklinke gedrückt – alles aufgr f und einer Zielvorstellung gepaart mit einer Reihe von orientierenden Empfindungen, die sich nacheinander einstellen. Es scheint in der Tat so, dass wir an Genauigkeit und Sicherheit in unserer Erreichung des Zieles einbüßen, wenn wir allzu viel Bewusstsein und Vorstellungen auf die Mittel richten müssen. Wir balancieren desto besser auf einem Balken, je weniger wir an die Position unserer Füße denken. Wir werfen oder ffangen, schießen oder hacken desto besser Holz, je geringer unser taktiles und muskuläres (innerleibliches) Bewusstsein ist, und je mehr es ausschließlich optisch (also auf die Fernsinne bezogen) ist. Halten Sie Ihre Augen auf den Punkt, an dem sich das Ziel befindet, und Ihre Hand wird es erreichen; denken Sie an Ihre Hand, und Sie werden das Ziel höchstwahrscheinlich verfehlen. Elmer E. Southard hat festgestellt, dass er eine genaue Stelle mit einer Bleistifts f pitze besser treffen f konnte, wenn die entsprechende Bewegung mit einem visuellen statt mit einem taktilen mentalen Einsatzsignal ausgelöst wurde. Im ersten Fall betrachtete er ein kleines Objek b t und schloss dann, bevor er versuchte, es zu treffen f , die Augen. Im zweiten Fall stellte er es mit geschlossenen Augen ab, zog
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die Hand von ihm zurück und versuchte dann, es wieder zu berühren. Der durchschnittliche Fehlerquotient lag bei der bloßen Berührung bei 17,13 mm, beim 23 Sichtkontakt dagegen bei nur 12,37 mm. Alle dies sind einfach f Ergebnisse der Introspektion und Beobachtung. Durch welche neuronale Maschinerie sie möglich gemacht werden, brauchen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu untersuchen. Im Kapitel XVIII („Imagination”) sahen wir, wie sehr sich einzelne Personen in ihren geistigen Vorstellungsbildern voneinander unterscheiden. In der Art von Imaginationen, die fra f nzösische Autoren als taktile bezeichnen, ist es wahrscheinlich, dass die kinästhetischen Ideen eine wichtigere Rolle spielen als in meinem Ansatz. Wir dürfen keine zu große Einheitlichkeit in individuellen Darstellungen erwarten, noch allzu sehr darüber streiten, welcher Ansatz den Prozess am 24 ,wahrhaftigsten‘ repräsentiert. Ich hoffe, f dass ich nun deutlich gemacht habe, was genau die „Bewegungsvorstellung“ ist, die der Bewegung selbst vorausgehen muss, wenn sie auf fre f iwilliger Basis vollzogen wird. Die Bewegung erfordert keinen Gedanken an die Innervation, sondern nur die Antizipation der spürbaren Wirkungen der Bewegung, Wirkungen auf die Fernsinne und die innerleiblichen Sinne, die manchmal sehr tief im Leib verkörpert sind. Solche Antizipationen bestimmen die Richtung unserer Bewegungen. Ich habe die ganze Zeit so gesprochen, als ob sie möglicherweise auch die Tatsache bestimmen, dass sie geschehen soll. Ohne Zweifel hat dies viele Leser verunsichert, denn es scheint dann sicher so, als ob in vielen Fällen von Willenshandlungen ein besonderes fiat oder eine besondere Art von Zustimmung zur Bewegung als Ergänzung zur bloßen Bewegungsvorstellung benötigt wird. Dies führt uns zum nächsten Punkt in der Psychologie des Willens. Er kann nun umso leichter behandelt werden, als wir jetzt die langweilige erste Frage endlich los geworden sind.
Ideomotorische Handlungen Die Frage lautet: Ist die bloße IIdee der sinnlichen W Wirkungen einer Bewegung ein hinreichendes bewegungsauslösendes Moment, t oder muss noch eine weitere psychische Voraussetzung in Gestalt eines fiat, einer E Enttscheidung, einer Z Zustimmung, eines Willensauftrags oder anderer gleichwertiger Bewusstseinsphänomene hinzukommen, bevor eine Bewegung erfol f gen kann? Ich antworte: Manchmal genügt die bloße Vorstellung, aber oft muss noch ein zusätzliches Bewusstseinselement in Form eines fiat, eines Auftrags oder einer ausdrücklichen Zustimmung dazukommen und der Bewegung vorausgehen. Die Fälle ohne fiat bilden die ffundamentalere, weil einfach f ere Variante. Die anderen Fälle bringen eine besondere Schwierigkeit mit sich, die an geeigneter Stelle noch näher diskutiert werden muss. Denn jetzt wollen wir uns den ideomotorischen Handlungen, wie sie genannt worden sind, als dem Typus des Willensprozesses zuwenden, also jenen Handlungen, in denen die Bewegung ohne spezielles fiat und d. h. nur auf die bloße Vorstellung derselben hin eintritt.
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Wo eine Bewegung ohne Zögern und unmittelbar im Anschluss an die entsprechende Bewegungsvorstellung erfolgt, haben wir es mit einer ideomotorischen Handlung zu tun. Zwischen der Konzeption und der Ausführung kommt uns dann nichts Drittes zum Bewusstsein. Natürlich schieben sich alle Arten von neuronalen Prozessen und Muskelbewegungen dazwischen, aber wir merken absolut nichts von ihnen. Wir denken an den Akt, und er ist geschehen, und das ist alles, was auf Grund der Introspektion darüber ausgesagt werden kann. William Benjamin Carpenter, der, so weit ich weiß als erster den Namen der ideomotorischen Handlung verwendet hat, rechnet sie, wenn ich nicht irre, unter die Kuriositäten unseres geistigen Lebens. In Wirklichkeit ist sie keine Kuriosität, sondern, wenn man sie unbefangen betrachtet, der ganz normale Vorgang. Während ich spreche, bemerke ich eine Nadel auf dem Boden oder ein Stäubchen auf meinem Ärmel. Ohne die Unterhaltung unterbrechen zu müssen, wische ich das Stäubchen weg oder hebe die Nadel auf. Ich fas f se hierzu keinen ausdrücklichen Entschluss, sondern die bloße Wahrnehmung des Objekts und der flüchtige Begriff des Akts scheinen diesen ganz von allein herbeizuführen. In einer vergleichbaren Weise sitze ich nach dem Essen am Tisch und merke, dass ich von Zeit zu Zeit Nüsse oder Trauben aus der Schale nehme und esse. Mein eigentliches Mittagessen ist längst vorüber und im Eifer des Gesprächs merke ich kaum, was ich tue; aber die Wahrnehmung der Früchte und der fflüchtige Gedanke daran, dass ich sie essen könnte, scheinen den Akt unvermeidlich zu veranlassen. Dabei spielt ein ausdrückliches fiat sicher keine Rolle. Ebenso wenig wie in all dem gewohnten Kommen und Gehen und den Erledigungen, die die Stunden unserer Tage anfül f len und die so unmittelbar durch eingehende Empfindungen angeregt werden, dass es oft schwer zu entscheiden ist, ob sie nicht besser als Refle f xe denn als Willenshandlungen bezeichnet werden sollten. Wie Lotze sagt: „So sehen wir beim Schreiben oder Klavierspielen eine große Menge zum Teil sehr komplizierter Bewegungen rasch hintereinander erfolgen, deren vorbildende Vorstellungen kaum einen Moment durch das Bewußtsein gingen und gewiß nicht lange genug in ihm blieben, um einen anderen Willen als den allgemeinen zu erwecken, sich dem Übergange der Vorstellungen in Bewegungen widerstandslos hinzugeben. Alle die gewöhnlichen Bewegungen unseres alltäglichen Lebens geschehen auf diese Weise; unser Aufstehen, Gehen, Sprechen, alles das erfordert nie besondere Willensimpulse, p sondern wird durch den Lauf der Vorstellungen hinlänglich begründet.“25
In all diesen Fällen scheint die ausschlaggebende Bedingung für f das unwillkürliche und widerstandslose Ausfüh f ren des Aktes der M Mangel an irgendeiner widerstreitenden Vorste r llung in unserem Bewusstse t in zu sein. Entweder ist gar nichts anderes in unserem Bewusstsein enthalten oder das, was vorhanden ist, widerspricht der Ausfüh f rung nicht. Das hypnotisierte Subjekt steht für die erste dieser beiden Möglichkeiten. Fragen Sie einen Hypnotisierten, woran er gerade denkt, und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird er antworten: „An Nichts.“ Die Folge daraus ist, dass er einerseits an alles glaubt, was ihm erzählt wird, und andererseits jede Handlung vollzieht, die ihm vorgeschlagen wird. Der Vorschlag kann ein mündlich vorgebrachter Befeh f l sein oder einfach f in der Ausführung der nachzuahmenden Bewegung vor seinen Augen bestehen. Unter be-
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stimmten Bedingungen wiederholen Hypnotisierte alles, was sie von uns hören, und imitieren, was wir ihnen vormachen. Charles Féré sagt, dass bestimmte Personen neurotischen Typs im wachen Zustand immer dann, wenn man immer wieder die Hand vor ihren Augen öffnet und schließt, selbst sehr bald beginnen, entsprechende Empfindungen in ihren eigenen Fingern zu spüren, und einen unwiderstehlichen Drang verspüren, die Bewegungen, die sie sehen, selbst auszuführen. Féré hat fes f tgestellt, dass seine Probanten unter diesen künstlich herbeigeführten Bedingungen das Hand-Dynamometer weit kräf k ftiger drücken konnten, als wenn sie ganz einfach f dazu aufgefordert werden, dies zu tun. Manchmal versetzen passive Wiederholungen einer Bewegung geschwächte Patienten in die Lage, sie aktiv mit größerer Kraft auszuführen. Diese Beobachtungen zeigen sehr schön, wie die bloße Anregung der kinästhetischen Vorstellungen als volles Äquivalent eines gewissen Grades an Spannung in Richtung auf eine Entladung 26 in den Zentren gelten kann. Wir wissen, was es bedeutet, an einem Wintermorgen in einem eisigem Zimmer aus dem Bett aufzu f stehen, und wie sehr sich in uns alles gegen diese harte Probe sträubt. Wahrscheinlich haben die meisten schon einmal an bestimmten Vormittagen eine Stunde im Bett verbracht, ohne imstande zu sein, sich aufra f ffen f zu können. Wir denken daran, wie spät es schon ist und welche Verzögerung unsere Tagesgeschäfte erfah f ren werden. Wir sagen uns: „Ich muss aufstehen, es ist lächerlich“, usw., aber unter der warmen Decke ist es noch so wonnig, die Kälte draußen ist grausam, und die Entschlusskraft verlässt uns immer wieder. Der Entschluss wird hinausgeschoben, und zwar immer gerade dann, wenn es so aussieht, als ob er soweit wäre, den Widerstand zu brechen und die entscheidende Handlung einzuleiten. Wie kommen wir unter diesen Umständen nun überhaupt dazu aufzustehen? Wenn ich meine eigene Erfahrung verallgemeinern darf, dann stehen wir in der Mehrzahl der Fälle überhaupt ohne Kampf und Entschluss auf. Wir merken plötzlich, dass wir aufgestanden sind. Ein günstiger Zufall bewirkt, dass unser Bewusstsein vorübergehend aussetzt. Wir vergessen die Wärme und die Kälte, wir geraten in eine Träumerei über irgend etwas, das mit unserem alltäglichen Leben zu tun hat, und mitten hinein blitzt der Gedanke auf: „Halt! Ich darf nicht länger hier liegen bleiben“ – ein Gedanke, der in diesem glücklichen Augenblick keine widersprechenden oder hemmenden Vorstellungen aufruft f und infol f gedessen sofort die ihm zugehörigen motorischen Wirkungen herbeiführt. Unser Bewusstsein sowohl der Wärme wie der Kälte hemmte während der Periode des Kampfes unseren Tatendrang und hielt unsere Vorstellung vom Aufstehen im Zustand des bloßen Wünschens, nicht des Wollens. In dem Augenblick, in dem diese hemmenden Vorstellungen verschwanden, übte die ursprüngliche Idee ihre Wirkungen aus. Dieser Fall scheint mir im Kleinen alle wesentlichen Daten für eine ganze Psychologie des Willens zu enthalten. Ich bin tatsächlich durch das Nachdenken über dieses an meiner eigenen Person beobachtete Phänomen zu der Überzeugung gekommen, dass die Theorie, welche ich auf diesen Seiten entfalte und die 27 ich hier nicht durch weitere Beispiele zu illustrieren brauche, wahr ist. Der Grund, warum die Wahrheit dieser Lehre nicht selbstevident ist, liegt darin, dass
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wir so viele Vorstellungen haben, die nicht zu Handlungen führen. Aber es wird sich zeigen, dass dies in jedem derartigen Fall, ohne Ausnahme deshalb geschieht, weil andere zeitgleich vorhandene Vorstellungen die Handlungen ihrer impulsiven Macht berauben. Aber selbst dann, wenn durch widerstreitende Vorstellungen das vollständige Vollziehen einer Bewegung verhindert wird, treten doch Ansätze zu dieser Bewegung auf. Um nochmals Lotze zu zitieren: „Mit leisen Bewegungen des Armes begleitet der Zuschauende den Wurf der Kegelkugel oder die Stöße des Fechters, mit ausführlichen Gestikulationen der ungebildete Erzähler seine Geschichte; während der andächtigen Lektüre einer Schlachtbeschreibung fühl f en wir leise Anspannungen unser Muskelsystem entsprechend den geschilderten Bewegungsmomenten durchziehen. Alle diese Wirkungen erfol f gen um so deutlicher, je unbefangener wir uns in die Anschauung der Bewegungen vertiefen f ; sie nehmen ab in dem Maße, als ein gebildetes Bewusstsein beständig zugleich von einer Mehrzahl anderer Vorstellungen beherrscht wird, die diesem Übergange der Anschauung in wirkliche Bewegung widerstehen.“
Die Ursache der „Willensübertragung“, des sogenannten „Gedankenlesens“ oder besser gesagt Muskellesens, das sich neuerdings so großer Beliebtheit erfre f ut, liegt darin, dass Ansätze zur Muskelkontraktion, selbst dort wo die ausdrückliche Absicht besteht, keine Kontraktion eintreten zu lassen, immer in dieser Weise im 28 Anschluss an eine Vorstellung auftr f eten. Wir können es daher als gesichert gelten lassen, dass jede Bewegungsvorstellung die wirkl r iche Bewegung, auf die sie sich bezieht, in irgendeinem Grad r herbeiführt. Und dass sie dieselbe in maxima a lem Umfa m ng bewirkt, wenn sie dar d ran nicht durch eine gleichzeitig mit ihr im Bewusstsein auftrete u nde antagonistische Vorstellung gehindert wird r . Das ausdrückliche fiat oder der Akt der Zustimmung des Geistes zu der Bewegung tritt ein, wenn eine „Neutralisierung“ der antagonistischen und hemmenden Vorstellungen erfor f derlich wird. Der Leser dürfte jetzt aber davon überzeugt sein, dass kein ausdrückliches fiat nötig ist, wenn die Verhältnisse einfach f liegen. Sollte er aber noch am gewöhnlichen Vorurteil ffesthalten, dass eine Willenshandlung ohne Anwendung von Willenskraft einem Hamlet gliche, der kein Prinz mehr wäre, so will ich für diesen Leser noch einige weitere Bemerkungen machen. Der springende Punkt, den man sich klar machen muss, wenn man die Willenshandlung ohne fiat oder ausdrücklichen Entschluss verstehen will, liegt 29 darin, dass das Bewusstsein seiner eigensten Natur nach impulsiv ist. Wir haben nicht zuerst eine Empfindung oder einen Gedanken und müssen dann etwas Dynamisches hinzufügen, um eine Bewegung zu erhalten. Jeder Impuls eines Gefühls, das wir empfinden, ist das Korrelat einer neuronalen Aktivität, die bereits im Begriff steht, eine Bewegung zu initiieren. Unsere Empfindungen und Gedanken sind aber nur Querschnitte durch Erregungen, die notwendig zu Bewegungen führen und die durch den einen Nerv in das Zentrum hinein- wie durch den anderen aus ihm hinausgeleitet werden. Die übliche Meinung, dass das bloße Bewusstsein an sich nicht notwendig ein Vorbote der Aktivität sei, sondern dass sich die Aktivität aus einer hinzukommenden „Willenskraft“ f ergebe, ist eine sehr naheliegende Schlussfol f gerung aus
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jenen speziellen Fällen, in denen wir unbestimmt lange Zeit an eine Handlung denken, ohne dass wir sie wirklich ausfüh f ren. Diese Fälle sind indessen nicht die Regel. Es handelt sich um Fälle, in denen die Handlung durch antagonistische Gedanken gehemmt wird. Wenn die Blockade beseitigt ist, haben wir das Gefühl f , als wenn eine innere Feder losgelassen worden wäre; und genau dies ist der hinzutretende Impuls oder das fiat, auf welches hin die Handlung tatsächlich eintritt. Wir wollen nun die Blockade und ihre Beseitigung etwas näher betrachten. In unserem höheren Bewusstseinsleben ist sie allgegenwärtig. Gäbe es keine derartigen Blockaden, so bestünde natürlicherweise auch kein Hiatus zwischen dem Bewusstseinsprozess und der motorischen Entladung. Bewegung ist der natürliche unmittelbare E Efffekt des Fühlens, ganz unabhängig dav d on, welche Qualität das Fühlen hat. Das gilt von der Reflexhandlung, vom emotionalen Ausdruck und auch vom Willen. Die ideomotorische Handlung enthält somit nichts Paradoxes, was gemildert oder wegerklärt werden müsste. Sie folgt dem Grundschema aller bewussten Tätigkeit und von ihm muss man ausgehen, um die Art der Tätigkeit zu erklären, die ein spezielles fiat voraussetzt. Es sei nebenbei bemerkt, dass die Blockade einer Bewegung nicht mehr und nicht weniger einer ausdrücklichen Anstrengung oder eines besonderen Befehls bedarf wie ihre Ausführ f ung. In beiden Fällen kann derartiges nötig sein. Aber in allen einfachen und gewöhnlichen Fällen wird, so wie die bloße Gegenwart einer Vorstellung eine Bewegung hervorruft, so auch die bloße Gegenwart einer anderen Vorstellung ihr Eintreten verhindern. Versuchen Sie sich vorzustellen, dass Sie einen Finger beugen, während Sie ihn gestreckt halten. Es wird sich dann bald auf Grund der vorgestellten Lageänderung ein gewisser Reiz einstellen, aber die wirkliche Bewegung wird nicht eintreten, weil das tatsächliche Stillhalten des Fingers auch einen Teil des Bewusstseinsinhalts bestimmt. Nehmen Sie diesen Bestandteil weg und denken Sie lediglich an die Bewegung und an nichts sonst, und sofor f t wird sie ohne alle Anstrengung vollzogen. Das Verhalten des Menschen im Wachzustand ist somit immer das Ergebnis zweier sich widerstreitender neuronaler Kräfte. Unvorstellbar differenziert wirken gewisse Nervenerregungen in den Zellen und Fasern seines Gehirns auf seine motorischen Nerven ein, während sich andere Erregungen von ebensolcher Diffef renziertheit hemmend oder ffördernd auf die ersteren Erregungen auswirken und so ihre Richtung oder ihre Geschwindigkeit beeinflu f ssen. Daraus ffolgt, dass die Erregungen zwar schließlich stets durch irgendeinen motorischen Nerv abfließen, dass dieses Abfließen aber bald durch die einen und bald durch die anderen Nerven erfol f gt. Und manchmal halten sich die Impulse so lange im Gleichgewicht, dass ein oberflächlicher Beobachter zu der Meinung gelangen könnte, dass sie überhaupt nicht abflie f ßen. Ein solcher Beobachter sollte allerdings bedenken, dass vom physiologischen Standpunkt aus eine Geste, ein Stirnrunzeln oder ein Atemzug ebenso gut Bewegungen sind wie eine Ortsveränderung des Körpers. Der vom Mund eines Königs gehauchte Befeh f l vermag ebenso gut zu töten wie der Dolchstoß des Mörders. Und der Abflu f ss dieser Erregungen, der vom rätselhaften und unwägbaren Strom unserer Vorstellungen begleitet wird,
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muss nicht immer in eruptiver oder sonst wie physisch auffäl f liger Weise erfol f gen.
Handeln auf Grundlage von Überlegungen Wir sind jetzt in der Lage zu beschreiben, was beim vorsätzl t ichen Han H deln geschieht oder was geschieht, wenn das Bewusstsein eine Vielfalt von Vorstellungen umfasst, die sich entweder wechselseitig unterstützen oder einander entge30 genwirken. Eine dieser Vorstellungen ist die einer Handlung. An sich betrachtet, würde diese Vorstellung eine Bewegung zur Folge haben, aber einige hinzukommende Überlegungen blockieren die motorische Entladung, während andere sie im Gegenteil herbeizuführen bestrebt sind. Das Ergebnis hiervon ist jenes eigenartige Bewusstsein einer inneren Unruhe, das unter dem Namen Unentschlossenheit bekannt ist. Glücklicherweise ist es so geläufig f , dass es keiner weiteren Beschreibung bedarf, denn es zu beschreiben wäre unmöglich. Solange es andauert und die verschiedenen Vorstellungen unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, beschreiben wir diesen Zustand als einen des Überlegens. Und wenn schließlich entweder der ursprüngliche Antrieb den Sieg davonträgt und die Bewegung auslöst oder dieser Antrieb definitiv von seinen Antagonisten unterdrückt wird, dann nennt man dies Entscheidung oder Äußerung des einen fiat im Gegensatz zum anderen. Die verstärkenden und hemmenden Vorstellungen werden dabei als die Gründe oder Motive bezeichnet, durch welche die Entscheidung herbeigeführt wird. Der Prozess der Überlegung, der dem fiat vorausgeht, kann unendlich komplex sein. In jedem Augenblick des Prozesses sieht sich das Bewusstsein mit einer außerordentlich schwierigen Aufgabe konfro f ntiert, mit einer ganzen Vielfal f t von Motiven und ihren Konflikten. Von dieser schwierigen Aufgabe, die dem Bewusstsein die ganze Zeit über mehr oder weniger dunkel präsent ist, treten gewisse Aspekte ffür einen Augenblick mehr oder weniger scharf in den Vordergrund. Infolge der Schwankungen unserer Aufmerk f samkeit und des „assoziativen“ Flusses unserer Vorstellungen treten im nächsten Augenblick andere Aspekte hervor. Aber wie scharf auch immer die im Vordergrund stehenden Motive sein mögen, oder wie unmittelbar der Augenblick bevorstehen mag, in dem sie den Damm durchbrechen, um die motorischen Konsequenzen in ihrer Weise herbeizufüh f ren, der Hintergrund spielt, wenn auch nur dunkel bewusst, doch stets mit herein. Seine Gegenwart übt (solange die Unentschlossenheit tatsächlich andauert) eine effek f tive Kontrolle auf die unwiderruflic f he Entladung aus. Das Überlegen kann Wochen oder Monate dauern und den Geist in gewissen Intervallen immer wieder beschäftigen. Die gleichen Motive, die gestern noch dringlich und lebensentscheidend zu sein schienen, hinterlassen heute einen merkwürdig schwachen, blassen oder gar toten Eindruck. Aber weder heute noch morgen wird die Frage endgültig entschieden. Irgendetwas sagt uns, dass all dies provisorisch ist, dass die schwachgewordenen Gründe wieder an Stärke gewinnen werden, während die stärkeren sich abschwächen. Dass das Gleichgewicht noch nicht
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erreicht ist, dass die Gründe weiter geprüft f und nicht einfach beansprucht werden können und dass wir geduldig oder ungeduldig warten müssen, bis unser Geist seinen endgültigen Entschluss getroffen f hat. Wir neigen mal zu der einen und mal zu der anderen Zukunft, die wir uns beide als möglich vorstellen. Dieses Hin und Her gleicht den Schwingungen eines materiellen Körpers innerhalb der Grenzen seiner Elastizität. Es herrscht eine innere Spannung, aber sie kommt nicht zum Ausbruch. Und dieser Zustand kann sowohl in physikalischen Körpern wie im Bewusstsein unbegrenzt andauern. Wenn aber die Elastizität nachlässt, wenn der Damm bricht und die Erregungen die Blockade überwinden, dann ist das Schwanken vorüber und die Entscheidung wird unwiderruflich getroffen f . Die Entscheidung kann in einer von vielen verschiedenen Weisen erfol f gen. Ich werde kurz versuchen, die wichtigsten Typen zu skizzieren, wobei ich den Leser vorsichtshalber darauf aufmerksam machen möchte, dass dies bloß eine introspektive Beschreibung der Symptome und Phänomene sein soll und dass alle Fragen nach den kausalen Ursachen, seien sie nun neuronaler oder geistiger Natur, auf einen späteren Abschnitt verschoben werden. Die besonderen Gründe für oder gegen eine Handlung weichen natürlich in konkreten Fällen unendlich weit voneinander ab. Aber bestimmte Motive sind mehr oder weniger immer mit im Spiel. Eines davon ist die Ungeduld angesichts des Z Zustands d der Überlegung, oder, um es anders auszudrücken, der Drang einfach nur deshalb zu handeln oder zu entscheiden, weil Handlung und Entscheidung angenehm sind und die Spannungen des Zweifels und der Bedenken aufheben. So kommt es, dass wir oft f irgendeinen Kurs einschlagen, der sich gerade in dem Augenblick am lebhaftesten vor unserem inneren Auge abzeichnet, in dem dieser Impuls zu einem entschlossenen Vorgehen seine höchste Intensität erreicht hat. Gegen diesen Impuls richtet sich die Angst vor dem Unwiderruflic f hen, die häufig f einen Charaktertyp hervorbringt, der nicht in der Lage ist, ein Problem schnell und entschlossen anzugehen, außer vielleicht, wenn Unerwartetes ihn zum Handeln anregt. Wenn eine Entscheidung ansteht, ringen diese beiden gegenläufigen Motiven miteinander, ganz unabhängig davon, welche anderen Motive in diesem Augenblick sonst noch eine Rolle spielen; die beiden Motive neigen dazu, die Entscheidung entweder voranzutreiben oder zu verzögern. Der Konfli f kt dieser Motive, soweit sie allein die Frage der Entscheidung betreffen, f dreht sich vor allem darum, wann die Entscheidung getroffen wird. Das eine Motiv sagt „„jetzt“, das andere sagt „noch nicht“. Ein weiterer fester Bestandteil des Netzwerks der Motivationen ist der Drang, an einer einmal getroffen f en Entscheidung festzuhalten. Es gibt keinen gravierenderen Unterschied zwischen menschlichen Charakteren als den zwischen entschlossenen und unentschlossenen Naturen. Weder die physiologischen noch die psychischen Ursachen für diesen Unterschied wurden bisher analysiert. Der Unterschied zeigt sich darin, dass, während für die Unentschlossenen alle Entscheidungen bloß vorläufig f sind und rückgängig gemacht werden können, die Entschlossenen von der einmal getroffen f en Entscheidung nicht wieder abrücken. Bei den Entschlossenen zeichnen sich in den Entscheidungsfin f dungsprozessen plötz-
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lich Alternativen von einer solchen Kraft ab, dass sie der Phantasie Flügel verleihen und eine scheinbar gesicherte Entscheidung zu ihren Gunsten provozieren. Diese oft verfrü f hten und fal f schen Entscheidungen sind natürlich hinlänglich bekannt. Häufig erscheinen sie im Lichte der Überlegungen, die ihnen auf dem Fuß folgen, lächerlich. Aber es kann nicht geleugnet werden, dass dieser Unfall für den resoluten Charakter, der ihn einmal begangen hat, anschließend als weiteres, die eigentlichen Gründe ergänzendes Motiv dafür fungi f ert, ihn nicht rückgängig zu machen, oder selbst wenn er vorläufig f rückgängig gemacht werden sollte, dieselbe Sache erneut zu versuchen. Wie viele von uns bleiben nur deshalb auf einer einmal eingeschlagenen Bahn, die wir in einen Moment der Unachtsamkeit eingeschlagen haben, weil wir es hassen, „unsere Meinung zu ändern“.
Fünf Typen der Entscheidung Was nun die Form der Entscheidung selbst angeht, können wir ffünf Haupttypen unterscheiden. Der erste kann der verstandesmäßi ä ge Typu y s genannt werden. Er liegt in jenen Fällen vor, in denen sich die Argumente für und gegen ein bestimmtes Verhalten allmählich und fast unmerklich im Bewusstsein ordnen und schließlich ein deutliches Übergewicht zugunsten einer Alternative hervortreten lassen, woraufhi f n wir die betreffen f de Alternative ohne Anstrengung oder Zwang wählen. Bevor das vernünftige Abwägen der Gründe und Gegengründe zu Ende ist, haben wir das sichere Gefühl f , dass die Evidenz noch aussteht, und dieses Gefühl hemmt den Eintritt der Handlung. Aber eines Tages erwachen wir mit dem Bewusstsein, dass wir die Sache nun im rechten Licht sehen und dass längeres Warten sie uns nicht mehr in einem neuen Licht erscheinen lassen wird, dass die Sache also am besten jetzt entschieden werden sollte. Bei diesem einfach f en Übergehen vom Zweifel f zur Gewißheit kommen wir uns selbst beinahe passiv vor. Die „Gründe“, die unsere Entscheidung herbeiführen, scheinen unmittelbar aus der Natur der Dinge zu folgen und nicht weiter von unserem Willen abzuhängen. Wir haben indessen ein vollkommenes Bewusstsein unserer Freiheit, da jedes Bewusstsein eines Zwanges fehlt. Der schlussendliche Grund für die Entscheidung liegt in solchen Fällen gewöhnlich in der Entdeckung, dass wir den Fall einer umfassenderen Gruppe p von Fällen zuordnen können, auf die wir unverzüglich in einer stereotypen Weise zu handeln gewohnt sind. Es kann ganz allgemein gesagt werden, dass ein großer Teil jeder Überlegung darin besteht, alle möglichen Arten des Ausfüh f rens oder Nichtausfüh f rens der in Frage stehenden Handlung im Geist zu überschlagen. In dem Augenblick, in dem wir zu einer Auffa f ssung durchdringen, die uns erlaubt, eine Maxime anzuwenden, die tief in unserem Charakter verwurzelt ist, haben wir dem Zweifel f n ein Ende gesetzt. Autoritätspersonen, die täglich eine Vielzahl von Entscheidungen zu treffe f n haben, verfügen über ein Klassifika f tionsschema, in dem jeder Rubrik ein besonderes Verhalten entspricht, und in diese Rubriken suchen sie möglichst alles, was ihnen neu begegnet, einzuordnen. Wo ein neuer Fall zu einer noch unbekannten
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Spezies gehört, wo man infolgedessen keine vorbereitete Maxime anwenden kann, da fühlen wir uns am hilflo f sesten und empfin f den ein Unbehagen angesichts der Unbestimmtheit unserer Aufgabe. Sobald sich indessen ein Weg zur Einordnung in unser Klassifikationsschema abzeichnet, fühlen wir uns wieder sicherer. Beim H Handeln ebenso wie beim Denken liegt der springende Punkt also in dem richtigen Verständni d s. Auf den wirklichen Dilemmata kleben keine Etiketten. Wir können sie in höchst unterschiedlicher Weise benennen. Als weise kann derjenige gelten, dem es gelingt, den richtigen Namen zu finden, der den Erfordernissen des besonderen Falls am ehesten gerecht wird. Ein „vernünfti f ger“ Charakter verfügt f über eine Reihe feststehender und wertvoller Ziele und entschließt sich zu keiner Handlung, bevor er sich nicht in aller Ruhe vergewissert hat, ob sie einem dieser Ziele nützlich oder schädlich ist. In den beiden ffolgenden Arten von Entscheidung tritt das endgültige fiat ein, bevor die Evidenz vollständig gegeben ist. Für beide Seiten sprechen gute Gründe und es gibt keine überragende oder autoritative Instanz, die den Ausschlag ffür eine von beiden geben und bestimmen könnte, welche der jeweils anderen geopfert werden sollte. Wir werden des langen Zögerns und der Unentschlossenheit müde, und die Stunde wird kommen, in der wir denken, dass selbst eine schlechte Entscheidung besser ist als das Ausbleiben jeder Entscheidung. Unter diesen Bedingungen geschieht es oft, f dass ein zufäl f liger Umstand, der bei einer bestimmten Gelegenheit unsere geistige Müdigkeit überrumpelt, das Gleichgewicht in Richtung der einen Seite der Alternative stört, so dass wir uns dann in diese Richtung gedrängt fühlen, während ein entgegengesetzter Zufal f l im gleichen Moment das entgegengesetzte Resultat gehabt hätte. Beim zweiten T Typus fühlen wir uns bis zu einem bestimmten Grad indifferent durch eine zufällig von außen vorgegebene Richtung getrieben, mit der Überzeugung, dass wir im großen und ganzen ebenso gut diese Richtung als eine andere beibehalten können und dass die Sache schon irgendwie gut ablaufen f wird. Beim dritten Typu y s scheint die Bestimmung der Richtung ebenso zufällig, aber sie kommt von innen und nicht von außen. Wenn die Abwesenheit imperativischer Prinzipien Unklarheit und Unkonzentriertheit zur Folge hat, ertappen wir uns oft f dabei, wie wir gewissermaßen automatisch handeln und gleichsam durch eine spontane Entladung unserer Nerven einen Ausweg aus dem Dilemma wählen. Aber diese Empfindung einer Bewegung ist nach dem unerträglichen Zustand der Unentschlossenheit so anregend, dass wir uns eifrig in sie stürzen. „Vorwärts jetzt“, rufen f wir innerlich, „und wenn der Himmel einstürzt!“ Diese sorglose und triumphierende Verausgabung von Energie, die so wenig vorher überlegt ist, dass wir uns dabei eher wie passive Zuschauer vorkommen, die sich an der Entladung irgendeiner äußeren Kraft freuen, als wie freiwillig Handelnde, gehört zu einem abrupten und stürmischen Entscheidungstypus und lässt sich so gut wie nie bei schwerfälligen und kaltblütigen Naturen finden. Aber er ist wahrscheinlich häufig bei stark emotional veranlagten Personen unbeständigen Charakters. Und wenn bei Menschen vom Typus der Welterschütterer, also etwa bei Napoleon, Luther usw., bei denen sich eine zähe Leidenschaft mit aufwa f llender Aktivität verbindet, durch irgendeinen Zufal f l die Entladung der Leidenschaft eine
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Zeitlang durch Zweifel oder Bedenken gehemmt war, tritt der Entschluss schließlich irgendwann mit der Heftigkeit einer Katastrophe ein. Die Flut bricht ganz unerwartet den Damm. Dass dies so häufig f passiert, genügt um zu zeigen, dass diese Charaktere einen Hang zum Fatalismus besitzen. Und die ffatalistische Gemütsart verstärkt sicherlich die Energie, sobald diese einmal den attraktiven Pfad f der Entladung eingeschlagen hat. Es gibt einen vierten T Typus der Entscheidung, welcher die Überlegung oft ebenso plötzlich beendet wie der dritte. Er tritt ein, wenn wir infolge irgendeiner äußeren Erfahrung oder irgendeiner unerklärlichen inneren Veränderung plötzlich von der leichten und sorglo r sen zur nüchterne r n und strengen Gemütsverfassung übergehen, oder möglicherweise auch umgekehrt. Die ganze Werteskala unserer Motive und Impulse macht dann eine Veränderung durch, ähnlich jener, die der Standpunktwechsel eines Beobachters an dem Sinneseindruck bewirkt, den er erhält. Die ernüchterndsten Agentien sind Gegenstände des Schmerzes und der Angst. Wenn ein solches Agens auf uns einwirkt, dann verlieren alle leichtherzigen Gedanken ihre Kraft und allen ernsteren vermögen uns nun leicht zu motivieren. In Folge davon geben wir meist augenblicklich alle unbedeutenden Pläne, mit denen wir zuvor unsere Zeit vertändelt hatten, auf und wenden uns sofort den strengen und ernsten Aufgab f en zu, zu deren Übernahme uns der Geist bisher nicht bewegen konnte. Jene „plötzliche Sinnesänderung“, jenes „Erwachen des Gewissens“ und alles derartige, was uns oft f zu neuen Menschen macht, gehört hierher. Der Charakter erhebt sich plötzlich zu neuen Höhen und die Überlegung 31 kommt sofor f t zum Abschluss. Beim fünfte f n und letzten Typ T us der Entscheidung kann das Gefühl, dass die Evidenz bereits vorhanden ist und dass die Vernunft f ihre Gründe für und wider abgewogen hat, vorhanden sein oder auch nicht. Aber in beiden Fällen haben wir den Eindruck, als ob wir bei der Entscheidung durch unseren eigenen Willensakt den Ausschlag gegeben haben. Im ersteren Fall dadurch, dass wir unsere Lebensenergie mit in die Waagschale der logischen Gründe werfen, die ffür sich allein nicht imstande zu sein scheinen, die Entladung herbeizuführen. Im zweiten Fall dadurch, dass wir eine Art Ersatz für einen Grund schaffen, der die Funktion des letzteren ausübt. Die langsame und ruhige Wucht des Willens, die wir in diesen Fällen empfinden, hebt sie für f uns deutlich von den vier vorausgehenden Typen ab. An dieser Stelle haben wir uns nicht damit zu befassen, was die Wucht des Willens metaphysisch zu bedeuten hat und zu welchen Schlussfol f gerungen über eine von den Motiven unterschiedene Willenskraft uns die Anstrengung veranlassen kann. Für unsere subjektive Auffas f sung ist hier ein Bewusstsein der Anstrengung, das in den ffrüher besprochenen Entscheidungstypen ffehlte, vorhanden. Mag es sich um die traurige Resignation gegenüber allen Arten von weltlichen Vergnügen zugunsten der strengen und reinen Pflicht handeln, oder mag der schwere Entschluss darin bestehen, dass von zwei sich gegenseitig ausschließenden möglichen Zukünfte f n, die beide angenehm und gut erscheinen und kein zwingendes und obje b ktives Maß der Entscheidung zwischen ihnen erkennen lassen, die eine für immer dadurch ausgeschlossen werden soll, dass die andere verwirklicht wird. Stets handelt es sich um eine trostlose und bittere Entschei-
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dung, um das Betreten einer einsamen moralischen Wüste. Bei genauerer Prüfun f g scheint sich dieser Typus vor allem dadurch von den früheren zu unterscheiden, dass dort im Augenblick der Entscheidung zugunsten der einen Seite der Alternative die andere Seite ganz oder fast ganz aus dem Bewusstsein verdrängt wurde, während hier beide Seiten der Alternative dauerhaft f im Blick bleiben und sich der Wählende gerade im Akt, welcher der überwundenen Möglichkeit den Todesstoß versetzt, klar ist, einen wie großen Verlust er sich in dem betreffend f en Augenblick selbst verursacht. Es ist so, wie sich mit vollem Bewusstsein einen Dorn ins eigene Fleisch zu treiben. Und das Bewusstsein der inneren Anstrengung, das diesen Akt begleitet, bringt diesen fünfte f n Entscheidungstypus in starken Gegensatz zu den vorausgehenden vier Varianten und macht aus ihm ein ganz besonderes psychisches Phänomen. Die allermeisten menschlichen Entscheidungen werden ohne Anstrengung getroffen f . Bei verhältnismäßig wenigen Entscheidungen wird der letzte Akt von Anstrengungen begleitet. Wir werden, wie ich glaube, nur dadurch zu der irrigen Annahme verleitet, dass die Anstrengung häufig f er sei, als sie in Wirklichkeit ist, dass wir während des Überlegens oft denken, welch große Anstrengung es bedeuten würde, die Entscheidung jetzt zu vollziehen. Später, nachdem die Entscheidung wie von selbst und ohne Schwierigkeiten vollzogen wurde, erinnern wir uns hieran und gelangen zu der falschen Überzeugung, dass sie nur unter Anstrengungen hat getroffen f werden können. Die Existenz der Anstrengung als einer phänomenalen Bewusstseinstatsache kann natürlich nicht bezweifelt werden. Ihre Bedeutung ist dagegen hochgradig umstritten. Fragen von so wichtiger Art, wie diejenige nach dem Bestehen oder Nichtbestehen geistiger Kausalität, oder von so weittragender Bedeutung wie diejenige nach der allgemeinen Prädestination oder dem freien Willen hängen von der Interpretation der Anstrengung ab. Es ist insofern f wichtig, dass wir mit einer gewissen Sorgfalt die Bedingungen untersuchen, unter denen das Gefüh f l der Willensanstrengung auftritt.
Das Gefühl der Anstrengung Wenn ich weiter oben gesagt habe, dass das Bewusstsein (oder die neuronalen Prozesse, die mit ihm verbunden sind), seiner eigensten N Natur nach impulsiv ist, fügte ich einschränkend hinzu, dass es eine genügende Int I ensität besitzen muss. Nun bestehen bemerkenswerte Unterschiede in der Fähigkeit verschiedener Arten von Bewusstseinsvorgängen, Bewegungen auszulösen. Die Intensität gewisser Bewusstseinsprozesse bleibt in der Regel unterhalb des Entladungspunktes, während von der Intensität anderer Prozesse gerade das Gegenteil gilt. Wenn ich sage „in der Regel“, so meine ich Bewusstseinsprozesse unter gewöhnlichen Umständen. Diese Umstände können in gewohnheitsmäßig erworbenen Hemmungen bestehen, wie beim angenehmen Gefühl f des dolce far f niente, das für uns alle mit einer gewissen Trägheit verknüpft f ist, die nur durch einen akuten impulsiven Anreiz überwunden werden kann. Oder sie kann in einer angeborenen Trägheit
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bzw. in inneren Widerständen in den motorischen Zentren selbst bestehen, die eine Entladung so lange unmöglich machen, bis eine gewisse innere Spannung erreicht und überschritten ist. Diese Bedingungen variieren bei verschiedenen Personen und bei einer Person zu verschiedenen Zeiten. Die neuronale Trägheit kann zu- oder abnehmen, und die gewohnheitsmäßig erworbenen Hemmungen können ebenfal f ls kleiner oder größer werden. Die Intensität besonderer gedanklicher Prozesse und Anreize kann sich gleichfalls unabhängig davon verändern, und einzelne Assoziationsbahnen können leichter oder schwerer passierbar werden. Daraus ergeben sich große Schwankungsbreiten in Bezug auf den tatsächlichen impulsiven Effek f t, den einzelne Motive im Vergleich zu anderen haben. Es kommt vor, dass das normalerweise weniger wirksame Motiv wirksamer und das normalerweise wirksamere weniger wirksam wird. Dass Handlungen, die gewöhnlich ohne Anstrengung vollzogen werden, oder Unterlassungen, die uns gewöhnlich leicht ffallen, entweder unmöglich werden oder (wenn überhaupt) nur mit Anstrengung ausgeführt werden können. Eine genauere Beschreibung wird deutlicher hervortreten lassen, was es mit diesen Fällen für f eine Bewandtnis hat. Es gibt ein bestimmtes normales V Verrhältnis in der impulsiven Kraft r versc r hiedener Arten von Motiven, welches für die durchschnittliche Gesundheit des Willens charakteristisch ist. Abweichungen hiervon kommen nur ausnahmsweise zu bestimmten Zeiten und bei bestimmten Individuen vor. Die geistigen Zustände, die normalerweise die stärkste impulsive Beschaffenheit besitzen, sind entweder solche, die Gegenstände der Leidenschaft, der Begierde oder des Affekts, kurz Gegenstände instinktiver Reaktion vorstellen, oder es sind Gefüh f le oder Vorstellungen von Lust und Schmerz, oder es sind Vorstellungen, denen zu gehorchen wir aus irgendeinem Grund gewohnt sind, so dass uns eine bestimmte Art der Reaktion auf sie zur zweiten Natur geworden ist, oder es sind schließlich, im Vergleich mit den Vorstellungen entfer f nterer Obje b kte, Vorstellungen von Gegenständen, die uns gegenwärtig oder doch räumlich und zeitlich nahe sind. Im Vergleich mit diesen allen sind ffernerliegende Betrachtungen, sehr abstrakte Begriffe, f ungewohnte Gründe und Motive, die mit der Entwicklung unserer Instinkte nicht viel zu tun haben, wenig oder nicht geeignet, impulsiv zu wirken. Sie gewinnen, wenn sie überhaupt dazu imstande sind, nur mit Anstrengung die Oberhand, und die normale Sph S äre der Anstrengung wird r im Unt U ersc r hied zur pathologischen immer dort angetroffe o n, wo nichtinstinktive M Motive des Handelns verstär r rkt werden müssen. Ein gesunder Wille setzt außerdem einen gewissen Grad von Komplexität des Prozesses voraus, der dem fiat oder der Handlung vorausgeht. Alle Reize oder Vorstellungen müssen zu derselben Zeit, in der sie ihre Impulse geben, auch noch andere Vorstellungen mit ihren charakteristischen Impulsen aufru f fen. Die Handlung selbst darf schließlich weder zu langsam noch zu schnell als das Resultat aller so in Anspruch genommener Kräfte eintreten. Selbst dort, wo die Entscheidung sehr schnell erfol f gt, ffindet normalerweise ein vorbereitender Überblick und eine Abwägung der am besten einzuschlagenden Richtung statt, bevor es zum fiat kommt. Und wo der Wille gesund ist, da muss die entsp t rechende Abwägung eine richtige sein (d.h. die Motive müssen im Ganzen in einem normalen und nicht zu
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ungewöhnlichen Verhältnis zueinander stehen) und die Handlung muss ihr entsprechen. Ein ungesunder Wille kann folglich auf verschiedene W Weise entstehen. Die Handlung kann zu schnell auf den Reiz oder die Vorstellung fol f gen, so dass keine Zeit ffür das Auftr f eten einschränkender Assoziationen bleibt – wir haben es dann mit einem überstürzten Will W en zu tun. Oder es kann, selbst wenn die anderen Assoziationen intervenieren, gleichwohl das Verhältnis, in welchem die erregenden und hemmenden Kräfte normalerweise zueinander stehen, verschoben werden – wir haben es dann mit einem perverse r n Wil W len zu tun. Die Perversität kann wiederum auf mehreren Bedingungen beruhen – zu große oder zu geringe Intensität auf der einen Seite, zu große oder zu geringe Trägheit auf der anderen; oder auch zu große oder zu geringe hemmende Kraft. Wenn wir die äuße u ren Sympto S me der Perver r rsität miteinander vergl r eichen, so fall f en sie in zwei Gruppen p . In der einen sind normale Handlungen unmöglich, in der anderen sind abnorme Handlungen unvermeidbar. Um es auf den Punkt zu bringen, können wir im einen Fall von einem gehemmten, im anderen von einem eruptiven Willen sprechen. Man sollte jedoch gleichwohl beachten, dass, da die resultierende Handlung stets von dem Verhäl r tnis zwischen den jeweils vorhandenen, hemmenden und eruptiven Kräften abhängt, wir infol f gedessen auf Grund der bloß äußeren Symptome niemals angeben können, auf welcher elementaren Ursache die Perversion in dem Willen eines Menschen beruht, ob auf der Zunahme der einen Komponente oder auf der Abnahme der anderen. Man kann ebenso leicht dadurch einen eruptiven Willen bekommen, dass man die gewöhnlichen Hemmungen verliert, wie dadurch, dass die Impulse an Heftigkeit zunehmen. Und man kann ebenso wohl dadurch unfäh f ig werden, bestimmte Dinge auszufüh f ren, dass das ursprüngliche Begehren schwächer wird, wie dadurch, dass sich neue Bedenken einstellen. Wie Thomas Clouston sagt: „Der Lenker kann so schwach sein, dass er wohldressierte Pferde nicht zu beherrschen vermag, oder die Pferd f e können so wild sein, dass kein Lenker mit ihnen ffertig wird.“ In einigen konkreten Fällen (ganz gleich ob es sich um den eruptiven oder den gehemmten Willen handelt) ist es schwierig zu sagen, ob das Problem darin besteht, die Hemmungen abzubauen oder die Impulse zu verstärken. Im Allgemeinen können wir jedoch eine plausible Annahme treffen f .
Der eruptive Wille Es gibt einen normalen Charaktertypus, bei welchem sich die Impulse beispielsweise so schnell in Bewegungen umsetzen, dass die Hemmungen keine Chance haben, sich ihnen in den Weg zu stellen. Hierhin gehören die draufgängerischen und quecksilberigen Temperamente, die vor Leben übersprudelnden und Geist versprühen, wie man sie so häufig f in den Mittelmeerländern und bei den keltischstämmigen Völkern antrifft f und die in einem scharfen Kontrast zum unterkühlten und bedächtigen englischen Charakter stehen. Uns kommen solche Leute häufig wie Affen f vor, während sie uns ffür Frösche halten. Es ist ganz unmöglich zu
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entscheiden, ob ein zurückhaltendes oder ein eruptives Individuum mehr Lebensenergie besitzt. Ein eruptiver Italiener mit guter Auffassungsgabe und scharfem Verstand wird sich, wenn er sich über etwas aufregt, ganz fürchterlich benehmen, während ein zurückhaltender Yankee den Anlass für f die Aufre f gung innerlich überwinden wird, so dass man ihm äußerlich kaum etwas anmerkt. Der eruptive Mensch wird in seiner Gesellschaft die fführende Rolle spielen, Lieder singen, Reden halten, die Partei anfüh f ren, Witze machen, alle Mädchen küssen, mit den Männern kämpfen und wenn es nötig sein sollte, sich an die Spitze aussichtsloser Unternehmungen stellen, so dass der Betrachter zu der Überzeugung kommt, er habe mehr Leben in seinem kleinen Finger als ein korrekter bedächtiger Bursche in seinem ganzen Leib. Aber der bedächtige Bursche kann dabei all diese Möglichkeiten und noch weit mehr in sich haben, so dass sie in der gleichen oder sogar in einer noch viel spektakuläreren Weise zum Durchbruch kommen könnten, sofern f nur die Bremsen gelöst würden. Die Abwesenheit von Bedenken, von Konsequenzen, von Überlegungen und die außerordentliche Vereinfac f hung des jeweiligen geistigen Horizonts verleiht dem eruptiven Individuum eine energische Beweglichkeit und Leichtigkeit; es bedarf dazu keiner größeren Intensität seiner Leidenschaften, Motive oder Gedanken. Im Verlauf der geistigen Entwicklung wird die Komplexität des menschlichen Bewusstseins immer größer und mit ihr die Fülle von Hemmungen, denen jeder Impuls ausgesetzt ist. Dieses Vorherrschen von Hemmungen hat eine gute wie eine schlechte Seite. Wenn die Impulse eines Menschen in der Regel ebenso gut wie schnell sind, wenn er den Mut hat, ihre Konsequenzen auf sich zu nehmen und Verstand genug, sie zu einem glücklichen Ende zu bringen, dann ist er im Ganzen doch mit seiner launischen Konstitution, die nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt ist, besser dran. Viele der erfol f greichsten Persönlichkeiten in der Militär- und Revolutionsgeschichte gehören zu diesem einfachen, aber schlagferti f gen impulsiven Typus. Auf den reflektierenden und über viele Hemmungen verfüg f enden Geistern lasten Probleme, die ihnen begegnen, weit schwerer. Sie können allerdings, soviel ist sicher, viel weitergehende Probleme lösen und sie können manchem Irrtum entgehen, dem sich die impulsiven Menschen aussetzen. Aber wenn die impulsiven Menschen keine Fehler machen, oder wenn sie imstande sind, einmal gemachte Fehler zu korrigieren, dann machen sie doch 32 einen der verdienstvollsten und unentbehrlichsten menschlichen Typen aus. In der Kindheit, in gewissen Erschöpfungszuständen und in bestimmten pathologischen Fällen kann die hemmende Kraft, die den Ausbruch der impulsiven Tendenzen eindämmt, nicht stark genug sein. Wir haben es dann mit einem vorübergehenden eruptiven Temperament bei einem Individuum zu tun, das zu anderen Zeiten einem verhältnismäßig gehemmten Typus zugehören kann. 33 [...]
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Der gehemmte Wille In scharfem Kontrast zu Fällen, in denen die Hemmung ungenügend oder der Antrieb zum Handeln zu stark ist, stehen dieje e nigen Fälle, in denen der Impuls ungenügend oder die Hemmung nicht zu überwinden ist. Wir alle kennen den Zustand, in dem der Geist für f einige Augenblicke seine Konzentrationsfäh f igkeit zu verlieren und unfäh f ig zu sein scheint, seine Aufmerk f samkeit weiter auf eine bestimmte Sache zu richten. Zu solchen Zeiten sitzen wir da, starren vor uns hin und tun nichts. Unsere Haut ist dann zu dick, als dass die Eindrücke der Außenwelt sie zu durchdringen vermöchten. Sie sind vorhanden, aber sie erreichen nicht die Schwelle ihrer potentiellen Wirksamkeit. Dieser Zustand des unwirksamen Vorhandenseins bestimmter Objekte b ist ziemlich normal. Große Müdigkeit oder Erschöpfung kann diesen Zustand auf fas f t alle Obje b kte ausdehnen. Eine ähnliche Apathie kennt man als ein Symptom geistiger Erkrankung in den psychiatrischen Anstalten und nennt es dort Abulie. Eine gesunde Verfassung des Willens erfor f dert, wie bereits gesagt, zunächst, dass die der Handlung vorausgehenden Überlegungen richtig sind und dass die Handlung unter ihrem Einflu f ss auch tatsächlich zustande kommt. Doch bei dem gerade diskutierten morbiden Zustand können die Überlegungen gänzlich ungestört und der Verstand klar sein, ohne dass sich die Handlung überhaupt oder zumindest in der gewünschten Weise einstellt. „Video meliora proboque, deterio34 ra sequor“ ist der klassische Ausdruck für diesen geistigen Zustand, auf den die Diagnose einer Abulie exakt passt. Die Patienten, sagt Joseph Guislain, „sind in der Lage, im Stillen und rein geistig im Einklang mit den Erfordernissen der Vernunft zu wollen. Sie empfinden das Bedürfnis f zu handeln, aber sie haben nicht die Kraft, so zu handeln, wie sie das sollten [...]. Ihr Wollen kann bestimmte Grenzen nicht überschreiten: Man könnte sagen, dass ihre Handlungsfäh f igkeit blockiert ist: Das ‚Ich will‘ schafft f es nicht, sich in einen Impuls zu verwandeln und in einer aktiven Handlung zu äußern. Einige dieser Patienten wundern sich über die Machtlosigkeit, mit der ihr Wollen geschlagen ist. Wenn wir sie sich selbst überlassen, verbringen sie den ganzen Tag im Bett oder auf dem Stuhl. Wenn man mit ihnen spricht oder sie anregt, dann antworten sie korrekt, wenn auch knapp; und beurteilen alles ziemlich richtig.“35
An anderer Stelle (Kapitel XXI „The Perception of Reality”) hatte ich gezeigt, dass sich der Sinn für f die Realität eines Gegenstandes für f den Geist proportional dazu ergibt, wie effekt f iv er unseren Willen anzuregen vermag. Hier erhalten wir die Kehrseite der Wahrheit. Dieje e nigen Vorstellungen, Objekte und Überlegungen, die (in diesem lethargischen Zustand) darin scheitern, r den Willen und die Lebenskraf r ft auf sich zu ziehen, scheinen dann blass, fern f und unwirklich. Die Geschichte der Verbindung zwischen der Wirklichkeit der Dinge und ihrer Wirksamkeit als Motive unseres Handelns ist noch nie vollständig erzählt worden. Die moralische Tragödie des menschlichen Lebens beruht fast gänzlich auf der Tatsache, dass das Band, welches normalerweise das richtige Erkennen mit dem Handeln verbinden sollte, zerrissen ist, und darin, dass sich dieser stimulierende Gedanke einer wirksamen Wirklichkeit nicht mit weiteren Ideen verbunden
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hat. Die Menschen unterscheiden sich nicht sonderlich in ihren bloßen Gefühl f en und Auffas f sungen. Ihre Gedanken von dem, was möglich ist, und ihre Ideale gehen nicht so weit auseinander, wie man aufgrund ihrer unterschiedlichen Schicksale annehmen sollte. Keine Gruppe hat eine klarere Vorstellung davon oder ist sich konstanter des Unterschiedes zwischen dem besseren und dem schlechteren Leben bewusst, als die hoffnu f ngslos gescheiterten Existenzen, die sentimentalen Schwärmer, die Trinker und Träumer, die Looser, deren Leben in einem einzigen langen Widerspruch zwischen Wissen und Handeln besteht, und die trotz klarer theoretischer Erkenntnis des richtigen Weges niemals imstande sind, diesen Weg aufrecht zu beschreiten. Niemand isst soviel wie sie vom Baum der Erkenntnis. Soweit es die sittliche Reife f betrifft, sind im Vergleich zu ihnen die ordentlichen und erfolgreichen Philister, die an ihnen Anstoß nehmen, die reinsten Waisenknaben. Und doch reicht ihre moralische Erkenntnis, die beständig im Hintergrund rumort – entscheidet, kommentiert, protestiert, for f dert, halb und halb beschließt – niemals aus, dass sie einen Entschluss ganz fassen. Sie gehen niemals von Moll zu Dur über, niemals verzichten sie auf die konju n nktivische zugunsten der imperativischen Ausdrucksweise, niemals brechen sie den Bann, niemals nehmen sie das Ruder in die Hand. In Charakteren wie Jean-Jacques Rousseau und Restif de la Bretonne scheint es, als ob die niederen Motive allein alle impulsive Wirksamkeit in ihren Händen hielten. Wie Züge, denen das ausschließliche Wegerecht eingeräumt worden ist, beherrschen sie ganz allein die Schiene. Die idealeren Motive sind daneben im Überfluss vorhanden, aber sie gewinnen niemals genügend Kraft, um einen wirklichen Anreiz darzustellen, und das Verhalten der Person wird davon ebenso wenig beeinflu f sst, wie ein Schnellzug durch einen Wanderer, der an der Landstraße steht und ihm zuruft, er wolle mitgenommen werden. Sie bilden bis zum Lebensende einen unnötigen Ballast, und das Bewusstsein innerer Leere, das sich einstellt, wenn man beständig das Bessere sieht, nur um das Schlechtere zu tun, ist eines der traurigsten Gefühl f e, die man mit sich durch dieses Jammertal schleppen kann. Wir sehen nun auf einen Blick, wann genau die Anstrengung eine Komplikation der Willenshandlung verursacht. Es geschieht immer, wenn ein seltenerer und idealerer Impuls in Anspruch genommen wird, um andere instinktivere und gewöhnlichere zu neutralisieren. Es geschieht, wenn sehr eruptive Tendenzen gehemmt oder sehr starke Hemmungen überwunden werden. Die ‚schöne Seele‘, das Sonntagskind, an dessen Wiege die Feen mit ihren Gaben erschienen sind, muss sich im Leben nicht sehr häufig anstrengen. Der Held und der Neurotiker kommen dagegen oft in diese Lage. Nun sind wir unwillkürlich geneigt, die Anstrengung unter all diesen Umständen als eine wirksame Kraft aufzufas f sen, die ihre Energie mit zu jenen Motiven in die Waagschale wirft, f die schließlich den Sieg davon tragen. Wenn äußere Kräfte auf einen Körper einwirken, dann sagen wir, die resultierende Bewegung fol f ge der Richtung des geringsten Widerstandes oder des stärksten Zuges. Aber es ist merkwürdig, dass man von der mit Anstrengung vollzogenen Willenshandlung niemals spontan in dieser Weise spricht. Wenn wir freilich apriorisch vorgehen und die Richtung des geringsten Wider-
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standes als dieje e nige definieren, die tatsächlich eingeschlagen wird, dann muss das physikalische Gesetz auch in der mentalen Sphäre Geltung haben. Aber wir fühlen uns in allen Fällen, in denen uns das Wollen schwer ffällt, so, als ob in der Richtung, die wir aufgr f und der selteneren und idealeren Motive eingeschlagen haben, auch die größeren Widerstände lägen, und als ob die Richtung, in welche uns die niedrigen Motive ziehen, die bequemere und leichtere wäre. Diesen Eindruck gewinnen wir gerade in dem Augenblick, in dem wir darauf verzichten, diese bequemere Richtung einzuschlagen. Wer unter dem Messer des Chirurgen Schmerzensschreie unterdrückt oder wer sich aus Pflichtgefühl sozialer Schande aussetzt, hat den Eindruck, als ob er die Richtung einschlüge, in der der Widerstand gerade am größten ist. Er spricht vom Besiegen und Überwinden seiner Neigungen und Versuchungen. Aber der Faule, der Trinker und der Feigling werden niemals in dieser Weise über ihr Verhalten sprechen oder sagen, dass sie ihren Tätigkeitsdrang, ihre Nüchternheit, ihren Mut usw. siegreich überwunden hätten. Wenn wir im allgemeinen alle Triebfed f ern unseres Handelns in die zwei Klassen der Neigungen einerseits und der Ideale andererseits einteilen, dann sagt der Sensualist niemals, dass sein Verhalten die Folge eines Sieges über seine Ideale sei. Aber der Moralist interpretiert sein eigenes Verhalten immer als einen Sieg über seine Neigungen. Der Sensualist gebraucht Ausdrücke der Passivität. Er sagt, er vergesse seine Ideale, sei taub gegen die Pflicht usw. In diesen Ausdrücken scheint ein Hinweis darauf zu liegen, dass die idealen Motive an sich ohne Energie oder Anstrengung ausgeschaltet werden können und dass der stärkste Zug von den Neigungen ausgeübt wird. Der ideale Impuls erscheint im Vergleich mit ihnen wie ein ganz leiser Ruf, der künstlich verstärkt werden muss, um den Sieg davontragen zu können. Die Anstrengung verstärkt ihn und erzeugt den Anschein, als ob die ideale Kraft an Stärke zunehmen kann, wohingegen die Neigungen im Wesentlichen eine fest bestimmte Quantität von Energie haben. Aber was bestimmt die Größe der Anstrengung, wenn mit ihrer Hilfe f ein ideales Motiv einen bedeutenden sinnlichen Widerstand überwindet? Offen f bar die Stärke des Widerstandes selbst. Wenn die sinnliche Neigung schwach ist, ist auch die Anstrengung gering. Die letztere wird durch die Anwesenheit eines kräftigen Gegners, der überwunden werden muss, bedeutend erhö r ht. Und wenn eine kurze Definition der idealen oder moralischen Handlungsweise gegeben werden sollte, so ließe sich wohl keine bessere finden als die folge f nde: Es ist ein Han H deln in der Richtung des größt ö en Widersta r ndes. Die Tatsachen lassen sich in der nachstehenden Form kurz symbolisieren; dabei bedeutet N die Neigung, I den idealen Impuls und A die Anstrengung: I per se < N I+A>N
Mit anderen Worten, wenn A zu I hinzukommt, dann leistet N weniger Widerstand und die Bewegung erfol f gt in dem N entgegen gerichteten Sinn. Aber A scheint keinen integrierenden Bestandteil von I zu bilden. Es erscheint von vornherein zufäll f ig und unbestimmt. Wir können je nach Belieben mehr oder weniger davon aufwenden und wenn wir genug davon aufgewendet
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haben, können wir den größten geistigen Widerstand in den geringsten verwandeln. Diesen Eindruck machen die Tatsachen zumindest bei unbefangener Betrachtung. Aber wir wollen die Frage nach der Richtigkeit dieses Eindrucks hier noch nicht diskutieren, sondern lieber unsere detaillierte Beschreibung for f tsetzen.
Freude und Schmerz als T Triebfeder f rn des Handelns Gegenstände und Gedanken an Gegenstände leiten unsere Handlungen ein, aber die Lust und der Schmerz, die sich bei den Handlungen ergeben, modifizieren und regulieren ihren Verlauf, und später wächst den Gedanken an Lust und Schmerz selbst eine erregende und hemmende Kraft f zu. Nicht, dass der Gedanke an eine Lust selbst eine Lust sein müsste, gewöhnlich ist das Gegenteil der Fall – 36 nessun maggior dolore – wie Dante sagt, und nicht, dass der Gedanke an den Schmerz selbst schmerzhaft f sein müsste, denn wie es bei Homer heißt: „Kümmernisse sind oft später Stoff f zu angenehmer Unterhaltung“. Aber so wie eine Lust die Handlung bedeutend verstärken und eine Unlust sie schwächen kann, so besitzen auch die Gedanken an Lust und Unlust eine erregende und hemmende Kraft. Die genauere Bestimmung des Verhältnisses zwischen diesen und anderen Gedanken ist insofern nicht uninteressant. Wenn uns eine Bewegung ein angenehmes Gefühl verschafft f , so wiederholen wir sie so lange, wie das Gefühl f der Lust anhält. Wenn uns die Bewegung Unlust bereitet, so werden unsere Muskelaktivitäten sofort gehemmt. In diesem Falle ist die Hemmung so vollständig, dass es für einen Menschen kaum möglich ist, sich langsam oder bewusst zu schneiden oder zu verstümmeln – seine Hand wird dem Versuch, den Schmerz herbeizuführen, unüberwindlichen Widerstand entgegenbringen. Und es gibt viele Annehmlichkeiten, die, wenn wir sie erst einmal genossen haben, uns zur Fortsetzung der Tätigkeit zwingen, der wir sie verdanken. Dieser Einfluss von Lust und Unlust auf unsere Bewegungen ist so weit verbreitet und auffallend, dass eine voreilige Philosophie zu dem Schluss gekommen ist, sie seien die einzigen Triebfed f ern des Handelns, die nur deshalb zuweilen nicht auf den Plan zu treten scheinen, weil sie an so weit abgelegenen, die Handlung auslösenden Vorstellungen hängen, dass sie übersehen werden. Dies ist allerdings ein großer Irrtum. Bei aller Bedeutung, welche Lust und Schmerz für unsere Bewegungen besitzen, sind sie doch weit davon entfernt, die einzigen Anreize zu bilden. Mit den Äußerungen des Instinkts und mit dem Ausdruck unserer Gemütsbewegungen haben sie beispielsweise absolut nichts zu tun. Wer lächelt um der Annehmlichkeit des Lächelns willen? Oder runzelt die Stirne aus Freude am Stirnrunzeln? Wer errötet, um einem Unbehagen am Nicht-rotWerden zu entgehen? Oder wer lässt sich im Zustand des Ärgers, des Kummers und der Furcht durch Lustgefühle zu Bewegungen verleiten? In all diesen Fällen werden die Bewegungen mit fataler Notwendigkeit durch die vis a tergo, eine hintergründige Kraft, ausgelöst, welche ein Nervensystem reizt, das gerade auf eine solche Reizung hin angelegt ist. Die Objekte unseres Zorns, unserer Liebe,
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unseres Schreckens, die Anlässe für unsere Tränen und unser Lächeln verfügen, mögen sie nun sinnlich gegenwärtig sein oder nur vorgestellt werden, über diese besondere Art impulsive Kraft. Die impulsive Beschaffe a nheit mentaler Zustände widersetzt sich letztlich allen Erklärungsversuchen. Einzelne mentale Zustände besitzen sie in höherem Maße als andere, manche in dieser und manche in jener Richtung. Gefühl f e der Lust und des Schmerzes, aber auch Wahrnehmungen und Imaginationen bestimmter Tatsachen besitzen sie, aber kein mentaler Zustand besitzt sie ausschließlich oder nur für sich. Es gehört zum Wesen allen Bewusstseins (oder der ihm zugrunde liegenden neuronalen Prozesse), Bewegungen einer bestimmten Art auszulösen. Zu erklären, warum die Bewegung bei einem Geschöpf und einem Obje b kt von dieser, bei einem anderen von jener Art ist, fällt in den Zuständigkeitsbereich der Evolutionstheorie. Wie die tatsächlichen Impulse auch immer entstanden sein mögen, sie müssen zum jetzigen Zeitpunkt so beschrieben werden, wie sie sind. Man sitzt einem merkwürdigen und beschränkten teleologischen Irrtum auf, wenn man meint, wir müssten sie in jedem Fall als Wirkungen nicht deutlich 37 zutage tretender Regungen von Lust und Unlust interpretieren. Es mag sein, dass sich eine solche enge Teleologie, der zufolge Lust und Schmerz als die einzigen verst r tändlichen und vernünft n igen Handlungsmotive gelten können, als die einzigen Motive, aus denen heraus wir handeln sollten, argumentativ zu rechtfert f igen vermag. Letztlich formuliert diese Teleologie eher eine ethi t sche These, zu deren Gunsten einiges vorgebracht werden kann, als eine psyc s hologische These; aus ihr folgt nichts in Bezug auf die Motive, aus denen heraus wir tatsächlich handeln d . Diese Motive werden durch unzählige Gegenstände verkörpert, die unsere über den Willen steuerbaren Muskeln im Zuge eines Prozesses innervieren, der so automatisch abläuft wie derjenige der Selbstheilungskräfte bei einem Fieber. Wenn der Gedanke an eine Lust eine Handlung auslösen kann, dann können das sicher auch andere Gedanken. Welche Gedanken genau das sind, kann nur die Erfahrung zeigen. Unsere Untersuchungen über den Instinkt und die Gemütsbewegung haben gezeigt, dass ihre Zahl endlos ist, und mit diesem Ergebnis müssen wir uns zufri f eden geben und dürfen nicht eine problematische Vereinfaf chung anstreben, die auf Kosten der Hälfte f der Tatsachen geht. Sowenig Lüste und Schmerzen in unseren erst r en Handlungen eine Rolle spielen, sowenig spielen sie eine Rolle in unseren letzten Handlungen oder in jenen erworbenen Geschicklichkeiten, die uns zur Gewohnheit geworden sind. All die Routinen des täglichen Lebens, das An- und Ausziehen, der Beginn und die Beendigung unserer täglichen Arbeit, sowie die mannigfachen Verrichtungen, die wir dabei auszuführ f en haben, vollziehen sich ganz ohne mentale Bezugnahme auf Lust und Unlust – mit der Einschränkung vielleicht von einzelnen und seltenen Ausnahmen. Es handelt sich bei den Routinen um ideomotorische Handlungen. Wie ich nicht aus Freude am Atmen atme, sondern mich einfach f atmend vorfinde, so schreibe ich nicht aus Freude am Schreiben, sondern einfach f deshalb, weil ich einmal begonnen habe. Weil ich mich in einem Zustand intellektueller Erregung befinde, der sich gerade in dieser Weise Luft macht, schreibe ich eben weiter. Wer will behaupten, dass er deshalb am Mittagstisch nach seinem
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Messers greift, weil ihm dies Lust bereitet oder einem Schmerz vorbeugt? Wir tun all diese Dinge einfach, weil wir im Moment nicht anders können. Unsere Nervensysteme sind so eingerichtet, dass sie sich einfach in dieser Weise entladen. Abgesehen davon können wir für viele unserer überflüssigen oder einfach f nur „nervösen“ Äußerungen überhaupt keine Gründe angeben. Oder was soll man zu einem scheuen und ungeselligen Menschen sagen, der eine persönliche Einladung zu einer Party erhält? Die ganze Sache ist ihm ein Gräuel. Aber die Anwesenheit des Gastgebers übt einen gewissen Druck auf ihn aus, es fällt ihm kein Grund zur Absage ein und so sagt er zu, wobei er sich innerlich selbst verflucht, dass er dies tut. Derjenige, dem so etwas nicht mindestens einmal in der Woche passiert, muss über eine ganz außergewöhnliche Selbstbeherrschung verfügen. Solche Fälle von voluntas invita beweisen, dass nicht nur nicht alle unsere Handlungen als Folgen einer vorgestellten Lust interpretiert werden können, sondern dass wir in der Regel nicht einmal erwarten, mit ihnen etwas für uns Gutes erwirken zu können. Der Begriff f des Guten bezeichnet viel eher ein allgemein wirksames Motiv des Handelns als der Begriff f des Angenehmen. Das Angenehme zieht uns häufig f nur deshalb an, weil wir es als etwas Gutes erachten. Herbert Spencer legt uns nahe, uns nur um das Angenehme zu kümmern, weil es einen Einfluss auf unsere Gesundheit hat, die wir wiederum als ein Gutes begreifen. Aber fast ebenso wenig wie unter der Form des Angenehmen werden die Ziele unseres Handels stets unter der Form eines Guten vorgestellt. Alle krankhaften Impulse und pathologisch fix f en Ideen beweisen das Gegenteil. Die Schlechtigkeit einer Handlung verleiht ihr in vielen Fällen erst ihren Reiz. Man braucht oft f nur das Verbot einer Handlung aufzu f heben, und sie wird unattraktiv. In meiner Studienzeit stürzte sich ein Student aus einem der oberen Fenster des Universitätsgebäudes und kam dabei fas f t zu Tode. Ein anderer Student, ein Freund von mir, musste täglich an diesem Fenster vorbeigehen und verspürte eine schreckliche Versuchung, die Handlung nachzuahmen. Da er ein Katholik war, wandte er sich an seinen Beichtvater, der ihm sagte: „Nun, wenn Sie müssen, dann müssen Sie“, und hinzufügte, „gehen Sie nur und tun Sie es“, womit er augenblicklich seinen Drang zu springen dämpfte. Dieser Beichtvater wusste, wie man mit einer kranken Seele umzugehen hat. Aber wir brauchen nicht auf dem Gebiet der Geisteskra k nkhe k iten zu suchen, wenn wir Beispiele für f die verführerische Kraft finden wollen, die gelegentlich der einfac f hen Schlechtigkeit oder Unannehmlichkeit als solcher zukommt. Jeder, der irgendwo eine Wunde oder eine Verletzung hat, einen schmerzenden Zahn z. B., wird immer und immer wieder dagegen drücken, gerade um den daraus resultierenden Schmerz zu erzeugen. Wenn wir uns irgendwo in der Nähe der Quelle eines ungewohnten und üblen Geruches befinden, dann müssen wir wieder und wieder schnüffeln f , um uns beständig aufs Neue zu überzeugen, wie schlecht der Geruch ist. Erst heute ist es mir passiert, dass ich mir ständig ein Jingle vorsagen musste, dessen abgeschmackte Dummheit gerade das Geheimnis seiner fesselnden Eigenschafte f n ausmachte. Ich verabscheute es, konnte es aber nicht loswerden.
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Die Anhänger der Lust-und-Unlust-Theorie müssen daher, wenn sie ehrlich sein wollen, viele und große Ausnahmen bei der Anwendung ihres Credos machen. Handlungen, die aus fixen Ideen hervorgehen, sind ffür Bain ein schrecklicher Stein des Anstoßes. Ideen haben in seiner Psychologie keine impulsgebende Funktion, sondern allenfal f ls eine orientierende, während „die richtige Reizung des Willens, nämlich ein gewisses Maß an Lust und Schmerz, notwendig ist, um einen Impuls zu geben. [...] Eine Verbindung von Vorstellungen reicht nicht aus, um gleichsam auf der Rückseite der Ideen eine Handlung entstehen zu lassen (außer vielleicht im Falle einer ‚idée fix f e‘)“, allerdings „sollte durch eine Handlung, die uns deutlich bewusst ist, irgendeine Lust entstehen oder sich fortsetzen, dann reicht dies zur Erzeugung der Handlung vollkommen aus. Sowohl die Kräfte, die die Handlung einleiten, wie auch die, die ihr eine Richtung geben, sind dann vorhanden.“38
Lüste und Schmerzen sind für Bain „die genuinen Impulse des Willens.“
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„Ohne ein angenehmes oder schmerzhaftes Gefühl realer oder ideeller Art, das ihm vorausginge, kann der Wille nicht angeregt werden. Durch all die Schleier, die dasjenige verdecken, was wir Motive nennen, können wir die eine oder die andere dieser beiden bedeutenden Bedingungen erkennen.“40
Wo Bain eine Ausnahme von dieser Regel findet, weigert er sich, das entsprechende Phänomen einen „wirklich frei f willigen Impuls“ zu nennen. Die Ausnahmen, so räumt er ein, „liegen in einer nicht unterzukriegenden Spontaneität, in 41 Gewohnheiten und fixen Ideen.“ Fixe Ideen „durchkreuzen immer wieder den 42 richtigen Kurs des Wollens.“ „Uneigennützige IImpulse sind ganz verschieden vom Streben nach Lust und der Vermeidung von Schmerz. [...] Die Theorie der uneigennützigen Handlung ist die einzige Theorie, von der ich mir vorstellen kann, dass sie behauptet, die Willenshandlung und das Streben nach Glück würden sich nicht vollständig decken.“43
Mitgefühl f „teilt mit der fixen Idee, dass es der regulären Ausrichtung des Willens 44 auf Lust entgegengesetzt ist.“ Bain erwähnt damit implizit alle wesentlichen Tatsachen. Lust und Schmerz können nur als Motive eines Teiles unserer Handlungen gelten. Aber er zieht es vor, nur diesen beiden Motiven als „gewöhnliche 45 Ursachen“ und „echte Impulse“ des Willens gelten zu lassen und alles übrige nur als Paradoxien und Anomalien abzutun, über die nichts Vernünftiges gesagt werden könne. Er bezeichnet also eine Art innerhalb einer Gattung mit dem Namen der Gattung selbst und begreift alle anderen Arten als dieser einen untergeordnet. Im Grunde ist dies nur ein sprachlicher Trick. Zu wirklicher Klarheit und Erkenntnis würde es dagegen beitragen, die Gattung als „Triebfedern des Handelns“ zu bezeichnen und dann innerhalb dieser Gattung die Arten „Lust und Schmerz“ von all den anderen Arten zu unterscheiden, die in dieser Gattung ebenfalls zu finden sind! Es gibt allerdings eine Komplikation in der Beziehung der Lust zum Handeln, die dieje e nigen, welche die Lust zum ausschließlichen Ansporn des Handelns machen, teilweise rechtfertigt. Diese Komplikation verdient eine gewisse Beachtung t . Ein Impuls, der sich sofor f t entlädt, verhält sich zumeist neutral r in Bezug auf Lust und Schmerz – so zum Beispiel der Atemimpuls. Wenn ein solcher Impuls
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etwa durch einen äußeren Zwang unterdrückt wird, führt dies zu einem starken Unbehagen – zum Beispiel die Atemnot beim Asthma. Und umgekehrt empfin f den wir dann, wenn wir die unterdrückende Kraft überwunden haben, eine große Erleichterung – etwa wenn wir nach dem Abklingen eines asthmatischen Anfalls wieder atmen können. Die Erleichterung ist eine Lust, das Unbehagen ein Schmerz, und so kommt es, dass sich rund um alle unsere Impulse sekundäre Möglichkeiten lustvoller und schmerzhafter Gefühle ranken, die in alle Arten von Handlungen mit hineinspielen. Diese Lüste und Schmerze r n der erzie r lten Erge r bnisse, Entladungen oder Befähi f gungen existieren unabhängig davon, was die ursprüngliche Quelle des Handelns war. Wir freuen uns, wenn wir erfolgreich einer Gefah f r entronnen sind, obwohl der Gedanke an diese Freude sicherlich nicht das Motiv war, das uns veranlasst hatte, der Gefahr zu entkommen. Wenn wir einen angestrebten sinnlichen Genuss tatsächlich erreichen, macht uns das ebenfall f s glücklich, und dieses Glück ist eine Freude, die zu der ursprünglich angestrebten Freude noch hinzukommt. Auf der anderen Seite sind wir ärgerlich und unzufrieden, wenn irgendeine beliebige Tätigkeit, die wir uns vorgenommen haben, mitten im Vollzug behindert wird. Wir fühlen uns unwohl, bis sie wieder in Gang kommt. Und das gilt ebenso, wenn die Handlung neutral ist, bzw. im Ergebnis nichts als Schmerz erwarten lässt. Die Motte ist wahrscheinlich genauso ungehalten, wenn sie nicht in die Flamme der Gaslaterne ffliegen kann, wie der Trinker, wenn er seinen Rausch unterbrechen muss. Und wir sind, wenn wir gehindert werden, irgendeine unwichtige Handlung zu Ende zu bringen, die uns am Ende keinerlei Vergnügen bereiten würde, einfach f deshalb verärgert, weil das Gehindertwerden an sich unangenehm ist. Wir defin f ieren nun die Lust, um derentwillen eine Handlung vollzogen wird, als die angestrebte Lust. Daraus fol f gt, dass, selbst wenn mit einer Handlung nicht direkt eine bestimmte Lust erstrebt werden soll, die Durchführung dieser Handlung, wenn der Impuls zu ihr einmal gegeben wurde, gleichwohl höchst lustvoll sein kann, und zwar einfach f wegen der akzidentellen Lust, die sich aus ihrer erfolgreichen Durchführung und der Vermeidung des aus ihrer potentiellen Unterbrechung resultierenden Schmerzes ergibt. Eine lustvolle Handlung ist insofern f etwas völlig anderes als eine Handlung, die den Z Zweck verfo r lgt, irgendeine Lust zu verwir r rklichen, und dies selbst dann, wenn beide Typen in einer konkret k en Handlung zusammenfallen. Ich kann nicht umhin zu denken, dass die Verwechslung der lustvollen H Handlung mit derjenigen Handlung, die eine Lust anstrebt, die Reduktion allen Handelns auf das Streben nach Lust für den gewöhnlichen Menschenverstand so plausibel erscheinen lässt. Wir fühlen einen Impuls, ohne zu wissen woher er stammt, wir beginnen zu handeln. Wenn wir nun an der Fortsetzung gehindert werden, empfinden wir eine Unlust, und wenn wir die Handlung zu einem erfolgreichen Abschluss bringen, fühlen wir uns erleichtert. Ein Handeln auf der Linie der gegenwärtigen Impulse ist zunächst immer angenehm, und der gewöhnliche Hedonist drückt dies dadurch aus, dass er sagt, wir würden die Handlung um der in ihr involvierten Lust willen vollziehen. Aber wer sieht nicht, dass für diese Art von Vergnügen der IImpuls
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schon vorab als unabhängige Tat T tsache gegeben sein muss? Die Lust an der erfolgreichen Ausfüh f rung ist das Erge r bnis des Handlungsimpulses und nicht die Ursac r he. Sie können Ihre Freude am Erreichen des Ziels nicht genießen, solange Sie nicht aus irgendwelchen anderen Gründen den Impuls zu der entsprechenden Handlung gegeben haben. Es stimmt, dass die Lust am Erreichen des Zieles selbst zu einer angestrebten Lust werde r n kann (so komplex ist der menschliche Geist). Und diese Fälle bilden einen weiteren Punkt, an dem die Lust-Theorie etwas ffür sich hat. Nehmen Sie ein Football-Spiel oder eine Fuchsja s gd. Wem geht es hier allen Ernstes um den Fuchsbalg selbst, oder darum, ob der Ball nun in dem einen Tor landet oder in dem anderen? Wir wissen jedoch aus Erfahrung, dass, wenn wir erst einmal die impulsive Erregung in uns geweckt haben, den Fuchs zu erlegen oder den Ball in ein bestimmtes Tor zu beför f dern, uns das erfolgreiche Erreichen dieses Zieles und der damit verbundene Sieg über die Gegner mit überschäumender Freude erfül f len. Wir versetzen uns aus diesem Grund ffreiwillig in diesen erregten und impulsgeleiteten Zustand. Um ihn zu erreichen, muss eine Reihe mit dem Instinkt verbundener Bedingungen erfül f lt sein. Aber wenn wir einmal so weit sind, nähert sich der Impuls nach und nach seinem Höhepunkt, und wir ernten den Lohn für unsere Anstrengungen in Form dieser Lust am Erfol f g, der unser Streben weit mehr galt als dem toten Fuchs oder dem Ball im Tor. So ist es oft f auch mit unseren Pflic f hten. Viele Handlungen ffallen uns sehr schwer; bevor sie abgeschlossen werden, stellt sich keinerlei Lust ein, und doch nehmen wir sie um der Freude des Abschlusses willen auf uns. Wie Hamlet sagen wir zu jeder derartigen Aufgabe: „Schmach und Gram, dass ich zur Welt sie einzurichten kam!“
Und dann füg f en wir häufig f zum ursprünglichen Impuls, der uns auf den Weg brachte, noch diesen zusätzlichen hinzu: dass wir „uns so glücklich füh f len, wenn wir es tatsächlich schaffen“, ein Gedanke, der uns ebenfalls antreiben kann. Aber weil die Freude am Erreichen des Ziels insofern zu der Freude werden kann, die wir mit einer Handlung eigentlich anstreben, ffolgt daraus noch nicht, dass diese Freude bei allen Menschen und Gelegenheiten das angestrebte Ziel wäre. Dies ist es aber, was die Lust-Philosophen zu glauben scheinen. Da kein Dampfer f in See stechen kann ohne Kohle zu verheizen und da vielleicht sogar gelegentlich ein Dampfer in See sticht, um seine Kohle zu verheizen, könnten wir also genauso gut denken, dass insofern kein Dampfer aus einem anderen Grunde in See ste46 chen kann, als aus dem Motiv heraus, Kohle verbrauchen zu wollen. Da wir nicht nur aus der Freude am Erreichen bestimmter Ziele heraus handeln müssen, brauchen wir auch nicht nur aus der Flucht vor deren Nichterreichen aufgrund von Hindernissen handeln. Diese Furcht macht nur dann Sinn, wenn die Handlung bereits tendenziell aus anderen Gründen eingeleitet wurde. Und diese ursprünglichen Gründe treiben uns zur Fortsetzung der Handlung an, selbst wenn die Furcht vor dem Scheitern ihre Kraft zu diesem Impuls noch hinzufügt. Abschließend möchte ich betonen, dass ich weit davon entfernt bin, die herausragende Rolle zu leugnen, die Schmerz und Lust in der Motivation unseres Handelns spielen. Aber ich muss darauf bestehen, dass sie keine exklusive Rolle spielen und dass zusammen mit diesen mentalen Entitäten unzählige andere eine
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ganz ähnliche, einen Impuls erzeugende und einen Impuls hemmende Kraft ha47 ben. Wenn man einen einzigen Namen für die Bedingung haben will, von der die anregende und hemmende Wirkung abhängt, dann eignet sich am besten der des Interesses. Das „Interessierende“ ist eine Bezeichnung, die nicht nur zum Angenehmen und Unangenehmen passt, sondern auch zum Faszinierend-Morbiden, das Ekelhaft-Fesselnden und zu dem, was einfach f aus Gewohnheit unsere Aufmerksamkeit erregt – sofern f unsere Aufmerksamkeit in gewohnten Bahnen verläuft, können die Begriffe der Aufmerk f samkeit und des Interesses als Synonyme gelten. Es scheint, als sollten wir den eigentlichen Grund für die Impuls auslösende Wirkung einer Vorstellung nicht in irgendwelchen besonderen Beziehungen suchen, in denen sie zu den Bahnen der motorischen Entladungen stehen – denn alle Vorstellungen haben Beziehungen zu irgendwelchen derartigen Bahnen –, sondern vielmehr in einem grundsätzlicheren Phänomen, nämlich in der Wucht, mit welcher sie die Aufme f rksamkeit zu ffesseln und ddas Bewusstse t in zu beherrsc r hen imstande ist. Herrscht sie erst einmal über das Bewusstsein und gelingt es anderen Vorstellungen nicht mehr, sie zu verdrängen, dann müssen all die motorischen Effekt f e, die ihr naturgemäß zugehören, unvermeidlich eintreten – kurzum, ihrem Impuls wird stattgegeben und er äußert sich in ganz natürlicher Weise. Das haben wir am Beispiel der Instinkthandlung, der emotionalen und der gewöhnlichen ideomotorischen Handlung ebenso gesehen, wie an der Fällen der hypnotischen Suggestion, krankhaften Impulsen und der voluntas t invita – die Vorstellung, die den Anstoß gibt, ist immer einfach f diejenige, die die Aufmerksamkeit fes f selt. Das gleiche gilt, wo Lust und Unlust als Handlungsimpulse wirken – sie verdrängen andere Gedanken aus dem Bewusstsein, während sie gleichzeitig ihre eigenen charakteristischen Willenseffekte veranlassen. Und wiederum das gleiche geschieht im Augenblick des fiat bei allen fünf f weiter oben beschriebenen Typen der „Entscheidung“. Wir finden keinen einzigen Fall, in welchem sich die dauernde Beherrschung des Bewusstseins nicht als erste Bedingung der impulsiven Kraft angeben ließe. Und noch deutlicher tritt diese Beherrschung des Bewusstseins als die Grundbedingung der hemmenden Kraft zutage. Was unsere Impulse hemmt, ist das bloße Abwägen von Gründen für das entgegengesetzte Verhalten – ihr bloßes Vorhandensein im Bewusstsein ist bereits das Veto und macht es unmöglich, Handlungen, die ansonsten einen verführerischen Reiz besitzen würden, zu vollziehen. Wenn wir nur unsere Bedenken, unsere Zweifel, unsere Besorgnisse verge r ssen könnten, welche Fülle von Energie würde uns sofort zur Verfüg f ung stehen!
Der Wil W le ist eine Beziehung zwischen dem Geist und seinen ,Vorst r ellungen‘ Wenn wir nun also nach all diesen Präliminarien auf das innerliche (intimate) Wesen des Willensprozesses eingehen, so sehen wir uns immer ausschließlicher zu Betrachtungen über die Bedingungen genötigt, auf denen der Sieg einer Vor-
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stellung im Bewusstsein beruht. Mit dem einmal erreichten Erfolg der motivierenden Vorstellung kommt die Psychologie des Willensaktes an ihr Ende. Die Bewegungen, die sich anschließen, sind rein physiologische Phänomene, die sich nach physiologischen Gesetzen an die neuronalen Prozesse anschließen, denen die Vorstellung zugeordnet ist. Das Wollen findet sein Ende mit dem Sieg der Vorstellung, und ob die Handlung dann wirklich erfolgt f oder nicht, ist, soweit nur das Wollen selbst in Betracht gezogen wird, eine Nebensache. –Ich will schreiben, und die Handlung erfol f gt. –Ich will niesen, und es geschieht nicht. –Ich will, dass ein weit entfernter Tisch über den Boden zu mir gleitet, er tut es ebenfal f ls nicht. Meine Willensvorstellung kann ebenso wenig mein Nieszentrum in Erregung versetzen, wie sie den Tisch verrücken kann. Aber in beiden Fällen handelt es sich um ein ebenso wahres und echtes Wollen, als wenn ich willens bin zu 48 schreiben. Kurz, das Wollen ist eine ganz und gar psychische bzw. moralische Tatsache und ist absolut vollendet, wenn der stabile Zustand der Vorstellung erreicht ist. Das Hinzukommen einer Bewegung ist eine Begleiterscheinung, die von Ganglienzellen abhängt, deren Funktion außerhalb des Geistes liegt. Im Veitstanz und in lokomotorischer Ataxie sind die Bewegungsvorstellungen und die Zustimmung zur Bewegung ganz normal. Aber die untergeordneten Ausführu f ngszentren sind beschädigt, obwohl die Vorstellungen sie zur Entladung anregen, entladen sie sich nicht so, wie es die präzise Umsetzung der Bewegungsvorstellung erfor f dern würde. Ein Aphasie-Patient hat eine bestimmte Vorstellung von einem Wort, das er äußern möchte, aber sobald er den Mund öffn f et, hört er sich selbst gänzlich unintendierte Töne äußern. Dies kann ihn mit Wut und Verzweiflung erfüll f en – wobei diese Affekte nur zeigen, wie intakt sein Wille bleibt. Eine Lähmung liegt auf der gleichen Linie, ist aber noch dramatischer. Der mit einer Bewegung verbundene Mechanismus ist nicht nur gestört, sondern ganz unterbrochen. Das Wollen stellt sich ein, aber die Hand bleibt so unbeweglich wie der Tisch, auf dem sie liegt. Dem Gelähmten wird dies durch das Ausbleiben der erwarteten Veränderung durch seine affer f enten Empfindungen deutlich. Er strengt sich immer stärker an, d. h. er versucht mental, die Empfindung der Muskelanstrengung zu evozieren: Er runzelt die Stirn, atmet intensiv, 49 ballt die andere Faust, aber der gelähmte Arm bleibt so reglos liegen wie zuvor. Wir ffinden also, dass wir ins Zentrum unserer Frage nach dem Willen vorstoßen, wenn wir untersuchen, wie sich der Gedanke an irgendeine bestimmte Handlung im Bewusstsein erfol f greich durchsetzt. Unter welchen Bedingungen sich Gedanken ohne Anstrengung durchsetzen, haben wir in den verschiedenen Kapiteln über Empfin f dung, Assoziation, Aufmerksamkeit sowie die Gesetze ihres Auftretens und ihres Beharrens im Bewusstsein zur Genüge kennengelernt. Wir brauchen uns nicht erneut auf jenes Gebiet zu begeben, denn wir wissen, dass sich unsere Erklärungen auf die beiden Begriffe f Interesse und Assoziation – ihre Bedeutung mag sein, welche sie wolle – verlassen müssen.
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Wo dagegen die Durchsetzung des Gedankens von einer Anstrengung begleitet wird, liegt der Fall bedeutend weniger klar. Bereits im Kapitel über die Aufmerksamkeit haben wir die endgültige Betrachtung der willkürlichen, mit Anstrengung einhergehenden Aufmerk f samkeit auf später verschoben. Wir sind nun an einen Punkt gelangt, an dem wir erkennen, dass die mit Anstrengung verbundene Aufmerksamkeit alles ist, was beim Wollen überhaupt vorausgesetzt wird. Die Hauptleistung des W Wollens besteht, wenn es am „willkürlichsten“ ist, t kurz r gesagt darin, ein schwer ffestzuhaltendes Objekt zu beachten und im Geist zu fixieren. Genau darin, dies zu tun, besteht das fiat, und es ist ein bloß physiologischer Zufal f l, dass auf ein so beachtetes Obje b kt unmittelbar motorische Konsequenzen folgen müssen. Ein Entschluss, dessen intendierte Bewegungsfolgen erst in einer fern f en Zukunft f eintreten sollen, beinhaltet alle Elemente eines psychischen Bewegungs-fi - at außer dem Wort „„jetzt“. Mit vielen unserer rein theoretischen Überzeugungen verhält es sich genauso. In den entsprechenden Untersuchungen sahen wir, wie Glaube in letzter Instanz nur eine besondere Art der Besetzung des Geistes und der Beziehung der geglaubten Sache zum Selbst bedeutet. Und wir wissen im Falle vieler Überzeugungen, wie konstant eine Anstrengung der Aufmerksamkeit erfor f derlich ist, um sie in dieser Situation auff rechtzuerhalten und davor zu schützen, von widersprechenden Vorstellungen 50 verdrängt zu werden. Die Anstrengung der Aufme f rksamk k eit ist somit das wichtigste Phänomen des 51 Wollens. Jeder Leser wird dies aus eigener Erfahrung wissen, denn jeder Leser wird wohl schon einmal die Kraft einer glühenden Leidenschaft gespürt haben. Was macht es ffür einen Menschen so schwierig, unter dem Druck einer dummen Leidenschaft so zu handeln, als ob diese Leidenschaft nicht bestünde? Die Schwierigkeit ist sicher keine physische. Es ist physisch ebenso leicht, einen Kampf zu vermeiden wie ihn zu provozieren, sein Geld zu sparen wie es zur Befriedigung von Begierden zu verschwenden, an der Tür einer Prostituierten vorbei- wie hineinzugehen. Die Schwierigkeit liegt auf geistigem Gebiet: Sie besteht darin, die Vorstellung der vernünfti f gen Handlung überhaupt im Bewusstsein festzuhalten. Wenn uns irgendeine heftige Gemütsbewegung beherrscht, dann besteht eine Tendenz, keine anderen Bilder aufko f mmen zu lassen, als solche, die mit ihr übereinstimmen. Wenn andere sich zufäl f lig darbieten, werden sie sofor f t unterdrückt und ausgerottet. Wenn wir fröhlich sind, dann können wir die Gedanken an jene Ungewissheiten und Risiken, die so reichlich auf unserem Weg lauern, nicht festhalten. Sind wir traurig, vermögen wir nicht an neue Triumphe, Reisen, Liebschaften und Freuden zu denken. In rachsüchtiger Stimmung fällt es uns schwer, daran festzuhalten, dass unser Widersacher ein Mensch ist wie wir. Die ernüchternden Ratschläge, die wir von anderen erhalten, wenn uns eine solche Erregtheit beherrscht, gehören zu den unangenehmsten und ärgerlichsten Dingen im Leben. Antworten können wir nicht, also werden wir zornig. Denn durch eine Art Selbsterhaltungsinstinkt unserer Leidenschaft denken wir, dass diese ffrostigen Ratschläge, wenn sie erst einmal Aufnahme bei uns gefunden haben, nicht eher ruhen werden, bis sie den Lebensfun f ken unserer ganzen Stimmung erstickt und unsere Luftschlösser vollständig eingerissen haben. Das ist die
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unvermeidliche Wirkung, welche vernünftige Ratschläge auf andere ausüben – wenn sie erst einmal ruhiges Gehör finden. Und das Bestreben der Leidenschaft ist demgemäss immer und überall darauf gerichtet, der Stimme der Vernunft, f solange sie noch leise ist, überhaupt kein Gehör zu schenken. „Ich will nicht daran denken, sprecht mir nicht davon!“, so lautet der unwillkürliche Ausruf all derjenigen, die sich im Zustand einer Leidenschaft mit irgendwelchen ernüchternden Reflexionen konfrontiert sehen, welche sie mitten im Lauf aufzu f halten drohen. Haec tibi erit janua leti, denken wir. Es ist etwas so Eisiges in diesem Kaltwasserbad, etwas, was unserer Lebensenergie so feindlich erscheint, etwas so Negatives, wenn die Vernunft f ihre Leichenfinger auf unser Herz legt und sagt: „Halt! gib es auf! lass ab! kehre um! gib Ruhe!“, dass es kein Wunder ist, wenn die meisten Menschen dabei eine wahre Todeskälte durchschauert. Ein willenstarker Mensch hört jedoch ohne zu Wanken auf die noch leise Stimme. Wenn die todbringende Überlegung kommt, schaut er ihr ins Auge, stimmt ihr zu, hält sie ffest und beja e ht sie, trotz der Fülle intensiver Vorstellungen, die sich dagegen erheben und die bestrebt sind, sie wieder aus dem Bewusstsein zu drängen. Wird es durch eine derartig entschlossene Anstrengung der Aufmerk f samkeit fes f tgehalten, beginnt die schwierige Vorstellung sofor f t andere, die mit ihr übereinstimmen und assoziiert sind, herbeizuführen und ändert schließlich den Bewusstseinszustand des betreffen f den Menschen ganz und gar. Und mit dem Bewusstseinszustand ändert sich auch die Handlungsweise, denn die neue Vorstellung ruft, wenn sie erst einmal den geistigen Horizont sicher beherrscht, unfehlbar ihre eigenen motorischen Wirkungen hervor. Die Schwierigkeit liegt nur darin, die Herrschaft im Bewusstsein zu gewinnen. Während der spontane Drang des psychischen Geschehens in eine ganz andere Richtung geht, muss die Aufmerk f samkeit ffest an die eine Sache gebunden werden, bis sie sich zumindest soweit konsolidiert, dass sie sich selbst mit Leichtigkeit im Bewusstsein behaupten kann. Diese Anspannung der Aufmerk f samkeit ist der ffundamentale Willensakt. Und die Arbeit des Willens ist in den meisten Fällen praktisch zu Ende, wenn die bloße Gegenwart der von Natur aus unwillkommenen Sache in unserem Bewusstsein gesichert ist. Denn nun beginnt das mysteriöse Band zwischen dem Bewusstseinsinhalt und den motorischen Zentren wirksam zu werden, und in einer Weise, über die wir nicht einmal Vermutungen anstellen können, ergeben sich ganz natürlich die Folgeleistungen der körperlichen Organe. In all dem erkennt r man, wie der Punkt, in dem die Willensanstre t ngung unmittelbar einsetzt, ausschließlich in der geistigen Welt liegt. Das ganze Drama ist ein geistiges Drama. Die ganze Schwierigkeit ist eine geistige Schwierigkeit, eine Schwierigkeit mit einem gedanklichen Gegenstand. Wenn ich das Wort Idee d verwenden darf, a ohne damit assoziationstheoretische oder Herba r artsche Märchen zu implizieren, möchte ich damit sagen, dass unser Wille mit einer Idee einsetzt, einer Idee, die uns entgleiten würde, wenn wir sie losließen, aaber die wir nicht loslassen wollen. Die einzige Leistung der Willensanstrengun t g besteht darin, dass die Zustimmung zu der vollen Gegenwart a dieser Idee erteilt wurde. Ihre einzige Funktion besteht darin, dieses Bewusstsein der Zustimmung herbeizuführen. Und dafür f gibt
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es nur einen Weg. Die Idee, für f welche die Zustimmung gewonnen werden soll, muss vor dem Flackern und Verlöschen bewahrt werden. Sie muss ruhig im Bewusstsein ffestgehalten werden, bis sie den Geist ganz ausfüllt. Dari a n, dass der Geist von einer Idee in dieser Weise mit ihr verwandten Assoziationsgliedern erfül f lt wird, besteht die Zustimmung zu der Idee und zu dem Tatbestand, welchen die Idee vorstellt. Wenn sich die Idee auf eine unserer körperlichen Bewegungen bezieht oder sie mit einschließt, dann nennen wir die Zustimmung, die so mit Anstrengu t ng gewonnen wird, eine motorische Willensbildung. Denn in einem solchen Fall kommt uns die Natur t sofort zu Hilfe f und beantwortet unsere innere Geneigtheit durch äußere Veränderungen. Sie tut t dies in keinem anderen Fall. Schade nur, dass sie nicht großmütiger gewesen ist und eine Welt geschaffen f hat, deren andere Bestandteile ebenso unmittelbar a unserem Willen unterworfen sind! Als wir weiter oben den vernunftgemäßen Typus der Entscheidung beschrieben haben, war die Rede davon, dass diese Entscheidung gewöhnlich eintritt, wenn die richtige Auffas f sung des betreffend f en Falles gewonnen ist. Wo indessen die richtige Auffas f sung mit unseren Impulsen in Widerspruch gerät, da wird die ganze intellektuelle Findigkeit des Menschen aufge f boten, um die richtige Auffa f ssung zu verdrängen und den betreffen f den Fall so zu betrachten, dass die jeweiligen Neigungen sanktioniert werden und Trägheit oder Leidenschaft ungestört weiter regieren können. Wie viele Entschuldigungen findet der Trinker wenn er einer neuen Versuchung begegnet! Es handelt sich um eine neue Likörsorte, die sein sachliches Interesse an solchen Dingen zu probieren gebietet. Außerdem ist bereits eingeschenkt worden und es wäre eine Sünde, das Getränk zurückgehen zu lassen. Außerdem trinken auch die anderen, und es wäre kleinlich, sich als einziger zurückzuhalten. Es hilft, f um besser einschlafen f oder eine Arbeit abschließen zu können, oder es dient nur dazu, sich aufzuwärmen und ist insofern kein Trinken. Oder es ist gerade Weihnachten, oder er trinkt sich Mut an, um sich umso energischer für die Abstinenz entscheiden zu können, als er das bisher vermocht hatte. Oder es ist nur dies eine Mal und einmal ist keinmal usw. ad infi n nitum – jeder beliebige Grund kommt in Betracht, mit Ausnahme des einen, dass er ein Trinker ist. Letzteres wäre genau die Deutung, die der Betrachtung der armen Seele nicht standhalten will. Wenn aber der Trinker erst einmal dazu fähig ist, diese Betrachtung gegenüber allen anderen Möglichkeiten hervorzuheben und sich die Dinge so zurechtzulegen, dass er um jeden Preis daran festhält, er trinke nur, weil er ein Trinker ist, dann wird er wahrscheinlich nicht mehr lange ein Trinker bleiben. Die Anstrengung, durch die es ihm gelingt, die richtige Auffas f sung seinem Bewusstsein konstant gegenwärtig zu halten, erweist sich als der 52 rettende moralische Akt. Wir sehen also, dass die Funktion der Anstrengung überall die gleiche ist: einen Bewusstseinsinhalt durch Bejahung und Zuneigung ffestzuhalten, der uns, sich selbst überlassen, entgleiten würde. Dieser Bewusstseinsinhalt mag, wenn der spontane Drang des Geistes auf Erregung eingestellt ist, kalt und ffad erscheinen, oder, wenn er dem Ruhebedürfnis entgegensteht, übermäßig streng. Im einen Fall hat die Willensanstrengung einen eruptiven Willen zu hemmen, im anderen einen gehemmten Willen anzuregen. Der erschöpfte f Matrose auf einem Leck
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geschlagenen Schiff f hat gegen einen gehemmten Willen anzukämpfen. Seine Vorstellungen richten sich auf seine wunden Hände, auf die Erschöpfung seines ganzen Körpers, die das Betätigen der Pumpe mit sich bringt, und zugleich auf die Wonne, die es bedeuten würde, in den Schlaf sinken zu können. Eine andere Vorstellung bezieht sich auf die hungrige See, welche ihn zu verschlingen droht. „Lieber die schmerzhafte Arbe r it“, sagt er sich, und pumpt trotz des hemmenden Einflu f sses der verhältnismäßig wonnigen Empfindungen, die er vom antizipierten Schlaf erhält, weiter. Von der Form her wäre seine Zustimmung zum Einschlafen exakt gleich. Oft ist es aber gerade auch der Gedanke an den Schlaf und an das, was zu ihm hinfüh f rt, der sich nur schwer im Bewusstsein fes f thalten lässt. Wenn ein Patient, der an Schlaflosigkeit leidet, den wilden Lauf seiner Gedanken nur dadurch kontrollieren kann, dass er an gar nichts mehr denkt (was möglich ist), oder dadurch, dass er sich einen Bibel- oder Liedervers Buchstabe für Buchstabe vorstellt, indem er ihn in Gedanken langsam und monoton rezitiert, dann ist es fast sicher, dass sich auch hier die charakteristischen körperlichen Effekte einstellen und ihn der Schlaf überkommen wird. Die Schwierigkeit besteht dabei darin, den Geist auf eine an sich langweilige Reihe von Objek b ten zu richten. Eine Vorstellung festzuhalten oder zu denken ist kurz gesagt der einzige moralische Akt, der den Impulsiven und Gehemmten, den Gesunden und den Geisteskranken helfen f kann. Viele Geisteskranke wissen, dass ihre Gedanken verrückt sind, aber sie finden sie zu überwältigend, als dass sie ihnen Widerstand leisten könnten. Im Vergleich mit ihnen erscheinen die gesunden Wahrheiten so tödlich nüchtern, so leichenhaft, dass der Geisteskranke es nicht über sich bringt, sie ins Auge zu fassen und zu sagen: „Diese Wahrheiten allein sollen ffür mich die Realität bedeuten!“ Bei genügender Anstrengung vermag allerdings, wie Arthur Ladbroke Wigan schreibt, „[e]in solcher Mensch sich eine Zeitlang gleichsam selbst aufzuraffe f n und zu bestimmen, dass die Begriffe f des in Unordnung geratenen Gehirns nicht zutage treten sollen. Uns sind viele Fälle bekannt, die dem von Pinel mitgeteilten ähneln, wo ein Insasse der Irrenanstalt Bicare ein langes Kreuzverhör durchmachte und alle Anzeigen wiederhergestellter geistiger Gesundheit aufwies, schließlich aber seinen Entlassungsschein mit ‚Jesus Christus‘ unterzeichnete und dann in all die närrischen Einfälle zurückverfiel, die mit seinem Wahn verknüpft waren. In der Ausdrucksweise dieses Herrn, dessen Fall in einem früheren Abschnitt dieses [= Wigans] Buches besprochen worden ist, hatte er sich während des Verhörs ‚stramm gehalten‘, um sein Ziel zu erreichen; als dies gelungen war, ‚ließ er sich wieder gehen‘ und, obwohl er sich seiner Wahnidee bewusst war, konnte er sie nicht unterdrücken. Ich habe bei solchen Personen bemerkt, dass es einer beträchtlichen Zeit bedarf, sich auf die Höhe vollkommener Selbstbe t herrschung zu erheben und dass die Anstrengung eine qualvolle Spannung des Geistes bedeutet. [...] Wird ihre Wachsamkeit durch irgendeine zufäll f ige Bemerkung abgelenkt oder durch die Länge des Verhörs erschöpft, f dann lassen sie sich gehen und können sich ohne besondere Vorbereitung nicht wieder zurecht finden. Lord Erskine erzählt die Geschichte eines Mannes, der gegen Dr. Munro klagte, weil dieser ihn ohne Grund festgehalten habe. Er überstand eine sehr eindringliche Befragung durch den Anwalt des
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William James: Die Texte Beklagten ohne irgendein Anzeichen von Wahnsinn, bis dieser Herr ihn nach einer Prinzessin ffragte, mit der er über Kirschsaft korrespondiert hatte, worauf 53 er augenblicklich verrü r ckt wurde.“
Um noch einmal alles mit einem Wort zusammenzufassen: Der spr s ingende Punkt des psychologischen Prozesses beim Wollen, der Punkt, wo der W Wille direkt einsetzt, t ist immer eine Idee. Es gibt zu allen Zeiten gewisse Ideen, vor denen wir zurückschrecken wie scheu gewordene Pferde, sobald sich ihr unliebsames Profil f auf der Schwelle unseres Bewusstseins abzeichnet. Der einzige Widerstand r d, den unser Wille W möglicherweise erfahren kann, ist der Wid W erstand, d den solch eine Idee ihrem Beachtetwerde r n überhaupt entge t genbringt. Sie zu beachten, macht den Willensakt aus, und zwar den einzigen inneren Willensakt, den wir je vollbringen. Ich habe das Thema auf diese äußerst einfache Weise dargelegt, da ich mehr als alles andere die Tatsache betonen möchte, dass das Wollen in erster Linie eine Beziehung ist: nicht zwischen unserem Selbst und einer extramentalen Materie (wie viele Philosophen immer noch behaupten), sondern zwischen unserem Selbst und seinen eigenen mentalen Zuständen. Aber wenn ich weiter oben davon gesprochen habe, dass die Zustimmung zu einem Gegenstand nichts anderes bedeutet, als dass sich der Geist mit ihm anfüllt, dann habe ich eine These aufgestellt, die der Leser an der entsprechenden Stelle sicher bezweifelt hat und die hier, bevor wir weiter voranschreiten, noch etwas weiter begründet werden sollte. Es ist ohne Zweifel richtig, dass, wenn irgendein Gedanke den Geist tatsächlich ausschließlich ausfül f lt, eine solche Füllung Zustimmung bedeutet. Der Gedanke reißt, zumindest zu diesem Zeitpunkt, den ganzen Menschen mit sich fort. Aber es stimmt nicht, dass der Gedanke immer den Geist völlig ausfüllen muss, damit eine Zustimmung erreicht werden kann. Denn wir stimmen oft f einigen Dingen zu und denken dabei zugleich an andere, sogar entgegengesetzte Dinge. Und wir sahen, dass sich unser ffünffter Entscheidungstyp gerade dadurch von allen anderen Typen unterscheidet, dass in ihm der Gedanke, der sich gegen andere durchgesetzt hat, nach wie vor mit seinen Opponenten koexistiert. Das Wort „Wille“ deckt insofern mehr ab als das Bestreben etwa t s aufzuf f fassen; das Wort umfasst auch die Anstrengungen, die wir unternehmen, einer Sache zuzustimmen, der unsere Aufmerksamkeit nicht vollständig gilt. Wenn ein Gegenstand unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und die motorischen Folgen kurz davor sind, sich einzustellen, scheint es oft, als ob ein Gespür für die drohende Unwiderruflichkeit der Handlung ausreicht, um die hemmende Vorstellungen aufzurufen und uns Einhalt zu gebieten. Dann müssen wir einen Impuls für neue Anstrengungen zum Abbau der plötzlichen Bedenken geben, um die ursprüngliche Richtung einhalten zu können, so dass, obwohl Aufmerk f samkeit die Grundlage des Willens bildet, noch die ausdrückliche Zustimmung zu der Realität, auf die sich die Aufme u rksamk k eit richtet, als eine zusätzliche und ganz unterschiedliche Bedingung mit involviert ist. Sein eigenes Bewusstsein sagt dem Leser natürlich genau das, was ich ihm hier mitzuteilen versuche. Und ich gestehe, dass ich nicht dazu in der Lage bin, die Analyse der Sache weiter zu fführen oder in anderen Worten zu erklären,
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worin die erwähnte Zustimmung besteht. Sie scheint eine subje b ktive Erfah f rung sui generis zu sein, die wir benennen aber nicht definieren können. Wir stehen hier genau an der gleichen Stelle, an der wir auch im Falle des Glaubens standen. Wenn uns eine Idee in einer bestimmten Weise packt, uns gleichsam elektrisiert, dann glauben wir, dass etwas eine Wirklichkeit ist. Wenn sie uns aber auf andere Weise packt, anders auf das Selbst einwirkt, dann sagen wir, dass etwas wirklich werden soll. Den Wendungen „ist“ und „soll sein“ korrespondieren besondere Haltungen des Bewusstseins, die nicht weiter erklärt werden können. Die indikativische und imperativische Haltung sind ebenso ultimative Kategorien des Denkens wie der Grammatik. Die „Qualität der Wirklichkeit“, die Haltungen zu den bloßen Tatsachen hinzufügen, unterscheidet sich von allen anderen Qualitäten. Es handelt sich um eine Beziehung zu unserem Leben. Haltungen stehen ffür unsere Art, die Dinge zu nehmen, sich um sie zu kümmern, ffür sie einzustehen. Dies bedeuten Haltungen für uns zumindest in praktischer Hinsicht, was sie darüber hinaus bedeuten können, entzieht sich uns. Und der Übergang von einer Haltung, in der wir ein Objekt bloß als möglich betrachten, zu einer solchen, in der wir wollen, dass es wirklich ist, der Wechsel von einer schwankenden zu einer stabilen Haltung, von der „egal“-Haltung zur „wir meinen es ernst“-Haltung, gehört zu den vertrautesten Phänomenen des Lebens. Wir können einige seiner Bedingungen anfüh f ren und auch manche seiner Folgen antizipieren, insbesondere die gravierenden, die sich ergeben, wenn das Objekt eine Bewegung des eigenen Körpers ist und sich der Haltungswechsel somit in der äußeren Welt manifes f tiert. Aber die Veränderung selbst als ein subjektives Phänomen ist etwas, das wir nicht in einfachere Begriffe f übersetzen können.
Die Frage des „freien Wil W lens“ Wenn wir über den frei f en Willen sprechen, müssen wir uns vor allem von jenen mythischen Wirkursachen frei machen, die gewöhnlich „Ideen“ genannt werden. Die Gehirnprozesse können ebenso gut Wirkursachen sein wie die Gedanken. Aber die von der gewöhnlichen Psychologie so genannten „Ideen“ sind nur Teile des gesamten Gegenstandsbereichs der hier in Frage kommt. Alles, was im Geist unmittelbar gegeben ist, bildet, egal wie komplex sein System der Teilgegenstände und Beziehungen auch sein mag, ffür das Denken einen Gegenstand. So kann etwa „A-und-B-und-ihre-gegenseitige-Unvereinbarkeitund-die-Tatsache-dass-eines-von-beiden-allein-wahr-oder-wirklich-sein-könntewenn-auch-beide-es-wert-sind-wahr-oder-wirklich-zu-werden“ ein solcher komplexer Gegenstand sein. Und wo der Gedanke Teil einer Überlegung ist, hat sein Gegenstand immer eine Form wie diese. Wenn wir nun von der Überlegung zur Entscheidung übergeben, erfährt dieser Gesamtgegenstand eine Veränderung. Wir verzichten dann entweder auf A und seine Beziehungen zu B und denken nur noch an B. Oder wir denken, nachdem wir beide Möglichkeiten abgewogen haben, dass A unmöglich ist und dass B baldmöglichst Wirklichkeit werden soll. In beiden Fällen ffindet unser Denken einen neuen Gegenstand, und Anstrengungen
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treten dort auf, wo der Übergang vom ersten auf den zweiten Gegenstand schwer fällt. In diesem Fall scheint sich unser Denken wie eine schwere Tür in ihren Angeln zu drehen. Nur soweit sich die Anstrengung spontan anfühlt, öffn f et sich die Tür nicht dadurch, dass sie jemand bewegen würde, sondern durch eine innere Aktivität, die genau zu dieser Gelegenheit passt. Die Psychologen, die auf dem internationalen Kongress in Paris im Jahr 1889 einen „Muskelsinn“ diskutiert haben, kamen am Ende darin überein, dass wir ein besseres Verständnis der inneren Aktivität benötigen, die im Moment des Treff fens einer Entscheidung erfol f gt. In einem Aufsatz, den ich interessanter und anregender als schlüssig oder kohärent fin f de, scheint Alfred Fouillée den Sinn ffür diese Aktivität ganz im Bewusstsein unserer selbst als denkende Wesen aufgehen 54 55 zu lassen. So übersetze ich zumindest seine entsprechenden Aussagen. Aber wir haben an anderer Stelle gesehen, wie schwer es ist, verifizierbare Aussagen über den Strom des Denkens selbst zu machen und ihn von den einzelnen Obje b kten in diesem Strom zu unterscheiden. Fouillée gesteht dies zu. Aber ich glaube nicht, dass er vollständig verstanden hat, wie stark die Position von jemandem wäre, der behaupten würde, dass das Gefühl der geistigen Tätigkeit selbst, das das Auftauchen bestimmter „Gegenstände“ im Geist begleitet, nichts anderes als ein bestimmter Gegenstand sei, der sich etwa an Muskelkontraktionen der Augenbrauen, der Augen, des Halses und des Atemapparats ffestmacht, die bei anderen Impulsen zur Änderung der subje b ktiven Lage fehlen. Würde dies stimmen, dann wäre jedenfal f ls ein Teil der Aktivität, der wir uns im Zusammenhang mit einer Anstrengung bewusst werden, einfach nur eine körperliche Anstrengung, und viele Philosophen würden daraus wahrscheinlich schließen, dass damit alles in Bezug auf innere Aktivitäten geklärt sei. Sie würden die ganze Vorstellung einer inneren Aktivität aus der psychologischen Wissenschaft f verbannen. Ich selbst würde keine ganz so extreme Position beziehen, obwohl ich das Bekenntnis bekräft k igen muss, dass ich nicht völlig verstehe, wie wir zu der Überzeugung kommen, dass das Denken ein immaterieller Prozess sei, der parallel zu den Prozessen der materiellen Welt verlaufe. Es ist gleichwohl sicher, dass wir uns nur dadurch, dass wir ein solches immaterielles Denken postulieren, die Dinge verständlich machen können, und es ist sicher, dass bisher kein Psychologe die Tatsache des Denkens geleugnet hätte, geleugnet wurde allenfal f ls seine dynamische Kraft. Aber wenn wir die Tatsache des Denkens überhaupt postulieren, dann müssen wir ihm, so denke ich, auch eine spezifische Macht zugestehen. Ich sehe auch nicht, wie wir seine Kraft richtig zu seiner bloßen Existenz ins Verhältnis setzen und sagen können (wie es Fouillée zu tun scheint), dass die Aufrechterhaltung des Prozesses für f den Gedankenprozess überha r upt eine Tätigkeit ist, und darü a ber hinaus eine überall gleiche Tätigkeit. Denn bestimmte Schritte in diesem Prozess scheinen auf den ersten Blick passiv zu sein, und weitere Schritte (etwa dort, wo sich ein Gegenstand erst nach einer Anstrengung einstellt) scheinen auf den ersten Blick in einem hohen Maß akt a iv zu sein. Wenn wir also zugeben, dass unsere Gedanken existieren r , müssen wir auch zugestehen, dass sie in der Art existieren, in der sie erscheinen: als Dinge nämlich, die manchmal mit Leichtigkeit und manchmal erst in Folge von Anstre t ngungen auftre t ten. Die Frage lautet dabe a i
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nur, ob die Anstrengung dort, wo sie auftr f itt, t eine feste Funktion des Gegenstands d des Gedankens ist? Oder ist sie eine unabhängige „Varia a able“, so dass bei einem konstanten Gegenstand mal mehr und mal weniger von ihr nötig wird? Die Antwort auf diese Frage scheint uns selbst bei einem konstanten Gegenstand unbestimmt. Wir können für beide mögliche Antworten Gründe anführ f en. Wenn die Antwort wirklich unbestimmt ist, dann sind unsere zukünfti f gen Handlungen nicht eindeutig festgelegt oder vorherbestimmt. Im allgemeinen Sprachgebrauch wäre unser Wille W dann frei. Wenn die aufzu f bringende Anstrengung nicht unbestimmt, sondern fest mit dem Objekt selbst verbunden wäre, und zwar so, dass, welches Objekt zu welchem beliebigen Zeitpunkt auch immer unser Bewusstsein anfüllen würde, es seit dem Anfan f g der Welt dazu bestimmt sei, es hier und jetzt zu füllen und von uns genau das Maß an Anstrengung zu verlangen, nicht mehr und nicht weniger, das wir ihm widmen – dann wäre unser Wille nicht frei und alle unsere Handlungen wären vorherbestimmt. Die zentrale r Frage r in der Kon K troverse r um den ffreien W Willen ist somit extrem einfa n ch. Sie bezieht sich ausschließlich auf die Höhe der Anstrengung, die wir in die Aufmerksamkeit auf oder in die Zustimmung zu etwas investieren können. Sie lautet: Sind die Dauer und die Intensität dieser Anstrengungen feste Funktionen des Gegenstands, oder sind sie es nicht? Wie ich gerade ausgeführt habe, scheint es jetzt so zu sein, als ob die Anstrengung eine unabhängige Größe sei, als ob wir mehr oder weniger davon in einem bestimmten Fall ausüben können. Wenn ein Mensch seine Gedanken Tage oder Wochen ihrem Lauf überlassen hat, bis sie schließlich zu einer besonders niedrigen, ffeigen oder grausamen Handlung fführen, ist es schwer, ihn mitten in seiner Reue davon zu überzeugen, dass er seine Gedanken nicht hat im Zaum halten können. Es ist schwer, ihn davon zu überzeugen, dass dieses ganze wunderbare Universum, das durch seine Tat erschüttert wird, diese Tat von ihm in jenem verhängnisvollen Moment verlangte und vom Anbeginn aller Zeiten an alle Alternativen ausschloss. Aber auf der anderen Seite gibt es die Gewissheit, dass alle seine mühelosen Willensbestrebungen aufgrund von Interessen und Assoziationen erfol f gen, deren Stärke und Reihenfol f ge mechanisch durch die physische Struktur seines Gehirns bestimmt werden. Und die Theorie einer allgemeinen Kontinuität aller Dinge sowie ein monistisches Weltbild könnten uns unwiderstehlich zur Formulierung der These verführ f en, dass so eine unbedeutende Tatsache wie eine Anstrengung keine wirkliche Ausnahme von der überwältigenden Herrschaft f deterministischer Gesetze darstellen kann. Selbst im mühelosen Wollen haben wir ein Bewusstsein davon, dass immer auch eine Alternative möglich ist. Dies ist hier sicherlich eine Täuschung, warum sollte es also nicht überall eine Täuschung sein? Ich selbst glaube, dass die Frage des freien Willens auf Grund rein psychologischer Erwägungen unlösbar ist. Nachdem ein bestimmtes Maß an Aufmerksamkeitsanstrengung auf irgendeine Idee verwendet worden ist, ist es offen f bar unmöglich zu sagen, ob mehr oder weniger darauf hätte verwendet werden können oder nicht. Um das sagen zu können, müssten wir auf die Ursachen der Anstrengung zugreifen und sie mit mathematischer Exaktheit bestimmen, auf Grund von Gesetzen, von denen wir gegenwärtig keinen Schimmer haben, und den
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Beweis führen, dass das einzige Maß an Anstrengung, das sich aus diesen Ursachen ergeben könnte, eben dasjenige war, das tatsächlich eintrat. Solche Messungen psychischer oder neuronaler Quantitäten und solche deduktiven Überlegungen, wie sie für diese Beweismethode in Betracht kämen, werden sicherlich für f immer unsere menschlichen Fähigkeiten übersteigen. Kein ernstzunehmender Psychologe oder Physiologe wird auch nur eine Vermutung darüber aufzu f stellen wagen, wie sie praktisch durchzuführen wären. Wir sind hier daher wieder auf die rohen Beweise des Anfangs zurückgeworfen und, auf der anderen Seite, auf apriorische Postulate und Wahrscheinlichkeiten. Wer es liebt, mit eleganten Zweifeln zu jonglieren, muss sich an dieser Stelle nicht mit der Entscheidung beeilen. Er kann dann, wie Mephistopheles zu Faust, sagen: „dazu hast du noch 56 eine lange Frist“ , denn von Generation zu Generation werden für f beide Seiten immer mehr Gründe angeführt und die Diskussion auf immer höherem Niveau geführt werden können. Aber wenn unsere spekulative Freude weniger ausgeprägt ist, wenn die Sehnsucht nach einem parti pris das Bedürfnis, die Frage offen f zuhalten, überwiegt, oder wenn, wie ein genialer ffranzösischer Philosoph 57 sagt, eine „L’amour de la vie qui s’indigne de tant t de discours“ in uns erwacht und ein Bedürfni f s nach Frieden oder Macht weckt – dann müssen wir uns, selbst auf das Risiko hin, die falsche zu wählen, für eine der beiden alternativen Ansichten entscheiden. Wir müssen unseren Geist so mit der Vorstellung füllen, dass sie zu unserem ffesten Credo wird. Der Verfasser dieser Zeilen hat dies für die Alternative der Freiheit getan, aber da die Gründe für seine Ansicht eher ethische als psychologische sind, zieht er es vor, sie aus dem vorliegenden Buch auszuschlie58 ßen. Ein paar Worte mögen an dieser Stelle zur Logik der Frage erlaubt sein. Das äußerste, was ein Argument für den Determinismus zu leisten vermag, besteht darin, ihn zu einer klaren und überzeugenden Vorstellung zu machen, die niemand, ohne dumm dazustehen, ablehnen kann, so lange er am Postulat der Wissenschaften festhält, dass die Welt eine große lückenlose Tatsache sein muss und dass somit die Vorhersage aller Dinge ohne jede Ausnahme zumindest im Idealfall, wenn nicht sogar auch tatsächlich, möglich ist. Zu der dem Determinismus entgegengesetzten Ansicht werden wir über das moralische Postulat geführ f t, dass das, was sein soll auch sein kann und das d schlechte Handlungen nicht vom Schicksal vorherbe r stimmt sein können, sondern r dass auch die guten Han H dlungen an ihrer Stelle möglich sein müssen. Aber wenn wissenschaftliche und moralische Postulate in dieser Weise konfligie f ren und kein obje b ktives Maß jenseits der beiden Optionen in Sicht ist, besteht der einzige gangbare Weg in der freien Wahl. Denn die Skepsis selbst ist, sofer f n sie systematischen Ansprüchen genügt, eine frei gewählte. Wenn allerdings der Wille unterbestimmt ist, dann scheint es nur angemessen, dass der Glaube an seine Unbestimmtheit ffreiwillig aus anderen möglichen Überzeugungen gewählt wurde. Die erste Tat der Freiheit sollte darin bestehen, sich selbst zu beja e hen. Wir sollten niemals auf eine andere Methode hoffen f , zur Wahrheit vorzustoßen, wenn der Indeterminismus eine Tatsache ist. Der Zweifel an dieser besonderen Wahrheit wird uns daher wohl bis zum Ende aller Zeiten offen stehen, und das Höchste, was jemand, der an den freien Willen
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glaubt, leisten kann, besteht darin, zu zeigen, dass die Argumente für den Determinismus nicht zwingend sind. Ich bin der Letzte, der leugnen würde, dass sie verführerisch sind. Auch kann ich nicht leugnen, dass Anstrengungen erfor f derlich sind, um den Glauben an die Freiheit aufrechtzuerhalten, wenn die deterministischen Argumente auf dem aufrec f hten Geist lasten. Es gibt ein ffatalistisches und absolut tödliches Argument, das für f den Determinismus spricht. Wenn sich jemand immer wieder hat gehen lassen, dann glaubt er nur zu leicht an den enormen Einfluss, den Umstände, erbliche Anlagen und vorübergehende körperliche Dispositionen auf seine Spontaneität ausüben. „Alles ist Schicksal“, sagt er dann, „alles folgt aus dem, was ihm vorausgeht. Selbst wenn etwas neu und unvorhersehbar zu sein scheint, dann lässt es sich in Wirklichkeit doch immer auf die Bewegungen instabiler Moleküle zurückführen, die passiv auf ihrem vorbestimmten Weg dahintaumeln. Es ist hoffnungslos, dem Drang widerstehen zu wollen, eitel, auf die Intervention einer anderen Kraft zu hoffe f n; und mein Anteil an den Entscheidungen, die ich treff fe, ist letztlich kleiner als irgendetwas sonst unter der Sonne.“
Dies ist in Wirklichkeit kein Argument für f einen primitiven Determinismus. Es wird vom Sinn für f eine Kraft getragen, die die Dinge von einem Augenblick zum anderen verändern könnte, wenn sie nur stark genug wäre, um gegen die Flut anzukämpfen. Jemand, der auf diese Weise die Ohnmacht freiwilliger Anstrengungen empfindet, hat eine klare Vorstellung davon, was mit freiwilliger Anstrengung gemeint ist und über welche Macht sie verfügt. Wie sonst könnte er sich ihrer Abwesenheit und ihrer potentiellen Auswirkungen so bewusst sein? Der eigentliche Determinismus behauptet demgegenüber etwas ganz anderes: nicht die Ohnmacht des frei f en Willens, sondern seine Unmöglichkeit. Er gesteht die Existenz von etwas zu, dass freier Wille genannt wird und das sich der Flut entgegenstellen zu können scheint, aber zugleich behauptet er, dass dieser vermeintliche ffreie Wille einfach ein T Teil der Flut ist. Er sagt, dass die Variationen der Willensanstrengung nicht unabhängig erfol f gen, dass sie nicht ex nihilo entstehen oder aus einer vierten Dimension stammen können. Sie sind mathematisch festgelegte Funktionen der Vorstellungen selbst, die die Flut bilden. Der Fatalismus, der die Willensanstrengung zwar deutlich als unabhängige Variable auffasst, die aus einer vierten Dimension kommen könnte, wenn sie denn kommen würde r , die aber de facto nicht kommt, ist ein sehr zweifelhafte f r Verbü r ndeter des Determinismus. Er stellt sich sehr lebhaft jene Möglichkeit vor, die der Determinismus leugnet. Aber was den modernen, wissenschaftlich eingestellten Menschen mindestens genauso wie die Unmöglichkeit, irgendwo absolut unabhängige Variablen zu erkennen, davon überzeugt, dass ihre Anstrengungen vorherbestimmt sein müssen, ist die Tatsache, dass diese Anstrengungen ein Kontinuum mit anderen Phänomenen bilden, an deren Vorherbestimmtsein niemand zweifel f n kann. Mühevolle Entscheidungen verschmelzen so allmählich mit denen, die ohne Mühe getroff fen werden, dass es nicht leicht ist zu sagen, wo die Grenze liegt. Entscheidungen ohne Willensanstrengung gehen wiederum fließend in ideomotorische Handlungen über und diese wiederum in reflexhafte. Insofern f ist die Versuchung fast
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unwiderstehlich, die Formel, die so viele Fälle abdeckt, ganz über Bord zu werfen. Unabhängig davon, ob eine Willensanstrengung geleistet werden muss oder nicht, werden die Vorstellungen, die gleichsam die Materie von Überlegungen liefern, durch den Mechanismus der Assoziation vor den Geist gebracht. Und dieser Mechanismus ist, unabhängig davon, ob die Willensanstrengung zu ihm gehört oder nicht, im Wesentlichen ein System aus reflexiven Bögen und Pfad f en. Er lässt sich vollständig in Reflex-Begriffen explizieren. Das Gefühl der Leichtigkeit ist ein passives Ergebnis der Art und Weise, in der sich die Gedanken abspulen. Warum sollte dies nicht beim Gefühl der Anstrengung genauso sein? Theodor Lipps erklärt das Gefüh f l der Anstrengung in seinem bewundernswert klaren deterministischen Statement, das weit davon entfern f t ist zuzugestehen, dieses Gefühl als Zeichen für einen Zuwachs der ausgeübten Kraft f zu betrachten, sondern vielmehr als ein Zeichen dafür, dass Kraft verloren wurde. Nach Lipps sprechen wir immer dann von Anstrengung, wenn sich eine Kraft im Versuch, eine andere Kraft zu neutralisieren, (ganz oder teilweise) selbst verbraucht, und so aufgrund ihrer möglichen äußeren Wirkung scheitert. Die äußere Wirkung der antagonistischen Kraft, scheitert aber in entsprechender Weise, „so dass es keine Anstrengung ohne Gegenanstrengung gibt, [...] und Anstrengung wie Gegenan59 strengung nur zeigen, wie sich Ursachen gegenseitig ihre Wirksamkeit rauben.“ Wo die Kräfte Vorstellungen sind, sind beide von ihnen, streng genommen, Verkörperungen von Anstrengung – sowohl dieje e nigen, die zur Entladung neigen, wie auch die, die dazu neigen, sie zu kontrollieren. Wir bezeichnen gleichwohl die vorherrschende Menge der Vorstellungen als unser Selbst. Und indem wir ihre Anstrengungen als unsere Anstrengungen begreifen und die der kleinere 60 Menge von Vorstellungen als Widerstand, sagen wir, dass unsere Willensanstrengung manchmal die Widerstände überwindet, die manchmal in einer uns behindernden Trägheit und manchmal in den Impulsen eines eruptiven Willens bestehen. In Wirklichkeit gehören sowohl Anstrengung wie Widerstand zu uns selbst, und die Identifiz f ierung von uns selbst mit nur einem dieser Faktoren ist eine sprachliche Illusion oder ein sprachlicher Trick. Ich sehe nicht, wie man nicht (vor allem dann, wenn die mythische Dynamik separater „Ideen“, an der Lipps hängt, in eine Dynamik der Hirnprozesse übersetzt wird) die faszinierende Einfach f heit einiger dieser Ansichten anerkennen sollte. Ich sehe auch nicht, warum man es für wissenschaftlic f he Zwecke aufgeben sollte, auch wenn eine unbestimmte Menge Anstrengung wirklich auftr f itt. Die Wissenschaft endet dort, wo deren Indeterminismus beginnt. Insofern f kann sie von ihm überhaupt abstrahieren. Denn in den Impulsen und Hemmungen, die die Willensanstrengung zu bewältigen hat, gibt es bereits eine weit größere Einheitlichkeit, als die Wissenschaft jemals praktisch bewältigen könnte. Trotz all ihrer prognostischen Fähigkeiten wird sie, selbst wenn die Willensanstrengung vollständig vorherbestimmt sein sollte, nie voraussagen können, in welcher je besonderen Weise eine Krise tatsächlich gelöst werden wird. Psychologie wird in dieser Welt genauso (und 61 nicht mehr) Psychologie bleiben wie Wissenschaft Wissenschaft, ganz gleich, ob es in dieser Welt nun einen freien Willen gibt oder nicht. Gleichwohl muss die Wissenschaft permanent daran erinnert werden, dass ihre Zwecke nicht die einzi-
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gen Zwecke sind und dass die Ordnung einer einför f migen kausalen Verursachung, die sie verwendet und insofern zu recht for f dert, vielleicht in einer größeren Ordnung eingeschlossen ist, auf die sie keine Ansprüche geltend machen kann. Wir können somit die Frage nach dem ffreien Willen ganz vernachlässigen. Wie wir an anderer Stelle im Kapitel VI („The Mind Stuff f Theory”) gesehen haben, könnte die Leistung des freien Willens, wenn es einen solchen überhaupt geben sollte, nur darin bestehen, ein ideales Obje b kt oder einen Teil eines solchen ein wenig länger oder intensiver im Bewusstsein festzuhalten. Unter den verschiedenen Alternativen, die sich uns als mögliche Alternativen anbieten, würde 62 demnach eine tatsächlich wirksam werden. Und wenn auch ein solches Beleben einer Vorstellung moralisch und historisch bedeutsam sein könnte, so würde es doch ffür die dynamische Betrachtung ein Geschehen innerhalb jener physiologischen Infinites f imalen bedeuten, die von der auf mathematische Verfahren verpflic f hteten Wissenschaft für immer vernachlässigt werden müssen. Aber während ich die Frage nach der quantitativen Stärke unserer Willensanstrengung als eine solche ablehne, an deren Entscheidung die Psychologie niemals praktisch interessiert sein wird, muss ich etwas über den außerordentlich intimen und bedeutsamen Stellenwert sagen, den das Anstrengungsphänomen ffür uns als individuelle Personen gewinnt. Natürlich messen wir uns an verschiedenen Maßstäben. Unsere Kraft und unsere Intelligenz, unser Wohlstand und sogar unser Glück sind Dinge, die unser Herz erwärmen und uns das Bewusstsein geben, dass wir dem Leben gewachsen sind. Aber bedeutsamer als alle diese Dinge und ffähig, uns ohne dieselben an und für sich zu genügen, erscheint uns das Bewusstsein von der Größe der Willensanstrengung, die wir zu leisten imstande sind. Jene anderen Dinge sind schließlich im Grunde doch nur Produkte und Spiegelungen der äußeren Welt in der inneren Welt. Aber die Willensanstrengung scheint in ein ganz anderes Gebiet zu gehören, als wäre sie unsere innerste Substanz und jene nur äußere Anhängsel, die wir mit uns herumschleppen. Wenn es der Zweck dieses menschlichen Dramas ist, „uns auf Herz und Nieren zu prüfen f “, dann scheint das, was dabei ins Auge gefasst wird, die Größe der Willensanstrengung zu sein, derer wir fäh f ig sind. Wer überhaupt zu keiner solchen imstande ist, bleibt nur ein Schatten; wer die Fähigkeit dazu in hohem Maße besitzt, gilt als Held. Die ungeheure Welt, die uns umgibt, konfro f ntiert uns mit allen möglichen Fragen und stellt uns in den verschiedensten Weisen auf die Probe. Einzelne dieser Fragen beantworten wir durch Handlungen, die uns leicht fallen, auf einzelne formulieren wir unsere Antwort auch ausdrücklich in Worten. Aber die tiefste Frage, die je an uns gerichtet wurde, lässt keine andere Antwort zu, als das stumme Beugen unseres Willens und das Zusammenkrampfen der Fasern unseres Herzens, wenn wir sagen: „Ja, ich will es selbst so haben!“ Wenn uns etwas Trauriges widerfährt oder wenn das Leben als Ganzes uns seine dunklen Abgründe zeigt, dann verlieren die Wertlosen unter uns all ihren Halt und suchen den Schwierigkeiten entweder dadurch zu entgehen, dass sie ihre Aufmerksamkeit abwenden. Oder, wenn dies nicht möglich ist, dann sinken sie zu traurigen Häuf-
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chen von Kläglichkeit und Furcht zusammen. Die Anstrengung, die nötig ist, um solchen Dingen ins Gesicht zu sehen und ihnen die eigene Zustimmung zuteil werden zu lassen, geht über ihre Kraft. Aber der heroische Geist benimmt sich ganz anders. Für ihn sind die Objek b te auch unheilvoll und traurig, unwillkommen, unvereinbar mit wünschenswerten Dingen, aber er kann sie fes f t ins Auge fassen, wenn es notwendig ist, ohne deshalb allen Halt für den Rest des Lebens zu verlieren. Die Welt findet sonach in dem heroischen Menschen ihren ebenbürtigen Partner. Die Anstrengung, die er zu leisten imstande ist, um sich aufrecht und sein Herz unerschüttert zu erhalten, ist das direkte Maß seines Wertes und seiner Bedeutung im Spiel des menschlichen Lebens. Er kann diesem Universum standha d lten. Er kann angesichts der gleichen Verhältnisse, die seine schwächeren Mitmenschen unterliegen lassen, es mit ihm aufne f hmen und seinen Glauben daran aufrecht erhalten. Er kann noch Gefallen an ihm fin f den, nicht auf Grund einer Vogel-Strauss-Politik, sondern infolge rein innerer Neigung, sie mit jenen abschreckenden Objekten zusammen ins Auge zu fassen. Und dadurch macht er sich zu einem der Meister und Herren des Lebens. Es muss künfti f g mit ihm gerechnet werden, er bildet einen Bestandteil des menschlichen Schicksals. Weder auf theoretischem noch auf praktischem Gebiet kümmern wir uns um solche, oder suchen wir Hilfe f bei solchen Menschen, die nicht den Mut zum Risiko oder ein Interesse an Wagnissen haben. Unserem religiösen Leben drohen gegenwärtig größere, unserem praktischen Leben kleinere Gefah f ren als sonst. Aber wie unser Mut so oft f der Reflex vom Mut eines anderen ist, so kommt es häufig f vor, dass, wie Max Müller irgendwo sagt, unser Glaube im Vertrau t en auf den Glauben eines anderen besteht. Wir schöpfen neues Leben aus dem heroischen Beispiel. Der Prophet hat tiefer als irgendeiner aus dem Kelch der Bitternis getru t nken, aaber sein Vertrauen ist so unerschüttert und er spricht so mächtige Worte des Mutes, dass sein Wille zu unserem Willen wird und unser Leben sich an seinem entzündet. So hängt nicht nur unsere Sittlichkeit, sondern auch unsere Religion, sofern f sie auf Überlegung beruht, von der Willensanstrengung ab, die wir zu leisten imstande sind. „Willst du es so oder willst du es nicht so?“ ist eine der ernstesten Fragen, die an uns gerichtet werden, sie tritt uns zu jeder Tagesstunde entgegen bezüglich der bedeutendsten oder unbedeutendsten, bezüglich ausgesprochen theoretischer und ausgesprochen praktischer Dinge. Wir antworten durch Zustimmung oder Nichtzust t immung und nicht durch Worte. Kein Wunder, dass diese stummen Antworten das innerste Band zu bilden scheinen, das uns mit dem Wesen der Dinge vereinigt! Kein Wunder, wenn die von uns aufge f wendeten Anstrengungen den einzigen, im strengen Sinn, unvermittelten und originellen Beitrag bilden, den wir zur Welt liefern.
Die Erziehung des Willens Die Erziehung des Willens kann in einem weiteren oder einem engeren Sinne verstanden werden. Im weiteren Sinne ist damit jede Art von Übung des moralischen und vorsorgenden Verhaltens und des Lernens gemeint, wie man Mittel an
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Zwecke, einschließlich der „Verknüpfun f g von Ideen”, in all ihrer Vielfalt und bei allen Schwierigkeiten anpasst, zusammen mit der Fähigkeit, Impulse, die für die angestrebten Zwecke unwichtig sind, zu unterdrücken und Bewegungen einzuleiten, die sie voranbringen. Es ist die Aneignung dieser letzteren Fähigkeiten, die ich unter der Erziehung des Willens im engeren Sinne verstehe. Und allein in 63 diesem Sinne lohnt es, sich mit dieser Frage hier zu befassen. Da die willentliche Bewegung eine Bewegung ist, der eine Vorstellung von ihr vorausgeht, ist das Problem der Erziehung des Willens das Problem, wie die Vorstellung einer Bewegung diese Bewegung auslösen kann. Wir haben gesehen, dass dies ein sekundärer Prozess ist. Denn so wie wir ausgestattet sind, können wir keine apriorische Vorstellung von einer Bewegung besitzen, keine Vorstellung von einer Bewegung, die wir nicht bereits ausgeführt haben. Bevor die Vorstellung erzeugt werden kann, muss die Bewegung auf eine blinde, unerwartete Weise geschehen sein und eine Vorstellung zurückgelassen haben. Die refl e exhaff te, instinktive oder zufälli f ge Ausfüh f rung einer Bewegung muss, anders gesagt, ihrer absichtlichen Ausfüh f rung vorausgehen. In diesem Buch wurden die reflexhafte und die instinktive Ausführung von Bewegungen bereits ausreichend diskutiert. „Zufalls”-Bewegungen sind hier zu erwähnen, so dass quasi-zufällige Reflexe aus innerleiblichen Ursachen oder Bewegungen, die möglicherweise aus einem solchen Überflu f ss an Nahrung in den speziellen Zentren resultieren, die Prof. Bain in seiner Erklärung ,spontaner Entladungen‘ postuliert und auf die er 64 seine Ableitung der Willensprozesse so stark stützt. Wie kann nun ein sensorischer Prozess, durch den eine Bewegung zuvor hervorge r rufen f wurde, r sich in die motorischen Zen Z tren entladen, wenn er wieder erregt wird? r Beim ersten Auftr f eten der Bewegung kam die motorische Entladung zuerst und der sensorische Prozess stand an zweiter Stelle. Jetzt aber, bei der willentlichen Wiederholung, kommt der willentliche Prozess (ausgelöst in schwacher oder ,vorstellungshafter‘ Form) zuerst und die motorische Entladung folgt als zweites. Zu beschreiben wie dies geschieht, heißt das Problem der Erziehung des Willen in physiologischen Begriffen zu beantworten. Offen f sichtlich geht es dabei um das Problem der Bildung neuer P Pfade, und das einzige, was wir hier tun können ist, Hypothesen zu formulieren, bis wir auf eine stoßen, welche die Tatsachen abdeckt. Wie wird ein neuer Pfad überhaupt gebildet? Alle Pfad f e sind Entladungspfade, und die Entladung vollzieht sich stets in Richtung auf den geringsten Widerstand, ob die Zelle, die sich entlädt, nun ,motorisch‘ oder ,sensorisch‘ ist. Die angeborenen Pfad f e geringsten Widerstands sind die Pfad f e der instinktiven Reaktion, und ich schlage als erste Hypothese vor, dass diese P Pfade alle in eine Richtung verlaufen, d. h. von ,sensorischen‘ Zellen zu ,motorischen‘ Zellen und von motorischen Z Zellen zu den Muskeln, ohne die Richtung jemals umzukehren. Beispielsweise stimuliert eine motorische Zelle eine sensorische Zelle niemals direkt, sondern immer durch eine nach innen verlaufende Erregung, die durch körperliche Bewegungen verursacht wurde, die ihre Entladung veranlasste. Und eine sensorische Zelle entlädt sich immer oder neigt normalerweise dazu, sich in eine motorische Region zu entladen. Nennen wir dies die ,Vorwärts‘-Richtung. Ich
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nenne dies Gesetz eine Hypothese, aber in Wirklichkeit ist es eine unbezweifelbare Wahrheit. Kein Sinneseindruck oder keine Vorstellung des Auges, Ohrs oder der Haut erreicht uns, ohne eine Bewegung zu veranlassen, selbst wenn die Bewegung nicht mehr ist als die Ausrichtung des Sinnesorgans. Und all unsere Abfolgen von Sinnesempfindungen und Sinnesbildern (sensational imagery r ) werden in ihren Begriffen f verändert und durchdrungen von motorischen Prozessen, von denen die meisten für f uns praktisch unbewusst sind. Eine andere Art die Regel zu fformulieren besteht darin, zu sagen, dass es primär oder angeboren ist, dass alle Erregungsströme im Gehirn durch den Motorcortex (rolandic region) verlaufen, und dass sie nach außen verlaufen und niemals in sich zurücklaufen. Von diesem Gesichtspunkt hat der Unterschied zwischen sensorischen und motorischen Zellen keine grundsätzliche Bedeutung. Alle Zellen sind motorisch, wir nennen einfach f jene im Motorkortex, jene, die der Tunnelmündung am nächsten sind, die Motorzellen par excellence. Ein Folgesatz aus diesem Gesetz lautet, dass ,sensorische‘ Zellen einander nicht angeborenerweise anregen. Das heißt dass keine wahrnehmbare Eigenschaft der Dinge irgendeine Tendenz hat vor aller Erfahrung in uns die Vorstellung irgendeiner anderen wahrnehmbaren Eigenschaft zu erwecken, die der Natur der Dinge nach mit ihm verbunden ist. Apriori wird r keine „Vors V tellung“ oder „Idee“ durch irgendeine andere wachgerufen f . Die einzigen apriori Zuordnungen bestehen zwischen Vorstellungen und Bewegungen. Alle Anregungen einer wahrnehmbaren Tatsache durch eine andere geschehen mittels sekundärer Pfad f e, die durch Erfah f rung gebildet wurden. 65 [...]
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5. Die Unsterblichkeit des Menschen
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Vorwort zur zweiten Auflage Viele Kritiker haben denselben Einwand gegen die Tür zur Unsterblichkeit vorgebracht, die uns, wie in meinem Vortrag behauptet, durch die Übertragungstheorie der Hirntätigkeit offen f steht, dass ich mich genötigt ffühle, der zweiten Auflaf ge meines Büchleins ein paar erklärende Worte voranzustellen. Sofern f sich unser endliches personales Bewusstsein einer durch das Gehirn gestützten Übertragung eines uns vorausliegenden größeren Bewusstseins verdankt, kann, so wenden die Kritiker ein, nach dem Absterben des Gehirns auch nur dieses größere Bewusstsein zurückbl k eiben, mit dem wir dann gezwungenermaßen wieder vereinigt würden, so dass unsere personale Existenz unwiederbringlich vergangen sei. Und dies, so fführen die Kritiker weiter aus, wäre dann eine pantheistische Vorstellung von Unsterblichkeit, ein Überleben als Teil einer Weltseele, und nicht die christliche Vorstellung, die sich auf ein Weiterleben in einer personalen Form bezieht. Indem die Vorlesung die Möglichkeit eines geistigen Lebens nach dem Hirntod aufzeigt, so schließen sie, zeige sie zugleich die Unmöglichkeit, dass dieses Leben mit dem personalen Leben identisch sein könnte, das vom Gehirn getragen wird. Ich bin alles andere als ein monistischer Pantheist. Doch der Einfachheit halber habe ich in der Vorlesung in einer Weise von einem als große Einheit gedachten „Ur-Ozean“ gesprochen, was pantheistisch geklungen haben mag. Ich fügte sogar hinzu, dass zukünftige Vorlesungen zeigen würden, wie wir nach dem Tod einigen der Beschränkungen des personalen Lebens entkommen könnten und dass wir dies nicht als Verlust interpretieren müssten. Die Deutung meiner Kritiker war daher eigentlich naheliegend und ich hätte weit vorsichtiger formulieren müssen, um ihr vorzubeugen. Auf Seite 184 habe ich mich zumindest teilweise gegen eine solche mögliche Lesart gewendet, indem ich sagte, dass der „UrOzean“, aus dem der endliche Geist vom Gehirn gleichsam abgeleitet wird, nicht unbedingt in pantheistischen Begriffen konzipiert werden muss. Hinter den Vorhängen können sich, so führte ich aus, genauso gut viele Bewusstseine verbergen wie eines. Die schlichte Wahrheit ist, dass man sich die geistige Welt hinter dem Vorhang in einer so individualistischen F Form vorstellen kann wie man will, ohne dass ddadurch die allgemeine These, der gemäß ä das Gehirn r als transm r issives Organ versta r nden wird, d in irgendeiner Form eingeschränkt würde. Aus einer extrem individualistischen Sicht wäre das endliche Bewusstsein einer Person eine Art Auszug aus einer größeren, wahreren Persönlichkeit, die irgendwo hinter den Kulissen anzusiedeln ist. Und bei deren Übertragung – um bei unserer extrem mechanistischen Metapher zu bleiben, die natürlich nicht beansprucht, den wirklichen modus ooperandi erklären zu können – würde das Gehirn auch auf die hinter dem Vorhang verbleibenden Teile einwirken. Denn wenn etwas zerrissen wird, spüren dies beide Teile der ursprünglichen Einheit.
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Um einen kkruden Vergleich zu bemühen: So wie beim Abreißen eines Schecks im Scheckbuc k h ein Rest von Papierstreifen zurückblei k bt, so könnte unser endliches Bewusstsein diesen Rest verkörpern, während die Wirkungen auf das transzendente Selbst in den Schecks selbst bestünden, die unser Gehirn mit jeder neuen Erfahr f ung ausstellt. Und schließlich bilden sie im höheren Selbst das Archiv der Erinnerungen an unsere vorübergehende irdische Existenz, das von der Psychologie seit John Locke als die einzige Möglichkeit anerkannt wurde, die Kontinuität einer personalen Identität auch jenseits des Todes in einer sinnvollen Weise zu verstehen. Diese Überlegungen stehen Lehren der Präexistenz der Seele und der Wiedergeburt näher als der christlichen Unsterblichkeitslehre. Aber das Ziel meiner Vorlesung bestand nicht darin, Unsterblichkeit im Allgemeinen zu diskutieren. Ich wollte vielmehr nur zeigen, dass die Unsterblichkeitsdoktrin durchaus kompatibel mit unseren aktuellen Theorien des innerweltlichen Bewusstseins ist. Ich glaube, dass beides vereinbar ist, ja, dass sich die Unsterblichkeit sogar auf das vollkommen individualisierte Bewusstsein beziehen lässt. Der Leser würde allem, was ich in der Vorlesung sage, zustimmen können, wenn er zugestehen könnte, dass alle Erinnerungen und Empfindungen seines diesseitigen Lebens erhalten bleiben und wenn er im Jenseits folgenden Satz ohne zu zögern aussprechen könnte: „Ich bin das gleiche personale Wesen, das zu frü f heren Zeiten auf der Erde die und die Erfahrungen gemacht hat.“
Die Unsterblichkeit des Menschen Zwei mögliche Einwände gegen die Lehre In der Geschichte zeigt sich leider nur zu oft, f dass immer dann, wenn ein lebendiges Bedürfnis der Menschen Schutz und Halt in einer Institution findet, diese Institution fast notwendig dazu tendiert, sich der Befriedigung des Bedürfnisses in den Weg zu stellen. Wir können dies an unseren Gesetzen und im Gerichtswesen ebenso beobachten wie in Kirchen, Kunstakademien, in der Medizin wie in anderen Profes f sionen und schließlich sogar in den Universitäten. Allzu oft werden solche Institutionen zu Platzhaltern, die die ursprünglichen Bedürfni f sse verraten. Die höheren Zwecke, in deren Dienst sie eigentlich stehen sollten, werden von ihnen in ein technisches Licht gehüllt, welches bald zum einzigen Licht wird, in dem sie ihren Zweck noch wahrnehmen. Nur auf diese verengte Weise können sie dann ihrem ursprünglichen Zweck nachkommen. Ich gestehe, dass ich hieran für einen Moment denken musste, als mich die Gesellschaft unserer Universität im vergangenen Frühjahr eingeladen hat, die Ingersoll-Vorlesungen zu halten. Unsterblichkeit ist eines der großen spirituellen Bedürfnisse des Menschen. Die Kirchen haben sich selbst zum offi f ziellen Verwalter dieses Bedürfnisses erklärt, mit der Folge, dass einige Kirchen sogar beanspruchen, sie den Menschen mit Hilfe f ihrer konventionellen Sakram k ente zuteilen oder vorenthalten zu können – vorenthalten zumindest in der einzigen Form, in der Unsterblichkeit ein lebendiges Bedürfnis sein könnte. Und nun kommt die
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Ingersoll-Vorlesung. Ihre edelmütige Stifterin war offe f nbar der Meinung, dass unsere Universität der Sache, die ihr am Herzen lag, besser und freier dienen könnte als die Kirchen. Eine Universität ist nämlich viel weniger von Traditionen und Vorschriften in Bezug auf die Auswahl von Personen eingeengt. Und tatsächlich ist es eine der ersten Maßnahmen einer Universität, jemanden wie mich zu berufen, der ich hier gerade vor Ihnen stehe, und zwar sicher nicht, weil ich als begeisterter Verkünder eines jenseitigen Lebens bekannt bin, der darauf brennen würde, seinen Mitmenschen die frohe Botschaft zu verkünden, sondern einfach f nur deshalb, weil ich ein Universitätsangestellter bin. Nachdem meine Gedanken in diese Richtung gingen, wollte ich die Einladung zunächst ablehnen. Das ganze Thema der Unsterblichkeit wurzelt im persönlichen Empfinden. Ich muss gestehen, dass meine eigenen Empfindungen in Bezug auf die Unsterblichkeit nie sehr klar waren, und dass sie nicht unbedingt zu den ersten Problemen gehört, denen meine Sorge gilt. Dennoch gibt es Menschen mit einer echten Leidenschaft für diese Sache, Männer und Frauen, die sich ernsthaft nach einem Leben „danach“ sehnen und von dieser Vorstellung besessen sind. Die Intensität der Sehnsucht hat sie zu einer so tiefen f Einsicht in die Verhältnisse des Subje b kts geführ f t, wie sie jemand, der weniger tief in diese Geheimnisse eingedrungen ist, niemals erreichen kann. Einige dieser Leute kenne ich persönlich. Sie bekleiden keine öffentlichen Ämter. Sie reden nicht wie die Schriftg f elehrten, sondern so, als ob sie eine unmittelbare Autorität wären. Wenn irgendwo ein in Ziegenfel f le gehüllter Prophet und nicht ein uniformierter Beamter um Inspiration, Orientierung und Belehrung ersucht werden sollte, dann mit Sicherheit auf diesem Gebiet. Die Bürokrat k ie sollte auf keinen Fall die geistliche Berufung verdrängen. Doch trotz dieser Überlegungen, die ich nicht vermeiden konnte, stehe ich hier heute Abend als uninspirierter Beamter vor Ihnen. Ich bin sicher, dass Propheten im Ziegenfel f l, oder, um weniger bildlich zu sprechen, Laien, die sich von diesem Thema inspiriert fühlen, oft genug von den Organisatoren eingeladen werden, die Ingersoll-Vorlesungen zu halten. Trotzdem bin ich mir nach reiflicher Überlegung sicher, dass sich, wie negativ und stumpf die Bemerkungen eines professionellen Psychologen im Vergleich mit den lebendigen Lehren, die jene Propheten erteilen, auch erscheinen mögen, die Verantwortlichen der Ingersoll-Stiftu f ng verpflichtet fühlen, die verschiedensten Typen von Vortragenden einzubinden. Das Thema ist von einer enormen Spannweite. Am Ende von William Rounseville Algers Critical History of the Doctrine of a Future Life findet sich eine Bibliographie, die mehr als fünftausend Buchtitel zum Thema anführt. Die Organisatoren können nicht nur an eine einzelne Vorlesung denken: Sie müssen die Entwicklung der gesamten Vorlesungsreihe im Auge behalten. Wie emotional inspiriert und inspirierend eine einzelne Vorlesung auch sein mag, sie wird doch niemals ausreichen. Die einzelnen Vorlesungen müssen einander beispringen, so dass aus der Reihe eine Art kollektives literarisches Projek o t wird, das dann vielleicht der Bedeutung des Themas würdig wäre. Dies schwebte der Stiff terin der Reihe ohne Zweifel vor. Sie wollte das Thema in all seinen möglichen Aspekten untersuchen lassen, so dass die Ergebnisse am Ende vielleicht zumin-
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dest gemeinsam in die wahre Richtung weisen könnten. In dieser langfri f stigen Perspektive for f dert die Ingersoll-Stiftung nichts so sehr wie Arbeitsteilung. Redner und Propheten müssen ihre Chance bekommen, aber auf ein enges Gebiet beschränkte Wissenschaftle f r ebenso. Theologen aller Glaubensrichtungen, Metaphysiker, Anthropologen und Psychologen sollten sich mit Biologen, Psycholo2 gen und Physikern, ja selbst mit Mathematikern abwechseln. Wenn jemand von ihnen von seinem jeweiligen Standpunkt aus ein Körnchen Wahrheit beisteuern kann, dann wird dies bleiben und sich mit den Wahrheiten, die von den anderen präsentiert werden, vereinen. In der Stunde, die nun vor uns liegt, werde ich versuchen, meine Einladung dadurch zu rechtferti f gen, dass ich Ihnen zwei solcher Körnchen Wahrheit (oder dessen, was ich dafür halte) anbiete, zwei Punkte beisteuere, die, wenn ich nicht irre, mit allem, was die anderen Vortragenden zu Gehör bringen, kombiniert werden können. Es liegt in der Natur dieser beiden Punkte, dass sie sich Kritik und Einwänden aussetzen. Sie gehen mit Schwierigkeiten einher, die unsere moderne Kultur mit der alten Vorstellung von einem jenseitigen Leben hat – Schwierigkeiten, von denen ich sicher bin, dass sie dem Glauben an das ewige Leben in den wissenschaftlich gebildeten Kreisen, zu denen auch dieses Publikum gehört, viel von seiner alten Macht rauben. Die erste dieser Schwierigkeiten hat damit zu tun, dass alles geistige Leben, wie wir es heute kennen, vollständig von Hirnprozessen abhängt. Man hört nicht nur Physiologen, sondern auch viele Laien, die populärwissenschaftliche Bücher und Zeitschrifte f n lesen, sagen: Wie können wir an ein Leben nach dem Tode glauben, wenn die Wissenschaft ein für f allemal und ohne jeden Ausweg bewiesen hat, dass unser geistiges Leben eine Funktion der berühmten „grauen Zellen“ in unserer Großhirnrinde ist? Wie sollte deren Funktion aufrechterhalten werden können, wenn das Organ stirbt? Die physiologische Psychologie scheint insofer f n den alten Glauben zu Grabe zu tragen. Und ich werde sie nun im Folgenden als physiologischer Psychologe bitten, sich die Frage zusammen mit mir ein bisschen genauer anzusehen. Es stimmt in der Tat, dass die physiologische Wissenschaft zu dem erwähnten Schluss gekommen ist, und wir müssen zugestehen, dass sie dabei nur die allgemeine Überzeugung der Menschheit etwas präziser ausgedrückt hat. Jeder weiß, dass Schäden in der Entwicklung des Hirns zu Debilität führ f en, dass Schläge auf den Kopf das Gedächtnis oder das Bewusstsein beeinträchtigen können, und das bestimmte neuronale Stimulanzien und Gifte f die Qualität unserer Vorstellungen verändern. Die Anatomen, Physiologen und Pathologen haben diese allgemein akzeptierte Tatsache einer Abhängigkeit einfac f h nur im Detail untersucht. Die Labors und Krankenhäuser haben uns dabei in letzter Zeit nicht nur gelehrt, dass das Denken ganz allgemein eine der Funktionen des Gehirns ist, sondern dass die verschiedenen speziellen Formen des Denkens jeweils Funktionen spezieller Regionen des Gehirns sind. Wenn wir an etwas denken, das wir gesehen haben, sind unsere Occipitallappen aktiv, wenn wir an etwas denken, das wir gehört haben, ist es ein bestimmter Teil unserer Temporallappen, und wenn es sich um etwas Gesprochenes handelt, der Frontallappen. Der Leipziger Hirnforscher Paul
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Flechsig (der vielleicht mehr als jeder andere beanspruchen kann, sich kompetent zu diesem Thema zu äußern) geht davon aus, dass diese Assoziationsprozesse in anderen besonderen Hirnregionen weitergehen und so die abstrakteren Prozesse des Denkens ermöglichen. Wenn ich hier eine Karte des Hirns hätte, könnte ich 3 Ihnen diese Regionen leicht zeigen. Darüber hinaus sind die mehr oder weniger 4 starken Verbindungen von dem, was dieser Autor Körperfühlsph s äre nennt, mit den anderen Hirnregionen für f unser Gefühlsleben verantwortlich und entscheiden vermutlich darüber, ob jemand ein skru k pelloser Verbrecher bzw. ein unsteter Sentimentalist ist oder eine Person, die mit ihren Gefühlen umgehen kann. So begründet die wichtigsten, aus der Arbeit der Hirnanatomen, -physiologen und pathologen resultierenden Positionen auch scheinen mögen, die unserer Jugend in den medizinischen Fakultäten als gänzlich unbedenklich gelehrt werden, so müssen solche speziellen Stellungnahmen allerdings eventuell doch auch korrigiert werden. Die Hoffnu f ng, dass weitere Forschungen sie verifizieren und immer feiner ausdiffe f renzieren werden, treibt die gegenwärtige Forschung an. Und fast jeder unserer jungen Psychologen wird Ihnen sagen, dass nur ein paar veraltete Scholastiker oder hirnverbrannte Theosophen hinter dem erreichten Stand zurückgeblieben sind und weiterhin so tun, als ob geistige Phänomene von der materiellen Welt unabhängige Größen wären. Für die Zwecke meiner Argumentation werde ich die wissenschaftl f iche Perspektive jetzt als allgemein gültig anerkennen und ohne Einschränkung akzeptieren. Und ich möchte Sie bitten, diese Lehre zumindest für die Zeit dieser Vorlesung als Postulat gelten zu lassen, ganz unabhängig davon, ob Sie wirklich glauben, dass sie sich so allgemein akzeptieren lässt. Also bitte ich Sie, sich mir heute in der Bejahung der großen psycho-physiologischen Formel anzuschließen: Das Denken ist eine Funktion des Gehirns. Die Frage lautet dann: Zwingt uns diese Lehre mit logischer Notwendigkeit dazu, nicht an die Unsterblichkeit zu glauben? Sollte sie nicht jeden wirklich konsequenten Denker dazu nötigen, seine Hoffnun f g auf ein Leben nach dem Tode einer vorgängigen Pflicht zu opfern f , alle Konsequenzen wissenschaftlicher Wahrheit auf sich zu nehmen? Die meisten Personen, die sich einem wissenschaftlichen Puritanismus verpflic f htet fühlen, würden nicht zögern, die Frage mit einem ja zu beantworten. Wenn irgendein in der Medizin oder Psychologie ausgebildeter junger Wissenschaftle f r anders empfindet, dann geschieht dies wahrscheinlich in Folge jener Inkonsequenz des Geistes, deren Privileg die Mehrheit aller Menschen glücklich genießen kann. In einem Moment sind sie Wissenschaftler, im anderen Christen oder gewöhnliche Menschen mit einem glühenden Lebenswillen. Indem sie so die beiden Enden der Kette in ihren Händen halten, kümmern sie sich nicht um die Glieder dazwischen. Aber die radikaleren und kompromissloseren Jünger der Wissenschaft bringen das Opfer, und je nach 5 Temperament schwören sie der Hoffn f ung auf ein Jenseits traurig oder ffreudig ab. Diese Schlussfolgerung ist in positivistischen Kreisen so weit verbreitet, begegnet uns so häufig in Gesprächen und Texten, dass ich gestehe, dass meine Überraschung sehr groß war, als ich in der Literatur eine Stelle suchte, die explizit die Unsterblichkeit aus physiologischen Gründen leugnen würde, um sie hier in
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meinem Text zitieren zu können. Ich habe nichts gefunden, was deutlich und präzise genug gewesen wäre, um es Ihnen hier präsentieren zu können. Ich blätterte durch alle Bücher, die sich in diesem Zusammenhang wie von selbst auff drängen, aber ohne Ergebnis. Ebenso vergeblich war es, verschiedene Kollegen aus der Psychologie zu fragen. Und doch hätte ich ffast schwören können, in den letzten zehn Jahren einige solcher Passagen der kategorischsten Art gelesen zu haben. Sehr wahrscheinlich ist dies ein falscher Eindruck, und es verhält sich mit dieser Meinung wie mit vielen anderen. Sie liegen gleichsam in der Luft. Vieles von dem, was heute geschrieben wird, setzt sie logisch voraus und impliziert sie. Doch wenn Sie einen Studenten auf eine ausdrückliche und radikale Stelle verweisen wollen, damit er sich mit ihr beschäftigen und sie kommentieren kann, finden Sie fast nichts Passendes. Im vorliegenden Fall gibt es viele Stellen, in denen behauptet wird, Geist sei gleichbedeutend mit Gehirnfunktion, aber kaum eine, in der der Autor daraufhin explizit die Möglichkeit der Unsterblichkeit leugnet. Die beste Stelle, die ich gefunden habe, ist vielleicht die fol f gende: „Nicht nur das Bewusstsein, sondern jede Regung des Lebens, hängt von Funktionen ab, die wie eine Flamme erlöschen, wenn die Nahrung ausgeht. [...] Das Phänomen des Bewusstseins entspricht, Element für Element, den Aktivitäten spezieller Regionen des Gehirns. [...] Die Zerstörung irgendeines Teils des Apparates führt dazu, das die einen oder anderen lebenswichtigen Operationen ausfallen. Daraus ffolgt, dass wir es beim Leben immer nur mit einer organischen Funktion zu tun haben und nicht mit einem Ding an sich oder einer Äußerung jener imaginären Entität, die wir Seele nennen. Diese grundlegende Aussage [...] fführt uns zur Leugnung der Unsterblichkeit der Seele, denn da, wo es keine Seele gibt, ist die Frage nach ihrer Sterblichkeit oder Unsterblichkeit vollkommen sinnlos. [...] Die Funktion ffüllt das Leben ganz aus – die Flamme leuchtet und geht darin gänzlich auf. Das ist alles; und wahrlich, das ist genug. [...] Die Sinneswahrnehmung hat bestimmte organische Voraussetzungen, und da diese mit dem natürlichen Verfall des Lebens ebenfalls verfallen, ist es für einen realistischen Geist unmöglich, sich irgendeine Empfindungsfähigkeit vorzustellen, die unsere natürliche Existenz überdauert.“ (Emil Dühring, Der W Werth des Lebens, 3. Auflage, S. 48 und S. 168)
So laute a t also der Einwand gegen die Unsterblichkeit, und als nächstes werde ich Ihnen nun deutlich zu machen versuchen, warum a ich glaube, dass dieser Einwand uns nicht aabschrecken muss. Ich möchte Ihnen zeigen, dass die fatale Schlussfolgerung nicht so zwangsläuf ä fig ist, wie man gemeinhin denkt, und dass selbst dann, wenn unser Seelenleben (wie es sich uns hier unten auf Erden präsentiert) r in aller Strenge als Funktio t n eines sterblichen Gehirns begrif r ffen wird, damit überhaupt noch nicht aus a geschlossen wird, dass das Leben auch nach dem Tod des Hirns fortdauert. r Die angebliche Unmöglichkeit des Weiterlebens wird in der Regel vor dem Hintergrund einer zu oberflächlichen Sicht auf die anerkannte Tatsache einer funktionalen Abhängigkeit behauptet. Sobald wir genauer auf das Konzept der funktionalen Abhängigkeit schauen und uns zum Beispiel fragen, wie viele Arten von ihr es geben kann, erkennen wir sofort, dass zumindest eine Art ein Leben danach überhaupt nicht ausschließt. Die fatale Schlussfol f gerung der Physiologen folgt daraus, dass sie eine andere Art der ffunktionellen Abhängigkeit unterstellen und sie als die einzig mögliche ausgeben.
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Exkurs: r Die Beziehungen zwischen Geist und Gehirn6 Der philosophisch geschulte Leser wird bemerken, dass ich mich die ganze Zeit über auf die Seite der gewöhnlichen dualistischen Sicht der Naturwissenschaft und des gesunden Menschenverstandes stelle. Aus dieser Sicht bestehen geistige Tatsachen wie Gefühle aus einer Art von Stoff f oder Substanz, physische Tatsachen aus einer anderen Art. Ein absoluter Phänomenalismus, der die Endgültigkeit eines solchen Dualismus in Frage stellt, könnte möglicherweise einige der Probleme lösen, die immer dann als unlösbar gelten müssen, wenn wir sie in dualistischen Begriffen f formulieren. Da die physiologischen Einwände gegen die Unsterblichkeit im Rahmen des gewöhnlichen dualistischen Weltbildes formuliert wurden und da der absolute Phänomenalismus bis jetzt noch nichts genügend Deutliches gesagt hat, das in diesem Zusammenhang zählen könnte, ist es besser, dass meine Antwort auf den Einwand in dualistischen Begriffen ausgedrückt wird – was mir natürlich jede Freiheit lässt, bei einer späteren Gelegenheit einen Versuch zu machen, den dualistischen Rahmen zu verlassen und andere Begriffe f zu verwenden. Aus dualistischer Sicht können wir nur zwei Arten der Abhängigkeit unseres Geistes von unserem Gehirn konstatieren: Entweder 1) erzeugt das Gehirn jenen Stoff des Bewusstseins, aus dem unser Geist besteht, oder aber 2) das Bewusstsein existiert vorher als eine Einheit, und die verschiedenen Gehirne geben ihm nur unterschiedliche Formen. Wenn Annahme 2 stimmt und der Stoff, f aus dem der Geist besteht, bereits vorher existiert, gibt es wieder nur zwei Möglichkeiten zu begreifen, wie unser Gehirn diesem Stoff f die spezifis f ch menschliche Form verleihen kann. Der Stoff f kann entweder aus a) verstreuten Teilchen bestehen, und dann wäre unser Gehirn das Organ ihrer Konzentration und Kombination zu einer je persönlichen Form. Oder er besteht b) aus umfas f senderen Einheiten (einer absoluten „Welt-Seele“ oder etwas ähnlichem) und dann wären unsere Gehirne Organe seiner Trennung in Teile, denen es damit zugleich eine spezifische Form geben würde. Es gibt also genau drei mögliche Theorien der Funktion des Gehirns und keine mehr. Wir können sie wie folgt bezeichnen 1) Die Theorie der Produktion; 2a). Die Theorie der Kombination; 2b). Die Theorie der Teilung. Im weiteren Text der Vorlesung wird die Theorie 2b (die genauer als Übertragungstheorie charakterisiert wird), gegen die Theorie 1 verteidigt. Theorie 2a, die
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auch als Theorie eines „geistigen Staubes“ oder „geistigen Stoffes f “ bekannt ist, soll hier aus Zeitgründen nicht behandelt werden. Ich werde sie auch in diesem Exkurs nicht kritisieren, da ich sie bereits, zumindest was die veröffen f tlichten Varianten betrifft f , in meinen Principl i es of Psych s ology, New York, Holt & Co., 1892, Kapitel VI, „The Mind Stuff f Theory“ ausfüh f rlich behandelt habe. Ich kann hier gleichwohl sagen, dass William Kingdon Clifford, einer der größten Meister der Kombinationstheorie – und Erfinder des nützlichen Ausdrucks „geistiger Stoff“ – diese Theorie für unvereinbar mit individueller Unsterblichkeit hält. In seiner Besprechung von Balfour f Stewarts und Peter Guthrie Taits Buch The Unseen Universe r macht er dies deutlich: „Die Gesetze, die das Bewusstsein mit Hirnprozessen verbind r en, sind sehr konkret und präzise, ihre notwendigen Konsequenzen können wir nicht umgehen. [...] Das Bewusstsein ist eine komplexe Sache, die sich aus Elementen zusammensetzt, ein Strom aus Empfindungen. Die Aktivität des Gehirns ist eine ebenso komplexe, aus Elementen zusammengesetzte Sache, ein Strom t von Nerven-Impulsen. Jeder Empfindung im Bewusstsein lässt sich ein zeitgleicher neuronaler Impuls im Gehirn zuordnen. [...] Das Bewusstsein ist keine einfache Sache, sondern eine komplexe; es ist die Kombination von Empfindungen in einem Strom. Es existiert parallel zur Kombination von neuronalen Impulsen in einem Strom. Wenn einzelne Empfindungen immer mit einzelnen neuronalen Impulsen einhergehen, wenn die Kombination oder der Strom der Empfindungen immer mit einem Strom von neuronalen Impulsen einhergeht, fol f gt dann daraus nicht, dass, wenn der Strom der neuronalen Impulse versiegt, auch der Strom der Empfindungen abebbt und kein Bewusstsein mehr bildet? Folgt daraus nicht, dass, wenn die Impulse selbst zerschlagen werden, die individuellen Empfindungen ebenfalls in noch einfachere Elemente aufgelöst werden? Durch die Aufbi f etung einer noch so großen Anzahl von spirituellen Entitäten kann dieses Argument nicht geschwächt werden. Unser Bewusstsein ist unauflöslich mit jenem Körper verbunden, den wir kennen; und das nicht einfach nur ganz allgemein, sondern die Teile des Bewusstseins sind mit jeweils entsprechenden Teilen unserer Hirnaktivitäten verbunden. Wenn es irgendeine vergleichbare Verbindung mit einem spirituellen Körper gibt, so folgt daraus nur, dass dieser spirituelle Körper zur gleichen Zeit wie der natürliche Körper sterben muss.“ (Lectures and Essays, Band 1, S. 247–249. Vgl. auch Abschnitte ähnlichen Inhalts in Bd. 2, S. 65–70)
Wenn der Physiologe, der glaubt, dass seine Wissenschaft f jeder Hoffnun f g auf Unsterblichkeit die Grundlage entzieht, den Satz ausspricht: „Das Denken ist eine Funktion des Gehirns“, dann beurteilt er diese Angelegenheit nicht anders als wenn er sagen würde: „Der Dampf ist eine Funktion des Teekessels“, „Das Licht ist eine Funktion des Stromkrei k slaufs“, oder „Die Kraft f ist eine Funktion des Wasserfalls“. In diesen letzteren Fällen haben die verschiedenen materiellen Gegenstände die intrinsische Funktion, ihre Wirkungen zu erzeugen. Ihre Funktion müsste insofern f produktive Funktion genannt werden. Genau so, denkt er, muss es sich auch mit dem Gehirn verhalten. Die Erzeugung von Bewusstsein in seinem Inneren (so wie es ja auch Cholesterin, Kreatin und Kohlendioxid erzeugt) kann auch als produktive Funktion bezeichnet werden, wobei das Gehirn dann das Seelenleben produziert. Wenn seine Funktion in dieser Produktion
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besteht, dann wird das Organ die Produktion natürlich, sobald es stirbt, nicht mehr aufrech f terhalten können, und auch die Seele muss sterben. Eine solche Schlussfolgerung wird natürlich unvermeidlicherweise aus einer solchen Deutung 7 der relevanten Tatsachen gezogen. Aber in der physikalischen Welt ist die produktive Funktion nicht die einzige Funktion, die wir kennen. Wir treffen hier auch andere, etwa zulassende bzw. permissive und nicht zuletzt transmissive Funktionen an. Der Abzug einer Armbrust hat eine zulassende Funktion: Er beseitigt das Hindernis, das die Sehne festhält, und lässt den Bogen in seine natürliche Lage zurückschnellen. Ebenso verhält es sich, wenn der Schnapphahn des Revolvers auf den Zünder der Patrone trifft f . Mit dem Ausschalten der inneren molekularen Hindernisse können die im Sprengstoff f gebundenen Gase wieder ihr normales Volumen einnehmen und ermöglichen so die Explosion. Im Falle eines ffarbigen Glases, eines Prismas oder einer Linse begegnen wir der transmissiven (oder Übertragungs-)Funktion. Das Licht wird ganz unabhängig von seiner Quelle vom Glas gefiltert und in seiner Farbe beschränkt bzw. durch die Linse oder ein Prisma gebrochen. Ebenso haben die Tasten einer Orgel nur eine transmissive Funktion. Sie öffnen nacheinander die verschiedenen Pfeifen und lassen den im Blasebalg erzeugten Luftstrom in sie ein. Die Stimmen der einzelnen Rohre bestehen aus zitternden Lufts f äulen, die entstehen, wenn die Luft aus den Pfei f fen entweicht. Aber die Luft f wird nicht von der Orgel erzeugt. Die eigentliche, vom Luftst f rom unterschiedene Orgel selbst ist nur eine Vorrichtung, um bestimmte Mengen Luft f in einer besonderen Form wieder in die Welt zurückströmen zu lassen. Meine These lautet nun, dass wir, wenn wir an dem Gesetz ffesthalten, demgemäß das Denken als eine Funktion des Gehirns zu begreifen ist, nicht verpflic f htet sind, dabei nur an die produktive Funktion zu denken. Wir können mit gleichem Recht auch die permissive und die transmissive Funktion in Betracht ziehen. Und das vernachlässigt der normale Psycho-Physiologe. Stellen wir uns beispielsweise einmal vor, dass sich die ganze Welt der materiellen Dinge – das gesamte Inventar der Erde wie die Chöre des Himmels – als eine bloße Oberflä f che herausstellen könnte, als ein Schleier der Phänomene, hinter dem sich eine eigentlichere Realität verbirgt. Eine solche Annahme ist weder dem gesunden Menschenverstand noch der Philosophie völlig ffremd. Der gesunde Menschenverstand vermutet nahezu abergläubisch eine Realität hinter dem Schleier. Und die idealistische Philosophie erklärt die ganze Welt der natürlichen Erfahrungen, wie wir sie machen, zu einer bloß zeitbedingten Maske, so dass sie damit das eine unendliche Denken, das die einzige Wirklichkeit zu sein vorgibt, in Millionen von endlichen Bewusstseinsströmen unserer je persönlichen Selbste zerstäubt oder zerlegt. „Life, f like a dome of many-colored glass, Stains the white radiance of eternity.“8
Nehmen wir jetzt an, dass sich dies wirklich so verhielte, und nehmen wir darüber hinaus an, dass die Kuppel zwar undurchlässig für die helle Glut der übernatürlichen Sonne ist, dies aber auf bestimmte Regionen ihrer Oberfläche und auf
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bestimmte Zeiten weniger stark zutrifft f , so dass gewisse Strahlen in unsere endliche Welt durchdringen können. Diese Strahlen wären endliche Bewusstseine, um sie so zu nennen, und sie würden in ihrer Quantität und Qualität je nach dem Grad der Durchlässigkeit der Kuppel variieren. Nur zu bestimmten Zeiten und Orten scheint es, dass der Schleier der Natur dünn und brüchig genug wird, damit solche Effekte auftreten können. Aber diesen Orten sind immer wieder Funken der Ewigkeit vergönnt, wie begrenzt und unbefriedigend auch immer. Gefühlswallungen, Blitze der Einsicht und Ströme von Wissen ergießen sich dann in unsere endliche Welt. Stellen wir uns jetzt vor, dass unsere Gehirne solche dünnen und halbtransparenten Stellen im Schleier sind. Was ffolgt daraus? So wie das weiße Licht mit all den Arten von Verfärbungen und Verzerrungen durch die Kuppel dringt, die ihm durch das Glas widerfahren, oder wie die Luft f jetzt durch meine Glottis strömt und dabei in der Kraft und Qualität ihrer Schwingungen durch die Besonderheiten derje r nigen Stimmbänder determiniert wird, die ihre Austrittsöffn f ung bilden und die Form und Gestalt meiner persönlichen Stimme festlegen, so bricht auch das Leben der Seele, wie sie in der ganzen Fülle ihrer Möglichkeiten existiert, durch unsere verschiedenen Gehirne in allen möglichen besonderen Formen in diese Welt ein, behaftet mit allen Unvollkommenheiten und Schrägheiten, die unsere endlichen Persönlichkeiten hier unten charakterisieren. Je nach dem Zustand, in dem sich das Gehirn befindet, wird vermutlich auch der Grad seiner Durchlässigkeit steigen oder fallen. Wenn die Hirnaktivität sehr hoch ist, steigt entsprechend auch die Durchlässigkeit, so dass eine Flut geistiger Energie durch das Organ strömt. Zu anderen Zeiten gehen nur gelegentlich Wellen von Gedanken durch es hindurch, wie etwa im tiefen Schlaf. Und wenn schließlich das Gehirn seine Aktivität ganz einstellt oder stirbt, verschwindet jener besondere Bewusstseinsstrom mit dem ihm unterstellten Willen vollständig aus dieser natürlichen Welt. Aber diejenige Seinssphäre, aus der das Bewusstsein letztlich stammt, bliebe immer noch intakt. Und in dieser realeren Welt, mit der das Bewusstsein selbst hier unten ein Kontinuum bildet, könnte das Bewusstsein, in einer Weise, die wir nicht kennen, fortbestehen. Sie sehen, dass unser Seelenleben wie wir es kennen in all diesen Szenarien in einem nicht weniger wörtlichen Sinne eine Funktion des Gehirns bliebe. Das Gehirn wäre eine unabhängige Variable, und der Geist würde sich in Abhängigkeit zu ihr verändern. Aber eine solche Abhängigkeit unseres irdischen Lebens vom Gehirn würde in keiner Weise das ewige Leben unmöglich machen – sie wäre durchaus vereinbar mit einem übernatürlichen Leben hinter den Kulissen. Wie ich bereits sagte, müssen wir daraus nicht notwendig eine fatalistische Schlussfolgerung ziehen; die ffatalistische Schlussfolgerung der Materialisten ergibt sich aus seiner einseitigen und reduzierten Lesart des Wortes „Funktion“. Und ob wir uns nun wirklich um unsere Unsterblichkeit sorgen oder nicht, sollten wir als Intellektuelle, deren Aufga f be darin besteht, Ordnung in die seltsamen Launen der Menschen zu bringen, darauf bestehen, dass eine Leugnung der Unsterblichkeit, die sich einfach nur aus der Unkenntnis von Alternativen ergibt, nicht wirklich logisch sein kann. Wie viel mehr müssen wir als Freunde der
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Wahrheit darauf bestehen, wenn sich die Leugnung auf eine der zentralen Hofff nungen der Menschheit bezieht! Strenggenommen haben wir damit jedem Neuromaterialismus die Krallen gezogen. Meine Worte sollten daher bereits Ihren Hoffnu f ngen ein Recht zurückerstattet haben. Sie sollten von nun an glauben können, ganz unabhängig davon, ob Sie aus diesem Glauben einen persönlichen Gewinn ziehen oder nicht. Aber da dies ein sehr abstraktes Argument ist, kann ich ihm sicher noch mehr Wirkung verleihen, wenn ich ein paar weitere Worte über die konkreten Umstände verliere. Alle abstrakten Hypothesen klingen unwirklich, und die abstrakte Vorstellung, dass unsere Gehirne farbige Linsen in der Wand der Natur sind, die das Licht einer übernatürlichen Quelle durchlassen, um es zugleich einzufärb f en und zu brechen, mutet höchst fantastisch an. Sie fragen sich vielleicht, ob das nicht nur eine billige Metapher ist. Wie könnten wir uns eine solche Funktion genauer vorstellen? Ist nicht die gewöhnliche materialistische Theorie erheblich einfaf cher? Lässt sich das Bewusstsein nicht viel besser mit einer Art von Dampf, Duft, f Elektrizität oder Nervenentladung vergleichen, die an Ort und Stelle, in ihrem jeweiligen Gefäß, erzeugt werden? Wäre es nicht wissenschaftli f ch konsequenter, die Funktion des Gehirns als produzierende Funktion zu begreifen? Die naheliegende Antwort lautet, dass, wenn wir wirklich von Wissenschaft f sprechen, „Funktion“ nicht mehr bedeuten kann als zeitgleiche Variation. Wenn sich die Gehirnaktivitäten in einer bestimmten Weise ändern, dann ändert sich das Bewusstsein in einer anderen. Wenn die Entladung den Occipitallappen betrifft f , dann sieht unser Bewusstsein etwas, wenn sie den unteren Frontalbereich betrifft f , spricht das Bewusstsein mit sich selbst, wenn die Entladungen ganz aufhören, geht es schlafen, usw. Aus streng wissenschaftlicher Sicht können wir hier nur die bloße Gleichzeitigkeit konstatieren, doch alle Versuche, diese Gleichzeitigkeit als Produktion oder Übertragung zu qualifiz f ieren, sind einfach f nur zusätzliche Hypothesen, und sie bleiben so lange metaphysische Hypothesen, solange wir nicht weitere Evidenzen für eine der beiden Alternativen anführ f en können. Fragen Sie nach einer präzisen Beschreibung der Prozesse einer Transmission oder Produktion, dann bleibt der Wissenschaft nur das Geständnis, dass sie hier passen muss. Sie hat bisher nicht den geringsten Schimmer und kann uns nicht einmal eine schlechte Metapher oder ein Wortspiel anbieten. Die meisten Physiologen werden mit den berühmten Worten eines ihrer Kollegen nur sagen 9 können: Ignoramus et ignorabi r mus. Die Produktion von so etwas wie Bewusstsein im Gehirn, werden sie mit dem jüngst verstorbenen Berliner Physiologen antworten, ist das höchste Welträtsel – etwas so Paradoxes und Außergewöhnliches wie ein Stolperstein für die Natur, nahezu ein Widerspruch in sich selbst. Die Art, wie in einem Teekessel Dampf erzeugt wird, verstehen wir halbwegs, denn die Faktoren, die sich hier verändern, verhalten sich physikalisch gesehen homogen zueinander, und man kann sich den ganzen Prozess gut so vorstellen, dass er aus nichts anderem als den Bewegungen von Molekülen besteht. Aber bei der Erzeugung des Bewusstseins durch das Gehirn sind die Fakto-
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ren gänzlich heterogener Natur, und so weit unser Verständnis reicht, ist es ein großes Wunder, so als ob wir etwa sagen würden, es wird „spontan“ oder „aus dem Nichts“ erzeugt. Die Theorie der Produktion ist also nicht um ein Jota einfacher oder überzeugender als jede andere denkba k re Theorie. Sie ist einfach f nur ein wenig populärer. Wenn uns ein gewöhnlicher Materialist zu erklären auffordert, wie das Gehirn ein Organ für die Begrenzung und die Festlegung einer bestimmten Form des Bewusstseins sein kann, das an einem anderen Ort produziert wird, brauchen wir die Frage einfach nur zurückzugeben und ihn umgekehrt zu erklären bitten, wie man die Behauptung, dass ein Organ für die Herstellung von Bewusstsein verantwortlich ist, stützen kann. Was ihren polemischen Nutzen betrifft, f bewegen sich die beiden Theorien exakt auf dem gleichen Niveau. Aber wenn wir die Theorie der Übertragung in einem weiteren Sinne verstehen, sehen wir, dass sie auch jenseits ihrer Relevanz für die Unsterblichkeitsfrag f e eine Reihe von Vorzügen hat. Wie genau der Prozess der Übertragung abläuft, ist in der Tat nicht vorstellbar. Aber die äußeren Beziehungen, wenn ich sie so nennen darf, dieses Prozesses bekräftigen meine Überzeugung. Das Bewusstsein muss im Zuge dieses Prozesses nicht de novo an sehr vielen Orten erzeugt werden. Es existiert bereits hinter den Kulissen, gleichzeitig mit der materiellen Welt. Die Übertragungstheorie vermeidet es auf diese Weise nicht nur, die Wunder zu vervielfäl f tigen, sondern lässt sich weit besser als die Produktionstheorie mit der allgemeinen idealistischen Philosophie vereinbaren. Es sollte immer als etwas Positives bewertet 10 werden, wenn sich Wissenschaft und Philosophie begegnen. Die Übertragungstheorie situiert sich darüber hinaus auch in der Nähe des Konzepts einer „Schwelle“ – ein Wort, mit dem seit Gustav Theodor Fechners Psych s ophysik die sogenannte „neue Psychologie“ auf sich aufmerksam machte. Fechner postuliert eine bestimmte Art von psycho-physischer Bewegung, wie er sie nennt, als Möglichkeitsbedingung des Bewusstseins. Damit sich Bewusstsein einstellt, muss erst ein gewisses Maß in der Ausübung dieser Bewegung erreicht werden. Das erforderliche Maß nennt er die „Schwelle“, wobei die Höhe dieser Schwelle je nach den besonderen Umständen variiert: Sie kann steigen oder ffallen. Wenn sie, wie etwa in Zuständen großer Klarheit, fällt, werden wir uns bestimmter Dinge bewusst, die zu anderen Zeiten nicht in unserem Bewusstsein waren. Wenn sie wie in Situationen der Schläfrigkeit steigt, dann lässt das Bewusstsein nach. Das Steigen und Fallen einer psycho-physischen Schwelle entspricht genau unserer eigenen Vorstellung eines dauerhaften Hindernisses für die Übertragung des Bewusstseins, eines Hindernisses, das in unserem Gehirn wach11 sen oder sich vermindern kann. Die Übertragungstheorie lässt sich auch mit einer ganzen Klasse von Erfahrungen vereinbaren, die sich mit der Produktionstheorie kaum erklären lassen. Ich beziehe mich auf jene obskure und außergewöhnliche Phänomene, von denen im Laufe der menschlichen Geschichte immer wieder berichtet wurde und die die psychologische Forschung im Umfeld f von Frederic Myers zur Zeit zu rehabilitie12 ren beginnt. Zu diesen Phänomenen gehören religiöse Erleuchtungen, ein Ge-
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spür für den tieferen Sinn der Vorsehung, das sich im Anschluss an Gebete einstellt, spontane Heilungen, Vorahnungen, Nahtoderfahrungen, hellseherische Visionen und das gesamte Spektrum medialer Fähigkeiten, ganz zu schweigen von noch außergewöhnlicheren und unverständlicheren Dingen. Wenn unser menschliches Denken insgesamt eine Funktion des Gehirns ist, dann müssen wir natürlich, wenn alle diese Phänomene tatsächlich existieren – und aus meiner Sicht existieren einige von ihnen tatsächlich – annehmen, dass sie nicht ohne vorherige Gehirnaktivität auftreten können. Aber die gewöhnliche Produktionstheorie des Bewusstseins ist mit einer bestimmten Konzeption verbunden, wie Gehirnaktivität auftreten kann. Diese Konzeption besagt, dass alle Gehirnaktivität ohne Ausnahme von einer weiteren Aktivität abhängt, die die Sinnesorgane (sowohl die Fernsinne als auch das Leibesempfinden) auf das Gehirn ausüben. Diese Aktivität bringt das Gehirn dazu, geistige Eindrücke und Vorstellungen zu produzieren und aus diesen wiederum die höheren Formen des Denkens und des Wissens abzuleiten. Auch als Anhänger der Übertragungstheorie müssen wir dies als Grundbedingung unseres gewöhnlichen Denkens anerkennen. Die Sinnesaktivität senkt die Hirn-Schwelle. Meine Stimme und mein Erscheinungsbild treffen zum Beispiel jetzt auf Ihre Augen und Ohren. Ihre Gehirne werden daraufhin durchlässiger und ein Bewusstsein davon, wer ich bin und was ich sage, dringt aus der Welt hinter den Kulissen in unsere diesseitige Welt durch. Aber bei den geheimnisvolleren Phänomenen, die ich gerade angesprochen hatte, ist es oft schwer zu sehen, welche Rolle hier den Sinnesorganen zukommen soll. Ein Medium wird zum Beispiel ein Wissen um die privaten Angelegenheiten der ihm gegenübersitzenden Person haben, das es unmöglich durch Sehen, Hören oder Schlussfolgerungen aus dem Gesehenen und Gehörten erworben haben kann. Oder Sie haben eine Erscheinung von jemand, der gerade jetzt Hunderte von Meilen entfernt stirbt. Mit der Produktionstheorie kann man nicht erklären, wie diese merkwürdigen Phänomene erzeugt werden konnten. Vom Standpunkt der Übertragungstheorie müssen sie überhaupt nicht erzeugt oder „produziert“ worden sein – sie existieren bereits fertig in der transzendentalen Welt, und alles, was benötigt wird, ist eine außergewöhnliche Senkung der Hirn-Schwelle, um sie zu uns durchzulassen. In den Fällen der Erleuchtung, dem Vertrauen in die Vorsehung, bei spontanen Heilungen usw. scheint es so zu sein, dass diejenigen, die diese Erfahrungen machen, sie so empfinden, als ob plötzlich eine Kraft von außen, die sich gänzlich von derjenigen der Sinne und des sinnengeleiteten Geistes unterscheidet, in ihr Leben eingreift, als ob sich ihr Leben blitzartig auf ein größeres Leben hin öffnet. Das Wort „Influx“, das in Kreisen von Swedenborgianern verwendet wird, beschreibt diesen Eindruck neuer Erkenntnisse oder einer neuen Bereitschaft, der uns hier durchströmt, sehr gut. Alle diese Erfahrungen, die für die Produktionstheorie paradox und sinnlos bleiben, können von der anderen Theorie ganz natürlich eingeordnet werden. Wir müssen nur die prinzipielle Kontinuität unseres Bewusstseins mit dem Ur-Ozean unterstellen, um den außergewöhnlichen Wellen erlauben zu können, gelegentlich über den Damm zu schwappen. Natürlich bleiben damit immer noch die Ursachen für das gelegentliche Sinken der Schwelle des Gehirns ein Rätsel.
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Wenn wir nun diesen Vorteil der Übertra t gungstheorie – ein Vorteil, von dem ich denke, dass ihn einige von Ihnen nicht sehr hoch veranschlagen werden – sowie den Vorteil, dass sie nicht im Widerspruch zu einem jenseitigen Leben steht, berücksichtigen, dann hoffe f ich, dass Sie mir in der Einschätzung zustimmen, die Übertrag t ungstheorie sei den anderen Theorie überlegen, auch wenn letztere weiter verbr r eitet sind. In der Geschichte der Erörterung dieser Fragen wurde die Übertragungstheorie nie ganz außer acht gelassen, andererseits wurde sie aber auch nie vollständig ausformu f liert. In der großen orthodoxen philosophischen Tradition wird der Körper als eine wesentliche Möglichkeitsbedingung allen Seelenlebens in dieser endlichen Welt betrachtet. Doch nach dem Tod, so heißt es, wird die Seele frei f gesetzt und verwandelt sich in eine rein geistige und bedürfnislose Entität. Kant drückt dies in Begriffen f aus, die unserer Übertragungstheorie außerordentlich nahe kommen. Der Tod des Körpers, sagt er, mag in der Tat das Ende der sinnlichen Verwendung unseres Geistes bedeuten, aber zugleich bedeutet er den Beginn seiner rein geistigen Verwendung. „Der Körper“, r fährt er for f t, „wäre also nicht [als] die Ursache des Denkens, sondern [als] eine bloß restringierende Bedingung desselben, mithin zwar als Beför f derung des sinnlichen und animalischen, aber desto mehr auch als Hindernis des reinen und spirituellen Lebens 13 anzusehen.“ Und in einem neueren Buch von großer Suggestivkraft, das noch längst nicht so bekannt ist wie es sein sollte – ich meine Riddles of o the Sphinx n von Ferdinand Canning Scott Schiller, der zunächst in Oxford und dann an der Cornell 14 University gelehrt hat – wird die Übertragungstheorie ausfüh f rlich verteidigt. Gleichwohl werden Sie fragen, wie uns diese Theorie auf positive Weise helfen f kann, unsere Unsterblichkeit besser zu verstehen? Was wir alle behalten wollen, sind gerade diese individuellen Einschränkungen, gerade dieselben Tendenzen und Besonderheiten, die uns für uns selbst und ffür andere definieren und uns unsere Identität verleihen. Unsere Beschränktheiten und Grenzen scheinen unser persönliches Wesen auszumachen, und wenn das einschränkende Organ wegfällt und unsere unterschiedlichen Geister wieder zu ihrer ursprünglichen Quelle zurückke k hren und ihre uneingeschränkte Gestalt annehmen, werden sie dann etwas anderes sein können als diese uns bekannten süßen Gefühl f sströme, die unser Gehirn schon jetzt gelegentlich für unser Vergnügen hier unten aus dem großen Reservoir schöpft? Solche Fragen drängen sich auf, und sie müssen von den künftigen Vortragenden der Ingersoll-Vorlesungen ernsthaft diskutiert werden. Ich für meinen Teil hoffe f sehr, dass mehr als ein Vortragender eindringlich die Bedingungen unserer Unsterblichkeit erörtern und uns sagen wird, wie viel wir verlieren und wie viel wir vielleicht gewinnen können, wenn die beschränkenden Faktoren verändert würden. Wenn alle Determination, wie die Philosophen sagen, Negation ist, könnte es durchaus sein, dass der Verlust eines Teils der besonderen Bestimmungen, die uns das Gehirn auferlegt, kein Grund zur Trauer sein müsste. Aber auf diese höheren und transzendentalen Fragen möchte ich bei dieser Gelegenheit nicht näher eingehen. In der Zeit, die uns noch bleibt, werde ich vielmehr versuchen, meinen zweiten Punkt zu behandeln. Er ist genauso fragmentarisch und negativ wie der erste. Und doch verleiht das Zusammenspiel beider Punkte unserem Glauben an die Unsterblichkeit Flügel.
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Mein zweiter Punkt bezieht sich auf die unglaubliche und unerträgliche Zahl von Wesen, von denen wir aus unserer heutigen Sicht glauben müssen, dass sie unsterblich sind, wenn es denn eine Unsterblichkeit gibt. Ich kann nur vermuten, dass auch dies ein Stein des Anstoßes für viele im heutigen Publikum sein wird. Und es ist ein Stein des Anstoßes, den ich gründlich beiseite räumen möchte. Es ist, glaube ich, ein ziemlich moderner Stein des Anstoßes, der sich aus den quantitativen Phantasien neuerer wissenschaftlicher Theorien und den aus ihnen ffolgenden moralischen Konsequenzen ergibt. Für unsere Vorfahren war die Welt ein kleiner und – im Vergleich zu unserer heutigen Sicht – halbwegs gemütlicher Ort. Dieser Zustand hat mindestens sechstausend Jahre angedauert. In seiner Geschichte ragten einige besondere Helden, Könige, Kirchenmenschen und Heilige heraus, bestimmten mit ihren Forderungen und Verdiensten die Phantasien, so dass nicht nur sie, sondern alle, die ffamiliär mit ihnen verbunden sind, in einem Zauber glänzten, den auch der Allmächtige, wie man annahm, anerkennen und respektieren musste. Diese prominenten Persönlichkeiten und ihre Verwandten bilden den Kern der Gruppe der Unsterblichen. Die kleinen Helden und Heiligen der weniger bedeutenden Sekten ffolgen als nächstes, und die Leute ohne jede Auszeichnung bilden einfach f nur eine Art Hintergrund. Die ganze Bühne der Ewigkeit (so weit zumindest, wie der Himmel und nicht die Unterwelt in sie einbegriffen ist) kam den Gläubigen nie wie eine überwältigend große oder überfüllte Bühne vor. Man könnte dies einen aristokratischen Blick auf die Unsterblichkeit nennen. Die Unsterblichen – da wir uns mit einer Unsterblichkeit der Leiden nicht befassen müssen, spreche ich hier ausschließlich vom Himmel – bilden immer eine Elite, eine ausgewählte und überschaubare Gemeinschaft. Aber mit unserer gegenwärtigen Generation hat sich eine völlig neue quantitative Phantasie der westlichen Welt bemächtigt. Die Evolutionstheorie fordert nun von uns, eine weit umfassendere Raum- und Zeitskala sowie eine viel größere Zahl der am kosmischen Prozess beteiligten Personen zu veranschlagen, die die Vorstellungskraft unserer Vorfahren weit überstiegen hätte. Die Geschichte der Menschen geht bruchlos aus der Geschichte der Tiere hervor und reicht möglicherweise bis ins Tertiär zurück. Aus diesem Bewusstsein hat sich allmählich eine demokratische Einstellung ergeben, die das alte aristokratische Bild der Unsterblichkeit ablöst. Denn obwohl unser Geist in einer Hinsicht vielleicht ein wenig zynisch geworden ist, hat ihn die evolutionäre Perspektive in einer anderen Hinsicht auch sympathetischer gemacht. Blut von unserem Blut und Fleisch von unserem Fleisch, begreifen wir diese halbwilden Vormenschen als unsere prähistorischen Brüder. Mit der ungeheuren Finsternis dieses mysteriösen Universums konfro f ntiert, wie wir es ja auch noch selbst sind, wurden sie geboren und starben, litten und kämpften. Schrecklichen Verbr r echen und Leidenschaften anheimgegeben, in das schwärzeste Nichtwissen gestürzt, von häßlichen und grotesken Wahnvorstellungen geplagt, und doch in festem Glauben standhaft ihrem höchsten Ideal dienend, dass das Dasein in welcher Form auch immer besser ist als das Nichtexistieren, retten sie die Flamme des Lebens immer wieder erfol f greich aus dem Rachen der drohenden Zerstörung, eine Flamme, die durch ihren Einsatz auch heute
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noch die Welt ffür uns erhellt. Wie gering erscheinen in der Tat die Unterschiede zwischen Individuen, wenn wir auf diese überwältigende Zahl von Menschen zurückbl k icken, die unter dem Druck dieses lebendigen Bedürfnisses keuchten und stöhnten! Und wie unwesentlich müssen die feinen Unterschiede in den Verdiensten der Einzelnen in den Augen Gottes erscheinen, verloren im weiten Ozean der gemeinsamen Verdienste der Menschen, die stumm und unerschrocken ihren grundlegenden Pflichten nachkommen und ein heroisches Leben führen! Wenn wir dieses wunderbare Schauspiel betrachten, werden wir bescheiden und ehrfürchtig. Wir fühlen, dass uns in den Augen Gottes nicht unsere Differenzen und Unterscheidungen als erlösenswert erscheinen lassen, sondern unser gemeinsames tierisches Wesen, das sich in unserer Geduld gegenüber Leiden und dauerhaften Anstrengungen offen f bart. Eine ungeheure Anteilnahme und ein Gefühl der Verwandtschaft erfüllen unser Gemüt. Eine Unsterblichkeit, aus der diese Milliarden von leidenden Mitmenschen auszuschließen für f uns inakzeptabel wäre. Dass unsere Überlegenheit in der persönlichen oder religiösen Reife f einen Unterschied zwischen uns und unseren Tischgenossen beim Bankett des Lebens ausmachen soll, der genügen würde, um einen solchen Unterschied in Bezug auf das Schicksal zu rechtferti f gen, dass uns das ewige Leben und ihnen nur endlose Qualen oder ein kreatürlicher Tod zukomme, diese Vorstellung wäre zu absurd, um ernsthaft erwogen werden zu können. Noch viel mehr führen die Tiere selbst – die wilden jedenfal f ls – zu allen Zeiten das heroischste Leben. Und ein moderner, durch ein kosmisches Gefühl wie durch das evolutionstheoretische Credo einer Kontinuität allen Seins sensibilisierter Geist zögert, dem Menschen eine Sonderstellung einzuräumen. Wenn eine Kreatur ewig lebt, warum dann nicht alle? Warum nicht auch die geduldigen Tiere? Insofern f verlangt der Glaube an die Unsterblichkeit, wenn wir ihm anhängen, eine so weite Skala von Wesen zu berücksichtigen, dass unsere Phantasie daran zu scheitern droht und unser persönliches Empfinden sich dagegen sträubt, diese Aufga f be auf uns zu nehmen. Die Forderung, mit der wir uns konfron f tiert sehen, ist viel zu groß, und statt uns ihren Folgen zu stellen, verabschieden wir die Voraussetzung, von der sie ausgeht. Wir geben eher den Gedanken an unsere eigene Unsterblichkeit auf als zu glauben, dass alle Scharen der Hottentotten und Australier der Vergangenheit wie der Zukunft f sie bis in alle Ewigkeit mit uns teilen sollten. Das Leben ist einigermaßen gut und großzügig, aber der Himmel selbst und die kosmischen Zeiten und Räume wären, so denken wir, bei der bloßen Vorstellung entsetzt, eine derart endlos anwachsende Fülle und ein solches Überangebot ewig erhalten zu müssen. Nachdem ich als Angehöriger der modernen wissenschaftlichen Kultur diese subje b ktive Erfah f rung durchlaufen f habe, bin ich sicher, dass dies auch die Erfah f rung von vielen, vielleicht sogar den meisten von Ihnen, gewesen sein muss. Ich habe aber auch gesehen, dass sie einem gewaltigen Trugschluss aufsitzt. Und da das Durchschauen dieses Trugschlusses meinen eigenen Geist wieder frei gesetzt hat, fühle ich mich in der Pfli f cht, meine Zuhörer heute Abend darauf hinzuweisen, worin genau er besteht. Er ist der offe f nsichtlichste Trugschluss der Welt, und das einzig erstaunliche an ihm besteht darin, dass er nicht von allen als solcher erkannt wird. Er ist das
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Ergebnis einer unüberwindlichen Blindheit, unter der wir leiden, eine Unempfindlichkeit gegenüber der inneren Bedeutung fremd f en Lebens, und einer Einbildung, die darin besteht, unsere eigene Unfähigkeit auf den gesamten Kosmos zu projizieren und dabei unsere eigenen kümmerlichen Bedürfnisse mit den Bedürfnissen des großen Ganzen gleichzusetzen. Unsere christlichen Vorfahren gingen mit dem Problem weit sorgloser um als wir. Uns ffehlt es einfach f an Mitgefühl, aber sie hegten eine positive Antipathie gegen ffremde Menschen. Sie gingen naiverweise davon aus, dass Gott diese Antipathie teilen würde. Unsere Vorfahren empfanden eine bestimmte Art von Freude bei dem Gedanken, dass ihr Gott die „Heiden“, wie sie sie nannten, nur als Brennstoff f für die Feuer der Hölle erschaffen f habe. Unsere Kultur hat uns aus dieser Vorstellungswelt befreit und humanisiert, aber wir können uns die Fremden immer noch nicht als unsere Genossen im Himmel vorstellen. Wir haben, wie man zu sagen pfle f gt, keine Verwendung für f sie, und der Gedanke an ihr Überleben bedrückt uns. Nehmen wir zum Beispiel alle Chinesen. Wer von Ihnen, meine Freunde, sieht irgendeinen Vorteil darin, wenn sie alle ohne Ausnahme ewig fortdauern? Nicht einer! Allenfalls könnten Sie sich damit abfinden, ein paar ausgewählte Exemplare am Leben zu erhalten, um der Menschheit eine Vielfalt zu sichern, die sie interessanter macht, aber das Überleben des unzählbar großen Restes, den wir uns nur sehr abstrakt, als Kollektiv vorstellen können, kann, so denken Sie, keinen weiteren Wert haben. Gott selbst, so denken Sie weiter, hat keine Verwendung für diesen Rest. Die Unsterblichkeit eines jeden einzelnen Individuums wäre ffür ihn wie für das Universum eine genauso untragbare Last, wie sie das ffür Sie ist. Indem so die ganze Sache in ein schiefes Licht gerückt wird, zweifelt man zunehmend daran, dass die Masse unsterblich sein kann. Damit verlieren dann auch alle Gewissheiten in Bezug auf die Unsterblichkeit der eigenen Person, wie bedeutsam sie uns auch immer vorkommen mögen, an Kraft. Ich bin mir sicher, dass sich genau diese Geisteshaltung bei einigen von Ihnen find f et. Aber entsteht eine solche Haltung nicht einfach f nur durch einen argen Mangel an Phantasie? Sie nehmen diese Scharen von fremden Mitmenschen so, wie sie Ihnen erscheinen: ein äußerliches Bild, das sich auf Ihrer Netzhaut abzeichnet und eine Menge von bedrückender Größe und Vielfalt zeigt. So wie Sie Ihnen erscheinen, glauben Sie, dass sie auch wirklich sind. Ich fühle mich von ihnen nicht angesprochen, sagen Sie; insofern f geht von ihnen keine Verpflichtung aus. Aber die ganze Zeit über nehmen Sie sich, jenseits der Äußerlichkeit, mit der Sie ihnen begegnen, selbst mit der schärfsten Innerlichkeit wahr, mit den heftigsten Schauern des Lebens. In Ihrer Art, auf die anderen zu schauen, sind sie tot, mausetot, blind und empfin f dungslos. Sie halten die Augen auf eine Szene gerichtet, deren Bedeutung sich Ihnen gänzlich entzieht. Jeder dieser grotesken oder gar abstoßenden Fremden wird von einer inneren Lebensfreude beseelt, die so glühend oder noch glühender ist als das, was Sie in Ihrem Herzen empfinden. Die Sonne geht auf und die Schönheit wirft ihr Licht auf seinen Weg. Seine innere Freude zu verfehlen bedeutet, wie Stevenson sagt, 15 ihn insgesamt zu verfehlen. Es gibt nicht ein einziges Wesen in dieser unzähligen Schar, dessen ganzes Leben nicht danach verlangt, intensiv danach verlangt
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und dieses Lebewesen beseelt. Dass Sie es weder erkennen, noch verstehen noch sich nicht von ihm in die Verantwortung rufen lassen, dass Sie keine Verwendung für es haben, ist vollkommen irrelevant. Dass Ihr Interesse von einem bestimmten Punkt an gesättigt ist, sagt uns nichts über die Interessen des Ganzen. Mit jedem Lebewesen, das das Universum mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln hervorbringt, schafft f es zugleich eine Verantwortung für dieses Wesen, ein Interesse an seiner Fortdauer – schafft f dies, wenn auch nirgendwo sonst, so doch zumindest im Herzen des Lebewesens selbst. Es wäre absurd zu glauben, dass, nur weil unsere private Fähigkeit zur Empathie so schwach ist, es auch im Herzen der unendlichen Seins so etwas wie eine Übersättigung oder ein Gefüh f l des Überflusses geben müsse. Es ist nicht so, als gäbe es einen begrenzten Raum, in dem die Einwohner Platz machen oder enger zusammenrücken müssten, um neue Bewohner aufnehmen zu können. Jeder neue Geist bringt seine eigene Ausgabe des Universums und des bewohnbaren Raumes mit, und diese Räume geraten einander nie in die Quere – der Raum meiner Phantasie beeinträchtigt z. B. in keiner Weise Ihre Räume. Die Anzahl der möglichen Bewusstseine scheint durch kein Gesetz, analog etwa zum Gesetz der Erhaltung von Energie, das in der materiellen Welt gilt, geregelt zu werden. Wenn ein Mensch aufwa f cht oder neu geboren wird, muss deshalb kein anderer schlafen gehen oder sterben, um so das Bewusstsein des Universums in einer konstanten Größe zu halten. Wilhelm Wundt hat in seinem System der Philosoph o ie ein Gesetz des Universums aufge f stellt, welches er das Gesetz der Steigerung der geistigen Energie nennt und das er ausdrücklich dem Gesetz der Energieerhaltung in der physikalischen Welt entge16 gensetzt. Es scheint keine formale Grenze des Wachstums von geistigen Entitäten zu geben. Und da geistige Wesen überall dort, wo sie auftret f en, sich selbst beja e hen, wachsen und nach Fortdauer verlangen, können wir mit gutem Recht sagen, dass, unabhängig von den Beschränkungen unserer eigenen Empathiefähigkeit, die Anzahl individuellen Lebens im Universum, wie unermesslich sie auch sei, nie die Nachfrag f e übersteigen kann. Die Nachfrage nach diesem Angebot ist da, sobald das Angebot ins Leben tritt, denn die Wesen, die angeboten werden, fordern ihre eigene Fortexistenz. Wie Sie sehen, spreche ich aus der Sicht aller anderen individuellen Wesen, die sich ihrer Existenz innerlich bewusst sind und sie genießen. Wenn wir Pantheisten sind, können wir an dieser Stelle aufhören. Wir brauchen also nur zu sagen, dass der ewige Geist des Universums durch sie wie durch so viele andere Kanäle seines Ausdrucks sein eigenes unendliches Leben verwirklicht. Aber wenn wir Theisten sind, können wir noch weiter gehen, ohne dabei das Ergebnis zu verändern. Wir können dann sagen, dass Gott eine solche unerschöpfliche Fähigkeit zur Liebe hat, dass sein Verantwortungsgefühl und sein Interesse für eine buchstäblich endlose Anzahl von Lebewesen ausreichen. Er wird angesichts der ständigen Ausweitung der Zahl niemals schwach und müde und auch wir sollten dies nicht werden. Sein Maßstab ist bei allen Angelegenheiten ein unendlicher. Seine Zuneigung wird nie ein Stadium der Sättigung oder gar des Überdrusses erreichen.
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Ich hoffe f nun, dass Sie mit mir darin übereinstimmen, dass die vermeintliche Schwierigkeit eines überbevölkerten Himmels auf einer rein subjek b tiven und illusorischen Vorstellung beruht. Sie ist ein Zeichen menschlicher Unfähi f gkeit, ein Überbleibsel einer alten engherzig-aristokratischen Einstellung. „Revere the 17 Maker, lift f thine eye up to his style and manners of the sky“ und Sie werden glauben, dass dies tatsächlich ein demokrat k isches Universum ist, in dem Ihre armseligen Ausgrenzungsgesten keine Rolle mehr spielen. War Ihr persönlicher Geschmack beim Bevölkern dieser Erde gefragt? Wieso sollte er also gefragt sein, wenn es darum geht, die große Stadt Gottes zu bevölkern? Lassen Sie uns wie Hiob die Hand auf unseren Mund legen und dankbar sein, dass wir in unserer persönlichen Beschränktheit überhaupt existieren. Ein Gott, der uns aushält, kann sicher auch noch viele andere seltsame, wunderbare und vielleicht nur halb so schöne Wesen aushalten. Ich für meinen Teil bin dann konsequenterweise gewillt, dass jedes Blatt, welches je in den Wäldern dieser Welt wuchs und im Wind rauschte, unsterbl r ich werden soll. Es ist lediglich eine Frage der Tatsache: Existieren die Blätte t r so oder nicht? Die abstra t kte Quantität wie die abstrakt t e Nutzlosigkeit einer solchen Vervielfäl f tigung der Dinge, die sich vielleicht aus unserer Perspektive ergibt, stehen in keinem Zusammenhang mit dem Thema. Denn Größe, Anzahl und allgemeine Ähnlichkeit sind einfac f h nur Gewohnheiten unserer beschränkten Denkungs k art. An sich selbst betra t chtet und getrennt von unserer Vorstellungskraf k ft, ist ein Maßstab der Zahlen und Dimensionen zur Beurteilung des Universums nicht weniger wunderbar oder denkbar als ein anderer, zumindest sobald Sie dem Universum die Freiheit zugestehen, überha r upt da zu sein, anstatt t eines Nichtseins, das möglicherweise an seiner Stelle hätte herrs r chen können. Das Herz allen Seins kann keine Exklusionen der Art zulassen, die wir mit unserem armen kleinen Verstand vornehmen. Die innere Bedeutung aller anderen Lebewesen übertrifft f alle unsere Kräfte zur Sympathie und Einsicht. Wenn wir unserem eigenen Leben eine Bedeutung zumessen, die uns spontan dazu führt, seine ewige Dauer zu fordern, dann sollten wir zumindest auch tolerant gegenüber den Forderungen anderer sein, wie viele auch immer es sind und wie wenig willkommen sie uns auch immer erscheinen mögen. Lassen Sie uns wenigstens nicht negativ in Bezug auf unsere eigenen Ansprüche entscheiden, deren Gründe wir direkt spüren, denn über die Forderungen der anderen, deren Gründe wir nicht nachvollziehen können, können wir insofern auch nicht angemessen entscheiden. Ansonsten würde die Blindheit das Gesetz des Sehens festlegen.
Anmerkungen
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6. Anmerkungen 1. Ist das Leben lebenswert? *
Aus: The Will W to Believe and Othe t r Essay E s in Popular Philosophy • H Human Immortal t ity two suppo p sed objections to the doctrine, New York 1956, S. 32–62. 1 Vortrag vor der Harva r rd Young Men’s Christian Association. Veröffe f ntlicht im International Journal of Ethi t cs, Oktober 1895, als Taschenbuch bei S. B. Weston, Philadelphia 1896. 2 Vgl. William Hurrell Mallock, Is life worth t living?, New York 2009 [London 1882]. 3 Im Original: „it depends on the liver“, unübersetzbares Wortspiel, A.d.Ü. 4 William Shakespeare, Heinrich VIII I , Prolog, in: ders., Sämtliche W Werke in vier Bänden, hg. v. Anselm Schlösser, übers. v. August Wilhelm Schlegel et al., Band 3, Berlin 1975, S. 911. 5 Walt Whitman, „Song at Sunset”, in: ders., Leaves of o Grass (1891–1892), in: Complete poetry and collected prose, hg. v. Justin Kaplan, New York 1982, S. 375 f. 6 Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnis t se, übers. v. Ernst Hardt, Frankfurt a. M. 1985, S. 326 f. 7 James Thomson, Nachtstadt t und andere lichtscheue Schriften i , übers. v. Ulrich Horstmann, Zürich 1992, S. 170–172. 8 Deutsch im Original, A.d.Ü. 9 Deutsch im Original, A.d.Ü. 10 James Thomson, Nachtstadt t und andere lichtscheue Schrifte f n, a.a.O., S. 159 f. 11 James Thomson, Nachtstadt t und andere lichtscheue Schriften i , a.a.O., S. 169 (hier in eigener Übersetzung, A.d.Ü.) 12 Zitiert nach George E. Waring in seinem Buch über Tirol. Vgl. auch A. Bérnard, Les Vaudois, Lyon 1892. 13 Deutsch im Original, A.d.Ü. 14 Im Original: „it does depend on you, the liver“, vgl. Anmerkung 2XXX, A.d.Ü. 15 William Wordsworth, „The Excursion“, Book IV, in: ders., Complete Poetical Works r , London 1888, S. 202–204. 16 Deutsch im Original, A.d.Ü. 17 Gemeint ist der Neurologe Moriz Benedikt (1835–1920). Vgl. Oliver Somburg, Holger Steinberg, „Der Begriff des Seelen-Binnenlebens von Moriz Benedikt“, in: Schriften f reihe der Deutsc t hen Gesellschaft für Geschichte der Nervenh r eilkunde 12, 2006, S. 231–240, A.d.Ü.
2. Was gibt einem Leben Sinn? *Aus: Talks to Teachers, repr. in: The Writings of William James, ed. by J. J. McDermott, Chicago und London 1977, S. 645–660.
Anmerkungen
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i (Anm. d. Hrsg.) In dem erwähnten Vortrag geht es James darum, dass Menschen im Alltag meistens unfäh f ig sind, die Sinngebungen und Wertschätzungen anderer Menschen zu verstehen oder nachzuvollziehen. Wir sind, so James, sinnblind gegenüber dem, was ein anderer für wertvoll oder ideal erachtet, weil dies von dem für uns unzugänglichen Gefühlen der Anderen abhängt. James’ Aufsatz liefer f t aber auch die Widerlegung seiner These: James zeigt anhand von Beispielen aus seiner Erfahrung und aus der Literatur sowohl die Blindheit gegenüber den Werten und Sinngebungen anderer Menschen als auch wie er selbst und andere diese Blindheit durch weitere Erfahrung und Reflexion überwinden konnten. Doch hier sei, zur Inform f ation des interessierten Lesers, James’ These der Sinnund Wertblindheit zitiert, die den Aufsatz einleitet: „Unsere Urteile über den Wert der Dinge, ob groß oder klein, hängen von den Gefü e hlen (feelings) ab, welche die Dinge in uns erregen. Wo wir ein Ding in Folge der Idee, die wir von ihm haben, als wertvoll beurteilen, ist diese Idee selbst bereits mit einem Gefühl verknüpft. Wenn wir gänzlich gefühllos wären, und wenn Ideen die einzigen Dinge wären, mit denen sich unser Geiste beschäftigen würde, so würden wir sofor f t alle Zuund Abneigungen verlieren und unfähig sein, eine Situation oder Erfahrung des Lebens als wertvoller oder sinnvoller als irgendeine andere herauszuheben. Die Blindheit der Menschen, mit der sich dieser Vortrag beschäftigt, ist die Blindheit mit der wir alle gegenüber den Gefühlen von Geschöpfen und Menschen geschlagen sind, die verschieden von uns sind. Wir sind praktische Wesen und jeder von uns kann nur eingeschränkte Aufgaben und Pflich f ten ausüben. Jeder neigt dazu, die Bedeutung seiner eigenen Pflichten und den Sinn der Situationen zu fühle f n, die daraus entstehen. Aber dieses Gefühl f ist in jedem von uns das Lebensgeheimnis, wofür wir uns ein Verständnis der anderen vergeblich erhoffen. f Die anderen werden zu sehr von ihrem eigenen Lebensgeheimnis beherrscht, um sich für das unsere zu interessieren.“ (übersetzt von H. Pape nach: The Writings of William James, hg. von J. McDermott, Chicago und London 1977, S. 629)
ii Im Original deutsch, A.d.Ü. iii Diese Rede wurde vor den Kriegen auf Kuba und den Philippinen geschrieben. Solche Ausbrüche von Herrschsucht und Imperialismus sind allerdings nur Episoden in einem sozialen Prozess, der langfri f stig gesehen überall in Richtung auf die Chatauqua-Ideale tendiert. iv Leo N. Tolstoi, Meine Beichte, übers. v. Raphael Löwenfeld, f Düsseldorf und Köln 1978, S. 92–94 (Übersetzung modifiziert, A.d.Ü.). v Robert Louis Stevenson, „Pulvis et Umbra“, in: ders., Across the t Plains, London 1905. vi Walter A. Wyckoff, f The Work W ers. r An Experiment in Reality, New York 1898. vii Phillips Brooks, Sermons, 5th Series, New York 1893, S. 166 f. viii Fitz-James Stephen, Essays by a Barrister, London 1862, S. 318.
3. Der Ethiker und das sittliche Leben *
Aus: The W Will to Believe and other essays in popular philosophy • Hum H an Immortal t ity t two suppo p sed objections to the doctrine, New York 1956, S. 184–215. 1 Vortrag vor dem Yale Philosophical Club, erschienen im International Journal oof Ethics, April 1891.
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Ein seit 1732 von Benjamin Franklin herausgegebenes Jahrbuch, das populärphilosophische Maximen mit Tipps zur alltäglichen Lebensführung vereinigt, A.d.Ü. 3 The Principl i es of Psychology, New York 1890. 4 Kasuistik ist die Lehre von der Lösung ethischer Fragen von Fall zu Fall, A.d.Ü. 5 Deutsch im Original, A.d.Ü. 6 Vgl. Thomas Hill Green, Prolegomena to Ethics, ed. by A. C. Bradley, Oxford 1884. 7 Dies alles wird mit großem Elan dargelegt im Werk meines Kollegen Josiah Royce, The Religious Aspe s ct of Philosophy, Boston 1885.
4. Der Wille *
Aus: Principles o of Psychology, Volu V me II, I New York 1950, S. 486–584, gekürzt. Teile dieses Kapitels sind bereits 1880 in einem Aufsatz unter dem Titel „The Feeling of Effort“ in den Anniversary Memoirs of the Boston Society of Natural r History erschienen, andere Teile im Scribner’s Mag M azine, Februar 1888. (Anm. d. Hrsg.) Dies ist eine gekürzte Übersetzung des Kapitels XXVI „Will“ aus dem zweiten Band der Principles of Psychology. Die Kürzungen sind jeweils durch eine Anmerkung des Herausgebers markiert. Die Übersetzung und Edition folgt der Ausgabe des Verlags Dover Publications, New York, von 1950, die unverändert die Originalausgabe von 1890 des Verlags Henry Holt & Co., New York, wiedergibt. Diese Ausgabe ist auch heute (2010) immer noch im Buchhandel erhältlich. 3 Aus Gründen der Vereinfachung sehe ich hier von Fällen des Lernens durch Nachahmung ab. 4 Deutsches t Archiv für f Klinische Medizin M , XXII, S. 321. 5 Landry de Thézillat, „Mémoire sur la Paralysie du Sens Musculaire“, in: Gazette des Hôpi ô taux, 1855, S. 270. 6 Takacs: „Über die Verspätung der Empfindungsleitung“, in: Archiv für Psychatrie, Band X, Heft 2, S. 533. 7 Proceedings of the American Society t for Psychical Research, S. 95. 8 In Wirklichkeit kann die Bewegung in einigen Fällen ohne den kinästhetischen Eindruck noch nicht einmal richtig begonnen werden. So berichtet Strümpell, wie das Umdrehen der Hand den Knaben bei geschlossenen Augen dazu brachte, den kleinen Finger anstatt des Zeigefingers zu beugen. 1
„Wenn er z. B. dazu aufge f fordert wurde, mit dem linken Arm nach links zu zeigen, hob er den Arm in der Regel gerade nach vorn, um dann unsicher in verschiedene Richtungen zu tasten, dabei manchmal die richtige Position zu ffinden und sie gleich wieder zu verlieren. Ähnlich ist es mit den Beinen. Wenn der Patient im Bett lag und unmittelbar nach dem Schließen seiner Augen das linke Bein über das rechte legen sollte, kam es öfters vor, dass er es zu weit nach links herüberzog und dass es in einer offe f nsichtlich unerträglich unbequemen Lage über die Bettkante hinausragte. Auch das Drehen des Kopfes, von rechts nach links oder zu bestimmten Objek b ten hin, deren Positionen dem Patienten bekannt waren, erfolgt f e nur dann richtig, wenn sich der Patient unmittelbar vor dem Schließen der Augen vergegenwärtige, welche Bewegung gefordert ist.“
Bei einem anderen anästhetischen Patienten, den Strümpell im gleichen Aufsatz beschrieben hat, konnte der Arm vor dem Öffnen der Augen überhaupt nicht bewegt werden, wie
Anmerkungen
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energisch auch immer der Wille war. Die Variationsbreite ist in diesen hysterischen Fällen sehr groß. Manche Patienten können die gelähmten Gliedmaßen mit geschlossenen Augen überhaupt u nicht bewegen. Andere bewegen sie vollkommen und können mit einer anästhesierten Hand sogar kontinuierlich Sätze schreiben. Die Ursachen für diese Unterschiede sind noch nicht vollständig erforscht. M. Binet (Revue philosophique, XXV, S. 478) vermutet, dass diejenigen, die die Hand überhaupt nicht bewegen können, die Empfindung von Licht als eines „dynamogenetischen“ Agens benötigen und dass bei denen, die sie geschickt bewegen können, die vermeintliche Anästhesie in Wirklichkeit nur eine PseudoUnempfindlichkeit ist und dass das Glied in Wirklichkeit durch ein dissoziiertes oder sekundäres Bewusstsein gesteuert wird. Diese zweite Erklärung ist sicherlich richtig. Georg Elias Müller (Pflügers Archiv: European Journal of Physiology, XLV, S. 90) beruft sich auf die Tatsache individueller Unterschiede in der Phantasie um die Fälle, in denen Patienten überhaupt nicht schreiben können, zu erklären. Ihre kinästhetischen Bilder, wie man sie am besten nennen könnte, sind, so sagt er, schwach, und ihre optischen Bilder nicht ausreichend stark genug, um die kinästhetischen Bilder erfolgreich ergänzen zu können. Janets Beobachtung, dass hysterische Anästhesien Amnesien mit sich führen können, unterstützt Müllers Ansicht. Wir benötigen jetzt eine genaue Untersuchung der einzelnen Fälle. Inzwischen bieten Binets oben erwähnter Artikel sowie H. Charlton Bastians Aufsatz in Brain r , April 1887, wichtige Diskussionen zu dieser Frage. An späterer Stelle werde ich auf dieses Thema erneut zurückkommen. 9 Henri Beaunis hat festgestellt, dass die Genauigkeit, mit der ein bestimmter Tenor sang, nicht nachließ, wenn seine Stimmbänder mit Kokain betäubt wurden. Er kommt zu dem Schluss, dass die Leitempfindungen ihren Sitz hier in den Kehlkopfmuskeln haben. Viel wahrscheinlicher wäre allerdings ein Sitz im Ohr (Beaunis, Les Sensations Internes, Paris 1889, S. 253). 10 In Mt 23, 24 wirft Jesu den Schriftgelehrten und Pharisäern vor: „Ihr verblendeten Leiter, die ihr Mücken seihet und Kamele verschluckt!“ (A.d.Ü.) 11 Wie zum Beispiel das Empfinden von Wärme die letzte psychische Vorstufe des Schwitzens bildet und die Empfindung von Licht dieje e nige der Verengung der Pupille, wie der Anblick oder Geruch von Aas den Äußerungen des Ekels vorausgeht und die Erinnerung an einen Fehler dem Erröten, so bildet auch die Vorstellung der sinnlich wahrnehmbaren Folgen der Bewegung die Vorstufe f der Bewegung selbst. Zwar lässt uns gewöhnlich weder die Vorstellung des Schwitzens schwitzen, noch die des Errötens erröten. Aber in bestimmten Zuständen der Übelkeit kann uns die bloße Vorstellung des Erbrechens erbrechen lassen. Und eine Art von Folgeverhältnis, das in diesem Falle nur als Ausnahme vorliegt, könnte bei den willkürlich steuerbaren Muskeln die Regel sei. Hier hängt alles von den Nervenverbindungen zwischen den Vorstellungszentren und den impulsgebenden Zentren ab. Diese Verbindungen können sich, je nachdem, welche Zentren involviert sind und auch je nach Individuum, unterscheiden. Viele Personen erröten nicht beim Gedanken an ihre Fehltritte, sondern nur, wenn sie gerade tatsächlich einen Fehltritt begehen. Andere erröten beim bloßen Gedanken und wieder andere erröten überhaupt nie. Nach Rudolf Herrmann Lotze ist es einigen Personen „möglich, willentlich zu weinen, indem sie versuchen, sich an das spezifisch f e Gefühl f im Trigeminus-Nerv zu erinnern, das gewöhnlich den Tränen vorausgeht. Einige können sogar durch die lebhafte f Erinnerung an die charakteristischen Hautempfindungen willentlich ins Schwitzen geraten“ (Med. Psych., S. 303).
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Der gewöhnlichere Typ eines außergewöhnlichen Falls ist der, in der die Vorstellung des Reizes und nicht der der Folgen die Wirkung hervorruft. So lesen wir von Personen, die ihre Pupillen dadurch willentlich verengen können, dass sie an ein strahlendes Licht denken. Jemand erzählte mir einmal (seltsamerweise kann ich mich nicht erinnern, wer er war, ich habe aber den Eindruck, es war ein Arzt), dass er willentlich schwitzen könne, wenn er sich in eine gefahr f volle Situation hineinimaginiert. Die für Angst charakteristischen feuchten Hände sind manchmal herstellbar, indem man an etwas Schreckliches denkt (vgl. Léonce Manouvrier in Revue philosophique, XXII, S. 203). Einer meiner Studenten, dem die Tränen dadurch in den Augen standen, dass er lange Zeit vor einem hellen Fenster auf einem Zahnarztstuhl saß, kann jetzt weinen, indem er sich wieder an diese Situation erinf ren. nert. Man könnte zweifelsohne eine Vielzahl von eigenwilligen Fällen dieser Art anfüh Sie lehren uns, wie sehr sich die Zentren in ihrer Fähigkeit unterscheiden, über bestimmte Kanäle Impulse zu geben. Um die Unterschiede zwischen den psychischen Vorgeschichten der willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen zu verstehen, müssen wir nur sehen, dass Zentren, die in der Lage sind, Vorstellungen der sinnlichen Wirkungen von Bewegungen zu erzeugen, zwar willkürliche Bewegungen einleiten können, aber, außer in wenigen Einzelfällen, keine unwillkürlichen. Der berühmte Fall des Oberst Townsend, der seinen Herzschlag unterbrechen konnte, ist bekannt. Vgl. zu diesem Punkt Daniel Hack Tuke, Illustrations oof the Influ n ence of the Mind on the Body, London 1884, XIV, § 3, sowie James Braid, Observations on Trance r or Human H Hybernation, London und Edinburgh 1850. Der jüngste Fall einer willkürlichen Kontrolle des Herzens wird von S. A. Pease, im Boston Medical and Surgi r cal Journa r l, 30. Mai 1889, gemeldet. 12 Emil Harleß nimmt in einem Artikel vieles von dem vorweg, was ich zu sagen habe, indem er diese Vorstellungen mit dem bequemen Wort „Effektsbilder“ bezeichnet („Der Z chrift i für Philosophie, Band 38, S. 1861). Apparat des Willens“, in: Fichtes Zeits 13 Das beste moderne Statement, das ich kenne stammt von Sigismond Jaccoud, Des Paraplégies et de Ataxi t e du Mouv M ement, Paris 1864, S. 591. 14 Leidesdorf und Meynerts Vierteljsch. f. Psychiatrie, Band I, Heft I, 1867, S. 36 f.; Physiologische Psychologie, 1. Aufl., S. 316. 15 Alfred Fouillée, der sie in der Revue philosophique, XXVIII, S. 561 ff., verteidigt, räumt auch ein (S. 574), dass sie bei jeder Bewegung gleich sind und dass alle unsere Versuche zu unterscheiden, welche Bewegung wir innervieren, afferent sind und aus Empfindungen, die der Handlung vorausgehen, sowie aus solchen, die der Handlung folgen, bestehen. 16 Paul Soriau in Revue philosophique, XXII. S. 454. – Georg Elias Müller beschreibt einige seiner Experimente mit Gewichten wie ffolgt: Wenn der Patient, nachdem er mehrmals ein Gewicht von 3000 Gramm angehoben hat, plötzlich ein Gewicht von 500 Gramm zu heben bekommt, „wird dieses Gewicht mit einer solchen, jeden Beobachter erstaunenden Geschwindigkeit angehoben, dass die Gewichte aus dem sie enthaltenden Gefäß hinausfliegen und es so ist, als ob der Arm vom Gewicht mit ffortgerissen würde; die Energie, mit der das Gewicht gehoben wird, ist manchmal so völlig unverhältnismäßig, dass der Inhalt sogar trotz mechanischer Hindernisse aus dem Gefäß geschleudert wird. Ein greifbarer Beweis dafür f , dass das Problem hier in einer falschen Anpassung des Bewegungsimpulses besteht, kann nicht gegeben werden.“ Pflü f gers Archiv, XLV, S. 47. Vgl. auch S. 57, und das Zitat von Heinrich Ewald Hering auf der gleichen Seite.
Anmerkungen
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Archiv für Psychiatrie, III, 618–635. Bernhardt scheint seltsamerweise zu glauben, dass seine Experimente nicht die Existenz efferenter Innervationen widerlegen, sondern die Existenz affere f nter Muskelempfindungen – offen f bar deshalb, weil er der Ansicht ist, dass der besondere Reiz des elektrischen Signals alle anderen afferen f ten Empfindu f ngen im entsprechenden Körperteil überwiegt. Aber es ist viel naheliegender, diese Ergebnisse genau andersherum zu interpretieren, ganz abgesehen von der Gewissheit der Existenz passiver muskulärer Empfindungen, die uns hier durch andere Beweismittel geliefert wird. Diese anderen Beweismittel sind, nachdem sie von Julius Sachs in Reichert und in Du Bois’ Archiv, 1874, S. 174–188, zusammengefasst wurden, soweit es die anatomischen und physiologischen Grundlagen betrifft f , erneut durch Mays in Zweifel f gezogen worden; vgl. Zeitschrift i f. Biologie, Bd. XX. 18 Functions of the Brain r , S. 228. 19 Wilhelm Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Thie T rseele. Zweite, umgearbeitete Auflage, Hamburg und Leipzig 1892, S. 144 f. 20 In einigen Fällen bekommen wir ein gegenteiliges Ergebnis. H. Charlton Bastian (BriM cal Journal, 1869, S. 461, Anm.), schreibt: tish Medi „Fragen Sie einen Mann, dessen untere Extremitäten vollständig gelähmt sind, ob er sich, wenn er vergeblich versucht, eines seiner Beine zu bewegen, eines Aufwa f nd von Energie bewusst ist, der in irgendeinem Verhältnis zu dem Aufwand steht, den er erlebt hatte, als seine Muskeln ganz normal auf seinen Willen reagierten. Er wird Ihnen antworten, dass er eher seine völlige Ohnmacht empfin f det und dass seine Willensanstrengung ein rein geistiger Akt sei, der mit keinem Gefühl der aufgew f endeten Energie einhergeht, wie er es gewöhnlich empfindet, wenn seine Muskeln tätig sind; ich denke, dass er allein von dieser Muskeltätigkeit und ihren Folgen eine angemessene Vorstellung von Widerstand ableiten kann.“ 21
(Anm. d. Hrsg.) Die Seiten 503 bis 516 sind in der Übersetzung ausgelassen. James diskutiert hier, belegt mit umfänglichen Zitaten, detailliert zeitgenössische Literatur zur vollständigen und partiellen Lähmung verschiedener Körperzonen und Organe. 22 Maine de Biran, Roger Collard, John Herschel, William B. Carpenter und James Martineau scheinen alle einen Sinn für die aufzubringende Kraft zu fordern, durch den wir insofern f von der Existenz der Außenwelt überzeugt werden, so dass wir uns vermittelt über ihn des Widerstands bewusst werden, den die Welt unserem Willen entgegensetzt. Ich glaube, dass uns alle peripheren Sinneseindrücke eine äußere Welt verbürgen. Ein Insekt, das über unsere Haut krabbelt, gibt uns einen genauso nachhaltigen Eindruck einer Realität wie ein Gewicht von fünfzig Kilo auf unserem Rücken. – Ich habe Alexis Bertrands Kritik meiner Ansichten gelesen (La Psychologie de l’Effort, Paris 1889). Aber da er zu glauben scheint, dass ich das Gefü e hl der Anstrengung überhaupt leugne, kann ich mit seiner teilweise sehr charmant vorgetragenen Kritik nicht viel anfange f n. 23 Bowditch und Southard im Journal of Phys h iology, Vol. III, Nr. 3. Bei diesen Experimenten kam heraus, dass eine maximale Genauigkeit erreicht wurde, wenn zwischen dem Auffinden des Objekts mit dem Auge oder der Hand und dem Versuch, es zu berühren, zwei Sekunden verstreichen. Wenn das Ziel mit der einen Hand lokalisiert und mit der anderen Hand berührt werden musste, war der Fehlerkoeffizient wesentlich größer, als wenn die gleiche Hand das Ziel lokalisieren und berühren sollte. 24 Die gleiche Vorsicht ist bei der Erörterung pathologischer Fälle gefordert. Es gibt bemerkenswerte Unterschiede in den Wirkungen der peripheren Anästhesie auf die willentli-
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che Kraft. Solche Fälle, wie ich sie im Text erwähne, sind keineswegs die einzigen. In diesen Fällen konnten die Patienten ihre Gliedmaßen präzise bewegen, wenn die Augen geöffnet waren, und ungenau, wenn sie geschlossen wurden. In anderen Fällen aber können die anästhetischen Patienten mit geschlossenen Augen ihre Glieder überhaupt nicht bewegen (Berichte von zwei solcher Fälle liefer f n Bastian in Brain r sowie Binet in Revue philosophique, XXV, S. 478). Binet erklärt diese hysterischen Fälle so, dass sie einen „dynamogenetischen“ Lichtreiz benötigen. Sie könnten jedoch auch Fälle derartiger angeborener Defekte der optischen Einbildungskraft f sein, dass das geistige Einsatzsignal bei ihnen normalerweise ein „taktiles“ ist; und dass, wenn dieses taktile Einsatzsignal aufgr f und einer funktionellen Trägheit der kinästhetischen Zentren scheitert, das einzige optische Einsatzsignal, das stark genug ist, um die Entladung auszulösen, eine wirkliche Sinnesreizung des Auges sein muss. – Es gibt noch eine dritte Gruppe von Fällen, in denen die Gliedmaßen jedes Empfinden verloren haben, sogar für die passiv vollzogenen Bewegungen, bei denen jedoch die willkürlichen Bewegungen korrekt durchgeführt werden, auch wenn die Augen geschlossen sind. Binet und Féré haben von einigen dieser interessanten Fälle berichtet, die unter den hysterischen Hemianästhesierten gefunden werden. Sie können zum Beispiel korrekt und willentlich schreiben, obwohl ihre Augen geschlossen sind und sie kein Gefühl für das Schreiben haben bzw. nicht wissen, wann der Schreibprozess beginnt und wann er aufhört. Wenn sie aufgefordert werden, wiederholt den Buchstaben A zu schreiben und man ihnen dann noch mitteilt, wie oft sie diesen Buchstaben schreiben sollen, sind einige in der Lage, die Zahl einzuhalten und andere nicht. Einige von ihnen geben an, dass sie durch visuelle Vorstellungen zu dem geführt werden, was zu tun ist. Vgl. Archives de Physiologie, Oktober 1887, S. 363–365. Nun scheint es auf den ersten Blick, dass in diesen Fällen Gefühle der ausgehenden Innervation existieren und berücksichtigt werden müssen. Es gibt keine anderen orientierenden Eindrücke, weder sofort f noch langfristig, denen sich der Patient bewusst wäre; und so lange Gefühle der Innervation bestehen, erschiene das Schreiben wie ein Wunder. Aber wenn diese Gefühle in diesen Fällen vorhanden sind und ausreichen, um genau die richtige Folge von Bewegungen zu veranlassen, warum reichen sie dann nicht in den anderen Fällen der Anästhesie aus, in denen die Bewegung unordentlich wird, wenn die Augen geschlossen sind? Es gibt hier Innervation, denn sonst gäbe es keine Bewegung; warum ist dann aber das Gefü e hl der Innervation verloren gegangen? Die Wahrheit scheint, wie Binet annimmt (Revue philosophique, XXIII, S. 479), darin zu liegen, dass diese Fälle keine Argumente ffür das Gefühl der Innervation liefer f n. Sie sind pathologische Kuriositäten, und die Patienten sind nicht wirklich anästhetisch, sondern Opfer einer merkwürdigen Spaltung oder Abspaltung eines Teils ihres Bewusstseins vom Rest, die wir gerade dank der Arbeiten von Janet, Binet und Gurney zu verstehen beginnen, und in denen der abgespaltene Teil (in diesem Fall die kinästhetischen Empfindungen) nach wie vor die üblichen Effekte f zeitigt. 25 Medicinische Psychologie, Leipzig 1852, S. 293. In seinem bewundernswert genauen Kapitel über den Willen hat dieser Autor am deutlichsten den Standpunkt vertreten, dass das, was wir Muskelarbeit nennen, ein afferen f tes und kein efferen f tes Gefühl sei: „Wir müssen allgemein bestätigen, dass wir in der Muskelempfindung nicht die Kraft f empfinden, die im Begriff f steht, etwas zu bewirken, sondern nur das Erleiden der Wirkungen dieser Kraft in unseren beweglichen Organen, nachdem die Muskeln ihre Kraft in einer Weise, die wir nicht beobachten können, auf diese Organe ausgeübt haben“ (S. 311).
Anmerkungen
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Wie oft f die Schlachten der Psychologie erneut geschlagen werden, jedes Mal mit größeren Armeen, wenn auch nicht immer mit so fähigen Generälen! 26 Féré, Sensation et Movement M , Paris 1887, Kapitel III. 27 Alexander Bain (Senses and Int I ellect, New York 1855, S. 336–348) und W. B. Carpenter (Mental Physiology, London 1875, Kap. VI.) geben Beispiele in Hülle und Fülle. 28 Für die umfassende Darstellung eines Experten des „Gedankenlesens“ vgl. Stuart Cumberland, A T Thought-reader’s E Experiences in the Nineteenth N century r , XX, London 1888, S. 867. Eugène Gley liefer f t ein gutes Beispiel für ideomotorische Handlungen in den Bulletins de la Société de Psychologie physiologique, 1889. Wenn wir einen Probanden auffo f rdern, er solle intensiv an einen bestimmten Namen denken, und ihm sagen, wir würden nun von ihm verlangen, diesen Namen aufzuschreiben, ihm dann einen Stift in die Hand geben und seine Hand selbst mit unserer eigenen umfass f en, dann wird er wahrscheinlich unwillkürlich den Namen schreiben und dabei glauben, dass wir ihn dazu gezwungen haben. 29 Ich sehe hier von der Tatsache ab, dass eine gewisse Intensität des Bewusstseins notwendig ist dafür, damit es wirksame Impulse geben kann. Wie in allen anderen natürlichen Phänomenen treffen f wir auch in den motorischen Prozessen eine gewisse Trägheit an. In bestimmten Personen und zu bestimmten Zeiten (Krankheit, Müdigkeit) ist diese Trägheit ungewöhnlich groß, und wir können dann Vorstellungen von Handlungen haben, die keine sichtbaren Akte produzieren, sondern sich nur in erste Dispositionen zur Tätigkeit oder in emotionalen Ausdruck entladen. Die Trägheit der Bewegungszentren spielt hier die gleiche Rolle, die in anderen Fällen von antagonistischen Gedanken gespielt wird. Wir werden diese einschränkende Trägheit später behandeln. Sie widerstreitet dem im Text fformulierten Gesetz offenbar nicht wesentlich. 30 Ich verwende hier aus bloßer Bequemlichkeit die gebräuchliche Ausdrucksweise. Der Leser, der mit Kapitel IX („The Stream of Thought“) vertraut ist, wird verstehen, dass, wenn er von vielen Vorstellungen hört, die gleichzeitig im Geist vorhanden sind und aufeinander einwirken, damit ein Geist mit einer Vorstellung vieler, teilweise harmonisch und teilweise antagonistisch miteinander verbundener Gegenstände, Zwecke, Gründe und Motive gemeint ist. Mit dieser gebotenen Vorsicht werde ich nicht zögern, von Zeit zu Zeit in die allgemein akzeptierte Locke’sche Redeweise zu verfallen, obwohl ich denke, dass sie strenggenommen falsch ist. 31 Meine Aufme f rksamkeit wurde zum ersten durch meinen Kollegen Charles Carroll Everett auf diese Klasse von Entscheidungen gelenkt. 32 In einem ausgezeichneten Artikel über die „Mental Qualities of an Athlete“ in der Harvard r Monthlly, Vol. VI, S. 43, räumt Albertus T. Dudley den ersten Platz dem sehr impulsiven Temperament ein. „Frag ihn, wie er in einem komplexen Trick eine bestimmte Teilhandlung durchführt, warum er etwa in einem bestimmten Augenblick gezogen oder geschoben hat, und er wird Dir sagen, er wisse es nicht, er tat es aus Instinkt, oder vielmehr seine Nerven und Muskeln taten es von selbst. [...] Dies ist das Kennzeichen der guten Spieler: Im Vertrauen auf ihr Training und ihre Praxis setzen die guten Spieler in einer kritischen Partie ganz auf ihre Impulse und durchdenken nicht erst jede Bewegung. Die schwächeren Spieler können nicht auf ihre impulsiven Handlungen vertrauen und sind gezwungen, die ganze Zeit zu überlegen. Sie verpassen also auf Grund ihrer Langsamkeit, die sich aus dem Versuch ergibt, die ganze Situation zu begreifen, nicht nur ständig günstige
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William James: Die Texte Gelegenheiten, sondern entscheiden sich durch den Zwang zu denken an kritischen Punkten immer wieder falsch; während der erstklassige Spieler versucht, nicht nachzudenken, sondern der Eingebung des Augenblicks zu fol f gen, und so bei größerem Druck umso besser spielt.“
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(Anm. d. Hrsg.) Die folgenden Seiten 539–545 auf denen James ausführlich Beispiele für die Aussetzung oder Einschränkung des Willens aus der zeitgenössischen Literatur zitiert, wurden ausgelassen. 34 „ Ich sehe das Bessere und heiße es gut, dem Schlechteren folge ich.“ (Ovid, Metamorphosen, 7, 20, A.d.Ü.) 35 Zitiert nach Ribot, a.a.O., S. 39. 36 (A.d.Ü.) „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung f fahren!“ Dante, Die göttliche Komödie, V, 1, S. 121. 37 Die Dummheit der altmodischen Lust-Philosophie sticht in die Augen. Nehmen Sie zum Beispiel Bains Erklärung der Geselligkeit und elterlichen Liebe durch die Freuden der Berührung: „Der Berührungssinn ist der grundlegendste und allgemeinste Sinn. [...] Auch wenn sich die anderen Sinne ausdifferen f ziert haben, bleibt dieser primäre Sinn nach wie vor eine der bedeutendsten Fähigkeiten des Geistes. Die weiche warme Berührung ist, wenn nicht von größtem Einfluss überhaupt, so zumindest nahe daran. Die geballte Macht von weichen Berührungen und Wärme gibt uns ein außerordentliches Vergnügen. Hinzukommen können noch subtile Einflü f sse magnetischer oder elektrischer Art, die nicht auf diese beiden Größen reduziert werden können, über die wir allerdings noch nichts wissen. Die des Vergnügens, die wir empfin f den, wenn wir ein Baby in den Armen halten, geht über das bloße Wärmeempfinden hinaus, und es kann bis zu ekstatischen Höhen steigen, wobei in diesem sicher auch noch andere Empfindungen und Ideen mit hinzukommen. [...] In einer zärtlichen, nicht sexuell aufgelad f enen Stimmung liegt nichts als das Bedürfnis, f den Tastsinn zu befriedigen, es sei denn, wir postulieren noch irgendwelche okkulten magnetischen Einflüsse. [...] Mit einem Wort, unsere Liebesfreuden beginnen in einem haptischen Gefühl f . Berührung ist das Alpha und das Omega der Zuneigung. Als die höchste und befriedigendste Empfindung, als das non plus ultra r , liefer f t sie uns die höchste Befried f igung. [...] Warum sollte ein lebhafteres f Gefühl für ein Mitgeschöpf entstehen als zu einem alten Brunnen? [Dieses „sollte“ ist aus moderner, evolutionstheoretischer Sicht einfach köstlich.] Es muss sich so verhalten, dass in der bloßen Gesellschaft anderer empfindenden Kreaturen eine Quelle der Freude liegt, die höher ist als dieje e nige, die daraus resultiert, dass uns andere Menschen bei der Befri f edigung unserer Bedürfnisse nützlich sein können. Um dies zu erklären, kann ich nichts anderes anfüh f ren als das primäre und unabhängige Vergnügen, das auch Tiere an Umarmungen empfin f den.“ [Bain meint hier nicht die sexuellen Umarmungen sondern solche, die aus purer Geselligkeit erfolgen.] „Für dieses Vergnügen ist jedes Geschöpf selbst dann, wenn es nur geschwisterlich ist, bereit, Opfer zu bringen. Ein gewisses Maß an materiellem Vorteil, der einem zuteil wird, ist eine Bedingung dafür, dass die Herzlichkeit einer Umarmung genauso herzlich erwidert wird und sich die primitive Freude vollständig einstellt. In Ermangelung dieser Voraussetzungen kann die Freude des Schenkens [...] kaum verstanden werden. Wir wissen sehr genau, dass Wesen wie wir ohne diese Hilfsmittel in einer sehr dürftigen Stimmung wären. [...] Es scheint mir, dass am Grund [der elterlichen Instinkte] die intensive Freude an der Umarmung des Kindes liegt.
Anmerkungen
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Wenn wir eine solche Freude einmal empfunden haben, verbindet sie sich für uns mit den vorherrschenden Eigenschaften und Aspekten des jungen Menschen und überträgt sich auch auf alle anderen Kinder. Um des Vergnügens willen entdecken die Eltern die Notwendigkeit, den Gegenstand dieses Vergnügens zu ernähren, und kommen dazu, die Sorge um das Kind als Teil ihres Vergnügens zu begreifen“ (Emotion und Will, S. 126 f., 132 f., 140).
Prof. Bain erklärt aber nicht, warum ein Satinkissen, das auf 37° C geheizt wird, das gleiche Vergnügen nicht weit kostengünstiger liefer f n kann als unsere Freunde und Babys. Es mag stimmen, dass vom Kissen nicht jene „okkulten magnetischen Wirkungen“ ausgehen könnten. Die meisten von uns würden sagen, dass weder die Haut ihres Babys noch die Haut ihrer Freundin sie anziehen würde, wenn nicht schon vorab ein Gefühl der Zärtlichkeit vorhanden wäre. Der Jüngling, der sich in Ekstase versetzt fühlt, wenn ihn durch einen Zufall die seidige Hand oder auch nur der Saum des Gewands der Angebeteten berührt, würde sicher ganz anders reagieren, hätte ihn nicht vorher Amors Pfei f l getroffen. Die Liebe schafft f die Ekstase, nicht die Ekstase die Liebe. Und kann für den Rest von uns wirklich gelten, dass alle unsere sozialen Tugenden aus einem Verlangen nach dem sinnlichen Vergnügen hervorgehen, dass sich einstellt, wenn unsere Hand geschüttelt oder auf unseren Rücken geklopft wird? 38 The Emo E tions and the t Will, London 1875, S. 352. Aber auch Bains eigene Beschreibung straft seine Formel Lügen, denn die Vorstellung erscheint hier als „bewegende“ und die Freude als „richtunggebende“ Kraft. 39 A.a.O., S. 398. 40 A.a.O., S. 354. 41 A.a.O., S. 355. 42 A.a.O., S. 390. 43 A.a.O., S. 295 f. 44 A.a.O., S. 121. 45 Vgl. auch Bains Anmerkung zu James Mills Analysis l , Vol. II, London 1869, S. 305. 46 Um wieviel klarer war Humes Kopf im Vergleich zu den Köpfen seiner Jünger! „Es kann als vollkommen sicher gelten, dass sogar die Leidenschaften, f die allgemein als egoistisch gelten, den Geist direkt über die Grenzen des Selbst hinaus auf den Gegenstand führen; dass, obwohl die Befriedigung dieser Leidenschaften uns Freude bereitet, doch die Aussicht auf diese Freude nicht die Ursache der Leidenschaften ist, sondern ganz im Gegenteil die Leidenschaft als Ursache des Genusses gelten muss, ohne die sich der Genuss nie einstellen würde“ (Essay on the Diffe i rent Species of Philosophy, § 1, Anmerkung kurz vorm Ende des Textes). 47
Zu Gunsten der im Text vertretenen Ansicht vgl. Henry Sidgwick, k Methods of Ethi t cs, London 1874, Buch I, Kap. IV; Thomas Hill Green, Prolegomena to Ethics, Oxfor f d 1884, Buch III, Kap. I, S. 179; William Benjamin Carpenter, r Mental Physiology, London 1888, Kap. VI; James Martineau, Types of Ethical Theory, Oxford 1886, Teil II, Buch I, Kap. II, 1 und Buch II, Teil I, Kap. I, 1, § 3. – Zur Gegenposition siehe Leslie Stephen, Science of Ethics, London 1882, Kap. II, § II; Herbert Spencer, Data of Ethics, Cambridge 1879, §§ 9–15; Daniel Greenleaf Thompson, System of Psychology, London 1884, Teil IX, und in Mind, VI, S. 62, fferner Alexander Bain, Senses and Intellect, London 1868, S. 338–344 sowie The Emo E tions and the Will, S. 436.
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Dieser Satz wurde geschrieben, um die Anschauung des Autors auszudrücken. Aber viele Menschen sagen, dass dann, wenn sie nicht an die damit verbundenen Auswirkungen glauben, wie im Fall des Tisches, sie es auch nicht wollen können. Ihr Wille, dass sich der Tisch bewegen solle, wäre dann einfach nicht stark genug. Die Diskrepanz mag hier zum Teil nur auf der Ebene des sprachlichen Ausdrucks bestehen. Verschiedene Menschen verbinden vielleicht etwas Unterschiedliches mit dem Wort „Wille“. Aber ich bin geneigt zu glauben, dass wir uns auch psychologisch unterscheiden. Wenn jemand weiß, dass er nicht die Macht hat, es zu erreichen, dann wird sein Bedürfnis nach einem Gegenstand eher Wünschen als Wollen genannt. Das Gefühl der Ohnmacht hemmt das Wollen. Nur in dem ich von dem Gedanken der Unmöglichkeit absehen kann, bin ich in der Lage, mir lebhaft vorzustellen, wie der Tisch über den Boden gleitet, wie er eine körperliche „Anstrengung“ macht und sich auf mich zu bewegt. Es kann sein, dass manche Menschen nicht imstande sind, sich auf dieses Gedankenspiel einzulassen und dass das Bild des auf dem Boden ruhenden Tischs das entgegengesetzte Bild des Tisches in Bewegung, also das Objekt meines Wollens, kontaminiert. 49 Eine normale Lähmung tritt während des Schlafes ein. Wir wollen in unseren Träumen alle möglichen Bewegungen vollziehen, doch nur sehr selten bewegen wir uns wirklich. Im Alptraum werden wir uns unserer Unbeweglichkeit bewusst und unternehmen eine Muskelanstrengung. Diese scheint dann in einer eingeschränkten Weise aufzutreten und sich auf das Verschließen der Glottis zu beschränken, das wiederum jene Atemnot erzeugt, durch die wir erwachen. 50 Sowohl Entschlüsse als auch Überzeugungen haben natürlich sofor f t Bewegungsfolgen einer quasi-emotionalen Art, Veränderungen der Atmung, der Haltung, der an der sprachlichen Artikulation beteiligten Bewegungen etc. Aber diese Bewegungen sind nicht die Gegenstände, über die etwas beschlossen oder geglaubt wurde. Bei der gewöhnlichen Willensanstrengung sind dagegen die Bewegungen die gewollten Gegenstände. 51 Diese Willensanstrengung an und für sich muss sorgfältig von der Muskelanstrengung unterschieden werden, mit der sie gewöhnlich verwechselt wird. Die letztere besteht in jenen peripheren Empfin f dungen, zu denen eine Muskelleistung Veranlassung geben kann. Wenn diese Empfin f dungen sehr intensiv sind und der Körper zugleich ermüdet ist, so empfinden wir sie als ziemlich unangenehm, besonders in Verbindung mit Atemnot, Kopfschmerzen, Pressungen der Haut an Fingern, Füßen oder Schultern und Zerrungen der Gelenke. Und nur sofe o rn sie so unangenehm sind bedarf es einer Willensanstrengung des Geistes, sie sich eine Zeitlang ruhig als verwirklicht vorzustellen und eben dadurch herbeizuführen. Dass sie durch Muskeltätigkeit verwirklicht werden, ist ein rein zufäll f iger Umstand. Es gibt Fälle, in denen das fiat eine große Willensanstrengung erfordert, obwohl die Muskeltätigkeit unbedeutend ist. Ein Soldat, der stillsteht und auf sich schießen lässt, erwartet von seiner muskulären Passivität unangenehme Empfindungen. Seine Willenshandlung ist, indem er die Erwartung festhält, identisch mit derjenigen, die für eine schmerzhafte Muskelanstrengung in Betracht käme. In beiden Fällen ist das Ins-Augefassen einer Vorst r ellung im Sinne ihrer Ver V rwirrklichung schwer. Wo nicht viel Muskelkraft f benötigt wird oder wo der Körper sehr frisch ist, wird die Willensanstrengung nicht benötigt, die Bewegungsvorstellung aufrech f t zu erhalten, die sich dann einstellt und einfach f aufgr f und der einfacher f en Gesetze der Assoziation bestehen bleibt. Häufiger jedoch beinhaltet die Muskelanstrengung einfach auch eine Willensanstrengung. Erschöpft vor Müdigkeit und nass wirft sich der Matrose auf seinem leckge-
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schlagenen Schiff in seine Hängematte. Aber kaum haben sich seine Glieder ein wenig entspannt, ertönt schon wieder der Ruf „An die Pumpen!“ Soll er wirklich, kann er gehorchen? Ist es nicht besser, seinen schmerzenden Körper liegen und das Schiff untergehen zu lassen? So liegt er da, bis er sich schließlich mit einer verzweifelten Willensanstrengung, wieder auf die taumelnden Beine stellt und seiner Aufga f be nachgeht. Auch hier gibt es Fälle, in denen der fiat hohe Ansprüche an die Willensanstrengungen stellt, auch wenn die Muskelanstrengung unbedeutend sein wird, z. B. das Aufstehen aus dem Bett und das sich Waschen an einem kalten Morgen. 52 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik t , VII, 3, ferner f die Diskussion über die Lehre vom „praktischen Syllogismus“ in der von A. Grant herausgegebenen Fassung dieses Werkes, 2. Aufl., f Band I, London 1858, S. 212 ff. 53 The Duality of the Mind, London 1844, S. 141 f. Ein weiterer Fall aus dem gleichen Buch (S. 123): „Ein Herr von respektabler Herkunft, exzellenter Ausbildung, großem Vermögen und glücklichem Schicksal, der eine der höchsten Positionen des Wirtschaftslebens innehat [...], wird veranlasst, an einem der vermeintlich sichersten Spekulationsgeschäfte teilzunehmen [...] und stand über Nacht vor dem völligen Ruin. Wie viele andere Männer konnte er einen plötzlichen und überwältigenden Rückschlag besser verkrafte f n als eine lange Reihe von kleinen Unglücken, und die Art und Weise, wie er sich in dieser Situation verhielt, trug ihm die grenzenlose Bewunderung seiner Freunde ein. Er zog sich jedoch in völlige Abgeschiedenheit zurück und war nicht mehr in der Lage, die Großzügigkeit und die wohlwollenden Gefühle zu zeigen, die das Glück seines Lebens gebildet hatten, sondern ersetze sie durch Tagträume und verfiel allmählich in einen Zustand reizbarer Verzweiflung, von dem er sich erst allmählich wieder erholte, allerdings um den Preis, den Verstand zu verlieren. Er hielt sich jetzt für immens reich und verteilte großzügig seinen imaginären Reichtum. Er lebte seitdem unter leichter Aufsicht und führt ein Leben, das nicht nur glücklich ist, sondern glückselig genannt zu werden verdient. Er unterhält sich vernünftig, liest die Zeitungen, in der jeder Bericht einer Notlage seine Aufme f rksamkeit auf sich zieht und ihn dazu bringt einen Blankoscheck – er hat immer einen dicken Block davon greifbar – über eine reichhaltige Summe auszustellen, den er an die Leidenden schickt und in der glücklichen Überzeugung sein Abendessen zu sich nimmt, das er das Recht hat, sich ein wenig an den Freuden der Tafel zu vergnügen; und doch ist er sich in einem ernsthaften Gespräch mit einem seiner alten Freunde gänzlich seiner wirklichen Position bewusst, aber diese Vorstellung ist dermaßen schmerzhaft, dass er sich von ihr nicht überze r ugen lassen will.“ 54
,Le Sentiment de L’Effort, et la Conscience de L’Action‘, in: Revue Philosophique, XXVIII, S. 561. 55 Ebenda, S. 577. 56 Im Original Deutsch, A.d.Ü. 57 „Die Liebe zum Leben, die sich über so viele Begriffe f entrüstet“ (Jules Lequyer, Œuvres complètes, Neuchâtel 1952, S. 69, A.d.Ü). 58 Sie find f en sich in etwas populärerer Form im Vortrag „The Dilemma of Determinism“, in: Unit U tarian Review (of Boston), September 1884 (Band XXII), S. 193. 59 So zumindest übersetze ich Lipps Worte:
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William James: Die Texte „Wir wissen uns naturgemäß in jedem Streben umsomehr aktiv, je mehr unser ganzes Ich bei dem Streben betheiligt ist“, usw. (Theodor Lipps, Grundtat t tsachen des Seelenlebens, Bonn 1883, S. 601).
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Siehe Grundtat t tsachen des Seelenlebens, S. 594 f. Solche Ergüsse wie der folgende Spencers: „Psychische Veränderungen entsprechen entweder dem Gesetz oder sie tun es nicht. Wenn sie es nicht tun, dann ist diese Arbeit zusammen mit allen Arbeiten zu diesem Thema ein bloßer Unsinn: Eine Wissenschaft der Psychologie wäre dann nicht möglich“ (Principl i es of Psycho s logy, Volume I, London 1870, S. 503)
sind unter aller Kritik. Spencers Werk behandelt wie alle anderen „Arbeiten zu diesem Thema“ die allgemeinen Bedingungen möglichen Verhaltens, in deren Grenzen alle unsere wirklichen Entscheidungen fallen müssen, unabhängig davon, ob uns diese Entscheidungen t ngungen abverlangen. Wie genau auch immer psychische Veränkleine oder große Anstre derungen dem Gesetz entsprechen, so können wir doch sicher sagen, dass individuelle Geschichten und Biografien nie im Voraus geschrieben werden können, egal wie weit sich die Psychologie noch entwickeln wird. 62 In der deterministischen Literatur wimmelt es nur so von Karikat k uren darüber, auf welche Voraussetzungen wir uns einlassen müssen, wenn wir die Freiheit des Willens fordern. Die folgende Passage aus John Fiskes Cosmic Philosophy, London 1870 (Teil II, Kap. XVII) ist ein Beispiel: „Wenn Willensakte ohne Angabe von Gründen entstehen, so ffolgt daraus zwingend, dass wir aus ihnen nicht den Charakter der ihnen vorangehenden Gefühlszustände ableiten können. Wenn also ein Mord begangen wurde, dann haben wir a priori keinen besseren Grund für die Annahme, dass der schlimmste Feind des Opfers die Tat begangen hätte, wie für die Annahme, der beste Freund wäre der Mörder. Wenn wir sehen, wie jemand im vierten Stock aus dem Fenster springt, dürfen wir nicht zu voreilig auf seinen Wahnsinn schließen, denn er kann ja einfach nur seinen freien Willen ausüben. Der große Überlebenswille, der uns Menschen ins Herz gepflanzt wurde, scheint dann in keinem Zusammenhang mit Selbstmordversuchen oder mit dem Drang der Selbsterhaltung zu stehen. Wir können dann überhaupt keine Theorie des menschlichen Handelns aufstellen. Die zahllosen empirisch gewonnen Maximen des täglichen Lebens, die eine über viele Generationen ererbte Klugheit verkörpern und organisieren, können uns dann nicht weiter orientieren; und nichts von dem, was Menschen tun, könnte dann noch irgend jemanden überraschen. Die Mutter könnte ihr erstgeborenes Kind erwürgen, der Geizige kann sein über lange Jahre gehütetes Gold im Meer versenken, der Bildhauer seine endlich fertiggestellte Statue in tausend Stücke zerschlagen, ohne dabei etwas anderes zu empfinden als das, was sie dabei geleitet hat, als sie das Kind pfleg f ten, den Schatz horteten und die Skulptur erschufen. Diese Schlussfolgerungen zu ziehen, heißt aber, ihre Prämisse zu widerlegen. Wohl kein Verfechter f der Lehre vom freien Willen könnte dazu gebracht werden, sie zu akzeptieren, selbst um das Theorem zu retten, mit dem sie untrennbar verbunden sind. Aber das Dilemma kann nicht vermieden werden. Das Wollen ist entweder verursacht oder nicht verursacht. Wenn es nicht verursacht ist, dann bringt uns eine zwingende Logik zu den eben erwähnten Absurditäten. Wenn es verursacht ist, dann ist die Lehre vom freien Willen nicht länger aufrechtzuerhalten. [...] Die unmittelbaren Konsequenzen aus der Lehre vom frei f en Willen sind in der Tat nicht
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nur für Philosophen sondern auch ffür den gesunden Menschenverstand so schockierend, dass kaum zu verstehen ist, warum einem so seltsamen Dogma ein derart großer Kredit eingeräumt werden konnte, außer vielleicht, wenn wir in Betracht ziehen, dass genaues Denken selten anzutreffe f n ist. Dies ist nur einer der vielen Fälle, in denen Menschen durch die bloße Macht von Worten einem chronischen Wahn verfallen sind. [...] Beim Versuch der Verteidiger des freien Willens, die Wissenschaft der Geschichte zu zerstören, werden sie von einer unerbittlichen Logik gezwungen, auch die Grundprinzipien der Ethik, Politik, und Rechtswissenschaft über Bord zu werfen. Der Politischen Ökonomie würde es im Rahmen ihrer Theorie nicht viel besser ergehen, und die Psychologie würde zu einem konfusen Jargon. [...] Die Leugnung der Verursachung führt zur der Bejahung des Zufalls, und ,zwischen der Theorie des Zufalls und der des Gesetzes kann es keine Kompromisse, keine Wechselseitigkeit, keine Anleihen und kein Darlehen geben‘. Eine Geschichtsschreibung, die sich auf das Prinzip des fre f ien Willens berufen f würde, wäre ein Ding der Unmöglichkeit.“
– Fiskes Unverständnis lässt sich dadurch erklären, dass er nicht zwischen den Möglichkeiten unterscheidet, die einen Menschen wirklich in Versuchung führen und denen, die dies nicht tun. Der frei f e Willen und die Psychologie beschäftigen sich ausschließlich mit dem ersten Typ. 63 Zur Erziehung des Willens aus pädagogischer Sicht vgl. den Artikel von G. Stanley Hall in der Princeton Review, November 1882, der auch einige bibliographische Hinweise enthält. 64 Vgl. sein The Emotions and the Will, „The Will“, Kap. I. Ich übernehme den Begriff der zufäll f igen Bewegungen von Sully, Outlines of Psychology, New York 1876, S. 593. 65 (Anm. d. Hrsg.) Die letzten Seiten des Kapitels, S. 582–592, die ein physiologisches Modell der Wechselwirkung zwischen sensorischen und motorischen Zellen detailliert entwickeln, wurden ausgelassen.
5. Die Unsterblichkeit des Menschen * Aus: The Will W to Believe and other essays in popular philosophy • Hum H an Immortal t ity t two suppo p sed objections to the doctrine, New York 1956, II. Teil, S. i–ix, 1–45, 47–70 1 (Anm. d. Hrsg.) Dies ist die vollständige Übersetzung der zweiten Auflage von Human Immortal t ity. Two Supposed Obje b ction to the Doctrine, die 1898 separat in einem schmalen Band von Houghton Mifflin & Co. veröffentlicht wurden. Der Text basiert auf James’ Ingersoll-Vorlesung aus dem Jahre 1897 an der Harvard Universität, die er als zweiter Vortragender hielt. Die Ingersoll Lectureship geht zurück auf ein Vermächtnis von Caroline Haskell Ingersoll, die 1893 gestorben war. Sie hatte 5000 Dollar ffür eine jährliche Vorlesung in Erinnerung an ihren Vater George Goldthw t ait Ingersoll zum Thema der Unsterblichkeit des Menschen gewidmet. Auf Betreiben des Harvard Präsident Charles W. Eliot wurde diese Vorlesung 1896 zum ersten Mal gehalten. Sie bestehen bis heute als Ingersoll Lectures on Human Immo I rtal t ity an der Harvard Universität fort. 2 (Anm. d. Hrsg.) Zu den Vortragenden seit 1896 gehören neben etlichen Philosophen – f d N. Whitehead, Eric Voegelin und Hans Jonas – u. a. Josiah Royce, Werner Jaeger, Alfre vor allen Theologen, die häufig am theologischen Seminar in Harvard arbeiteten. Doch
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waren unter den Vortragenden auch die beiden berühmten deutschen Theologen Paul Tillich und Jürgen Moltmann und einige Psychiater, Anthropologen, Archäologen sowie der Biologe Stephen Gould. 3 Die Regionen zwischen den motorischen und sensorischen Zentren – Regionen, die beim Menschen zwei Drittel der Fläche der Hemisphären ausmachen – werden von Flechsig als intellektuelle Zentren interpretiert (vgl. sein Werk Gehirn und Seele, zweite Ausgabe, Leipzig 1896, S. 23). Sie haben, so denkt er, eine gemeinsame Mikrostruktur; und die Fasern, die mit ihnen verbunden sind, bekommen ihre Markscheide einen Monat später als die Fasern, die mit den anderen Zentren verbunden sind. Wenn sie in Unordnung geraten, bilden sie den Ausgangspunkt der Geisteskrankheiten im eigentlichen Sinne. Bereits Carl Wernicke hatte den Wahnsinn als Krankheit des Assoziationsorgans definiert, ohne die Absicht, dieses Organ näher beschreiben zu wollen – vgl. seinen Grundriss der Psychiatrie, Leipzig 1894, S. 7. Flechsig geht so weit zu sagen, dass er einen Unterschied in den Symptomen von Paralytikern fes f tstellen kann, je nachdem, ob eher ihre frontalen oder ihre hinteren Assoziationszentren erkrankt sind. Wenn die ffrontalen Zentren betroffen sind, ist das Selbstbewusstsein des Patienten stärker gestört als seine Wahrnehmung rein objektiver Beziehungen. Wenn die Assoziationszentren der hinteren Regionen betroffen f sind, wird eher das System der obje b ktiven Ideen des Patienten in Mitleidenschaft gezogen (a.a.O., S. 89–91). Bei Nagetieren ffehlen nach Flechsig die Assoziationszentren völlig – die sensorischen Zentren berühren sich hier direkt. Bei den Raubtieren und den primitiveren Affen f sind die sensorischen Zentren immer noch wesentlich größer als die Assoziationszentren; nur bei den höheren Affe f n ffinden wir langsam so etwas wie den menschlichen Typus (S. 84). – In seiner kleinen Schrift f Die Grenzen geistiger Gesundheit und Krankhe r it, Leipzig 1896, beschreibt Flechsig die moralische Unempfin f dlichkeit, die bei bestimmten Kriminellen angetroffen wird, als Folge eines verminderten inneren Schmerzempfindens, das wiederum einer Degeneration der „Körperfühlsphäre“ geschuldet ist, jener umfangrei f chen Frontalregion, die zuerst von Hermann Munk so benannt wurde, und in der Munk alle Gefühle und das Selbstbe t wusstsein verortet (Gehirn und Seele, S. 62–68; Die Grenzen, S. 31–39 und S. 48). Ich verweise nur aus Gründen der Korrektheit auf Flechsig und nicht, weil seine Ansichten ein für f alle Male gültig sein müssen. 4 Im Original deutsch, A.d.Ü. 5 (Anm. d. Hrsg.) Der folgende Text, bis einschließlich des Zitats von Emil Dühring ist bei James in einer Fußnote untergebracht. 6 (Anm. d. Hrsg.) Diesen Exkurs hat James der 2. Auflag f e des Textes als Fußnote angefügt. Wegen ihrer Bedeutung für die Verständlichkeit von James’ Argumentation haben wir ihn in den Haupttext aufgen f ommen. 7 Es wird selten gewagt, die Produktionstheorie oder materialistische Theorie sehr deutlich zu formulieren. Vielleicht lässt sich keine klarere Passage fin f den als die ffolgende von Pierre Jean Georges Cabanis: „Um eine richtige Vorstellung von den Operationen zu bekommen, aus denen die Gedanken hervorgehen, müssen wir zunächst das Gehirn als ein besonderes Organ begreifen, das speziell dazu bestimmt ist, Gedanken zu produzieren, genau so, wie Magen und Darm dazu bestimmt sind, Nahrung zu verdauen, die Leber dazu, das Blut zu ffiltern, Galle und Bauchspeicheldrüse dazu, Säfte f zu produzieren. Die Eindrücke, die im Gehirn ankommen, zwingen es genauso dazu, aktiv zu werden, wie die Nahrung, die in den Magen gelangt, diesen zur Produktion von Magensäure und zu spezifischen Kon-
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vulsionen anregt. Die eigentliche Funktion des Gehirns besteht im Empfangen von je spezifischen Eindrücken, in ihrer Einordnung und darin, die verschiedenen Eindrücke zu kombinieren bzw. miteinander zu vergleichen, um schließlich Schlussfol f gerungen und Entscheidungen aus ihnen ableiten zu können; genauso ist es die Funktion des anderen Organs, Nährstoffe, deren Gegenwart es anregt, zu verarbeiten, aufzulösen und unserem Körper zu assimilieren. Wenden Sie nun ein, dass die organischen Prozesse, mit deren Hilfe f das Gehirn diese Funktionen ausübt, unbekannt sind? Darauf antworte ich, dass die genauen Prozesse, mit denen die Nerven im Magen die verschiedenen Operationen steuern, die zur Verdauung notwendig sind und mit denen sie die Produktion der notwendigen Menge an Magensäure veranlassen, ffür uns gleichermaßen verborgen sind. Wir sehen, wie die Nahrungsmittel in diesen Beutel falle f n und dort ihre Eigenschaften ändern, und wir schließen daraus, dass der Magen der Urheber dieser Veränderungen ist. Ebenso sehen wir, wie Eindrücke durch die Vermittlungsarbeit der Nerven ins Gehirn gelangen; sie sind dann dort zunächst isoliert und ohne Zusammenhang. Das Organ tritt in Aktion, es wirkt auf sie ein und bald schon sind sie in leuchtende Vorstellungsbilder verwandelt, die in der Sprache der Mimik und Gestik oder in den Zeichen der Lautsprache und der Schrift einen Ausdruck finden. Wir haben dann die gleiche Gewissheit, dass das Gehirn die Eindrücke verdaut; dass es als Organ der Sekretion von Gedanken angesehen werden kann.“ (Rapp a orts du Physique et du Moral M , 8. Auflag f e, Paris und London 1844, S. 137)
Eine solche Theorie lebt weitgehend von einer Mehrdeutigkeit des Wortes „Eindruck“. Neuere Formen der Produktionstheorie neigen dazu, das Denken als eine „Kraft“ f aufzuf f fassen, die das Gehirn ausübt oder als einen „Zustand“, in den es übergeht. Herbert Spencer zum Beispiel schreibt: „Die Regeln der Transfor f mation, die das Verhältnis der physikalischen Kräfte zueinander regelt, gilt auch für f das Verhältnis zwischen ihnen und den geistigen Kräften. [...] Wie diese Transfor f mation abläuft, f wie eine Kraft als Bewegung, Wärme oder Licht zu einem Modus des Bewusstseins werden kann, wie es möglich ist, dass Lufts f chwingungen die Empfind f ung erzeugen, die wir Klang nennen, oder wie die Kräfte, die durch chemische Veränderungen im Gehirn hervorgerufen werden, Gefühl generieren – das sind Geheimnisse, die sich unmöglich ergründen lassen. Aber sie sind nicht tiefer f als die Geheimnisse der Transfor f mation der einen physikalischen Kraft in eine andere.“ (First Principl i es, 2. Aufla f ge, London 1904, S. 217).
Auch Ludwig Büchner schreibt: „Das Denken muss als eine besondere Art der allgemeinen natürli t chen Bewegung verstanden werden, die genauso charakt a eristisch für f die Substanz des zentralen t Nervensystems ist wie die Bewegung der Kontra t aktion für f die Nerven-Substanz oder die Bewegung des Lichtes ffür den Universal-Äthe t r. [...] Dass das Denken eine Art der Bewegung ist und sein muss, ist nicht nur ein Postul t at der Logik, sondern ein Satz, der in jüngster Zeit experimentell nachgewiesen werden konnte. [...] Verschiedene geniale Experimente haben gezeigt, dass die schnellsten Gedanken, die wir zu entwickeln in der Lage sind, zumindest eine achtel oder zehntel Sekunde beanspruc r hen.“ (Force and Matter, New York 1891, S. 241).
Wärme und Licht sind Transformationen von Kraft. Die Produktionstheorie bringt das Bewusstsein analog dazu mit „Phosphoreszenz“ und „Inkandeszenz“ in Verbindung: „Wenn man eine metallene Stange in einem glühenden Ofen betrachtet, dann sieht man, wie sie nach und nach dessen Wärme annimmt, und – wenn die Hitze immer weiter an-
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William James: Die Texte steigt – sukzessive von einem dunkelroten zu einem hellroten und schließlich zu einem weißroten Glühen übergeht und mit steigender Temperatur selbst Wärme und Licht abgibt – so erhöhen auch die lebenden Sinneszellen in Anwesenheit der Anregungen, die sie empfang f en, schrittweise ihre Energie, geraten schließlich in eine Phase des Erethismus, und setzen bei einer bestimmten Anzahl von Schwingungen Schmerz als einen physiologischen Ausdruck der gleichen Sensibilität ffrei, wie sie die weißglühende Stange dadurch zeigt, dass sie Licht und Wärme abgibt.“ (Jules Bernard Luys, Le cerve r au et ses ffonctions, Paris 1876, S. 91)
In ähnlicher Weise schreibt Percival Lowell: „Wenn wir, wie wir sagen, eine Idee haben, geschieht in unserem Inneren wahrscheinlich Folgendes: Die durch molekulare Veränderungen ausgelöste neuronale Entladung passiert unsere Nerven und erreicht schließlich über die Ganglien die Zellen der Großhirnrinde. [...] Wenn sie in den Zellen dort ankommt, trifft f sie auf eine Reihe von Molekülen, die mit dieser besonderen Veränderung nicht sehr vertraut sind. Der Impuls stößt auf Widerstand und bei der Überwindung dieses Widerstands bringt er die Zelle zum Glühen. Die Weißglut der Zellen nennen wir das Bewusstsein. Bewusstsein ist, kurz gesagt, das Glühen der Nerven.“ (Occult JJapan, Boston 1895, S. 311) 8
„Wie ein Dom aus buntem Glas färbt das Leben das weiße Licht der Ewigkeit.“ Percy Bysshe Shelley, Adonais. An Elegy on the Death t of John Keats t , Cambridge 1829, A.d.Ü. 9 „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen“, ein Ausspruch des Physiologen Emil Heinrich du Bois-Reymond (1818–1896), A.d.Ü. 10 Die Übertragungstheorie lässt sich auf ganz natürliche Weise mit der Tradition des Traszendentalismus verbinden. Emerson zum Beispiel schreibt: „Wir liegen im Schoß einer immensen Intelligenz, die uns zu Empfängern ihrer Wahrheit und zu Organen ihrer Tätigkeit macht. Wenn wir Gerechtigkeit oder Wahrheit erkennen, leisten wir nichts selbst, sondern machen uns durchlässig für ihre Strahlen.“ (Selfl Reliance, S. 56.) Aber wir müssen nicht notwendig das Bewusstsein hinter den Kulissen, das in der Vorlesung postuliert wird, mit dem absoluten Geist des transzendentalen Idealismus identifizieren, obwohl letzterer in die gleiche Richtung weisen könnte. Der absolute Geist des transzendentalen Idealismus ist eine integrale Einheit, ein einziger Welt-Geist. Für die Zwecke meiner Vorlesung würde es jedoch genügen, wenn es hinter den Kulissen viele gäbe. Alles, was die Übertragungstheorie notwendig forder f t, ist, dass sie unsere partikularen Geister transzendieren sollten – die dann von etwas vorgängigem Geistigem abstammen, das größer ist als sie selbst. 11 Fechners Konzeption einer „psycho-physischen Schwelle“, die mit seinem „Wellen-Schema“ verbunden ist, wird den englischsprachigen Lesern kaum vertraut sein. Dementsprechend füge ich sie hier in seinen eigenen Worten, die ich nur leicht gekürzt habe, ein: „Das psychisch Einheitliche und Einfache knüpft sich an ein physisch Mannichfaltiges, das physisch Mannichfal f tige zieht sich psychisch ins Einheitliche, Einfache oder doch Einfac f here zusammen. Oder anders: das psychisch Einheitliche und Einfac f he sind Resultanten physischer Mannichfaltigkeit, die physische Mannichfaltigkeit giebt einheitliche oder einfache Resultanten. [...]
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Die Tatsachen, als deren Zusammenfassung ich sie betrachte, und in deren Sinne sie zu verstehen sind, sind folgender Art: [...] Die einfachste Licht- oder Schallempfindung knüpft sich an Vorgänge in uns, die als angeregt und unterhalten durch äussere Oscillationsvorgänge, auch selbst irgendwie oscillatorischer Natur sein müssen, ohne dass wir etwas von den einzelnen Phasen der Oscillation unterscheiden. [...] So gewiss es hiernach ist, dass einheitliche und einfache psychische Resultanten an physischer Mannichfaltigkeit hängen, so gewiss ist von der anderen Seite, dass nicht alles physisch Zusammengesetzte, selbst wenn es einem in sich zusammenhängenden körperlichen System angehört, in eine einfache f psychische Resultante zusammengeht. Ob nicht doch in eine einheitliche, ist Glaubenssache, denn man kann fragen, ob nicht schließlich die ganze Welt eine einheitliche psychische Resultante gebe; dann fehl f t uns aber wenigstens das Bewusstsein dieser Einheit. [...] Der Kürze halber mögen wir die beiden Fälle, um deren Unterscheidung es sich hier handelt, als psychophysische Continuität und Discontinuität unterscheiden. Continuität, sagen wir, findet statt, sofern f eine physische Mannichfaltigkeit eine einheitliche oder einfac f he psychische Resultante giebt, Discontinuität, sofern f sie eine unterscheidbare Mehrheit von solchen giebt. Insofern aber in der Einheit eines allgemeineren Bewusstseins oder Bewusstseinsphänomens selbst noch eine unterscheidbare Mehrheit vorhanden ist, schliesst die Continuität eines allgemeineren Bewusstseins die Discontinuität besonderer Phänomene nicht aus. Eine der wichtigsten Fragen und Aufgaben der Psychophysik ist nun die, die Gesichtspuncte festzustellen, unter welche der Fall der psychophysischen Continuität und Discontinuität tritt. Woran hängt es, dass die verschiedenen Organismen ein geschiedenes Bewusstsein haben, ungeachtet ihre Leiber so gut durch die allgemeine Natur zusammenhängen, als die Theile jedes Organismus unter sich, die doch zu einem einheitlichen Bewusstsein zusammenstimmen. Unstreitig kann man sagen, der Zusammenhang der Theile in einem Organismus sei inniger, als der der Organismen der Natur. Aber was heisst ein inniger Zusammenhang? Lässt sich auch an eine Relation ein absoluter Unterschied knüpfen f ? Und zeigt nicht die Natur im Ganzen so gut die Charaktere einer festen, ja noch unlösbareren, Verknüpfun f g, als jeder Organismus in ihr? Dieselben Fragen wiederholen sich innerhalb jedes Organismus. Woran hängt es, dass wir mit verschiedenen Gesichts- und Tastnervenfasern verschiedene Raumpuncte unterscheiden, indes alles, was durch dieselbe Faser eintritt, ununterschieden bleibt; ungeachtet doch die verschiedenen Nervenfasern so gut im Gehirne zusammenhängen, als die Theile derselben Nervenfas f er unter sich? Wieder kann man einen innigeren Zusammenhang der letzteren geltend machen, aber wieder werden sich ähnliche Gegenfra f gen als oben bezüglich der ganzen Organismen wiederholen. Unstrittig ist die Aufgabe, welche hier für f die Psychophysik vorliegt, bis jetzt noch keiner scharfen Lösung ffähig, doch lässt sich ein allgemeiner Gesichtspunct dafür wohl aufstellen, und zwar in consequentem Zusammenhange mit dem, welcher über die Beziehung zwischen den allgemeinen und besonderen Bewusstseinsphänomenen [in einem früheren Kapitel] aufgestellt worden ist.“
Die frü f heren Passage – von S. 454 – füg f e ich an dieser Stelle ein: Das wesentliche Prinzip ist, „dass die psychophysische Thätigkeit des Menschen im Ganzen eine gewisse Stärke übersteigen muss, damit überhaupt Bewusstsein, Wachen
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William James: Die Texte stattfin f de, und dass während des Wachens jede besondere, sei es durch einen Reiz zu bewirkende oder spontan entsthehende, Bestimmung dieser Thätigkeit, die fäh f ig ist, eine besondere Bestimmung des Bewusstseins zu geben, eine gewisse Stärke übersteigen muss, um wirklich bewusst zu werden [...]. Dieses rein ffactische und an sich keines Bildes bedürfende Verhältnis können wir doch durch ein Bild oder Schema zugleich erläutern und die Darstellung der sich daran knüpfenden factischen Verhältnisse abkürzen. Denken wir uns die gesamte psychophysische Thätigkeit des Menschen wie eine Welle, und die Grösse dieser Thätigkeit durch die Höhe dieser Welle über einer horizontalen Grundlinie oder Fläche dargestellt, wozu jeder psychophysisch thätige Punct eine Ordinate beiträgt. [...] So wird die ganze Gestaltung und der ganze Gang der Bewusstseinsthätigkeit von der gegenwärtigen und ffolgend sich entwickelnden Form, dem Steigen und Fallen, dieser Welle, die Intensität des Bewusstseins zu jeder Zeit von der jeweiligen Höhe derselben abhängen, und die Höhe dieser Welle irgendwo und irgendwie eine gewisse Gränze, die wir Schwelle nennen, übersteigen müssen, damit überhaupt Bewusstsein, Wachen stattfin f de. Diese Welle heisse die Gesammtwelle, Hauptwe t lle, Totalwe t lle.“
Da unsere verschiedenen Bewusstseinszustände teilweise in langen und teilweise in kurzen Zeiträumen auftreten, f wollen wir „nun die Bewegung von langer Periode durch eine je nach dem allgemeinen Zustande unserer Munterkeit und der Richtung unserer Aufmerksamkeit langsam auf- und abschwankende und den Ort ihres Gipfels wechselnde Welle [...] die Unterwelle nennen [...], [sowie die] Bewegungen von kurzen Perioden, an welchen unsere besonderen Bewusstseinsphänomene hängen, durch kleinere Wellen auf der Unterwe r lle dargestellt, [...] Oberwel r len [nennen], welche abändernd in die Oberflä f che der Unterwelle eingreifen; so dass die, durch die Oberwelle abgeänderte Unterwelle die Totalwelle oder Hauptwelle ist. Je größer nun die Stärke der Bewegungen von kurzer Periode (die Amplitude der Oscillationen) ist, desto höhere Berge werden die zu ihrer Repräsentation dienenden Wellen über die Unterwelle erheben, und desto tiefer f e Thäler in sie eindrücken (je nachdem die Richtung ihrer Bewegung gleich oder entgegengesetzt mit der der Unterwelle ist), Hebungen und Senkungen, welche ihrerseits eine gewisse Gränze der Grösse, wir nennen sie die Oberschwelle, übersteigen müssen, damit das Sonderphänomen, was sich an sie knüpft, f in das Bewusstsein trete.“ (S. 454–456]. „Insofern wir nun jedes System psychophysischer Thätigkeit, was durch ein allgemeines oder Hauptbewusstsein verknüpft f ist, durch eine Welle, Hauptwelle darstellen können, welche mit ihrem Gipfel f eine gewisse Gränze, die Schwelle, übersteigt, werden wir den physischen Zusammenhang aller psychophysischen Systeme durch die Natur mit ihrer psychophysischen Discontinuität zugleich dadurch darstellen können, dass wir alle Wellen in Zusammenhang verzeichnen; aber nicht oberhalb, sondern unterhalb der Schwelle zusammenhängen lassen, nach diesem Schema:
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Hier stellen a, b, c drei Organismen oder vielmehr die psychophysischen Hauptwellen dreier Organismen vor, AB die Schwelle. Was von jedem Wellenberge die Schwelle überragt, hängt in sich zusammen und trägt ein einziges Bewusstsein; was unter der Schwelle ist, trennt als Unbewusstsein tragend das Bewusste, indess es doch noch die physische Verbindung dazwischen unterhält. Im Allgemeinen: wenn eine psychophysische Hauptwelle oberhalb ihrer Schwelle in sich zusammenhängt, so fin f det Einheit, Identität des Hauptbewusstseins statt, indem dann der Zusammenhang der psychischen Phänomene, welcher den Theilen dieser Welle zugehört, auch in das Bewusstsein fällt. Wenn hingegen Hauptwellen nicht oder nur unter der Schwelle zusammenhängen, so findet Scheidung des zugehörigen Bewusstseins statt, indem dann ein Zusammenhang des Bewusstseins für das Bewusstsein nicht vorhanden ist. Oder kurz: das Hauptbewusstsein ist continuierlich oder discontinuierlich, einheitlich oder discret, je nachdem die psychophysischen Hauptwellen, die ihm unterliegen, continuierlich oder discontinuierlich oberhalb ihrer Schwelle sind. [...] Es würde hinreichen, den ganzen Wellenzug a, b, c ... im Schema zu erheben, so dass die Wellenthäler in der Natur mit den Bergen zugleich über die Schwelle träten, so würden sie nur noch Einsenkungen eines und desselben oberhalb der Schwelle continuierlichen Wellenzuges bilden, und die Discontinuität des Bewusstseins in der Natur würde sich in Continuität verwandeln. Das können wir nicht verwirklichen. Es würde auch hinreichen, die Berge so zusammenzuschieben, dass die Thäler wegfielen, und die Berge oberhalb der Schwelle confluirten; so würden die discret empfindenden Organismen zu einem einheitlich empfindenden Organismus werden. Auch das kann der Mensch nicht willkührlich verwirklichen; er ist aber selbst die Verwirklichung davon. Seine zwei Hälften f , die rechte und linke, sind auf diese Weise verbunden; und die Menge Segmente eines Strahlthieres und anderer theilbarer Thiere beweisen, dass noch mehrere dergleichen so verbunden sein können. Man braucht sie in der That blos wieder zu trennen, d. h. einen Theil der Natur unter der Schwelle zwischen sie einzuschieben, so zerfal f len sie auch wieder in zwei für sich empfindende Wesen.“ (Elemente der Psychophysik, Leipzig 1860, Bd. 2, S. 526–530)
Man sieht leicht, wie in Fechners Wellen-Schema eine Welt-Seele untergebracht werden könnte. Zu allen psycho-physischen Aktivitäten, die dauerhaft „unterhalb der Schwelle“ bleiben, könnte das Bewusstsein eine Kontinuität wahren, wenn die Schwelle niedrig genug sinken würde, um alle Wellen freizulegen. Die Schwelle ist in der Natur im Allgemeinen jedoch sehr hoch, so dass ein Bewusstsein, welches sie überwindet, von diskontinuierlicher Art ist. 12 Vgl. die lange Reihe von Artikeln von Frederick William Henry Myers in den Proceedings of the Society for Psychical Research, die im dritten Band mit Ausführ f ungen zum automatischen Schreiben beginnen und im letzten Band mit Überlegungen zu den höheren Wissensformen von Medien enden. Myers’ Theorie des gesamten Spektrums der Phänomene lautet, dass unser normales Bewusstsein in ständiger Verbindung mit einem größeren Bewusstsein steht, dessen Ausmaß wir nicht einmal erahnen und dem er im Verhältnis zur besonderen Person den nicht sehr glücklichen Namen (ein besserer wurde allerdings noch nicht vorgeschlagen) „subliminales Selbst“ gibt. 13 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft f , B 807. 14 Ich füge ein paar Auszüge aus der Arbeit von Schiller ein:
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William James: Die Texte „Die Materie ist eine bewundernswert kalkulierte Maschine für die Regelung, Einschränkung und Eindämmung jenes Bewusstseins, das sie selbst umschließt. Wenn das Material wie bei niedrigen Organismen grob und einfach ist [...], lässt es nur wenig Verstand durch sich hindurch dringen. Wenn es fein und komplex ist, bietet es mehr Poren und durchlässige Stellen für die Manifestationen des Bewusstseins. [...] Dieser Analogie zufolge f können wir dann sagen, dass sich die niedrigeren Tiere noch auf der Stufe einer rohen Letha t rgie befinden, wohingegen wir selbst zur höheren Stufe des Somnambulismus aufges f tiegen sind, die uns schon gewisse Momente jener Klarheit erahnen lässt, welche die transzendente Welt beseelt. Und das liefer f t uns die endgültige Antwort auf den Materialismus: Sie besteht darin, im Einzelnen zu belegen [...], dass der Materialismus ein hysteron proteron ist, dass er den Wagen vor das Pferd spannt, ein Fehler, der nur durch die Umkehrung der Verbindung zwischen Materie und Bewusstsein behoben werden könnte. Die Materie produziert das Bewusstsein nicht, sondern beschränkt es und bestimmt seine Intensität innerhalb gewisser Grenzen: Die Organisation der Materie konstruiert das Bewusstseins nicht durch eine Anordnung der Atome, sondern reduziert es auf diejenige Sphäre, die sie jeweils zulässt. Diese Erklärung [...] gesteht eine Verbindung von Materie und Bewusstsein zu, macht aber geltend, dass diese Verbindung in der entgegengesetzten Richtung gesucht werden muss, als es der Materialismus vorschlägt. So passt unsere Erklärung durchaus zu den vom Materialismus angefüh f rten Fakten, mit dem einen Unterschied, dass sie uns erlaubt, auch jene Fakten zu verstehen, die der Materialismus als übernatürlich abqualifizie f rt. Sie erklärt das Niedrigere durch das Höhere, die Materie durch den Geist, statt umgekehrt, und kommt auf diesem Weg zu einer stabilen und keineswegs absurden Erklärung. Und es ist eine Erklärung, deren Möglichkeit kein Argument zu Gunsten des Materialismus abstreiten kann. Denn wenn z. B. jemand bei einer Schädigung des Gehirns das Bewusstsein verliert, wäre es offen f sichtlich genauso gut, dies dahingehend zu erklären, dass die Schädigung des Gehirns den Mechanismus ausschaltet, durch den die Manifestation des Bewusstseins ermöglicht wird, wie einfach zu sagen, dass sie den Sitz des Bewusstseins zerstört. Auf der anderen Seite gibt es Fakten, die weit besser zum Materialismus passen. Wenn sich unser Patient zum Beispiel, wie es mitunter vorkommt, nach einiger Zeit mehr oder weniger erholt, und er die Fähigkeiten zurückerlangt, die er durch die Schädigung seines Gehirns eingebüßt hatte, und dies nicht in Folge einer Heilung der verletzten Region, sondern in Folge dessen, dass die eingeschränkten Funktionen nun stellvertretend von anderen Regionen übernommen werden, ist die einfachste Erklärung hierfür f sicherlich die, dass das Bewusstsein nach einer gewissen Zeit die nicht beschädigten Regionen in einen Mechanismus umformt, der als Ersatz ffür die verloren gegangenen Regionen dient. Und wenn der Körper ein Mechanismus zur Beschränkung des Bewusstseins ist, zur Verhinderung einer vorzeitigen und unbedachten Entfalt f ung der vollen Macht des Ego, dann wird es nötig sein, auch unsere gewöhnlichen Theorien der Erinnerung zu revidieren und eher auf das Vergessen als auf das Erinnern zu schauen. Während unseres irdischen Lebens sind wir in der Lage, den bitteren Kelch der Lethe zu trinken, unser Hirn erlaubt uns, zu vergessen. Und dies hilft uns nicht nur dabei, die außerordentlichen Erinnerungen an das Ertrinken und das Sterben im Allgemeinen zu verstehen, sondern auch die merkwürdigen Andeutungen, die die experimentelle Psychologie gelegentlich dafür f liefert, dass nichts jemals ganz und unwiderruflich vergessen wird.“ (Riddles of the Sphinx n , London 1891, S. 293 fff.)
Anmerkungen
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Schillers Theorie ist wesentlich komplexer als die simple Übertragungstheorie, die ich in meiner Vorlesung aufstelle. Um ihr gerecht zu werden, sollte der Leser das ganze Buch von Schiller lesen. 15 Ich empfehle dem Leser, Robert L. Stevensons kleinen Essay mit dem Titel The Lantern r Bearers r zu lesen, der in der kleinen Textsammlung Across tthe Plains, London 1892, veröffentlicht wurde. Die Wahrheit ist, dass wir als durch und durch praktische Wesen dazu verdammt sind, sehr begrenzte Aufgaben zu erledigen und nur wenige sehr spezielle Ideale anzustreben, und insofern f absolut blind und unempfänglich gegenüber den inneren Gefühlen und der ganzen inneren Bedeutung des Lebens derjenigen sind, die sich von uns unterscheiden. Unsere Einschätzung des Wertes ihres Lebens ist ganz unangemessen. 16 Wilhelm Wundt, System der Philosophie, Leipzig 1889, S. 315. 17 „Ehre den Schöpfer, hebe Dein Auge bis zu seiner himmlischen Art, bis zu seinem himmlischen Verhalten“, Ralph Waldo Emerson, „Threnody“ [1842–1846], in: Complete Poems (Works, Vol. 9), Cambridge 1903, A.d.Ü.