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German Pages 279 [280] Year 2015
Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft?
Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft?
Herausgegeben von Markus Rothhaar und Martin Hähnel
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.
ISBN 978-3-11-039957-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-039982-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040007-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Table of Contents Markus Rothhaar und Martin Hähnel Einleitung 1
I Menschliche Natur und Moral Rosalind Hursthouse Menschliche Natur und aristotelische Tugendethik Robert Spaemann Menschenwürde und menschliche Natur
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II Das Sein des Lebendigen und die Lebensform Thomas Hoffmann Lebensform – Natur, Begriff und Norm
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Thomas Rentsch Die Struktur der Lebensform: Sinnkonstitutive Formen des Lebens Micah Lott Justice, Function, and Human Form
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III „Natürliche Normativität“ und Universalisierbarkeit Heiner F. Klemme Freiheit, Recht und Selbsterhaltung. Zur philosophischen Bedeutung von Kants Begriff der Verbindlichkeit 95 Markus Rothhaar Natürliche Zwecke und vernünftige Normen
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Table of Contents
IV Lebensform, Tugend, Vernunft Angela Kallhoff Human nature and the good life in Aristotle: The debate on human flourishing as an ethical notion 135 Martin Rhonheimer Willensfreiheit und klassische Tugendethik vor der Herausforderung durch die 155 Neurowissenschaften Christoph Halbig Ein Neustart der Ethik? Zur Kritik des aristotelischen Naturalismus
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V Implikationen für die Bioethik Ludwig Siep Naturbegriff und Angewandte Ethik
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Martin Hähnel Philippa Foots Begriff der Funktion: Abgrenzungen und Anwendungen Vittorio Possenti Reasons in favor of normativity of life/nature Günther Pöltner Menschennatur und Speziesismus Autorenregister
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Markus Rothhaar und Martin Hähnel
Einleitung
1 Thematische Hinführung Zu den Gemeinplätzen der Philosophiegeschichtsschreibung gehört seit dem 19. Jahrhundert die Feststellung, dass ein inhaltlich gehaltvolles, aristotelisch-naturrechtliches Verständnis von Normativität die Antike und das Mittelalter geprägt habe, dann aber in der Neuzeit, angefangen mit dem Hobbes’schen Kontraktualismus, durch formale Modelle der Ethik und des Rechts abgelöst worden sei. Den Kulminationspunkt dieser Entwicklung bilde Kants Ansatz einer rein auf die Form der vernünftigen Verallgemeinerbarkeit ausgerichteten Normativitätsbegründung. Betrachtet man die zeitgenössische Ethik unter der Perspektive dieses Gemeinplatzes, so scheint auf den ersten Blick alles für ihn zu sprechen. Zwar ist der starke Vernunftbegriff Kants in den meisten zeitgenössischen Ansätzen zugunsten eines Rekurses auf die Fähigkeit, aus Gründen zu handeln und sich mit Gründen zu rechtfertigen (so etwa bei Karl-Otto Apel, Jürgen Habermas, Rainer Forst, Charles Larmore oder T.M. Scanlon), „depotenziert“ und „prozeduralisiert“ worden; dennoch bleiben diese Versuche aber letztlich dem kantischen Gedanken verhaftet, Begründung und Anwendung der Ethik müssten sich aus rein formalen Bestimmungen der Vernunft, der Handelns oder auch der Kommunikation ergeben. Sieht man dann allerdings näher zu, so zeigt sich, dass das Bild wesentlich komplexer ist, als es jener Gemeinplatz der Geistesgeschichte darstellt. Nicht nur existierte in der frühen Neuzeit neben dem Kontraktualismus immer eine gleichberechtigte naturrechtliche Strömung, die oft genug Synthesen mit dem Kontraktualismus einging bzw. seine Begründungslücken gleichsam „auffüllte“. Auch das frühe 19. Jahrhundert forderte in Gestalt von Hegels Konzept der substantiellen Sittlichkeit den kantianischen Ansatz heraus und im 20. Jahrhundert bemühte sich die Phänomenologie von Scheler bis Lévinas um eine Alternative zur Verortung des Ethischen in den formalen Charakteristika der Vernunft. Aktuell werden die im weitesten Sinn kantianischen Modelle der Ethik- und Rechtsbegründung insbesondere im angelsächsischen Sprachraum zunehmend durch Überlegungen herausgefordert, die ganz explizit auf Aristoteles und den Aristotelismus zurückgreifen, indem sie versuchen, den Gedanken einer genuinen Normativität der Natur und/oder des Lebens gegen formale Ethikkonzeptionen zu rehabilitieren. Zu den Vertretern eines solchen Ansatzes gehören Philosophinnen und Philosophen wie Philippa Foot, Rosalind Hursthouse, Michael Thompson und John McDowell Im deutschen Sprachraum wären etwa Martin Rhonheimer und Robert Spaemann zu nennen. Kennzeichnend für diesen Ansatz ist erstens ein nicht-natu-
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Markus Rothhaar und Martin Hähnel
ralistisches Verständnis von „Natur“, das als solches eine einfache Herleitung von Normen aus Fakten vermeiden soll; zweitens die Einbettung in eine tugendethische Konzeption praktischer Philosophie und drittens schließlich der Umstand, dass die einschlägigen Theorien oft von handlungstheoretischen Erwägungen her entwickelt werden. Exemplarisch kann dafür Philippa Foot stehen, die in ihrem letzten und bedeutendsten Werk Natural Goodness ein Konzept „natürlicher Normativität“ vorgelegt hat, das sie in Abgrenzung zu formalen deontologischen Entwürfen und emotivistischen Ansätzen entwickelt hat. In Ansehung der „Tatsachen menschlichen Lebens“, deren qualitative Struktur sie bereits im Leben von Pflanzen und Tieren zu entdecken glaubt, versucht Foot eine Tugendethik zu entwerfen, die einerseits naturrechtliche Positionen zu rehabilitieren scheint, andererseits auf einen Lebensbegriff zurückgreift, der sowohl geeignet sein soll, wesentliche Fragen der Handlungstheorie zu klären, als auch eine nicht-formale Grundlegung der Moral erlauben soll. Die alte, offenbar nie wirklich beendete Debatte zwischen aristotelischen und kantianischen Modellen der Normativität ist damit in einer neuen Form wiedereröffnet. Ihre Linien zeichnet Michael Thompson vor, wenn er schreibt, das (neo) aristotelische Verständnis der Praxis zeichne sich „durch eine Skepsis gegenüber Kants Annahme aus, es gebe ein praktisches Gesetz, das den ganzen Kosmos zu durchdringen und überall Handlungen zu begründen vermag.“¹ Vielmehr bilde für den (Neo)Aristoteliker „die Lebensform, die ich manifestiere, die höchste Allgemeinheit, die meine Bemerkungen [zu Fragen der Lebensführung] beanspruchen können“.² Ziel der Tagung „Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft?“, deren Erträge in diesem Band versammelt sind, war es, diese naheliegende, bislang aber noch kaum explizit geführte Debatte mit hochrangigen Vertretern beider Konzeptionen anzustoßen. Dazu wurden zunächst die theoretischen Grundbegriffe des zeitgenössischen Aristotelismus in einem Themenblock „Das Sein des Lebendigen und die Lebensform“ kritisch untersucht. Im folgenden Themenblock „‚Natürliche Normativität‘ und Universalisierbarkeit“ wurde das (neo)aristotelische Konzept „natürlicher Normativität“ mit dem Konzept der Normativitätsbegründung qua Universalisierbarkeit konfrontiert, nicht zuletzt um die Perspektiven einer Zusammenführung und/oder wechselseitigen Ergänzung beider Ansätze zu prüfen. Der dritte Themenblock war der daraus erwachsenden Frage nach dem Zusammenhang von „Lebensform, Tugend und Vernunft“ in den jeweiligen Ansätzen gewidmet. Im vierten Themenblock „Implikationen für die Bioethik“ sollte
Thompson, Michael: Leben und Handeln. Frankfurt a.M. 2011, S. 16 Thompson a.a.O. S. 15
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schließlich – anhand des Fallbeispiels der Bioethik – untersucht werden, welche Bedeutung das Thema der Tagung für die Angewandte Ethik haben könnte. Hier stand die naheliegende Frage im Mittelpunkt, welche Implikationen es für das aus der Debatte um den sogenannten „moral status“ bekannte „Speziesargument“ haben könnte, wenn der Gedanke einer „speziestypischen Lebensform“ in den Fokus der Ethikbegründung rückt.
2 Zu den Beiträgen Im ersten Teil des vorliegenden Bandes wird dementsprechend die Idee der menschlichen Natur auf grundsätzliche Weise mit zwei großen Themen der praktischen Philosophie in Verbindung gebracht: einmal mit der aristotelischen Tugendethik und einmal mit dem Thema der Menschenwürde. Rosalind Hursthouse widmet sich in ihrem Beitrag zunächst der Frage, inwieweit sich eine Tugendethik des aristotelischen Typs auf so etwas wie eine menschliche Natur stützen lässt. Hierbei versucht Hursthouse einige bekannte Einwände zu entkräften, die davon ausgehen, dass es so etwas eine menschliche Natur überhaupt gar nicht gäbe und dass sich Vertreter einer ethischen Theorie, die sich auf die Natur des Menschen berufen, zu einseitig am Begriff der Gesundheit orientierten. Weiterhin lehnt Hursthouse ein fundamentalistisches Verständnis des aristotelischen Naturalismus ab, indem sie diesen Ansatz vielmehr hermeneutisch verstanden wissen möchte. In einem nächsten Schritt zeigt sie, dass der paradigmatische ethische Naturalismus von Philippa Foot seine Gründe und Erkenntnisse gerade nicht aus der Biologie ableite. In diesem Zusammenhang und stets im Hinblick auf eine Abwehr von Einwänden aus der Evolutionsbiologie wendet sich Hursthouse schließlich der Frage nach der menschlichen Natur in Bezug auf den Anfang und die Entwicklung des Tugenderwerbes zu, insofern sie die Auffassung vertritt, dass eine Verschiedenheit in den ethischen Fähigkeiten, d. h. natürlichen Anlagen, für die aristotelische Tugendethik zumeist unproblematisch ist.³ Robert Spaemann zeigt in seinem Aufsatz, wie Menschenwürde mit Bezug auf die Natur des Menschen praktisch begründet werden kann. Ihm zufolge besitzen Menschen eine psychische und eine physische Natur, „in der sie sich darstellen und in der sie auch angetastet werden können.“ (S. 38) Diese Natur sei aber nicht nur Freiheitsdarstellung, sondern auch genuiner Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer Spezies. Diese Zugehörigkeit sei dabei der Ermöglichungs- und Plausibilitätsgrund für
Der Beitrag ist eine Übersetzung von: Hursthouse, Rosalind (2012): „Human Nature and Virtue Ethics.“ In: Royal Institute of Philosophy Supplement 70, 169–188.
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Menschenwürde. Denn nur,weil wir als Menschen Exemplare einer Spezies sind, d. h. die gleiche Natur besitzen, können wir unsere Wünsche und Interessen gegenseitig beurteilen. Aufgrund dieser Natur, die wir haben, könnten wir als Menschen auch feststellen, ob in diesem oder jenem Fall die Menschenwürde verletzt werde oder nicht. Spaemann weist in diesem Zusammenhang den Begriff der Menschenwürde eindeutig als normativen Begriff aus, der unser „normales“ Bewerten und Handeln leiten solle und welcher gegen nichts anderes abgewogen werden könne. Spaemann wandelt damit die kantische Selbstzweckformel in die Aussage um: „Auf jeden kommt es an.“ (S. 42)⁴ Im nächsten Teil wenden sich die Beiträge dem Begriff der Lebensform und seinen verschiedenen Spielarten zu.Thomas Hoffmann deutet im Rahmen eines von ihm entwickelten hermeneutischen Naturalismus den Lebensformbegriff als Begriff des Begriffs und stellt diese Konzeption gängigen populären Varianten eines szientistischen Naturalismus entgegen. Sein hermeneutischer Naturalismus impliziere die Erkenntnis, dass ein „richtiges Verständnis“ der Lebensform von einem richtigen Verständnis dessen, was ein Begriff ist, abhängt. In diesem nicht-reduktionistischen Sinne sei Natur als etwas zu begreifen, das nicht erschöpfend mit dem Vokabular der Naturwissenschaften beschrieben werden könne, sondern genuiner allgemeiner Ausdruck der Vernunft und der Moral selbst sei. Für Hoffmann ist der Begriff als solcher keine bloße Menge von Elementen, sondern das eidos, d. h. die Form dessen, was unter ihn fällt. Folglich sind nach Hoffmann Lebensformen auch „Substanzformen, die Lebewesen exemplifizieren“ (S. 56). Mit anderen Worten: Eine Lebensform ist „Begriff und Natur ihrer Exemplare“ (Ebd.), was nichts anderes heißt, als dass die Kenntnis des Begriffes eines bestimmten Lebewesens (z. B. Reh), die Kenntnis und Artikulation seiner Lebensform ist. Indem man auf diese Weise nun über einen Begriff (z. B. des Rehs) verfügen dürfe, ließe sich dann auch ableiten, was gut und gedeihlich bzw. was schlecht und schädlich für diese oder jene Lebensform sei. Von da aus werden nach Hoffmann insbesondere die Grenzen des Kantischen Ansatzes, der von der Form reiner Vernunftwesen ausgeht, deutlich. Schließlich stellt Hoffmann mit Verweis auf Aristoteles und Hegel, noch klar, dass es „materiale Formen gibt – nämlich Substanz- und Lebensformen, die sich weder auf ein bloß empirisches Sammelsurium noch auf inhaltsleere Formalismen belaufen.“ (S. 62) Damit werde Kant aber nicht verworfen, sondern nur material angereichert. In dem nachfolgenden Beitrag von Thomas Rentsch werden insbesondere die praktisch-anthropologischen, transzendentalpragmatischen und intersub-
Der Beitrag ist ein Wiederabdruck von: Spaemann, Robert (2011): „Menschenwürde und menschliche Natur“. In: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II. Stuttgart, S. 93–101.
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jektiven Implikationen eines bestimmten Lebensformbegriffes herausgearbeitet: die unverfügbare Ganzheit des menschlichen Lebens, die Endlichkeit als irreduzible Sinngestalt dieses Lebens, die Gemeinschaftlichkeit und deren Relevanz im Alter und bei Krankheit, der Bezug des Seins auf das Sollen unter Rekurs auf die Einheit der menschlichen Lebenspraxis. In diesem Rahmen versucht Rentsch eine Vernunftperspektive zurückzugewinnen, die durch anthropologisch-praktische Grundlagereflexion begleitet wird und konstitutive Aspekte alltäglicher Rede wie Menschsein, Achtung, Würde, Freiheit und Lebenssinn umfasst. Im letzten Beitrag dieses Themenblockes bringt Micah Lott den Topos der Lebensform in Verbindung mit der Tugend der Gerechtigkeit, insofern er fragt, ob die Gerechtigkeit ihre Inhaber als menschliche Wesen gut mache, d. h. ob gerechtes Handeln gewährleisten könne, dass jemand als Mensch gut handle. Im Rahmen eines aristotelischen Naturalismus versucht Lott dabei zunächst, einen formalen von einem substantiellen aristotelischen Naturalismus zu unterscheiden. Ersterer bezieht sich auf das moralisch Gute im Sinne der für jede Spezies eigentümlichen natürlich guten Form und der durch diese Lebensform vorgezeichneten Fähigkeiten, letzterer rekurriere auf das, was allgemein als „menschlich“ bezeichnet wird und bestimmte Charakterzüge, d. h. Tugenden, umfasse. Aufbauend auf dieser Unterscheidung untersucht Lott in einem nächsten Schritt das Verständnis der Gerechtigkeit bzw.von deren Rolle im menschlichen Leben bei Philippa Foot und Elisabeth Anscombe, wobei er zu dem Schluss kommt, dass die beiden Ansätze scheitern, weil sie nicht die unterschiedlichen Motive der gerechten Person in den Blick nehmen. Daraus folge generell, dass naturalistische Ansätze über Gerechtigkeit zwar die „funktionalistische“ Perspektive von Foot und Anscombe berücksichtigen müssen, allerdings nicht dabei stehen bleiben sollten. Daher ist es unerlässlich zwischen zwei Formen des Guten zu unterscheiden: das für den Tugendhaften und Lasterhaften zugleich erkennbare Gute und das Gute, dessen echte Anerkennung Unterscheidungsmerkmal der tugendhaften Person ist. Lott schließt sich in seinen Ausführungen letztlich Rosalind Hursthouse an, die den aristotelischen Naturalismus grundsätzlich als hermeneutisches Projekt versteht. Er möchte anhand seiner Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeit (andere Tugenden wären hier auch möglich) aufzeigen, wie man auf eine ethisch strukturierte Art und Weise über menschliche Wesen nachdenken kann. Der nächste Abschnitt führt in den Kern der Auseinandersetzung zwischen formalen und naturalistischen Ethikansätzen, insofern hierbei vornehmlich die Frage nach der Universalisierbarkeit von Normen gestellt werden muss.Während Kantische Ansätze diese Universalisierbarkeit aus den Gesetzen der autonomen Vernunft ableiten, versuchen ethische Naturalisten selbige aus einer sogenannten „natürlichen Normativität“, die einer jeweiligen Spezies zugeschrieben wird, wenn sie ihr artei-
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genes Telos erfüllt, zu deduzieren. Heiner Klemme nimmt in seinem Beitrag genau diesen Faden auf, indem er nicht nur die Auseinandersetzung zwischen neoaristotelischen und kantianischen Auffassungen praktischer Normativität thematisiert, sondern auch die Uneinigkeit der Kantianer über Kants praktische Philosophie selbst in den Fokus nimmt. Obwohl auch bei Kant die Natur, die Tugenden und das Glück eine wichtige Rolle spielten, stehe und falle sein theoretisches Gebäude mit dem Begriff einer Vernunft, etwas das, so Klemme, jenseits einer neoaristotelisch interpretierten Moralpsychologie angesiedelt sein muss. Nach wichtigen Überlegungen, die Kants Position von Wolffs ethischem Naturalismus abgrenzen, wendet sich Klemme im Hauptteil seines Beitrages Kants Konzeption der moralischen Verbindlichkeit zu und bemerkt, dass neoaristotelische Positionen im Unterschied selten oder gar nicht die spezifische Normativitätsdimension des Rechts berücksichtigten. Im Unterschied zu dem frühen Neoaristoteliker Wolff zeichne sich Kants Theorie der Verbindlichkeit in erster Linie durch einen Dualismus handlungsleitender Gründe aus, der nicht auf Basis einer Natur, die Theorie und Praxis umfasst, möglich sein kann. Sie kulminiere ferner in der Idee der Selbstbestimmung, deren Erhaltung nach Klemme als höchste Verbindlichkeit angesehen werden muss. Somit sei es nach Kant nicht die menschliche Natur, aus der man auf spezifische Rechtsinhalte schließen kann, sondern die freiheitsermöglichende Widerspruchsfreiheit des Gesetzes im Sinne seiner allgemeinen Zustimmungsfähigkeit. Markus Rothhaar unternimmt in seinem Beitrag den Versuch, im Rückgriff auf Hegel eine Alternative jenseits der Dichotomie von „neoaristotelisch-naturalistischer“ und „formaler“ Ethik aufzuzeigen. Zunächst wird dazu der Ansatz Philippa Foots einer Kritik mit dem Ziel unterzogen, genauer zu identifizieren, wo die Probleme des zeitgenössischen Neoaristotelismus eigentlich zu verorten sind. Dabei zeigt sich nach Auffassung Rothhaars, dass der „neoaristotelische Naturalismus“ entweder auf einen problematischen evolutionsbiologischen Naturalismus zurückfällt oder aber genau da tautologisch wird, wo er über den Bereich der nichtmenschlichen Lebewesen hinaus Geltung beansprucht. Auf dieser Grundlage soll dann gezeigt werden, dass Hegels Begriff des Lebens eine Perspektive bietet, der Eigenständigkeit der Subjektivität ebenso gerecht zu werden wie der Kontinuität von Subjektivität und Natur. Zugleich erlaubt Hegels Fundierung der intersubjektiven menschlichen Praxis im Gedanken der Anerkennung es, die Universalität grundlegender Rechte des Menschen vom selben Grund her zu denken, von dem her auch die Ausrichtung des Menschen auf Zwecke überhaupt und der Unterschied zwischen gelingendem und nicht gelingendem Leben begriffen werden kann. Der nächste Abschnitt befasst sich mit den praktischen Auswirkungen und Problemen eines ethischen Naturalismus, zu dem es bekanntlich gehört, nach Glück zu streben, d. h. moralisch zu gedeihen, und dementsprechend bestimmte
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Tugenden zu entwickeln. Den Anfang hierzu macht Angela Kallhoff, indem sie das Konzept des „human flourishing“ bei Aristoteles und anderen Autoren näher untersucht. Für ein gelingendes Lebens ist es nach Aristoteles bekanntermaßen notwendig, dass man seine angeborenen natürlichen Fähigkeiten bewusst entwickle. Was aber heißt das? Zu Beantwortung dieser Frage unternimmt Kallhoff den Versuch, das klassische aristotelische Konzept der eudaimonia in Begriffen des „human flourishing“ zu fassen und zu erklären. Zunächst diskutiert sie dabei das Ergon-Argument, das Aufschluss über die Art des Naturalismus und den korrekten Gebrauch des Wortes „gut“ (im Sinne von good functioning) geben soll. Danach geht Kallhoff auf die Konzeptionen von Foot und McDowell ein, die beide – jeweils mit unterschiedlichen Konklusionen – die natürlichen Fähigkeiten des Menschen, also die Tugenden, in einen engen Zusammenhang mit dem Begriff des guten Lebens bringen. Weil es unter dem Blickwinkel des ethischen Naturalismus von Foot und McDowell aber nahezu unmöglich erscheint, Personen eine Perspektive auf das zu geben, was ein Leben gut macht, verweist Kallhoff im Anschluss auf drei etwas moderatere Ansätze, denen zufolge a) die menschlichen Natur „Rohmaterial“ für Prozesse der Selbstformung sei (Annas), b) das „menschliches Gedeihen“ zum Grundbegriff des Wohlbefindens im Rahmen einer Theorie der Gerechtigkeit erhoben werde (Nussbaum) und c) die natürliche Form als eine Instanz zur Konstitution des Selbst betrachtet werden sollte (Korsgaard). Daraus folge für Kallhoff, dass in der menschlichen Natur, wenn sie als „Rohmaterial“ aufgefasst werde, keine Normen für ein gutes Leben, sondern vielmehr Perspektiven für die Entwicklung des eigenen Selbst enthalten seien. Somit beruhe menschliches Gedeihen letztlich auf dem Konzept der subjektiven Evaluation von natürlichen Fähigkeiten. Im Anschluss an Kallhoff versucht Martin Rhonheimer die Frage nach der Tugend vor dem Horizont der Willensfreiheit und ihrer Infragestellung durch die aktuellen Neurowissenschaften zu beleuchten. Zunächst begründet Rhonheimer seine Auffassung, wonach der Mensch kein reines Produkt der Evolution und daher nicht von Gehirnprozessen determiniert sei, indem er die Fähigkeit des Menschen zur Reflexion, d. h. zur Bewusstmachung uns begegnender Gegenstände, als maßgebliche „Signatur des Geistigen“ (S. 158) hervorhebt. Im Anschluss daran geht Rhonheimer auch auf die Notwendigkeit ein, Gründe als Veranlassungen für freies Handeln nicht mit Motiven (als kontingente mentale Ursachen für diese Gründe) zu verwechseln und bezieht sich dabei insbesondere auf Schopenhauers Charakterlehre, die eine solche Konfundierung gerade vollzieht. In Abgrenzung zu Schopenhauer greift Rhonheimer danach auf die klassische Habituslehre zurück, die die Grundlage für eine richtige Bestimmung der Tugenden liefere. Tugenden, so Rhonheimer, „potenzieren die Freiheit, weil sie vernunftkonform sind.“ (S. 165) Hierbei können die Neurowissenschaften sogar
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Markus Rothhaar und Martin Hähnel
eine Stütze darstellen, da sie zu bestätigen scheinen, dass unser Gehirn durch seine enorme Plastizität die Aneignung, Einübung, Festigung und Vernachlässigung bestimmter Fähigkeiten erlaubt. Im letzten Aufsatz dieses Abschnitts von Christoph Halbig wird nochmals der aristotelische Naturalismus einer grundlegenden Analyse und Kritik unterzogen. Ausgehend von Foots und Anscombes Forderung nach einer Neubesinnung der modernen Ethik scheint sich der aristotelische Naturalismus zunächst als ein möglicher Königsweg anzubieten, um dieses Ziel zu erreichen – eine Annahme, die Halbig jedoch in mehreren Schritten widerlegt. So behauptet der aristotelische Naturalismus in der Analyse Halbigs, dass er auf Grundlage des attributiven Gebrauchs des Wortes „gut“ das Problem der Objektivität moralischer Urteile zu lösen imstande sei, ohne damit ontologische Verpflichtungen einzugehen. Folglich könne der aristotelische Naturalismus auch den Ausgangspunkt einer nichtformalistischen, materialen Ethik bilden, wobei den Tugenden eine entscheidende Rolle zukommt, da sie den Maßstab für die Ausübung praktischer Rationalität darstellen. Allerdings verdeutlicht Halbig, dass der aristotelische Naturalismus letztlich weder die Frage nach der transformativen Kraft der Rationalität beantworten könne noch den Zusammenhang zwischen natürlicher Teleologie und normativer Geltung zufriedenstellend zu erklären in der Lage sei. Im letzten Teil konzentrieren sich die Beiträge schließlich um Fragen der angewandten Ethik und im Speziellen um bioethische Problemstellungen. Zunächst zeigt Ludwig Siep in seinen Überlegungen die Relevanz des Naturbegriffes für die angewandte Ethik auf. Dabei unterscheidet Siep die Natur in eine innere und äußere, die aber beide aufeinander bezogen sind. Die innere, körperlichseelische Natur hat vornehmlich mit kultivierbaren Fähigkeiten, d. h. Tugenden, die äußere Natur mit Gegenständen, Systemen und Kräfte, die nicht vom Menschen hervorgebracht werden, zu tun. In einem nächsten Schritt geht Siep auf das grundsätzliche Verhältnis von Norm und Natur ein. Normen werden ihm zufolge „von Menschen für Menschen gesetzt, eingeführt und als Normen anerkannt.“ (S. 204) Die äußere Natur sei diesbezüglich normfrei, während die innere auf menschlichen Werturteilen beruhe. Diese Vorbemerkungen Sieps dienen nun dazu, nach dem Umgang des Menschen mit seinen natürlichen Fähigkeiten und Entwicklungspotentialen (z. B. bei medizinethischen Fragen am Anfang und am Ende des Lebens im Kontext eines nicht-therapeutischen Enhancement) zu fragen und die Maße und Normen für den Umgang mit der äußeren Natur (z. B. Nachhaltigkeit) zu bestimmen. Letztere Überlegung nimmt dabei Bezug auf die Frage, inwieweit sich der Mensch als Referenzpunkt alles Lebendigen verstehen könne und welche Einschränkungen und „Beglückungen“ damit verbunden seien. Martin Hähnel wirft in seinen Überlegungen einen genaueren Blick auf den Begriff der „Funktion“, so wie er vor allem von Philippa Foot gebraucht wird. Dabei
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geht Hähnel auf die Substitution des klassischen metaphysisch-ontologischen Zweckbegriffes durch ein sich in der Neuzeit herausbildendes teleonomisches Funktionsverständnis ein. Foot scheint hierbei einen nicht-heuristischen, d. h. neutralen Funktionsbegriff zu adaptieren, welcher gerade nicht kompatibel mit einer evolutionsbiologischen Lesart ist und sich dezidiert von geläufigen Deutungen dessen, was Funktionen bezeichnen, abgrenzt. Im Folgenden werden die verschiedenen Kritiken an Foots Funktionsbegriff eingehender dargestellt und diskutiert. Im Anschluss daran versucht der Beitrag dieses Funktionsverständnis auf aktuelle Probleme der Krankheitstheorie und Enhancement-Debatte zu beziehen, mit dem Ergebnis, dass der Funktionsbegriff einschließlich seiner Negation als Dysfunktion in der Auslegung Foots in diesen Bereichen nur bedingt Anwendung finden kann. Die Problematik wird durch einen Beitrag von Vittorio Possenti, der auf das Konzept der natürlichen Normativität eingeht und es im Anschluss an Aristoteles als Sein des Lebendigen qualifiziert wissen möchte, in praktischer Hinsicht weiter beleuchtet. Dabei fragt Possenti zunächst, ob dem Lebendigen Normativität überhaupt inhärent sei, wobei er zu dem Schluss kommt, dass dies nur bestätigt werden könne, wenn wir anthropologische und ontologische Aspekte in die bioethische Diskussion einfließen lassen. Dabei ist es insbesondere notwendig, eine substantielle Definition der menschlichen Person zu entwickeln, in deren Rahmen es erlaubt sei, Entitäten (z. B. menschliche Embryonen) einen moralischen Status zuzuweisen und sie mit moralischen Rechten auszustatten. Ebenso ist es für Possenti entscheidend, welchen Begriff von Natur – Natur als Objekt der Physik, Natur als Synonym für das Sein oder Natur als Leben – wir verwenden. Ferner bemerkt Possenti, dass gegenwärtig teleologische Deutungen aufgrund einer erkenntnistheoretischen Vorentscheidung aus dem Erklärungsuniversum der neuzeitlichen Naturwissenschaften verbannt worden seien. Erst die von Philippa Foot und Hans Jonas postulierte Idee einer „natürlichen Normativität“ ließe wieder den Schluss vom Sein auf das Sollen zu. Possenti macht diesen Sachverhalt am Beispiel des Embryos anschaulich, der nicht zu einer Person wird, sondern von Beginn an eine Person ist. Hierbei geht Possenti auch dezidiert auf die Art und Weise ein, wie in einem nicht-graduellen Sinne, d. h. aufgrund einer substantiellen Transformation, im Zuge dessen Bestehendes nicht bloß neu organisiert, sondern etwas radikal Neues hervorgebracht werde, Leben entstehen könne. Dieser Prozess des Werdens solle Possenti zufolge keinesfalls beeinträchtigt werden, auch nicht im Kontext des „freezing“ von Embryonen. Eine solche Beeinträchtigung fände jedoch im Rahmen des Human Enhancement statt, insofern sich dadurch unser Menschenbild (Transhumanismus) und unsere Gesellschaft als Solidargemeinschaft, der Begriff von Lebensqualität und unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit und Verdienstlichkeit verändern könne.
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Markus Rothhaar und Martin Hähnel
Der abschließende Beitrag innerhalb dieser Debatte stammt von Günther Pöltner, der sich vor dem Hintergrund praktischer Auseinandersetzungen ausführlich mit dem Verhältnis von menschlicher Natur und Artzugehörigkeit beschäftigt. Im Mittelpunkt steht dabei der sogenannte Speziesismusvowurf,welcher die Bevorzugung der Angehörigen der eigenen (i. d. F. menschlichen) Spezies als biologistisch kritisiert und diesem Argument, z. B. in Anwendung auf den Embryonenschutz, einen Sein-Sollen-Fehlschluss, so dessen Kritiker (u. a. Reinhard Merkel), zu attestieren versucht. Pöltner geht in seiner anschließenden Problemanalyse, die auf eine Widerlegung dieser Einwände abzielt, zunächst auf den in dieser Debatte verwendeten Jargon ein. Im Zuge dessen werde von Spezies fälschlicherweise häufig als Gattungsausdruck, nicht als Artbegriff gesprochen. Kritiker des Speziesismusarguments seien aufgrund dieser Vorannahme aber gezwungen, sich einer Eigenschaftsontologie zu bedienen, die ausblendet, was es für ein Lebewesen heißen kann, zu sein. Aus dieser bewussten Auslassung folge wiederum, dass nicht die Wesen als solche, sondern nur deren speziestypische Eigenschaften als schutzwürdig erachtet werden können. All diesen Bestimmungen liegt Pöltner zufolge aber eine grundsätzliche Missdeutung des Menschseins, das maßgeblich Selbstsein ist, und den damit verbundenen Fähigkeiten und Dispositionen zugrunde. Richtig verstandenes Menschsein unterlaufe die Dichotomie von Sein und Sollen, weil sich die Natur des Menschen nicht aus biologischen Fakten zusammensetze, sondern sich im Menschen – vermittels seines Leibes und seines natürlichen Könnens – die „moralisch relevante Natur manifestiere.“ (S. 265)
I Menschliche Natur und Moral
Rosalind Hursthouse
Menschliche Natur und aristotelische Tugendethik Wenn man voraussetzt, dass sie sich auf Behauptungen über die menschliche Natur stützt, kann man fragen, ob die aristotelische Tugendethik (im Folgenden aTe) durch die Evolutionsbiologie unterminiert wird. Es gibt zumindest vier Einwände, die diese Behauptung, dass dem so sei, stützen sollen. Ich werde geltend machen, dass sie alle nicht triftig sind.¹ Mit den ersten beiden (Abschnitt 1) wird behauptet, die gegenwärtige aTe gründe auf einem Begriff der menschlichen Natur, der von der Evolutionsbiologie untergraben worden ist. Ich werde zeigen, dass dies nicht zutrifft. In Abschnitt 2 versuche ich darzulegen, dass Foots aristotelischer ethischer Naturalismus, der oft so verstanden wird, als verschaffe er der Tugendethik eine Grundlegung, genau dies nicht tut und auch nicht versucht, die Ethik aus der Biologie herzuleiten. In Abschnitt 3 prüfe ich die beiden anderen Einwände. Diese gehen nicht von der irreführenden Annahme etwaiger begründungstheoretischer Bestrebungen des aristotelischen ethischen Naturalismus aus, auch stellen sie nicht den von der aTe in Anspruch genommenen Begriff der menschlichen Natur in Frage. Sie behaupten hingegen, es könne durchaus sein, dass – angesichts der Tatsachen unserer Evolution – einige der empirischen Annahmen der aTe über die menschliche Natur falsch sind. Hinsichtlich dieser Einwände werde ich geltend machen, dass sie als Versuche, speziell die aTe zu unterminieren, fehlschlagen; dass sie jedoch für unser ethisches Denken ganz allgemein erhebliche Herausforderungen darstellen.
1 Zwei scheiternde Einwände Erster Einwand: Kein menschliches Wesen Worin besteht der aristotelische Zusammenhang zwischen Tugenden und der menschlichen Natur? Wir könnten ihn in der folgenden Behauptung finden (im Folgenden: „die aristotelische Behauptung hinsichtlich der Tugenden“):
Einer der Einwände stammt von Bernard Williams. Die anderen drei sind mir auf Konferenzen etwa im Zeitraum der letzten zehn Jahre zu Ohren gekommen und finden sich in zu vielen Aufsätzen, um diese anzuführen.
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Rosalind Hursthouse
[D]ie Tugenden [entstehen] in uns weder (i) von Natur aus noch (ii) gegen die Natur.Vielmehr sind wir (iii) von Natur aus fähig, sie aufzunehmen, und durch Gewöhnung werden sie vollständig ausgebildet.²
Keine Bedeutung sollte dem Passus „von Natur aus“ beigelegt werden. Eine gleichfalls autoritative Übersetzung lautet: „[…] werden uns die Tugenden weder von Natur noch gegen die Natur zuteil, sondern wir haben die natürliche Anlage, sie in uns aufzunehmen“.³ Die aTe akzeptiert diese Behauptung. Der erste Einwand besagt, sie basiere auf einem diskreditierten Begriff des menschlichen Wesens. Trifft das zu? Ich akzeptiere, dass Aristoteles, obwohl er nicht der Essentialist war, den Platon verkörperte, gewiss einige Dinge über Gattungswesenheiten geglaubt hatte, die von der Evolutionsbiologie unterminiert worden sind. So spielt er mit der obigen Behauptung zweifellos auf ein solches menschliches Wesen an. Wir aber könnten einfach sagen: „Na und? Wen interessiert das?“ Die Meeresbiologen im 19. Jahrhundert hatten kein Problem damit, die Beobachtungen des Aristoteles zu bewerten und diese (wie ich gelesen habe) zum großen Teil für zutreffend zu halten. Niemand sagte damals, und niemand sagt jetzt, nach Darwin: „Ach ja, sie sind ja alle durch die moderne Biologie entwertet worden, weil wir doch jetzt wissen, dass es so etwas wie Gattungswesenheiten, die er als gegeben annahm, nicht gibt.“ Sie verstanden die Beobachtungen einfach als solche über die Kreaturen, deren Beobachtungen sie offenbar waren, und beurteilten sie als wahr oder falsch, oder als der weiteren Erforschung würdig oder als was auch immer. Gleiches ließe sich über seine, die Tugenden betreffende Behauptung sagen. Moderne aristotelische Tugendethiker können sie als eine offensichtliche Behauptung über uns Menschen verstehen, wie etwa auch die Humanphysiologie von uns Menschen handelt, und die Humanpsychologie dies tut, wie auch das Humangenomprojekt. Was besagt die Behauptung? Wir kommen dem näher, wenn wir an eine analoge Behauptung über die menschliche Natur und die Sprache denken. Die obige Behauptung besteht aus drei Teilen und im Falle der Sprache hieße dies: (i)
Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch II, 1, übers. v. Ursula Wolf, Reinbek 2006, 74. Die Übersetzung bezieht sich auf folgendes Zitat: „The virtues arise in us neither (i) by nature nor (ii) contrary to nature, but (iii) nature gives us the capacity to acquire them and completion comes through habituation.“ (Aristotle, Nicomachean Ethics, hg.v. Roger Crisp, Cambridge 2000, Buch 2, Kapitel 1). Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch II, 1, übers. v. Eugen Rolfes, Leipzig 1911, 23. Die Übersetzung bezieht sich auf folgendes Zitat: „…neither by nature nor contrary to nature but because we are naturally able to receive them.“ (Aristotle, Nicomachean Ethics, übers. v. Christopher Rowe, eingel. u. komm. v. Sarah Broadie, Oxford 2002).
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Sprache entsteht in uns nicht von Natur aus: Einem jeden von uns muss das Sprechen gelehrt werden. Aber (ii) Sprache entsteht in uns auch nicht gegen die Natur: Unsere Kinder nehmen diese Lehre begierig auf und Helen Keller dürstete nach ihr.Was könnte für Menschen natürlicher als die Sprache sein? Wir gehen (iii) davon aus, dass wir den Spracherwerb betreffend keinesfalls leere Schiefertafeln, dass wir natürlich befähigt sind, eine Sprache zu erwerben/die natürliche Befähigung besitzen, eine erste Sprache – eine jede erste Menschensprache – durch anfängliches Üben zu erlernen und den Lernprozess dann selbständig abzuschließen. Unter der Voraussetzung,von den Älteren anfangs unseres Lebens in sie eingeübt worden zu sein, plappern wir drauflos. Einige Zeit später haben wir es dann geschafft. Vielleicht möchte jemand sagen, dass der dritte Teil hinsichtlich der Sprache – oder in der Tat hinsichtlich der Tugend – sehr spekulativ sei, oder dass die Behauptung über die Sprache plausibler sei als jene über die Tugenden. Sicherlich aber würde keiner sagen wollen, die Behauptung über die Sprache müsse deshalb falsch oder sinnlos sein, weil – wie wir jetzt angesichts der Evolutionstheorie bemerkt haben – so etwas wie ein menschliches Wesen nicht existiert. Gleiches gilt für die aristotelische Behauptung hinsichtlich der Tugenden. Diese mag falsch sein. Sollte sie aber falsch sein, dann wäre sie dies nicht deshalb, weil es so etwas wie eine menschliche „Wesens-“Natur nicht gibt, sondern aus dem Grund, dass zumindest eine der drei, uns betreffenden Behauptungen, aus denen sie sich zusammensetzt, falsch ist (dieser Einwand wird im Abschnitt 3 betrachtet). Hinsichtlich dieses Einwandes komme ich also zu dem Schluss, dass die aristotelische Tugendethik nicht einfach deshalb unterminiert wird, weil es so etwas wie ein menschliches Wesen nicht gibt, sondern nur (gegenwärtig und für einige wenige Jahrtausende davor und möglicherweise eine nicht viel längere Zeit danach) die menschliche Gattung bzw. Menschen bzw. uns.
Zweiter Einwand: kein Begriff der Gesundheit Nun kommen wir zu einem anderen, damit eng verbundenen Einwand. Der aristotelische ethische Naturalismus, den moderne Befürworter der aTe vertreten, stützt sich in starkem Maße auf den Begriff der Gesundheit. Er behauptet, eine Analogie finden zu können zwischen der Einschätzung der Mitglieder anderer Gattungen als gute, d. h. gesunde Mitglieder ihrer Art und als in gewisser Weise mangelhafte Mitglieder auf der einen Seite und den ethischen Einschätzungen von uns über uns auf der anderen. Aber die moderne Biologie, so wird behauptet, weise nicht nur den Begriff einer wesenhaften Menschennatur (oder der irgendeiner Gattung) zurück; sie lehne auch, und vielleicht aus dem gleichen Grund, den
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Begriff der Gesundheit ab (und damit verbundene Begriffe wie jenen des Mangels, der Fehlfunktion und der Abnormität). Für die Evolutionsbiologie mag das zutreffen. Diese ist aber letztlich nur eine von vielen biologischen Wissenschaften. Auch scheint es in sinnloser Weise albern zu bestreiten, dass viele von ihnen in der Tat den Begriff einer gattungsspezifischen Gesundheit (und damit den mit ihm verbundenen des Mangels usw.) nutzen. Denn offensichtlich findet er in der Human- und in der Veterinärmedizin Verwendung. Im Gegenzug mag darauf verwiesen werden, dass Human- und Veterinärmedizin, statt theoretische Gegenstandsbereiche zu sein, primär praktische und gewerbemäßig betriebene darstellen und folglich Widerspiegelungen unserer Interessen und Wünsche sind. Sie werden betrieben, um zu praktizieren, um Dinge in der Welt sich unseren Absichten entsprechend verhalten zu lassen. Mit Begriffen der menschlichen Gesundheit und der Gesundheit der Hauskatze legen wir folglich fest, wie wir zu sein wünschen bzw. wie wir uns unsere Katzen wünschen. Diese Begriffe zergliedern die Welt nicht so, wie sie sich selbst unterteilt. Dann aber könnte man fragen, wie es sich mit der Menschen- und Tierphysiologie verhält, mit denen die beiden praktischen/gewerblichen Analyseschulen so eng verbunden sind. Human- und Veterinärmedizin werden an Universitäten als eine Mischung aus Theorie und Praxis gelehrt, die Liste der Forschungsthemen der beteiligten Akademiker ist eine Mischung aus beidem. Sicherlich unterscheidet sich die Humanmedizin als akademischer Gegenstand von der Humanphysiologie und die Veterinärwissenschaft von der Tierphysiologie, denn erstere sind primär praktisch orientiert, während dies für die Human- und Tierphysiologie nicht gilt. Letztere zielen nicht darauf ab, Dinge in der Welt sich so verhalten zu lassen, wie wir das wünschen, sondern darauf, die Dinge, die es gibt, zu bestimmen und zu erklären. Dennoch liegt das Hauptaugenmerk der Physiologie auf der Untersuchung normaler Körperfunktionen, wobei „normal“ nicht einfach ein statistischer Terminus ist. Auch wird die Humanphysiologie als die Wissenschaft bestimmt, die sich mit den mechanischen, physikalischen und biochemischen Funktionen von Menschen bei guter Gesundheit (deren Organen und den Zellen, aus denen sie sich zusammensetzen) beschäftigt. Es mag schon wahr sein, dass die Humanphysiologie als Studiengegenstand nur deshalb auf den Weg kam, weil wir auf bestimmte Weise interessiert sind, bewerten und leben. Vielleicht wurde die Tierphysiologie aus gleichen Gründen auf den Weg gebracht, wobei hier noch die weitverbreiteten Verbote der Vivisektion am Menschen hinzukommen. Oder vielleicht entstand unser Interesse an der Tierphysiologie, weil wir Haustiere mit gewissen Eigenschaften schätzten – langlebig zu sein, körperlich groß und fruchtbar sowie widerstandsfähig gegenüber solchen äußeren Faktoren, die einige dieser Eigenschaften schmälern. Viel-
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leicht erwuchs unser Interesse an der Pflanzenphysiologie aus unserem Interesse an der Landwirtschaft. Wer weiß. Aber wieder kann man fragen, wen das interessiert. Ob nämlich die „Warum wohl?“-Geschichte dies sagt, oder ob sie stattdessen behauptet, alle Studienfächer hätten ihren Anfang genommen, weil wir erfüllt vom Staunen über die Welt wissen wollten, wie alle diese ihre Teile funktionieren – jenes Motiv, das gewiss hinter Aristoteles’ Meeresbiologie steht –, wir landen letztlich am selben Ort, bei der „modernen Biologie“, wie wir sie heute kennen. Wer weiß denn wirklich, wie sie sich entwickelt hat, aber entwickelt hat „sie“ sich sicherlich, sodass wir heute auf „sie“ als „die biologischen Wissenschaften“ verweisen und dabei den Plural nutzen, um ihre verschiedenen Zweige, Teilbereiche und Erweiterungen mit zu umfassen, die sich aber einer hierarchischen Taxonomie nicht fügen. Wir können die Forschungsbereiche auf verschiedenen Wegen klassifizieren, wobei ich vermute, dass sich zwei davon bezogen auf das Ausmaß bilden ließen, in dem sie zur Medizinwissenschaft beitragen oder den „evaluativen“ Gesundheitsbegriff verwenden. Allerdings hätte eine jede Klassifikation unscharfe Ränder. Wesentlich am gerade Gesagten ist, dass es nicht darum geht, die biologischen Wissenschaften als eine in geeignetem Sinne „wertbehaftete“ Fundierung der Ethik anzulegen, sondern darum, die Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu richten, dass die Disziplinen, die man als wertbehaftet oder wertgeprägt bezeichnet oder von denen man der Auffassung ist, sie beinhalteten Wertungen, nicht so deutlich von jenen unterschieden werden können, für die das nicht gilt. Man könnte die Medizin als angewandte Biologie betrachten, was dann aber nicht hieße, dass sämtliche übrigen biologischen Wissenschaften wertneutral oder wertfrei wären und dass Werte plötzlich dann auf der Bühne erschienen, wenn wir Medizin betrieben. Sollte die Evolutionsbiologie tatsächlich völlig wertneutral sein, und keine Verwendung für Begriffe wie Gesundheit, Fehlfunktion oder Normalität haben (in einem nichtstatistischen Sinn), so trennt sie dies vermutlich nicht von jenen biologischen Wissenschaften, für die dies nicht gilt – sie speist sich zumindest durch einige von ihnen, und einige von diesen speisen sich durch sie. Sie ist, wie ich bereits sagte, nur eine biologische Wissenschaft unter vielen; auch kommt ihr keine privilegierte Stellung zu.⁴ Dass die Evolutionsbiologie nichts mit dem Begriff der Gesundheit zu tun hat – oder dem des Mangels, der Fehlfunktion oder der Abnormität –, ist für die Rele Sterelny und Griffiths (1999), S. 346, bemerken, dass der „Unterschied zwischen polymorphen und monomorphen Charakteristika in der Biologie die Norm ist“, wobei sie monomorphe Charakteristika als solche bestimmen, die „in gleicher Form in jedem ‚normalen‘ Individuum existieren. Monomorph beim Menschen ist die Anzahl der Beine.“
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vanz dieser Begriffe, die sie im Rahmen der aristotelischen Tugendethik haben, somit ohne jeden Belang. Wie relevant sind diese Begriffe wirklich für die aristotelische Tugendethik? Nun, sie sind es nicht in dem Maße, das ihre Kritiker vermuten. Damit komme ich zum zweiten Abschnitt meiner Ausführungen, einen kurzen Exkurs zum Grundlegungsproblem und der aristotelischen Analogie mit der Biologie.
2 Der aristotelische ethische Naturalismus bedarf keiner Grundlegung Eine Reihe von Kritikern verwenden große Mühen auf die Erklärung, warum sich die Tugendethik nicht aus der Evolutionsbiologie herleiten lässt oder warum die Evolutionsbiologie sie nicht mit einer Grundlage versehen kann. Ich werde Einwände dieser Art nicht diskutieren, denn sie sind einfach gesagt unangebracht. Stattdessen werde ich kurz etwas darüber sagen, warum sie unangebracht sind und welche Rolle der aristotelische Naturalismus spielt, wenn diese Rolle keine grundlegende ist. Es wäre, wir gerade gezeigt, töricht zu glauben, die Evolutionsbiologie verschaffe der Tugendethik ihre Grundlegung. Wenn dies eine der biologischen Wissenschaften täte, würde es eine der anderen sein – jene, die der Medizinwissenschaft ihre Grundlegung liefern, und die Ethologie. Ich nehme an, dass einige biologische Wissenschaften der Medizinwissenschaft tatsächlich in einleuchtender Weise eine Grundlage liefern. Sie – und zuweilen vielleicht, etwa wenn es um Schrittmacher oder Laserchirurgie geht, nicht allein diese, sondern auch einige der physikalischen Wissenschaften – erklären und rechtfertigen eine große Anzahl medizinischer Behauptungen. In Fällen, in denen wir noch nicht wissen, wie wir das tun sollen, was wir tun wollen (etwa Krebserkrankungen verhindern oder das chronische Erschöpfungssyndrom heilen), weil wir noch nicht genug darüber wissen, wie unsere Körper funktionieren, erwarten wir, dass uns die biologischen Wissenschaften Erklärungen liefern werden. Ferner erwarten wir von den biologischen Wissenschaften in den Fällen, in denen wir rechtfertigen aber nicht erklären können, Erklärungen zu erhalten. Zum Beispiel wissen wir (wie ich glaube), dass die Akupunktur manchmal funktioniert – jene nämlich, die Operationen am offenen Herz bei Patienten ermöglicht, die bei Bewusstsein sind. Das ist sehr rätselhaft, aber wir erwarten, dass die westliche Wissenschaft eines Tages in der Lage sein wird, dies zu erklären. Nun hat kein aristotelischer ethischer Naturalist – auch nicht Aristoteles, gemäß einigen maßgeblichen Interpretationen – je angenommen, dass die Bio-
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logie in jenem einleuchtenden Sinn, in welchem sie die Medizinwissenschaft mit einer Grundlage versieht, gleichermaßen der Ethik eine Grundlage zu liefern vermag. In der Tat ist mir kein Werk eines modernen Tugendethikers bekannt, in dem unterstellt, geschweige denn behauptet wird, man könne in der Weise erwarten, dass die Ethik zu einem Zweig der angewandten Biologie wird, in der wir sagen könnten, dass die Medizin einen solchen Zweig bildet. Auch ist für mich keine ethische Behauptung derart vorstellbar, dass jemand von uns sagten möchte: „Sicher wissen wir, das und das ist der Fall; warum es sich so verhält, ist aber sehr rätselhaft. Aber ich erwarte, dass die Biologie eines Tages in der Lage sein wird, dies zu erklären“ – und zwar so zu erklären, wie wir das in Bezug auf die Akupunktur und zweifellos für das Phänomen der Hypnose fordern. Einem jeden, der der Auffassung der aristotelischen Naturalisten folgt, ist es völlig offenkundig, dass man nicht vorgeben kann, Menschen betreffende ethische Bewertungen aus der ethisch neutralen Humanbiologie abzuleiten, sondern dass man über Menschen bereits in ethisch präformierter Weise denkt.⁵ Vielleicht unterscheidet uns das von einigen der Fürsprecher der anderen Art normativer ethischer Theorien. Möglicherweise finden sich unter diesen Fürsprechern immer noch einige treue Anhänger, die glauben, damit befasst zu sein, ihre moralischen Überzeugungen in irgendeiner rationalen, jedoch ethisch (und kulturell) neutralen Weise zu rechtfertigen, oder die zumindest glauben, dies anstreben zu können. Wir Tugendethiker hingegen wissen, dass wir das nicht tun und nicht einmal zu tun erstreben. Dächten wir, es wäre möglich, dann würden wir uns sicherlich das Angebotene zu Nutze machen. Letztlich ist es allzu offensichtlich, dass es, was die Rechtfertigung der Behauptung betrifft, die und die Charaktereigenschaft sei eine Tugend, keinen Grund zu der Annahme gibt, warum die Tugendethiker nicht die gleiche Art Schritte vollziehen sollten wie die Anhänger anderer normativer Theorien. Wir könnten die Geschichte ersinnen, dass es eine solche Charaktereigenschaft sei, deren Besitz durch einen jeden die besten Auswirkungen hätte; oder jene Geschichte, derzufolge ich auf rationale Weise verlange, deren Besitz durch einen jeden möge zu einem allgemeinen Gesetz werden. Würden wir überzeugt sein, diese Art Geschichten könnten der Tugendethik eine rationale, jedoch ethisch neutrale Grundlage liefern – was die Biologie nicht kann –, dann wären wir natürlich dabei. Bezeichnenderweise glauben wir das aber nicht. Somit sind wir der Überzeugung, besser klarzukommen, wenn wir keine dieser Art Geschichten erzählen.
Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang bildet möglicherweise Larry Arnhart (1998).
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„Also gut“, so ließe sich einwenden, „wenn der aristotelische Naturalismus nicht danach strebt, der Ethik eine Grundlage in der Biologie zu verleihen, was tut er dann?“ Letztlich hat Bernard Williams dies, wie ich glaube, treffend geschildert. Ursprünglich hatte Williams dem, was er für den aristotelischen Naturalismus hielt, widersprochen (Williams 1972 und 1985), letztlich aber Nussbaum (Nussbaum 1995) gegenüber eingeräumt, dass sich Aristoteles auf bessere Weise lesen ließe, und (edelmütig und aufrichtig wie er war) anerkannt, ein Großteil seiner Kritiken gegen den aristotelischen Naturalismus sei unangebracht (bis auf eine, der ich mich in Abschnitt 3 zuwende). „Ich räume ein“, so sagte er, „dass sich das aristotelische Unternehmen kohärenztheoretisch oder hermeneutisch verstehen lässt.“ (Williams 1995, S. 200) Das scheint, soweit dies dessen moderne Version betrifft, eine gute Beschreibung zu sein: Der aristotelische Naturalismus bietet eine Art Kohärenztheorie, und zwar eine solche mit einer gewissen hermeneutischen Agenda.
Foots ethischer Naturalismus Was man in ein Programm zur Erlangung eines Überlegungsgleichgewichts oder einer Kohärenz zwischen seinen Vorstellungen in einem bestimmten Bereich einbringt, wird schließlich das Resultat prägen, nicht zuletzt deshalb, weil es das, was man in diesem Bereich für bedeutsam hält, beeinflusst. Als Foot begann, ihre naturalistischen Überlegungen zu entwickeln, dachte schwerlich jemand außer ihr, dass man daran arbeiten sollte, die eigenen ethischen und metaethischen Vorstellungen mit einer Vielzahl anderer Vorstellungen, die man von guten Wurzeln, guten Augen und guten Kakteen usw. hatte, in eine Kohärenz zu bringen; denn man hielt dies für belanglos. Wenn man Foot als die maßgebliche Autorität auf dem Feld des ethischen Naturalismus versteht, scheint mir völlig klar, dass das, was sie ihrer Überzeugung nach tut, gewiss nicht darin besteht, die Grundlegung der Ethik voranzubringen. Sie ist durch und durch von Wittgenstein geprägt, somit Grundlegungsversuchen gegenüber resistent. Was sie tut, besteht in dem, was Wittgenstein über die Arbeit der Philosophen sagt, nämlich Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck zusammenzutragen. (Wittgenstein 1984, S. 303) Der allgemeine Zweck des Wittgensteinschen Unternehmens besteht darin, in keinem Fall den „Gebrauch unserer Wörter zu übersehen“ (Wittgenstein 1984, S. 303). Der Zweck speziell im Falle Foots ist es immer gewesen, unseren Gebrauch der Wörter, wenn wir unseren moralischen Überzeugungen Ausdruck verleihen oder über diese sprechen, besser in den Blick zu bekommen. Was tun wir, wenn wir jemanden für einen guten Menschen halten, dessen Handlungen für richtig oder falsch, seinen Charakter für
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gut oder schlecht – welchen anderen Gebräuchen dieser Wörter gleichen diese moralischen Gebräuche? Als Foot begann, gegen die Dichotomie von Tatsache und Wert Einspruch zu erheben, waren sich ihre Kontrahenten ziemlich sicher, darüber im Klaren zu sein, wem der moralische Gebrauch von „gut“ und „richtig“ in Behauptungen gleicht. Sie gleichen, so glaubten sie, Bekundungen der Begeisterung oder der Abneigung (die alten Buh!-Juche!-Äußerungen, wie man sich erinnert). Oder sie gleichen Befehlen – wir sehen deutlicher, was wir mit unserer Behauptung, „John ist ein guter Mensch“, tun, wenn wir dieses Tun als dem verwandt betrachten, das in der Äußerung besteht: „Sei wie John!“. Oder sie gleichen selbstbezogenen Ermahnungen: „Lass mich wie John sein!“ Aber sie gleichen nicht, sie sind völlig verschieden von zum Beispiel „John ist ein guter Dieb“. Denn dies ist offenbar eine rein tatsachenbezogene Aussage, wie etwa „Dieser Baum hat gute Wurzeln“, und ein völlig anderer Gebrauch von „gut“. Im Gegenzug zu diesen vorherrschenden Ansichten unternahm die frühe Foot zumindest zwei Spielzüge, einfach hinsichtlich des Adjektivs „gut“. Mit dem einen brachte sie das alte Argument ins Spiel, dass „gut“ zumindest im Großen und Ganzen attributiv auf eine Weise ist, wie dies auch für „groß“ und „klein“ gilt, aber für Farbwörter im Großen und Ganzen nicht. Dies heißt, man kann mit nicht-attributiven Adjektiven wie „rosa“ wirklich sagen, etwas sei rosa, ohne darüber nachzudenken, wie das rosa Ding noch zu kategorisieren wäre. So ist es zum Beispiel unerheblich, ob man sagt, es sei eine Maus, oder sagt, es sei ein Tier, sofern es nur tatsächlich rosa ist. Gleiches kann man aber mit „groß“ nicht tun, denn ob es wahr ist, dass das, was man bestimmt, groß ist, hängt wirklich davon ab, ob man es als zum Beispiel eine Maus oder ein Tier kategorisiert – ein und dasselbe Ding ist sowohl eine große Maus als auch ein kleines Tier. Gleiches gilt für „gut“: Der gute Dieb ist der böse Mensch, der gute Liebhaber mag, leider, ein schlechter Ehemann sein, usw. In diesen Beispielen deutete sich ihr zweiter Zug schon an. Das Adjektiv „gut“ besitzt eine breite Palette (wie Philosophen sagen) nicht-moralischer wie moralischer Gebräuche. Wir haben jedoch keinen Grund – wie eine Unterscheidung in einer fremden Sprache oder eine zufriedenstellende philosophische Darstellung – für die Annahme, dass sich diese philosophische Unterscheidung zwischen moralischen und nicht-moralischen Gebräuchen immer treffen lässt. In Hinblick auf Foots frühes Werk ließe sich, wie ich glaube, sagen, dass sie ein schlechtweg kohärenztheoretisches Programm verfolgte, das darauf zielte, den primitiven Subjektivisten um sie herum die Fehlerhaftigkeit ihres Vorgehens deutlich zu machen. Daraus erklärte sich ihre Bereitschaft, „gut“ in Bezug auf unbeseelte Gebrauchsgegenstände wie Stifte und Messer zu diskutieren. Auch
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ließe sich sagen, dass diesem Programm Erfolg beschieden war: Es schuf die weit ausgeklügelteren Formen des Subjektivismus, die wir heutzutage haben. Was jedoch als das Zusammentagen von vielen und verschiedenartigen Beispielen der Gebräuche von „gut“ mit dem Zweck begann, die Dichotomie von Tatsache und Wert zu untergraben, wurde auf dem Höhepunkt ihres Schaffens das Zusammenstellen einer begrenzteren Gruppe zu einem spezielleren Zweck – dem Zweck, eine Gleichheit, eine Analogie zwischen unserer Bewertung von Aspekten der anderen Tiere und unseren uns selbst betreffenden ethischen Bewertungen aufzuzeigen. Sie spreche, wie sie schrieb, „moralischer Bewertung und der Bewertung tierischen Verhaltens eine gleichartige Basis zu“ (Foot 2004, S. 33). Die Behauptung, dass hier eine Gleichheit oder eine Analogie zwischen zwei Diskussionsbereichen vorliegt, die sich hinsichtlich ihres Gegenstands unterscheiden (also wir und andere Tiere), ist wirklich eine ziemlich schwache und, wie man annehmen sollte, unverfängliche Behauptung. Wenn ich betone, dass Foots naturalistische Position – aber auch die meinige und, wie ich glaube, auch die MacIntyres – nicht darin besteht, dass es eine Grundlage, nicht dass es irgendeine Art Primat hinsichtlich der biologischen Einschätzung der anderen Tiere gebe, sondern nur darin, dass es eine Gleichheit gibt, dann könnte man sagen, „also wenn dies alles ist, was soll dann der ganze Lärm?“ Mir scheint das eine berechtigte Frage zu sein. Warum macht man einen solchen Lärm und versucht, die Tugendethik sofort abzuschreiben? Es scheint, als ob es in der Tat Foots Analogie selbst ist, die Verärgerung auslöst, denn man fährt fort, diese Analogie anzugreifen, selbst nachdem wir ständig betont haben, dass es nicht um einen Versuch der Grundlegung, speziell der Tugendethik, geht, die den anderen Theorien fehlte, sondern einfach um eine Analogie. Mein Verdacht ist, dass man zuinnerst die Analogie ganz einfach deshalb nicht mag, weil sie Menschen in Hinblick darauf, ethische Akteure zu sein, nicht besonders genug macht. Sie grenzt uns und unser ethisches Denken, unsere ethischen Diskussionen um uns nicht ordnungsgemäß ab vom nicht-ethischen Denken und der nicht-ethischen Diskussion bezogen auf die anderen Tiere. Man möchte, dass die Unterscheidung hinsichtlich des Gegenstands zu einer Vielzahl weiterer Unterscheidungen führen möge, man möchte hingegen nicht von Foot aufgefordert werden, nach Ähnlichkeiten zu suchen. Man fragt uns, warum wir der Analogie zur Biologie oder zu Tieren Aufmerksamkeit schenken, die uns dazu ermuntert, unsere ethischen Bewertungen als gattungsrelativ zu verstehen, wenn doch unser ethisches Denken und die ethische Diskussion um uns von uns als diesen besonderen Wesen, Personen, handeln, und ‚Person‘ überhaupt kein gattungsrelativer Begriff ist. Wir antworten darauf, dass wir diese Analogie teils deshalb beachten, weil wir unsere anmaßende Neigung, über uns auf derart überspannte Weise zu denken,
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einschränken möchten. Die Analogie lokalisiert uns entschieden dort, wo wir hingehören, als etwas, das deutlich weniger besonders ist. Dies schließt nicht die Bedeutsamkeit der Tatsache aus, dass die meisten von uns Personen sind, das heißt, dass uns eine bestimmte Art Rationalität zukommt. Alles andere wäre auch abwegig, ist doch Foots Naturalismus ein aristotelischer Naturalismus und Aristoteles schwerlich ein Beispiel für einen Philosophen, der den Gesichtspunkt herunterspielt, dass uns unsere Rationalität von den anderen Tieren unterscheidet. Diese charakteristische Tatsache ist uns gegenwärtig – letztlich sprechen wir ja über uns, nur tun wir dies in einer gattungsbezogenen Weise. Es ist einfach die normale, gesunde, menschliche Entwicklung, dass wir die Rationalität, die uns zu moralischen Akteuren oder Personen macht, ziemlich zeitig in unserer Entwicklung erwerben und, wenn wir Glück haben, bis zum Tode behalten. Allerdings handelt es sich hierbei, das sollte man beachten, um eine Phase menschlicher Entwicklung. Die Rationalität und das „Personsein“, um die es hier geht, sind menschliche Rationalität und menschliches Personsein – beide Begriffe gelten nur für Menschen, somit nur für Wesen mit bestimmten biologischen Eigenschaften, wobei darüber hinaus ein jedes dieser Wesen kulturell und historisch situiert lebt. Weil wir die meiste Zeit unseres Menschenlebens als Personen verbringen, gehören wir nicht schon einer völlig anderen Seinsordnung an. Auch gibt es, vor unserer Begegnung im einigen vielversprechenden Kandidaten, keinen Grund zur Annahme, diese Begriffe ließen sich – per Familienähnlichkeit – auf Außerirdische und göttliche Wesen anwenden. Somit besteht ein Grund dafür, die Analogie zu achten, darin, dass uns dies dabei unterstützt, etwas mehr vom ungerechtfertigten Optimismus der Aufklärung hinsichtlich der Früchte loszuwerden, die das Zeitalter der Vernunft uns vermeintlich bescheren wird. Ein weiterer Grund besteht darin, dass wir durch Achtung der Analogie einige interessante Dinge über unser ethisches Denken erfahren. Hier folgt ein kleines Beispiel dafür, was die Beachtung der Analogie bewirken kann. Wenn wir uns mit ethischen Fragen beschäftigen und uns über gute Menschen sowie eine gute Lebensführung unterhalten, werden wir vermutlich irgendwann auf das Problem stoßen, das uns Menschen und Lebensführungen anderer Art dadurch stellen, dass sie sich von uns und unseren Leben erheblich unterscheiden, wobei wir aber dennoch stark dazu neigen, über sie zu sagen, sie seien gut. Einige von uns sind dann geneigt zu sagen, unter den verschiedenen Leben müsse sich immer ein bestes finden lassen, dies könne nicht unbestimmt bleiben. Sie werden folglich nach einer theoretischen Rechtfertigung dafür suchen, das eine dem anderen überzuordnen. Andere werden zumindest einige dieser Versuche für offenkundig unbefriedigend halten, die Unbestimmtheit akzeptieren und sagen, darin manifestiere sich die Unvereinbarkeit der Werte.
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Wir nutzen Majuskeln hier, weil wir glauben, die Unvereinbarkeit sei ein charakteristisches Merkmal moralischer Werte, das zu verschiedenen Merkmalen in Beziehung steht, die uns als Rationale Wesen – weitere Majuskeln – auszeichnen, wie etwa unsere Autonomie, unsere Integrität, die Tatsache, dass wir persönliche Werte haben usw. Folgen wir hier allerdings Foot, so können wir in Übereistimmung mit der zweiten Gruppe anerkennen, dass die Unbestimmtheit gewiss besteht, müssen die Tatsache ihres Bestehens jedoch nicht in der Weise interpretieren, die die Majuskeln nahelegen. In Analogie mit der Bewertung anderer lebendiger Dinge gesehen und der Weise, wie diese zurechtkommen, untersuchen wir allein die Art Unbestimmtheit und „Unvereinbarkeit der Werte“ – hier keine Majuskeln –, die wir ganz unten auf der Ebene von Pflanzen finden, somit nicht etwas, das bezeichnend für die Ethik oder unserer Rede über uns als rationale Akteure wäre. Hier haben wir das Exemplar einer bestimmten Pflanzenart, in mancher Hinsicht auffallend gut entwickelt, in anderer jedoch mit kleinen Mängeln behaftet, im Ganzen gesehen aber ziemlich gut und gesund, das so gedeiht, wie dies angesichts seines Standortes erwartet wird. Und hier haben wir ein weiteres Exemplar, in keiner Weise so gut entwickelt, jedoch auch nicht mit entsprechenden Fehlern behaftet. Auch dieses ist ein gutes Exemplar, das ausreichend gedeiht. Ist das eine besser als das andere? Irgendeinem allgemeinen Kriterium oder Maßstab entsprechend sicherlich nicht. Wir könnten jedoch ein weiteres, für einen speziellen Zweck bestimmtes Kriterium heranziehen. Das prächtige, gut entwickelte Exemplar ist augenscheinlich das bessere für den Wettbewerb auf der Gartenschau im Dorf. Auch könnten wir ein neues Kriterium erfinden und zum allgemeinen erklären. Was aber hätten wir damit gewonnen, wenn die offenkundig beste Beschreibung des Aufbaus darin besteht, Aristoteles folgend zu sagen, ein jedes sei „gut in bestimmter Weise“: Das erste Exemplar ist gut trotz einiger weniger Mängel, das zweite hingegen ist gut, ohne in irgendeiner Weise herausragend zu sein. Die Beachtung der Analogie kann aber auch in allgemeinerer Hinsicht etwas bewirken. Vielleicht ermutigt sie uns nämlich, darüber nachzudenken, welche empirischen Annahmen wir über uns selbst als bestimmte, mit einer kontingenten Natur behaftete Tiere treffen, wenn wir über Ethik reden. Auch lässt sie uns damit in Betracht ziehen, was dem ethischen Denken und der ethischen Rede geschehen würde, sollten sich diese Annahmen als falsch erweisen. Im verbleibenden Teil meiner Abhandlung werde ich, indem ich mich den letzten beiden Einwänden widme, genau diese Betrachtung anstellen.
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3 Zwei scheiternde, jedoch zum Nachdenken anregende Einwände Die Einwände, die wir in Abschnitt 1 betrachtet hatten,wurden in der Überzeugung erhoben, dass wir, die Vertreterinnen und Vertreter der aristotelischen Tugendethik, altmodischen Unsinn über das menschliche Wesen erzählen. Eine andere Gruppe von Kritikern begegnet uns mit größerem Verständnis und gesteht uns zu, dass wir, wie von mir in Abschnitt 1 behauptet, über die menschliche Natur auf die gleiche Weise reden, wie dies zum Beispiel Soziobiologen tun, unter ihnen Wilson, der behauptet, die menschliche Natur sei letztlich egoistisch, und Wissenschaftsphilosophen wie Philip Kitcher, die genau dies bestreiten.⁶ Diese Kritiker möchten in der Tat, dass wir über die menschliche Natur auf verständliche Weise sprechen, dass wir eindeutige empirische Behauptungen aufstellen; denn sie glauben, die Evolutionsbiologie zeige – oder vielmehr verweise darauf –, dass einige dieser empirischen Behauptungen falsch, dass die Tatsachen der menschlichen Natur, so ließe sich mutmaßen, andersgeartet sind. Ich werde zwei problematische mutmaßliche Tatsachen über die menschliche Natur diskutieren, die vermeintlich von der Evolutionsbiologie behauptet werden. Dass eine jede von ihnen, würden sie zutreffen, eine der drei Teile der von mir zu Beginn zitierten aristotelischen Behauptung über die Tugenden unterminierte, werde ich nicht bestreiten. Bestreiten werde ich auch nicht, dass die Evolutionsbiologie diese Tatsachen womöglich behauptet. Ich werde argumentieren, dass die Tatsachen, sofern sie für Tugendethiker problematisch sein sollten, für diese nicht problematischer wären als für den Großteil der Menschen, die am ethischen Denken teilnehmen und sich in die ethische Diskussion einbringen wollen. Erinnern wir uns der aristotelischen Behauptung über die Tugenden: Die Tugenden entstehen in uns (i) weder von Natur aus noch (ii) gegen die Natur, sondern (iii) ist es unsere Natur, fähig zu sein, sie aufzunehmen, die dann durch Gewöhnung vollständig ausgebildet werden. Dies sieht,wer möchte das bestreiten, so aus, als ob das nicht weit entfernt von der offenkundig modernen Auflösung der Anlage-Umwelt-Debatte wäre: Wir werden zu dem, was wir sind, aufgrund der Interaktion zwischen dem, womit wir „geboren“ wurden (hier von „gezeugt“ [„conceived“] zu sprechen würde zu eigenartig klingen), und der Umwelt. Nehmen wir Teil 1: Es ist klar, dass wir alle
Siehe z. B. seinen Kommentar zu Frans de Waals Primates and Philosophers: Ethics and Evolution. Kitcher (2006), S. 120 ff.
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nicht als gute Menschen geboren werden, dass Tugend in uns nicht durch die Natur entsteht, wie es auch klar ist, dass wir alle (im Widerspruch zu Wilson) nicht als Egoisten geboren werden. (Gewiss behaupten einige, die Evolutionsbiologie zeige, dass wir als Egoisten geboren werden; ich werde das hier nicht diskutieren, weil es, falls dies Tatsache wäre, offensichtlich für jede ethische Theorie problematisch sein würde.) Nun betrachte man Teil 3: Hier wird behauptet, dass wir auf andere Weise als die anderen Tiere zur Welt kommen. Im Unterschied zu diesen können wir tugendhaft werden, weil wir mit den Fähigkeiten oder Neigungen geboren werden, Tugenden durch Gewöhnung zu erwerben. Die anderen Tiere können Tugenden nicht erwerben, weil das voraussetzt, bestimmte Überlegungen als Gründe des Handelns anzuerkennen. Gründe im ethisch relevanten Sinne als Gründe anzuerkennen, sind diese Tiere aber überhaupt nicht in der Lage. „Gewöhnung“ umfasst bei Aristoteles sehr vieles. Es beginnt im frühen Kindesalter mit einer „Umgebung“, in der man lernt, sich auf bestimmte Weise zu verhalten, woraus dann allmählich ein sich selbst erhaltender Prozess wird: Man fährt fort, sich so zu verhalten, und zwar aus Gründen, die man sich zu eigen gemacht hat. Hier haben wir also eine recht eindeutige empirische Behauptung. Wir Menschen kommen (zum größten Teil) mit der Fähigkeit zur Welt, Tugenden auf diese Weise zu erwerben. Auch hat es Aristoteles, im zweiten Teil, für angebracht gehalten, darauf zu verweisen, dass wir unsere Tugenden nicht „gegen die Natur“ erwerben. Was hat es mit dieser Behauptung auf sich? Zum Teil handelt es sich hierbei einfach um das Dementi eines Bildes, das Platon in seinen dunkleren Augenblicken gemalt hat. Wir würden die Tugenden im Widerspruch zur Natur besitzen, wenn wir psychologisch gesehen ein Schlachtfeld wären, auf dem die unversöhnlichen Kräfte von Vernunft und Leidenschaft (oder Begehren) miteinander kämpften. Wir würden die Tugenden dann (und nur dann) erwerben, wenn die Vernunft die Oberhand behielte, hätten dabei allerdings den hohen Preis zu zahlen, in diesem Prozess unsere natürlichen Leidenschaften oder Sehnsüchte zu zerstören, zu schwächen, zu entstellen oder zu knechten. Dem dritten Teil zufolge trifft dies auf uns allerdings nicht zu. Darin aber liegt weit mehr beschlossen. Zumeist sind Platon und Aristoteles der Auffassung, dass die Leidenschaften nicht getrennt von der Vernunft existieren und deren Anregungen gegenüber nicht unempfänglich sind. Soweit wir mit den Fähigkeiten geboren werden, Begehren, Wut, Furcht, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Wetteifer und Mitleid zu erfahren (dies sind Aristoteles’ Beispiele), werden wir mit den Fähigkeiten geboren, diese Leidenschaften der Erziehung im Elternhaus wie auch unserer frühen Erfahrung gegenüber zu öffnen, und sie später durch uns selbst dadurch zu formen, was wir aus unseren weiteren Erfahrungen und Überlegungen machen. Ferner
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sind sie überzeugt, dass die Leidenschaften, erst einmal auf rechte Weise durch die Vernunft geformt, sich so entwickeln werden, dass sie mit dieser vollkommen harmonieren können. Von daher ergibt sich die berühmte aristotelische Unterscheidung zwischen Tugend und bloßer Mäßigung, die moderne Tugendethiker gegen die Kantianer vorbringen. Wenn man die Wahrheit sagt, seine Schulden bezahlt oder anderen Menschen hilft, und zwar den eigenen Neigungen zuwider, einfach nur deshalb, weil man glaubt, dies tun zu sollen, dann ist dies bloße Mäßigung und nicht gut genug. Man muss mehr tun, um die eigenen Leidenschaften mit der Vernunft harmonieren zu lassen. Hat man dies aber erst einmal erreicht, wird man bemerken, dass man sich im Großen und Ganzen an dem, was tugendhaft ist, erfreut. Man wird es bereitwillig tun. Tugendhaftes Handeln bringt demjenigen, der tugendhaft handelt, zumeist Vergnügen. (In Begriffen der zeitgenössischen kausalen Handlungstheorie gedacht sind tugendhafte Handlungen überdeterminiert, verursacht sowohl von dem Wunsch, etwas, was immer es auch sei, zu tun, als auch von der Überzeugung, dies, was immer es auch ist, zu tun, sei richtig, außerdem auch von dem Wunsch zweiter Ordnung, das zu tun, was richtig ist.) Somit haben wir eine zweite empirische Behauptung. Wir alle sind (größtenteils) so auf die Welt gekommen, dass wir unsere Leidenschaften und Begehrlichkeiten in ein harmonisches Verhältnis zu unserer Vernunft bringen und glücklich und harmonisch zusammen leben können. Es liegen uns also zwei wirklich empirische Behauptungen über die menschliche Natur vor, über das, was hinsichtlich der Menschen (zumeist) wahr ist. 1. Hinsichtlich dieser ethisch relevanten – kognitiven, affektuellen und desiderativen – Fähigkeiten und Neigungen sind wir alle mehr oder weniger gleich geboren. (Ich werde diese die „ethisch relevanten Fähigkeiten“ nennen.) 2. Allen (nahezu allen) diesen Fähigkeiten kommt ein weiteres Merkmal zu: Deren Entwicklung kann gemeinsam und muss nicht auf Kosten der je anderen erfolgen. Somit kandidiert Aristoteles’ These hinsichtlich der Tugenden, die in der Tat diese beiden empirischen Behauptungen enthält, darum, widerlegt zu werden. Den beiden Wegen, auf denen sie falsch sein könnte, wollen wir nun unsere Aufmerksamkeit widmen: Hiermit meine ich die nachfolgend genannten zwei Vermeintlich Problematischen Tatsachen, die als die beiden weiteren Einwände vorgestellt werden, die ich nun diskutiere. VPT 1: Hinsichtlich der ethisch relevanten Fähigkeiten werden wir in der Tat alle mehr oder weniger gleich geboren, nur sind wir von Geburt an ein völliges Chaos – die Fähigkeiten lassen sich nicht gemeinsam entwickeln.
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VPT 2: Hinsichtlich der ethisch relevanten Fähigkeiten werden wir alle nicht mehr oder weniger gleich, sondern mit beträchtlichen Unterschieden geboren.
Dritter Einwand: Wir sind ein Flickenteppich schlecht miteinander harmonierender Teile Dass VPT 1 möglicherweise wirklich eine Tatsache beschreibt und dies von der Entwicklungstheorie behauptet wird, ist ein Einwand, der von Williams energisch gegen den aristotelischen Naturalismus erhoben wurde (oben hatte ich angemerkt, dass Williams einen seiner gegen den aristotelischen Naturalismus gerichteten Einwände nicht fallengelassen hat). Möglicherweise sind wir, wie er einprägsam formulierte, ein „Flickenteppich schlecht miteinander harmonierender Kräfte und Instinkte.“ (Williams 1995, S. 199) Er glaubt in der Tat, die Evolutionsbiologie behaupte, wir seien einfach als solch chaotische, unorganisierte Wesen auf die Welt gekommen. „Die überzeugendsten Geschichten, die nun über [unsere] Evolution vorliegen, einschließlich der über ihre sehr kurze Dauer […], legen nahe, dass Menschen in gewissem Maße chaotisch sind, und dass die schnelle und gewaltige Entwicklung symbolischer und kultureller Befähigungen die Menschen zu solchen Wesen gemacht hat, für die sich wahrscheinlich keine Form des Lebens, weder individuell noch gesellschaftlich gesehen, als völlig zufriedenstellend erweisen wird“ (Williams 1995b, S. 109). Hier sollten wir vielleicht zur Kenntnis nehmen, dass dieses zweite Zitat im Ungewissen bleibt: Menschen seien „in gewissem Maße“ chaotisch; sie seien Wesen, denen sich „wahrscheinlich“ keine Form des Lebens als „völlig“ zufriedenstellend erweisen werde. Nehmen wir aber diese Ungewissheit ernst, dann ist die Behauptung für den Zweck, gegen den aristotelischen Naturalismus gewendet zu werden, einfach zu schwach und damit uninteressant.Wohl keiner von uns hält die Demokratie, als Organisationsform gesellschaftlichen Lebens verstanden, für völlig zufriedenstellend, denn sie hat Hitler hervorgebracht und, in gewisser Weise, Bush. Dennoch halten wir sie für die praktikabelste aller Organisationsformen – und dies ist uns gut genug. Sie gibt uns etwas, dass wir gesellschaftlich gesehen im global village erstreben können. Eudämonie bzw. ein gedeihliches Leben, ein solches tugendhaften Wirkens, jenes, von dem Aristoteles überzeugt war, dass wir es individuell dann praktizieren können, wenn wir unsere Leidenschaften in ein harmonisches Verhältnis zu unserer Vernunft setzen, muss nicht als etwas völlig Zufriedenstellendes verstanden werden. Tatsächlich ist Aristoteles selber eher der Auffassung, dass dies gewissermaßen eine Art zweitbeste Weise zu leben wäre.Von der Seite unserer Vernunft her gesehen (dem „göttlichen Element
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in uns“), wäre es zufriedenstellender, wir würden das göttliche Leben denkerischen Tuns leben. Aber unter den uns verfügbaren Alternativen ist sie die praktikabelste, sind wir doch Menschen und keine Götter. (Natürlich billige ich keine dieser Überlegungen – das sind die eigenartigen Gedanken aus dem zehnten Buch [der Nikomachischen Ethik, d. Übers.]. Ich erwähne sie nur, um zu zeigen, dass selbst für Aristoteles, geschweige denn für moderne Tugendethiker, das „gute Leben“ der Menschen nicht immer auf Rosen gebettet sein muss.) Dies genügt; es gibt uns etwas, das wir individuell erstreben können. Um also den Einwand interessanter zu gestalten, sollten wir ihn, wie ich glaube, eher stärker formulieren. Letztlich erweist er sich dann als ein altbekannter Gedanke – alt genug, um sich zumindest in gewissem Maße bereits bei Platon zu finden, worauf ich schon hingewiesen habe. Er besagt dann, dass unsere unverwechselbare Kombination einer Reihe affektueller und desiderativer Fähigkeiten, die sich von denen einiger anderer Tiere nicht besonders stark unterscheiden, sowie einem Satz raffinierter kognitiver Fähigkeiten, durch die wir (in dieser Zusammenstellung genommen) im Tierreich unverwechselbar sind, uns in einen ernsthaften Widerspruch zu uns bringt, und zwar in einem solchen Maße, dass es unwahrscheinlich wäre, auf diese, also eine ethische, Weise glücklicher, erfüllter und befriedigter zu leben als auf eine andere. Im Gegenteil ist es dann unwahrscheinlich, dass es, ausgehend vom chaotischen Wesen eines jeden von uns, irgendjemanden gibt, der unserer Natur entsprechend ein gutes Leben führt. Sollte sich wirklich herausstellen, dass dies auf manche von uns zuträfe, dann wäre dies purer Zufall, aber kein Anzeichen dafür, jemandem den Rat zu geben, uns als Vorbild in der Hoffnung zu nehmen, den gleichen glücklichen Zustand zu erreichen. Die platonische Parallele zu dieser düsteren Vorstellung erinnert uns daran, dass dieser alten Version des Gedankens auch ein altbekannter Weg entspricht, mit dieser umzugehen – nämlich ein jenseitiges Leben zu erstreben. Man stimmt darin überein, dass die Kombination von Geist und fleischlichem Begehren höchst unglücklich ist, beide niemals miteinander versöhnt werden, sodass es einzig Sinn macht, den eigenen Geist, westlichen oder östlichen Wegen folgend, auf die Erlösung vorzubereiten. Weniger bekannt ist ein weiterer östlicher Weg der Problemlösung, der empfiehlt, die eigenen kognitiven und kulturellen Kräfte (der jeweils bevorzugten Interpretation entsprechend:) entweder zu zerstören oder umzugestalten, um in eine Situation oder Verfassung zurückzukehren, in der sich Kleinkinder befinden. Hinsichtlich dieser Reaktionen auf den Gedanken, wir Menschen hätten ein chaotisches Wesen, sollte hervorgehoben werden, dass damit auf die einzig praktische Weise reagiert wird, nämlich so, dass man nach etwas Substanziellem und Langfristigem sucht, auf das die praktische Vernunft hinarbeiten kann. Denn
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dies ist das Problem, das hinter der Überlegung steht, und das angesprochen werden muss. Es handelt sich dabei aber nicht um ein Problem der Tugendethiker allein, sondern um eines, das uns alle betrifft. Wenn es so etwas wie eine voraussagbare Form von Eudämonie, Glückseligkeit oder Wohlergehen für uns Menschen nicht gibt, wenn jeder Einzelne, der ein zufriedenstellendes Leben erreicht, dies einfach dem Zufall zu verdanken hat, wie können wir dann rationale langfristige Entscheidung darüber treffen, was zu tun wäre? Worin besteht hier die Aufgabe der praktischen Vernunft? Ich setze auf die Fähigkeit, das Wohlergehen anderer als einen Zweck zu verstehen, ob ich nun Anhängerin der Tugendethik, des Kantianismus oder des Konsequentialismus bin. Selbst wenn ich ein Egoist wäre, würde ich auf die Fähigkeit setzen, mein eigenes Wohlergehen als Zweck zu verstehen. Falls sich dies als kein praktikabler Zweck erweisen sollte, könnte ich meine praktische Vernunft darauf hinarbeiten lassen, mich am Leben zu erhalten (für den Fall, ich wäre unter den wenigen Glücklichen), mir kurzfristige Freuden und Schmerzfreiheit zu sichern. Was jedes längerfristige Ziel anbelangt, könnte ich auch einen Münzwurf darüber entscheiden lassen, es zu verfolgen oder nicht, und wenn ja auf welche Weise. Denn ich befinde mich, wie jeder andere auch, in einer Verfassung, in der Kräfte und Instinkte einander unversöhnlich gegenüberstehen. Auch ist eine Lebensform, die für mich zufriedenstellend wäre, unwahrscheinlich. Somit würde ich sagen, dass der Gedanke, die optimistischere Ansicht des Aristoteles sei völlig verfehlt und wir alle seien chaotisch, unorganisiert, in der Tat ein sehr beunruhigender Gedanke ist. Dieser Gedanke ist aber für die aristotelische Tugendethik nicht beunruhigender als für eine jede andere Position, einschließlich der des Egoismus. Es handelt sich hierbei, wie bereits bemerkt, schwerlich um einen neuen Gedanken. Warum man also die Tatsachen unserer Evolution so verstehen muss, dass sie ihm eine neue Plausibilität verleihen, vermag ich nicht zu sehen. Allerdings sollten wir alle die Daumen drücken und hoffen, dass es sich nicht so verhält. Andernfalls wäre ein jeder in Schwierigkeiten.
Vierter Einwand: Wir alle sind von Geburt her nicht mehr oder weniger gleich, sondern unterscheiden uns voneinander Es gibt zumindest zwei Interpretationen dafür, dass wir nicht alle von Geburt her genau gleich sind, die (vielleicht) beide Aristoteles’ Anerkennung gefunden haben und die von der zweiten vermeintlich problematischen Tatsache zu unterscheiden sind, auf welche, wie behauptet wird, die Evolutionsbiologie verweist. Die eine ist völlig einleuchtend. Aristoteles kategorisiert einige Menschen als „tierisch“, wobei der bemerkt, diese Charakteristik könne durch „Krankheit oder
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Verkrüppelung“ (EN 1145a) entstehen, und behauptet, solche Menschen besäßen weder Tugend noch Laster. Einer wohlwollenden Lesart zufolge (die einige seiner typisch schrecklichen Bemerkung über die Lebensweise übergeht, die er meistenteils Nichtgriechen zuschrieb) vermerkt er eine bekannte, menschliche kognitive Fähigkeiten betreffende Abweichung, dass nämlich einige Menschen mit ernsthaften „geistigen Behinderungen“, wie wir heute sagen, geboren werden. Aus der Gruppe von Menschen, die ethisch zurechnungsfähig sind, schließt er diese aus. Wir tun dies heute auch. Viele Menschen finden die zweite Interpretation, derzufolge er Abweichungen anzuerkennen scheint, befremdlicher. In einer vieles offenlassenden kurzen Passage in Buch 6 führt er anscheinend den Begriff der natürlichen Tugend ein, dessen, womit man geboren ist, im Unterschied zur entfalteten Tugend, die in einer Reihe von Charakterzügen besteht, die man nach vielen Jahren engagierter Einübung und der Aneignung praktischer Klugheit erlangt. Diese Passage lässt sich einerseits so verstehen, dass Aristoteles, indem er sagt, wir seien mit natürlicher Tugend ausgestattet geboren, einfach das behauptet, was er mit seiner von mir zu Beginn genannten ersten Behauptung sagt: dass wir alle von Geburt an (mehr oder weniger) fähig sind, die Tugenden zu erwerben. Andererseits lässt sie sich aber als eine Bemerkung dessen verstehen, was ihm durchaus als eine Tatsache erschienen sein mag, als die sie vielleicht auch uns erscheint, nämlich dass einige von uns das Glück haben,von Geburt aus weit befähigter als andere zu sein, die Tugenden zu erwerben. Letztlich sieht es oftmals so aus, als ob einige Babys einfach als glückliche, zugängliche und gutmütige Wesen geboren werden, die dann als Kleinkinder vom Ansatz her Beherztheit und Selbstbeherrschung zeigen – weit vordem die Übung eine Chance hatte, hierbei ihre Wirkung zu entfalten –, während andere nach der Geburt weniger glücklich sind, unleidlich, schwierig und furchtsam. Also gut, nehmen wir dieser Aristotelesinterpretation folgend das als gegeben an. Darin liegt beschlossen, dass es auf dem Wege, gute Menschen zu werden, für uns keine gleichen Ausgangsbedingungen gibt: Einigen von uns wird dies wahrscheinlich leichter fallen. Ist das für Tugendethiker ein Problem? Nun, es hat Aristoteles offenbar nicht gestört, und auch ich glaube nicht, dass es für einen der modernen Tugendethiker ein Problem darstellt. Damit ist keine gravierende Einschränkung der Behauptung verbunden, wir alle seien (im Großen und Ganzen) von Natur aus zum Tugenderwerb in der Lage. Wenn wir Tugend klar als einen Schwellenbegriff verstehen, dann ist, ob wir von Geburt her die natürliche Tugend besitzen oder nicht, nur erforderlich, dass wir alle im Großen und Ganzen mit der natürlichen Befähigung geboren werden, die Schwelle zu erreichen. Dass einige von uns dies bestimmt leichter als andere finden und diese schneller als sie erreichen werden, dass innerhalb der kurzen Lebensdauer einige jener, die ohne natürliche Tugend geboren wurden, niemals die Güte erlangen können, die einige
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jener erreichen, die mit dem natürlichen Vorteil ins Leben starteten, ist eben die Lage der Dinge. Es gibt Tugend in größerem und geringerem Grade, worüber der, um dessen Tugend es geht, überhaupt nichts vermag, wie es auch größere und geringere Grade von Intelligenz gibt, was gleichfalls der Kontrolle dessen entzogen ist, dem diese Intelligenz zukommt. Somit scheint diese spezifische Interpretation, in der mögliche Abweichungen innerhalb der Bevölkerung anerkannt werden, für die Tugendethik überhaupt kein Problem darzustellen. Ich bin der Auffassung, dass der Rekurs auf Platon und Aristoteles für die eigene philosophische Ethik den Vorteil hat, auf so deutlich nicht-christliche Auffassungen zurückzugehen, auf etwas, das von der Vorstellung von einem gerechten und gütigen Gott, der die Menschen als Gleiche geschaffen hat, als solche, die die gleiche Chance besitzen, gut zu werden, völlig unberührt ist. Aristoteles’ Ansicht von der natürlichen Tugend und Platons in seiner Politeia formulierte gelassene Annahme, wir seien entweder als Wächter oder nicht als Wächter geboren, sind so eindeutig davon unberührt, wie es auch ihre Überzeugung vom enormen Einfluss der Erziehung darauf ist, ob wir uns letztlich als gute oder schlechte Menschen erweisen. Mir scheint es nicht so offenkundig, dass Vertreter der anderen ethischen Theorien, wenn sie einer Art von Gleichheit zuneigen, die wir alle als Personen besitzen, jene Art von Unfairness so einfach hinnehmen können.Vielleicht können sie das, weil heute letztlich jeder akzeptiert, dass in eine bestimmte Familie oder ein bestimmtes soziales Milieu hineingeboren zu werden dem Betreffenden eine wesentlich größere oder geringere Chance eröffnet, ein guter Mensch zu werden, als einer Familie oder einem Milieu anderer Art zu entstammen. Zuweilen jedoch begegnet man immer noch einem Widerwillen zuzugeben, dass A eine bessere Person als B ist, ungeachtet einiger eher übler seelischer Regungen, die B aus den misslichen Verhältnissen ihrer Herkunft übernommen hat, während A tugendhaft ist, weil sie diese nicht besitzt, wenn B ex hypothesi alles „in ihren Kräften Stehende getan hat“, diese zu tilgen. Wie immer dem auch sei. Der moderate Grad an Abweichung, der sich möglicherweise mit der aristotelischen Idee der natürlichen Tugend verbindet, ist, wie ich bereits betonte, für aristotelische Tugendethiker kein Problem. Damit aber, dass wir Ungleichheit etwa solchen Ausmaßes auszugleichen in der Lage sind, ist nicht gezeigt, dass wir weit mehr dulden können. Allerdings ist es theoretisch durchaus möglich, dass wir mit weit größeren Unterschieden geboren werden, als Aristoteles’ skizzenhafte Idee der natürlichen Tugend erlaubt. Das bringt mich nun zu dem, worum es, wie ich annehme, jenen, die sich auf die Evolution berufen, wirklich geht. So schreiben Sterelny und Griffiths, dass
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kein allgemeines biologisches Prinzip darauf verweist, das die moralischen Empfindungen, mentalen Fähigkeiten oder grundlegenden Bedürfnisse der Menschen uniformer sein sollten als es die Zusammensetzung ihres Blutes oder die Farbe ihrer Augen ist. Offenbar impliziert die kognitive Entwicklung der Menschen vielmehr einen Entwicklungsmechanismus, der innerhalb einer Population zu Unterschieden führt […]. (Sterelny und Griffiths 1999, S. 8)
Sie scheinen mir zu behaupten, dass wir uns hinsichtlich unserer moralischen Fähigkeiten wirklich auf gravierende Weise voneinander unterscheiden. Da wir nicht wissen, ob es sich so verhält oder nicht, benötigen wir, um darüber nachzudenken, ein Gedankenexperiment. Ein einleuchtendes Gedankenexperiment, das mir spontan in den Sinn kommt, ist das folgende: Was würde es bedeuten, sollte sich herausstellen, dass sagen wir 10 % der Bevölkerung von Geburt an Psychopathen wären? (Ich meine, soweit ich den Unterschied zwischen Psychopathie und Soziopathie richtig verstanden habe, tatsächlich Psychopathie.) In Anbetracht dessen, dass wir nicht ganz genau wissen, was Psychopathie ist, müssen wir die Geschichte nach und nach modifizieren. Was ich mir aber vorstelle – jene, die ich diesen Einwand habe vorbringen sehen, tun dies eindeutig, indem sie sich etwas vorstellen – ist, dass es unter der Annahme, einige von uns seien so geboren, etwas biologisch schon sehr frühzeitig und ziemlich eindeutig Fassbares geben müsste. Damit meine ich, obwohl es auch vereinzelt Grenzfälle geben mag, ansonsten klar entscheidbare Fälle. Wenn wir uns eine Vorstellung von der Psychopathie erarbeiten, stellen wir uns auch vor, dass die Präsenz dieses feststellbaren Etwas ein wirklich verlässlicher, wenn auch sicherlich nicht infallibler Indikator eines ernstzunehmenden unmoralischen Verhaltens im Erwachsenenalter ist. (Man ergänze hier eigenständig, was man unter den Musterbeispielen unmoralischen Verhaltens versteht.) Diese Art von Beispiel wird gern vorgebracht, um Anhänger der Tugendethik zu ängstigen. Mir scheint es aber dazu angetan zu sein, einem jeden Angst einzuflößen, der die Ethik ernstnimmt. Zumindest sollten wir es alle für sehr problematisch halten. Wiederum muss betont werden, dass es sich um keine neue Bedrohung oder neue Idee handelt. Es handelt sich einfach um die alte Vorstellung, eine bedeutsame Anzahl von uns sei von Geburt an (einmal mehr: im Großen und Ganzen) hoffnungslos böse und amoralisch – oder eher dafür empfänglich, böse oder amoralisch zu werden. Man könnte glauben, die moderne pseudowissenschaftliche Lesart gebe der Idee eine besonders bedrohliche Wendung, indem sie den Gedanken hinzusetzt, es sei ex hypothesi möglich, jene Menschen bei ihrer Geburt oder sogar vor dieser zu identifizieren, was aber nicht wirklich zutrifft – auch dies ist Teil der alten Vorstellung. Zu uns gehört die beklagenswerte Geschichte, dass eine Gruppe von uns glaubt, die andere sei von Geburt an hoffnungslos böse. Die Geschichte ist in der Hauptsache eine Geschichte der
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Mutmaßung, die schlechte Sorte lasse sich vor oder mit der Geburt erkennen. In der Hauptsache ist sie nichts anders als die Geschichte des Rassismus (und natürlich auch des Sexismus). Zweifelsohne dieser Geschichte wegen sind wir von unserem modernen Empfindungsvermögen her überhaupt nicht darauf eingestellt, diese Idee in unser ethisches Denken aufzunehmen. Sollten wir wirklich so etwas entdecken, was in aller Welt würden wir dann tun und wie würden wir rechtfertigen, was auch immer wir im ethischen Sinne dann täten – auf welche ethische Theorie auch immer wir uns dabei beriefen? Ich könnte mir vorstellen, dass einige besonders scharfe Hardliner unter den Handlungsutilitaristen und einige hinterwäldlerische Fundamentalisten vergnügt sagten, man solle die Betreffenden bei ihrer Geburt töten, und dies auf die ihnen üblichen Weise rechtfertigten – wir übrigen aber wären in ernsten Schwierigkeiten. Dies ist also eine weitere Überlegung in Hinblick worauf, wie ich glaube, wir alle, und nicht nur die Vertreter der Tugendethik, besser die Daumen drücken und hoffen sollten, dass es nicht der Fall ist. So weit bin ich in meiner Untersuchung der Idee gelangt, die besagt, unsere, die ethischen Fähigkeiten betreffende Verschiedenheit (statt der Gleichheit im Großen und Ganzen) würde für die Tugendethik ein ernsthaftes Problem darstellen. Meine Schlussfolgerung lautet dementsprechend, dass sie in einigen ihrer Lesarten überhaupt kein Problem wäre (obwohl der Fall der „natürlichen Tugenden“ für einige Egalitaristen oder an der Fairness orientierte Menschen misslich sein könnte). In der Lesart, die von angeborener Psychopathie in einigen möglichen Fällen ausgeht, wäre sie ein ernsthaftes Problem für uns alle, welcher ethischen Konzeption auch immer wir anhängen.
Schluss Meine Schlussfolgerung im Ganzen genommen lautet: Vorbehaltlich weiterer Bemühungen stellen weder die Evolutionsbiologie noch Ohrensesselspekulationen darüber, worauf die Evolutionsbiologie hinsichtlich möglicher weiterer Enthüllungen über die menschliche Natur verweisen mag, keine Gefahr für die Tugendethik als solche dar. Allerdings wären die beiden oben diskutierten Überlegungen für die Ethik, wie wir sie kennen, in der Tat problematisch. Aus dem Englischen von Veit Friemert
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Literatur Aristoteles (2006): Nikomachische Ethik. Reinbek. Aristoteles (1911): Nikomachische Ethik. Leipzig. Arnhart, Larry (1998): Darwinian Natural Right. New York. Foot, Philippa (2004): Die Natur des Guten. Frankfurt a.M. De Waal, Frans (2006): Primates and Philosophers. Princeton u. Oxford. Nussbaum, Martha (1995): „Aristotle on Human Nature and the Foundations of Ethics“. In: J. E. Altham/R. Harrison (Hg.): World, Mind and Ethics. Essays on the Ethical Philosophy of Bernard Williams. Cambridge, S. 86 – 131. Sterelny, Kim/Griffiths, Paul E. (1999): Sex and Death: An Introduction to Philosophy and Biology. Chicago. Williams, Bernard (1972): „Moral Standards and the Distinguishing Mark of Man“. In: Bernhard Williams: Morality. Cambridge. Williams, Bernard (1985): Ethics and the Limits of Philosophy. Cambridge. Williams, Bernard (1995a): „Replies“. In: J. E. Altham und R. Harrison (Hg.): World, Mind and Ethics. Essays on the Ethical Philosophy of Bernard Williams. Cambridge, S. 185 – 224. Williams, Bernhard (1995b): „Evolution, Ethics and the Representation Problem“. In: Bernhard Williams: Making Sense of Humanity. Cambridge, S. 100 – 110. Wittgenstein, Ludwig (1984): Philosophische Untersuchungen. In: Werkausgabe Bd. 1. Frankfurt/M.
Robert Spaemann
Menschenwürde und menschliche Natur
Würde ist keine empirisch gegebene Eigenschaft. Die eigene Würde geachtet zu sehen, ist auch kein Menschenrecht. Es ist vielmehr der transzendentale Grund dafür, dass Menschen Rechte und Pflichten haben. Rechte haben sie, weil sie Pflichten haben können, d. h. weil die normalen, erwachsenen Mitglieder der Menschheitsfamilie weder instinktiv in ihr Gemeinwesen eingepasste Tiere sind, noch instinktoffene, bloße Triebsubjekte, die im Interesse des Gemeinwesens durch Polizei in Schach gehalten werden müssen. Menschen können aus Einsicht, vernunftgemäß und sittlich handeln, und sie haben die Pflicht, dies zu tun. So sagt z. B. Art. 6 des Grundgesetzes: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Dass das Elternrecht auf der Fähigkeit der Eltern beruht, ihrer Elternpflicht nachzukommen, geht daraus hervor, dass dieses Recht bei grober Vernachlässigung der Pflicht erlischt. Die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, ist das, was wir Freiheit nennen.Wer nicht frei ist, kann für nichts verantwortlich gemacht werden. Wer aber Verantwortung übernehmen kann, hat das Recht, nicht als bloßes Objekt behandelt und physisch zur Erfüllung seiner Pflichten gezwungen zu werden. Der Sklave, der keine Rechte hat, hat auch keine Pflichten. Der Staat ist deshalb eine Gemeinschaft von Freien. Sklaven können so wenig Bürger oder Untertanen eines Staates sein wie Haustiere. Wenn Willensfreiheit eine Fiktion ist, dann beruht der Staat auf einer Fiktion, einem „als ob“, wobei es dann wichtig ist, dass die Bürger dies nicht erfahren, sondern an dieses „als ob“ wirklich glauben. Menschenwürde hat keinen biologischen Grund, aber wer sie besitzt, das folgt aus der biologischen Zugehörigkeit zu einer Familie von freien, denn verwandtschaftliche Beziehungen sind zugleich personale Beziehungen. Vater, Mutter, Schwester, Bruder, Großeltern usw. sind (im Unterschied zu den Tieren) lebenslange personale Rollen. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob das einzelne Familienmitglied schon, noch oder überhaupt die Eigenschaften besitzt, die uns veranlassen, von Personen zu sprechen, Eigenschaften, die phänomenal so etwas wie Würde zur Erscheinung bringen. Die Rede von einer zu respektierenden Menschenwürde beruht auf einer eigentümlichen Ambivalenz im Gedanken eines Freiheitssubjekts. Aus dieser Ambivalenz folgen zwei unterschiedliche Vorstellungen von dem, wodurch diese Würde verletzt wird. Sie, die Würde, ist unantastbar, heißt es im Grundgesetz, und Horst Dreier schreibt mit Recht in seinem Grundgesetzkommentar, dass sei normativ, nicht deskriptiv zu verstehen. Unantastbar, das kann ja heißen, etwas kann gar nicht angetastet werden, oder aber es kann heißen, es dürfe nicht angetastet werden. Die beiden Bedeutungen hängen
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damit zusammen, dass der Mensch einerseits Person, Freiheitssubjekt ist und als solches durch irgendwelche Einwirkungen von außen nicht zu berühren. Die christliche Tradition hat ihr zentrales Symbol im Bild eines seiner Würde scheinbar gänzlich Beraubten, eines nackten Gekreuzigten, dem nun aber gerade als einem solchen die tiefste Verehrung entgegengebracht wird. In dieser Tradition steht es noch, wenn bei Shakespeare der alte König Lear, von seinen Töchtern verstoßen, von dem Ritter Kent angesprochen wird, der in seinen Dienst treten möchte. Auf Lears Vorhaltung, er sei doch niemand mehr, antwortet Kent: „Es ist etwas in Eurem Gesicht, das ich gern ‚Herr‘ nenne.“ Gerade in der tiefsten Erniedrigung kann das, was wir mit Würde meinen, am deutlichsten hervortreten. Andererseits aber gibt es auch offenbar Handlungen, die die Würde antasten. Das kann es aber nur geben, weil Menschen nicht in einem leeren Raum schwebende Freiheitssubjekte sind, sondern eine physische und psychische Natur besitzen; in der sie sich darstellen und in der sie auch angetastet werden können, und zwar unabhängig von ihrem eigenen Willen. Freiheit ist ein Merkmal der Spezies homo sapiens. Aber die Natur des Menschen ist nicht einzig dadurch charakterisiert, dass sie Freiheitsdarstellung ist.Wir können uns vernünftige Lebewesenvon anderen Sternen vorstellen, die auf diesen Planeten kommen und Menschen begegnen, deren Verhaltensweisen sie nicht verstehen. Stellen wir uns vor, diese Wesen könnten keinen Schmerz empfinden; sie selbst besäßen andere Signale, die auf beeinträchtigte Gesundheit aufmerksam machten. Sie hätten aber bei diesen Wesen den Charakter bloßer Signale, wie der Blinker am Auto, die nicht selbst schon die Tendenz zu ihrer Beseitigung enthielten. Diese Wesen könnten gar nicht verstehen, warum die absichtliche Herbeiführung solcher Signale, also absichtliche Schmerzzufügung, etwas Schlechtes sein sollte. Und wenn ein Wesen so etwas wie Schlaf nicht kennte, könnte es nicht verstehen, was systematischer Schlafentzug bedeutet. Fast alle Inhalte unsres Wollens sind natürliche Inhalte, die durch unsere kontingente Menschennatur vorgegeben sind. Und nur in dieser seiner kontingenten Natur ist die Würde des Menschen antastbar. Diese Natur ist eine Natur der Spezies. Darum können Menschen die Tendenzen anderer Menschen verstehen, und nur darum konfligierende Interessen evaluieren und zu einem gerechten Ausgleich bringen. Andernfalls würde nur die Intensität eines Wunsches zählen, so abwegig und absurd dieser Wunsch uns erscheinen mag. Und es könnte sich jemand in seiner Menschenwürde verletzt fühlen, wenn der Intensität seines Wunsches nicht Rechnung getragen wird. Wir können Wünsche und Interessen nur evaluieren, weil wir die gleiche Natur besitzen. Sogar die Verteidiger der Euthanasie kommen ohne solche Evaluierungen nicht aus. Wenn nur der Suizidwunsch als solcher zählte, dann dürfte man den Wunsch eines jungen unglücklichen Verliebten nicht zurückweisen, ihm beim Suizid aktiv behilflich zu sein. Den Einwand, man dürfe in
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solchen Fällen damit rechnen, dass die Person nach einer Zeit anderen Sinnes werde, kann diese Person zurückweisen mit dem Argument: „Ich will nicht, dass die Zeit meine Identifizierung mit dieser Liebe annagt. Ich will als der sterben, der ich jetzt bin.“ Wenn es überhaupt dem Menschen zusteht, einen Anderen auf dessen Wunsch hin zu töten, und wenn die Würde des Menschen nur in seiner von aller Natur abgelösten Freiheit besteht, dann ist es ein unzulässiger Paternalismus, Suizidwünsche dieser Art überhaupt zu evaluieren. Warum soll ein Mensch nicht das Recht haben, als der sterben zu wollen, der er jetzt ist? Ich erinnere noch an ein anderes, diesmal reales Beispiel, den Kannibalen von Rothenburg, der den Wunsch hatte, einen Menschen zu töten und anschließend zu verzehren, und der im Internet jemanden fand, der den komplementären Wunsch hatte, getötet und verzehrt zu werden. Die Sache geschah. Der Mann wurde wegen Mord angeklagt. Seine Verteidigung war sehr einfach: Volenti non fit iniuria – niemandem ist hier etwas widerfahren, das er nicht gewollt hat. Der Staat hat nicht das Recht, solche Wünsche zu bewerten und ihre Erfüllung zu bestrafen. Wenn er gleichwohl bestraft wurde, dann deshalb, weil das Gericht die Wünsche eben doch evaluierte, und zwar aufgrund von Maßstäben, die so etwas wie eine Natur des Menschen unterstellen, in der die Menschenwürde trotz Zustimmung angetastet wird. Wenn wir das Verhalten des Kannibalen als pervers missbilligen, dann unterstellen wir einen normativen Begriff des Natürlichen als des „Normalen“. Ohne einen Begriff von Normalität kommen wir beim Umgang mit Lebendigem nicht aus. Im Bereich der Physik gibt es nicht so etwas wie Normalität, es gibt nur das strikte Naturgesetz, das keine Ausnahmen duldet.Wenn ein Planet von der vorausberechneten Bahn abweicht, sprechen wir nicht von einem falschen Verhalten des Planeten, sondern wir fühlen uns veranlasst, die Parameter unserer Berechnung zu korrigieren. Es gibt im Bereich des Unlebendigen nichts Richtiges oder Falsches.Wenn aber ein Hase mit drei Beinen geboren wird, wenn eine Löwenmutter ihren Jungen das Jagen nicht beibringt, oder wenn für einen Primaten Individuen des anderen Geschlechts nicht jene Anziehungskraft besitzen, auf der die Fortexistenz der Gattung beruht, dann sprechen wir von Abweichungen, Anomalitäten oder Defekten. Die Anpassung tierischen Verhaltens an seine Umwelt beruht darauf, dass das Tier mit bestimmtem Verhalten anderer Tiere rechnet, d. h. mit Normalität. So können wir auch nur deshalb im Straßenverkehr zurechtkommen, weil wir damit rechnen, dass sich normalerweise andere Verkehrsteilnehmer normal verhalten. Und so können wir auch nicht aus Achtung vor der Menschenwürde Menschen ohne Rücksicht auf ihre sexuelle Orientierung gleich behandeln. Wer einen Pädophilen als Kindergärtner einstellt, handelt fahrlässig. Die sexuellen Begierden des Pädophilen können nicht mit denen eines normal Veranlagten auf eine Stufe gestellt werden. Seine Menschenwürde achten heißt nicht, seine speziellen Neigungen als Ausdruck dieser Würde zu achten.Wir müssen ihm vielmehr zumuten,
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auf die Befriedigung dieser Neigung definitiv zu verzichten. Die Erfüllung fügt nämlich dem Kind einen seelischen Schaden zu, der es später an einem Leben hindert, das wir wiederum „normal“ nennen. Ohne diesen Begriff des Normalen könnten wir nicht auf die Frage antworten, warum denn das Interesse des Kindes Vorrang haben soll gegenüber dem Interesse des Pädophilen. Auch dieser kann ja behaupten, es werde ihm Schaden zugefügt, wenn er auf die Befriedigung seiner Neigungen verzichten muss. Die Antwort kann nicht lauten, dass prinzipiell das Interesse eines Kindes Vorrang hat vor dem Interesse eines Erwachsenen, sondern dass die beiden Interessen eben nicht auf der gleichen Stufe stehen. Das eine, das Interesse an einem normalen Leben, ist ein normales Interesse, das Interesse des Pädophilen ist es nicht. Die bis heute kanonische Auslegung des Grundgesetzes sieht die Respektierung der Menschenwürde unter Rückgriff auf Kant darin, dass jeder Mensch bei allen ihn direkt oder indirekt betreffenden Handlungen niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck behandelt wird.Wichtig ist hier das „nur“ zu betonen. Menschen können ja nur in Gesellschaft leben, wenn sie einander ständig als Mittel zu Zwecken gebrauchen. Verletzung der Menschenwürde geschieht dann, wenn jemand auf seine Funktion im Interesse anderer reduziert wird und dabei die Wechselseitigkeit solcher Instrumentalisierung ausgeschlossen wird. Das geschieht z. B. durch sogenannte sittenwidrige Verträge. Jemand kann kraft seiner Freiheit über sich selbst verfügen. Er kann Versprechen geben, zum Beispiel Eheversprechen oder Mönchsgelübde, die über sein ganzes Leben verfügen. Aber in unserer Rechtsordnung müssen solche Verträge bürgerlich-rechtlich widerrufbar sein. Darum ist z. B. ein Unterwerfungsvertrag nichtig, durch den jemand sich in Sklaverei begibt und auf sein Recht, anderen Sinnes zu werden, definitiv und mit der Absicht auf Rechtswirksamkeit verzichtet. Der Staat schützt hier die Freiheit gegen den Menschen selbst, der bereit ist, auf sie zu verzichten. Dieser Verzicht ist möglich. Er kann sogar höchster Ausdruck von Freiheit sein. Und die Kirche kann solche Versprechen als irreversibel behandeln und damit auf der Freiheit des Menschen insistieren, über das Ganze seines Lebens zu verfügen. Wichtig ist nur, dass die Kirche zur Durchsetzung dieses Rechts des Menschen nicht den staatlichen Arm benutzen kann. Die Personalität des Menschen hat eine zeitliche Dimension. Sie beginnt und sie endet irgendwann. Es gehört zur Eigentümlichkeit menschlicher Personen, dass sie eine Biografie besitzen, dass sie sich über einen langen Zeitraum hinweg identifizieren können mit jedem Stadium ihrer natürlichen Existenz. So sagen wir: „Ich wurde dann und dann gezeugt“, „meine Eltern haben erwogen, mich abzutreiben“, „ich wurde dann und dann geboren“, „ich werde vielleicht in hohem Alter nicht mehr bei klarem Bewusstsein sein“, oder „ich war dann und dann bewusstlos“. Das Personalpronomen „ich“ bezieht sich nicht auf „ein Ich“ – eine Erfindung von Philosophen –, sondern auf einen natürlichen Organismus, der zu existieren beginnt,
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sobald sich eine DNA gebildet hat, die gegenüber dem Organismus der Mutter selbständig ist und sich vom Augenblick der Zeugung an kontinuierlich autonom entfaltet. Die menschliche Person ist nicht das Aggregat der Zustände, die sie durchläuft, sondern es ist immer die eine identische Person, die diese Zustände durchläuft. Kant hat das auf den Punkt gebracht, indem er schreibt: „Da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen, so ist es eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herübergebracht haben.“ (Kant, AA VI, 280 f.) Was aber das Ende des Lebens betrifft, so wird hier oft der Begriff der Menschenwürde im Zusammenhang mit Euthanasie benutzt und unter menschenwürdigem Sterben die Selbsttötung verstanden. Ich diskutiere hier nicht die Frage der moralischen und rechtlichen Beurteilung des Selbstmords. Es ist absurd, Selbstmordversuch unter Strafe zu stellen, es ist aber ebenfalls absurd, von einem „Recht auf Selbsttötung“ zu sprechen. Die Wahrheit ist: Wer sich tötet, entzieht sich jenem sozialen Gefüge, innerhalb dessen von so etwas wie Recht und Rechten die Rede sein kann. Er begibt sich außerhalb der Rechtssphäre. Dies zu können – nicht, es zu tun – gehört zu dem, was die Person auszeichnet. Ganz anders mit der Tötung auf Verlangen. Sie ist eine Handlung nicht außerhalb, sondern innerhalb der Rechtssphäre und muss strafrechtlich sanktioniert bleiben. Macht man aus der Selbsttötung ein Recht, dann hat das schlimme Folgen. Dann trifft den Träger dieses Rechtes die Verantwortung für alle Folgen, alle Belastungen persönlicher und finanzieller Art, die sich daraus ergeben, dass er von diesem Recht keinen Gebrauch macht. Dadurch entsteht mit logischer Notwendigkeit ein unzulässiger Druck auf den Kranken oder Alten. Von der Verantwortung ist der Patient nur frei, wenn es für ihn gar keine rechtliche Möglichkeit gibt, seine Tötung durch andere zu erreichen. Kein Mensch kann von einem anderen verlangen zu sagen: „Dich soll es nicht mehr geben.“ Ein unwiderruflicher Unterwerfungsvertrag ist ein unsittlicher und deshalb unwirksamer Vertrag. Ein Tötungsvertrag ist in dem Augenblick, wo er ausgeführt wird, vollständig irreversibel. Damit ist er in noch höherem Maße ein unsittlicher Vertrag als der, mit dem sich jemand in Sklaverei begibt. Die Vokabel „Befreiung“ ist für diese Handlung unpassend. Denn das Ziel und Ende jeder Befreiungstat ist Freiheit. Ziel und Ende der Tötung auf Verlangen ist aber die Beseitigung des Subjektes möglicher Freiheit, die Nicht-Existenz. Menschenwürdiges Sterben ist ein von Menschen begleitetes, behütetes und vor großen Schmerzen bewahrtes Sterben. Es ist ebenso menschenunwürdig, das Leben des Menschen durch medizinische Maßnahmen, z. B. künstliche Ernährung, über jedes vernünftige Maß hinaus zu verlängern, wie es menschenunwürdig ist, den Tod absichtlich herbeizuführen. In
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beiden Fällen ist der Patient nicht mehr wirklich Selbstzweck. Darauf aber kommt es bei der Menschenwürde an. Menschenrechte sind nicht unbedingt. Sie können sich gegenseitig einschränken. So findet das Recht auf Forschungsfreiheit oder auf Kunstfreiheit seine Grenze am Recht auf Eigentum. Der Künstler darf nicht Wände bemalen, die ihm nicht gehören. Der Forscher darf sich nicht im Interesse seiner Forschung fremden Eigentums bemächtigen oder Menschenleben opfern. Aber auch das Eigentumsrecht hat wiederum Grenzen. Menschenwürde dagegen kennt keine Kompromisse. Sie verlangt, dass auch bei einer Einschränkung von Rechten immer die Frage sein muss, ob in die Gerechtigkeitserwägungen, die diese Einschränkung fordern oder erlauben, das Interesse der in ihrem Recht Eingeschränkten auf unparteiliche Weise eingeht, das heißt, ob die Einschränkung vor dem Beeinträchtigten als zumutbar gerechtfertigt werden kann – vorausgesetzt, der Betreffende ist selbst gerecht denkend. Menschenwürde kann nie gegen Menschenwürde stehen. Wenn meine Interessen zurückstehen müssen hinter denen eines anderen, dann bedeutet das so lange keine Verletzung meiner Würde, als diese Verletzung mir gegenüber gerechtfertigt werden kann. Würde eines Menschen ist dann verletzt, wenn es offen oder stillschweigend heißt: Auf ihn kommt es nicht an. Die kantische Selbstzweckformel kann auch vereinfacht so abgewandelt werden: Auf jeden kommt es an.
II Das Sein des Lebendigen und die Lebensform
Thomas Hoffmann
Lebensform – Natur, Begriff und Norm
1. Will man sich etwas Klarheit verschaffen über die theoretischen Grundbegriffe des zeitgenössischen Aristotelismus, so muss man unter anderem die Rolle des Lebensformbegriffs innerhalb eines Naturalismus klären, den man „aristotelisch“ nennen kann, den man aber vielleicht ebenso gut „thomasisch“, „hegelianisch“, „heideggerisch“ oder „wittgensteinisch“ nennen könnte. Heutzutage können wir diese Art von Naturalismus in unterschiedlichen Nuancen sowohl in John McDowells Mind and World als auch in Philippa Foots Natural Goodness oder Michael Thompsons Life and Action ausmachen.¹ Ich nenne diese Art von Naturalismus „hermeneutischen Naturalismus“. Das tue ich zum einen deshalb, weil diese Art von Naturalismus mehr als nur einen Vater oder eine Mutter hat. Zum anderen scheint mir dieser Titel aber auch besonders geeignet, um diese Art des Naturalismus möglichst offensiv gegen die gegenwärtig so ungemein populäre Spielart von Naturalismus abzugrenzen, die ich als „szientistischen Naturalismus“ bezeichnen möchte. Ich werde mit dieser Abgrenzung beginnen und dabei versuchen, deutlich zu machen, inwiefern sich der hermeneutische Naturalismus sowohl hinsichtlich seines Ziels als auch hinsichtlich seines Vorgehens vom szientistischen Naturalismus unterscheidet. Dann werde ich versuchen, gleichsam den Rohbau des hermeneutischen Naturalismus zu skizzieren, wobei ich mir Mühe geben werde, nicht irgendwo zu beginnen und zu enden, sondern bis auf ′s Fundament vorzudringen. Dieses Fundament, besteht m. E. gar nicht zuallererst im Lebensformbegriff selbst, sondern im recht verstandenen Begriff des Begriffs. Lebensformen bilden dann eine bemerkenswerte Unterart von Begriffen, die eigenständige Merkmale aufweisen, welche daraus resultieren, dass sie Formen des Lebendigen darstellen. Wenn das, was ich sagen werde, stimmt, so heißt das, dass das richtige Verständnis von Lebensformen vom richtigen Verständnis dessen abhängt, was ein Begriff ist. Dies bedeutet dann wiederum auch, dass die Perspektive, die der hermeneutische Naturalismus eröffnet, nicht nur eine andere Position innerhalb der Ethik ermöglicht. Vielmehr wird weit darüber hinaus auch nahegelegt, dass einige Grundannahmen revidiert werden müssen, die die Logik, die Sprachphi-
Vgl. McDowell 1996, Foot 2003, Thompson 2008. vgl. zum Verhältnis von McDowells Konzept der Zweiten Natur und Foots Naturbegriff: Hoffmann 2010.
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losophie, die Ontologie und die Philosophie des Geistes des vergangenen Jahrhunderts dominierten. Nachdem ich diesen Rohbau angedeutet haben werde (vgl. hierzu ausführlicher: Hoffmann 2014), will ich abschließend dafür plädieren, dass man die im Titel des Bandes angedeutete Differenz zwischen der Normativität des Lebens und der Normativität der Vernunft nicht überbetonen muss, wenn man sich an Aristoteles’ und Kants Ausführungen zur praktischen Vernunft und Moral von Menschen hält.² Um es jetzt schon ein wenig vorwegzunehmen, wird dieses Plädoyer, kurz gesagt, darauf hinauslaufen, dass Kant m. E. mit fast allem, was er formal zu praktischer Vernunft und Moral sagt, vollkommen Recht hat, dass er dabei mit seiner formalistischen Fixierung auf reine Formen nur leider etwas über das Ziel hinausschießt (woran letztlich Hume Schuld ist). 2. Ich komme zum ersten Punkt, nämlich der Abgrenzung zwischen dem gegenwärtig populären szientistischen Naturalismus und dem, was ich als „hermeneutischen Naturalismus“ bezeichnet habe. Diese beiden Naturalismen lassen sich gut anhand ihrer unterschiedlichen Ziele und ihres unterschiedlichen Vorgehens voneinander abgrenzen. Die sehr grundlegenden Unterschiede kann man sich kaum besser vor Augen führen als dadurch, dass man sich zunächst zwei Zitate von zwei einflussreichen Wegbereitern des szientistischen Naturalismus im 20. Jahrhundert anschaut. Da ist zum einen Willard Van Orman Quine, der nicht nur großes Misstrauen gegenüber so höchst verdächtigen Wörtern wie „Geist“, „Urteil“, „Sinn“ oder „das Gute“ hegt, sondern der auch behauptet, dass philosophischer Naturalismus zuallererst darin besteht, anzuerkennen „that it is within science itself, and not in some prior philosophy, that reality is to be identified and described.“ (Quine 1981, S. 21) Und da ist zum anderen Wilfrid Sellars, der leider in das gleiche Horn stößt, wenn er in Empiricism and the Philosophy of Mind schreibt, dass „ […] in the dimension of describing and explaining the world, science is the measure of all things, of what is that it is, and of what is not that it is not.“ (Sellars 1956, S. 176)³ Dem szientistischen Naturalismus zufolge sind also die Naturwissenschaften (oder zumindest die empirischen Wissenschaften) das Maß aller Dinge. Und folglich kann etwas auch nur dann als natürlich und überhaupt als etwas Wirkliches in der Welt gelten,wenn es sich mit dem Vokabular der Naturwissenschaften identifizieren, beschreiben und erklären lässt. Ist dies jedoch nicht möglich, dann haben wir es auch nicht mit etwas zu tun, das natürlich sein könnte und wirklich
Vgl. v. a. Aristoteles 2006, Kant 1786, Kant 1788, Kant 1797. Vgl. hierzu auch: Sellars 1962.
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ist. Lässt sich etwas nicht mit dem Vokabular der Naturwissenschaften identifizieren, beschreiben und erklären, dann entspringt es – dieser Auffassung nach – lediglich unserer überbordenden Phantasie und beläuft sich auf Hirngespinste, Fiktionen, Projektionen oder „Metaphysik“. (In despektierlicher Absicht sagte man Letzteres bekanntlich um 1930 im philosophischen Wien, und manche analytische Philosophen und Wissenschaftstheoretiker sagen das auch heute noch – wobei sie allerdings einem vollkommenen Selbst-Missverständnis hinsichtlich dessen unterliegen, was auch sie tun, sofern das, was sie tun, tatsächlich Philosophie ist.) Will man als szientistischer Naturalist nicht von vornherein Vernunft und Moral als Hirngespinste eliminieren, sondern als natürlich und wirklich ausweisen, so muss man nun also offenbar ein Problem lösen, das Simon Blackburn einmal so formuliert hat: „The problem is one of finding room for ethics, or placing ethics within the disenchanted, non-ethical order which we inhabit, and of which we are a part.“ (Blackburn 1998, S. 49) Dieses Problem kann der szientistische Naturalist jedoch nur dadurch zu lösen versuchen, dass er Vernunft und Moral mit dem Vokabular der Naturwissenschaften zu beschreiben sucht. Denn nur so könnten sie als Teil der von den Naturwissenschaften entzauberten Welt erscheinen und damit – dem Verständnis des szientistischen Naturalisten nach – als natürlich und wirklich. Ich glaube allerdings nicht, dass dieser Versuch gelingen kann. Denn Vernunft und Moral lassen sich als solche nicht mit dem Vokabular der Naturwissenschaften identifizieren, beschreiben und erklären, sondern nur mit rationalem und ethischem Vokabular erläutern. Unter naturwissenschaftlicher Beschreibung löst sich nämlich das originär Rationale und Moralische, das der Vernunft und der Moral eigen ist, auf. Und dementsprechend können Vernunft und Moral dann auch nicht mehr als Seinsbereiche sui generis begriffen und als solche erläutert werden. Über die Probleme der szientistischen Naturalisten möchte ich mich hier aber gar nicht en detail auslassen. Ich sage dies jetzt alles nur, um zu verdeutlichen, inwiefern sich der Hermeneutische Naturalismus grundlegend vom szientistischen Naturalismus unterscheidet.⁴ Im Gegensatz zum szientistischen Naturalisten muss ein hermeneutischer Naturalist nicht erst noch irgendwo ein Plätzchen für Vernunft und Moral in der naturwissenschaftlich entzauberten Welt einer arationalen und amoralischen Natur finden, um Vernunft und Moral überhaupt als natürlich und wirklich begreifen zu können. Dementsprechend möchte ein hermeneutischer Naturalist auch keineswegs Vernunft und Moral mit Hilfe des Vokabulars der Naturwis-
Vgl. zu einer ausführlicheren Kritik am szientistischen Naturalismus: Hoffmann 2013a.
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senschaften identifizieren, beschreiben und erklären. Und folglich besteht für ihn auch gar kein Anlass, Blackburns Problem zu lösen. Vielmehr folgen hermeneutische Naturalisten der aristotelischen Einsicht, dass ein gutes menschliches Leben ein Leben gemäß der Vernunft ist. Und daher wollen sie schlicht zeigen, dass Vernunft und Moral als solche (d. h. als etwas, das nur in rationalem und moralischem Vokabular selbst zu begreifen ist) die Natur des Menschen ausmachen. Deshalb stellt der hermeneutische Naturalismus auch ein gänzlich anderes Projekt dar als der szientistische Naturalismus: nämlich ein nonreduktives Projekt, dessen Ziel einfach darin besteht, verständlich zu machen, dass Vernunft und Moral als solche ganz natürlich für Menschen sind und dass ein gutes menschliches Leben ein Leben gemäß der Vernunft ist. (Notabene: Dabei ist nicht nur nach Kant, sondern ebenso nach Aristoteles, die voll entfaltete praktische Rationalität des Menschen nie rein instrumentell, sondern betrifft letzten Endes stets auch die allgemeine Qualität beabsichtigter Handlungsziele. Aber darauf komme ich gegen Ende des Aufsatzes noch einmal kurz zurück.) 3. Wenn man als hermeneutischer Naturalist Vernunft und Moral nicht auf ihre naturwissenschaftliche Beschreibung zurückführen will, sondern sie als solche – als sui generis – und zugleich als natürlich und als Wirkliches in der Welt auffasst, so ist klar, dass man „Natur“ und „Welt“ anders begreifen muss, als es der szientistische Naturalist tut. Man muss sie nämlich als etwas begreifen, das wesentlich reichhaltiger ist, als die naturwissenschaftlich entzauberte Welt der arationalen und amoralischen Natur. Daher könnte man zum Zweck der Abgrenzung gegenüber einem szientistischen Naturalismus durchaus sagen, dass „Natur“ und „Welt“ im hermeneutischen Naturalismus „verzaubert“ oder „wieder-verzaubert“ sind. John McDowell sagt derlei manchmal (in Anlehnung an Max Weber, vgl. v. a. McDowell 1996, S. 70 ff.), und zum Zweck der Abgrenzung ist das auch schön plakativ und erfüllt vollends diesen Zweck. Aber freilich hört es sich auch etwas merkwürdig an und bietet bei unwohlwollender Lesart allerlei Vorlagen für mehr oder minder gelungene Kalauer. Man denke hier etwa an Richard Rortys Bemerkung, dass McDowell zum Glück nicht auch noch behaupte, Steine und Bäume würden mit uns reden (vgl. Rorty 1998, S. 148). Wenn man nicht Anlass für eine derartige Parodie dessen liefern will, was mit einer „verzauberten“ oder „wieder-verzauberten“ Natur oder Welt gemeint sein kann, dann sollte man darauf aufmerksam machen, dass diese als wesentlich reichhaltiger zu verstehende Natur und Welt in der uns als Gesamt gegebenen Praxis unseres Alltags ausfindig zu machen ist. Diese Praxis ist zwar nicht immer nur urteilsförmig und daher auch nicht ausschließlich propositional verfasst, aber sie ist stets begrifflich. Denn in dieser Praxis, die wir als solche nicht wie ein
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Artefakt konstruiert haben und die wir auch nicht in toto vor uns bringen und verändern können, wie ein einzelnes Artefakt, bewegen wir uns, indem wir denken, handeln und erfahren. Unser Denken, Handeln und Erfahren sind dabei stets aktive oder passive Instanziierungen unseres Vermögens begrifflicher Spontaneität. (vgl. McDowell 1996; vgl. hierzu auch ausführlich: Hoffmann 2007, Kap. V – XI.) Denn in unserem Denken, Handeln und Erfahren begreifen wir dieund-die Dinge, Zustände und Bewegungen in der Welt für gewöhnlich immer schon als diese oder jene Dinge, Zustände und Bewegungen. (Oder auch ex negativo: nicht als dieses und nicht als jenes. Oder vielleicht auch: als merkwürdige Mischung aus diesem und jenem, für die es nicht ein einzelnes Wort gibt.⁵) 4. Das Begreifen von etwas als etwas im Denken, Handeln und Erfahren vollzieht sich zumeist und zuvorderst in demjenigen Vokabular, das unserer gewöhnlichen Praxis eigen ist und das unsere Alltagssprache und unsere Alltagsontologie ausmacht. Dieses Alltagsvokabular ist in der Tat wesentlich reichhaltiger als das lediglich naturwissenschaftliche Vokabular. Denn naturwissenschaftliches Vokabular ist – wie man in Anlehnung an Heidegger sagen könnte – eine Privation unseres Alltagsvokabulars (vgl. Heidegger 1927, S. 149 f., 163). Es ist eine absichtliche und nachträgliche „Beraubung“, die zu einer sprachlichen und ontologischen Simplifizierung führt, welche als Mittel zu dem spezifischen Zweck dient, spezifische Fragen der Naturwissenschaften zu beantworten. In der reichhaltigeren Praxis des Alltags, die durch eine Vielzahl von Bewandtnis- und Verweisungszusammenhängen geprägt ist, welche sich als solche nicht mit dem Vokabular der Naturwissenschaften identifizieren, beschreiben und erklären lassen, haben die Dinge, Zustände und Bewegungen als je Einzelnes, das etwas je Allgemeines exemplifiziert, ihren logischen Ort. Genauer gesagt: Ihr logischer Ort ist durch das Allgemeine bestimmt, das sie exemplifizieren – und das ihre Natur ausmacht. Oder, wie wir jetzt anstelle von „Natur“ auch sagen könnten: Das, was ihre zweite ousia, ihre essentia, ihr Wesen, ihr Sein ausmacht. Natur, zweite ousia, essentia,Wesen oder Sein sind das je Allgemeine der je im Hier und Jetzt so-und-so in Erscheinung tretenden einzelnen Substanzen. Sie sind das Allgemeine, aufgrund dessen die einzelne Substanz als Einzelnes erst das je Besondere sein kann, das sie im Hier und Jetzt ist. Dieses je Allgemeine, das wir „Natur“, „zweite ousia“, „essentia“, „Wesen“ oder „Sein“ nennen können, kann zwar in vielen Fällen als solches auch durch empirische Beobachtungen und naturwissenschaftliche Beschreibungen über die Zeit hinweg mitbestimmt und
Vgl. hierzu Hoffmann 2014, S. 205 f. (Anm. 27) sowie Hoffmann 2007, S. 268 – 271.
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modifiziert werden, aber es reduziert sich nicht auf diese Beobachtungen und Beschreibungen. Und daher sind „Natur“ und „Welt“ im Hermeneutischen Naturalismus wesentlich reichhaltiger als im szientistischen Naturalismus. Und sie müssen es auch sein, damit wir empirische Beobachtungen und naturwissenschaftliche Beschreibungen überhaupt als solche machen, begreifen und verstehen können (vgl. hierzu: Hoffmann 2014, Kap. 4.). 5. Obwohl ich der Leserin und dem Leser bisher terminologisch vielleicht schon fast zuviel zugemutet habe, indem ich etwas handstreichartig „Natur“, „zweite ousia“, „essentia“, „Wesen“ und „Sein“ mehr oder minder in Eins setzte, um anzudeuten, inwiefern Natur und Welt im hermeneutischen Naturalismus reichhaltiger sind als im szientistischen Naturalismus, kann ich der Leserin und dem Leser jetzt noch eine weitere (aber letzte) terminologische Zumutung nicht ersparen. Versteht man nämlich den Begriff des Begriffs weder lediglich individualpsychologisch als den je subjektiven Akt des Begreifens noch kollektiv-soziologisch als den je inter-subjektiven Akt faktisch übereinstimmenden Urteilens, sondern logisch und ontologisch als das in der und durch die Bewandtnis- und Verweisungszusammenhänge der Praxis gegebene eidos, dann kann man das Allgemeine, das Natur, zweite ousia, essentia,Wesen oder Sein ist, mit einem nicht mehr ganz so neuen, aber dafür umso größeren Neo-Aristoteliker – nämlich Hegel –, auch „Begriff“ nennen. Ganz im Sinne meiner zuvor gemachten Anmerkung, dass wir unsere Praxis nicht wie ein Artefakt konstruiert haben, sagt auch Hegel mit Blick auf die denkend, handelnd und erfahrend zum Einsatz kommenden Begriffe, „daß wir die Begriffe gar nicht bilden und daß der Begriff überhaupt gar nicht als etwas Entstandenes zu betrachten ist.“ (Hegel 1830, S. 313) Und Hegel fährt dann – rund 140 Jahre vor Davidsons On the Very Idea of a Conceptual Scheme (vgl. Davidson 1974) – fort, dass es daher auch ganz „verkehrt [ist], anzunehmen, erst seien die Gegenstände, welche den Inhalt unserer Vorstellungen bilden, und dann hinterdrein komme unsere subjektive Tätigkeit, welche durch die […] Operation des Abstrahierens und des Zusammenfassens des den Gegenständen Gemeinschaftlichen die Begriffe derselben bilde. Der Begriff ist vielmehr“ – wie Hegel sagt – „das wahrhaft Erste, und die Dinge sind das, was sie sind, durch die Tätigkeit des ihnen innewohnenden und in ihnen sich offenbarenden Begriffs.“ (Hegel 1830, S. 313). Und daher kann man dann auch mit Hegel sagen, dass „der Begriff der Sache, das in ihr selbst Allgemeine ist“. (Hegel 1831, S. 26) Verstehen wir den Begriff des Begriffs in dieser Weise, so ist die Natur, die zweite ousia, die essentia, das Wesen oder das Sein von einer Substanz, die in der
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Welt ist, zugleich auch deren Begriff. Denn der Begriff ist dann ebenso wie die Natur dieser Substanz ihr eidos. 6. Damit sind wir nun vermutlich an dem Fundament angelangt, von dem ich eingangs behauptete, dass wir es betrachten müssen, um den Rohbau eines „neoaristotelischen“ hermeneutischen Naturalismus recht zu verstehen: nämlich beim Begriff des Begriffs. Vielen Philosophen fällt es heutzutage offenbar unendlich schwer, zu verstehen, das eine Lebensform Begriff und Natur ihrer Exemplare ist, welche zugleich die natürlichen Normen impliziert, an denen sich bemisst, ob ein Exemplar ein natürlich gutes oder schlechtes Exemplar ist. Und das liegt m. E. nicht zuletzt auch wesentlich daran, dass es ihnen generell schwer fällt, zu verstehen, was ein Begriff in dem jetzt mit Hegels Hilfe angedeuteten Sinne ist. Sie verstehen nämlich kaum, was es heißt, dass ein Begriff das eidos – die Form – dessen sein kann, was unter ihn fällt. Diese Schwierigkeit resultiert daraus, dass uns heutzutage zumeist ein Bild gefangen hält, das in der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts aus der Kombinationen zweier sich ergänzender philosophischer Lehrmeinungen hervorgegangen ist. Nämlich zum einen aus der schon etwas älteren Vorstellung, die wir bereits bei Locke und Hume finden und die wir als „Dogma des empiristischen Nominalismus“ bezeichnen können. Und zum anderen aus der an Frege, Russell und Whitehead anschließenden formalistischen Vorstellung von Logik, der zufolge wahrheitsfähige Sätze mit den Mitteln einer rein extensionalen Quantorenlogik zu analysieren sind.⁶ Beide Vorstellungen zusammen behindern erheblich die Bemühungen, heutzutage zu einem angemessenen Begriff des Begriffs zu gelangen. Das, was ich jetzt mit dem „Dogma des empiristischen Nominalismus“ meine, besagt genau das, was Hegel gerade in der von mir zuvor zitierten Passage als bloß „subjektive Tätigkeit […] des Abstrahierens und des Zusammenfassens“ beschrieben hat. Unter diesem Dogma hat man sich das Allgemeine nämlich so vorzustellen, dass aus lauter Einzelbeobachtungen von Einzelnem induktiv auf ein Allgemeines geschlossen wird. Dabei bleibt es aber mehr oder minder rätselhaft, wie man das je Einzelne überhaupt als solches beobachten könnte, begriffe man es nicht (zumindest implizit) schon als dieses und jenes – und damit bereits als eine Exemplifizierung eines Allgemeinen, das man seinerseits bereits begriffen haben muss. (vgl. hierzu Hoffmann 2014, S. 98, S. 142.)
Es ist sicherlich kein Zufall, dass Quine einer der prominentesten Verfechter einer rein extensionalen Quantorenlogik war: Vgl. hierzu z. B. Quine 1964, Quine 1970.
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Diese Vorstellung können wir heutzutage nicht nur im Verständnis dessen, was ein Naturgesetz sei, wiederfinden, sondern auch in der extensionalen Erläuterung dessen, was ein Begriff ist. Eine rein extensionale Auffassung des Begriffs stellt diesen nämlich als bloße Menge der Elemente dar, die unter ihn fallen, wobei es ganz unbestimmt bleibt, warum sie eigentlich unter ihn fallen. Zusätzlich befeuert wird das Dogma des empiristischen Nominalismus, dem auch der szientistische Naturalismus unterliegt, durch die noch immer währende Dominanz der Quantorenlogik. Denn in ihr werden Begriffe als Satzfunktionen aufgefasst, und wahrheitsfähige Sätze werden in ihr so analysiert, als bestünden sie aus Satzfunktionen, an deren Argumentstelle sich durch Quantoren gebundene Individuenvariabeln befinden, die für abzählbare Einzelgegenstände oder Mengen von abzählbaren Einzelgegenständen stehen. Begriffserläuternde Aussagen werden demgemäß als allquantifizierte Sätze aufgefasst, wobei der Allquantor syntaktisch so bestimmt ist, dass Allgemeinheit stets als Ausnahmslosigkeit interpretiert werden muss. Daraus ergibt sich, dass Begriffe durch komplexe Sätze erläutert werden sollen, die besagen, dass ausnahmslos jeder einzelne Gegenstand dann als Argument die eine Satzfunktion erfüllt, wenn er auch die andere Satzfunktion erfüllt. Beispiele für solche Sätze wären etwa: „Für jedes x gilt: Wenn x ein Toaster ist, dann röstet x Brot“; „Für jedes x gilt: Wenn x ein Reh ist, dann hat x vier Beine“; „Für jedes x gilt: Wenn x ein Mensch ist, dann ist x vernünftig“. Die Erläuterung eines Begriffs besteht hier also darin, dass ausnahmslos jedes Element der Menge, die seine Extension bildet, auch ausnahmslos Element einer weiteren Menge ist, die die Extension eines anderen Begriffs bildet. Aus dieser Analyse begriffserläuternder Aussagen als allquantifizierte Sätze folgt aber unter anderem auch, dass ein Begriff als das Allgemeine keine normative Signifikanz für das Einzelne haben kann, das unter ihn fällt. Denn entweder wird der jeweilige als Funktion aufgefasste Begriff vom Argument erfüllt oder nicht, woraufhin der einzelne Gegenstand dann entweder eine Element der Extension des jeweiligen Begriffs ist oder nicht. Der einzelne Gegenstand kann also nur ganz oder gar nicht unter den Begriff fallen. Besser oder schlechter – auf perfekte oder defekte Weise – kann er den Begriff jedoch nicht erfüllen. Und damit kann der einzelne Gegenstand (gemäß dieser Auffassung) auch kein besserer oder schlechterer Gegenstand sein. Diese Fixierung auf beobachtbare abzählbare Einzelgegenstände und die Deutung von Allgemeinheit als Ausnahmslosigkeit, die dem empiristischen Nominalismus im Verbund mit der Quantorenlogik eigen ist, führt unmittelbar zu absurden Ergebnissen, wenn wir versuchen, Aussagen unserer alltäglichen Sprachpraxis zu analysieren und zu verstehen. Wenn wir z. B. die soeben angeführte allquantifizierte Begriffserläuterung „Für jedes x gilt:Wenn x ein Toaster ist,
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dann röstet x Brot“ voraussetzen, dann scheint es so, als könne man die in unserem Alltag nur wenig Aufsehen erregende Aussage, dass Toaster, die Brot nicht rösten, schlechte bzw. defekte Toaster sind, kaum mehr sinnvoll behaupten. Gehen wir nämlich von dieser allquantifizierten „Begriffserläuterung“ aus, so zwingt uns das entweder zu dem Urteil, dass ein Einzelgegenstand, der nicht Brot röstet, kein Toaster sein kann (d. h.: nicht unter den Begriff des Toasters fällt, nicht als Element in der durch „Toaster“ bezeichneten Extension bzw. Menge enthalten ist, nicht als Argument den Funktionsausdruck „… ist ein Toaster“ erfüllt). Oder wir sind zu der Ansicht gezwungen, dass eine Begriffserläuterung, die besagt, dass Toaster Brot rösten, falsch sein muss. Beides ist jedoch vollkommen absurd⁷, bedenkt man die Signifikanz der in unserer alltäglichen Praxis durchaus sinnvollen Behauptungen „Toaster, die Brot nicht rösten, sind schlechte Toaster“ und „Dieser Toaster ist defekt, weil er das Brot nicht röstet“. (Auch die in der Philosophie der vergangenen Jahre oft vorgetragene Behauptung, dass „das Begriffliche“ normativ sei, bleibt solange rätselhaft und unausgegoren, solange Begriffe lediglich als Mengen und allgemeine begriffserläuternde Aussagen als allquantifizierte Sätze aufgefasst werden. Denn besagte Normativität selbst kann dann nicht auf das Verhältnis zwischen einen Gegenstand x und einen Begriff F, unter den x fällt, bezogen werden, da im quantorenlogischen Kalkül ein x nicht besser oder schlechter F sein kann, sondern nur entweder F oder nicht F sein kann. Da dies aber nur selten gesehen wurde, behielt man die quantorenlogische Sicht bei und versuchte die Normativität des Begrifflichen dadurch zu untermauern, dass man auf die wechselseitigen Ansprüche und Bewertungen von Sprechern und Interpreten verwies. Obgleich „das Begriffliche“ freilich nicht unabhängig oder jenseits von unseren intersubjektiven Kommunikationspraktiken zu verstehen ist, unterstützt dieser Verweis allerdings nicht die Behauptung, dass „das Begriffliche“ selbst normativ ist, sondern vielmehr die Behauptung, dass Kommunikation normativ ist. Letzteres ist zwar keineswegs falsch, aber eine andere Behauptung.) 7. Will man einen theoretisch gut fundierten hermeneutischen Naturalismus vertreten, so kommt man m. E. also nicht umhin, die gegenwärtig vorherrschende Auffassung dessen, was ein Begriff ist und was „Allgemeinheit“ bedeutet, grundlegend in Frage zu stellen – und dies geht weit über die Grenzen dessen hinaus, worüber wir üblicherweise in der Ethik diskutieren. Will man nämlich Dennoch müsste derlei unweigerlich folgen, analysierten wir diese Begriffserläuterung als allquantifizierte Aussage. Als allquantifizierte Aussage hätte sie nämlich die konditionale Form der materialen Implikation, für die – laut der Wahrheitstafel – gilt, dass „Wenn p, dann q“ falsch ist, sofern „p“ wahr und „q“ falsch ist.
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einen theoretisch gut fundierten hermeneutischen Naturalismus vertreten, so kann man Begriffe nicht mehr als bloße Mengen von Elementen auffassen, sondern muss im Sinne von Aristoteles und Hegel unter einem Begriff die Substanzform (d. h. das eidos) derjenigen Substanzen verstehen, die diese Form exemplifizieren. Ein Begriff ist dann die Form der jeweiligen Substanz oder – wie Hegel sagt – der „Sache“, die ihn exemplifiziert, und als ihre Form ist „der Begriff der Sache“ dann „das in ihr selbst Allgemeine“. (Hegel 1831, S. 26.) Dieses Allgemeine, das ein Begriff als Substanzform ist und das wir in unserer Praxis zumeist implizit bzw. „empraktisch“ (vgl. Stekeler-Weithofer 2006, S. 241 [Anm. 12].) beherrschen, kann explizit gemacht werden durch Aussagen, die die logische Form generischer Sätze haben.⁸ Dass solche Explikationen, die uns zu Hegels „gediegenem Begriff an und für sich“ (vgl. Stekeler-Weithofer 2004, S. 373) führen, die logische Form generischer Sätze haben, heißt dabei, dass wir Begriffe nicht mehr durch allquantifizierte Aussagen zu explizieren versuchen. Denn generische Aussagen sind allgemeine Aussagen, deren logische Form nicht dadurch gekennzeichnet ist, dass in ihr Individuenvariablen als Argumente von Satzfunktionen auftauchen, die durch den Allquantor gebunden sind. Generische Aussagen haben also nicht die Form: Für alle x gilt: Wenn x S ist, dann ist x F. Vielmehr haben sie die folgende eigenständige logische Form: S ist/hat/tut F. Dabei steht S nicht für Individuen oder Mengen von Individuen, sondern für die Substanzform selbst, während das durch die „zeitallgemeine“ (vgl. Rödl 2005, S. 188.) Kopula ist/hat/tut mit S verbundene F für die Zustands- oder Bewegungsformen steht, die Exemplare von S als solche im Allgemeinen manifestieren. Anders als bei allquantifizierten Aussagen können hierbei jedoch Ausnahmen zugelassen werden. Denn generische Aussagen werden nicht dadurch falsch, dass ein einzelnes Exemplar von S im Besonderen nicht F ist/hat/tut, obgleich Exemplare von S als solche im Allgemeinen F manifestieren (vgl. hierzu: Hoffmann 2014, S. 102– 109.). Mit generischen Aussagen wie z. B. „Der Toaster röstet Brot“, „Das Reh hat vier Beine“ oder „Der Mensch ist vernünftig“ expliziert man (also je partiell) die Begriffe des Toasters, des Rehs oder des Menschen als Substanzformen, indem man (je partiell) die Zustands- oder Bewegungsformen angibt, die Substanzen, welche diese Substanzformen exemplifizieren, im Allgemeinen manifestieren. 8. Ist ein Begriff die Form der Substanzen, die ihn exemplifizieren, und besagt diese Form, was die sie exemplifizierenden Substanzen im Allgemeinen manifestieren, so steht ein Begriff aber auch in einer anderen geltungsrelevanten bzw.
Vgl. Stekeler-Weithofer 2004, Stekeler-Weithofer 2009, Stekeler-Weithofer 2011.
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normativen Beziehung zu seinen Exemplaren als eine Menge zu ihren Elementen. Die Zustands- oder Bewegungsformen, die eine Substanzform explizieren, indem sie angeben, welche Zustände und Bewegungen Exemplare der Substanzform im Allgemeinen manifestieren, sind dann nämlich zugleich auch die Normen, denen die Zustände und Bewegungen eines einzelnen Exemplars der Substanzform unterliegen – und damit auch die Normen, denen das jeweilige Exemplar als solches unterliegt. Diese Normen geben nämlich an, was es für ein Exemplar im Allgemeinen heißt, in guter Weise das zu sein, was es seiner Substanzform nach ist, und was im Allgemeinen gut für ein Exemplar der betreffenden Substanzform ist. Welche Zustands- oder Bewegungsformen als Normen fungieren, bestimmt sich dabei durch das Telos, das mit der jeweiligen Substanzform verbunden ist und das konstitutiv für die jeweilige Form ist. Ob ein Gegenstand, der etwa die Form des Toasters exemplifiziert, ein guter Toaster ist, bemisst sich daran, ob und in welcher Weise er geeignet ist, um mit ihm Brot zu rösten. Ob ein Kinofilm ein guter Unterhaltungsfilm ist, bemisst sich daran, ob und in welchem Maße er geeignet ist, um uns zu unterhalten. Bei unbelebten Gegenständen und insbesondere bei Artefakten ist das Telos dabei stets ein dem jeweiligen Exemplar externes Telos, das wir gemäß unseren Zwecken der instrumentellen Nutzung festlegen können. Zwar ist das externe Telos zunächst und zumeist durch die Konventionen der instrumentellen Nutzung innerhalb unserer Praxis bestimmt. Aber gegen diese Konventionen können wir auch verstoßen, indem wir einen einzelnen Gegenstand auf unkonventionelle Weise nutzen. Ihn auf unkonventionelle Weise zu nutzen, muss dabei weder per se irrational sein noch muss dies notwendig schlecht oder falsch sein. Denn das Telos ist dem Exemplar extern und beruht letztlich voll und ganz auf unseren jeweiligen Wünschen, Interessen, Präferenzen u. ä. So können wir den einen oder anderen Unterhaltungsfilm z. B. auch als wirksames Schlafmittel nutzen, ohne dass wir allein dadurch schon unvernünftig handeln oder etwas Falsches tun. Es ist auch keineswegs irrational, zu urteilen: Weil er so langweilig ist, ist dieser Unterhaltungsfilm, ein unglaublich gutes Schlafmittel. Und ebenso wenig irrational ist es, ihn dann entsprechend zu nutzen (vgl. hierzu: Foot 2001, S. 3). Nicht nur die Antwort auf die Frage, was es für ein Exemplar im Allgemeinen heißt, in guter Weise das zu sein, was es seiner Form nach ist, wird hier also vollständig durch das externe Telos bestimmt, das wir an Exemplare der Form herantragen. Auch die Antwort auf die Frage, was im Allgemeinen gut für ein Exemplar der betreffenden Form ist, wird bei unbelebten Gegenständen und Artefakten vollends durch unsere Zwecke bestimmt. Wenn wir mit einem Toaster auch in Zukunft Brot rösten wollen, so ist es sicherlich „nicht gut für den Toaster“, wenn wir ihn lange in feuchter Umgebung stehen lassen, sodass seine Heizdrähte und sein Gehäuse verrosten. Wenn wir jedoch (auf den Spuren von Joseph Beuys
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oder wem auch immer) eine Installation planen, bei der ein angerosteter Toaster eine zentrale Rolle spielt, dann ist es gut, wenn wir ihn möglichst lange in möglichst feuchter Umgebung stehen lassen. Das zeigt: Auch bei der Frage, was gut für ein Exemplar der betreffenden Form ist, ist unsere Antwort bei unbelebten Gegenständen bzw. Artefakten zumeist durch Konventionen, aber stets durch unsere Zwecke seiner instrumentellen Nutzung bestimmt. Diese können auch durchaus unkonventionell sein, ohne dass wir damit schon per se unvernünftig sind oder etwas Falsches tun, weil wir mit unserem Handeln zeigen, dass wir das Exemplar nicht als das, was es seiner Form nach ist, begriffen haben.Vermutlich sollten wir daher auch besser sagen, dass es – bei Lichte besehen – gar keinen rechten Sinn ergibt, davon zu reden, dass „etwas gut für unbelebte Gegenstände oder Artefakte ist“. Denn das, was hier gut oder schlecht wäre, ist letztlich immer nur gut oder schlecht für uns, nämlich gut oder schlecht relativ zu den Zwecken und Zielen, die wir verfolgen und die vollends durch unsere Interessen, Präferenzen, Absichten, Wünsche etc. bestimmt sind. 9. Gewiss können wir auch externe Zwecke an andere Lebewesen herantragen und sie wie unbelebte Gegenstände oder Artefakte instrumentell nutzen. (Die gegenwärtig gängigen Praktiken der Fleisch-Industrie geben hierfür z. B. ein beredtes Zeugnis ab.) Im Gegensatz zu unbelebten Gegenständen weisen Lebewesen allerdings auch ein intrinsisches Telos auf, das nicht durch Konventionen und die externen Zwecke unserer instrumentellen Nutzung (unserer Interessen, Präferenzen, Absichten oder Wünsche) bestimmt ist (vgl. hierzu auch Hoffmann 2013b). Dieses intrinsische Telos von Lebewesen ergibt sich formal daraus, dass Lebewesen unter die Kategorie bzw. die Form des Lebens fallen. Es ist das, was Lebewesen von unbelebten Gegenständen bzw. Artefakten unterscheidet. In allgemeiner und formaler Redeweise können wir dieses intrinsische Telos von Lebewesen „Gedeihen“ nennen. Als formales Telos gilt das Gedeihen für alle Lebewesen in gleicher Weise, da sie lebende Substanzen sind. Worin das Gedeihen eines jeweiligen Lebewesens indes besteht, unterscheidet sich material, je nachdem, welche Substanzform das jeweilige Lebewesen exemplifiziert. Die Substanzformen, die Lebewesen exemplifizieren, nennen wir Lebensformen. Eine Lebensform ist Begriff und Natur ihrer Exemplare. Lebensformen sind z. B. die Katze, der Elefant, das Reh, der Mensch. Das Gedeihen eines Lebewesens unterscheidet sich material also je nachdem, ob es z. B. ein Exemplar der Lebensform der Katze, des Elefanten, des Rehs oder des Menschen ist. Dies dürfte unmittelbar ersichtlich sein. Denn nicht alles, was dem Gedeihen von Katzen zuträglich ist, ist auch dem Gedeihen von Elefanten zuträglich (und vice versa). Und nicht alles, was dem Gedeihen von Elefanten zuträglich ist, ist dem Gedeihen von Menschen zuträglich (und vice versa).
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Den Begriff eines bestimmten Lebewesens wie z. B. den des Rehs zu beherrschen, i. e. die Lebensform des Rehs zu kennen, heißt demnach erstens, Rehe überhaupt unter die Form des Lebens zu bringen (d. h. sie als Lebewesen zu begreifen) und zweitens sie als Exemplare der Lebensform des Rehs zu begreifen. Diese Lebensform, die der Begriff und die Natur des Rehs ist, ist nun aber nichts anderes als das, was durch wahre generische Aussagen explizit gemacht wird, welche die spezifische Form und zugleich die sich daraus ergebenden natürlichen Normen des Gedeihens von Rehen artikulieren. Derartige generische Aussagen über Lebensformen können wir mit Michael Thompson und Philippa Foot als „natural historical judgments“ oder „aristotelian categoricals“ bezeichnen.⁹ Sie geben in Abhängigkeit vom jeweiligen intrinsischen Telos – nämlich des jeweiligen lebensformspezifischen Gedeihens – an, was es für ein Exemplar im Allgemeinen heißt, in guter Weise das zu sein, was es seiner Form nach ist, und was im Allgemeinen gut für ein Exemplar der betreffenden Form ist. Das, was hier jeweils im Allgemeinen gut ist, ist also nicht durch externe Zwecke – durch unsere subjektiven Interessen, Präferenzen, Absichten oder Wünsche – bestimmt, sondern durch die Begriffe, die uns „objektiv“ gegeben sind, weil wir in die Praxis initiiert wurden. 10. Wenn das, was ich bisher über Begriffe und insbesondere zuletzt über Begriffe von Lebewesen, d. h. Lebensformen, gesagt habe, stimmt, so folgt daraus nun, dass z. B. das Verfügen über den Begriff des Rehs darin besteht, (zumindest im Großen und Ganzen) zu wissen, was es im Allgemeinen für ein Reh heißt, zu gedeihen. Über den Begriff des Rehs zu verfügen, bedeutet also, zu wissen, was es im Allgemeinen heißt, dass ein Exemplar der Lebensform des Rehs in guter Weise das ist, was es seiner Form nach ist, und was für Exemplare der Lebensform des Rehs im Allgemeinen gut ist. Wenn man derlei weiß, versteht man (zumindest im Großen und Ganzen) freilich auch, was im Allgemeinen nicht gut, sondern schlecht für ein Reh ist und was im Allgemeinen ein nicht gutes, sondern schlechtes Reh ist. Aber das Schlechte, das Scheitern, das Mangelhafte, das Defektive lässt sich als solches nur dann verstehen,wenn man es als Abweichung vom Gelingen begreift – nämlich als defizitäre Manifestation der Zustands- und Bewegungsformen der Lebensform. Das Schlechte, das Scheitern, das Mangelhafte, das Defekte ist stets eine mögliche der vielen kontingenten und vereinzelten Privationen der Form. Daher können aber Gelingen und Scheitern, Gut und Schlecht, das Makellose und das
Vgl. Thompson 2008, S. 63 – 69, Thompson 1995, S. 267 f., 280 – 288, Foot 2001, S. 27– 37.
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Mangelhafte, das Perfekte und das Defekte auch nicht auf ein und derselben logischen Stufe stehen, wenn es um die Fähigkeit geht, z. B. über den Begriff bzw. die Lebensform des Rehs zu verfügen. Begrifflich muss das Gelingen hier logisch primär sein, da die Lebensform die materiale Form dessen ist, worin im Allgemeinen das Gedeihen ihrer Exemplare besteht. Versteht man den Begriff des Begriffs und vor allem den Begriff der Lebensform so, wie bisher dargelegt, so wird vielleicht auch schon klar, weshalb die beiden notorischen Einwände gegen einen Naturalismus in der Ethik zwar einen szientistischen Naturalismus, keineswegs jedoch den hermeneutischen Naturalismus treffen. Moores anti-reduktionistischer Einwand des naturalistischen Fehlschlusses (vgl. Moore 1903, §10.) kann den hermeneutischen Naturalismus nicht treffen, da er mit Blick auf rationales und moralisches Vokabular kein reduktionistisches Projekt ist (wie ich bereits in §2 hervorhob). Der Einwand des Sein-Sollen-Fehlschlusses (bzw. des Verstoßes gegen Humes Gesetz) trifft den hermeneutischen Naturalismus gleichfalls nicht, da dies kein Einwand ist. Oder anders, besser und radikaler gesagt: Einen Sein-Sollen-Fehlschluss gibt es gar nicht – denn es ist mitnichten ein fehlerhafter Schluss, wenn man vom Sein auf ′s Sollen schließt. Was hingegen ein fehlerhafter Schluss ist, ist der Schluss von Seiendem auf das Sollen – der Schluss von den faktisch bestehenden individuellen Eigenschaften beobachtbarer und abzählbarer innerweltlicher Einzelgegenstände darauf, welche Eigenschaften diese Einzelgegenstände haben sollen. Da Empiristen und szientistische Naturalisten jedoch überhaupt nicht angemessen zwischen „Sein“ und „Seiendes“ unterscheiden, sondern unter „Sein“ (bzw. „Begriff“, „Natur“, „Wesen“) nur das induktiv gewonnene, nachträglich zusammengefasste und abstrahierte Sammelsurium aus beobachtbaren Eigenschaften des einzelnen innerweltlich Seienden verstehen – und eben nicht eine Form –, sprechen Hume und seine Nachfolger bei Lichte besehen demnach auch gar nicht von einem SeinSollen-Fehlschluss, wenn sie ihren Einwand formulieren, sondern von einem Seiendes-Sollen-Fehlschluss. Aber auf diese beiden Einwände will ich jetzt nicht weiter eingehen.¹⁰ Stattdessen möchte ich nun den Gedanken, dass die Lebensform stets die Form dessen ist, worin im Allgemeinen das Gedeihen ihrer Exemplare besteht, auf diejenigen Tiere anwenden, die wir Menschen sind. 11. Stimmen wir sowohl mit Aristoteles als auch mit Kant (und ich denke, auch mit der überwiegenden Zahl sonstiger Philosophen und Nicht-Philosophen) darin
Vgl. hierzu ausführlicher: Hoffmann 2014, S. 139 – 143.
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überein, dass es das signifikante Merkmal des Menschen ist, über das Vermögen der Vernunft zu verfügen, so können wir das auch so ausdrücken:Vernunft ist eine Zustands- oder Bewegungsform der menschlichen Lebensform. Trifft dies zu, so gehört es zumindest auch zum Gedeihen von Exemplaren der menschlichen Lebensform, vernünftig zu sein. Erinnern wir uns an Kants Ausführungen zur Vernunft, insbesondere zur praktischen Vernunft, und vergegenwärtigen wir uns, dass Aristoteles meint, dass ein gutes menschliches Leben ein Leben gemäß der Vernunft ist, so könnten wir allerdings auch geneigt sein, sogar folgendes zu sagen: Vernünftig zu sein, gehört nicht nur zum Gedeihen von Exemplaren der menschlichen Lebensform dazu, sondern ist letztlich das eigentliche menschliche Gedeihen selbst. Folgt man dieser stärkeren These, so wäre also das vernünftige Denken, Beabsichtigen und Handeln – kurz: das Vernünftigsein – das Telos menschlichen Lebens. Aber einerlei, ob man nun diese stärkere oder die etwas schwächere These vertritt, muss man in beiden Fällen sagen, dass die Ausübungen der (theoretischen und praktischen) Vernunft die Natur und den Begriff des Menschen ausmachen und dass es daher für Menschen natürlich gut ist, vernünftig zu sein. Aus dieser Explikation der menschlichen Lebensform folgen mehrere normativ relevante Einsichten mit Blick auf ihre Exemplare. Nämlich erstens: Dass gute Menschen – also Exemplare der menschlichen Lebensform, die deren Zustands- und Bewegungsformen in guter Weise oder gar perfekt manifestieren – deshalb gute Menschen sind, weil sie vernünftig sind. Zweitens folgt daraus aber ebenso, was gut für Menschen ist. Gut für Menschen ist es nämlich, wenn sie sich ihrer Vernunft bedienen, ein Leben gemäß der Vernunft führen und also vernünftig sind. Ist man ein Mensch und stellt sich als solcher vor, so stellt man sich demnach als ein Lebewesen vor, dass über das Vermögen und auch die Fähigkeit verfügt, vernünftig zu sein. Und indem man sich derart vorstellt, verpflichtet man sich dadurch selbst darauf, auch so zu sein: nämlich vernünftig. Sich darauf zu verpflichten, vernünftig zu sein, heißt aber eo ipso, dass man sich auch darauf verpflichtet, im Denken, Beabsichtigen und Handeln korrekt die Begriffe anzuwenden, über die man verfügt. Und diese Begriffe korrekt anzuwenden, heißt mit Blick auf Lebewesen, dass man sie im Allgemeinen als das behandelt, was sie ihrer Lebensform nach sind. Man behandelt dieses Reh dann als Reh und diesen Menschen als Menschen. Lebewesen im Allgemeinen als das zu behandeln, was sie ihrer Lebensform nach sind, bedeutet, dass man sie im Allgemeinen dem intrinsischen Telos ihrer Lebensform gemäß behandelt. Das heißt: Sofern keine gut begründeten Ausnahmefälle vorliegen, behandelt man sie so, dass ihr Gedeihen als Exemplar ihrer jeweiligen Lebensform nicht unmöglich wird. Oder vielleicht stärker noch: dass es
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ihnen möglich ist, als Exemplar ihrer jeweiligen Lebensform zu gedeihen. Denn in dieser Behandlung manifestiert sich die Fähigkeit, den entsprechenden Begriff, der ihre Lebensform ist, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu beherrschen. Als Mensch ein einzelnes Reh als Reh zu behandeln, bedeutet dann etwa, dass man nicht grausam gegen es ist und ihm nicht unnötige (d. h. schlecht oder gar nicht begründet) körperliche Schmerzen zufügt oder es unnötigerweise tötet. Einen einzelnen Menschen als Menschen zu behandeln, bedeutet hingegen, dass man nicht grausam gegen ihn ist und ihn nicht wie einen unbelebten Gegenstand oder wie ein Exemplar einer arationalen bzw. subrationalen Lebensform behandelt, sondern ihn gemäß seiner Lebensform – die Begriff und Natur des Menschen ist – als vernünftig vorstellt und behandelt (sofern nicht gut begründete Ausnahmefälle vorliegen). Hieraus ergeben sich weitere normative Einsichten, die uns verraten, was sowohl aus der Ersten-Person-Perspektive als auch aus der Perspektive der Zweiten und Dritten Person im Allgemeinen gut für Exemplare der menschlichen Lebensform ist. Für die Erste-Person-Perspektive gilt: Bin ich ein Mensch, so ist es im Allgemeinen gut für mich, wenn ich in meinem Denken, Beabsichtigen und Handeln vernünftig bin. Für die Zweite- und Dritte-Person-Perspektive gilt: Für andere Menschen ist es im Allgemeinen gut, wenn ich sie so behandele, als wären sie vernünftig – was sie zumeist auch sind, wenn auch in unterschiedlichen Graden und selten vollends. Ihrer Natur gemäß gute Menschen sind also vernünftig und behandeln andere Menschen im Allgemeinen so, als wären diese vernünftig (m.a.W. sie achten deren Würde als Person). Und auf beides verpflichtet sich die Erste Person allein schon dadurch, dass sie ein Mensch ist, der sich als solcher vorstellt. Denn stelle ich mich als Mensch vor, so stelle ich mich als Exemplar einer Lebensform vor, deren Exemplare im Allgemeinen die Zustands- und Bewegungsformen der Vernunft manifestieren. 12. Jetzt habe ich das Wort „Vernunft“ recht häufig gebraucht.Wenn wir uns nun – speziell mit Blick auf die praktische Vernunft des Menschen – fragen, worin diese besteht, dann, so scheint mir, werden wir vielleicht sehen, dass wir diesbezügliche Unterschiede in den Antworten Aristoteles’ und Kants nicht überbetonen müssen. Denn zum einen sind sowohl Aristoteles als auch Kant – anders als Hume – überhaupt erst einmal der Ansicht, dass für einen Akteur, der sich praktisch seiner selbst als Akteur bewusst ist und sich als vernünftig vorstellt, das kausal wirksame Movens einer Handlung durchaus darin bestehen kann, dass er es als vernünftig vorstellt, die von ihm beabsichtigte Handlung zu vollziehen. Er vollzieht die beabsichtigte Handlung dann, weil er ihren Vollzug als vernünftig vorstellt. Und er
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bestimmt sich dann gerade dadurch zum Vollzug der beabsichtigten Handlung, dass er ihren Vollzug als vernünftig vorstellt.¹¹ Zum anderen vertreten sowohl Aristoteles als auch Kant – anders als so mancher Neo-Humeaner – die Ansicht, dass voll entfaltete praktische Rationalität niemals lediglich instrumentelle Rationalität sein kann, die bloß in der geschickten Wahl der Mittel zur Realisierung irgendwelcher beliebigen subjektiven Ziele besteht. Vollends entfaltete praktische Rationalität, also praktische Vernunft, besteht sowohl Aristoteles als auch Kant zufolge vielmehr darin, im Allgemeinen objektiv gute und richtige Handlungsziele mit im Allgemeinen objektiv guten und richtigen effektiven Mitteln verwirklichen zu wollen und – sofern nichts von außen dazwischenkommt – zu verwirklichen. (Das ist sowohl die Pointe von Aristoteles’ Unterscheidung zwischen techne und arete als auch von Kants Unterscheidung zwischen hypothetischen Imperativen und dem Kategorischen Imperativ: Instrumentelle Rationalität ist zwar ein Subprinzip praktischer Rationalität, das notwendig ist, damit praktische Rationalität kausal wirksam und somit wirklich und praktisch sein kann. Da bloße instrumentelle Rationalität jedoch von der allgemeinen Qualität der im Handeln zu verwirklichenden Ziele absieht, kann sie auch keine Auskunft darüber geben, ob es im Allgemeinen überhaupt vernünftig ist, die fraglichen Ziele zu verwirklichen. Daher kann bloße instrumentelle Rationalität nicht voll entfaltete praktische Rationalität, i. e. praktische Vernunft, sein. Bloße instrumentelle Rationalität ist vielmehr eine Privation praktischer Rationalität und nicht die Form praktischer Rationalität.) Zweifelsohne besteht jedoch ein Unterschied zwischen Aristoteles und Kant darin, dass bei der Frage nach dem Maßstab dessen, was ein objektiv gutes und richtiges Handlungsziel ist, Aristoteles sich auf die menschliche Lebensform konzentriert, während Kant glaubt, er müsse noch eine Abstraktionsstufe höher steigen und eine rein formale Bestimmung vornehmen, welche auf Vernunftwesen verweist, die keine Lebewesen, sondern eine philosophische Konstruktion sind. Mit Hegel kann man zwar sagen, dass Kant – ob seiner Neigung zum Formalismus – letzten Endes zu einer material leeren und trivialen Bestimmung gelangt,¹² die letztlich nicht sehr viel mehr besagt als: Praktisch vernünftig ist es, autonom das zu beabsichtigen und zu tun, was Vernunftwesen als solche autonom beabsichtigen und tun. Und eben deshalb ist es dann auch für Menschen sittlich bzw. moralisch richtig und praktisch vernünftig, derlei zu beabsichtigen und zu tun, da
Das wird sowohl in Aristoteles’ Ausführungen zur prohairesis (vgl. Aristoteles 2006, 1113a2– 14) und zur praktischen Relevanz der dianoetischen arete (vgl. Aristoteles 2006, 1103a1– 3) deutlich als auch in Kants Charakterisierung der Achtung für das Gesetz als Sittlichkeit, die – subjektiv betrachtet – (nicht-sinnliche) Triebfeder ist (vgl. Kant 1788, v. a. 71– 89). Vgl. Hegel 1803, S. 459 – 471, Hegel 1807, S. 316 – 323, Hegel 1821, S. 252 ff.).
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Menschen ja (nach Kant) zumindest „zur Hälfte“ Vernunftwesen sind. Aber diesen unbestreitbaren Unterschied zwischen Aristoteles und Kant sollte man m. E. nicht überbetonen. Ich glaube – wie ich eingangs erwähnte –, dass Kant leider etwas über das Ziel hinausschießt, wenn er glaubt, er benötige unbedingt die Form des reinen Vernunftwesens und die der reinen praktischen Vernunft, um das sagen zu können, was er mit Blick auf die Sittlichkeit und die praktische Vernunft von Menschen sagen möchte. Das liegt m. E. aber nur daran, dass er sich insofern von Humes empiristisch-sentimentalistischer Moralpsychologie ins dualistische Bockshorn jagen lässt, als er Hume an diesem Punkt abnimmt, dass hier alles Materiale, das Menschen betrifft, immer nur Empirisch-Sentimentales sein könnte: nämlich psychologisch beschriebene subjektive Neigungen und Affekte sowie körperliche Befindlichkeiten (vieler) einzelner Menschen (vgl. Hume 1739, S. 275 – 621.). Sieht man das Materiale ausschließlich so, dann hat Kant natürlich Recht: Ausgehend von den psychologisch beschriebenen kontingenten und heteronomen Neigungen einzelner Menschen kann man freilich keine Metaphysik der Sitten formulieren. Denn eine Metaphysik der Sitten soll ein begriffliches Unterfangen sein, nämlich gewissermaßen eine Logik der Moral, und eben keine (Individual‐) Psychologie der Moral. Und daher betrachtet Kant m. E. völlig zu Recht Beschreibungen im Stile Humes als Quelle empirischer Verunreinigungen und verbannt sie in seine Anthropologie (vgl. Kant 1786, S. 387 f., S. 405, 409.). Aber von Aristoteles und vor allem auch von Hegel können wir lernen, dass wir uns überhaupt nicht vor die Wahl gestellt sehen müssen, uns entweder für Humes materiales Allerlei oder für Kants reine Formen zu entscheiden, da es so etwas wie materiale Formen gibt – nämlich Substanz- und Lebensformen, die sich weder auf ein bloß empirisches Sammelsurium noch auf inhaltsleere Formalismen belaufen. Haben wir erst einmal die Sichtweise akzeptiert, die besagt, dass Begriffe materiale Formen sind, so können wir nicht nur Begriff und Natur des Menschen direkt durch generische Aussagen bzw. natural historical judgments wie „Der Mensch ist praktisch vernünftig“ explizieren. Vielmehr können wir auch die Zustands- und Bewegungsformen, die sich unter dem noch immer abstrahierenden Titel „praktisch vernünftig“ versammeln, material weiter spezifizieren. Wir gehen dann gewissermaßen in die von Kant entgegengesetzte Richtung. Während Kant nämlich die philosophische Abstraktionsleiter nach oben klettert, um zur reinen Form der praktischen Vernunft zu gelangen, steigen wir hinab. Und dann sehen wir vielleicht materiale Formen der praktischen Vernunft des Menschen, die z. B. die Zustands- und Bewegungsformen der Tapferkeit, der Mäßigkeit, der Freigebigkeit, der Großzügigkeit, des Sanftmuts, der Wahrhaftigkeit, der Freundlichkeit, der Gerechtigkeit sind. (Obgleich diese menschlichen Tugenden fraglos material reichhaltiger sind als eine reine Form, sind sie als materiale Formen dennoch
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Formen, d. h. etwas Allgemeines. Die jeweiligen gelungenen Manifestationen dieser Tugenden in je bestimmten Situationen bedürfen daher auch stets der informierten und kontextsensiblen Urteilskraft derjenigen Menschen, die sie im jeweiligen Hier und Jetzt manifestieren.) Liest man Kant mit Aristoteles, Hegel und Wohlwollen, so kann man m. E. fast alles, was er formal zur praktischen Vernunft und Sittlichkeit bzw. Moral sagt, anstandslos unterschreiben. Sofern man nämlich Spontaneität nicht mit Solipsismus und Autonomie nicht mit Autarkie verwechselt, kann man Kants diesbezügliche Ausführungen schlichtweg als formale Explikationen der menschlichen Lebensform begreifen und in der weiteren Erläuterung mit Aristoteles entsprechend material anreichern (vgl. hierzu: Hoffmann 2014, Kap. 7). Der normative Maßstab für die Qualität des Denkens, Beabsichtigens und Handelns einzelner Menschen ist dann die materiale Form, die als Lebensform des Menschen sein Begriff und seine Natur ist. Und die Antwort auf die Frage, ob ein Mensch ein guter Mensch ist und ob er ein gutes menschliches Leben führt, richtet sich dann danach, ob er als Mensch vernünftig, i. e. tugendhaft, ist und ob das, was ihm widerfährt, ihn nicht daran hindert, als Mensch vernünftig, i. e. tugendhaft, zu sein. Ist dies der Fall, so gedeiht der Mensch als Mensch.
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Thomas Rentsch
Die Struktur der Lebensform: Sinnkonstitutive Formen des Lebens Der Titel meines Beitrags hört sich tautologisch an. Dies ist bewusst so. Die Rede von der Form der Form, forma formarum, von der Kategorie der Kategorie, diese Rede hat eine sehr lange Tradition, die von der mittelalterlichen Metaphysik bis zum Neukantianismus reicht. Es geht dieser Rede ontologisch bzw. erkenntnistheoretisch darum, zu klären, welche Form, welche Struktur, welche Konstitution unser gesamtes Welt- und Selbstverhältnis aufweist, unser Sein wie unser Erkennen. Um diese Form auch heute aufzuzeigen, sind Ansätze der Transzendentalphilosophie, der Dialektik, der Phänomenologie, der Existentialontologie und der Sprachphilosophie systematisch aufzugreifen. Es geht dabei um sinnkonstitutive Formen des Lebens, um Formen, ohne die weder ein Sein noch ein Erkennen menschenmöglich ist. Ich habe viele Untersuchungen mit diesem Ziel durchgeführt und will im folgenden ganz kurz die wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchungen bündeln, die für die Thematik weiterführen können. Die Ergebnisse betreffen folgende Aspekte der menschlichen Lebensform: Es ist erstens die Ganzheit des menschlichen Lebens. Diese ist zweitens verbunden mit der Endlichkeit und drittens mit der Gemeinschaftlichkeit, in meiner Terminologie: mit der Interexistentialität dieses Lebens. Viertens werde ich den Bezug des Seins auf das Sollen, der Fakten auf Werte im Blick auf das menschliche Leben erläutern. Ich werde fünftens die systematischen Konsequenzen dieser Analyse der Form der Formen, der Struktur der Lebensform, für die Philosophie, verstanden als kritische Hermeneutik, aufzeigen. 1. Zum ersten Konstituens, der Ganzheit. Die kritische Reflexion auf unser Leben muss auf unsere Praxis und unsere lebensweltliche Erfahrung bezogen sein. Das bedeutet, dass der Bezug von Anthropologie, Ethik, Politik und z. B. auch Ökonomie und Ökologie viel enger gedacht werden muss als bisher vielfach üblich. Demgegenüber tendiert ein von der Lebenswirklichkeit abgespaltener Normativismus dazu, ideologisch zu werden. Es muss die praktische Kontextualität der ethischen Fragen neu begriffen werden. Die alten Fragen nach der menschlichen Selbsterkenntnis und nach dem Sinn des Lebens stellen sich angesichts der Entwicklungen der Gentechnologie, angesichts der technischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung und angesichts der Entwicklung des menschlichen Alterungsprozesses neu. In diesen Kontexten gilt es, die ethischen und praktischen Grundbegriffe und Grundsätze neu zu reflektieren und neu zu begreifen. Die Kontexte weisen einerseits zurück auf das unverzichtbare Erfordernis, ein trag-
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fähiges,verbindliches, normatives Verständnis humanen Lebens zu explizieren. Sie weisen darauf hin, dass anspruchsvolle Formen lebenstragender Selbsterkenntnis, die einmal im Zentrum der Philosophie, Religion und humanistischer Kultur standen, durch keine neuen naturwissenschaftlichen Entwicklungen und durch keine neue technisch-apparative Erfindung ersetzt oder abgelöst werden können. Wir müssen daher die normativen Implikationen unserer eigenen Vernunfttradition erneut begreifen und für unsere Gegenwart angemessen verdeutlichen. Die Kontexte weisen andererseits auf die grundsätzliche Tatsache der Vernetzung und Verflochtenheit der ethischen mit politischen und ökonomischen Fragen auf der lokalen wie auf der internationalen Ebene. Wählen wir zur Veranschaulichung zunächst einen konkreten Beispielbereich. Angesichts solcher Grundfragen wie der nach dem humanen Umgang der Menschen mit Alter, Pflege, Sterben und Tod wird mittlerweile deutlich, dass nur ein gesamtwissenschaftlicher Diskurs unter Einbezug aller damit befassten Disziplinen Aufklärung und Orientierung liefern kann. Die Wissenschaften müssen mit ihren Projekten und Zielen noch weit mehr als heute üblich in gesamtgesellschaftlich klar gewordene Ziel- und Zwecksetzungen eingebunden und auf die demokratischen Willensbildungsprozesse einer sich selbst aufklärenden Zivilgesellschaft bezogen werden. Schulen und Hochschulen müssen dazu mehr denn je in die Lage versetzt werden, mündige Bürger einer aktiv partizipierenden Zivilgesellschaft zu erziehen und zu bilden. So besteht ein Aufklärungsbedarf elementarer Art im Blick auf die menschliche Lebenswirklichkeit des Alterns. Während es allgemein akzeptiert und vertraut ist, dass Menschen bis zum Erwachsensein der Erziehung und Bildung bedürfen, wird erst gegenwärtig deutlicher bewusst, dass die Aufgabe der Vorbereitung und der sinnvollen Gestaltung einer langen späteren Lebenszeit eine ebenso große, für die Individuen wie für die Gesamtgesellschaft zentrale Erziehungs- und Bildungsaufgabe ist. Insbesondere, weil die ungenutzten Potentiale dieser späteren Lebenszeit mittlerweile bewusst werden, muss eine erneuerte philosophische Vernunftperspektive diese Dimension von Grund auf einbeziehen. An diesem Beispiel wird bereits deutlich, dass die Rückgewinnung einer Vernunftperspektive durch anthropologisch-praktische Grundlagenreflexion begleitet werden muss. In vielen Diskussionen der Gegenwart rücken Fragen einer philosophischen Anthropologie wieder ins Zentrum, nachdem solche Fragen während langer Zeit an den Rand gedrängt wurden. In der Wahrnehmung einer durchschnittlich-oberflächlichen Variante von Aufklärung und Moderne wurde die Frage nach dem Menschen als überholt abgetan. Philosophischer Anthropologie wurde pauschal unterstellt, sie schreibe auf ontologisch-unkritische Weise „anthropologische Konstanten“ fest. Zur Unterstellung einer naiven Substanzontologie des menschlichen Wesens trat der stereotype Vorwurf, aus einem „Sein“ ein „Sollen“ ebenso unkritisch abzuleiten und so den „naturalistischen Fehl-
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schluss“ zu begehen. Diese schematischen Einwände, die gegen bestimmte Traditionen philosophischer Anthropologie berechtigt waren, wurden auch gegen kritische Ansätze wiederholt. Sie konnten durch diese selbst unkritische Kritik das Defizit philosophisch-anthropologischer, sprachkritischer Grundlagenreflexion nicht auf Dauer verdrängen. Es wurde klar: In kritischer Reflexion auf die bereits alltägliche anthropologische Grundbegrifflichkeit – wie reden wir im Alltag von uns selbst, vom Menschen, vom Menschlichen? – werden schon basale, fundamentale normative Implikationen und Geltungsansprüche erkennbar, die konstitutiv für die Grammatik dieser Rede fungieren. Ein bloß „naturalistisches“, objektivierend-naturwissenschaftliches Reden von uns selbst ist daher eine voraussetzungsreiche methodische Reduktion. Demgegenüber ist die kritischhermeneutische Sinnexplikation der normativen Implikationen unserer alltäglichen Rede von uns selbst, vom Menschen, von Achtung und Würde, Freiheit und Sinn des Lebens – auch im unbedingten, absoluten Verständnis – der unserer Lebenserfahrung und der Komplexität unserer Praxis entsprechende und angemessene Weg. 2. und 3. Ich komme nun zu den Formen der Endlichkeit und der Gemeinschaftlichkeit des Lebens. Auch meine eigene existentielle Endlichkeit prägt und konstituiert mein ganzes Leben, und dies wiederum nicht zentriert und fokussiert auf mein Sterben und meinen Tod, sondern im Blick auf alle Zeiten meines Lebens. Wer war ich als Kind, als zehnjähriger Schüler, als Gymnasiast, als Sanitäter, in der Tanzstunde? Wer war ich als Privatdozent in Berlin, in Halle kurz nach der Wende? Wer war ich – denken wir an Freud – als Baby? Ich weiß es nicht, bzw. die Erinnerung ist eine eigene Arbeit an der Sinnkonstitution im Blick auf die eigene existentielle Transzendenz und Unverfügbarkeit. Die Sinnkonstitution ist ekstatisch. Aber diese ekstatische Konstitution ist nicht primär monologisch und formal-zeitlich-endlich verstehbar, sondern sie ist primär interpersonal, kommunikativ, material und konkret an Sinnentwürfe im gemeinsamen Leben gebunden und nur so verstehbar. Die Rekonstruktion der ekstatischen trinitarischen Struktur des Geistes, des Logos, der Vernunft im Deutschen Idealismus weist in genau diese Richtung. Sinnhafte Lebensformen können und müssen sich in einzigartiger Weise zeitlich-endlich und mithin vergänglich konkretisieren. Aber alles zeitliche Sich-zu-sich-Verhalten (auch das zu meiner eigenen vergangenen und zukünftigen Existenz) ist durch das gemeinsame Leben zugänglich und geformt, durch kommunikativ-interexistentielle Verhältnisse, Ekstasen der Interpersonalität, wie zuhören, helfen, sich beraten, an jemanden denken, für jemanden arbeiten, jemanden lieben, auf jemanden warten, jemandem etwas beibringen. Die endliche lebensweltliche Sinnkonstitution ist strukturiert durch interpersonale Relationen zwischen den Menschen, durch kommunikative Interexistentiale. Und das ‚jemeinige‘ Sich-zu-sich-Verhalten hat auch diese Struktur der kommunikativen Selbst-
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reflexivität. Auch und gerade die singuläre Totalität der einzelnen, einzigartigen, personalen, individuellen Existenz wird kommunikativ-interexistentiell konstituiert und kann nur so zu sich selbst kommen und zu sich selbst werden. Endlichkeit, Sterblichkeit und Tod gehören irreduzibel zur Sinngestalt des menschlichen Lebens. Grenzen sind für uns sinnkonstitutiv: Grenzen der Welt, Grenzen des Lebens, Grenzen der Vernunft, Grenzen der Sprache. Wesentliche Formen der menschlichen Selbstverfehlung entspringen dem Verkennen der Grenzen des Lebens und der Praxis. Sie entspringen dem Verkennen des Unmöglichen. Demgegenüber können wir durch philosophische Sinngrenzanalyse Unmöglichkeitsbedingungen lebensweltlicher Sinnkonstitution freilegen. Als Sinngrenzanalysen sind diese auch Sinngrundanalysen, wie zu zeigen ist. Sie weisen, anders gesagt, Aspekte lebensweltlicher Transzendenz auf. Als erste sinnkonstitutive Grenze der menschlichen Welt lässt sich die Unmöglichkeit der restlosen Objektivierbarkeit und Erklärbarkeit unserer selbst und unseres Handelns und Sprechens aufweisen. Dass wir handeln, sprechen und denken können, das können wir nicht noch einmal erklären oder begründen, weder naturalistisch noch idealistisch. Denn alles Erklären und Begründen setzt bereits voraus, dass wir sinnvoll handeln können. Es lässt sich kein vorhandener, zu vergegenständlichender ‚Grund‘ unseres Handelns feststellen. Hinter unser Handeln können wir weder pragmatisch noch reflexiv zurückgehen in einen ontologisch separaten Bereich. Diese Unmöglichkeit weist auf das, was Kant als Spontaneität bezeichnet. Die Uneinholbarkeit unserer selbst ist in Wahrheit befreiend: Wir stehen unter dem Schutz der Negativität, den aus prinzipiellen Gründen kein Modell der Neurobiologie und kein Computermodell des Geistes durchbrechen kann. Die zweite Unmöglichkeitsbedingung ist die Unmöglichkeit, die einzigartige Ganzheit unseres Lebens zu erfassen und zu vergegenständlichen. Individuum est ineffabile. Unser Leben ist eine einzigartige Ganzheit. Hinter die Möglichkeit, in einzigartigen Lebenssituationen zu sprechen und zu handeln, können wir nicht zurückgehen. Dieser Aspekt der Endlichkeit erschließt eine innere, interne Unendlichkeit (wie auch die des freien Handelns) im Sinne Hegels. Die einzigartige Ganzheit jedes Augenblicks der Gegenwart ist unfassbar, unvorstellbar. Jeder unsagbare Augenblick gehört zum Sinn unseres Menschseins und erschließt ihn. Die Endlichkeit und die Grenze unseres Erkennens von Personalität und Individualität, die Unmöglichkeit, sie letztlich positiv zu objektivieren, erschließt die Dimensionen der Freiheit und der Würde. Die dritte Unmöglichkeit ist die sinnkonstitutive Entzogenheit der Mitmenschen, die interexistentielle Unverfügbarkeit. Der Schutz der Negativität ermöglicht hier wechselseitige normale und authentische Verhältnisse. Wenn wir uns etwas versprechen, so wird dies dadurch ermöglicht, dass keine instrumentelle
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Beherrschbarkeit des Verhältnisses besteht. Ohne sich auf Andere verlassen zu können, ohne ein Sich-Einlassen auf garantielose Praxis kommt auf Dauer keine gemeinsame Praxis zustande. Die Tradition unterschied die securitas im Sinn technisch-instrumenteller Gesichertheit von der für interpersonale Verhältnisse zentralen certitudo, der gewissmachenden Gewissheit. Sie ist konstitutiv für Glaube, Liebe und Hoffnung, das heißt für Formen des praktischen Transzendierens. Es zeigt sich: Was wir nicht können, ermöglicht gerade lebensweltlichen Sinn. Hannah Arendt hat in ihrem Hauptwerk Vita activa darauf hingewiesen, dass unsere ganze moralische Welt auf Verzeihen und Vergeben beruhe und dass diese Einsicht einzig in den Lehren Jesu eine zentrale Stellung einnehme, in der Philosophie hingegen kaum bewusst sei. Analysieren wir die zeitliche Endlichkeit des Lebens genauer, so können wir die Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit, die Unumkehrbarkeit der sterblichen Lebensbewegung, die Unvermeidlichkeit der zukünftigen Situationen, die Endgültigkeit und Irreversibilität alles Geschehens, die Unvordenklichkeit der Anfänge sinnhaften und bewussten Lebens und die Unvorhersehbarkeit seines Endens aufweisen. Alle diese Aspekte prägen ständig unsere Lebenspraxis. Das heißt: In der lebensweltlichen Praxis sind Endlichkeit und Sinn unlöslich verbunden. Ein Blick auf unseren unvordenklichen Selbstwerdungsprozess zeigt bereits: Die sinnkonstitutive Endlichkeit und Begrenztheit unseres Lebens wird keineswegs ausgezeichnet durch den Tod konstituiert, sondern noch viel grundlegender durch die Geburt, unser Kommen auf die Welt, das in all seinen Aspekten – Zeugung, Elternschaft, das Geborenwerden, die Existenz als hilfloses Kleinkind – interexistentiell konstituiert ist. Arendt hat dieses Faktum der Natalität überzeugend herausgestellt. Ich wähle wiederum Beispiele. Wie ist die Struktur der Endlichkeit, der Begrenztheit material im Blick auf chronisches Kranksein und lebenslange Behinderungen praktisch, ethisch zu verstehen? Erstens erweist sich hier die Nichtobjektivierbarkeit der menschlichen Personalität als praktisch wirksam: Der Mensch darf nicht auf sein chronisches Kranksein oder seine Behinderung reduziert werden. Er ist stets mehr, viel mehr als seine Krankheit, als seine Behinderung und hat Anspruch darauf, als ganze Person wahrgenommen und behandelt zu werden. Zweitens muss die oft große Lebensleistung chronisch Kranker und Behinderter gesehen und anerkannt werden. Die Bewältigung dauernder Belastungen stellt oft eine ungleich höhere Leistung dar als weit höher bewertete Leistungen Unbetroffener. (Deswegen ist es ethisch betrachtet besonders gedankenlos, verletzend und dokumentiert eine sittliche und moralische Schwäche und Beschränktheit, wenn die besondere Lebensleistung chronisch Kranker und Behinderter nicht gesehen wird. Sie leisten nicht weniger, sondern oft ungleich mehr – bereits in Bereichen, die von Gesunden gar nicht erst als Pro-
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bleme wahrgenommen werden. Sie haben Anrecht auf die Stärkung ihres Selbstbewusstseins und Selbstvertrauens.) Drittens können Krankheit und Behinderung Chancen der Lebensintensivierung, der Lebensklärung und Lebensvertiefung eröffnen. So bringt bereits eine Bewegungsbeeinträchtigung beim Gehen eine Verlangsamung mit sich, die ein gewandeltes Verhältnis zur Welt, zur verfügbaren Zeit und ihrer Kostbarkeit und zu den Mitmenschen bedingt und ermöglicht. Ein Gespür für den tatsächlichen Wert der menschlichen Lebensmöglichkeiten kann auf diese Weise gerade durch Einbuße und Verlust wachgerufen werden. Die Beeinträchtigungen und Schmerzen, unter denen Betroffene leiden, können so im günstigsten Fall zur Vertiefung und Intensivierung des Lebensverhältnisses beitragen, wenn der Einzelne die Kraft dazu aufbringt. Die chronische Krankheit zeugt bereits im Alltagsleben von der Verletzlichkeit und Endlichkeit der menschlichen Existenz, die für alle Menschen gilt. In die individuelle Lebensperspektive der chronisch Kranken muss, so weit möglich, ein gewandeltes Verständnis humanen Lebens selbstbewusst Eingang finden. Heute wird allenthalben das Lebensideal einer oberflächlichen Spaß- und Freizeitgesellschaft kultiviert: Jungsein, Fitness, Wellness, intensiver Konsum, ausgelebte Sinnlichkeit und unbeschwerter Genuss stehen als Werte obenan. Sittlich und moralisch anspruchsvoller und wirklich tragfähiger Lebenssinn besteht aber nicht in der positiven Befriedigung von Lust, sondern weit mehr in der gemeinsamen wie individuellen Bewältigung der vielen negativen Aspekte, die unser Dasein kennzeichnen und prägen, ob wir wollen oder nicht. Vor diesem Hintergrund lässt sich chronisches Kranksein als Chance zur Eröffnung solcher spezifischer Sinndimensionen begreifen, die von Gesunden oft übersehen werden: die Angewiesenheit des Menschen auf wirkliche Kommunikation, gegenseitige Hilfe und Mitleid, Solidarität und das bewusste Begreifen der eigenen Begrenztheit. Diese Dimensionen gehören zu einem Stadium der Reife und der geklärten Selbsterkenntnis, und damit zu einem wirklich sinnvollen Leben. Das chronische Kranksein kann dazu beitragen, es zu erreichen und zu führen. Dazu gehört es, das Kranksein bewusst anzunehmen. Darin wie auch in der sachlichen Befassung mit Krankheit in Kursen, Patientenschulung und im gemeinsamen Gespräch mit den Mitpatienten liegen große Chancen der wechselseitigen positiven Beeinflussung und der gelebten Mitmenschlichkeit. Die ethische Phantasie der Gesunden ist gefordert, sich in die Perspektive der Kranken und Behinderten hineinzuversetzen. Gesunde und Kranke, Alte und Junge leben in derselben Wirklichkeit. Die Gesunden müssen sich fragen:Wie möchte ich von den Mitmenschen behandelt werden, wenn ich selbst morgen plötzlich krank oder behindert bin? Wie kann ich dann meine Persönlichkeit, meine Menschenwürde und Selbstachtung im Zusammenleben bewahren und entfalten? Die Entwicklung ethischer Phantasie und Sensibilität ist ein wichtiges Ziel der ethischen Erziehung
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und sittlichen Bildung in Familie, Schule und Universität. Kranke wie Gesunde müssen begreifen: Gesundheit ist letztlich nicht die Abwesenheit von Schmerzen und Störungen, von Endlichkeit und Sterblichkeit, sondern die Kraft, mit ihnen zu leben. 4. Die vierte sinnkonstitutive Lebensform betrifft den Bezug des Seins auf das Sollen. Wir befinden uns nie zunächst in einem reinen Raum der Tatsachen, der puren Faktizität, sondern die apriorische Erfüllungsrichtung und Sinnorientiertheit unserer Lebenspraxis lässt uns jeweils bereits ganze Sinngestalten wahrnehmen und ganze Sinnentwürfe ausführen. So, wie die Frage nach der Realität der Außenwelt angesichts unseres Lebensvollzuges in der primären Welt ein Scheinproblem ist und entfällt; so wie auch die Frage nach der Existenz der anderen Subjekte und die Vermutung, es handle sich ggf. um uns ähnliche Wesen angesichts der interexistentiellen Konstitution sich als pseudologisch erweisen, so muss auch die dichotomische Konstruktion zweier Welten, der Faktenwelt und der reinen Idealwelt, kritisch destruiert werden. Betrachten wir vor diesem Hintergrund einige Sätze: 1. Hat er sich dir gegenüber wie ein Mensch verhalten? 2. So kann ich oft nicht den Menschen im Menschen erkennen. (L. Wittgenstein) 3. Diogenes mit der Laterne: Ich suche einen Menschen. 4. Nicht gerade sehr menschlich. 5. Unmenschlich. 6. Menschenunwürdig. 7. Wie ist eine menschliche Welt überhaupt möglich? 8. Ein wahrer Mensch. Diese Sätze mit dem Beispiel der Rede von Mensch und menschlich können zur Exemplifizierung der grammatischen (semantisch-pragmatischen) Kategorie der dianoietischen Prädikate bzw. Termini dienen (vgl. Rentsch 1999). Ich nenne Prädikate, mit denen wir 1. bestimmte Unterscheidungen im Bereich der Faktizität treffen, mit denen wir 2. aber zugleich Differenzierungen im Bereich des Normativen verbinden, dianoietische Termini: näherhin deswegen, weil wir mit ihnen über bestimmte Arten der Einsicht (gr. dianoia) bzw. der menschlichen Selbsterkenntnis sprechen, die wir über uns, unser individuelles wie gesellschaftliches Sein zu gewinnen vermögen. Dianoietische Urteile sind somit zugleich Feststellungen und normative Urteile. Ersichtlich wird an den dianoietischen Termini grammatisch, dass unsere primäre Welt nicht in Fakten einerseits und Ideale andererseits zerfällt. Vielmehr ist durch die semantische Verzweigtheit der dianoietischen Termini die konstitutive Gleichursprünglichkeit von Faktizität und Normativität in den Gebrauch dieser Termini strukturell eingearbeitet. Es sind dieselben Menschen in derselben (einen) primären Welt, über
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die wir mit demselben Wort „Mensch“ hinsichtlich der Semantik der biologischen Faktizität und zugleich hinsichtlich der praktischen und moralischen Einsichten und Selbstverständnisse sprechen können. An unserem Gebrauch der dianoietischen Termini, mit denen wir über unsere praktischen Einsichten, über unsere Lebenserfahrungen und über unsere individuellen und gesellschaftlichen Selbstverständnisse reden, anders gesagt: über unsere existentielle und soziale Identität, wird erkennbar, dass eine primäre Orientierungswelt nicht die von bestimmten Rekonstruktionstraditionen der praktischen Philosophie unterstellte dichotomisch, ontologisch bzw. grammatisch dualistische Struktur hat. Betrachten wir zur Abstützung der Analyse eine weitere Beispielgruppe. 1. Lebt er noch? 2. Wir müssen lebensverlängernde Maßnahmen einleiten. 3. Er hat nichts vom Leben verstanden. 4. Ich kenne das Leben. 5. So fristete er sein Leben. 6. Er vegetierte nur noch dahin. 7. Unter Leben hatte sie sich etwas anderes vorgestellt. 8. Was erwartest du vom Leben? 9. Das ist doch kein Leben mehr! 10. Das ist das wahre Leben. 11. (Christus:) Ich bin das Leben. 12. Das Leben lebt nicht. (F. Kürnberger) Es zeigt sich: Es gibt Sätze, die wir schon grammatisch weder als bloß empirisch noch als bloß ideal betrachten können. Das Leben – die Grammatik der Rede vom Leben – sie lassen sich nicht auf die biologische Faktizität reduzieren. Ein reduktionistisches Grammatikverständnis gestattet keinerlei Verständnis der Beispielsätze (3) – (12). Leben lässt sich nicht lediglich deskriptiv, nicht aber auch allein ideal verstehen. Meine Kernthese von der faktisch-praktischen Einheit der primären Welt kann an der Semantik der dianoietischen Termini grammatisch präzisiert werden. Die Tatsache praktischer Einsichten (der Gebrauch dianoietischer Termini) gehört elementar zu unserem Leben. Eine weitere Beispielgruppe entstammt den Verwandtschaftsprädikaten. 1. Wie kann eine Mutter so etwas zulassen? 2. Und der Vater stand nur dabei! 3. Seine Schwester hat sich die ganze Zeit um ihn gekümmert. 4. Ist er nicht dein Bruder? 5. Es herrschte Brüderlichkeit in diesem Haus. 6. Seht die Mitmenschen als Schwestern und Brüder an!
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Die nicht-biologische, nicht-naturalistische Rede über uns selbst, unsere praktischen Selbstverständnisse und Einsichten vermittels der dianoietischen Termini hat keinen idealisierenden, idealistischen Status gegenüber der bloß faktenkonstatierenden Rede. Es ist keine ethische Theorie, die uns die intersubjektiv gültige rationale Begründung für die aufgeführten Feststellungen über die Menschen und das Leben allererst lieferte und zu liefern hätte. Vielmehr sind es die praxiskonstitutiven und unhintergehbaren Grundzüge des menschlichen Lebens selbst, die sich in den grammatischen Tatsachen zeigen. Ich fasse 5. meine Kernthesen mit Bezug auf unsere Thematik zusammen: Die Normativität des Lebens ermöglicht und prägt, konstituiert allererst die Normativität der Vernunft. Eine Vernunft ohne Lebensformbezug führt zu einem abstrakten, formalistischen, tautologischen Rationalismus – zu bloßem Verstand ohne Vernunft, bloßer ratio statt intellectus, episteme statt nous. Die Formen des Lebens: Ganzheit, Endlichkeit, Gemeinschaft und Gleichursprünglichkeit von Sein und Sollen weisen auf einen praktischen, normativen Holismus, der irreduzibel ist und eine kritische Hermeneutik des Lebens erforderlich macht. Nur interdisziplinär und mit Blick auf eine Erziehung zum ganzen Leben, die über das ganze Leben aufklärt, lässt sich ein solches Projekt verstehen. Es geht dabei um eine kritisch-hermeneutische Sinnexplikation der normativen Implikationen unserer alltäglichen Rede von uns selbst, vom Menschen und vom menschlichen Leben – von der humanen Welt (Kambartel 1989). Dieses Projekt lässt sich auch als systematische Fortführung von Wittgensteins Lebensform- und Alltagssprachanalyse kennzeichnen (Rentsch 1999). Die lebensweltliche Sinnkonstitution ist nur endlich und kommunikativ begreifbar, gebunden an unser gemeinsames Lebensverständnis. Das Leben als einzigartige Ganzheit ist weder objektivierbar noch naturalistisch-reduktionistisch oder neurobiologisch zu erfassen. Der Andere, der Mitmensch, ist mir unverfügbar, transzendent in der Immanenz. Ich selbst bin mir transzendent: Individuum est ineffabile (Goethe) – diese Negativität ist und bleibt gerade sinnkonstitutiv. In der lebensweltlichen Praxis sind Endlichkeit und Sinn unlösbar verklammert. Unser Selbstwerdungsprozess vom Geborenwerden, ja schon im Mutterleib, bis zum Sterben ist nur interexistentiell zu begreifen. Die Perspektive der Ganzheit bedeutet den Einschluss von Leiden, Schwäche und Behinderung, der Angewiesenheit auf Hilfe bis zu Krankheit, Sterben und Tod. Sie gehören konstitutiv zum Leben. Zu den Formen der Form gehört schließlich die Untrennbarkeit von Sein und Sollen, die sich mit Wittgenstein sprachkritisch an der Grammatik unserer Alltagssprache (wiederum: der Form der Form) aufweisen lässt. Wir sahen, dass sich an der Basis unserer lebensweltlichen Praxis einsichtsbezogene, dianoietische Prädikate finden, die konstitutiv für unsere Selbst- und Weltverhältnisse sind, für
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unser Lebensverständnis (Kant würde von Reflexionsbegriffen sprechen). Sein und Sollen dichotomisch und dualistisch auseinanderzureissen und dann von naturalistischen Fehlschlüssen zu sprechen, führt daher völlig in die Irre. (Das geht mit Husserl und Wittgenstein schon nicht beim Gebrauch der Rede von „Tisch“ und „Stuhl“, „Baum“ und „Hand“). Das menschliche Leben lässt sich weder allein deskriptiv noch allein normativ, weder bloß faktisch noch allein ideal verstehen. Die irreduzible Einheit beider Perspektiven ist streng vorgängig. Systematisch bedeutet ihre Gleichursprünglichkeit, ihre Äquiprimordialität: Sie sind selbstgegeben, unableitbar von einander, irreduzibel auf einander und nur wechselseitig durch und mit einander verstehbar. Hier beginnt die – dialektische, auf Urteilskraft angewiesene – kritische Hermeneutik.
Literatur Kambartel, Friedrich (1989): Philosophie der humanen Welt. Abhandlungen. Frankfurt a.M. Rentsch, Thomas (1999): Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Frankfurt a.M.
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Justice, Function, and Human Form Men need virtues as bees need stings. (Peter Geach)¹ [M]orality may be necessarily and instrumentally related to human needs without being explicable without remainder by reference to them. (Raymond Gaita)²
1 Formal and Substantive Aristotelian Naturalism Does the virtue of justice make its bearer good as a human being? Does acting justly ensure that one acts well as a human?³ In this essay, I wish to consider what is involved in answering these questions within the framework of Aristotelian naturalism.⁴ To do this, it is important to distinguish between the formal and substantive levels of Aristotelian naturalism. At the formal level, the central claim of Aristotelian naturalism is that moral goodness – whatever that turns out to look like – is a type of species-specific natural goodness. The relevant notion of “natural goodness” begins from the idea that individual living things are understood as living by viewing them as bearers of a particular life form. The conception of a given life form spells out the good of organisms of that kind, and it serves as a criterion for goodness in the parts and activities of its bearers. Formal naturalism is the proposal that practical reason is to be treated as a natural capacity of our species, just as memory, sight, and hearing are natural capacities. We thus evaluate action and character in relation to human form, and these evaluations share a conceptual structure with evaluations of goodness in other living things. At the substantive level, naturalism is an account of what, in fact, is naturally sound in “the human.” Substantive naturalism includes claims about which traits are human virtues, which ends worth pursuing, which practices good for a community, what is a reason for what, etc. With respect to their substantive accounts, most contemporary Aristotelian naturalists endorse a fairly traditional set of virtues, such as courage, temperance, and charity. But one might accept formal naturalism while rejecting such substantive views. For ex Geach (1977, 17). Gaita (1991, 88). In referring to “justice”, I have in mind human action as it relates to rights and obligations, what we owe to one another and what we can demand from one another. What I mean by Aristotelian naturalism can be found, with some variations, in Hursthouse (1999), MacIntyre (1999), Foot (2001), and Thompson (2008). See also Hacker-Wright (2009a, 2009b, 2012, 2013), Haldane (2009), Müller (1998, 2004), and Lott (2012a, 2012b, 2013).
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ample, Philippa Foot interprets Nietzsche as someone who accepts the formal framework of natural goodness, but endorses a dramatically different substantive conception of human good. The question about justice that is the focus of this paper is about the substantive level of naturalism. Granting the formal framework, can we be confident that justice is naturally good in human beings, and if so why? In the next section, I consider a kind of answer to this question that is put forward by Philippa Foot and Elizabeth Anscombe. We may call this a functionalist answer, since it appeals to the role that justice plays in human life, and to the goods that depend upon acting justly. In the third section, I argue that functionalist accounts, while an important part of the story about justice, fail to capture something crucial: the distinctive motivations of the just person. Moreover, this means that functionalist accounts are of limited value by the naturalist’s own lights. For until we get the motivations of the just person into view, we have not understood justice as a kind of natural goodness, as part of human form. Therefore, I argue, naturalist accounts of justice should include functionalist considerations of the sort stressed by Foot and Anscombe, but they must also go beyond them. Crucially, this involves distinguishing more clearly between two types of good that might “hang on” certain dispositions and practices: those goods recognizable to the virtuous and vicious alike, and those goods the proper recognition of which is a distinctive mark of the virtuous person. Throughout this essay, I agree with Rosalind Hursthouse’s claim that Aristotelian naturalism should be understood as a “hermeneutical” project, rather than a foundationalist one, and that in filling out a conception of human form we are “already thinking about human beings in an ethically structured way” (Hursthouse 2012, 174). Indeed, this paper is an attempt to understand better what such a hermeneutical project must involve and how “ethically structured” should be understood. And while the focus of this essay is justice, much of what I say here is relevant to other virtues as well.
2 Foot and Anscombe on Justice After explaining the basic framework of natural normativity as applied to plants and animals, Philippa Foot turns, in chapter three of Natural Goodness, to the question of whether this framework can be applied to human beings. Her answer is that it can. The central point is that human characteristics can be understood and evaluated in terms of the part they play in human life. As with non-human life forms, we are able to spell out, at least broadly, what is included in human form – i. e., our characteristic life-cycle, which constitutes the good of human be-
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ings. Such an account of human good is a story about what benefits human beings, and how human beings characteristically achieve their good. Part of this story is the role played by virtues and (linguistic) practices. As Foot says: But if we ask whether Geach was right to say that human beings need virtues as bees need stings…the answer is surely that he was. Men and women need to be industrious and tenacious of purpose not only so as to be able to house, clothe, and feed themselves, but also to pursue human ends having to do with love and friendship. They need the ability to form family ties, friendships, and special relations with neighbors. They also need codes of conduct. And how could they have all these things without virtues such as loyalty, fairness, kindness, and in certain circumstances obedience? (Foot 2001, 44– 45)
Foot clearly believes that justice, understood in a roughly traditional sense, is part of human form: “We act within a language that allows us to say ‘I owe it to him’ or ‘I suppose I should play my part’” (Foot 2001, 44). But what if we find ourselves wondering whether justice (or another virtue) really is a human excellence? What sort of argument can we give to show that some traits or activities, rather than others, are essential for living and acting well qua human beings? Drawing on the work of Elizabeth Anscombe, Foot endorses a form of argument with two components: 1) “an identification of elements of human good”, and 2) “the story of what creatures of the human species can and cannot do” – that is, facts about our species-specific possibilities and limitations (Foot 2001, 46). By combining these two elements, we can see that certain virtues and practices are necessary if humans are to realize their good, and hence that these virtues and practices are part of our living and acting well. Consider promising. First, we can recognize that “much human good hangs on the possibility of being able to bind another’s will by something in the nature of a promise or other contract” (Foot 2001, 45). An example of such good is “the exchange of goods and services above the most primitive level of direct simultaneous exchange” (Foot 2001, 45). Second, we can see that humans have very limited ways of binding one another’s wills. This makes promising necessary for creatures of our kind, if we are to achieve those goods which require binding another’s will as in the manner of a promise. And thus we have a “derivation” that promise-keeping is a part of human good, and hence that a human acts badly in breaking a promise, absent special circumstances. Because of their focus on the role of virtues and practices, I will refer to such two-part derivations as functionalist arguments. With a functionalist argument, we aim to understand and vindicate some substantive virtue or practice by highlighting its teleological relation(s) with some other elements of human good. We make clear what “hangs on” the virtue or practice, what it is good for, and we thereby reveal the virtue or practice as belonging to human form.
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Each of the two components in a functionalist argument involves the identification of a necessity. The first component identifies a necessity in the sense of what is needed if humans are to achieve some part of their good (e. g. they need to bind one another’s wills without physical force). Functionalist arguments, then, take place within some understanding of human good. We must have some sense of human goods for the first component of the argument to get off the ground.⁵ The second component identifies a necessity in relation to the first component – what, given human limits, we must be or do in order to have that on which a good hangs (e. g. a linguistic practice like promising). Moreover, when it comes to matters of justice, functionalist arguments must take into account another sort of necessity, of the kind found when one says, “I can’t do that, because I promised I wouldn’t” or “We must return the book; it’s his.” This is a necessity internal to practices of justice. This necessity is what Anscombe seeks to explain with her notion of “stopping modals.”⁶ Anscombe’s most developed discussion of stopping modals is in her essay “On the Authority of the State.”⁷ In the second part of that essay, Anscombe offers an explanation of the concept of “rights.” The concept of rights, she argues, arises from a specific sort of linguistic practice that employs modal terms like “cannot” and “must not” to prevent action, even when the action is physically possible. This use of modal terms Anscombe labels “stopping modals.” Examples include statements like, “You cannot move your king that direction. You’ll be in check” (spoken in chess). Or “We cannot go into his bedroom. He told us not to” (spoken by one houseguest to another houseguest).⁸ Anscombe notes that one use of stopping modals involves a special mention of a person – e. g. “‘You can’t sit there, its John’s place’, ‘You can’t eat that, it’s for N’, ‘You can’t do that, it’s for N to do’” (Anscombe 1981, 139). It is here, Anscombe says, that we find the origin of the concept of a right: “We have here a very special use of the name of a person, or a very special way of relating something to a person, which explains (not is explained by) the general term ‘right.’… This is clear from the order of presentation in Natural Goodness. See Foot (2001, 42– 46). At the end of her discussion of promising in Natural Goodness, Foot acknowledges that more remains to be said, and she suggests that what is required is more reflection on stopping modals. See Foot (2001, 50 – 51). See also Anscombe’s essays, “Rules, Rights and Promises” and “On Promising and its Justice, and Whether it Need be Respected in Foro Interno.” All three essays are collected in Anscombe (1981). As Anscombe notes, the case of rules in a game is different from other cases, in that making a prohibited move will not count as a move in the game. Thus even though in a clear sense the piece has been moved, in another sense the king has not been moved as an action within the chess game (1981, 139).
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The general term ‘right’ is constructed because, as it were, our language feels the need for it. As, for example, a general term ‘relation’ was invented” (Anscombe 1981, 142). With a stopping-modal, we cannot understand the sense in which something is “necessary” or “impossible” apart from the practices in which people treat certain considerations as reasons for doing and refraining from certain things.⁹ In that sense, the necessity of rights and obligations is created by our practices. At the level of the generation of the concept, all rights are based upon custom: “The existence of such a thing as rights consists in the regular existence of certain proceedings, certain reactions, an integral part of which is the use of certain linguistic forms” (Anscombe 1981, 142). This raises the question of how we might criticize or justify a given practice and its corresponding conception of rights. On what grounds could we provide such a critique or justification? Can we argue rationally about “the rights of man” – i. e. genuine human rights? Anscombe calls this “the grave question.” Her answer is an argument of the following form: (1) X-ing is a necessary task in human life (= Human good depends on it). The performance of the task is one that (some) humans must perform. (2) ABC is necessary for X-ing. (3) Persons with the task of X-ing “can” have ABC; one “cannot” impede them – i. e. they have a right to what belongs to the performance of the task. If we accept this form of argument, then we have a way of arguing for rights without appeal to customary law or practice, a way to argue that “what is counted as a right is no right, and something not counted as a right is after all a right” (Anscombe 1981, 141). To illustrate this form of argument, Anscombe gives the example: “[T]hose who have and carry out the task of bringing up children quite gen-
As Anscombe says: “Here is (at least in embryo) the idea of ‘a right’. The reasons why it is at once so clear and so inexplicable are these: it is clear because we are learned to respond to these stopping cannots, to comply with them, to issue them ourselves, to infringe them. It is inexplicable because, look as we may, we cannot find an interpretation of this ‘cannot’, just as we couldn’t find any interpretation of the peculiar ‘necessity’ (called “obligation”) generated by promising. The truth is: there is no interpretation to give, in any of these cases” (1981, 140). And also: “The form of a statement ‘it’s N’s’ has a peculiar role. It appears to be the form of a reason. Certainly a statement of this form is ‘a reason’ in the sense of a logos, a thought of some kind. But if we ask what the thought is, and for what it is a reason, in: ‘you can’t…, it’s N’s’, we find that we cannot explain these independently. We can’t explain the ‘you can’t…’ on its own; in any independent sense it is simply not true that he can’t. But neither does ‘it’s N’s’ have its peculiar sense independent of its relation to this ‘you can’t’” (1981, 142).
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erally perform a necessary task. It cannot be done without children’s obedience. So those people have a right to such obedience” (Anscombe 1981, 145). As Anscombe points out, what is special about this kind of argument is that it moves from one type of modality to another. The necessity in (3) is the necessity of stopping modals that support and explain rights and wrongs. However, the necessity identified in (1) is Aristotelian natural necessity – that on which human good hangs. And this necessity “takes us out of the circle [of rights concepts] it is so easy to get into” (Anscombe 1981, 145). Human good provides a way for rationally assessing particular practices of stopping modals. Call such an argument a crossing modals argument. ¹⁰ For my purposes, the important point is that this form of argument is a special instance of a functionalist argument. As with functionalist arguments in general, a crossing modals argument aims to support a substantive interpretation of human good, to explain which virtues and practices are sound in “the human.” Moreover, the basic strategy is the same: we vindicate a particular virtue or practice by revealing its teleological relation to other aspects of human good, by placing it in the life of human beings. And a crossing modals argument, like other functionalist arguments, appeals to: 1) what is necessary because human good hangs on it, and 2) what is necessary because it is required to have what is identified in (1). The distinctive feature of a crossing modals argument is that what is required is a practice that is itself constituted by the participants’ recognition of another sort of necessity – the “must” and “cannot” of stopping modals.
3 The Limits of Functionalist Arguments 3.1 Three misinterpretations of functionalist arguments My main goal in this section is to show the limitation of functionalist arguments. Before doing so, however, it will be helpful to set aside three misinterpretations of these arguments. The first misinterpretation supposes that functionalist arguments aim to build up a substantive account of “the human” from some minimal notion of “survival and reproduction”, and hence that functionalist arguments must count anything that promotes survival and reproduction as part of human form. Thus (the thought goes), if the traits of sociopathic loners are, in certain
For a discussion of Anscombe’s account of stopping modals, and her crossing modals argument, see Teichmann (2008, 94– 102).
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circumstances, conducive to their survival, then functionalist arguments must deem sociopathic traits to be naturally sound, at least in some individuals. And thus Aristotelian naturalists must regard as naturally good what we judge to be clearly immoral.¹¹ The mistake in this interpretation is the assumption that any attempt to describe a life form, including human form, builds up from some minimal notion of survival and reproduction common to all organisms. Rather, in coming to understand a life form, we are always concerned with how beings of this sort live. And how living things survive and reproduce varies from life form to life form. Thus what belongs to a life form will be a characteristic way of surviving and reproducing, not just anything that allows some members of the form to survive and reproduce in some way. For example, suppose we discover some toothless wolves who eke out an existence by scavenging rather than hunting. This would not justify the conclusion that being toothless was also naturally sound in wolves, since some wolves are able to survive, by different means, without teeth! Likewise, the mere fact that sociopathic traits might allow some individuals to survive does not show that this way of surviving is naturally good in a human being. While the first misinterpretation involves a point about the understanding of life forms in general, the second misinterpretation relates particularly to human form. The second mistake is to suppose that in making functionalist arguments about human form, we must bracket our normative judgments about good reasons for action. The idea, roughly speaking, is that it is the job of the empirical sciences to investigate life forms, and science is not based in normative judgments about how to act and live. Surely (the thought goes) understanding “the tiger” or “the hedgehog” is the biologist’s task, and that task does not rely upon judgments about what we have most reason to do! And the same must be true of human beings.¹² The problem with this idea is that it overlooks the central place of practical reason in human form.¹³ Given that human beings live according to their capacity for practical reason, it follows that our characteristic ( = non-defective) activities will be practically rational ones – that is, they will be rationally excellent, embodying the proper functioning of our capacity for practical thought. However, we cannot say what qualifies as rationally excellent apart from our own judgments about good reasons, judgments about what is worthwhile and what we
For a criticism of Foot along these lines, see Andreou (2006). For a more in-depth reply to Andreou’s arguments, see Lott (2012a). Cf. Millgram (2009). For a longer treatment of these issues, see Lott (2012a). As noted in section one, the idea that we are creatures with practical reason is part of formal naturalism, apart from particular substantive accounts of human form.
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have most reason to do.¹⁴ Thus we cannot articulate a proper account of “the human” apart from normative judgments about our reasons for acting. Because such normative judgments do not play a comparable role in our understanding of other living things, there is an important difference between how we come to understand tigers, hedgehogs, etc. and how we understand human form. Functionalist arguments should be interpreted as recognizing this point, not as aspiring to develop an account of human form in exactly the same way as we develop our accounts of non-human organisms.¹⁵ A third misinterpretation relates to the (supposed) goal of functionalist arguments. The mistake here is to think that functionalist arguments are intended to show that acting virtuously always serves an individual’s desires or self-interest.¹⁶ This is a natural way to (mis)interpret these arguments if we imagine them offered in reply to a moral skeptic who asks, “Why should I do what virtue requires?” And interpreted this way, functionalist arguments display an obvious weakness. For even if they show that justice, courage, etc. are excellent traits in human beings, an individual might nevertheless satisfy his desires and achieve his self-interest through free-riding or deception or cowardice. In which case, the skeptic might acknowledge that “humans need the virtues”, and even that his own actions require that others have the virtues, while insisting that he does not have reason to do what virtue requires.¹⁷ However, as Foot’s later work shows, we need not interpret the goal of functionalist arguments in this way. Behind this interpretation is the assumption that in order to provide an individual with reasons for action, considerations of virtue must somehow serve the individual’s desires or self-interest, where “self-interest” is defined independently of the virtues. But Foot came to reject this assumption, and many other Aristotelians reject it as well. Foot argued instead that considerations of virtue are basic within practical rationality, on equal footing with considerations of desire and self-interest. As she says, “the rationality of, say, telling the truth, keeping promises, or helping a neighbour is on a par with the rationality of self-preserving action, and of the careful and cognizant pursuit
Cf. Thompson (2004, 73): “Of course we have no way of judging what practical thoughts and what range of upbringings might be characteristic of the human, and sound in a human, except through application of our fundamental practical judgments – judgments about what makes sense and what might count as a reason and so forth.” Cf. John Hacker-Wright (2009, 420): “We inevitably acknowledge norms of practical reasoning in constructing an interpretive account of the human life form, and we must construct some interpretation to achieve any sort of self-understanding.” “Self-interest” is here to be understood independently from virtuous character or action. Cf. McDowell (1998).
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of other innocent ends; each being a part or aspect of practical rationality” (Foot 2001, 11). What unifies the domain of practical reasons is the idea of human good: the reasons a person “has” are those reasons recognized by someone who is reasoning well, and reasoning well is to be explained by human form.¹⁸ The reply to the skeptic, then, rejects his assumption about practical reasons. Accordingly, there is no need to interpret functionalist arguments as (failed) attempts to answer the moral skeptic on his own terms.
3.2 Function, motivation, and the good The third misinterpretation claimed there was a gap between what functionalist arguments show about human good, on the one hand, and an individual’s reasons for action, on the other. Such a gap is illusory, if we accept an account of practical rationality such as one finds in Foot’s later writings. However, I believe that functionalist arguments do leave a gap in our understanding of justice (and the other virtues). This gap concerns: a) what a functionalist argument reveals to be good about a virtue or practice, and b) the motivations of the just person. To see this gap, let us begin with a point that Foot makes in Natural Goodness: the just person is distinguished by the reasons she recognizes and acts upon. And this is true of the virtuous person in general. As Foot says: But why not say, then, that it is the distinguishing characteristic of the just that for them certain considerations count as reasons for action, and as reasons of a given weight? Will it not be the same with other virtues, as for instance for the virtues of charity, courage, and temperance? Those who possess these virtues possess them in so far as they recognize certain considerations (such as the fact of a promise, or of a neighbor’s need) as powerful, and in many circumstances compelling, reasons for acting. They recognize the reasons, and act on them. Thus the term ‘just’, as applied to a man or woman, speaks of how it is with him or her in respect of the acceptance of a certain group of considerations as reasons for action. If justice is a virtue, this is what the virtue of justice rectifies, that is, makes good (Foot 2001, 12).
To this point about how to distinguish the virtuous person, Foot quickly adds another point, that the virtuous person has some grasp of what explains or grounds the goodness of the virtues. The virtuous have an understanding of why the virtues make good human thought and action. In terms of ethical naturalism, this means that the virtuous have some understanding of why particular characteristics belong to human form – i. e., why they are naturally sound in human be-
See also Foot (2004).
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ings.¹⁹ In Foot’s description, this understanding consists in a grasp of the basic ideas expressed in a functionalist argument. Of course, the virtuous person’s understanding need not be especially articulate, but the thought is essentially the same, according to Foot: [A] human being can and should understand that, and why, there is reason for, say, keeping a promise or behaving fairly. This last may see a tall order, but this human understanding is not anything hard to come by. We all know enough to say ‘How could we get on without justice?’, ‘Where would we be if no one helped anyone else?’, or ‘How could we manage if there was no way of making decisions for us all?’ Anyone who thinks about it can see that for human beings the teaching and following of morality is something necessary. We can’t get on without it. And this is the nub of the proper answer to the challenge that I made in ‘Morality as a System of Hypothetical Imperative’, where I asked why it should be thought rational to follow morality, but not to obey dueling rules or silly rules of etiquette (Foot 2001, 16 – 17).
Foot is correct, I believe, on these two points: 1) we should characterize the virtuous person in terms of her responsiveness to reasons, and 2) the virtuous person has some understanding of why the virtues make good human thought and action. Moreover, Foot is right to think that functionalist accounts capture an important part of the explanation of the goodness of the virtues. The virtues make it possible for us to “get on” and to “manage”, as Foot says. They are crucial to meeting basic human needs, and traits that were destructive of human goods could scarcely be counted human virtues. And some understanding of this is part of the outlook of the virtuous. However, functionalist accounts also leave out a crucial aspect of the virtuous person’s motivational and evaluative outlook. Since my focus is on matters of justice, consider again promising. If the just person is asked to explain why she acts well when keeping inconvenient promises, she might offer a functionalist thought: “Think about how many human purposes depend on keeping promises. We couldn’t manage without them.” However, she might also say something like “It would be disrespectful to break those promises” or “In cases like that, the other person’s plans depend on me. Breaking my promise would be acting like that person’s plans weren’t as important as mine. And that wouldn’t be right.” Or consider the realm of truthfulness, and our obligation (when we have it) to give another person the truth. When asked why he doesn’t go around telling lies for his own advantage, the just person might reply “The other person is trusting me to tell him how it really is. If I were to lie like that, I’d be cutting the other
The virtuous person, of course, need not use these terms. These are the Aristotelian philosopher’s interpretation and description of what the virtuous person understands.
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person off from reality, so that what he ends up doing isn’t really what he thinks he’s doing. And if I did that for my own advantage, then I’d be manipulating him, and using him in a shabby way.”²⁰ Finally, consider a person who does her part in some cooperative venture, even when she could get away with free-riding. She might explain herself by saying “I couldn’t let the others do all the hard work. That would be acting like I’m better than they are. But their time is just as valuable as mine. We’re all equal, after all.” In my view, each of these statements is reasonable and each captures something about how the just (or those aspiring to justice) understand their actions. Each of these statements, moreover, is consistent with the functionalist point that humans could not meet basic needs without a good deal of fidelity, honesty, and cooperation. However – and this is the crucial point – none of the thoughts in these statements is captured by the functionalist arguments developed by Foot and Anscombe. It might be that humans could not “get on” without promise-keeping. But a different thought is expressed by saying that keeping one’s promises embodies respect for the promisee. It might be that humans could not “manage” without honesty. But a different thought is expressed by saying that lies manipulate others in an objectionable way. It might be that humans would be in bad shape without cooperation. But a different thought is expressed saying that one is an equal member of a team and must act accordingly. To bring out the key difference, we can distinguish between two types of good. The first type of good is one that is recognizable as good by the virtuous and the vicious alike. I have in mind such basic goods as housing, clothing, and nutrition, and also goods such as interesting work, enjoyable games, natural and artistic beauty, and scientific understanding. These are things that the virtuous can recognize as good. And indeed the virtues might require that one recognize the goodness of these things – i. e., recognize that these things are such as to be pursued/enjoyed/appreciated/etc. However, it is not the distinctive mark of the virtuous person to recognize the goodness of such things. On the contrary, the vicious (or non-virtuous) can also recognize these things as good. Indeed, it is typically easy to make sense of vicious activity precisely because we see it as aiming at goods that are recognizable as good. At a general level of description, the virtuous and vicious can acknowledge many of the same goods.²¹ This does
Compare Williams’ (2002) account of the values that help to explain the intrinsic goodness of the virtue of sincerity. Here, I am in agreement with Hursthouse (1999, 187): “McDowell, rightly, wants to deny that the life of virtue can be shown to be maximally desirable by canons of desirability available from the neutral point of view, that is, available to the virtuous and the vicious alike. Phillips, rightly, wants to deny that something similar can be shown about the life of virtue on the basis of facts
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not mean that the virtuous and vicious will choose these goods in the same way (at the same times, with the same people, for the same reasons, etc.). How they pursue these goods is part of what distinguishes the virtuous from the vicious. Even so, there are goods that are recognizable by virtuous and vicious alike. Call these “ethically-neutral goods”. When a functionalist argument identifies some good that “hangs on” something else, the good identified is of this sort – the kind recognizable as good by the virtuous and vicious alike. This is clear, for example, in Anscombe’s description of what hangs on promising, namely getting others to do things without physical force. In “On Promising and Its Justice”, she says: Now getting one another to do things without the application of physical force is a necessity for human life, and that far beyond what could be secured by those other means. Thus such a procedure as that language-game [of promising] is an instrument whose use is part and parcel of an enormous amount of human activity and hence of human good; of the supplying both of human needs and of human wants so far as the satisfactions of these are compossible (Anscombe 1981, 18).
Clearly the vicious, just as much as the virtuous, can recognize the need for getting others to do things without physical force, and hence the “utility” of the practice of promise-keeping.²² The same is true of the more specific goods that Foot says depend on promising, such as the exchange of goods and services. Thus Foot is correct to say that anyone who thinks about it can see that morality is necessary, since what morality is necessary for, in a functionalist argument, is a good recognizable by virtuous and vicious alike. In contrast, there are also goods – or, equivalently, “values” – the recognition of which is a distinguishing feature of the virtuous person. It is this sort of good that comes into view with the statements that I imagined just persons offering to explain their characteristic ways of acting. In those explanations, we get some sense of the goodness of acting justly. There is some account of why acting justly is a good way of acting, some suggestion of the value or values that justice realizes or respects. However, the good that comes into view is not such as to be recognized by the vicious just as well as the virtuous.²³ We may
about human good and harm available from the neutral point of view. But one can maintain this position without going to the implausible lengths of claiming that the virtuous and vicious share no views about death and suffering as, in general, undesirable and harmful, and enjoyment as, in general, desirable and a human good.” “Utility” is Anscombe’s term to describe the goodness of the practice (1981, 17). That is, it is not recognized properly. The vicious might pay lip service to the values that the virtuous truly appreciate and respect.
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describe this good, very roughly, as the good of living on terms of mutual respect with others. The values at stake in justice concern the dignity of others, where this centrally involves recognizing others as free and equal to oneself. Being alive to these values (or some values in this ballpark) is central to the motivational and evaluative outlook of the just person. As Charles Young says, summarizing Aristotle’s account of justice: Aristotelian particular justice invites us, in conducting relations with others, to assume a perspective from which we view ourselves and those others as members of a community of free and equal human beings, and to decide what to do from that perspective. If we are able to achieve that perspective, and to embody it in our thoughts, feelings, desires, and choices, we will have achieved Aristotelian particular justice. When we act from that perspective, we will express a conception of ourselves as free and equal members of a political community: as citizens. (Young 2006, 196)
For my purposes here, it is not important to give a precise characterization of mutual respect and recognition (or of Aristotle’s own views on particular justice).²⁴ Rather the key point is that it is characteristic of just persons to act from an appreciation of some such values, and to understand the goodness of justice in terms of these values.²⁵ Moreover, acting from such an appreciation is essential to what distinguishes the just person from the unjust person. While the unjust person might keep promises, or tell the truth, or play his part, qua unjust person he does not do these things from a proper recognition of the dignity and freedom of others; he does not act from a vision of himself and others as “members of a community of free and equal human beings.” To the extent that one is responsive to those sorts of construals and considerations, one is already down the path toward justice. But it is precisely those sorts of construals and considerations that are left out of functionalist accounts of justice, because functionalist accounts appeal to ethically-neutral goods, and thus they represent the goodness of the virtues in terms of those sorts of goods. Thus there is a gap between 1) the sort of goodness highlighted by functionalist accounts of justice, and 2) the sort of goodness that is distinctive of the outlook of the just person. Why does this gap matter for Aristotelian naturalism? Because the goal of functionalist arguments is to contribute to our understanding of what, in substance, is naturally good in “the human.” And the sort of goodness involved Indeed, my basic point about the limits of functionalist arguments can hold even if one has a rather different understanding of the values at the heart of justice. I take it that the just person can offer at least a basic articulation of these values, although the precise conception of the values might vary, along with the terms used to describe them.
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in the virtues is a matter of recognizing and acting for the right sort of considerations, as Foot rightly stresses. Thus to characterize natural goodness with respect to the virtues, we must characterize the practical thought of the virtuous. But we should not accept an overly narrow notion of “practical thought” or “acting for the right sort of considerations.” The virtue of justice is not merely taking things like “because I promised” or “it belongs to him” as reasons for action. Rather the motivational and evaluative outlook of the just person includes being “alive” to the goods, or values, at the heart of justice. To the extent that functional accounts fail to explain, or even bring into view, the distinctive outlook of the just person, they also fail to explain justice as a form of natural goodness in human beings.
4 Developing a Hermeneutical Naturalism At the beginning of this paper, I said that one of my goals is to clarify the shape of a “hermeneutical” ethical naturalism. I now want to situate my argument in relation to points made by two other thinkers who have contributed to a hermeneutical understanding of naturalism: Rosalind Hursthouse and John HackerWright. In his helpful discussion of Natural Goodness, Hacker-Wright notes that Foot’s appeals to natural facts are often “disarmingly simple” (Hacker-Wright 2009, 319). For instance, Foots says that “by the criteria of natural normativity charity is a prime candidate for a virtue, because love and other forms of kindness are needed by every one of us when misfortune strikes, and may be a sign of strength rather than weakness in those who are sorry for us” (Foot 2001, 108). And elsewhere she writes, “It matters in a human community that people can trust each other, and matters even more that at some basic level they should have mutual respect” (Foot 2001, 48). About these claims, Hacker-Wright says, “These are what we might call ‘internal observations’ or interpretations; they are assessment made by a human of the human situation rather than observations that are merely of the human made from a position of scientific detachment” (Hacker-Wright 2009, 320). On this point, I agree with Hacker-Wright, both about how to interpret Foot and, more importantly, how Aristotelian naturalism should be developed. However, I wish to stress the additional point that there are two ways of thinking about why charity is “needed”, why trust “matters”, and similar claims. The first way corresponds to functionalist arguments, and the basic thought is that charity and trust are significant because of the ethically-neutral good that hangs on them. The second way appeals to values the recognition of which is
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the distinctive mark of the virtuous person – e. g. trust “matters” because breaking trust reduces another to the level of a mere tool. As I stressed above, these two sorts of thought are not in competition with one another, and both are important for a full account of the goodness of particular human characteristics. But they highlight distinct aspects of that goodness, and naturalists should be attentive to this in their attempt to say what is naturally sound in “the human.” In On Virtue Ethics, Hursthouse emphasizes that the validation of a substantive account of the virtues, “must take place from within an acquired ethical outlook, not from some external ‘neutral’ point of view” (Hursthouse 1999, 165). This does not mean, however, that all “validation” is really just restating our ethical views. Rather there is space for genuine rational scrutiny and correction. But this rational scrutiny must proceed piece-meal, in Neurathian fashion, using some parts of our ethical outlook to assess and correct others.²⁶ And ethical naturalism, Hursthouse argues, provides a framework for rational reflection on the virtues. A trait will qualify as a human virtue only if it fosters the four natural ends of a social animal, in the way characteristic of our species. The four ends of a social animal, according to Hursthouse, are: 1) individual survival, 2) continuance of the species, 3) characteristic enjoyment and freedom from pain, and 4) the good functioning of the social group. These natural ends hold for humans and other social animals, such as wolves or elephants. However, our characteristic way of realizing these ends is distinct. As Hursthouse says, “Our characteristic way of going on, which distinguishes us from all the other species of animals, is a rational way. A ‘rational way’ is any way that we can rightly see as good, as something we have reason to do. Correspondingly, our characteristic enjoyments are any enjoyments we can right see as good, as something we in fact enjoy and that reason can rightly endorse” (Hursthouse 1999, 222). I believe that Hursthouse is correct to reject the project of validating the virtues from an ethically-neutral and “external” point of view. Moreover, I think that she is right to insist that even after rejecting that project, there is still a place for an appeal to ethically-neutral goods in our rational reflection on the virtues. We need not conclude that “any facts recognizable by the virtuous and vicious alike would necessarily be irrelevant” to our substantive accounts.²⁷ The virtues have intelligible connections to many ethically-neutral goods, and this means that there is an important place for functionalist arguments.²⁸ And Hursthouse offers some functionalist reflections. For example, she says, “With See Hursthouse (1999, 163 – 166). Hursthouse emphasizes her debt to McDowell for the notion of a Neurathian procedure of ethical reflection. See Hursthouse (1999, 178 – 187). Quote at 187. Cf. Wiggins’ (1995) discussion of McDowell’s “rigorism.”
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out honesty, generosity, and loyalty we would miss out on one of the greatest sources of our characteristic enjoyment, namely loving relationships; without honesty we would be unable to cooperate or acquire knowledge and pass it on to the next generation to build on. And it has long been a commonplace that justice and fidelity to promises enable us to function as a social, cooperating group” (Hursthouse 1999, 209 – 210). However, Hursthouse’s own position requires going beyond these reflections. For such descriptions of the roles of honesty, fidelity, etc. do not capture the distinct kind of goodness that the just perceive, the distinct values that animate their just responses. But if justice is a form of natural goodness, then our understanding of what is naturally good must bring into view the distinguishing features of the just person. Thus if we are to understand our characteristic way of acting – our way of seeing things as good and acting from that perception – then we must go beyond functionalist accounts of the virtues. At times, Hursthouse emphasizes that we must keep separate: a) naturalistic arguments about which character traits are in fact virtues, and b) the motivating reasons of the virtuous person. Naturalistic arguments, she insists, are not intended to provide motivating reasons, either to immoralists or ourselves: “Secure within the outlook according to which the life I want to lead is the life lived in accordance with honesty, temperance, courage, charity, justice, etc., I am not in any need of motivating reasons, and when I explore the claims of ethical naturalism, such motivating reasons are not what I am looking for. I’m looking so see whether my beliefs about which character traits are the virtues can survive my reflective scrutiny and be given some rational justification” (Hursthouse 1999, 194). I grant that the virtuous, in order to be motivated to act virtuously, do not need arguments about the natural goodness of the virtues. However, in developing ethical naturalism, it is not enough to give functionalist accounts to explain the natural goodness of justice (or the other virtues). Rather our explanation of the goodness of justice (and the other virtues) must capture what it is that the just see, what motivates them, what forms of concern and sensitivity shape their responses. For only then will we bring into view that which is naturally good in human beings.
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III „Natürliche Normativität“ und Universalisierbarkeit
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Freiheit, Recht und Selbsterhaltung. Zur philosophischen Bedeutung von Kants Begriff der Verbindlichkeit Der erste Gedanke bei der Aufstellung eines allgemeinen ethischen Gesetzes von der Form „Du sollst …“ ist: „Und was dann, wenn ich es nicht tue?“ (Ludwig Wittgenstein, Tagebücher, 30.07.1916)
1 Einleitung In der sich auf Aristoteles berufenden Tradition der analytischen Ethik kommt Kant nicht gut weg. Beim Nachdenken über die Grundlagen unserer ethischen Auffassungen scheint bei ihm wirklich alles schief gelaufen zu sein. Kant misstraut der menschlichen Natur, er räumt unserer Urteilskraft nur eine nachgeordnete Funktion ein, er unterschätzt die moralische Relevanz unserer Gefühle, und er mokiert sich über unser Streben nach einem guten Leben. Als Alternative bietet er eine Ethik an, in der uns der ungastliche Wind des Kategorischen Imperativs um die Ohren weht. Eine Handlung bloß deshalb vollziehen zu sollen, weil sich ihre Maxime zu einem allgemeinen Gesetz qualifiziert – wie kann man nur auf eine derart abwegige Idee verfallen? Betrachten wir die Darstellungen der kantischen Ethik und ihre Kritik im analytischen Aristotelismus¹, können wir den Eindruck gewinnen, dass Königsberg nicht nur außerhalb der politischen Grenzen des alten Reichs, sondern auch außerhalb der Grenzen plausibler philosophischer Theoriebildung lag. Wenden wir uns allerdings den Kant-Bezügen in den Schriften der von der analytischen Philosophie beeinflussten Aristoteliker des 20. und 21. Jahrhunderts etwas näher zu, wäre es übertrieben zu sagen, dass ihre Kritik auf einer textnahen Auseinandersetzung mit Kants Schriften beruht. Eher das Gegenteil trifft zu. Widerlegt wird nicht selten eine Strohpuppe, die bei trockenem Wetter leicht Feuer fängt, wenn man in ihrer Nähe zündelt.² Das mag für den Augenblick erleuchtend sein, ist aber langfristig betrachtet und philosophisch gesehen wenig erhellend. Und zwar weder für den Kantianer, der schmollt, weil er
Dieser Ausdruck („‘analytical Aristotelism‘“) wird von Michael Thompson (2008, S. 6, 13) verwendet. Ein gutes jüngeres Beispiel hierfür ist die Kant-Kritik von John McDowell (vgl. Klemme 2009).
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sich nicht recht verstanden fühlt, noch für den Aristoteliker, der stolzen Hauptes einen Gegner besiegt, der nur in seiner Vorstellung existiert. Bei den über die Grundlagen praktischer Normativität geführten Debatten zwischen Neo-Aristotelikern und Kantianern fällt allerdings auch auf, dass unter den Kantianern Uneinigkeit über den systematischen Kern von Kants praktischer Philosophie besteht. Neben wertrealistischen und konstruktivistischen Ansätzen finden sich diskursethische Interpretationen und Rekonstruktionen von Kants Ethik, die nicht immer den Eindruck einer den Menschen und ihren realen Problemen entrückten Theorie vermeiden können. Auffällig ist, dass seitens der KantForschung auf die altbekannten Vorwürfe der praktischen Irrelevanz und des bloßen Formalismus des Kategorischen Imperativs mit der Publikation einer Reihe von Studien reagiert wird, in denen (völlig zu Recht) die Bedeutung der Gefühle, des Begriffs der Tugend und selbst der Anthropologie für Kants Ethik herausgestellt wird.³ In der Summe können diese Studien aber den Eindruck erwecken, als ob Kant ein besserer Tugendethiker als Aristoteles und ein versteckter Anhänger der Gefühlsethik sei. Bei aller berechtigten Betonung von Gemeinsamkeiten unterschiedlicher ethischer Traditionen ist es jedoch immer hilfreich, die Differenzen zwischen ihnen nicht aus den Augen zu verlieren.Und die entscheidende Differenz zwischen dem Neo-Aristotelismus und Kant besteht in der Frage nach dem Grund oder dem Kern praktischer Normativität. So wichtig die Begriffe der Gefühle, der Tugend und des Lebens bei Kant auch sein mögen, es ist die reine Vernunft, die uns Kants Auffassung nach das Gesetz der Freiheit gibt, dem wir im Gebrauch unserer Willkür oder unseres Willens Folge leisten sollen.Wird vor Kant der Grund unserer Verbindlichkeit in der Natur des Menschen und der Welt gelegt, versucht dieser zu zeigen, dass allein die der Natur zunächst extern gegenüberstehende reine Vernunft der Grund unserer moralischen Verbindlichkeit ist. Mit seiner Konzeption der Autonomie⁴ bricht Kant nicht nur mit den Traditionen des Naturalismus und des (theologischen) Voluntarismus, er weist auch alle Versuche zurück, unser Wollen von dem Begriffe eines Zweckes her zu verstehen, in dem eine innerweltliche Harmonie von Tugend und Glück angedacht wird. Aus seiner Kritik an heteronomen Ethikkonzeptionen kann gegenüber Kant jedoch nicht der Vorwurf der praktischen Irrelevanz seiner Lehre vom Kategorischen Imperativ erwachsen. Und dies aus zwei Gründen: Erstens ist Kants Auffassung nach unser Streben nach Glück Teil unserer Naturgeschichte, sodass es
Siehe u. a. die Studien von Louden (2000),Trampota u. a. (2013), Höwing (2013), Schadow (2013) u. Falduto (2014). „Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist.“ (AA 4, S. 440; vgl. AA 4, S. 447)
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auch seiner Ansicht nach ganz abwegig und verfehlt wäre, wenn die Vernunft die Negation dieses Strebens gebieten würde. Der Kategorische Imperativ negiert unser Streben nach Glück nicht prinzipiell, sondern er zeichnet eine Grenze für es vor: Wir dürfen und sollen unser Glück innerhalb der Grenzen des allgemeinen Freiheitsgesetzes suchen.⁵ Zweitens gebietet der Kategorische Imperativ zwar unbedingt und ohne Rücksicht auf die Befriedigung unserer Neigungen. Aber dies besagt nicht, dass dieser Imperativ einzig und allein auf die Rechtfertigung von Regeln oder Prinzipien des Wollens und Handelns zielen würde, die im intersubjektiven Raum geteilter Gründe universalisierungsfähig sind. Der Kategorische Imperativ fordert uns auf (legt uns die Verbindlichkeit auf), nach solchen Maximen zu handeln, die sich allgemein denken oder wollen lassen. Aber die durch ihn ausgedrückte Verbindlichkeit ist nicht zwecklos. Ihre Funktion wird durch einen Blick auf die selbstbezügliche Struktur unseres Wollens deutlich. Der Kategorische Imperativ fordert uns auf, das zu erhalten und im Gebrauch unserer Willkür zu realisieren, was wir unserer ‚Natur‘ als Vernunftwesen nach sind und worauf unser vernunftgeleitetes Streben gerichtet ist, nämlich auf unsere Freiheit und Autonomie. Weil der Grund der Verbindlichkeit des Moralgesetzes unser (wie es in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt) „eigentliches Selbst“ (AA 4, S. 457) und dieses Selbst mit unserer Autonomie identisch ist, fordert der Kategorische Imperativ die Erhaltung dieses Selbst. Nur weil wir uns selbst als Vernunftwesen verstehen, nur weil wir uns selbst im Gebrauch unserer Freiheit erhalten wollen, vermag uns die Vernunft in Gestalt des Kategorischen Imperativs eine durch unser Verlangen nach der Befriedigung von gewöhnlichen Neigungen nicht einzuschränkende Verbindlichkeit aufzuerlegen. Wer Kants Ethik der Autonomie und der Verbindlichkeit verstehen und kritisieren will, muss sich also mit seinem Anspruch auseinandersetzen, dass es so etwas wie ein „eigentliches Selbst“ des Menschen gibt, das in seiner autonomiefähigen Vernunftnatur besteht.Vielleicht ist es nicht ohne Ironie, dass sich die Ansprüche Kants und der Neo-Aristoteliker an dieser Stelle treffen. Beide gehen davon aus, dass es eine ‚Natur‘ des Menschen gibt, die der letzte Grund unseres Wollens und Handelns darstellt. Doch während der Neo-Aristoteliker diesen Grund durch die Telos-Begriffe der Tugend und des Glücks zu entwickeln sucht, stellt Kant den Begriff einer Vernunft in den Mittelpunkt seiner Analysen, die uns
Zugleich ergibt es keinen Sinn, das Streben nach dem eigenen Glück zu gebieten, wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft schreibt: „Ein Gebot, daß jedermann sich glücklich zu machen suchen sollte, wäre thöricht; denn man gebietet niemals jemanden das, was er schon unausbleiblich von selbst will.“ (AA 5, S. 37)
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das Gesetz des Gebrauches unserer Willkür gibt.⁶ Obwohl beide Ansätze von der Überzeugung leben, dass es so etwas wie eine normbegründete ‚Natur‘ des Menschen gibt, ist der Charakter dieser ‚Natur’ doch sehr verschieden. Die in der Tradition der berühmten Darstellung des Gegensatzes von deontologischer und teleologischer Ethik von Elisabeth Anscombe (1958) stehenden Neo-Aristoteliker betreiben Moralpsychologie. Sie versuchen beispielsweise wie Philippa Foot einen begrifflichen Zusammenhang⁷ zwischen Tugend und Glück herauszustellen. Danach kann ein Mensch kein wahrhaftes Glück empfinden, wenn er nicht wahrhaft tugendhaft ist.⁸ Für Kant und die Kantianer ist dies jedoch kein überzeugender Vorschlag.⁹ Würde ein begrifflicher Zusammenhang zwischen Tugend und Glück bestehen, würde sich unser moralischer Abscheu gegenüber einem lasterhaften und verbrecherischen Menschen mit dem Gedanken trösten können und müssen, dass dieser selbst dann kein wahrhaftes Glück in seinem Leben empfunden haben Kant vertritt – modern gesprochen – einen normativen Externalismus (die reine Vernunft beurteilt Maximen, die auf unseren Neigungen beruhen) und einen motivationalen Internalismus (die reine Vernunft selbst motiviert uns zu Handlungen, determiniert sie aber nicht), während die hier behandelten Neo-Aristoteliker prinzipiell Internalisten zu sein scheinen (zur Terminologie vgl. Klemme 2006). So schreibt etwa Warren Quinn in “Putting Rationality in its Place”: “[…] the only proper ground for claiming that a quality is rational to have or an action rational to do is that the quality or action is, on the whole, good. It is human good and bad that stand at the centre of practical thought and not any independent ideas of rationality or reasons for action. Indeed, even in its proper place as a quality of practical reason, rationality is validated only by the fact that it is the excellence, that is the good condition of practical thought. Even there the notion of good has the primary say.” (1995, S. 207) – Herlinde Pauer-Studer betont die von Foot selbst nicht gesehenen Übereinstimmungen zwischen ihrer Konzeption praktischer Rationalität und „einem Kantischen Konstruktivismus“ (2010, S. 190). Siehe vor allem ihren ursprünglich 1994 in französischer Sprache erschienenen Aufsatz „Tugend und Glück” (1997, S. 214– 225). Zu der problematischen These eines begrifflichen Zusammenhangs siehe auch Özmen (2010). Im Unterschied zu Foot (vgl. 1997, S. 125) schließt beispielsweise Alasdair MacIntyre (1985, S. 199 – 200) nicht von vornherein aus, dass Tugenden in bösen (”evil”) Praktiken missbraucht werden können. Zu seiner überzeugenden Kritik an der Idee der Einheit der Tugenden (Thomas von Aquin, Peter Geach), durch die u. a. das Moment einer von Menschen unverschuldeten Tragik ausgeschlossen wird, vgl. MacIntyre (1985, S. 178 – 180). Eine Verteidigung von Foot findet sich bei Flemming (1980, S. 593 – 595). Günther Patzig bringt die Bedenken mit folgenden Worten auf den Punkt: „Die Schwäche der teleologischen Begründungsversuche der Ethik liegt an anderer Stelle: wären sittliche Forderungen nichts als Voraussetzungen menschlichen Glücks, so könnte man unsere emotionale Reaktion auf ′schreiendes′ Unglück und gefühllose Brutalität nicht verstehen. Die sittliche Empörung, die wir empfinden, auch ohne selbst betroffen zu sein, kann nicht bloß in der Einsicht liegen, daß, wer so handelt, seine eigenen Glückschancen zerstört. Im Gegenteil: daß jemand, der so handeln kann, auch selbst nicht glücklich leben wird, ist uns nur ein freilich schwacher Trost in solchen Fällen.” (1983, S. 38 – 39)
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kann, wenn er meint, dass dies der Fall ist. So ist es nach kantischer Auffassung erstens empirisch völlig unklar, ob beispielsweise ein KZ-Kommandant nur deshalb seine Kinder nicht wirklich lieben kann, weil er an der Ermordung unschuldiger Kinder beteiligt ist. Und zweitens ist zwischen Urteilen zu unterscheiden, die auf das Glück von Personen gerichtet sind, und solchen Urteilen, die die Richtigkeit ihres Wollens und Handelns betreffen. Es gibt nicht eine, es gibt zwei Quellen praktischer Normativität.¹⁰ Die Natur verpflichtet uns durch unsere Begierden, Neigungen und Leidenschaften zur Ergreifung bestimmter Mittel. Unser in Gestalt von Maximen gebildetes begriffliches Verständnis unserer natürlichen Verbindlichkeiten kann jedoch aus der Perspektive der reinen praktischen Vernunft daraufhin überprüft werden, ob sich diese Begriffe zu einer allgemeinen Freiheitsgesetzgebung qualifizieren. In moralischer Hinsicht ist es also die um die Begriffe von Freiheit, Autonomie und Selbsterhalt zielende reine Vernunft, die uns zu Handlungen verpflichtet, die unangesehen der Beantwortung der Frage, ob diese mehr Schaden als Nutzen in dieser Welt verursachen, richtig oder falsch sind. Mit unseren moralischen Urteilen ist ein Geltungsanspruch verbunden, der jenseits der Moralpsychologie angesiedelt ist. Ich möchte im Folgenden Kants Konzeption der moralischen Verbindlichkeit etwas näher erläutern und vor voreiliger Kritik in Schutz nehmen. Selbstverständlich drückt der Kategorische Imperativ ein unbedingtes Sollen aus. Aber Kant ist weit davon entfernt, aus diesem Sollen und aus dem ihm korrespondierenden Begriff des Gesetzes einen lebensfernen und glücksnegierenden Fetisch zu machen. Kants Moralphilosophie kreist um den Menschen als ein Vernunftwesen, und die Funktion des Gesetzes besteht darin, uns selbst als ein Vernunftwesen im Gebrauch unserer Willkür zu erhalten.¹¹ Da der Gebrauch, den wir von unserer Freiheit machen können, verschiedene Dimensionen umfasst, ist insbesondere kurz auch auf Aspekte seiner Rechtsphilosophie einzugehen, die um die Begriffe des angeborenen (nicht erworbenen) Rechts der Freiheit und der äußeren Freiheit kreist. Aus der Perspektive von Kants praktischer Philosophie betrachtet mutet es befremdlich an, dass sich so unterschiedliche Tugendethiker wie Anscombe, Rosalind Hursthouse (1999) und Foot in keiner Weise über die spezifische Normativitätsdimension des Rechts äußern. Dabei ist es gerade die Institution des zwangsbewehrten Rechts, in dessen Geltungsbereich es zwischen den Bürgern zum Schwur kommt und eine Grenze gesetzt wird zwischen einerseits Handlungen und Einstellungen, die wir von anderen Personen in tugendethischer Hinsicht erwarten, und andererseits Handlungen, deren Vollzug oder Unterlassen wir uns
Siehe weiterführend Klemme (2014a u. 2014c). Siehe Klemme (2013).
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von anderen Personen zu erzwingen berechtigt denken. Vielleicht ist das Fehlen rechtsphilosophischen Problembewusstseins im analytischen Aristotelismus Ausdruck eines Unbehagens, Fragen des Rechts als Tugendfragen zu behandeln. Vielleicht ist es aber auch Ausdruck einer begrifflichen Schwierigkeit, nämlich der Schwierigkeit, die Besonderheiten einer Normativitätssphäre zu verstehen und begrifflich darstellen zu können, die auf der einen Seite einen Bezug zu den Quellen unseres moralischen Selbstverständnisses hat, die auf der anderen Seite aber nicht in einem Ableitungsverhältnis zu diesen steht. Das Recht hat einen moralischen Gehalt, ohne dass sich seine Inhalte direkt aus dem obersten Moralprinzip ableiten lassen. Kant hat sich in seiner Rechtslehre von 1797 diesem für die Moderne kennzeichnenden komplexen Inklusions- und Exklusionsverhältnis von Moral und Recht gestellt, der Neo-Aristotelismus analytischer Prägung zum Nachteil systematischer Plausibilität dagegen nicht. Bevor ich auf Kants Begriff der Verbindlichkeit eingehe, ist es jedoch hilfreich, als Kontrastfolie zunächst an Christian Wolffs Version des ethischen Naturalismus zu erinnern, gegen den sich Kant abgrenzt. Sie hilft uns jedoch nicht nur, die Konturen des Kategorischen Imperativs zu schärfen. Weil Wolff einen, wie wir ihn nennen können, rationalen Naturalismus vertritt, steht er in einer größeren Nähe zum Aristotelismus als Kant. Die Neo-Aristoteliker grenzen sich zwar scharf von Kants Begriff des Sollens ab. Dabei bedenken sie nicht, dass sie nolens volens mit Wolff einen Begriff des Sollens teilen, in dessen Tradition auch Kant steht. Denn selbst wenn man zögern möchte, Wolff einen Aristoteliker zu nennen, finden sich in seinen Schriften doch Auffassungen, die einem am Begriff der menschlichen Natur orientierten analytischen Aristoteliker nicht unsympathisch sein dürften. Kants Kritik an Wolff könnte insofern auch als Kritik am analytischen Aristotelismus verstanden werden, der sich mit seiner generellen Polemik gegen den Begriff der Verbindlichkeit und des Sollens gewissermaßen gegen sich selbst wendet, jedenfalls insofern Wolffs Verständnis dieses Begriff gemeint ist.
2 Christian Wolffs Begriff der Verbindlichkeit Grundlegend für das Verständnis der Verbindlichkeit¹² bei Christian Wolff ist der Begriff der Natur. Ausgehend von der Konzeption eines freien Willens führt Wolff die Natur als die uns eine Verbindlichkeit auferlegende Instanz an.Weil die Weise, in der uns die Natur zu bestimmten Handlungen verbindet, regelhaft ist, spricht
Zu den Positionen von Alexander Gottlieb Baumgarten, Georg Friedrich Meier und Johann August Eberhard siehe Klemme (2014b) und die dort angegebene Literatur.
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Wolff von Gesetzen der Natur. „Insonderheit aber wird eine Regel ein Gesetze der Natur genennet, wenn uns die Natur verbindet unsere freyen Handlungen darnach einzurichten“ (1733, § 17). Wie verbindet uns die Natur? Sie verbindet uns zu freien Handlungen, indem sie uns „Bewegungs-Gründe“ gibt, wie Wolff das lateinische „motivum“ übersetzt. Zu einer Handlung verbunden zu sein, bedeutet nach Wolff nichts anderes als ein Motiv zu haben, in einer bestimmten Weise zu handeln. Motive sind Gründe, die eine Person für ihr Handeln erkennt. Es sind unsere Motive, die uns zu Handlungen geneigt machen. Mit dem Begriff der Neigung zu einer Handlung geht die Unterscheidung zwischen der „sinnlichen Begierde“ („appetitus sensitivus“) einerseits und dem „Willen“ („appetitus rationalis, vgl. Schröer 1988, S. 124) andererseits einher. Wir sind zu einer bestimmten Handlung geneigt, weil wir uns ein Gut vorstellen, mit dem Lust verbunden ist. Unsere Vorstellung des Guten (Lustvollen) bzw. des Schlechten (Unlustvollen) kennt jedoch Grade. Beruht unsere Erkenntnis des Guten auf unseren sinnlichen Empfindungen, erkennen wir das Gute nur undeutlich. Wir haben eine sinnliche Begierde. Erkennen wir das Gute jedoch aufgrund einer Verstandes- oder Vernunfterkenntnis deutlich, haben wir einen Willen. Mit unserer Erkenntnis des Guten und Schlechten ist demnach eine Zustandsveränderung von uns selbst verbunden. Die Pointe dieser Überlegungen besteht darin, dass uns die Natur nach Wolff insofern zum Vollzug guter Handlungen verpflichtet, als die deutliche Erkenntnis des Guten ein stärkeres Motiv als seine undeutliche Erkenntnis ist. Im ersteren Falle ist unsere Lust beständig. Wolff interpretiert die Tatsache, dass wir das Gute dem Bösen vorziehen als ein Gebot der Natur, unsere Erkenntnis des Seienden (einschließlich unseres Selbst) zu verbessern – und entsprechend zu handeln. Wir sollen im Handeln den Standards unserer eigenen Natur entsprechen. Wolff drückt diesen Gedanken in seinem berühmten Vollkommenheitsimperativ aus: „Thue was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlaß, was dich unvollkommener machet.“ (1733, § 12) Wie müssen wir uns den Prozess der Willensbildung nach Wolff konkret vorstellen? Wichtig ist der Begriff der Maxime. In einer Maxime bringen wir auf den Begriff, was wir in der Natur als für uns gut erkennen. Alle Menschen handeln Wolffs Auffassung nach auf der Grundlage von Maximen, „nach welchen sie gewohnet sind das Gute und Böse zu beurtheilen“ (1733, § 191). Maximen sind also subjektive begriffliche Vorstellungen vom Gesetz der Natur. Sie sind Ausdruck unserer Erfahrungen davon, was für uns gut und schlecht ist, was uns Lust und Unlust bereitet. Nur wer sich durch Erfahrung hat klug machen lassen, kann nach Maximen handeln, die auf einer deutlichen Erkenntnis des Guten beruhen. Selbstverständlich setzt dies voraus, dass wir uns durch Erfahrung klug machen können, was nur deshalb möglich ist, weil die Natur selbst – und zwar einschließlich unserer eigenen menschlichen Natur – ein begrifflich fixierbares und
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unveränderliches Wesen hat. Man könnte an dieser Stelle erläuternd aus Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820/21) zitieren: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (1970, S. 24) Diesen Satz hätte ähnlich auch Wolff formulieren können, allerdings mit dem ergänzenden Hinweis darauf, dass das Wirkliche auch gut ist. In jedem Fall sind nach Wolff Natur und Vernunft zwei Seiten ein und derselben Sache. Die Natur macht uns vernünftig, und wir erkennen die Natur als vernünftig. Allein aus dem Grunde der Identität von Vernunft und Naturgesetzlichkeit kann Wolff behaupten, dass die Vernunft die „Lehrmeisterin des Gesetzes der Natur“ ist: „Weil unsere freyen Handlungen durch dasjenige, was aus ihnen entweder schlechterdinges, oder unter gewissen Umständen nothwendig erfolget, gut oder böse werden […]; so wird zu Beurtheilung derselben eine Einsicht in den Zusammenhang der Dinge erfordert. Da nun die Einsicht in den Zusammenhang der Dinge die Vernunfft ist […]; so wird das Gute und Böse durch die Vernunfft erkandt. Und demnach lehret uns die Vernunfft, was wir thun und lassen sollen, das ist, die Vernunfft ist die Lehrmeisterin des Gesetzes der Natur“ (1733, § 23). Weil die Vernunft uns das ewige, unveränderliche und notwendige Gesetz der Natur zu erkennen gibt, braucht, so Wolff, „ein vernünfftiger Mensch kein weiteres Gesetze, sondern vermittelst seiner Vernunfft ist er ihm selbst ein Gesetze.“ (1733, § 24) Durch seine Vernunft erkennt der Mensch die zweckmäßig geordnete Natur und damit das Gute. Und entsprechend seiner Erkenntnis handelt er auch. Die These, dass uns die Natur zu bestimmten Handlungen verbindet, ist also gleichbedeutend mit der Aussage, dass die Vernunft durch unsere Erkenntnis des Guten Beweggründe gibt, die unserer eigenen und der Natur der Dinge überhaupt entsprechen. „Einen verbinden etwas zu thun, oder zu lassen, ist nichts anders als einen Bewegungs-Grund des Wollens oder nicht Wollens damit verknüpffen“ (1733, § 8, vgl. Schröer 1988, S. 142). Möchten wir den eigenen oder den Willen einer anderen Person ändern, müssen wir uns oder anderen einen anderen Beweggrund vorstellen.¹³ Das Verständnis von Wolffs Begriff der Verbindlichkeit bereitet keine großen Probleme. Dass wir zu einer Handlung verbunden sind, bedeutet schlicht, aufgrund unserer Vorstellung vom Guten ein Handlungsmotiv zu haben. Unser Wollen folgt mit Notwendigkeit der Vorstellung des Guten. Je vernünftiger wir sind, desto freier sind wir auch. Orientieren wir uns an der Grundbedeutung, die Wolff dem Begriff der Verbindlichkeit gibt, scheint es allerdings auch keine normative Ethik von Rang zu geben, die ohne diesen Begriff auskommt. Denn wer würde ernsthaft behaupten wollen, dass die Beziehung, die zwischen einem Hand-
Siehe hierzu Wolff (1733, §§ 373, 400) und Schröer (1988, S. 127).
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lungssubjekt und seinen Motiven besteht, für das Handeln irrelevant ist? Dieser Begriff der Verbindlichkeit kann selbstverständlich auch auf die neo-aristotelischen Handlungskonzeptionen angewendet werden. Pointiert formuliert: In der maßgeblich durch Christian Wolff geprägten deutschen Schulphilosophie vor Kant findet sich ein Begriff der Verbindlichkeit, der zum Ausdruck bringt, dass eine Person ein Motiv und einen Grund hat, in bestimmter Weise zu handeln, weil und insofern sie etwas deutlich als für sich gut erkennt. Dieser Grund ergibt sich aus der Natur des Menschen und aller ‚Dinge überhaupt‘, die auf die Vervollkommnung des Menschen zielen. Mit diesem in eine teleologische Auffassung¹⁴ der Natur eingepassten Begriff der Verbindlichkeit kann sich wohl auch ein moderner Aristoteliker anfreunden.
3 Kants Begriff der Verbindlichkeit Dass sich Kant in einer Tradition ethischer Reflexion bewegt, für die Wolff steht, wird schon dadurch deutlich, dass Kant Wolffs Übersetzung des Begriffs der „obligatio“ mit Verbindlichkeit oder Verpflichtung folgt.¹⁵ In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten definiert er sie als die „Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Prinzip der Autonomie (die moralische Nötigung)“¹⁶. Und wie bei Wolff übersetzt Kant „officium“ mit Pflicht.¹⁷ Eine Pflicht bedeutet eine Handlung, zu deren Vollzug wir verbunden sind. Kants Ethik des Kategorischen Imperativs ist also primär eine Ethik der Verbindlichkeit, erst in zweiter
Das Wort „Teleologie“ wurde 1728 von Christian Wolff in seiner Lateinischen Logik geprägt (vgl. Busche 1988, Sp. 970, und Buchenau 2011). Zum Folgenden siehe auch Klemme (2013) und die dort angegebene Literatur. AA 4: 439. Auf ein „heiliges Wesen“, d. h. auf einen „vollkommen guten Willen“ kann der Begriff der Nötigung nicht angewendet werden: „Ein vollkommen guter Wille würde also ebensowohl unter objektiven Gesetzen (des Guten) stehen, aber nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen genötigt vorgestellt werden können, weil er von selbst nach seiner subjektiven Beschaffenheit nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine Imperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist. Daher sind Imperativen nur Formeln, das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. des menschlichen Willens auszudrücken.“ (AA 4: 415). „Die objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht.“ (AA 4, S. 439) Wolff schreibt in seiner Deutschen Ethik: „Durch die Pflicht verstehen wir eine Handlung, die dem Gesetze gemäß ist. Da nun kein Gesetze ohne Verbindlichkeit ist; so sind die Pflichten Handlungen, die wir zu vollbringen verbunden sind. Und daher pflegen wir zu sagen: Es ist meine Pflicht dieses zu thun, wenn wir andeuten wollen, daß wir es zu thun verbunden.“ (1733, § 221)
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Linie eine solche der Pflichten. Wie aber kommt man von Wolff zu Kant? Worin bestehen die entscheidenden Differenzen zwischen ihnen? Und worin sind sie philosophisch begründet? Der Einfachheit halber orientiere ich mich im Folgenden am Theoriebestand der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in der Kant erstmals in seiner philosophischen Entwicklung eine Antwort auf die Frage gibt, wie eine unbedingte moralische Verbindlichkeit möglich ist. Allerdings formuliert Kant diese Frage in einer anderen Terminologie. Sie lautet: Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? Wenn Kant zu Beginn des ersten Absatzes der Grundlegung behauptet, dass wir allein den „guten Willen“ (AA 4, S. 393) für uneingeschränkt gut denken können, ist damit unausgesprochen die Wolffsche Interpretation des Begriffs der Verbindlichkeit zurückgewiesen. Die Gründe hierfür sind vielfältig.Vielleicht ist es günstig, vom Begriff der Maxime auszugehen, die Wolffs und Kants Auffassung nach erstens auf unserer Fähigkeit beruht, nach Begriffen handeln zu können, zweitens auf unserer Erfahrung beruht und drittens das eigene Glück als Naturzweck zum Ziel hat. Mit dem Begriff der Maxime geht unsere Fähigkeit zur Distanzierung gegenüber unseren unmittelbar wirksamen Begierden einher. Wir können eine Überlegung darüber anstellen, ob es im Sinne unseres langfristigen Strebens nach der Befriedigung unserer Neigungen angemessen ist, unseren aktuellen Begierden zu folgen. Im Unterschied zu Wolff ist Kant jedoch davon überzeugt, dass das Ziel, das wir mit der Befolgung unserer Maximen zu erreichen hoffen, niemals darin bestehen kann, einen permanenten Lustzustand zu erlangen, der aufgrund der Einheit der menschlichen Natur allen Menschen in derselben Weise zugänglich, zuträglich und zumutbar ist. Kant ist in diesem Punkt Hobbesianer: Es gibt keinen ruhenden Punkt in unserem auf unserer Sinnlichkeit beruhenden Streben. Der Mensch, als Naturwesen betrachtet, ist vielmehr in einer permanenten Bewegung begriffen, seine Begierden und Neigungen zu befriedigen, die ständig ihre Objekte ändern. Gelegentlich verweist Kant auch auf Pietro Verri.¹⁸ Dessen These lautet, dass unser Handeln nicht durch das Erlangen von Lust motiviert ist, sondern durch unseren Wunsch, einen Schmerz zu überwinden, der die Nichtbefriedigung einer Begierde begleitet. Weil wir hinsichtlich unserer Begierden, Neigungen und Leidenschaften nach Kant zwar allgemeine Klugheitsregeln formulieren, aber niemals zu notwendig geltenden Prinzipien oder Gesetzen des Wollens gelangen können, müsste sich die Ethik damit bescheiden, Ratschläge des guten Lebens zu geben. Das wäre hilfreich und gut, weil wir auf sie vernünftigerweise nicht verzichten wollen. Aber sie verfehlen nach Kant die für uns Menschen typische normative Situation, die wir gegenüber unserem auf
Siehe u. a. AA 25, S. 785 – 786 u. 788.
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Maximen beruhenden Wollen einnehmen können. Diese Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass wir über Begriffe verfügen, mittels derer wir eine externe Perspektive gegenüber unseren auf unseren Neigungen beruhenden Maximen einnehmen können. Diese Begriffe stammen nicht aus unserer Erfahrung, sondern aus unserer Vernunft. Mit dieser These über den Ursprung unserer moralischen Begriffe von gut und schlecht ist das Band zum Wolffianismus zerschnitten. Warum? Weil es nach Kant prinzipiell nicht möglich ist, Vernunftbegriffe aus der Erfahrung abzuleiten. Es findet kein gradueller Übergang zwischen undeutlichen und deutlichen Vorstellungen, Begierden und Vernunftbegriffen statt. Vielmehr machen Begierden, Neigungen, Leidenschaften unser unteres Begehrungsvermögen aus. Die reine Vernunft wird dagegen mit dem oberen Begehrungsvermögen identifiziert.¹⁹ Im Gegensatz zum Wolffianismus zeichnet sich Kants Theorie praktischer Normativität somit durch einen Dualismus handlungsleitender Gründe aus. Er ist die Basis für seinen spezifischen Begriff der Verbindlichkeit. Er gründet auf der Voraussetzung, dass die Vernunft selbst kausal wirksam werden kann in Gestalt der Autonomie.²⁰ Der Dualismus zwischen Naturkausalität und einer Kausalität aus Freiheit erklärt, warum der Kategorische Imperativ von uns fordert, unsere auf unseren Neigungen beruhenden Maximen daraufhin zu überprüfen, ob sie sich zu einer allgemeinen Gesetzlichkeit qualifizieren. Gefordert wird nicht, dass wir auf die Befriedigung unserer Neigung prinzipiell verzichten. Gefordert wird vielmehr ein Handeln nach solchen Maximen, die den Test ihrer gedachten gesetzlichen Verallgemeinerung bestehen. ‚Suche Dein Glück innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft‘, könnte man ihn reformulieren. Mit der strikten Trennung von unterem und oberem Begehrungsvermögen ist es nun nicht mehr möglich, mit Wolff anzunehmen, dass unser Wollen notwendig unserer Erkenntnis folgt. Es trifft nicht zu, dass eine Veränderung unseres Wollens allein dadurch möglich ist, dass wir unsere Erkenntnis des Guten bessern. Wir ändern unser Wollen in moralischer Hinsicht vielmehr auch dadurch, dass wir uns entscheiden, etwas anderes zu wollen.
Zu Kants triadischer Vermögenstheorie und insbesondere zum Verhältnis von unterem und oberem Begehrungsvermögen vgl. Klemme (2014) sowie die Studien von Höwing (2013) und Falduto (2014). Erstmalig stellt Kant diesen Zusammenhang von Verbindlichkeit und Autonomie im Naturrecht-Feyerabend heraus, eine studentische Vorlesungsnachschrift, die zeitgleich mit der Grundlegung entstanden ist: „Verbindlichkeit ist moralische Neceßitation der Handlung, d: i: die Abhängigkeit eines [nicht] an sich guten Willen vom Princip der Autonomie, oder objectiv nothwendigen praktischen Gesetzen. Pflicht ist die objective Nothwendigkeit der Handlung aus Verbindlichkeit.“ (AA 27, S. 1326)
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Was ist damit gemeint? Im Gegensatz zu Wolff geht Kant davon aus, dass wir (vernunftfähigen Erwachsenen) über die Begriffe verfügen, mittels derer wir unsere Maximen moralisch beurteilen können. Wir verändern also unser Wollen nicht bloß dadurch, dass wir hier zu einer größeren Deutlichkeit kommen (auch wenn dies gerade das Anliegen der Grundlegung ist: den Kategorischen Imperativ auf den Begriff bringen, um unsere moralische Praxis zu verbessern). Der Wille steht nicht in einer dienenden Beziehung zur Vernunft als dem Ursprung reiner Begriffe. Vielmehr ist er ein Vermögen sui generis. Der Wille (bzw. die Willkür) ist der Schnittpunkt von Gründen, die aus unserer Sinnlichkeit und aus unserer Vernunft stammen.²¹ Der Wille steht nicht nur unter dem Gesetz der Natur, er steht auch unter dem Vernunftgesetz, aber er steht eben unter diesen beiden Gesetzesarten so, dass er sich selbst zum Handeln bestimmen muss. Der freie Wille ist nach Kant ein zufälliger Wille. Wir können seiner Auffassung nach nicht erklären, warum wir uns im vollen Wissen um unsere moralischen Verbindlichkeiten entweder für oder gegen unsere Pflicht entscheiden. Wir können nur feststellen, dass wir uns oftmals gegen unsere Pflicht entscheiden, und zwar mit dem Argument, dass das Moralgesetz Ausnahmen zugunsten unserer Neigungen zulässt. Was für Schelling die „Pest aller Moral“ (2008, S. 111) ist, stellt für Kant eine Tatsache unserer menschlichen Existenz dar.²² Unsere moralischen Entscheidungen erklären zu wollen, hieße entweder, den Menschen zu naturalisieren, d. h. seine Entscheidungen durch die mechanischen Gesetze der Natur erklären zu wollen. (Das wäre vielleicht die Alternative, die ein Humeaner wählen würde.) Oder es würde bedeuten, Natur als Freiheit zu denken. Man müsste, wie es der Autor des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus formuliert, der Physik „Flügel“ (Hegel 1979, S. 234) verleihen und die mechanistische Auffassung der Natur dem Freiheitsbegriff opfern. Mit seiner Absage an eine Erklärung menschlicher Willensbestimmungen möchte Kant nicht in Abrede stellen, dass es eine Natur jenseits ihrer mechanistischen Interpretation gibt. Wir müssen die Natur auch als einen Ort verstehen dürfen, an dem wir das tun können, was wir moralisch tun sollen. Aber dieser Begriff der Natur setzt, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft zu zeigen versucht, den Begriff der reinen praktischen Vernunft voraus.Weil Wolff keinen Unterschied zwischen dem praktischen und dem theoretischen Gebrauch der Vernunft zu machen vermag, entgeht ihm dieser Begriff einer Natur, die einzig und allein aus
In der zweiten Kritik lesen wir: „[…] weil der Wille nicht bloß unter dem Naturbegriffe, sondern auch unter dem Freiheitsbegriffe steht, in Beziehung auf welchen die Prinzipien desselben Gesetze heißen“ (AA 5, S. 172). Zum Begriff der libertas indifferentiae bei Kant und seiner Unterscheidung zwischen Wille und Willkür siehe Klemme (2013).
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unserer menschlichen Perspektive betrachtet unseren Absichten entsprechend als zweckmäßig zu beurteilen ist. Mit der reinen Vernunft haben wir zwar das Vermögen der Begriffe kennengelernt, durch die sich der Wille zum Handeln bestimmen kann. Aber wir haben noch nicht verstanden, warum es für uns so wichtig sein sollte, unsere Maximen aus ihrer Perspektive zu beurteilen und entsprechend zu handeln. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass Kant von zwei Annahmen ausgeht: Erstens, dass unser Wille insofern ein freier Wille ist, als er sich durch die Vorstellung von Begriffen sich selbst zum Handeln bestimmen kann, und zweitens, dass die Vernunft diesem Willen Begriffe bereitstellt, aufgrund derer der Wille sich selbst nicht nur dem Vermögen nach, sondern vielmehr in der Tat in seiner Freiheit erhält. Bestimmt sich der Wille durch Begriffe der natürlichen Welt (Natur), bleibt der Wille seiner Möglichkeit nach zwar frei, unterwirft sich im Akt seiner Selbstbestimmung aber der Natur. In diesem Falle lässt er sich durch die Gesetzlichkeit der Natur zum Handeln bestimmen, er ist heteronom. Bezeichnet Kant den Willen als unbedingt gut, möchte er damit zum Ausdruck bringen, dass wir es vernünftigerweise vorziehen, als ein potentiell frei handelndes Wesen auch tatsächlich frei zu handeln. Bestimmt sich der Wille durch die Begriffe der Vernunft, ist er nichts anderes als Vernunft, die praktisch wird. Verpflichtet zu sein, bezeichnet das Verhältnis eines Willens zu sich selbst, der zugleich unter dem Gesetz der Vernunft und der Natur steht. Wir sind verpflichtet, dem Moralgesetz im Gebrauch unserer Vernunft zu folgen, weil uns die Vernunft als Menschen (Sinnenwesen) entsprechend bestimmt. Diesen Akt des praktischen Bestimmtseins durch die reine Vernunft nennt Kant Nötigung.²³ Wir sind uns bewusst, nach Begriffen der reinen Vernunft handeln zu sollen, weil der freie Wille sich durch eine Vernunft bestimmt wahrnimmt, die im Gebrauch dieses Willens zur Geltung kommen will. Kant geht also davon aus, dass die Vernunft ein Interesse daran nimmt, im Gebrauch unseres freien Willens berücksichtigt zu werden. Warum die Vernunft ein Interesse daran nimmt, d. h. warum wir als Menschen ein Interesse daran nehmen, uns selbst durch ein Gesetz der Kausalität zum Handeln zu bestimmen, dessen einziger Zweck darin besteht, sich selbst als ein autonomes Subjekt zu
Zwar greift bereits Baumgarten den Begriff der Nötigung (necessitatio, coactio: Erzwingung, Zwang) bei seiner Definition der Verbindlichkeit auf und verweist auf einen zwischen Vernunft und Fleisch bestehenden Streit oder Dissens. Aber Baumgartens Begriff der Nötigung ist rein psychologisch zu verstehen: Ich folge in Freiheit demjenigen Vermögen, das nach meiner den Streit schlichtenden Überlegung (deliberatio) die Oberhand gewonnen hat (vgl. Baumgarten 2011, §§ 693, 696, 697, 714, 727). Völlig fremd ist Baumgarten schon allein deshalb der Begriff einer Nötigung meiner selbst durch die reine praktische Vernunft, weil er nicht streng zwischen dem unteren und dem oberen Begehrungsvermögen unterscheidet.
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gestalten und zu erhalten, entzieht sich unserem Wissen. Man kann diesen Gedanken auch so formulieren: Nach Kant sind Menschen bloß deshalb bereit, nur nach solchen Maximen zu handeln, die sich zu einer gedachten allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren, weil sie vernünftig sein wollen. Sie nehmen ein Interesse an ihrer Vernunft. Genau darin scheint die Pointe von Kants Moralphilosophie zu liegen: Wir nehmen ein praktisches Interesse daran, Urheber unserer Handlungen zu sein, und nichts schreckt uns mehr ab als der Gedanke, uns selbst zu verlieren. Im Zentrum von Kants Philosophie der Freiheit steht der Begriff eines Subjekts, das dasjenige tun kann, was es aufgrund seiner Vernunft tun soll, und das sich an das Moralgesetz gebunden denkt oder fühlt, gerade weil der Verlust dieser Fähigkeit als summum malum der eigenen Existenz begriffen wird. Hiermit einher geht der Gedanke, dass wir in praktischer Hinsicht Anlass haben, uns als in dieser Natur kausal wirksam zu begreifen. Kant führt hierfür zwei Argumente an: Das erste Argument verweist auf die Selbsterfahrung: Handeln wir unter der Idee der Freiheit, stellen wir fest, dass wir dies auch können.Wir denken uns nicht nur als unter der Idee der Freiheit handelnd. Vielmehr machen wir die Erfahrung, dass der freie Wille eine von den „Naturursachen in der Welt“²⁴ ist. Wir haben Anlass, uns selbst als Urheber²⁵ unserer Handlungen zu begreifen. Wäre es uns nicht möglich, unseren eigenen Willensentschluss als Ursache von Handlungen in Raum und Zeit zu begreifen, wäre die ganze Moral chimärisch. Denn Verbindlichkeit ohne Freiheit gibt es nicht. Das zweite Argument ist am Schnittpunkt zwischen praktischer und theoretischer Philosophie angesiedelt. Kant zeigt sich davon überzeugt, dass die Wirklichkeit der Idee der Freiheit zwar in praktischer, aber nicht in theoretischer Hinsicht beweisbar ist. Könnten wir jedoch theoretisch die Unmöglichkeit der Idee
AA 5: 171; vgl. AA 5: 468 („Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunftidee (die an sich keiner Darstellung in der Anschauung, mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit fähig ist) unter den Tatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Realität, als einer besonderen Art von Kausalität (von welcher der Begriff in theoretischem Betracht überschwenglich sein würde), sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung dartun läßt.“), AA 5: 474 (die Idee der Freiheit ist „der einzige Begriff des Übersinnlichen […], welcher seine objektive Realität (vermittelst der Kausalität, die in ihm gedacht wird) an der Natur durch ihre in derselben möglichen Wirkung beweist“) und AA 5: 475 („zum Freiheitsbegriffe, der seine Realität durch die Kausalität der Vernunft in Ansehung gewisser durch sie möglichen Wirkungen in der Sinnenwelt, die sie im moralischen Gesetze unwiderleglich postuliert, hinreichend dartut.“). In der Schulz-Rezension weist Kant darauf hin, dass uns nach Maßgabe des Fatalismus „nichts übrig bleibt, als abzuwarten und zu beobachten, was Gott vermittelst der Naturursachen in uns für Entschließungen wirken werde, nicht aber was wir von selbst als Urheber thun können und sollen“ (AA 8: 13; zu dieser Rezension siehe auch Klemme 2015).
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der Freiheit beweisen, müssten wir sie aufgeben. Kant beansprucht in der Auflösung der dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft nun, auf der Grundlage des Transzendentalen Idealismus die Unmöglichkeit eines Unmöglichkeitsbeweises der Idee der Freiheit beweisen zu können. Der Fatalist beansprucht die Unmöglichkeit unserer Freiheit mit den Mitteln der theoretischen Philosophie beweisen zu können, übernimmt sich aber strukturell mit diesem Anspruch.²⁶ Kommen wir noch einmal auf den Zusammenhang von Urheberschaft und Selbstbesitz zu sprechen. Warum können wir uns keine Vernunft denken, die in einem mit einem Willen begabten Wesen nicht praktisch ist? Dieser Gedanke ist für uns nicht möglich, weil sich die Vernunft „selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen [muß], unabhängig von fremden Einflüssen, folglich²⁷ muß sie als praktische Vernunft oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden, d.i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.“²⁸ Man könnte dies Kants performative Deduktion der Idee der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft nennen: Betrachten wir uns als Urheber unserer Handlungsprinzipien (Maximen), können wir dies nur unter der Idee der Freiheit tun. Diesen Anspruch auf Urheberschaft können wir nicht aufgeben, ohne uns zugleich als Vernunftwesen zu negieren. Zur näheren Kennzeichnung dieses Gedankens ist es hilfreich, sich kurz Kants Überlegungen zum Gefühl der Lust und Unlust zuzuwenden.²⁹ In der Anthropologie-Mrongovius ³⁰ vom Anfang der achtziger Jahre definiert er das Gefühl der Lust oder Unlust im Näheren als Empfindsamkeit, als Gefühl und als Gemütsbewegung
Siehe zu diesem Punkt umfassend Klemme (2014b). Zur Interpretation von „folglich“ siehe Henrich (1975, S. 68 – 69), der eine Parallele zur SchulzRezension zieht, in der Kant von einem „eben so“ (AA 8: 14) spricht. Dabei „verwischt“ Henrich allerdings „die Unterschiede zwischen theoretischer und praktischer Vernunft“ (Steigleder 2002, S. 83). AA 4: 448. In der zweiten Kritik schreibt Kant: „Dieses Prinzip der Sittlichkeit nun, eben um der Allgemeinheit der Gesetzgebung willen, die es zum formalen obersten Bestimmungsgrunde des Willens, unangesehen aller subjektiven Verschiedenheiten derselben, macht, erklärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetze für alle vernünftigen Wesen, so fern sie überhaupt einen Willen, d.i. ein Vermögen haben, ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen“ (AA 5: 32). Ich übernehme im Folgenden einige Textpassagen aus Klemme (2014, S. 83 ff.). In der Anthropologie lautet die allgemeine Einteilung dieses Vermögens: „1) die sinnliche, 2) die intellectuelle Lust. Die erstere entweder A) durch den Sinn (das Vergnügen), oder B) durch die Einbildungskraft (der Geschmack); die zweite (nämlich intellectuelle) entweder a) durch darstellbare Begriffe oder b) durch Ideen, – und so wird auch das Gegentheil, die Unlust, vorgestellt.“ (AA VII 230)
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bzw. als Affekt. „Empfindsamkeit ist die Fähigkeit Lust oder Unlust zu empfangen. Gefühl ist der Zustand wo man Lust oder Unlust fühlt. Gemüthsbewegung ist ein Gefühl der Lust oder Unlust das unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Macht sie uns unvermögend diese Empfindung mit der Summe aller Empfindungen zu vergleichen so ists Affect. Er setzt uns außer Fassung macht uns unvermögend unsere Gemüthskräfte willkürlich zu dirigiren. Er zwingt uns seine Aufmerksamkeit bloß auf ihn und auf nichts anders zu richten.“ (AA 25, S. 1340) Demnach bezeichnet die Empfindsamkeit ein Vermögen, das im Gefühl aktualisiert oder realisiert wird. Zieht ein Gefühl unsere Aufmerksamkeit auf sich, bewirkt es eine Gemütsbewegung. Ist das Gefühl so stark, dass es unsere gesamte Aufmerksamkeit auf sich zieht und uns unfähig macht, es „mit der Summe aller Empfindungen zu vergleichen“, handelt es sich um einen Affekt der Freude oder des Missvergnügens. Zu den Affekten gehören die Scham, der Zorn, die Traurigkeit sowie die Furcht, die sich ihrerseits als „Angst, Bangigkeit, Grauen, Entsetzen“ (AA 25, S. 1345) materialisieren kann. In der Anthropologie-Dohna (1791/92?) bringt Kant das Entsetzen mit dem Verlust des Selbstbesitzes in Verbindung: „Beim Entsetzen hat der Mensch schon allen Selbstbesitz verlohren.“³¹ Weil das Entsetzen den größten Schaden verursacht, können wir es als den schlechtesten Affekt bezeichnen, der uns nach Kant affizieren kann. Er ergreift von unserem ganzen Selbst Besitz und vernichtet es – also auch unsere Vernunft.Wer sich selbst verliert, der ist zu einem auf Tugend und Glück (dem „höchsten moralisch-physischen Gut“, AA 7, S. 277) zielenden Handeln nicht mehr in der Lage. Über die Bedeutung des Selbstbesitzes äußert sich Kant bereits in der Anthropologie-Collins (1772– 73) in folgender Weise: „Der Selbstbesitz (animus sui compos), der Gott der Stoiker ist viel erhabener, als das stets fröhliche Gemüth des Epikur, denn ist man Meister über sich selbst, so ist man auch Herr über sein Glück und Unglück.“³²
Das vollständige Zitat lautet: „Furcht ist eine Art von kränklichem Zustande – Bangigkeit, Angst, Traurigkeit, Grauen – Entsetzen sind verschiedene Ausbrüche der Furcht. Beim Entsetzen hat der Mensch schon allen Selbstbesitz verlohren.“ (Anthropologie- Dohna, S. 232, unveröffentlicht) Wenn ich richtig sehe, wird in keiner Druckschrift Kants die Bedeutung des Selbstbesitzes (unter diesem Namen) ähnlich stark hervorgehoben.– Sachlich verwandt mit diesen Überlegungen sind Kants Ausführungen zum angeborenen Freiheitsrecht in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten (vgl. AA 6, S. 237– 238). AA 25, S. 68 – 69. In der Anthropologie-Collins (1772/73) wird dieser Gedanke mit dem Begriff der „Herrschafft der freyen Willkühr“ ausgedrückt: „In der Macht der freyen Willkür, alle übrige actus unseres Vermögens in uns beliebig zu exerzieren und zurückzuhalten, hierin besteht das gröste Glück der Welt. Denn gesezt, es stößt mir das gröste Ubel zu, bin ich nur im Stande von meinen Vorstellungen zu abstrahiren, habe ich Macht, Vorstellungen gleichsam nach belieben zu verbannen, und andere herzu zu rufen, so bin ich gegen alle gewafnet und unüberwindlich. Die
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Ohne Übertreibung können wir sagen, dass der Verlust des Selbstbesitzes auch nach Ansicht Kants das summum malum unseres Lebens ist. Dem Erhalt unserer selbst gilt unsere erste Sorge. Inhaltlich verwandt mit dem Selbstbesitz ist die von Kant häufig erörterte „Achtung vor sich selbst“ (AA 6, S. 399, 459, 462), die „Selbstschätzung“ (AA 5, S. 73, 79, 128 u. ö.) und die „Selbstbilligung“ (AA 5, S. 81) und damit seine Lehre von der Würde des Menschen und der Menschheit in mir. Wer sich selbst achten will, darf sich jedoch zuvor nicht verloren haben. Insofern geht der Selbstbesitz Fragen der Selbstachtung vorher. Kants Begriff des Selbstbesitzes bezieht sich auf den ganzen Menschen. Wir nehmen ein Interesse daran, im Gebrauche unserer freien Willkür zu sein, weil wir ein selbstbestimmtes, auf unser Glück zielendes Leben führen wollen, und wir nehmen ein Vernunftinteresse an diesem Gebrauch, weil unsere Vernunftfähigkeit im Sinne der Urheberschaft oder Autorschaft unserer Handlungen ein solches Gut ist, das wir zwar durch eigenes Handeln oder Geschick nicht bewirken, wohl aber vernichten könnten. Der letzte Zweck unseres Handelns ist die sich in unserer Urheberschaft ausdrückende und unter dem Moralgesetz stehende Freiheit. Sie bezeichnet die Grenze, innerhalb derer wir tun und lassen können, was uns gut und wertvoll zu sein scheint. Kants Wertschätzung für unsere Fähigkeit, uns selbst zum Handeln bestimmen zu können, geht so weit, dass er ihrer Erhaltung nicht nur die höchste moralische Verbindlichkeit zuspricht. Er sieht in ihr auch unser höchstes Glück. Dazu führt er in einer Reflexion aus: „In der Macht der freyen Willkür, alle übrige actus unseres Vermögens in uns beliebig zu exerzieren und zurückzuhalten, hierin besteht das gröste Glück der Welt. Denn gesezt, es stößt mir das gröste Ubel zu, bin ich nur im Stande von meinen Vorstellungen zu abstrahiren, habe ich Macht,Vorstellungen gleichsam nach belieben zu verbannen, und andere herzu zu rufen, so bin ich gegen alle gewafnet und unüberwindlich. Die Oberste Herrschafft der Seele, die auch kein Mensch aufzugeben vermag, ist die Herrschafft der freyen Willkühr.“ (AA 15, S. 29 – 30) Man könnte auch sagen: Die Freiheit ist nicht alles, aber ohne Freiheit ist alles nicht viel wert. Kants Gedanke einer vorbehaltlosen Wertschätzung unserer selbst als eines Gebots zugleich unserer reinen Vernunft und unserer auf unsere Glückseligkeit zielenden Klugheit findet seine Entsprechung in Kants Lehre vom angeborenen Freiheitsrecht³³ in der Rechtslehre. Es mag lohnend scheinen, auf sie kurz einzugehen. Denn während die Ethik vom guten Willen handelt, thematisiert Kant in
Oberste Herrschafft der Seele, die auch kein Mensch aufzugeben vermag, ist die Herrschafft der freyen Willkühr.“ (AA 15, S. 29 – 30) „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“ (AA 6, s. 237)
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der Rechtslehre die Grundlagen und Grenzen des zwangsbewährten Rechts. Begnügt sich die Ethik mit einem Begriff der Verbindlichkeit, dem Rechnung zu tragen jedem Willensentschluss einer jeden einzelnen Person überantwortet bleibt, tritt das Recht als Zwangsinstitution auf. Nicht der gute Wille allein, der Staat als Zwangsinstitution steht unter der Verbindlichkeit, die Befolgung von Gesetzen zu garantieren, die speziell den äußeren Freiheitsgebrauch von Personen ermöglichen, indem sie ihn gesetzlich einschränken. Typisch für das Verhältnis von Ethik und Recht sind hier drei Aspekte: Erstens können die Rechtsinhalte nicht direkt aus dem Kategorischen Imperativ abgeleitet werden, zweitens können sie selbst mit dem Anspruch auf allgemeine Befolgung auftreten, wenn sie nicht dem Ideal des Vernunftrechts genügen, und drittens schließlich kann ein Rechtsinhalt nur dann mit dem Anspruch auf faktische Geltung auftreten, wenn er auch institutionalisiert worden ist. Die positivrechtliche Wirksamkeit von Rechtsinhalten beruht auf einer Willensbekundung der Legislative. Dies bedeutet nach Kant aber auch, dass nur diejenigen Rechtsinhalte nach Maßgabe des Vernunftrechts positiviert werden sollen, die mit der Zustimmung der von ihnen Betroffenen rechnen können. Schließlich ist es die Freiheit der Bürger, die durch die Gesetze eingeschränkt werden, und zwar in der Absicht, ihre reale Freiheit zu ermöglichen. Genau an dieser Stelle kommt das angeborene Freiheitsrecht ins Spiel. Es legt fest, wer wem gegenüber in welcher Hinsicht begründungspflichtig ist. Das angeborene (d. h. nicht erworbene) Recht der Freiheit bringt zum Ausdruck, dass derjenige, der behauptet, ein erworbenes Recht zu haben, hierfür den Nachweis [„die Beweisführung (onus probandi)“, AA 6, S. 238] erbringen muss. Begründungsbedürftig ist also nicht mein Recht, freien Gebrauch von meiner Willkür zu machen, begründungsbedürftig ist vielmehr die gesetzliche Einschränkung dieser Freiheit. Das angeborene Freiheitsrecht beruht auf keiner ominösen Eigenschaft abstrakter Subjekte, sondern speist sich aus unserer Fähigkeit, uns selbst im Gebrauche unserer äußeren Handlungsfähigkeit durch Gründe zum Handeln bestimmen zu können (und dies prinzipiell auch zu wollen), die rechtfertigungsfähig sind. Man darf dieses Recht nicht ontologisch, als Wertbegriff, sondern man sollte es als einen Funktionsbegriff verstehen, der für alle diejenigen unmittelbar einsichtig und verbindlich ist, die sich seiner bedienen. Das Freiheitsrecht begründet sich selbst durch seinen Gebrauch für denjenigen, der es für sich in Anspruch nimmt. Wer unter der Idee der Freiheit sich selbst bestimmt, der fragt nach Begründungen für Freiheitseinschränkungen. Begründungen können beispielsweise in Gestalt von Tatsachen gegeben werden. So sind nicht nur die begrenzten räumlichen Ressourcen unserer irdischen Existenz unmittelbar rechtlich relevant, rechtlich relevant sind auch unsere religiösen, kulturellen und geschichtlichen Erfahrungen. So macht Kant in seinen geschichtsphilosophischen Arbeiten darauf aufmerksam, dass selbst unser Verlangen nach
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Freiheit und politischer Selbstbestimmung eine kontingente Vorgeschichte hat. Das Verlangen nach einem politischen Gemeinwesen, in dem die Bürger sich selbst das Gesetz geben, kann durch kein Machtwort der Vernunft erzwungen werden, sondern reift in einem geschichtlichen Prozess, der uns politische Autonomie als Alternative zu einem armseligen, elenden und kurzen Leben zu begreifen erlaubt. Nur weil Freiheit auch missbraucht werden kann, kann unser Verlangen nach ihrer gesetzlichen Bestimmung reifen. Kant drückt diesen Gedanken in seinem Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht wie folgt aus: Die Vernunft wirkt „nicht instinktmäßig, sondern bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählich fortzuschreiten“ (AA 8, S. 19). In seinen geschichtsphilosophischen Arbeiten federt Kant somit den kategorischen Geltungsuniversalismus von Moral und Vernunftrecht auf der Menschheitsebene ab: Menschenrechte gelten zwar universell, aber ohne entsprechende „Versuche, Übung und Unterricht“ können wir eben nicht erwarten, dass sie von allen erkannt und damit anerkannt werden. Entscheidend für den rechtsgeschichtlich diagnostizierbaren Fortschritt ist der Gedanke eines Rechts, dass man sich in Gestalt des angeborenen Freiheitsrechts selbst nehmen muss.
4 Schluss Die reine Vernunft beginnt ihr normatives Geschäft, nachdem wir ein empirisches Wissen über uns und die Welt erworben haben. Unser natürliches Streben nach der Befriedigung unserer Begierden und Neigungen setzt unsere Fähigkeit voraus, von uns selbst ein Bild zu machen. Wir erforschen uns in der Absicht, einen Weg durch unser Leben zu finden, der es wert ist, beschritten zu werden. Ob uns dies gelingt, muss offen bleiben. Insbesondere muss offen bleiben, ob die Dinge, die wir bevorzugen, auch von anderen Personen bevorzugt werden. Die einzige Ausnahme stellt das Streben nach dem Erhalt der Fähigkeit dar, uns selbst zum Handeln bestimmen zu können. Selbstbestimmung und Selbsterhalt unserer Vernunftfähigkeit findet im Medium von Gründen statt, die in ihrer Abstraktheit von allen Personen gebilligt werden können und müssen, weil sie Bedingungen darstellen, unter denen Menschen Personen sein können. Ob diese Gründe in Gestalt von Pflichten in der Weise durch die Anwendung des Moralgesetzes auf unsere Maximen erkannt werden können, wie Kant meinte, scheint mir zumindest offen zu sein. Bei Fragen der Bioethik beispielsweise wäre aber zu beachten, dass die Reichweite des guten Willens von vornherein begrenzt ist. Bioethische Probleme sind immer auch Rechtsprobleme und bedürfen einer Entscheidungsfindung, die sich vom Typus her prinzipiell von Kriterien eines guten Willens un-
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terscheiden. Hier ist vor allem daran zu erinnern, dass es nicht der Begriff der Würde des Menschen ist, der zum letzten sowohl formalen wie inhaltlichen Kriterium der Geltung von Rechtsinhalten erhoben werden kann. Insbesondere ist es nach Kant nicht möglich, aus dem Begriff der menschlichen Natur allein auf spezifische Rechtsinhalte zu schließen. Kant mag der große alte Mann des Kategorischen Imperativs und vielleicht auch des angeborenen Freiheitsrechts sein. Aber er ist auch ein Skeptiker: Die Natur mag einen Ort für unsere Freiheit vorsehen, aber sie ist nicht auf eine Versöhnung zwischen Mensch und Natur angelegt. Wir können froh sein, wenn wir mit einem blauen Auge davonkommen. Wittgenstein fragt, was der Fall ist, wenn ich nicht tue, was ich tun soll. Die Antwort lautet: Begrifflich betrachtet handeln wir dann selbst-widersprüchlich. Wir negieren durch unser Wollen und Handeln die Voraussetzung, unter der allein wir uns selbst als freie und verantwortliche Subjekte unseres Tuns begreifen können. Das mag aus der Perspektive unseres Glückstrebens nicht viel sein, es ist aber auch nicht nichts. Vor allem im Bereich des Rechts ist die freiheitsermöglichende Widerspruchsfreiheit des Gesetzes (im Sinne seiner allgemeinen Zustimmungsfähigkeit) normativ alternativlos. Weil das zwangsbewehrte Recht die einzige Institution ist, die eine gesetzmäßige und allgemeine Übereinstimmung unserer äußeren Handlungsfreiheit zum Ziel hat, ist der Verstoß gegen die aus dem Recht der Menschen erwachsenen Rechtspflichten gleichbedeutend mit unserem Wunsch, uns anderen Menschen als bloßes Objekt ihrer Willkürfreiheit anzubieten. Kant hatte Recht: „Das größte Problem für die Menschengattung […] ist die Erreichung einer allgemeinen das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft.“ (AA 8, S. 22)
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Markus Rothhaar
Natürliche Zwecke und vernünftige Normen I
Führt man sich die zeitgenössischen Diskurse über die Grundlagen der Normativität vor Augen, so wird man feststellen, dass zumindest in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ansätze dominiert haben, die im weitesten Sinn in der Tradition Kants stehen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass die Normen menschlichen Zusammenlebens sich aus den formalen, auf Verallgemeinerbarkeit ausgerichteten Bestimmungen der Vernunft und/oder der Kommunikation ergeben sollen. Obgleich der starke Vernunftbegriff Kants in den meisten dieser Ansätze zugunsten eines Rekurses auf die Fähigkeit, aus Gründen zu handeln und sich mit Gründen zu rechtfertigen „depotenziert“ und „prozeduralisiert“ wurde¹, bleiben die betreffenden Modelle doch letztlich dem kantischen Gedanken einer auf die Form der Universalisierbarkeit abhebenden Ethikbegründung und -anwendung verhaftet. Selbst der scheinbar der kantianischen Tradition entgegengesetzte Utilitarismus hat in der Form des Regelutilitarismus eine Konzeption hervorgebracht, die ohne den Gedanken der Universalisierbarkeit von Handlungsregeln kaum sinnvoll zu denken ist. Habermas bringt den dahinterstehenden Konsens auf den Punkt, wenn er schreibt: „Interessanterweise stoßen Autoren verschiedener philosophischer Herkunft bei dem Versuch, ein solches Moralprinzip anzugeben immer wieder auf Grundsätze, denen dieselbe Idee zugrunde liegt. Alle kognitivistischen Ethiken knüpfen nämlich an jene Intuition an, die Kant im Kategorischen Imperativ ausgesprochen hat“ (Habermas 2009, S. 57). Die Verbindlichkeit, wie auch der Inhalt von Handlungsnormen ergeben sich nach jener Grundintuition aus der Zustimmung aller von einer Handlung Betroffenen zu derjenigen Handlungsregel, auf der die Handlung beruht². Dabei gibt es dann insofern verschiedene Varianten, als einige Ansätze auf eine prinzipielle, sich aus der allgemeinen Form der Vernunft ergebende Zustimmungsfähigkeit abheben, während andere, wie die Dis-
So neben Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas exemplarisch auch Rainer Forst 2007, Charles Larmore 2008 und T.M. Scanlon 1998. Ich rede in diesem Zusammenhang bewusst von einer Zustimmung zu Handlungsregeln und nicht von einer Zustimmung zu Handlungen, da überhaupt nur Handlungsregeln universalisierbar sein können, nicht aber Handlungen als solche. Die Forderung, eine „Handlung“ zu universalisieren, wäre offenkundig logisch unsinnig.
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kursethik in der Habermas’schen Variante, auf eine Kombination von faktischen Konsensen und kontrafaktischen Diskursbedingungen setzen – mit allen Aporien, die ein solches Vorgehen mit sich bringt. Beiden Varianten gemeinsam ist dann allerdings wieder, dass eine Handlungsregel, d. h. eine Norm, dann und genau dann als ethisch richtig bzw. als legitim gilt, wenn sie universalisierbar oder zustimmungsfähig ist, sei die Universalisierbarkeit nun mittels Vernunftgründen aufgewiesen oder durch faktischen Konsens belegt. Universalisierbarkeit wird in beiden Fällen also als diejenige Eigenschaft einer Handlungsregel betrachtet, die deren Legitimität bzw. ethische Richtigkeit herstellt. Für diesen Weg der Normenbegründung stellt der seit einigen Jahren zunehmend vertretene „Neo-Aristotelismus“ in der Ethik – und im Übrigen auch der politischen Philosophie – eine Herausforderung dar, die Michael Thompson zugespitzt formuliert, wenn er schreibt, das (neo)aristotelische Verständnis der Praxis zeichne sich „durch eine Skepsis gegenüber Kants Annahme aus, es gebe ein praktisches Gesetz, das den ganzen Kosmos zu durchdringen und überall Handlungen zu begründen vermag.“ (Thompson 2011, S. 16) Vielmehr bildet laut Thompson für den (Neo)Aristoteliker „die Lebensform, die ich manifestiere, die höchste Allgemeinheit, die meine Bemerkungen [zu Fragen des richtigen Handelns und der richtigen Lebensführung] beanspruchen können.“ (Thompson 2011, S. 15) Auf den ersten Blick ließen sich diese Ausführungen dahingehend auslegen, dass nicht die Vernunft das „Allgemeine“ sei, von dem die Ethik ausgeht, sondern die jeweils spezies-typische Lebensform. Die „Lebensform“ würde danach einfach an die Stelle der Vernunft als oberster möglicher Allgemeinheit treten. Eine solche Interpretation würde aber übersehen, dass die systematische Rolle der Allgemeinheit in beiden Ansätzen eine völlig andere ist. In den kantianisch inspirierten „Universalisierungsethiken“ nämlich bildet, wie bereits ausgeführt, die Verallgemeinerbarkeit einer Handlungsregel diejenige Eigenschaft der Regel, die diese Regel – und in der Folge jede dieser Regel gemäße Handlung – zu einer ethisch richtigen bzw. legitimen Regel macht. Im zeitgenössischen neoaristotelischen Naturalismus ist es dagegen weder die Verallgemeinerbarkeit, noch die Allgemeinheit selbst diejenige Eigenschaft, die eine Handlung, eine Handlungsregel oder eine Beschaffenheit zu einer „guten“ macht, sondern die Übereinstimmung der Handlung, Regel oder Beschaffenheit mit der „speziestypischen Lebensform“. Diese „Lebensform“ ist dann zwar je „allgemein“, in dem Sinn, dass sie die Lebensform jedes Exemplars einer Spezies ist. Die „good-making property“ ist aber gerade nicht „Verallgemeinerbarkeit/Allgemeinheit von X“, sondern „Übereinstimmung mit X“, wobei X etwas in schon vorgegebener Weise „Allgemeines“ ist. Mit dieser Überlegung eröffnet sich eine Debatte, die als der Streit zwischen „Aristotelikern“ und „Kantianern“ einerseits lange bekannt ist, die andererseits aber mit Thompsons sprachanalytisch beeinflusster Reformulierung des Gedan-
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kens der „speziestypischen Lebensform“ auf eine neue Ebene gehoben wird. Die Frage, die hier wieder auftaucht, ist nichts weniger als die Frage nach dem Grund der normativen Ethik überhaupt: Ist dieser Grund in einer immanenten Normativität von Lebensprozessen oder in einer immanenten Normativität der Vernunft zu suchen? Ich will diese Frage in drei Schritten zu beantworten versuchen. Zunächst möchte ich anhand von Foots Ansatz zeigen, dass der zeitgenössische „neoaristotelische Naturalismus“ sich entweder auf einen problematischen evolutionsbiologischen Naturalismus zurückziehen muss oder aber genau da tautologisch wird, wo er über den Bereich der nichtmenschlichen Lebewesen hinaus Geltung beansprucht. Diese Kritik soll es mir ermöglichen, genauer zu identifizieren, wo die Probleme des Neoaristotelismus à la Foot und Thompson zu verorten sind. Auf dieser Grundlage will ich dann schließlich im dritten Schritt versuchen, im Rückgriff auf Hegel eine Alternative jenseits der Dichotomie von „neoaristotelischnaturalistischer“ Ethik und „formaler Universalisierbarkeitsethik“ aufzuzeigen.
II Ich komme zum ersten Punkt: Philippa Foot greift in ihrem Hauptwerk „Die Natur des Guten“ bekanntlich auf Michael Thompsons Gedanken der „Aristotelischen Notwendigkeiten“ („aristotelian categoricals“)³ als einer Urteilsform zurück, die es erlaubt, gelungene von defektiven Lebensvollzügen oder sogar „defekten“ Exemplaren einer jeweiligen Spezies zu unterscheiden. Als „gelungen“ gilt in diesem Zusammenhang alles, was geeignet ist, den typischen Lebenszyklus einer Spezies angemessen – oder gar optimal – zu verwirklichen. Dabei sind die materialen Zwecke, die hinter diesen „Lebenszyklen“ stehen und von denen her sich folglich die Möglichkeit des normativen Urteils ergibt, bei nicht-menschlichen Lebewesen die Selbsterhaltung und die Reproduktion, also letztlich die individuelle Selbsterhaltung und diejenige der Spezies: Das Gut der Eiche ist ihr individueller und reproduktiver Lebenszyklus – was sie für diesen Zyklus braucht, zählt in ihrem Fall als eine Aristotelische Notwendigkeit. Da sie sich nicht wie ein Schilfhalm im Wind biegen kann, ist die Eiche nur dann so, wie sie sein sollte, wenn sie tiefe und kräftige Wurzeln hat. (Foot 2004, S. 69)
Vgl. Zu diesem Konzept Thompson 2011, insbesondere S. 66 – 108, und Thompson 1995, S. 247– 269.
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Von den Zwecken der Selbsterhaltung des Individuums und der Spezies her bestimmt sich mithin, was „gut“ und was „schlecht“ bzw. „defektiv“ ist. Das hat Foots, und wohl auch Thompsons Auffassung nach, unter anderem die Folge, dass diese Begriffe nur spezies-relativ bestimmt werden können, da z. B. einem Hirsch andere „Methoden“ der Selbsterhaltung und Reproduktion eignen als einer Qualle. Bereits an dieser Stelle ist allerdings ein Einwand angebracht insofern zwar sicherlich die Wege und Methoden der Selbsterhaltung und Reproduktion bei verschiedenen Spezies verschieden sind, die Ziele des Lebensprozesses aber offenbar bei allen lebendigen Wesen als identisch betrachtet werden. Bereits das widerspricht aber eigentlich Thompsons weiter oben zitierter Behauptung, es gäbe kein spezies-übergreifendes Allgemeines. Unabhängig davon zeigt sich an dieser Stelle freilich auch die unbestreitbare Stärke des Ansatzes. Sie liegt darin, dass er den alten und im Grunde nicht abweisbaren, sondern allenfalls verschieden erklärbaren Gedanken einer immanenten Teleologie des Lebens bzw. von Lebensprozessen wieder aufgreift und dessen zentrale Konsequenz aufzeigt: Die Konsequenz, dass Aussagen über Lebewesen eine spezifische Form haben, die sich grundlegend von der Form von Aussagen über Unbelebtes unterscheidet. So weit ist Thompson und Foot uneingeschränkt zuzustimmen. Die größte Schwierigkeit des Ansatzes zeichnet sich allerdings auch schon ab. Sie ergibt sich da, wo die Vertreterinnen und Vertreter des „(neo)aristotelischen Naturalismus“ beanspruchen, diejenige Urteilsform, die für nicht-vernünftige Lebewesen gilt, ohne weiteres auch auf vernunftbegabte Lebewesen zu übertragen. Im Kern besagt diese These, dass die Form der Beurteilung, und sogar der Sinn der Begriffe „defektiv“ und „nicht-defektiv“ bzw. „schlecht“ und „gut“ in Bezug auf menschliches Handeln letztlich dieselben seien wie in Bezug auf die Lebensvollzüge von Pflanzen und Tieren, und zwar insofern, als der Maßstab des „Gelingenden“ und „Defektiven“ in der speziestypischen Lebensform zu suchen sei.⁴ Diese These ist nun allein schon deshalb problematisch, weil sie darauf beruht, einen entscheidenden Punkt systematisch auszublenden: die Tatsache, dass Menschen aufgrund ihres Subjektseins zu allen Zwecken, seien sie nun selbstgesetzt oder durch das Leben bzw. die Natur vorgegeben, zwangsläufig noch einmal in einem Verhältnis stehen. Sie können daher alle gegebenen Zwecke ihrerseits noch einmal bejahen oder verneinen, ja sie müssen dies sogar, denn anders als Tiere oder Pflanzen werden sie von ihren Zwecken nie unmittelbar bestimmt. Sich von einem Zweck
Foot bringt das unmissverständlich zum Ausdruck, wenn sie sagt: „Die Bewertungsstruktur ist also dieselbe, ob wir die Bewertung der Wurzeln eines bestimmten Baumes oder die Bewertung des Handelns eines bestimmten Menschen ableiten. Die Bedeutungen der Wörter „gut“ und „schlecht“ weichen nicht voneinander ab, wenn „gut“ bzw. „schlecht“ bei Merkmalen von Pflanzen einerseits und bei Menschen andererseits Verwendung findet (Foot 2004, S. 69)
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bestimmen zu lassen, ist bei Menschen daher ebenso eine Entscheidung wie die, sich von einem Zweck nicht bestimmen zu lassen.Um sich von einem Zweck bestimmen zu lassen, ist für ein vernunftbegabtes Wesen darum auch mehr erforderlich als dass nur der Zweck selbst in irgendeiner Weise „existiert“. Es bedarf vielmehr noch zusätzlich zur Existenz des Zwecks eines Grundes dafür, sich von diesem Zweck bestimmen zu lassen oder ihn zu verfolgen. Dieser Grund kann dann aber offenkundig nicht der Zweck selbst sein. Die damit aufgeworfene Frage nach den Gründen zur Verfolgung von Zwecken, und seien es natürliche Zwecke, hängt sodann unmittelbar mit einem zweiten Problem zusammen, das bei der Übertragung des „(neo)aristotelischen Naturalismus“ auf den Menschen entsteht. Dieses Problem lässt sich in der Form der Frage formulieren, welche „natürlichen Zwecke“ – denn diese sollen ja den Maßstab der Bewertung von etwas als „gut“ oder „schlecht“ abgeben – beim Menschen an die Stelle der Zwecke der Selbsterhaltung und der Reproduktion treten bzw. ob überhaupt etwas an ihre Stelle tritt. Bei der Lektüre von „Die Natur des Guten“ gewinnt man schnell den Eindruck, dass Foot die verschiedensten Möglichkeiten „durchprobiert“, ohne dabei zu einem für sie selbst befriedigenden Ergebnis zu kommen. Es ist dementsprechend sicherlich kein Zufall, dass diejenigen Philosophen, die an sie anknüpfen, sich an genau dieser Frage auch am meisten abarbeiten. Betrachten wir daher die verschiedenen Antwortmöglichkeiten genauer: Die erste Möglichkeit, die auch Foot ins Auge fasst, besteht darin, einfach dieselben „immanenten Lebenszwecke“ anzunehmen wie bei Tieren und Pflanzen, d. h. Selbsterhaltung und Reproduktion. Diese Lesart weist Foot zwar einerseits explizit zurück, wenn sie, zumindest im Hinblick auf die Selbsterhaltung, schreibt: „Die Teleologie des Menschen erschöpft sich nicht im Überleben allein.“ (Foot 2004, S. 64) Andererseits vertritt sie sie aber auch immer wieder einmal, insbesondere wenn sie anhand des Beispiels des Einhaltens eines Versprechens im Rückgriff auf Anscombe aufzuzeigen versucht, dass die Fähigkeit einander Versprechen zu geben und zu halten, deshalb „gut“ sei, weil sie Kooperation ermöglicht und damit für das menschliche Überleben und die Reproduktion der menschlichen Spezies von größter Bedeutung sei. Foot führt dazu aus: […] ein Versprechen halten ist eine spezifische Form, einer Vereinbarung nachzukommen. Man erkennt leicht, wieviel von der erforderten Vertrauenswürdigkeit abhängt, wenn man daran denkt, wie lange der menschliche Nachwuchs unselbständig ist und was es für die Eltern bedeutet, sich auf eine Versprechen verlassen zu können, dass die Zukunft ihrer Kinder für den Fall ihres Todes sichert. (Foot 2004, S. 67)
Mit dieser Überlegung vertritt die Verfasserin offenkundig ein funktionelles Verständnis der Institution des Versprechens; das Versprechen ist hier Mittel zur Erreichung bestimmter, dem Versprechen selbst äußerlicher Zwecke. Dieses Ver-
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ständnis ist aber alleine schon deshalb unplausibel, da es,wie schon erwähnt, den Umstand ausblendet, dass wir uns zu unseren Zwecken, auch und gerade zu den „Naturzwecken“ der Reproduktion und Selbsterhaltung, immer noch normativ vermittelt verhalten müssen und das bloße Vorhandensein von Zwecken insofern weder Grund, noch Rechtfertigung für eine Ausrichtung auf sie darstellt. Hinzu kommt ein Einwand, den Foot sich sogar selbst macht: der Einwand, dass die von ihr im Anschluß an Anscombe skizzierte funktionell-extrinsische Theorie des Versprechens „einen utilitaristischen Tenor“ (Foot 2004, S. 69) habe, der als solcher nicht mit dem (neo)aristotelischen Ansatz vereinbar sei. Dementsprechend weist sie jene Theorie auch sofort im Anschluss an die oben zitierten Ausführungen anhand einer von Bakunin berichteten Anekdote (Foot 2004, S. 69 ff.) wieder zurück, bei der durch den Bruch eines bestimmten Versprechens niemand zu Schaden gekommen wäre⁵. In der Folge vertritt sie dann im Gegensatz zum vorher gesagten die Ansicht, dass der Wert des Haltens eines Versprechens kein funktionell-extrinsischer sei, sondern ein intrinsischer, der sich aus dem Respekt vor dem anderen ergibt: „Ein erster Antwortversuch könnte in dem Gedanken liegen, dass Versprechen zum Bereich von Vertrauen und Respekt gegenüber anderen gehören.“ (Foot 2004, S. 71) Es scheint mithin, als sei Foot von der zunächst erwogenen Explikation des „Gutseins“ von Handlungen, Institutionen etc. als einer „Tauglichkeit zur Selbsterhaltung von Individuum und Spezies“ selbst nicht recht überzeugt. Für den zweiten Vorschlag, wie die Übertragung des Modells der „aristotelian categoricals“ auf vernunftbegabte Wesen zu denken sei, greift Foot noch einmal den Gedanken der typischen Lebensform einer Spezies auf, versieht ihn nun aber mit einem Verweis auf die praktische Rationalität als proprium des Menschen. Der Begriff „gut“ bezeichnet demnach immer noch das, was dazu beiträgt oder darin besteht, die typische Lebensform einer Spezies zu verwirklichen und „schlecht“ dasjenige, was dazu führt, dass die typische Lebensform einer Spezies nicht oder in minderer Weise verwirklicht wird. Unter der „typischen Lebensform“ wird nun aber nicht mehr ein bestimmter Lebenszyklus verstanden, der auf die Zwecke der Selbsterhaltung und Reproduktion ausgerichtet ist, sondern „praktische Rationalität“ (Foot 2004, S. 76 – 92), die wiederum expliziert wird als eine Ausrichtung auf das „menschliche Wohl“⁶:
Für eine ausführliche Diskussion der Implikationen dieser Überlegungen Foots für die Struktur ihrer Theorie vgl. Schaber 2010. Bezeichnend ist, dass Foot an dieser Stelle einen Ausdruck benutzt, der nicht zwischen dem Wohl des je Handelnden und dem Wohl der je anderen Menschen bzw. dem Gemeinwohl unterscheidet. Das ist insofern bezeichnend, als wir, wie Kant schon richtig bemerkt hat, das eigene Wohl ohnehin anstreben und es dazu weder irgendwelcher Pflichten, noch einer philosophischen
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Nehmen wir an, das normative Muster, das ich „natürliche Normativität“ genannt habe, leite tatsächlich unsere Bewertungen von Menschen als Menschen. Nehmen wir ferner an, Menschen seien als Menschen defekt, wenn sie nicht tun, was für das menschliche Wohl notwendig ist […]. (Foot 2004, S. 76)
Rational im Sinn einer solchen praktischen Rationalität handeln wir, wie Foot dann später ausführt, genau wenn wir uns tugendhaft verhalten (Foot 2004, S. 110 f.). Mit diesen Wendungen nimmt Foot nun allerdings unter der Hand einen gravierenden, aber umso folgenschwereren Umbau der logischen Struktur ihrer Theorie vor. Denn bisher galten die materialen „Naturzwecke“ der Selbsterhaltung und Reproduktion als die höchsten Bezugspunkte der Theorie insofern, als sich von ihnen her ergab, was die typische Lebensform einer Spezies ist. Die „typische Lebensform der Spezies“ war mithin als eine Funktion der Reproduktion und Selbsterhaltung gedacht. Jetzt gilt aber plötzlich die Verwirklichung der „typischen Lebensform der Spezies“ nicht mehr als eine Funktion anderer Zwecke, sondern selbst als der höchste Bezugspunkt der Theorie und letzte Zweck des Lebens. Anders als Foot behauptet, ist dann aber auch die spezifische Urteilsform bei der Bewertung von tierischem und pflanzlichem Leben auf der einen Seite und menschlichem Leben auf der anderen Seit gerade nicht mehr dieselbe. Im ersten Fall ist die Verwirklichung der „speziestypischen Lebensform“ deshalb als „gut“ zu bewerten, weil diese Verwirklichung den Zwecken der Selbsterhaltung und Reproduktion dienlich ist; im zweiten Fall wird dagegen die Verwirklichung der speziestypischen Lebensform deshalb als „gut“ bewertet, weil sie eben die speziestypische Lebensform verwirklicht, die nun als der eigentliche Endzweck des Lebens betrachtet wird. Es ist leicht zu sehen, dass der gesamte Zuschnitt der Theorie sich damit von einer materialen hin zu einer viel formaleren Zwecktheorie verschiebt. An dieser Stelle tauchen darum auch sofort die nächsten offenen Fragen auf. Zum einen stellt sich die Frage, warum gerade ein tugendhaftes bzw. praktischrationales Leben die typische Lebensform der Spezies Mensch ausmachen sollte. Zum anderen die Frage, was die Identifikation von tugendhaftem und rationalem Handeln rechtfertigt. Drittens die Frage was für den einzelnen der Grund sein soll, ein tugendhaftes bzw. ein an der praktischen Rationalität ausgerichtetes Leben zu führen und viertens schließlich die Frage, was die normativen Kriterien eines tugendhaften Lebens bzw. der praktischen Rationalität eigentlich sind und woher diese kommen. Auf diese Fragen zu antworten gibt es wiederum drei Untermög-
Begründungsanstrengung bedarf. Es bedarf ihrer aber, wo es um das Wohl anderer bzw. das Gemeinwohl geht. Foot scheint sich, wie ihre Wortwahl zeigt, dieser systematisch bedeutsamen Differenz dagegen nicht recht bewußt zu sein.
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lichkeiten. Die erste bestünde darin zu sagen, dass die Tugenden deshalb bedeutsam wären, weil sie der Selbsterhaltung und der Reproduktion dienlich sind. „Irrational“ wäre ein nicht tugendhaftes Verhalten dann insofern, als es nicht zweckrational im Hinblick auf die genannten Zwecke wäre, nicht tugendhaft zu handeln. In diesem Fall fiele die zweite Alternative mit der ersten zusammen und dementsprechend wären auch die Kriterien der Tugendhaftigkeit mit denen der Zweckdienlichkeit für Selbsterhaltung und Reproduktion identisch. Die zweite Option bestünde darin, das tugendhaft ausgerichtete Handeln unmittelbar als Selbstzweck zu verstehen, weil die menschliche Lebensform darin bestehe, tugendhaft zu sein. Wird freilich diese Option gewählt, dann handelt es sich dabei um kaum mehr als das seit Hegel sprichwörtliche „trockene Versichern“, das in der Aussage kulminieren würde: „Ein tugendhaftes Leben zu führen ist gut, weil es die typische Lebensform der Spezies Mensch verwirklicht, die darin besteht, ein tugendhaftes Leben zu führen.“ Das ist dann allerdings kaum weniger tautologisch als es der Kantischen Pflichtenethik, zu Recht oder zu Unrecht, immer wieder vorgeworfen wird. Ein Ausweg aus dieser Tautologie könnte zwar darin bestehen, die „typische Lebensform der Spezies Mensch“ und damit das „Gut-Sein“ des Menschen gar nicht primär mittels des Tugendbegriffs zu beschreiben, sondern zunächst mithilfe des Begriffs „praktischer Rationalität“, um dann die Tugendhaftigkeit vom Begriff der „praktischen Rationalität“ her zu explizieren statt umgekehrt⁷. Entsprechend dieser Argumentation bestünde die menschliche Lebensform, d. h. die Verwirklichung von Tugendhaftigkeit, in einem praktischen Wissen darüber, was in einer konkreten Situation rational wäre zu tun. Es ist allerdings leicht zu sehen, dass auch dieser Ausweg in einer Aporie endet, so lange kein Angebot gemacht wird anzugeben, was dann eigentlich die Kriterien solcher „praktischer Rationalität“ sind, woher sie kommen und wie sie begründet sind. Das Problem wird mithin nicht gelöst, sondern nur an immer neue Begrifflichkeiten weiterverwiesen. Es bleibt mithin eine dritte Alternative, die wiederum genuin aristotelisch ist und die Foot ebenso durchbuchstabiert, nämlich die Identifikation von tugendhaftem Leben und glücklichem Leben. Diese Alternative besteht darin, als den letzten Zweck der Lebensform „Mensch“ das Glück, die eudaimonia, zu setzen und das tugendhafte bzw. das praktisch-rationale Leben als die Verwirklichung dieses Zwecks zu denken⁸. Soweit Foot diese Lösung vertritt,vermag sie dann aber immer noch keinen ihrer Theorie immanenten Grund anzugeben, warum Subjekte auf die Rechte und das Wohlergehen anderer Subjekte verpflichtet sein sollten. Zwar
Ein solcher Ansatz findet sich subtil durchgeführt etwa bei Lott 2012. Vgl. dazu die Ausführungen bei Foot 2004, S. 110 – 130.
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könnte man an dieser Stelle die These vertreten, das eigene Wohl sei nur erreichbar, wenn man das Wohl anderer beachte⁹. Dann wäre das Wohl anderer aber kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck im Rahmen des eigenen egoistischen Glückstrebens¹⁰. Des Weiteren handelt Foot sich das altbekannte Problem aller eudämonistischen Ethiken ein, den Zusammenfall von Glück und Tugendhaftigkeit auch dann noch plausibel finden zu müssen, wenn alle lebensweltlichen Evidenzen dagegen sprechen. Foots Lösungsvorschlag oszilliert dementsprechend auch merkwürdig zwischen zwei Lösungsstrategien: Zum einen der Strategie, zwischen einer Art „Allerweltsglück“, das durch ein tugendhaftes Leben in der Tat nicht zwangsläufig realisiert werde, und einem „tiefen Glück“ (Foot 2004, S. 117 ff.) zu unterscheiden, das nur durch oder jedenfalls nicht ohne die Tugenden realisiert werden könne und das ggf. sogar mit dem „Allerweltsglück“ konfligiere (Foot 2004, 126 ff.). Der – theoretisch wohl doch zu hohe – Preis dieser These besteht dann nicht zuletzt darin, eine Art von „Glücklichsein“ bzw. „Unglücklichsein“ zu postulieren, das vom subjektiv erlebten Glücklich- bzw. Unglücklichsein verschieden ist. Denn was soll man unter einem Glücklichsein verstehen, das unter Umständen subjektiv als Unglücklichsein erlebt wird und umgekehrt? Die zweite Lösungsstrategie schließt daran unmittelbar an und besteht im Grunde darin, den Begriff des „Glücks“ so lange umzudefinieren, bis er mit dem eines „tugendhaften Lebens“ zusammenfällt oder jedenfalls von dort her expliziert wird, anstatt dass – wie die logische Struktur der Theorie es eigentlich
Vgl. für diese „Lösung“ Tugendhat 1993, insbesondere S. 279 ff. Mit dieser Problematik sind, nebenbei bemerkt, alle eudaimonistischen Theorien konfrontiert; auch diejenigen eher „klassisch-aristotelischen“ Theorien, die unter „eudaimonia“ nicht „Glück“ oder „Glückseligkeit“, sondern so etwas wie ein „gelungenes Leben“, ein „sinnerfülltes Leben“ oder ein „Leben im Einklang mit sich selbst“ (was immer das heißen mag) verstehen wollen. Gleich welche Auslegung man für den eudaimonia-Begriff wählt, ergibt sich immer das Problem, dass dem Wohl und den Rechten anderer kein intrinsischer Wert, sondern ein funktionell-extrinsischer Wert zugesprochen wird: sie werden nicht um ihrer selbst Willen angestrebt, sondern jeweils um Willen des „Gelingens“ bzw. der „Sinnerfülltheit“ des eigenen Lebens. Genau das widerspricht aber, wie Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ richtig bemerkt hat (vgl. Kant 1900, S. 35 ff.) der Grundintuition darüber, worum es bei moralischen und rechtlichen Normen geht. Kants Kritik am Eudaimonismus, der eudaimonistische Ansatz sei ein strukturell egoistischer Ansatz, der als solcher das Phänomen der Moral grundlegend verfehle, trifft also – entgegen der Auffassung vieler „klassischer“ Aristoteliker – auch und gerade dann zu, wenn man eudaimonia nicht als „Glückseligkeit“ oder „happiness“ versteht. Kants Kritik am Eudaimonismus ist, was vielfach übersehen wird, nicht eine Kritik dieser oder jener bestimmten Auslegung des eudaimonia-Begriffs, sondern eine Kritik an der Struktur eines Begründungsansatzes. Als solche hätte sie auch dann Bestand, wenn Kant den eudaimonia-Begriff dem Inhalt nach falsch ausgelegt hätte.
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fordern müsste – der Begriff der Tugend von dem des Glücks her expliziert würde¹¹. Das heißt nichts weniger, als dass der Begriff des „Glücks“ derart bestimmt wird, dass „Glück“ am Ende in gar nichts anderem besteht als tugendhaft zu handeln, selbst wenn das Handelnden dem eigenen subjektiven Erleben nach unglücklich machen sollte. Wird diese Strategie gewählt, läuft die gesamte Theorie allerdings erst recht auf eine gänzlich inhaltsleere Tautologie hinaus, denn dann würden die These der Verfechter des Neoaristotelismus letztlich in der Aussage kulminieren: „Für den Menschen besteht gut zu sein darin, die spezifische Lebensform des Menschen zu verwirklichen, welche darin besteht, das Glück anzustreben,welches darin besteht, gut zu sein.“ Es wäre also nicht viel mehr gesagt als: „Für den Menschen besteht gut zu sein darin, gut zu sein.“ Mit einer solchen These ist dann freilich weder für eine Begründung der Ethik (oder gar des Rechts), noch für eine Explikation des Begriffs des Guten irgendetwas gewonnen.
III Der zeitgenössische (neo)aristotelische Naturalismus lässt sich in der Form, in der er zumeist vertreten wird, mithin als aporetisch oder jedenfalls tautologisch erweisen. Dennoch ist er nicht allein deshalb von Bedeutung, weil er auf einen „blinden Fleck“ der Universalisierungsethiken hinweist. Vielmehr ist er auch insofern wichtig, als er die Lösung durchaus in der richtigen Richtung sucht. Ruft man sich noch einmal in Erinnerung, woran genau er dann gleichwohl scheitert, so zeigt sich auch, wie dieses Scheitern vermieden werden könnte. Er scheitert – wie ich zu zeigen versucht habe – daran, dass er den Übergang von den immanenten Zwecken des Lebens und deren „Allgemeinheit“ hin zur Struktur der Subjektivität mit deren spezifischem Allgemeinheitsbezug nicht angemessen zu denken vermag. Gelingt es aber nicht, diesen Übergang adäquat zu erfassen, so mündet das Unterfangen der Ethik überhaupt in einer unauflösbaren Dichotomie von Leben und Subjektivität. Diese Dichotomie führt dann dazu, dass scheinbar nur die Alternativen bleiben, entweder – wie im neoaristotelischen Naturalismus geschehen – die Subjektivität an das Leben und dessen immanente Zwecke der Selbsterhaltung und Reproduktion zu „assimilieren“ und sie damit ihrer eigenständigen Dimensionen zu berauben. Oder aber dazu, die gesamte materiale Bedürfnisstruktur des Lebens für irrelevant für die Ethik zu erklären und stattdessen die gesamte Ethik die auf nur formal-allgemeine Struktur des Willens
Dass Foot genau in diesem Zusammenhang plötzlich den Begriff des Glücks durch den des „Gedeihens“ substituiert, ist sicherlich kein Zufall
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gründen zu wollen, wie es bei Kant geschieht. Zeitgenössische Universalisierungsethiken à la Scanlon, Habermas oder Rawls, die einerseits auf die Form der Universalisierbarkeit abheben, zugleich aber menschliche Bedürfnisse und Interessen gewissermaßen als das „Material“ der Universalisierung in die Verallgemeinerbarkeits-Operation einspeisen möchten, stellen wiederum den gänzlich untauglichen Versuch einer Synthese dar – ungenügend deshalb, weil sie letztlich die zugrundeliegende Dichotomie festhalten und sogar noch verfestigen. Der Schlüssel zu einer Lösung der Probleme liegt nach der hier vorzuschlagenden Alternative vielmehr darin, das Verhältnis von Leben und Subjektivität in einer Weise zu bestimmen, die sowohl der Eigenständigkeit der Subjektivität gerecht wird, als auch der Kontinuität bzw. der Einheit von Leben und Subjektivität. Es wird nun kaum verwundern, dass ich einen vielversprechenden Ansatz für eine solche Theorie bei dem Denker suche, der für solche Denkfiguren gewissermaßen notorisch zuständig ist, nämlich bei Hegel. Zugestandenermaßen würde eine detaillierte Analyse des naturphilosophischen Lebens- und Organismusbegriffs Hegels, geschweige denn für eine Analyse von Hegels logisch-metaphysischem Lebensbegriff, wie er sich am Ende der „Wissenschaft der Logik“ findet, den Rahmen dieses Aufsatzes bei weitem sprengen. Auch ohne eine solche Analyse kann man allerdings die beiden entscheidenden Punkte festhalten: Zum einen, dass Hegel richtigerweise das Leben, auch und gerade das von Pflanzen und Tieren, nicht in einem Gegensatz zur Subjektivität begreift, sondern als Selbstbezug des Lebendigen: einen Selbstbezug, der als solcher die Vorform der Seinsform der Subjektivität darstellt, welche im bewußten Sich-Beziehens-auf-sich besteht. Die Prozesse, Triebe, Bedürfnisse und immanenten Zwecke des Lebendigen – wie Nahrungsaufnahme, Reproduktion, Empfindung, Schmerzvermeidung etc. –, ebenso wie die wechselseitige Verwiesenheit der Organsysteme aufeinander lassen sich dementsprechend als Ausdruck genau derjenigen selbstbezüglichen Negativität begreifen, die auch für die Subjektivität konstitutiv ist. Leben ist also nicht etwas grundlegend anderes als Subjektivität, sondern eine andere, weniger entwickelte Form der gleichen Selbstbezüglichkeits-Struktur. Einen Hinweis darauf, wie diese Überlegungen Hegels sich an die Diskussion um den neoaristotelischen Naturalismus anschließen lassen, gibt ein Zitat aus den Zusätzen zum sträflich unterschätzen naturphilosophischen Teil der „Enzyklopädie“: Der Mangel am Stuhl, wenn er drei Beine hat, ist in uns; aber im Leben selbst ist der Mangel; doch er ist ebenso auch aufgehoben, weil es die Schranke als Mangel weiß. Es ist so ein Vorrecht höherer Naturen, Schmerz zu empfinden; je höher die Natur ist, desto mehr Unglück empfindet sie […] Im Negativen ist so das Tier zugleich positiv bei sich; und auch das ist das Vorrecht höherer Naturen, als dieser Widerspruch zu existieren. Ebenso stellt das Tier aber auch den Frieden wieder her und befriedigt sich in sich; die tierische Begierde ist der Idealismus der Gegenständlichkeit, wonach diese kein Fremdes ist. (Hegel 1993, S. 472)
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Im Zusatz zum folgenden Paragraphen erfolgt dann in denkbar lapidarer Weise die vielleicht treffendste Bestimmung des Naturbegriffs, die in der gesamten neuzeitlichen Philosophie zu finden ist, die Bestimmung der Natur als des „bewußtlos nach Zwecken-Handelns“: Da der Trieb nur durch ganz bestimmte Handlungen erfüllt werden kann, so erscheint dies als Instinkt, indem es eine Wahl nach Zweckbestimmung zu sein scheint. Weil der Trieb aber nicht gewußter Zweck ist, so weiß das Tier seine Zwecke noch nicht als Zwecke, und dieses so bewußtlos nach Zwecken Handeln nennt Aristoteles physis. (Hegel 1993, S. 473)
Gegenüber dem neoaristotelischen Naturalismus finden sich in diesen Passagen zwei wichtige Einsichten. Einmal die Einsicht, dass für das Phänomen des Lebens nicht etwa die Abwesenheit von Defizienz, das Befriedigtsein und Verwirklicht-Haben seiner Zwecke, wesensbestimmend ist, sondern gerade die Defizienz selbst, d. h. der Mangel und das Verwiesensein an etwas (scheinbar) Äußeres zur Aufhebung des Mangels. Wenn wir also von „typischen Lebensformen von Spezies“ reden, dann reden wir gerade nicht von etwas „Optimalem“, sondern von Formen der Bewältigung von Defizienz, von unterschiedlichen Formen der Überwindung der wesensbestimmenden Mangelhaftigkeit des Lebens. Nur weil das natürliche Leben seinem Wesen nach defizient ist, haben Lebewesen überhaupt immanente Zweckausrichtungen, diese dann allerdings auch notwendigerweise und mit derjenigen Allgemeinheit, die der Neoaristotelismus behauptet. Allein dabei ist allerdings schon zu beachten, dass die Allgemeinheit, um die es hier geht, bereits insofern spezies-übergreifend ist, als sie die dialektische Grundstruktur des Lebens selbst bildet und nicht etwa nur die einer bestimmten Spezies lebender Wesen. Zweitens ergibt sich aus dem Gesagten die Einsicht, dass die „Naturzwecke“ mit der dialektischen Weiterentwicklung des Lebens zur Subjektivität nicht einfach verloren gehen. Das Subjekt ist ebenso Lebendiges wie das Tier oder die Pflanze und lässt sein Lebendig-Sein mit der Subjektwerdung nicht einfach hinter sich, sondern bleibt als Subjekt immer auch Lebendiges. Der wesentliche Unterschied zwischen dem bloßen Lebendig-Sein der Tiere und Pflanzen und der endlichen Subjektivität besteht im Hinblick auf Zwecke allerdings darin, dass Subjekte aufgrund des Umstandes, dass die Seinsweise der Subjektivität die des bewußten Sich-zu-sich-Verhaltens ist, sich erstens zu den „Naturzwecken“ selbst noch einmal affirmativ oder negativ verhalten können¹². Zweitens können sie je für sich auch noch weitere Zwecke setzen als diejenigen, die ihnen von ihrem natürlichen Leben her vorgegeben sind.
Die Entscheidung zum Suizid ist, wie Hegel einmal richtig bemerkt, eine Möglichkeit, die nur Subjekte haben.
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Wenn das aber richtig ist, dann stellen sich drei Fragen: Einmal die Frage, ob und wenn ja, wodurch Subjekte auf ihre eigenen, in der Struktur des Lebens gegründeten natürlichen Zwecke verpflichtet sind. Zum anderen die Frage, ob und wie sich aus der Struktur der lebendigen Subjektivität heraus der Gedanke der Universalisierbarkeit so reformulieren lässt, dass er nicht darauf angewiesen ist, sich auf eine einfache Abstraktion bzw. Negation von materialen Zwecken zu stützen. Drittens die Frage, ob jene „weiteren“ Zwecke einfach nur kontingent und partikulär sind oder ob auch diese noch ein inneres Moment der Allgemeinheit aufweisen. Ich will mich nun in meinen abschließenden Bemerkungen auf die zweite und dritte Frage konzentrieren, nicht zuletzt, weil ich auf die erste Frage selbst noch keine abschließende Antwort gefunden habe. Allerdings kann man sicherlich schon so viel sagen, dass es eine offenkundige Asymmetrie zwischen dem Affirmieren und dem Zurückweisen der „natürlichen Zwecke“ einfach bereits dadurch gibt, dass solche „natürlichen Zwecke“ überhaupt objektiv existieren, sofern sie in der Struktur des Lebens verankert sind. Sich gegen sie zu wenden, etwa in Form des Suizids, bedeutet daher immer zugleich, eine abstrakt-einseitige Subjektivität gegen die übergreifende Einheit von Leben und Subjektivität in Anschlag zu bringen. Für die zweite Frage bietet der Anerkennungsbegriff in der Tradition Fichtes und Hegels den geeigneten Anknüpfungspunkt. Was Fichtes und Hegels Anerkennungstheorien eint, ist der Grundgedanke: nämlich dass endliche und gleichwohl freie Subjektivität etwas ist, das vorgängig auf einen Raum der Intersubjektivität angewiesen ist, um sich überhaupt als freie Subjektivität konstituieren zu können¹³. Die Universalisierungs-Norm gewinnt damit bereits in Fichtes Rechtsphilosophie eine tiefergehende Grundlegung als bei Kant: nämlich insofern, als die Pluralität endlicher, individueller Subjekte nicht mehr einfach vorausgesetzt, sondern als mit der Genese solcher Subjektivität denknotwendig verknüpft erwiesen wird. Dementsprechend ist auch die Vernunft im anerkennungstheoretischen Modell nicht darauf angewiesen, dass von der Pluralität der Subjekte mit ihren verschiedenen materialen Zwecken abstrahiert wird, um überhaupt den Begriff der praktischen Vernunft zu gewinnen. Denn praktische Vernunft ist nicht wie noch bei Kant ein Produkt der Negation materialer Zwecke in der Rückwendung eines vorausgesetzt-allgemeinen Wollens auf seine bloße Form, sondern vielmehr etwas, das sich bei dem Prozess der Genese der endlichen Subjektivität selbst als deren Voraussetzung ergibt. Bei Fichte wird die so resultierende „Allgemeinheit“ dann allerdings noch primär als Forderung einer gleichen Zuteilung von gegeneinander abgegrenzten Freiheitssphären aus-
Vgl. Fichte 1971, insbesondere S. 17– 91 und Hegel 1980, insbesondere S. 137– 154.
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buchstabiert, mithin im Sinn der abwehrrechtlichen Menschenrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum. Während diese Forderung auch für Hegel immer grundlegend bleibt¹⁴, kommt Hegel das Verdienst zu, gesehen zu haben, dass der Anerkennungsbegriff über die negative Abgrenzung von Freiheitssphären weit hinausreicht. Den einschlägigen Gedankengang, mit dem Hegel sich von Fichte absetzt, kann man grob vereinfachend so skizzieren: Gerade wenn endliche Subjektivität, um überhaupt als Subjektivität sein und damit Freiheit verwirklichen zu können, auf eine Beziehung zum anderen seiner selbst angewiesen ist, dann impliziert dieses „Bei-sich-Seinim-Anderen“ – Hegels „Definition“ des Geistes – immer schon mehr als nur eine negative Abgrenzung von Freiheitssphären. Vielmehr impliziert es positive Anerkennungsverhältnisse wie diejenigen der Liebe, der Freundschaft, der Ehe und nicht zuletzt der politischen, der religiösen und der kulturellen Gemeinschaft. Ist das aber richtig, dann lassen sich Phänomene des Verfehlens solcher Anerkennungsverhältnisse völlig im Einklang mit der klassischen Tugendethik als „defiziente“ Modi des Existierens von endlich-individueller Subjektivität beschreiben und das Verwirklichen jener Anerkennungsverhältnisse als „gelingende“ oder „glückende“ Modi des Existierens von endlich-individueller Subjektivität. Dementsprechend ließe sich dann ebenso wie im Fall der dialektischen Bewegung des natürlichen Lebens in gewisser Weise von einer „Teleologie“ sprechen, und zwar auch hier von einer „Teleologie“, die aus einer Art „Mangel“ resultiert, der die endlich-individuelle Subjektivität über sich hinaustreibt. Dieser „Mangel“ ist aber wie im Fall des natürlichen Lebens eigentlich ein Privileg der Subjektivität, da er darin liegt, das eigentliche Selbstsein und die wirkliche Freiheit nur in der Beziehung zu Anderem und dem Zusammenleben mit anderen verwirklichen zu können. Gegenüber dem klassischen Eudaimonismus hätte ein solcher Ansatz den Vorzug, nicht das Streben nach dem persönlichen Glück als die wesentliche Triebfeder moralisch richtigen Handelns annehmen zu müssen, sondern die viel grundlegendere dialektische Figur des „Bei-sich-Seins-im-Anderen“. „Unglücklichsein“ wäre demnach lediglich der subjektive Reflex eines Verfehlens dieser Figur und das Erleben von Glück der Reflex, den ihr Gelingen im Subjekt erzeugt. Auf diese Weise ließen sich dann die Intuitionen der Tugendethik mit denen einer deontologischen Theorie grundlegender Rechte und Pflichten verknüpfen, ohne dass der zwanghafte Versuch unternommen müsste, die Pflicht zur Beachtung der Rechte anderer aus dem jeweiligen individuellen Glücksstreben herleiten zu müssen.
Nämlich in Form des von ihm sogenannten „Abstrakten Rechts“.
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Vor diesem Hintergrund scheint es mir, dass dasjenige, was die aristotelische Tradition mit den Begriffen der „Tugend“ und der „Untugend“ zu erfassen versucht, sich ohne allzu große Schwierigkeiten auf der Grundlage eines Anerkennungsmodells der Subjektivität theoretisch rekonstruieren lassen müsste. Ebenso ließe sich im Rahmen einer solchen Theorien eine plausible Verknüpfung zwischen dem Begriff des „Defizienten“ und dem Begriff des „Schlecht-Seins“ denken, die es gestattet, diesen Begriffen einen normativen Gehalt zu bewahren, ohne dabei einem Naturalismus anheimzufallen, der als einzige Zwecke die „Naturzwecke“ der Selbsterhaltung und Reproduktion kennt. Angemessener beschrieben wären die besagten Phänomene des Verfehlens und der Defizienz dann nämlich mithilfe von Kategorien wie „Entfremdung“ und „Verdinglichung“ als denjenigen Vorgängen, durch die ein endliches Subjekt sein eigentliches Subjektsein und mithin seine eigentliche Freiheit verfehlen kann, weil es durch sie das „Bei-sich-Sein-im-Anderen“ verfehlt. Schließlich würde es ein solcher Ansatz erlauben, einer Pluralität möglicher Zwecksetzungen endlicher Subjekte dergestalt einen angemessenen Raum zu geben, dass weder in paternalistischer Weise bestimmte Zwecksetzungen als die einzig richtigen ausgezeichnet würden, noch dass das kritische Potential der Begriffe des „Schlechten“ bzw. „Defizienten“ verloren ginge. Und zwar deshalb, weil es offenkundig verschiedene, einander nicht unbedingt ausschließende Wege gibt, auf denen die endliche Subjektivität ein über sie hinausweisendes „Bei-sich-Sein-im-Anderen“ verwirklichen kann: Durch Liebe, durch Freundschaft, durch politisches Engagement oder durch gesellschaftliches Engagement (der bios politikos), durch wissenschaftliche Arbeit (der bios theoretikos), durch Kunstschaffen und Kunsterleben – und, sofern es sich um einen gläubigen Menschen handelte, beispielsweise auch durch die Religion. Die Möglichkeit, das „Bei-sich-Sein-im-Anderen“ auf verschiedenen Wegen zu realisieren, bedeutet aber keineswegs, dass nicht zwischen einem Verfehlen und einem Gelingen dieser Relation überhaupt unterschieden werden könnte. Damit deutet sich dann auch eine Antwort auf die zweite der obengenannten Fragen an insofern an, als die „weiteren Zwecke“ des Menschen, die über seine Naturzwecke hinausgehen, auch durch ein universales Moment bestimmt sind, da alle diese Betätigungen darauf ausgerichtet sind, die „Unvollständigkeit“ zu überwinden, die der endlichen Subjektivität da eignet, wo sie sich vom Anderen zu isolieren und/oder dies zu verdinglichen bestrebt ist. Die richtigen Intuitionen des zeitgenössischen Neoaristotelismus ließen sich auf diese Weise besser erfassen als durch einen einfachen Rückgriff auf den Eudaimonismus. Das gilt zumal, da mithilfe des hier skizzierten Ansatzes sowohl die Kontinuität zwischen dem natürlichen Leben mit seinen Zwecken auf der einen Seite und der Subjektivität auf der anderen Seite, als auch die Differenz zwischen beiden angemessen begriffen werden kann. Ein letzter und ganz zentraler Vorteil
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der hier vorgeschlagenen Alternative besteht schließlich darin, dass er es erlaubt, die Universalität grundlegender Menschenrechte und -pflichten vom selben Grund, nämlich der Struktur des „Bei-sich-Seins-im-Anderen“, her zu denken, von dem her auch die Ausrichtung des Menschen auf Zwecke überhaupt und der Unterschied zwischen gelingendem und nicht gelingendem Leben von Subjekten begriffen werden kann. Und das immerhin, ohne dass man den vermutlich aussichtslosen Versuch unternehmen müsste, jene grundlegenden Rechte und Pflichten aus dem subjektiven Streben nach „Glück(seligkeit)“ oder „Gelingen des Lebens“ herzuleiten.
Literatur Fichte, Johann Gottlieb (1971): Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. In: Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte. Band III. Berlin. Foot, Philippa (2004): Die Natur des Guten. Frankfurt a.M. Forst, Rainer (2007): Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. Habermas, Jürgen (2009): „Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm“. In: Jürgen Habermas: Philosophische Texte. Studienausgabe Band 3. Frankfurt a.M. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1980): Phänomenologie des Geistes. Werke in 20 Bänden: Band 3. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1993): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, Werke in 20 Bänden: Band 9. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. Hoffmann, Thomas/Reuter, Michael (Hrsg.) (2010): Natürlich gut. Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot, Frankfurt a.M. Kant, Immanuel (1900 ff.): Kritik der praktischen Vernunft: Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaft (Akademieausgabe). Band V. Berlin. Larmore, Charles (2008): The Autonomy of Morality. New York. Lott, Micah (2012): „Moral Virtue as Knowledge of Human Form“. In: Social Theory and Practice 38/3, S. 407 – 431. Scanlon, Thomas M. (1998): What We Owe to Each Other. Cambridge/MA. Thompson, Michael (2011): Leben und Handeln. Frankfurt a.M. Thompson, Michael (1995): „The Representation of Life“. In: Rosalind Hursthouse et. al. (Hrsg.): Virtues and Reasons. Philippa Foot and Moral Theory. Oxford, S. 247 – 269. Tugendhat, Ernst (1993): Vorlesung über Ethik. Frankfurt a.M.
IV Lebensform, Tugend, Vernunft
Angela Kallhoff
Human nature and the good life in Aristotle: The debate on human flourishing as an ethical notion
Aristotle frequently relates notions of what is good to statements about “nature”. Examples comprise the nature of the state and the political nature of persons (Pol. I.2 1253 a 1– 3; 1252 b 30 – 35; 1253 a 8 – 12). Yet, Aristotle also alludes to nature in an altogether different way. Nature is a set of properties which provide the dynameis of living entities. By nature, persons are endowed with some capacities which they share with animals and plants (EN I.6 1097 b 33 – 1098 a 7; Pol. I.2 a 8 – 10). At some points, this second interpretation of nature is also integrated into normative statements. In a negative way, Aristotle reminds us of natural capacities in order to exclude persons from the citizenry (Pol. I.4 1254 a 12– 16) and from ethical learning (Pol. I.6 1254 b 15 – 1255 a 2). Yet, in the function argument (EN I.6 1097 b 23 – 1098 a 18), Aristotle approaches nature from a positive side. Here, he alludes to insights about nature in order to explain the good life of persons. It is this type of Aristotelian ethical naturalism that has recently been discussed anew. In particular, it provides the background for interpreting eudaimonia as “human flourishing”. Different from the first interpretation, nature in the context of the function argument is not precisely synonymous with goodness. Instead, the relation between natural capacities and the good life is a complex one. In particular, it has received two interpretations which point into different directions. The first interpretation aims at restating Aristotelian naturalism as a central doctrine in ethics. It says that Aristotle is right to interpret natural capacities as framing the good life of persons. Moreover, nature is a normative notion itself. It has impacts regarding the question of what persons should do. The second interpretation states that Aristotle is right in claiming that the biological make-up of persons needs to be taken seriously in defending moral claims which relate to the good life of persons. Yet, the acknowledgment of human nature is limited to providing some side-constraints in debating the good life. In particular, it does not contribute to explaining the content of the good life. It is the second interpretation that has contributed to a shift of opinion regarding the question of whether or not an Aristotelian ethical naturalism is still credible. Whereas the stronger version has stimulated objections, the second interpretation has contributed to a more positive assessment of Aristotelian ethical naturalism.
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In this contribution, I wish to discuss both options. It is my claim that – at first glance – it is the latter group which succeeds in situating Aristotelian naturalism in the context of contemporary ethics. The first group, instead, falls short of re-introducing Aristotelian naturalism. Yet, a thorough examination of the claims of group two destructs this first impression. The success of group two is owed to the fact that underlying premises which are needed for defending respective moral claims are not spelled out thoroughly. In the end, it must be conceded that the claims of group two are not more modest than the claims of group one. The focus of this debate is derived from an interpretation of Aristotle’s notion of happiness – eudaimonia – in terms of human flourishing. Authors who favour this translation usually cohere with one of the two interpretations of Aristotelian naturalism. Human flourishing highlights the insight that the good life of persons cannot be debated without also paying tribute to inborn capacities of persons whose realization is central for a good life. Thus, the concept of human flourishing emphasizes the anchoring of the concept of the good life in a notion of inborn natural capacities. This contribution falls into five sections. I shall first go back to the function argument (EN I.6 1097 b 23 – 1098 a 18) which is the main source for re-addressing Aristotelian naturalism and for discussing human flourishing as a translation of eudaimonia. In particular, I shall outline three presuppositions which need to be made in order to interpret that argument as foundational for a footing of the good life in human nature. The second section is dedicated to approaches which attempt to reformulate Aristotle’s insights in terms of fundamental insights in ethics. The third section discusses more modest approaches to Aristotelian naturalism. Scholars who are interested in Aristotelian naturalism do not necessarily say that it provides a foundation for ethics. Instead, they say that Aristotle’s insights in human nature and the impact of those insights on moral claims need to be taken seriously. Yet, Aristotle’s doctrines contribute to sideconstraints of a moral theory which is based on other foundational premises. The fourth section presents a discussion of the modest approaches which reveals premises which are as demanding as the claims of group one. This leads to the conclusion that either way the concept of human flourishing rests on an evaluative concept of the natural human capacities.
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1 A naturalistic interpretation of the function argument In order to introduce his definition of eudaimonia, Aristotle says in the first book of the Ethica Nicomachea: If (…) we state the function of man to be a certain kind of life, and this to be an activity or action of the soul implying a rational principle, and the function of a good man to be the good and noble performance of these, and if any action is well performed when it is performed in accordance with the appropriate excellence: if this is the case, human good turns out to be activity of soul in accordance with virtue, and if there are more than one virtue, in accordance with the best and most complete. (EN 1098 a 12– 17)
A naturalistic interpretation of the function argument takes the following lines: The specific nature of persons becomes apparent through a comparison with other species. In some respects, persons are comparable to other species; yet they are also endowed with a set of unique capacities. A second point of comparison is that persons as well as animals and plants learn to be “good at” fulfilling their characteristic activities. Generally speaking, the good life of a living being is realized when capacities are unfolded in accordance with the appropriate excellences and in accordance with the complete set of inborn capacities – the latter exemplifying a monarchic structure with reason at its top (Wilkes 1980, p. 345). In this interpretation, goodness implies the self-realization of a living entity in terms of expressing and shaping natural capacities. It also alludes to standards of excellence which correspond to mastership in realizing the inborn capacities. Now, the function-argument has been at the focus of Aristotelian scholarship for several decades. I do not wish to recall those debates.¹ Instead I shall give a short sketch of the presumptions which underlie a naturalistic interpretation. In particular, these preconditions relate to the role of reason in happiness, the assessment of a biological interpretation of living beings and a clarification about the meaning of “good” within the argument. Each of these preconditions shall be explained in turn. First, some authors defend the claim that according to the function argument, the good life consists in excellent activity of reason (EN I.7 1177 b30 – 31, X. 7– 8 1178 a 6 – 10). This group of authors, the “intellectualists” or “exclusivists”, draw on Aristotle’s claims about the best life in book X of the Ethica Nic-
Among the classical contributions to the function argument are Achtenberg 1991, Clark 1971, Glassen 1957, Gómez-Lobo 1991, Kraut 1979, Sorabji 1964, Suits 1974, White 1981, Whiting 1988.
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omachea.² Yet, Aristotle also states that a life as a philosopher is not a realistic expectation for each person. Different from the gods, persons need living conditions which also support their earthly way of life (EN X.9 1179 a 22– 29; EN X.9 1178 b 33). Consequently, Aristotle distinguishes between an ideal of a life which only some persons can realize, and a more realistic concept of a good practical life.³ Whereas the life of the philosopher can be interpreted as the overall best life, the “inclusivists” say that Aristotle also gives a realistic interpretation of the good life. This latter interpretation corresponds to the theory of the soul which includes a variety of capacities which persons possess. Besides reason, persons have emotions which are also open to a process of formation through the acquisition and performance of virtue. In particular, according to an inclusivist interpretation, which was first elaborated by John Ackrill (1980), eudaimonia includes all worthwhile activities of persons as ends in themselves.⁴ In this interpretation, the function argument fulfills an important task. In introducing a list of all natural capacities, it contributes to developing a comprehensive account of eudaimonia. The comparison with living entities different from persons serves at working out a comprehensive list of capacities whose development can be considered as essential capacities in defining the specific life-form of persons.⁵ Secondly, debates on the function argument include a stance on a widespread objection. This objection says that Aristotle employs a type of naturalism in his ethics, which needs to be classified as “brute naturalism” (McDowell 1994, p. 79). Both Alasdair MacIntyre and Bernard Williams once claimed that the Aristotelian theory of the good life is no more than an exemplification of a metaphysically founded biology (Williams 1985, p. 52; MacIntyre 1984, p. 163). In particular, Aristotle reiterates teleological and metaphysical presuppositions in the ethics. Therefore, naturalism of the Aristotelian ethics can neither be integrated into the context of modern philosophy, nor does it cohere with the natural sciences of our times. The distinction between an inclusivist and an intellectualist interpretation was introduced by Hardie 1965. Yet, in 1992, Kenny remarks that the debate has not come to an end so far; see Kenny 1992, p. 6. Robert Heinaman argues for a reconciliation between exclusivists and inclusivists through a distinction of several questions that point to different strands of argument in Aristotle’s ethics. See Heinaman 1988. The concept of an overarching good that comprises worthwhile types of activities as its components was proposed by Ackrill 1980. Following Aristotle, “life-form” is a weaker concept than the species concept. It describes living entities regarding their “characteristic activities”. For a reformulation of that concept in the context of contemporary ethics, see Thompson 1995.
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Yet, scholars have also proven that the accusations of Aristotelian naturalism as “brute naturalism” do not cohere with the claims made in the function argument.⁶ True, Aristotle claims that persons have a distinct set of inborn capacities. Moreover, this concept of nature is related to the nature of natural entities. As Alfonso Gómez-Lobo (1991) states: “There is no doubt that in the quest for the human ergon (…) Aristotle alludes to the three layers of life he has carefully sorted out in the De Anima.” (p. 54)⁷ Yet, the underlying biological premises are not as metaphysical as some authors have presupposed. Instead, Aristotle’s theory of natural kinds has been interpreted as a theory about species characteristics which relate to a notion of functioning well as such type of being within a certain surrounding.⁸ As a consequence, the good life is a sort of life whose characteristics can be spelled out as realization of inborn specific characteristics according to specified excellences. These excellences correspond to ethical standards which are set forth in Aristotle’s approach to the virtues; yet, they also match the characteristics of the properties of living beings. In this interpretation, the function argument says that nature is realized throughout a life process in terms of realizing typical characteristic activities of a living entity. The criteria of a successful development also imply a notion of mastership corresponding to the inborn capacities. Third, the interpretation of the meaning of “good” in the context of the function argument is critical to its interpretation. Some authors defend the view that in the context of the function-argument, “good” has the meaning of “being good at doing something”. Yet, including this line of argument within a naturalistic interpretation has proven difficult. Peter Stemmer argues that it does not make sense to speak of a “good giraffe” as an animal that exemplifies the characteristics of the giraffe life particularly well (Stemmer 1998, p. 55). Moreover, a literal meaning of “functioning well” does not convince, either. As Suits (1974, p. 23 and p. 95) argues, it would be very fine to know the special function appropriate to man; this would solve all ethical problems at once. Yet, unfortunately, we do not have a notion like that. As for this latter point, a possible solution depends on the interpretation of “function”. In the interpretation which was criticised, the term “good” in relation to “functions” draws on a comparison between persons and organisms. The natural capacities of persons are paralleled to organs; a person realizes a good life,
For important contributions in this respect and for a defense of an alternative version of Aristotelian ethical naturalism, see: Kallhoff 2010. See also Broadie 1991, p. 61. For interpretations of Aristotle’s concept of the species in this sense, see Balme 1975, Pellegrin 1987, and more recently Lennox 2001.
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when all functions are “in order” and work together in supporting good functioning; this is a healthy organism. Yet, this interpretation is particularly problematic. Persons actually differ from other living organisms in a significant way, they possess reason (see point 2). As Wilkes states: “The important notion of goodness here is (…) that he [the person] is good at being the kind of man that he has deliberately chosen to be.” (Wilkes 1980, p. 355)⁹ As a consequence, the interpretation of “functioning well” as internal functional organization does not convince. Yet, different from this, “functions” can also be interpreted as the employment of “characteristic activities” of living beings. Living entities are functioning well, when they fulfil their life-supporting activities in a way which in turn supports their flourishing. Accordingly, what the function argument says is that a thorough characterization of natural capacities is a necessary step in developing an account of the appropriate excellences of a living entity, and persons in particular. Therefore, a comprehensive explanation of “good” does not only include ethical standards, both in terms of personal virtues and of virtues of persons as members of society, but also an idea of how persons should react to their lifeform. According to this interpretation, natural facts are an ingredient in clarifying the content of “good” in the “good life”; yet, they are not sufficient for defining the good life of persons. To summarize this naturalist interpretation of the function argument, it can be said that it builds on three assumptions. It underscores an inclusivist interpretation of eudaimonia; it says that some biological doctrines of Aristotle, in particular his statements about the relationship between characteristic activities and excellent performances, are basic to the interpretation of the good life of a living entity; and it says that for clarifying the content of “good”, the function argument does not draw on something like “internal functional organization”, but rather to standards which respond to potentials of living entities in unfolding their natural capacities. As a consequence, Aristotelian ethical naturalism differs significantly from modern ethical naturalism which has predominantly been interpreted as a metaethical claim about the meaning of “good” and its relation to terms in natural sciences. In particular, it relates a theory of characteristic activities to an interpretation of natural capacities as a necessary, yet not sufficient condition in explaining the good life of a living entity. This has contributed to a preference for “human flourishing” as a translation of eudaimonia. ¹⁰ It captures three aspects: It builds on an account of inborn nat A similar judgement regarding the role of the intellect is made by Jonathan Lear: “Human beings differ from even other social animals in that they alone (idion tois anthropois) have logos or reason; and it is clear that this reason is normative and ethical.” Lear 1995, p. 63. For a discussion of this option, see Kallhoff 2010, pp. 47– 48.
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ural capacities of persons as living beings; it articulates the good life in terms of a process of a good development of the capacities of persons – mainly characterized by virtues –; and it says that the good life consists in activities whose content derives from knowledge about the natural capacities of persons and their contribution to a happy life.
2 Two restatements of Aristotelian ethical naturalism Recently, two authors have elaborated a distinct stance on Aristotelian ethical naturalism. Moreover, they both claim that basic doctrines inherent in Aristotle’s naturalism are still basic for restating fundamental insights in moral philosophy. These authors are Philippa Foot and John McDowell. Even though their interpretations of Aristotelian naturalism differ, in one respect, they share a common insight: Both say that in order to interpret the good life in Aristotle’s ethics, it needs to be related to a notion of human nature. Due to the importance of this insight in both approaches to Aristotle’s notion of the good life, it is fair to say that they both contribute to an interpretation that comes close to a foundational interpretation of nature in Aristotle’s concept of the good life. It is not my aim here to give an exhaustive discussion of the interpretations of both authors. Instead, I shall only recall some of their insights in Aristotelian naturalism here. Foot develops a theory which she terms Natural Goodness (2001). She argues that an account of species membership is the background against which the life of persons can be classified as either a good life or as a life which falls short of realizing well-being. Foot states: We start from the fact that it is the particular life form of a species of plant or animal that determines how an individual plant or animal should be: the Aristotelian categoricals give the ‘how’ of what happens in the life cycle of a species. (…) The way an individual should be is determined by what is needed for development, self-maintenance, and reproduction: in most species involving defense, and in some the rearing of the young. (Foot 2001, pp. 31– 32)
As for human beings, Foot concludes: In spite of the diversity of human goods (…) it is therefore possible that the concept of a good life plays the same part in determining goodness of human characteristics and operations that the concept of flourishing plays in the determination of goodness in plants and animals. (p. 44)
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Moreover, practical imperatives are modeled against the background of natural principles. Even though Foot admits that it is a long way to go from a speciesnotion of the good life in the kingdom of animals to a notion of the good life of persons, she also says that there are some bridges that can be restated. Persons are finally focused on flourishing as notion of the good life that is – to some degree – independent of individual wishes and desires. Comparable to the good life of animals, it is good for persons to orient themselves towards that notion of the good life. On the other hand, John McDowell wishes to restate Aristotle’s notion of “second nature” (McDowell 1994). He says that we cannot expect that Aristotle possesses a modern philosophy of science. A theory of ethical naturalism presupposes a level of explanation which is value-free. In modern times, natural sciences have this property. For sure, Aristotle did not possess a value-free theory of nature (McDowell 1995). Therefore, an ethical naturalism which claims building a bridge between an explanatory level in terms of “nature” and attributes such as “good” cannot be found in Aristotle’s ethics. But Aristotle presents another insight which is convincing and which also builds a bridge to a notion of human nature. He says that ethical learning presupposes a process which includes the formation of one’s first nature. In particular, virtues are meant to conclude this process. In order to give a fair treatment of both approaches to Aristotle’s concept of nature and of the good life, much more would have to be said about the theoretical frames within which both authors develop the theses they defend. Moreover, much more would have to be said about the concepts of natural capacities that both employ. It is not the space here for doing so.¹¹ Instead, I wish to highlight some aspects that relate to the question of how human flourishing is reasoned as a normative notion. In particular, I shall draw on the interpretation of the function argument in section one in order to highlight some critique that appears necessary in order to adjust the interpretations to what Aristotle stated in his ethics. Following the interpretation of the function-argument in section one, Philippa Foot appears to overrate the role of a notion of natural kinds in Aristotle’s naturalism. In the interpretation presented in the first section, Aristotle does not rely on a normative species notion in order to classify a good life of persons; instead, he introduces a notion of excellent performances of natural capacities. Natural capacities are described in the approach to the human soul which differs from theses about species membership in the philosophy of nature in Aristotle. Moreover, Aristotle draws a sharp contrast between persons and other forms of
For an extended discussion, see Kallhoff 2010, pp. 178 – 188.
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life in highlighting the role of reason and the function of ethical standards besides the function argument. John McDowell, instead, underrates the Aristotelian endeavour of explaining living entities in natural sciences. One might argue that some of Aristotle’s doctrines in biology are now outdated. Yet, the overall explanatory frame for explaining the “good life” of living entities still has its merits, and moreover does not express a value-theory. Aristotle wishes to say that ethical standards also need to imply a notion of “appropriateness” which relates what is good to concepts of basic natural capacities. Besides these critiques, both approaches to a notion of the good human life try to establish an immediate link between natural capacities and a notion of the good life. Even though McDowell frames his approach within a systematic bracket that transcends an immediate grasp of any natural capacities and instead highlights language as a realm of knowledge, he nevertheless identifies basic capacities that need to be shaped by means of virtues and virtuous activities. Here, we find nature as something like the bedrock of a process of formation that – in the end – transcends the human being’s first nature in terms of a second nature. In Philippa Foot’s writings, instead, practical reasoning remains tied to a concept of species-membership. Here again, human nature in terms of belonging to a distinct life-form in the realm of nature, has formatting power. Without that, persons would not be in a situation to develop a perspective on what a good life really consists in.
3 Three moderate interpretations I shall now turn to interpretations which formulate a more modest goal in reassessing Aristotelian naturalism. They say that Aristotle got something right about the good life of persons in introducing natural capacities, but he did not get everything right. Instead, his approach to human nature and the ethical principles which he presents accordingly, need profound reassessments. In particular, a new systematically appropriate place of Aristotelian naturalism in moral theory needs to be defined. In the remainder of this section, I wish to discuss three options in turn: (a) human nature as raw material for processes of self-formation as proposed by Julia Annas (2005; 2011), (b) human flourishing as a basic notion of well-being in Martha Nussbaum’s theory of justice (Nussbaum 1990, 1993, 2000, 2004, 2006), and (c) the natural form as an instance of self-constitution as outlined by Christine Korsgaard (2009). None of these authors addresses Aristotelian naturalism as a coherent approach to ethics; instead, they think that Aristotle’s claims can be restated as side-constraints for a theoretical framework
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which builds on other doctrines. Yet, in all three approaches, human flourishing figures as the interpretation of a good life of persons.
Ad a: Human nature as raw material Julia Annas is in the camp of authors who rejects ethical naturalism as a comprehensive moral doctrine. Moreover, she pays particular attention to the differences between persons as rational beings and living entities which do not possess reason (Annas 2005, pp. 15 – 16). Yet, Annas acknowledges that Aristotle attempts to introduce a naturalist basis in virtue ethics. Following Annas, this claim can be interpreted in two different ways. She distinguishes a weaker version from a stronger version of Aristotelian naturalism. The weaker version says that human nature constrains rationality in two ways. First, some attempts in transforming our life “will just be unrealistic” (Annas 2005, p. 17). Human nature is less plastic than authors in our times think. Secondly, “even if we could transform and reshape ourselves in this way – even if we could make ourselves more plastic in this respect – this couldn’t be a good way of life for beings with our human nature.” (Annas 2005, p. 18; Italics by Annas) The stronger version, instead says that “our human nature is simply the material that our rationality has to work with. … Human nature does not have to be seen as wholly plastic and transformable into anything at all; after all, a good craftsperson will respect the potentials of the materials.” (Annas 2005, p. 22) In this latter sense, naturalism includes standards of appropriateness relating to natural endowment. In elaborating further on the dependency of the good life on existing preconditions, Annas employs a “skill-analogy” (Annas 2011). She wishes to acknowledge the fact that persons are in a situation to shape their lives, but they cannot invent them from the scratch. Instead: “In the metaphor used in ancient ethical philosophy, the circumstances of your life are the material you have to work on, and living your life is working on these materials to make a product.” (Annas 2011, p. 93) This material includes factors beyond one’s control such as a particular age, a particular genetic disposition, gender, height etc.; having a particular nationality, culture, and language, having received a particular upbringing and education. It also includes what Aristotle termed “natural virtues” which basically represent inborn temper (Annas 2011, p. 94). Even though Annas wants to stick with “goodness in the living of a human life” and not with “goodness transcending a human life” (Annas 2011, p. 114), she rejects the view that any normative orientation could be developed from the notion of “human nature”. A skill is a technique which results from commitment to values as well as from exercising
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which appears to be a good way of leading a life.¹² But, following the stronger version, nature also makes an appearance as material with a distinct shape. It provides a background of human excellence in that it includes particular potentials of self-evolvement.
Ad b: Human nature as basic functional capabilities Even though human flourishing was initially introduced into the debate on Aristotelian ethics as a translation of eudaimonia, it later served as a term in theories of social justice. In particular, authors who refer to Aristotle in interpreting the good life of persons employ this term. Even though Martha Nussbaum is far from supporting ethical naturalism, she develops a list of capabilities which refers to Aristotle’s insights in the nature of man.¹³ In the context of a theory of social justice, basic capabilities are not intended to express moral demands addressed to those who possess the capabilities; instead, they are meant to explain basic potentialities of persons which need to be unfolded in order to lead a good life (Nussbaum 2000, pp. 71– 72). Moral claims are mediated by claims of justice, which in Nussbaum’s approach are primarily addressed to political institutions. Nevertheless, there is an inherent normative claim here. Nussbaum shares the Aristotelian presupposition that the human kind – as all types of natural kinds – can be described as entities whose essential characteristic functionings suffice for defining a certain type of being. Even though she rejects the idea that the background for reasoning this relationship is a theory of
In a different way, Alasdair MacIntyre also articulates nature as a raw material which persons are demanded to form. This turn is particularly interesting because MacIntyre once rejected Aristotelian naturalism as simply expressing a metaphysical stance on biology. In Dependent Rational Animals (1999) MacIntyre states that persons are not only depending on their natural capacities. Instead, moral development is – in part – a process in which persons learn to cope with their nature. Moral development is a development of “ascent” in which persons get more and more consciously detached from their animal nature; in the same time, they succeed in integrating it into a more comprehensive identity. In an earlier version of the capabilities approach, this allusion is more explicit. Nussbaum starts with a “human life-form”, that initially also resulted from Aristotelian insights about human nature. Moreover, she states that the moral impact of her capabilities list also results from the fact that the capabilities describe human life in its very basic structure. She speaks of “spheres of human existence” (Nussbaum 1990, p. 228), of “grounding experiences” (Nussbaum 1993, p. 243), of “features of humanness” (ibid.) and of “the shard condition of human existence” (ibid., p. 249). It is this type of essentialism that contributes to the idea that something morally important is at stake.
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“human nature”, she develops an account of human capacities that is essentialist. She argues that a range of capacities are ingredients in a range of presuppositions without which a good life cannot be realized. Moreover, each person needs these capacities in order to live well. Yet, she also admits that Aristotle’s notions do not refer to “dignity” and “personhood” in a modern sense of the words. Instead, Nussbaum draws on authors, including John Stuart Mill and Karl Marx, in order to explain dignity and the value of persons (Nussbaum 2000, pp. 72– 74). Aristotle’s insights are translated into concepts which substitute essentialist claims encapsulated in dynameis and hexeis. In particular, the content of basic capabilities shall be derived from other sources, i. e. by imagining other forms of life (Nussbaum 2006, pp. 352– 356).
Ad c: Human nature as instance of self-constitution One of the most fiercely attempts to reintroduce an Aristotelian conception of the “natural form” of living entities comes from a Kantian philosopher. Even though Christine M. Korsgaard defends the claim that Aristotle and Kant – different as their theories are – are regarding fundamental insights in morality much closer to each other than one might presuppose, this recent turn in Korsgaard’s moral philosophy is nevertheless surprising. In Self-Constitution. Agency, Identity, and Integrity (2009), Elisabeth Korsgaard explains how an Aristotelian theory about human nature succeeds in supporting a theory of personhood which has its footing in Kant’s moral theory. In particular, a concept of a natural form serves as an essential constituent of self-constitution. Before explaining how an Aristotelian notion of the biological make-up and its good-making properties relate to the overall good life of persons, it first needs to be mentioned that Korsgaard indeed comes close to Aristotelian ideas which are encapsulated in the function argument. In explaining the “constitution of life”, Korsgaard claims that “Aristotle extended his account of artifactual identity to living things with the aid of the view that a living thing is a thing with a special kind of form.” (Korsgaard 2009, p. 35.) She then continues to explain the relationship to “goodness”: […] goodness is not a goal for people, but rather is our name for the inner condition which enables a person to successfully perform her function – which is to maintain her integrity as a unified person, to be who she is. This is why Plato and Aristotle always compared health to virtue. (Korsgaard 2009, p. 35)
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Korsgaard sees this relationship founded in a “complex notion of teleological organization”: A good giraffe action, such as nibbling the tender green leaves at the tops of the trees, keeps the giraffe going, for it provides the specific nutrients needed to constantly restore and refurbish her giraffeness through the nutritive process. Yet, the giraffe’s action is one to which she is prompted by instincts resulting from her giraffe nature. (Korsgaard 2009, pp. 35 – 36)
Korsgaard then explains the difference between artifacts and living entities and concludes: “being a giraffe is not a state, but rather an activity.” (Korsgaard 2009, p. 36) Moreover, Korsgaard interprets this as foundational for the understanding of “identity”: “To be a giraffe is simply to engage in the activity of constantly making yourself into a giraffe: this is what a giraffe’s life consists in.” (Korsgaard 2009, p. 37) Later on, Korsgaard builds these insights into her moral theory. She first explains that a living thing is a thing with a self-maintaining form, which needs to be (continuously) reproduced (See Korsgaard 2009, p. 93). Korsgaard also insists that even though the difference between the movements of plants or animals and persons is evident, there is nevertheless a “continuum” which ties both together, human action as being “at the extreme end of a continuum” (Korsgaard 2009, p. 98). Persons do not only react to instincts, but rather are in a situation to taking “the desire for food to provide him with a reason for going to the refrigerator.” (Korsgaard 2009, p. 105) Yet, this mechanism is something which already animals possess. In order to understand it correctly, instincts must be regarded as having two sides. An animal’s instincts determine her to hunt when she is hungry, flee when she is afraid, fight when she is threatened, and so on. Instinctive action is autonomous in the sense that the animal’s movements are not directed by alien causes, but rather by the laws of her own nature. (Korsgaard 2009, p. 106)¹⁴
One interesting question is how Korsgaard (2009) determines the relationship between the existence of a continuum on the one hand and her notion of autonomy which is – according to Kant – pure spontaneity. One answer to this question is given when Korsgaard states that there are two senses of autonomy or self-determination. “In one sense, to be autonomous or self-determined is to be governed by the principles of your own causality, principles that are definitive of your will. In another, deeper, sense to be autonomous or self-determined is to choose the principles that are definitive of your will. (…) Every agent, even an animal agent, is autonomous and self-determined in the first sense, or it would make no sense to attribute her movements to her. Only responsible agents, human agents, are autonomous in the second and deeper sense.” (Korsgaard 2009, p. 108)
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Even though Korsgaard argues for transcending nature in order to lead a morally engaged life, she introduces Aristotle’s concept of nature as the organizational structure of a distinct being as an ingredient in human life, too. Moreover, she states that there is this unifying entity; even if persons need to engage for actively developing that unification after having left a natural state of being, it still appears to provide an interlayer against which the development takes place. Different as all three proposals are, they all have two goals in common. Each author wishes to integrate a notion of “human nature” which coheres with some insights of Aristotle in that concept. In particular, nature is interpreted as a set of inborn capacities whose essential characteristics are of particular importance for leading a good life. They need to be kept intact and developed through the life span of individual persons. Even though natural concepts do not necessarily cohere with biological concepts and interpretations of our times, they are intended to portray nature as an explanation of the presuppositions for living a life as a specified natural kind. The authors do not only say that this “natural form” is significant in ethics. Each author also tries to define an adequate place for this notion within an approach to ethics which – in its central premises – deviates from Aristotle’s interpretation of that space. In particular, none of the authors wishes to argue that nature includes potentials whose “good development” is predefined. Instead, they say that taking natural capacities into account contributes to rethinking the general hypothesis that human nature is unlimited plastic. This rather modern thesis is substituted by an approach that does not only highlight the limits of plasticity. Instead, two of the core insights of Aristotle regarding the capacities of the soul are being reiterated. They say: A) The good life of persons is not only constrained by inborn capacities; instead, inborn natural capacities provide a source of joy and are the backbone of a good life if (and this is important) they are being developed in a good way.¹⁵ B) In order to develop the parameters of an objectively good life, it is necessary to look into nature and to compare human capacities with the capacities of non-human animals and living beings. Even though the differences are striking, the points of comparisons should also not be forgotten either: Persons as well as animals and plants are said to flourish if they develop characteristic activities in a good and in a typical way throughout a life-span.
Here, everything depends on the interpretation of a “good way” – this is the reason why Aristotle spends so much place in his ethics on a discussion of the virtues.
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4 Neo-aristotelian naturalism reexamined Approaches to Aristotelian ethical naturalism which aim at reestablishing a naturalist moral theory have received manifold profound critique. It is not the place here to reiterate that critique.¹⁶ Instead, I wish to ask whether or not the modest interpretations of the last section deserve the same criticism as more foundational approaches to Aristotle’s ethics. As opposed to the stronger versions of ethical naturalism, more modest approaches as portrayed in section three have a different focus. They say that Aristotle is right in claiming that persons need to respond to their natural endowments in order to develop a good life.¹⁷ But moral claims are only indirectly linked to claims about human nature. None of the approaches includes a duty to flourish; nor do duties of justice immediately relate to human flourishing. Instead, the authors argue for an approach to human flourishing that does refer to human flourishing as a constitutive condition of a more complex notion of personhood. Korsgaard appears to refer to the form of living entities, and of persons in particular, in this way. Other authors have tied claims of justice to a notion of human flourishing. They say: If human flourishing denotes a basically good life, and if flourishing is “objective” in the sense of providing a very basic notion of the good life which still leaves realm for a more comprehensive approach (as for instance one that also relates to personal wishes and desires), claims for a fair distribution of basic goods that provide conditions for human flourishing are justified.¹⁸ Either in terms of the natural form of living entities, or in terms of a basically good life, in these approaches, a theory of human nature articulates constraints which moral theory needs to respond to. These claims can even be defended regarding Martha Nussbaum’s capabilities approach, which – at first glance – has little to do with Aristotelian ethical naturalism. At the heart of Nussbaum’s approach to political philosophy is the list of basic capabilities. Nussbaum concedes that Aristotle’s insight in the
For a profound critique, which pays respect to both sides of criticism, see Hursthouse (1999), pp. 192– 216. In particular, Aristotle’s theory of the soul is an attractive alternative to dualist approaches to mental and physical states. Aristotle’s alternative to a post-Cartesian anthropology rests on two pillars: First, the soul is interpreted as a distinct organization of natural capacities; as dynameis, these capacities are inhabited and simultaneously the background of personal developments. Secondly, natural capacities are materially realized. Third, natural capacities tend to be realized; in humans, this is the presupposition for leading a basically good life. I have defended a similar claim in Kallhoff (2011). In my view, a certain range of basic public goods provide the basic conditions of human flourishing.
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make-up of persons does not suffice in order to explain a basically good life. Nevertheless the concept of human flourishing remains central to her interpretation of the good life. In particular, she also concedes that her notion of human nature is explicitly evaluative, even ethically evaluative (Nussbaum 2006, p. 181). Moreover, she introduces something like a moral meaning of human flourishing, when she embarks on the critique of Kantian ethics. For Kant, only humanity and rationality are worthy of respect and wonder; the rest of nature is just a set of tools. The capabilities approach judges instead, with the biologist Aristotle…, that there is something wonderful and wonder-inspiring in all the complex forms of animal life. (Nussbaum 2000, p. 306)
Nussbaum also states: The species norm is evaluative, as I have insisted; it does not simply read off norms from the way nature actually is. But once we have judged that a capability is essential for a life with human dignity, we have a very strong moral reason for promoting its flourishing and removing obstacles to it. (Nussbaum 2006, p. 347)
In order to explain the relationship between normative claims and human flourishing, Nussbaum embarks on contexts and conditions which are necessary in order to develop basic capabilities. She thereby alludes to the notions “harmful” and “beneficial”. Yet, the concepts cannot be explained without also including an axiological meaning of “flourishing” as a notion of the good life of persons. Christine Korsgaard, instead, does not have to imply a similar premise in addressing the “life-form” of living entities. Yet, different from the initial interpretation of “self-constitution” and the role of nature as a sheet from which persons successfully emancipate, later in her book “unification” appears to be something which persons rather still need to refer to in terms of a unifying principle of agency instead of transcending it. She says: “And in order to reunite, you have to have a constitution, and your movements have to issue from your constitutional rule over yourself.” (Korsgaard 2009, p. 213) She explicitly states that persons as well as giraffes need a unifying principle against which they develop.¹⁹ Yet, in
A quote which shows this is taken from the final chapter of Self-Constitution, entitled “How to be a person”: “What is an agent? An agent is the autonomous and efficacious cause of her own movements. (…) It’s also true that in order to be autonomous, it is essential that your movements be caused by you, by you operating as unit, not by some force that is working in you or on you. So in order to be an agent, you need to be unified – you need to put your whole self, so to speak, behind your movements. That’s what deliberation is: an attempt to reunite yourself behind some set of movements that will count as your own.” (Korsgaard 2009, p. 213) And in
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persons, this role shall be fulfilled by the moral law. But a moral law lacks two of the properties which are essential in defining a “form” and for forms fulfilling functions of unification and self-constitution. A moral law is neither composed of essential ingredients which guarantee that the form remains the same, even though changing through time. Nor is it something which evolves spontaneously. Yet, these two characteristics are not only critical to Aristotle’s interpretation of human nature. They are also necessary in order to fulfill the function of a “form” which serves as a background for processes of change and self-determination.²⁰
5 Conclusion In this contribution, I have distinguished two ways of interpreting naturalist doctrines which respond to a naturalist interpretation of Aristotle’s function argument. Both amount to a notion of “human flourishing” that relates the good life of persons to a concept of human nature. Yet, both ways of interpreting this link are different. On the one hand, the reassessment of Aristotelian naturalism has been regarded as part of the foundation of a moral doctrine. Then, the concept of nature is critical for shaping notions of the morally good life. Philippa Foot has made this claim explicit; she has reasoned a theory of the good life that amounts to a naturalist interpretation of doing the right thing, because it coheres with the human life-form. On the other hand, a more modest interpretation says that Aristotelian insights about human nature are still important; yet, they will only serve as side-constraints in articulating moral claims – claims which need to be defended on separate grounds. This second option also reiterates some of the central insights of Aristotle on human nature. Moreover, it is “human nature” in an essentialist, yet biological sense of nature that is the focus of concern – even though biology in Aristotle’s times differs significantly from biological insights of our times. What distinguishes this second approach from notions of human nature which are more common today is not only the evaluative aspect in it. Moreover,
the following section, Korsgaard continues: “So every rational agent must will in accordance with a universal law, because it is the task of every rational agent to constitute his agency. “ (Korsgaard 2009, p. 214) In my view, Korsgaard is not in a situation to really defending the continuum-claim about living entities. Even though self-distance and what Annas calls “working on nature as raw-material” can also be discussed from a Kantian perspective, she needs to decide whether or not morality includes human nature as a form which provides a unifying background or a moral law which cannot fulfill the same functions as a form.
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Aristotle conceives of human nature as a set of enabling capabilities of the good life. Even though nature needs to be formed, it does not have to be “left behind” in order to lead a good life. It is rather – in Julia Annas’ terms – the raw material which provides the stuff that persons need to work on in order to realize a good life. Yet, this interpretation comes to a price. The debate does not relate to moral insights that have been framed in terms of “duties” or in terms of “dignity” of persons. When moral claims relate to human flourishing, the reason for this is only to some degree an inherent value of flourishing. In particular, any such value cannot be stated without presupposing that self-development is a process that persons engage in, and engage in by profiting from rational capacities too. It is not a blind process; nor is it spontaneous in the sense of an automatism. Moreover, the moral claims are indirectly related to human flourishing: If a person chooses to flourish and if she needs a good development of her capabilities in order to lead a good life, claims of justice need to include a fair distribution of means for realizing and developing human capacities. Yet, authors of our time refrain from relating any duties to human flourishing in a more direct way. The main reason is that “human nature” does not include norms of a good life. Instead, it is conceived of as “raw material”, yet as a type of raw material that includes perspectives of self-development. In this respect, the notion of “human flourishing” has an evaluative connotation. Apparently, the main problem of reconsidering Aristotle in a constructive way is not the underlying “metaphysical biology” as both Alasdair MacIntyre and Bernard Williams once claimed. Instead, it is the doctrine of standards of excellence which can at least in part be derived from nature itself that authors in modern times cannot easily subscribe to. Moreover, the modern experience is also an experience of individuals which tend to flourish “dangerously” and which are occupied with tendencies which do not contribute to the overall good life. Yet, a reexamination of the concept of natural capacities as potentials to a good life might contribute to a reassessment of that view too.
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Martin Rhonheimer
Willensfreiheit und klassische Tugendethik vor der Herausforderung durch die Neurowissenschaften 1 Die Neurowissenschaften als Erben der modernen Evolutionsbiologie Heutige Evolutionsbiologen bezeichnen den Menschen in der Regel als „Produkt der Evolution“. Würde sie nur vom menschlichen Organismus sprechen, so hätte sie Recht und dies wäre unproblematisch. Nun ist aber „der Mensch“ nicht einfach mit dem menschlichen Organismus gleichzusetzen. Den Menschen als ganzen, in seiner leib-geistigen Wirklichkeit einfach nur als „Produkt der Evolution“ zu betrachten ist zumindest durch die Evolutionsbiologie selber noch nicht begründet. Es bräuchte dazu einer zusätzlichen, und zwar materialistischen, Metaphysik. Ähnliches gilt in ganz neuer und hochaktueller Weise für die heutigen Kognitions- bzw. Neurowissenschaften. Sie bilden gleichsam die Applikation der Evolutionstheorie auf die Gegenwart. Ihre Vertreter betrachten den Menschen typischerweise als reinen Organismus, dessen kognitive Funktionen nicht nur durch das Gehirn bzw. das Zentralnervensystem gesteuert sind, sondern gerade darin ihren Sitz haben. Genauso wie für Evolutionsbiologen Gene den Entwicklungsprozess des Lebens steuern, so ist es nun für Neurowissenschaftler angeblich das Gehirn, welches fühlt, denkt und entscheidet. Bewusstsein oder Freiheit sind nur noch subjektive Epiphänomene oder Wahrnehmungsweisen dessen, was sich im Innern des Gehirns auf der Ebene neuronaler Verschaltungen bereits zuvor und definitiv abgespielt hat. Doch gleich wie eine evolutionsbiologische Reduktion des Menschen, seines Selbstbewusstseins und dessen, was wir Geist nennen, auf reine Biochemie (DNA, Genetik, Epigenetik usw.) der Verabsolutierung einer wissenschaftlichen Teilerkenntnis gleichkommt, ist es auch mit der Idee, das Gehirn fühle, erkenne oder entscheide. Der Teil wird für das Ganze genommen¹ und damit wird jenes Ganze, das der Mensch ist, aus den Augen verloren.
Vgl. zu diesem „mereologischen Fehlschluss“ (die Kritik daran geht auf Ludwig Wittgenstein zurück): Bennett und Hacker 2003; Fuchs 2009.
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Obwohl Physik und Biologie uns wesentliche Aufklärung über unsere Herkunft, Stammesgeschichte und die Funktionsweise unseres Organismus vermitteln, dürfen wir uns nicht von den Naturwissenschaften vorschreiben lassen, was der Mensch ist und wie wir von ihm zu denken haben. Wir sollten ein methodisches Prinzip berücksichtigen, das ich Prinzip der Anthropozentrik nennen möchte (nicht zu verwechseln mit dem sogenannten „anthropischen Prinzip“): Das Prinzip der Anthropozentrik besagt, dass wir erkenntnistheoretisch und philosophisch den Menschen nicht von der Evolution her, sondern – gerade umgekehrt – die Evolution bzw. die neuronalen Prozesse im Gehirn vom Menschen her interpretieren müssen. Wir finden als Ergebnis der Evolution ein Faktum vor, das ebenso akzeptiert werden muss: Wir finden als – vermutlich definitives – Ergebnis jenes Naturprozesses, den wir Evolution nennen, ja eben gleichsam als dessen Krönung, den Menschen als geistiges, freies, personales Wesen. Dieses Faktum kann nicht durch Hinweis auf die rein biologische oder materialistische Struktur des Prozesses der natürlichen Selektion und seinen teilweise zufälligen Charakter wegdefiniert werden. Es bleibt ein Faktum, das nach einer Erklärung verlangt. Jede rein biologische Erklärung bleibt dabei aber selbstwidersprüchlich. Denn der Mensch ist ja nicht nur Produkt der Evolution, er kann sich auch selbst als solches erkennen, ja er kann überhaupt die Natur, zu der er gehört, und ihre Geschichte verstehen und sich dieses Verstehen wiederum zunutze machen. Deshalb sind wir gleichsam aus der Natur herausgehoben, können sie befragen sowie unsere eigenen Interessen und nicht nur diejenigen der Natur verfolgen. Unsere Umwelt ist deshalb nicht einfach Natur, sondern immer auch von uns selbst, zwar mit Hilfe der Natur aber oft gegen deren „Interessen“, geschaffene Kultur. Wir erfahren uns als ein Gefüge von Sinn, das selbst wiederum nicht aus der bloßen Natur und ihrer Geschichte ableitbar ist und uns über diese erhebt. Falls wir nicht die Augen vor uns selbst verschließen, wissen wir also, dass wir nicht einfach nur ein Produkt der Evolution sind. Deshalb können wir auch aus unserer Perspektive die Natur und ihre Geschichte, die Evolution, nach ihrem Sinn befragen. Dagegen schreibt der Neurowissenschaftler Wolf Singer: Der einzig wirklich auffällige Unterschied zwischen den Gehirnen verschiedener Säugetierspezies ist die quantitative Ausdifferenzierung der Großhirnrinde. Im Vergleich zu anderen Tieren, und auch dann nur in Relation zur Körpergröße, haben wir, hat Homo sapiens, mehr Großhirnrinden-Neuronen. Das führt zu der sehr unangenehmen Schlussfolgerung, dass offenbar alles das, was uns ausmacht und uns von den Tieren unterscheidet, und damit auch alles das, was unsere kulturelle Evolution ermöglichte, offenbar auf der quantitativen Vermehrung einer bestimmten Hirnstruktur beruht. (…) Es scheint, als seien all die geistigen Qualitäten, sie sich unserer Selbstwahrnehmung erschließen, durch die besondere Leis-
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tungsfähigkeit unserer Gehirne in die Welt gekommen. (Singer 2004, S. 40, Kursiv hinzugefügt)
Hier wird als „offenbar“ behauptet, was ohne weitere Begründung keineswegs offensichtlich ist. Das Beweisziel („nur das Gehirn zählt“) wird bereits als Prämisse vorausgesetzt. Zudem enthält der Satz „Es scheint, als seien all die geistigen Qualitäten, sie sich unserer Selbstwahrnehmung erschließen, durch die besondere Leistungsfähigkeit unserer Gehirne in die Welt gekommen“ einen Fehlschluss. Er unterscheidet nicht zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen. Die Neurowissenschaft vermag erfolgreich zu zeigen, dass Gehirnaktivität eine notwendige Bedingung für geistige Akte ist; nicht aber, dass sie dafür auch eine hinreichende Bedingung ist. Dass es ohne Gehirntätigkeit nicht nur kein Fühlen, sondern auch kein Denken und geistiges Erkennen gibt, ist Aristotelisch und war bereits der mittelalterlichen Scholastik, etwa Thomas von Aquin, bekannt. Kein Neurowissenschaftler hat je ein Argument dafür vorgelegt, dass das neuronale Geschehen im Gehirn eine hinreichende Erklärung für geistige Akte ist. Hingegen gibt es gute Argumente für das Gegenteil. Ich kann diese Argumente hier nicht entfalten, sondern möchte nur darauf hinweisen, dass diese Zusammenhänge gerade für eine Tugendethik von großer Bedeutung sind. Wie ich zeigen möchte, kommt damit die heutige Neurowissenschaft der klassischen Tugendethik zu Hilfe. Bereits Darwin hat in seinem Spätwerk The Descent of Man behauptet, menschliche Intelligenz unterscheide sich nur graduell aber nicht spezifisch von derjenigen der Tiere. Er argumentiert folgendermaßen: Im Unterschied zu den Tieren kann das menschliche Gehirn Sinnesempfindungen besser speichern. Sein Gedächtnis ist besser entwickelt. Da vergangene Sinnesempfindungen im Gedächtnis gegenwärtig bleiben, schaut der Mensch notwendigerweise immer zurück, aber auch nach vorne; dabei reflektiert er über diese Empfindungen und vergleicht vergangene Impulse mit seinen sozialen Instinkten. Durch das Reflektieren über Vergangenes, wird er fähig, sein Verhalten zu kontrollieren, zu beurteilen, zu verbessern und auf die Zukunft hin zu adaptieren. Das, so Darwin, ist die Grundlage menschlicher Intelligenz und Freiheit und auf diese Weise entstehen Moral und Gewissen, das Sätze bildet wie: „Ich hätte nicht gesollt“ oder „Ich sollte“. Dies alles, behauptet Darwin, hat seine Ursache einzig und allein in der zunehmenden Größe des Gehirns und der damit gegebenen besseren Gedächtnisleistung. (Darwin 2004, S. 680 f.) Auch heutige evolutive Ansätze zur Erklärung der Entstehung des Geistigen allein aufgrund der Entwicklung des Gehirns bewegen sich in der Regel auf ähnlichen Argumentationslinien. Sie ablehnen heißt nicht zu behaupten, dass die Entwicklung des Gehirns für das Auftreten geistiger Funktionen in einem Primaten
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wie dem Homo sapiens etwa bedeutungslos gewesen sei, ganz im Gegenteil: die Evolution des Gehirns war dafür eine absolut notwendige Voraussetzung – und vielleicht, von einem bestimmten Zeitpunkt an, auch eine Folge. Doch Darwin vergaß den Ast, auf dem er mit seiner Argumentation saß: Das kleine unscheinbare Wörtchen „reflektieren“, das er ganz selbstverständlich und ohne es weiter zu erörtern in seine Argumentation hineinschmuggelte.² Reflexion indiziert nicht nur Bewusstsein, sondern Selbstbewusstsein. Wie groß auch immer die Fähigkeit des menschlichen Gehirns ist, Sinnesempfindungen zu speichern und über größere Zeiträume hin festzuhalten, so dass sie für reflektierende Beurteilung zur Verfügung stehen: die eigentliche Leistung ist nicht diese, sondern eben das, worüber Darwin kein Wort verliert: die Fähigkeit der Reflexion und damit Selbstbewusstsein. Reflexion und Selbstbewusstsein können nicht einfach durch höhere Gehirntätigkeit erklärt werden. Kein Organ, nichts Leibliches und an Materie Gebundenes hat die Fähigkeit zur Reflexion, das heißt die Fähigkeit, sich selbst zum Gegenstand zu machen. Das Sehen kann sich nicht sehen, das Hören kann sich nicht hören, das Tasten kann sich nicht betasten. Aber der Verstand, so läuft das klassische Argument für die Geistigkeit – das heißt: für die Immaterialität – der menschlichen Seele und ihrer geistigen Vermögen, kann seine eigenen Verstandesakte zum Gegenstand seines Verstehens machen – darüber reflektieren –, der Wille kann sein Wollen jeweils noch einmal wollen oder nichtwollen (und diese Art von Reflexion ist die Grundlage der Freiheit), der Verstand kann auch Sinnesempfindungen und -perzeptionen zum Gegenstand seiner Beurteilung machen (Rhonheimer 2001, S. 157 ff.). Reflexion setzt, so argumentierte die klassische philosophische Anthropologie, Immaterialität voraus und begründet Selbstbewusstsein. Die in ihrer Immaterialität implizierte kognitive Indetermination und Offenheit geistiger Akte ist in mehrfacher Hinsicht die Wurzel von Freiheit, so wie auch die Fähigkeit der Abstraktion des Begrifflichen, das heißt das Allgemeine aus dem Partikularen herauszuschälen und das Partikulare wiederum im Lichte des Allgemeinen, des intelligiblen „Wesens der Dinge“, zu betrachten, Grundlage von Wissenschaft, Kunst und überhaupt aller Kultur ist.
„Hence after some temporary desire or passion has mastered his social instincts, he reflects and compares the now weakened impression with the ever present social instincts; and he then feels that sense of dissatisfaction which all unsatisfied instincts leave behind them, he therefore resolves to act differently for the future – and this is conscience. (…) A pointer dog, if able to reflect on his past conduct, would say to himself, I ought (as we indeed say of him) to have pointed at that hare and not have yielded to the passing temptation of hunting it.“ (Darwin 2004, S. 680)
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Diese besondere Signatur des Geistigen – die Fähigkeit zur Reflexion – ist mehr als bloßes Ich-Bewusstsein, wie es experimentell auch bei Schimpansen beobachtete wurde. Geistiges Ich-Bewusstsein steht jedoch auf einer irreduzibel höheren Stufe. Es ist nicht nur die Fähigkeit, sich selbst in kognitive Differenz zur Umwelt zu versetzen und in diesem Sinne „mich selbst“ oder mein „Ich“ im Unterschied etwa zu meinem Spiegelbild wahrzunehmen (das können auch Schimpansen); sondern auch die Fähigkeit, mich zu mir selbst, und nicht nur zu meinem Spiegelbild bzw. das Spiegelbild zur mir in ein Verhältnis setzen zu können, also eine mentale Repräsentation meiner selbst zu besitzen. Nichts deutet darauf hin, dass andere höhere Primaten, außer dem Homo sapiens, dazu imstande wären. Im Gegenteil: Experimente mit Schimpansen scheinen eher das Gegenteil zu beweisen (Povinelli 2000). Kann also geistiges, spezifisch menschliches Ich-Bewusstseins, also Selbstbewusstsein kausal auf im Gehirn ablaufende neuronale Prozesse zurückgeführt und damit in rein neurobiologischen Kategorien abschließend erklärt werden? Gemäß dem Neurobiologen und Tierphysiologen Gerhard Neuweiler scheint dies nicht möglich zu sein: „Das Ich-Bewusstsein entzieht sich der neurobiologischen Analyse aus mehreren Gründen.“ Denn „übersetzt man den Begriff Geist, der sich in allen kulturellen Leistungen ausdrückt, in neurobiologische Begriffe, so gerät man in ein unentrinnbares Netzwerk von bewussten gedanklichen Vorgängen,von Gefühlswelten und Motivationen und unbewussten Kraftfeldern, die nicht zuletzt all unsere vergangenen Erfahrungen und ihre gefühlten Wertigkeiten widerspiegeln.“ Es lassen sich allerdings für das Geistesleben insbesondere für die Sprachkompetenz des Menschen „einige Randbedingungen angeben“. Es gebe zwar auch bei Tieren und vor allem Menschenaffen „Denken“ und entsprechende sprachliche Kommunikation (ich würde hier allerdings eher von „mentalen“ Operationen sprechen, die auf der Ebene der Sinnesperzeption liegen, aber das ist letztlich eine Frage der Terminologie); doch „Geist, wie er sich beim Menschen auch nichtsprachlich durch Artefakte ausdrückt, hat noch kein Biologe bei irgendeinem Tier nachweisen können.“ Neuweilers Fazit lautet deshalb: „Der Versuch, das Ich-Bewusstsein und den Geist irgendwo im Gehirn zu lokalisieren, wäre unsinnig. Dennoch wird jeder Neurobiologe der These zustimmen, dass es ohne den präfrontalen Cortex kein Selbstbewusstsein und kein Geistesleben geben kann.“ (Neuweiler 2009, S. 196 – 198) Das heißt: Die Neurobiologie kann nur Aussagen über die neurobiologischen Bedingungen und notwendigen physiologischen Voraussetzungen für geistige Tätigkeit und Kultur geben, vermag jedoch nicht zu einer hinreichenden Erklärung dieser Phänomene zu gelangen. Genau solche Unterscheidungen vermisst man bei Neurobiologen wie etwa Gerhard Roth und Wolf Singer.
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2 Geist, Wille und Freiheit: Zum Unterschied zwischen „Ursachen“ und „Gründen“ „Geist“ und „Freiheit“, in denen die christliche Tradition das Ebenbild Gottes im Menschen aufscheinen sah, sind keine Fiktionen oder Mythen, sondern gleichsam der Ast auf dem wir sitzen (und an dem zu sägen wir uns hüten sollten). Sie sind das Fundamentale, das, weil es eben so fundamental ist, gerade trivial erscheint und in seiner Bedeutsamkeit und Einmaligkeit oft übersehen wird. Um geistige Akte zu vollziehen, brauchen wir ja nicht gleichsam zusätzlich noch zu wissen, dass es so etwas wie „Geist“ gibt; aber wir sollten uns doch überlegen, weshalb wir uns überhaupt eine solche Frage, wie diejenige, ob es denn Geist gibt oder nicht, stellen können. Diese Frage ist wichtiger, als jede andere, wie auch überhaupt, die Fähigkeit, Fragen zu stellen, wiederum Zeichen des Bewusstseins eigenen Nichtwissens ist und deshalb auch Zeichen von Selbstbewusstsein, Reflexionsfähigkeit – und das heißt Geist. Auch um frei zu handeln, braucht man nicht vorgängig oder begleitend zu wissen, dass man Freiheit besitzt; aber da wir uns doch letztlich für unser Tun verantwortlich und uns hie und da auch schuldig fühlen, ja oft ein schlechtes Gewissen haben, oder uns in anderen Fällen eben entschuldigen und Verantwortung ablehnen, scheint uns doch die Überzeugung zu beherrschen, dass wir freie Wesen sind. Neurobiologen, die den freien Willen auf neuronales Geschehen im Gehirn reduzieren und das Bewusstsein freier Willensakte als Illusion betrachten, da das Gehirn allem Bewusstsein zu entscheiden voraus bereits entschieden haben soll, wenden hier ein: Jeder entscheidet und handelt so, wie er ist, das heißt gemäß dem, was ohne sein Wollen und Zutun im Gehirn geschieht. Wir tun also immer nur, was wir ohnehin tun müssen. Was man tut wird jeweils von einer Ursache determiniert, und diese Ursache ist physikalischer Art. Deshalb sind Hirnforscher allergisch auf die unter Philosophen gängige Unterscheidung zwischen „Ursachen“ und „Gründen“. Menschen, so sagt der Philosoph, handeln nicht aufgrund von Ursachen, sondern aus Gründen. Was nur verursacht ist, das ist keine menschliche Handlung, da nicht willentlich und nicht absichtlich. Erst wenn man Gründen folgt, sich also deshalb zu einem Tun entschließt, hat man eine Handlung vollzogen. Naturwissenschaftler wenden hier wiederum ein: Die sogenannten Gründe, da sie Handeln offenbar abschließend motivieren, sind selbst nichts anderes als eine bestimmte Art von Ursachen: mentale Ursachen. Genauso wie Absichten natürlich ebenfalls mentale Ursachen
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sind.³ Wenn wir also erklären können, aus welchem Grund (oder mit welcher Absicht) jemand etwas tut, dann hätte man – wie das bei Donald Davidson der Fall ist – das Motiv seines Tuns und damit auch die Ursache seines Tuns erklärt. Und man wäre wieder am gleichen Punkt angelangt. Der Neurobiologe könnte jetzt nämlich triumphierend sagen: Welche Motive wir jeweils haben, das hängt davon ab, was in unserem Gehirn geschieht. Das Gehirn ist bezüglich unseres Handelns nichts anderes als ein Produzent von Motiven (Gründen), welche die Ursachen sind, die unser Handeln determinieren. Deshalb gefällt Neurobiologen Arthur Schopenhauers Destruktion der Idee der Willensfreiheit (Grün 2009). Schopenhauer ist nämlich der Ansicht, dass unser Handeln durch unseren Charakter und davon abhängende Motive determiniert wird. Im Konflikt der Motive werde unser Wille von genau dem, und ausschließlich von dem Motiv bestimmt, welches das stärkere ist. Wir tun jeweils, was wir tun, nicht weil wir es frei gewollt haben, sondern weil wir gar nicht anders können, als das zu wollen, was uns jeweils am stärksten motiviert. Unser Wollen ist also ganz einfach ursächlich vom jeweils handlungsdeterminierenden Motiv bestimmt. Damit wird auch die Unterscheidung zwischen Ursachen und Gründen hinfällig, denn: „Jede Folge aus einem Grunde ist nothwendig, und jede Nothwendigkeit ist Folge aus einem Grunde.“ (Schopenhauer 1977, 49) Man will nur, was man jeweils aufgrund der Motive wollen kann, so wie das Wasser Wellen schlagen, sprudelnd hinunterstürzen, frei als Strahl in die Luft steigen oder verkochen kann – vorausgesetzt, so Schopenhauer, die entsprechenden Ursachen sind gegeben. Genau so „dreht sich gleichsam der Wille, wie eine Wetterfahne auf wohlgeschmierter Angel und bei unstätem Winde, sofort nach jenem Motiv hin, welches die Einbildungskraft ihm vorhält“, wobei wir immer fälschlich denken, wir könnten frei wollen. In Wirklichkeit folgend wir jedoch nur immer jenem Motiv, welches Gewalt über uns hat (Schopenhauer 1977, S. 81 f.). Falls es sich so verhielte, wäre das in der Tat für reduktionistische Neurobiologen eine gute Nachricht. Der „Charakter“ wäre dann das Gesamt der Verschaltungen der neuronalen Netzwerke im Gehirn, die Motive, das, was diese jeweils hervorbringen (bevor wir uns dessen bewusst sind) und unsere freien Willensentscheidungen das Bewusstwerden dieser Motive bzw. des jeweils dominierenden Motivs, das unsere Handlungen auslöst. „Gründe“ des Handelns wären dann nur noch die nachgelieferten Rechtfertigungen auf der Ebene des subjektiven Erlebens für das, was das Gehirn bereits entschieden hat. Der eigentliche Grund unserer Handlungen würde
Vgl. auch meine Bemerkungen zur angeblichen, aber in Wirklichkeit gar nicht existierenden Unvereinbarkeit von intentionalen und kausalen Handlungserklärungen in Rhonheimer 2001, S. 57 ff., 97 f., 162.
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also jeweils in unserem Charakter liegen (sprich: dem Gesamt der neuronalen Verschaltungen in unserem Gehirn) und jede Willensentscheidung wäre kausal an jeweils ein Motiv gebunden, und zwar an jenes, welches vom Gehirn als das ausschlaggebende selektioniert worden ist. Nun ist aber Schopenhauers Darstellung in einem wesentlichen Punkte falsch. Es ist zwar wahr, dass Gründe letztlich Motive sind und Motive Ursachen. Falls aber Schopenhauer Recht hätte, dann müssten wir uns selbst als Subjekte erfahren die – passiv – zwischen verschiedenen Motiven jeweils hin- und hergerissen werden, bis wir dann schließlich einem folgen. Nach Schopenhauer stammen die Motive ja von unserer Einbildungskraft und diese wieder ist vom Charakter abhängig. (Schopenhauer 1977, S. 82) Doch wenn wir unschlüssig sind, schwanken, überlegen und in uns selbst deliberieren, das Für und Wider von Handlungsalternativen abwägen oder plötzlich etwas anderes wollen, das dieses Wollen selbst wiederum in Frage stellt, und auch wenn wir unser Wollen revidieren oder warten, aufschieben oder aber schwach werden und nachträglich bereuen: in all diesen Fällen sind wir nicht einfach passive, zwischen verschiedenen Vorstellungen hin und her gerissene Subjekte, die dem Auf und Ab von Motiven, die unsere Einbildungskraft, produziert, ausgeliefert sind. In Wirklichkeit sind wir normalerweise dabei, über Motive zu reflektieren – und genau dieses Moment der Reflexion ist es, dessen wir uns bewusst sind und in dem wir die Freiheit unseres Willens erfahren.⁴ Freiheit heißt deshalb nicht, ohne Motiv zu handeln. Freies Handeln ist auch nicht unverursachtes oder nichtdeterminiertes Handeln. Freies Handeln ist vielmehr verursacht aus Gründen. Solche Gründe sind in der Tat Ursachen und sie determinieren den Willen. Was unterscheidet aber einen Handlungsgrund von anderen Arten von Ursachen? Er unterscheidet sich darin, dass er ein Motiv ist, das der Vernunft entstammt (die englische Sprache hat den Vorteil, für „Gründe“ das Wort reasons zu besitzen). Handlungsgründe, insofern sie freies Handeln bestimmen, sind also Vernunftgründe. Das bedeutet nicht, dass freies Handeln nicht determiniert ist. Doch geht solcher Handlungsdetermination ein bewusstes Abwägen voraus, das freilich von nicht der Vernunft entstammenden Faktoren – etwa Emotionen, Gewohnheiten, Umwelteinflüssen – unterstützend oder hindernd beeinflusst werden kann. Gründe, die Handeln verursachen, sind jedenfalls Produkte subjektiv-rationaler Abwägungsprozesse (Habermas 2005, S. 159 ff.). Sie setzen die Existenz von Neigungen und Impulsen bereits voraus, unterziehen diese aber einer rationalen Prüfung (Keil 2007, S. 177). Aufgrund solcher Prozesse tun wir dann jeweils das, was uns die Vernunft als „gut“, das heißt „hier und jetzt
Vgl. dazu auch die klassischen Analysen der „second order desires“ bei Frankfurt 1971; Taylor 1985a und Taylor 1985b.
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zu tun“ erscheinen lässt. Man kann gar nichts anderes Wollen, als ein „Gutes“. Man kann sich darin täuschen, ob etwas wirklich oder nur dem Scheine nach gut ist. Aber um zu handeln, muss das Motiv unseres Handelns unter dem Gesichtspunkt des „hier und jetzt für mich Guten“ auftreten, sonst wäre es kein Motiv. Hier sind wir nun einmal mehr bei Aristoteles angelangt, denn genau diese Erkenntnis ist Grundlage seiner Tugendethik.⁵ Die Freiheit ist also nicht in der Ungebundenheit des Wollens hinsichtlich seiner Motive zu suchen, sondern in der Fähigkeit der Vernunft, über ihre eigenen Motive zu reflektieren und der Tatsache, dass wir mit dem Wort „Wille“ genau jenes Streben bezeichnen, das nur durch Vernunft determiniert zu werden vermag. Und das ist genau, was bei Schopenhauer ausgeklammert wird. Er lässt die Vernunft einfach unter den Tisch fallen. Wie jedoch Thomas von Aquin lehrte, ist gerade die Vernunft die „Wurzel der Freiheit“; sie ist es als Ursache der Freiheit, weil „der Wille deshalb in verschiedene Richtung gezogen werden kann, weil die Vernunft das Gute in verschiedenen Hinsichten zu erfassen vermag“⁶. Die menschliche Freiheit ist zwar im Willen verortet; was aber Freiheit verursacht, ist die Vernunft. Die Freiheit des Willens liegt nicht in seiner angeblichen reinen Spontaneität – diese Vorstellung ist Kantisch –, sondern in seiner Natur, allein von der Vernunft bestimmt und damit aktiviert werden zu können (das ist kein Intellektualismus, da das Vernunfturteil selbst wiederum positiv oder negativ emotional bedingt ist und selbst wiederum vom Willen bejaht oder verneint werden kann: intelligo quia volo, „ich erkenne, weil ich will“⁷). Als geistiges Vermögen vermag jedoch die Vernunft wiederum über ihre eigenen Urteile urteilend zu reflektieren; damit hat sich der Wille in seiner Gewalt und kann sein eigenes Wollen aus wieder anderen Gründen auch nicht wollen. Genau das ist es, was wir alle in uns erfahren und was wir als Freiheit erfahren (Rhonheimer 2001, S. 157– 163). Irgendwann kommt dieser Prozess dann freilich zum Abschluss und jener „letzte Wille“, der dann tatsächlich zur Handlung wird, ist in diesem Sinne auch tatsächlich von dem letzten willensbestimmenden Vernunfturteil – Grund – determiniert. ⁸ Vgl. Aristoteles 1985, vor allem Buch III. Zum Folgenden: Rhonheimer 2001, 49 ff., 91 ff. Thomas von Aquin 1952, I – II, q. 17, art. 1 ad 2. Thomas von Aquin 1965, q. 6, art. unicus. So verstanden, stimme ich mit dem bei Bieri 2009, S. 287 f., Gesagten überein, dass man nämlich am Ende „nur das eine wollen und tun können wird“, dass es also tatsächlich eine Handlungsdetermination aus persönlicher Geschichte und dem Resultat rationaler Abwägung gibt. Soweit ich sehen kann, impliziert das nicht notwendigerweise, dass das nachdenkende Subjekt als Diskursteilnehmer in diesem Abwägungsprozess ausgeschaltet und zum unbeteiligten Spielball eines deterministischen Naturgeschehens reduziert wird, wie Habermas gegen Bieri einwendet (vgl. Habermas 2005, S. 162).
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Schopenhauers Phänomenologie ist also falsch, und das kann jeder an sich selbst beobachten. Wir werden nicht passiv von Motiven unserer Einbildungskraft hin- und hergerissen und unterliegen schließlich dem stärksten Motiv – obwohl das natürlich zuweilen auch vorkommen mag, aber es ist nicht der Normalfall rationaler Abwägung und Entscheidung.Vielmehr reflektieren wir über Ziele, Mittel und Motive, wir deliberieren, verwerfen, approbieren, ändern unsere Meinung usw. Neurobiologen meiden das Phänomen der Reflexion wie der Teufel das Weihwasser. Und dennoch ist es in unserem Bewusstsein, das eben immer auch Selbstbewusstsein ist, ständig gegenwärtig. Wie kann Reflexion, Urteile über Urteile, Selbstgespräche über Für und Wider, Abwägen von Handlungsalternativen und -motiven anders erklärt werden als eben durch die Fähigkeit zur Reflexion? Welchen neuronalen Vorgängen entspricht Reflexion als Bewusstsein von Bewusstsein, Denken des Denkens, Erkennen des Erkennens,Wollen (oder Nichtwollen) des eignen Wollens? Oder will man behaupten, dass, wenn wir überlegen, abwägen und deliberieren, das Gehirn in Wirklichkeit schon entschieden hat und alle Reflexion mit Gründen über Gründe in unserem Inneren nur eine Illusion sei, ein Versuch, das vom Gehirn bereits Entschiedene nachträglich zu rationalisieren? Das ist nicht möglich, da wir ja nur dann überlegen und abwägen können, wenn das Gehirn offenbar noch nichts entschieden hat; sobald es entschieden hat, sagt die Neurobiologie, wird uns das ja bereits als determinierendes Handlungsmotiv (oder -grund) bewusst. Folglich müsste die Reflexion, das Abwägen von Motiven, selbst neuronal verursacht sein, wobei man aber einem unendlichen Regress verfiele und wir zu einem Zuschauer – einem bewussten Zuschauer – komplexer biochemischer „Abwägungsprozesse“ in unserem Gehirn würden. Das scheint absurd.
3 Von Schopenhauer und den Neurowissenschaften zur Tugendethik Dennoch hat Schopenhauer und mit ihm die Neurobiologie in einem ganz wesentlichen Punkt Recht, und hier kommen wir nun zum eigentlich entscheidenden Punkt, auf den ich hinaus will: Der freie Wille ist nicht ein unbeschriebenes Blatt, reine Indifferenz, die sich dann ganz rational auf die eine oder andere Seite neigt. Wie wir denken, urteilen und uns schließlich entscheiden, das hängt in der Tat in einem sehr hohen Maße von unserem Charakter ab. Nicht nur vom Charakter im eigentlichen Sinne, nämlich dem, den wir geerbt haben; sondern von jenen Charaktereigenschaften, die erworben, Frucht vorhergehender Entscheidungen, Lebensweisen, aber auch von frühkindlichen Prägungen, Erziehungs-, Sozialisations- und anderen Umwelteinflüssen sind. Solche Charakterzüge sind
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Handlungsdispositionen – Aristoteles nennt sie hexis, auf Latein: habitus –, die darüber entscheiden, was uns jeweils als gut erscheint, und die unser Fühlen und Wollen in bestimmte Richtungen lenken. Erworbene Charaktereigenschaften oder Handlungsdispositionen, die uns zur Wahl des jeweils Guten und Richtigen lenken, nennt man Tugenden; diejenigen, die eine Neigung zum Schlechten bewirken und zu entsprechendem Tun geneigt machen, Laster. Tugenden potenzieren die Freiheit, weil sie vernunftkonform sind und deshalb auch die Fähigkeit der Vernunft, das Handeln durch Gründe zu bestimmen, vergrößern; Laster vermindern die Freiheit, weil sie sich zur Vernunft dysfunktional verhalten und Handeln aus ungeregelter Leidenschaft, Affektivität, Emotionalität oder auch aus jener reinen, unvernünftigen Spontaneität des Willens fördern, die man auch „Stolz“ oder „Hochmut“ nennt. Dies ist das Vokabular der klassischen Tugendethik. Erkenntnisse und Methodik der Tugendethik finden in der heutigen Neurobiologie eine unerwartete Stütze. Die Neurobiologie ist in der Tat imstande, für wesentliche Aussagen der klassischen Tugendethik eine neurophysiologische und damit für die Anthropologie der leib-geistigen Einheit des animal rationale unverzichtbare Ergänzung zu liefern. Sie vermag nämlich zu erklären, weshalb der klassische, auf Aristoteles zurückgehende tugendethische Satz, dass jedermann Motive und Handlungsziele so sieht und ihm das Gute so erscheint, wie er selbst beschaffen ist (qualis unusquisque est, talis finis videtur ei ⁹) nicht nur richtig, sondern auch moralisch relevant ist. Nur dem Guten – das heißt dem affektiv gut disponierten –, so besagt dieser Satz, erscheint nämlich auch das wahrhaft Gute als ein Gutes (nur gerechten Menschen scheint das Gerechte – eine konkrete Forderung der Gerechtigkeit – erstrebenswert, also nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ein zu erstrebendes Gut); dem Lasterhaften erscheint hingegen erstrebenswert und gut, was in Wahrheit nicht gut ist (etwa Ungerechtes oder Unmäßiges). Die Motive unseres Handelns und die Art, wie wir darüber reflektieren, werden durch diese Charakterdispositionen mitbestimmt, ja geradezu vorgespurt und soweit wir für diese Dispositionen verantwortlich sind, tragen wir auch für die dadurch verursachten Handlungen die Verantwortung. Vieles, vielleicht das Meiste, tun wir nicht, weil wir dies hier und jetzt sozusagen ab ovo überdenken, sondern weil wir schon jene Art von Menschen sind, durch die wir uns aufgrund früherer Entscheidungen gemacht haben und diese Entscheidungen sich zu Dispositionen ausformen, die unser weiteres Wollen und Tun in bestimmte Richtungen lenken. All das vermag die Neurobiologie zu stützen, denn sie zeigt uns, dass unser Gehirn, ohne welches ja auch im menschlichen Geist nichts läuft, eine riesengroße
Thomas von Aquin 1952 I, q. 83, art. 1, arg. 5: Aristoteles 1985, 1114a 32 – b 1.
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Plastizität besitzt, dass durch jede Entscheidung und Handlung, durch Umwelteinflüsse und Interaktion mit anderen Menschen sich – bis ins hohe Alter – die neuronalen Vernetzungen im Gehirn ständig verändern, neue Netzwerkstrukturen aufgebaut werden und andere verschwinden können. Tugenden und Laster besitzen also eine neuronale Basis im Gehirn. Genau deshalb hat Schopenhauer natürlich wiederum Unrecht, wenn er schreibt: „Der Charakter des Menschen ist konstant: er bleibt der selbe, das ganze Leben hindurch. (….) Der Mensch ändert sich nie.“ (Schopenhauer 1977, S. 89) Die Hirnforschung sagt uns genau das Gegenteil: wir verändern uns ständig, auch wenn nicht alles ständig veränderbar ist. Dennoch: Auch geerbte oder im Kleinkindalter erworbene und damit praktisch unveränderliche Charaktereigenschaften können – in gewissen Grenzen – durch neuerworbene Handlungsdispositionen, Tugenden eben, kontrolliert, neutralisiert, in gute Bahnen gelenkt werden. Schopenhauer hat also Unrecht und ist in Wirklichkeit kein zuverlässiger Verbündeter für eine „neurowissenschaftliche Grundlegung der Ethik“. Dass es zwischen Tugendethik und neurobiologischen Argumentationsmustern gewisse Zusammenhänge gibt, wurde übrigens gerade von Autoren erkannt, die einer „neurowissenschaftlichen Grundlegung der Philosophie“ das Wort reden. Während nach Meinung einer Vertreterin dieses Programms die Hirnforschung „ein moralisches Gesetz, dessen Grund der Verbindlichkeit a priori in Begriffen der reinen Vernunft liegt“ – also Ethik im Sinne Kants – als „hinfällig entlarvt“, werde durch die neurobiologische Betrachtungsweise verständlich, weshalb für menschliches Handeln gerade die Gefühls- und charakterbedingten Dispositionen ins Gewicht fallen müssen (Thorhauer 2009, 67 f.).¹⁰ Dass damit, wie sogenannte Neurophilosophen meinen, Kant bereits wiederlegt ist, will ich nicht behaupten. Jedenfalls: Wenn Moralität nur sein kann, wo der Wille von aller empirischen Neigung frei, er also allein von Vernunft bestimmt ist, dann ist Moralität nicht möglich, weil die Vernunft eine solche Freiheit gar nie besitzt. Sie ist als praktische Vernunft in ihrem Urteil immer von Neigungen, Charakterdispositionen, Affektivität und Emotionalität mitbestimmt – so wie ein jeder charakterlich beschaffen ist, so erscheint ihm zunächst einmal auch das Gute und so wird der Wille motiviert. Diese das „Erscheinen des Guten“ mitbestimmenden Dispositionen, so behaupten Aristoteles und mit ihm Thomas von Aquin, werden auch von körperlichen Faktoren mitbestimmt.¹¹ Prägungen oder Verschaltungen im Gehirn bestimmen also mit, was uns affektiv und spontan als vernünftig und gut
Thorhauer hat hier allerdings eher die heutige angelsächsische virtue ethics im Auge, die sich von der klassisch-antiken in wichtigen Punkten unterscheidet. Siehe dazu Annas 1993. Thomas v. Aquin 1952, a.a.O., ad 5.
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erscheint.¹² Je nachdem, auf was diese Prägungen uns festlegen, kann das ein Segen oder ein Fluch, Tugend oder Laster sein. Menschliche Vernunft besitzt jedoch zudem die Fähigkeit über sich selbst zu reflektieren, damit das Gute unter verschiedenen Hinsichten in den Blick zu bekommen und deshalb Motive abzuwägen und charakterbedingte Neigungen auch zu hinterfragen. Aber sie besitzt nicht die Freiheit, unabhängig von Motiven zu urteilen und der Wille, dessen Akt von der Vernunft bestimmt wird, kann keine größere Freiheit, als diejenige der Vernunft besitzen. Wer deshalb wie Kant Unabhängigkeit von Neigung und Charakter zur Bedingung von Moralität macht, also für die Sittlichkeit des Handelns ein von aller Neigung unabhängiges Vernunfturteil fordert, der verlangt Unmögliches und eigentlich Unmenschliches. Besser ist es, sittlich gutes Handeln als jenes zu beschreiben, das gute, moralisch üble Handeln hingegen als ein solches, das schlechten Charaktereigenschaften und emotionalen Handlungsdispositionen folgt. Auch wenn sich feststellen ließe, dass unser Handeln, zum Guten wie auch zum Schlechten, zu einem überwiegenden Teil – sagen wir 90 Prozent – auf Gewohnheiten, Routinen, habituellen Verhaltensmustern, eingeübten und immer wieder durchgespielter Entscheidungsstrategien, auf Internalisierung von Regeln, aber auch organischen Bedingtheiten, emotionalen und affektiven Dispositionen und dabei eben immer auch auf entsprechenden Verschaltungen im Gehirn beruht, braucht das weder zu erstaunen noch Angst zu machen. Unser Handeln ist Teil eines Lebensflusses, in dem die genannten Faktoren bestimmend sind. Je nach dem, ob diese Faktoren selbst vernünftig oder unvernünftig sind, das heißt: zum Guten oder zum Schlechten führen, potenzieren oder depotenzieren sie die praktische Vernunft, in konkreten Abwägungen und dann im Handeln das Gute und Richtige zu treffen. Die Vernunft, die hier allein fähig ist, das, was wir Freiheit und einen freien Willen nennen, zu verursachen, ist also nicht ausgeschaltet. Sie kann sich durch dieses Bedingungsgefüge einen Weg bahnen, es selbst mitbestimmen und verändern. Ja, dieses Bedingungsgefüge ist in mancher Hinsicht selber Folge freier Entscheidungen. Zudem gibt es einen Unterschied zwischen rein auf Emotionalität, Sinnlichkeit oder geistloser Routine beruhendem Handeln und einem solchen, das wir tugendhaft nennen. Letzteres ist, auch wenn es durch erworbene Dispositionen – Habitus – bestimmt ist, vernunftkonform und deshalb, da durch Vernunftgründe bestimmt, auch freier als ein Handeln, das sich auf
Dazu, dass die Vernunft immer auch eingebettet ist in die Prägungen durch Emotionen, Gefühle, und davon abhängig, vgl. die bahnbrechenden Forschungen von Damasio 2006. Damasios Ergebnisse sind eine Bestätigung der klassisch-thomistischen Anthropologie; vgl. dazu Mattison 2001.
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Gründe stützt, die im Schlepptau der unkontrollierten Leidenschaft und Sinnlichkeit formiert werden. Dass Tugenden vernunftpotenzierende Charakterprägungen, Laster aber das Gegenteil sind, beruht darauf, dass Tugenden keine Routinen sind, sondern gerade dazu führen, „kreativ“ und nicht stereotyp zu handeln. Der Mensch ist kein bloßes Instinkt- oder Triebwesen. In dieser Hinsicht ist er ja gerade ein Mängelwesen (A. Gehlen). Deshalb braucht der Mensch Vernunft. „Das biologische Lebewesen ‚Mensch‘ wäre ohne geistige Leistungen nicht lebensfähig; es könnte als Tier nicht überleben.“ (Coreth 1986, S. 123) Tugend ist eine Leistung des Geistes, gleichsam in die sinnlichen Strebungen eingeprägte Vernünftigkeit. Tugenden sind deshalb nicht Verhaltensmuster. Sie übernehmen „in gewissem Sinne die Rolle von Verhaltensmustern – nicht jedoch als Verhaltensmuster, sondern an deren Stelle“ (Müller 1998, S. 62). Tugenden sind nicht starre Verhaltensmuster, aber auch nicht ebenso starre Vernunftregeln, sondern im Zusammenspiel von Affektivität und Vernunft eine moderierende Ergänzung sinnlicher Antriebe. „Sie bringen Stabilität anstelle von Starrheit in den Haushalt der menschlichen Antriebe“. (Müller 1998, S. 63) Sie ermöglichen in der Vielfalt der Situationen und Anforderungen, aber auch angesichts einer „zähmungs- und stärkungsbedürftigen Natur“ und hinsichtlich der Verfolgung spezifisch menschlicher Zwecke ein Handeln, das in der einzelnen Situation das wahrhaft Gute und Richtige trifft. Dies lässt sich etwa am Beispiel der Tugend der Tapferkeit (fortitudo), oft auch „Starkmut“ genannt, und seinem Gegenteil, der Tollkühnheit auf der einen und der Feigheit auf der anderen Seite, erläutern. Der Tapfere ist ein Mensch, der den Gefahren trotzt, Angst zu überwinden vermag, anpackt, trotz Schwierigkeiten durchhalten kann, wenn es erfordert ist, der Geduld zeigt, aber auch weiß, wann seine Kräfte überfordert sind, der wenn nötig Hilfe sucht, fähig ist, das Gerechte zu tun, auch wenn es mit persönlichen Nachteilen verbunden ist, der sich beherrschen und gegen plötzliche Leidenschaften Widerstand leisten kann, usw. Diese Tugend zeigt sich nicht in einem bestimmten Typus von Handlung oder einem Verhaltensmuster. Es ist schwierig, aufgrund des äußeren Tuns darauf zu schließen, ob dies nun eine tapfere Handlung war oder nicht. Je nachdem wird der Tapfere eben der Gefahr trotzen oder fliehen, er wird dies oder etwas anderes tun – dies hängt davon ab, wie die Situation beurteilt wird. Der Feige hingegen wird immer fliehen, der Tollkühne immer jeder Gefahr zu trotzen versuchen: beide handeln nicht aufgrund von Vernunftgründen, sondern ihr Handeln ist emotional bestimmt – auch wenn es rationalisiert zu werden vermag – und folgt deshalb eher einem starren Verhaltensmuster. Das Verhalten kluger, tugendhafter Menschen ist viel weniger voraussehbar als dasjenige lasterhafter Menschen. Je lasterhafter also ein Mensch ist, desto unvernünftiger und damit stereotyper handelt er; desto mehr ist er auch den Prägungen seines Charakters ausgeliefert – und desto mehr ist er
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deshalb vielleicht auch ein geeigneter Kandidat für Versuche, die zeigen, dass wir jeweils nur wollen, was unser Gehirn bereits entschieden hat. Jedenfalls, so scheint mir, findet die klassische, tugendethische Lehre, dass Tugend zur Vernunft befreit und Laster den Menschen versklavt – Aristoteles meinte ja sogar übertrieben, der Lasterhafte sei der Umkehr völlig unfähig – in der heutigen Hirnforschung eine gewisse Stütze (so lange Hirnforschung nicht reduktionistisch verstanden wird). Es scheint, dass lasterhaftes und somit weniger durch Vernunft als durch Emotionen allein gesteuertes Verhalten, neurobiologisch relativ gut erklärbar ist – bis hin zu nachträglichen Rationalisierungen und Rechtfertigungen von Handlungen. Tugendhaftes Handeln hingegen, das vernunftgesättigt und gleichsam Inkarnation der Vernunft im Gefüge menschlicher Sinnlichkeit, Emotionalität und Affektivität – keineswegs also Ausschaltung des Sinnlichen und Emotionalen – und in diesem Sinne „vernunftgeordnete Leidenschaftlichkeit“ ist, erscheint, da mehr vernunftbestimmt, weniger „neuronal erklärbar“ zu sein. Zudem denke man an Beispiele heroischer und ganz unerwarteter Nächstenliebe oder Selbstaufopferung, selbst von Menschen, von denen man dies nie erwartet hätte. Aber auch an das Phänomen der Bekehrung, der radikalen Neuorientierung im Leben, das Phänomen des aszetischen Ringens, die Fähigkeit des Menschen, unkontrollierte Gefühlsaufwallungen zu kontrollieren und nicht handlungsbestimmend werden zu lassen – all dies passt einfach schlecht ins Bild einer nur nachträglichen Erlebnisperspektive dessen, was im Gehirn bereits entschieden wurde. Es scheint hier eher, der vernunftgeleite Wille werde hier zum Widersacher neuronaler Prägungen (und damit selbstverständlich auch zur Ursache neuer, wünschenswerter Prägungen und Vernetzungen). Es liegt in der Natur solcher Phänomene, dass ihre neuronale Substruktur experimentell nicht nachgeprüft werden kann: sie sind in weitläufige Lebenszusammenhänge eingebettet. Unser Leben und damit auch unsere Freiheit besitzt eine narrative Struktur. Die Versuchsanordnungen von neurobiologischen Experimenten werden diese nie simulieren können, ohne sie als Lebenszusammenhänge und narrative Strukturen zu zerstören und damit zu irrelevanten experimentellen Ergebnissen zu gelangen.
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4 Klassische Tugendethik: die Überwindung der reduktionistischen Metaphysik der Neurowissenschaften und der Kantischen Illusion einer Freiheit aus „reiner Vernunft“ Trotz allen Konfliktstoffes mit einer rein neurowissenschaftlich begründeten Ethik gibt also dennoch ein gewisses, ja recht hohes Maß an Übereinstimmung. Die Übereinstimmung wäre eine totale, wenn die Neurowissenschaft die Existenz jener Sphäre des Geistigen anerkennen würde, die sich in der Fähigkeit zur Reflexion offenbart, anstatt sie a priori zu leugnen. Es schiene mir besser, alle Seiten würden eingestehen, dass es eine letztliche und saubere Erklärung, wie „Geist“ und „Materie“ im Falle des Menschen zusammenwirken bzw. sich wechselseitig durchdringen ohne dabei ihrer ontologischen Differenz verlustig zu gehen, nicht geben kann; sie entzieht sich ganz einfach unserem Erfahrungshorizont. Dennoch bleiben die Phänomene bestehen. Wir werden sie mit Hilfe einer ihre Grenzen bewussten, nicht-reduktionistischen Hirnforschung bestimmt um einiges besser interpretieren und auch Sphären moralischer Verantwortlichkeit von solcher rein pathologischer und unverschuldeter Prägungen besser unterscheiden können (dies sicher auch mit Folgen für das Strafrecht).¹³ Die Hirnforschung hilft uns sicher auch, uns von manchen neuzeitlichen Illusionen der Existenz einer total nichtkonditionierten menschlichen Freiheit zu verabschieden. Kurz: Sie wird dazu beitragen können, dass wir die klassische Anthropologie des animal rationale wieder besser verstehen, damit aber auch die Vernunft als eigentliche Wurzel und Ursache unserer Freiheit und Würde in den Blick bekommen. Die Vernunft ist es, die den Menschen zur „Krone der Schöpfung“ macht, und ihn über alles erhebt, was die Evolution vor ihm hervorgebracht hat. Solange jedoch die reduktionistische Neurobiologie in materialistischer Manier a priori behauptet, alle Bewusstseinsphänomene seien neuronal erklärbar, ist Übereinstimmung und fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Hirnforschung und Ethik, die es ohne die Idee der Freiheit nicht geben kann, kaum denkbar. Dazu noch einmal Wolfgang Prinz: Die Idee eines freien menschlichen Willens ist mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren. Wissenschaft geht davon aus, dass alles, was geschieht, seine Ursachen hat und dass man diese Ursachen finden kann. Für mich ist unverständlich, dass
Entsprechende Ansätze einer Neuroethik nicht-reduktionistischer Art bietet Glannon 2011.
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jemand, der empirische Wissenschaft betreibt, glauben kann, dass freies, also nichtdeterminiertes Handeln denkbar ist (Prinz 2004, S. 22).
Diese Aussage scheint zwar wissenschaftstheoretisch sauber, enthält aber eine unausgesprochene metaphysische Prämisse: nämlich dass es nur materielle Ursachen geben kann. Zudem liegt ihr eine falsche Vorstellung von Willens- und Handlungsfreiheit zugrunde, gegen die ja im Vorhergehenden bereits Argumente angeführt wurden: Freies Handeln ist keineswegs „nichtdeterminiertes“ Handeln, sondern Handeln aus Gründen, das heißt aufgrund von Motiven und damit von Ursachen, die aus der Vernunft stammen. Freies Handeln ist also durch Vernunftgründe determiniertes Handeln. Die Freiheit liegt in der Fähigkeit der Vernunft, das Gute unter verschiedenen Hinsichten zu sehen und über ihre eigenen Urteile – potentiell ad infinitum – zu reflektieren. Dies impliziert deshalb nicht, dass es Handlungen gibt, die keine Ursache besitzen. Man muss dazu auch nicht leugnen, „dass alles, was geschieht, seine Ursachen hat und dass man diese Ursachen finden kann“, wie Prinz formuliert. Es impliziert alleine, dass nicht alle Ursachen kausalmechanischer bzw. materieller Natur sind und dass naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht alles Wirkliche und Seiende begrifflich zu fassen vermag. So wie Gene nur für Proteine codieren können, sind Neuronen allein imstande physikalische Phänomene zu verursachen. Doch wie ein neurobiologisch aufgeklärter Psychiatrieprofessor sagt: „… we humans are not prisoners of our genes or our environments. We have free will“ (Ratey 2002, S. 34): da wir Menschen einen freien Willen haben, sind wir weder Gefangene unserer Gene noch unserer Umwelt, aber auch nicht Spielbälle dessen, was das Gehirn in uns „entscheidet“, weil das Gehirn eben tatsächlich gar nichts entscheidet. Das absolut Fundamentale und deshalb oft trivial Erscheinende umgibt uns. Dazu gehört auch die Erfahrung unseres geistigen Innenlebens, unser Selbstbewusstsein und die Reflexivität unserer Vernunft. Wir leben darin, gewöhnen uns daran und übersehen es gerade deshalb leicht in seiner Fundamentalität. Wir vergessen auch, dass die „Welt“ des Menschen nicht einfach die jeweils natürliche Umwelt ist, sondern eine Welt, die er als geistiges und historisches Wesen, individuell und gemeinschaftlich, selbst geschaffen hat. Öffnen wir die Augen für die menschlichen Leistungen der Kultur, der Kunst, der Dichtung und natürlich der Wissenschaft und suchen wir Ähnliches anderswo in der Natur, so finden wir nichts Vergleichbares und verstehen, dass Kultur, Kunst, Wissenschaft weder Natur noch einfaches Produkt der Natur sind. Sie sind vielmehr Produkt und zugleich Abglanz des Geistes, eines höheren Geistes, an welchem der Mensch teilhat und in dem sein Menschsein letztlich gründet. Dieses Wissen und das damit verbundene Selbstverständnis des Menschen offen zu halten und immer
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wieder ins kollektive Bewusstsein zu rücken, erscheint gerade in einem naturwissenschaftlich geprägten Zeitalter von besonderer Dringlichkeit.
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Christoph Halbig
Ein Neustart der Ethik? Zur Kritik des aristotelischen Naturalismus Der aristotelische Naturalismus (= AN) verspricht, in der Formulierung Philippa Foots, nicht weniger als einen „fresh start“ der Ethik.¹ Er lässt sich insgesamt als Einlösung des von G.E.M. Anscombe in „Modern Moral Philosophy“ (Anscombe 1958) formulierten Programms verstehen. Dieses Programm wiederum beruht auf einer Krisendiagnose, die die Aporien zum Gegenstand hat, in die Anscombe die moderne Moralphilosphie verstrickt sieht. Für Anscombe sind die für die neuzeitliche Philosophie fundamentalen deontischen Kategorien wie etwa die der moralischen Pflicht entweder gebunden an die Konzeption eines göttlichen Gesetzgebers oder aber sie werden sinnlos und eignen sich lediglich als rhetorische Instrumente der Überredung oder auch der schlichten Einschüchterung. Sieht man – wie Anscombe dies zumindest im Rahmen des genannten Aufsatzes es tut – von der Möglichkeit einer Erneuerung des theistischen Naturrechts ab, bleibt Anscombe zufolge nur die folgende Option: We should no longer ask whether doing something was ‘wrong’, passing directly from some description of an action to this notion; we should ask whether, e. g. it was unjust; and the answer would sometimes be clear at once. (Anscombe 1958, S. 180)
Anscombe zufolge gilt es also, deontische Kategorien aus unserem ethischen Vokabular zu entfernen und sie durch aretaische zu ersetzen. Bevor freilich die Rekonstruktion der Ethik auf tugendethischer Grundlage möglich wird, ruft Anscombe zu einem Moratorium ethischer Reflexion insgesamt auf: Erst wenn im Rahmen eines solche Moratoriums (i) zentrale handlungstheoretische Begriffe wie ‚Absicht‘ oder ‚Handlung‘ selbst sowie anthropologische wie der menschlichen Natur bzw. des menschlichen Gedeihens adäquat geklärt worden seien, um dann auf dieser Grundlage (ii) die Frage zu beantworten, was eine Tugend ausmacht und bei welchen Charaktermerkmalen es sich überhaupt um Tugenden handelt, könne der Versuch einer Erneuerung ethischer Reflexion sinnvoll in Angriff genommen werden (Anscombe 1958, S. 188, 193).
So der Titel des ersten Kapitels von Foot (2001). Auch wenn der Titel mit einem Fragezeichen versehen ist, bedeutet dies angesichts von Foots „overt aim of setting out a view of moral judgment very different from that of most moral philosophers writing today“ (ebd., S. 5) keine Einschränkung des mit ihm erhobenen Anspruchs.
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Der AN nun scheint genau jene Arbeit zu leisten, für die Anscombe ihr Moratorium gefordert hatte – nämlich eben die Klärung grundlegender anthropologischer und handlungstheoretischer Begriffe, die Formulierung einer Tugendlehre auf dieser Grundlage und schließlich die Verbindung zwischen Tugendlehre und einer auf sie gestützten Konzeption von Ethik, die aretaische Kategorien nicht wie etwa Kant als derivativ, sondern ihrerseits als primär betrachtet. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass der AN keineswegs den ‚Königsweg‘ für die Einlösung des Anscombe’schen Programms darstellt. Vielmehr, so meine These, verstellt der AN² aufgrund einer ganzen Reihe von fragwürdigen, aufeinander aufbauenden Hintergrundannahmen den Blick auf eine adäquate Theorie der Tugend und ihrer Leistungsfähigkeit für die Ethik. Um diese These plausibilisieren zu können, bedarf es indes zunächst eines Blicks auf die Gründe, die eine solche Position als ausgesprochen attraktiv erscheinen lassen (1). Ich möchte drei dieser Gründe hervorheben und erläutern – der AN verspricht (i) eine überzeugende Lösung des Problems der Objektivität moralischer Urteile, ohne (ii) dabei ontologisch fragwürdige Verpflichtungen einzugehen und er liefert (iii) den Ausgangspunkt für eine nicht-formalistische, materiale Ethik ohne jedoch dogmatische Voraussetzungen in Anspruch nehmen zu müssen. Alle drei vermeidlichen Stärken des AN erweisen sich jedoch als illusionär. Um dies zu zeigen möchte ich im Hauptteil meines Beitrags zwei Kernannahmen des AN hervorheben, sie näher charakterisieren und dann einer Kritik unterziehen: Die erste dieser Annahmen stellt die metaethische These dar, dass es sich bei ‚gut‘ immer um ein attributives Adjektiv handelt (2), die zweite, dass die Spezies das Substantiv darstellt, dem ‚gut‘ zu attribuieren ist und aus der sich folglich die Kriterien für die Bewertung der Angehörigen dieser Spezies ableiten lassen müssen; diese zweite Annahme führt auf die Grundidee des AN zurück, eine alle lebenden Wesen übergreifende Struktur der Bewertung aufzudecken. Sie steht indes, wie zu zeigen sein wird, in Spannung zu der zusätzlichen Behauptung, dass die nur für den Menschen spezifische Rationalität alle natürlichen Vorgaben soweit transformiert, dass sich die Bezeichnung als ‚gut‘ (oder ‚schlecht‘) nunmehr allein auf den vernünftigen Willen des Menschen bezieht (3). Nachdem zwei Strategien, die sich hier ergebenden Schwierigkeiten innerhalb des Ansatzes des AN zu bewältigen,
Die Rede von einem AN sollte dabei keinesfalls die Unterschiede übersehen lassen, die zwischen den unter diesem Label versammelten Philosophinnen und Philosophen bestehen,vgl. etwa für eine prägnante Erörterung der zwischen Foot und Thompson bestehenden Unterschiede Wolf (2010). Im Folgenden stehen jedoch die generischen Merkmale im Vordergrund, die für diese Position als solche konstitutiv sind und an denen sich eine Prüfung seiner allgemeinen Leistungsfähigkeit im Theoriespektrum der Normativitätstheorie und der Ethik wird orientieren müssen.
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diskutiert und als inadäquat verworfen worden sind (4), wird geprüft, ob es der Rekurs auf die Kategorie der Tugend dem AN erlauben könnte, dem Dilemma der drohenden Leere einerseits, wie sie in der Berufung auf das durch keine natürlichen Vorgaben beschränkte Vernünftige als Maßstab des Handelns liegt, dem Rekurs auf dem eigenen Ansatz externe Ressourcen wie etwa die Anerkennung intrinsisch guter bzw. schlechter Sachverhalte andererseits, zu entgehen. Hier zeigt sich allerdings, dass die Kategorie der Tugend in der Deutung, die sie durch den AN erfährt, gerade nicht den Schlüssel zum Ausweg aus diesem Dilemma darstellt, sondern dass es in der Tugendlehre des AN lediglich verdoppelt wird. (5) Abschließend werden auf der Grundlage der erreichten Ergebnisse die drei eingangs genannten Gesichtspunkte, die die Attraktivität des AN in der gegenwärtigen Debatte verständlich machen, erneut einer kritischen Prüfung unterzogen – dabei wird sich zeigen, dass der AN keine der mit ihm verbundenen Hoffnungen einzulösen vermag. Er selbst ist es, der eines Neustarts bedarf. (6) 1. Zunächst gilt es also, die Überlegungen, die den AN als Glücksfall für die Ethik im Allgemeinen und die Tugend im Besonderen erscheinen lassen, klar zu benennen: Erstens verspricht er aus Sicht seiner Vertreter eine aussichtsreiche Lösung des Problems der Objektivität moralischer Urteile: Wenn das moralisch Böse nämlich als „a kind of natural defect“ (Foot 2001, S. 5) verstanden werden kann, eröffnet sich ein dritter Weg zwischen den gleichermaßen fragwürdigen Positionen von Nonkognitivismus einerseits, Intuitionismus andererseits: Während der Nonkognitivismus dem Anspruch moralischer Wertungen auf Objektivität dadurch die Grundlage entzieht, dass er sie nicht länger als assertorische Sprechakte begreift, sondern ihnen eine sei es primär emotive, sei es primär präskriptive Rolle zuweist, vermag der Intuitionismus einen solchen Anspruch nur dadurch zu retten, dass er ad hoc einfache, nicht-definierbare Entitäten wie eben die Eigenschaft, gut zu sein, postuliert, deren Stellung im Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit ontologisch ebenso rätselhaft bleibt wie die Frage nach unserem epistemischen Zugang zu ihnen. Der AN hingegen schlägt vor, „gut“ als attributives Adjektiv zu verstehen, das Entitäten qua lebende Wesen zugesprochen wird. Wenn etwa das moralisch Böse als natürlicher Defekt von Lebewesen einer bestimmten Art verstanden wird, eröffnet sich die Möglichkeit, zugleich an dem assertorischen Gehalt unserer Wertungen festzuhalten, also den Nonkognitivismus zu vermeiden, und im Gegensatz zum Intuitionismus eine informative Antwort darauf zu geben, was solche Wertungen wahr oder falsch macht: Als Lebewesen mit bestimmten Merkmalen etwa bedürfen Menschen, so die berühmte These von Peter Geach, der
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Tugenden ebenso notwendig wie Bienen ihrer Stachel.³ Die Objektivität moralischer Urteile kann so über die Rolle ihrer Gegenstände in den charakteristischen Lebensformen des Lebewesens Mensch abgesichert werden. Zugleich erlaubt es diese Kontextualisierung unserer Praxis moralischer Urteile als eine Spezies der Gattung unserer Beurteilungen lebender Wesen als solche,⁴ den zumindest deutlich weniger fragwürdigen Objektivitätsanspruch von letzteren auch auf erstere zu übertragen. Zweitens kommt diese Lösung, wie es scheint, ganz ohne fragwürdige ontologische Verpflichtungen aus. Der AN liefert damit Mackies Einwand aus der Merkwürdigkeit, demzufolge wir uns in unseren alltäglichen Urteilen implizit auf die Existenz von Entitäten festlegen, deren Stellung im Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit vollständig ungeklärt und damit eben merkwürdig im Sinne ontologischer Fragwürdigkeit bleiben muss,⁵ deutlich weniger Nahrung als andere Spielarten des moralischen Realismus. Der AN grenzt sich zum einen ab gegen einen Naturalismus im szientistischen Sinne, der als ontologisch respektabel nur das akzeptiert, was zumindest prinzipiell mit den Methoden der Naturwissenschaften erschließen lässt.⁶ Insofern die Methodologien der Naturwissenschaften keine normativen Aussagen zulassen, erweisen sie sich aber aus Sicht des AN schon für das Verständnis des Lebendigen in allen seinen Formen als unzulänglich: Dieses zeichnet sich nämlich eben durch eine natürliche Normativität aus, die weder das Produkt menschlicher Einstellungen ist, noch sich auf bloß deskriptive Sachverhalte, wie sie den Gegenstandsbereich der Naturwissen-
Vgl. Geach (1977), S. 17: „Men need virtues as bees need stings.“ So die von Foot und Hursthouse gleichermaßen geteilte Kernannahme: „My general thesis is that moral judgement of human actions and dispositions is one example of a genre of evaluation itself actually characterized by the fact that its objects are living things.“ (Foot 2001, S. 4) „There is a structure […] in the botanical and ethological evaluation of other living things as good or defective specimens of their kind, which supervenes on evaluations of their parts and behavior as good or defective in the light of certain ends, and this carries over (mutatis mutandis) into evaluation of ourselves as ethically good or bad human beings in respect of our characters.“ (Hursthouse 1999, S. 226) Begründete Zweifel, dass sich die Unterstellung einer solchen alles Lebendige und damit auch den Menschen einbegreifenden, im Wesentlichen identischen Struktur auf die aristotelische Tradition berufen kann, meldet Ricken (2010), S. 204 f. mit Verweis auf die für Aristoteles fundamentale Unterscheidung „zwischen dem spezifischen und dem guten menschlichen Leben“ (Ricken 2010, S. 204) an. Vor diesem Hintergrund muss bereits das Label „aristotelischer Naturalismus“ fragwürdig erscheinen. Für eine Erörterung der strukturellen Unterschiede der Positionen des Aristoteles einerseits, der von Foot und Thompson andererseits, vgl. a. Wolf (2010). Vgl. dazu Mackie (1977), S. 38 – 42. Zu den Schwierigkeiten einer Klärung des Naturalismus-Begriffs in der gegenwärtigen Metaethik vgl. Halbig (2007), S. 279 ff.
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schaften bilden, reduzieren lässt. Die Frage, ob ein Wolf, der nicht im Rudel, sondern für sich allein jagt, ein gutes Exemplar seiner Art ist, lässt sich nach Auffassung des AN nicht durch statistische Aussagen über die Häufigkeit bestimmter Verhaltensweisen innerhalb einer biologischen Art ausmachen, sondern nur durch Rekurs auf sog. Aristotelian categoricals ⁷, die insofern bereits irreduzibel normativ sind, als sie eben beinhalten, was einen guten Wolf ausmacht. Gleichzeitig impliziert diese Zurückweisung eines szientistischen Naturalismus durch den AN jedoch keineswegs die Verpflichtung auf eine supernaturalistische Ontologie. Darin unterscheidet sich der AN von der klassischen Naturrechtskonzeption: Hatte Thomas von Aquin deshalb überhaupt erst von Naturrecht sprechen können,weil er dieses als Art und Weise der Teilhabe vernünftiger Wesen am ewigen Gesetz, wie es Gottes Schöpfungsplan beinhaltet, auffasst,⁸ kommt der AN ohne Verpflichtungen auf einen übernatürlichen Gesetzgeber aus (auch wenn er mit einer solchen Annahme kompatibel sein könnte). Die Lebensform der Spezies Mensch und die für die Bewertung seines Willens bzw. seiner Handlungen leitenden Prinzipien lassen sich dem AN zufolge ganz ohne Rekurs auf die Frage, ob diese Lebensform ihrerseits Gegenstand eines göttlichen Willens ist oder ob das Lebewesen Mensch auch Träger einer unsterblichen Seele ist,⁹ bestimmen. Wiederum scheint der AN einen attraktiven dritten Weg zu eröffnen, der es gleichermaßen erlaubt, die Probleme eines szientistischen Naturalismus wie die eines metaphysisch exzessiven Supernaturalismus zu vermeiden. Drittens schließlich verbindet sich mit dem AN die Hoffnung, eine material reichhaltige Konzeption von Ethik zu ermöglichen: Da der AN nicht wie etwa der kantische Konstruktivismus bei einem bloßen Verfahren ansetzen muss, dass um seiner Voraussetzungslosigkeit und Allgemeingültigkeit willen allein durch formale Merkmale wie eben die strikte Allgemeinheit und Notwendigkeit charakterisiert ist, sondern sich auf eine Hermeneutik der menschlichen Lebensformen stützen kann, um auf dieser Grundlage einen inhaltlich reichhaltigen Katalog von Tugenden und Lastern zu formulieren, ist zu erwarten, dass der AN eben auch eine Vielfalt materialer Bewertungskriterien von Handlungen bereitstellt, die den Herausforderungen etwa der angewandten Ethik und hier insbesondere von Disziplinen wie Bio- bzw. Medizinethik, die den Menschen gerade als lebendiges Wesen thematisieren, eher gerecht zu werden erlauben als Ethiken, die sich auf nur formal definierte Verfahren stützten müssen.
Zum Begriff der „Aristotelian categoricals“ vgl. Foot (2001), S. 30 f.; Thompson (2008), S. 64 f. Vgl. Thomas von Aquin, S.Th. IaIIae, q. 91 a. 2. Für eine konzise Charakteristik der für das Naturrecht als metaethische Position definierenden Annahmen vgl. Murphy (2002). Vgl. Hursthouse (1999), S. 226.
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Stellt der AN mithin tatsächlich einen fresh start (Foot) der Ethik dar, der es erlaubt, den jeweils einander in die Hände spielenden ‚Sackgassen‘ von Nonkognitivismus und Intuitionismus, von szientistischem Naturalismus und Supernaturalismus zu entgehen, und zugleich auf einer so gesicherten metaethischen Basis material hinreichend reichhaltige Kriterien zu entwickeln, die genau den Neubeginn in normativer wie angewandter Ethik ermöglichen, den Anscombe allenfalls nach Ende eines langen Moratoriums in Aussicht genommen hatte? Diese Frage muss, wie ich meine, negativ beantwortet werden. 2. Eine für den Theorietyp des AN zentrale Vorentscheidung fällt bereits auf der Ebene der allgemeinen Normativitätstheorie: Die Vertreter des AN kommen nämlich darin überein, ‚gut‘ im Sinne von Peter Geach als attributives, nicht als prädikatives Adjektiv aufzufassen.¹⁰ Ein prädikatives Adjektiv wie etwa ‚gelb‘ trifft eine Aussage über das Objekt, dem es zugeschrieben wird, völlig unabhängig davon, um welche Art von Objekt es sich dabei handelt: Wenn davon die Rede ist, dass es sich bei x um einen gelben Anorak handelt, dann kann diese Aussage in die beiden Teile ‚x ist ein Anorak‘ und ‚x ist gelb‘ zerlegt werden. Dass es sich bei x um einen Anorak handelt bleibt für das Gelbsein von x irrelevant. Anders bei attributiven Adjektiven: ‚x ist eine große Fliege‘ – ein Beispiel von Geach (vgl. Geach 1956, S. 33) – lässt sich eben nicht gleichermaßen aufspalten in ‚x ist eine Fliege‘ und ‚x ist groß‘. Die Attribution der Größe an x wird nur vor dem Hintergrund von Annahmen über die charakteristische Größe von Angehörigen der Spezies ‚Fliege‘ verständlich – losgelöst davon würde sie keinerlei Erwartungen über die absolute Größe von x zulassen. Geach nun vertritt die These, „‚good‘ and ‚bad‘ are always attributive, not predicative, adjectives.“ (Geach 1956, S. 33) Wenn ‚gut‘ prädikativ gebraucht werde, müsse doch – und werde faktisch auch – stillschweigend ein Substantiv unterstellt, das damit qualifiziert werde: „there is no such thing as being just good or bad.“ (Geach 1956, S. 34) Wie stark die These von Geach verstanden werden sollte, kann hier offenbleiben: J. J. Thomson etwa vertritt sie unter Berufung auf Geach selbst in der starken Form, dass jemand, der etwas als ‚gut‘ sans phrase, also ohne jeden Bezug auf irgendein Substantiv, bezeichne, die Grenzen der Verständlichkeit überschreite.¹¹ Richard Kraut hingegen schlägt vor, sie auf eine schwächere Weise zu verstehen, der zufolge der prädikative Gebrauch von ‚gut‘
Dieser These, die Geach zuerst in Geach (1956) vertreten hat, schließen sich die Hauptvertreter des AN explizit an und wählen sie als Ausgangspunkt ihrer jeweiligen Argumentation: Vgl. etwa Foot (2001), S. 2 f. sowie unter ausdrücklicher Berufung auf Foots Aneignung von Geachs These Hursthouse (1999), S. 1995. Vgl. Thomson (2008), S. 17: „Geach was right: The philosopher who asks, ‚Is knowledge, or pleasure, good?‘ is not asking an intelligible question […].“
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durchaus verständlich sei, ‚gut‘ in einem solchen Gebrauch jedoch schlicht auf nichts referiere. Genau darin besteht aber die Suggestionskraft dieses Gebrauchs – er suggeriert Kraut zufolge, wie etwa der Rekurs auf Phlogiston, die Existenz einer Art von Entität mit erheblicher explanatorischer Kraft (absolute Gutheit verspricht zu klären, woher wir unsere praktischen Gründe beziehen), ohne eine solche Existenzannahme jedoch plausibel machen zu können.¹² Selbst in ihrer schwächeren Lesart jedoch vermag Geachs These nicht zu überzeugen: Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass ‚gut‘ auch als attributives Adjektiv gebraucht wird; dies ist jedoch keineswegs immer der Fall: Wenn es etwa in der Genesis heißt: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.“ (Gen. 1, 31) dann ist eine solche Ausdrucksweise weder unverständlich noch elliptisch, wie Geachs These anzunehmen zwingt: Gott wird am sechsten Schöpfungstag wohl kaum zu dem Ergebnis gekommen sein, dass es sich bei dem, was er da sieht, eben um ein sehr ordentliches Exemplar der Spezies Schöpfung handelt. Viel selbstverständlicher ist geradezu eine umgekehrte Lesart: Weil die Dinge, die Gott erschaffen hat, aus sich heraus, eben intrinsisch gut sind, fügen sie sich zu einer Schöpfung, die ein solches Lob verdient. Nun mag die globale Ebene der Bewertung des gesamten geschaffenen Universums schwer kontrollierbare Probleme aufwerfen; dass aber eine einzelne Episode akuter Zahnschmerzen einfach aufgrund ihrer intrinsischen, nicht-relationalen Eigenschaften es verdient, als ‚schlecht‘ klassifiziert zu werden, erscheint als keinesfalls unverständlich. Was diese Episode schlecht macht sind eben ihre Erlebnisqualitäten; es muss sich bei ihr keinesfalls um ein schlechtes Exemplar der Spezies ‚Schmerz‘ halten, ganz im Gegenteil: Wenn man diese primär über ihre funktionale Rolle als Signale für Fehlfunktionen bzw. Gefährdungen des Organismus interpretiert, dann mag die schmerzhafte Episode ein besonders gutes Exemplar ihrer Gattung sein. Selbst wenn man Zweifel daran hat, dass sich eine adäquate Theorie intrinsischen Wertes ausarbeiten lässt, bildet Geachs These überdies keinesfalls die einzig verbleibende Option; auch die Kategorie des ‚Guten für‘ bzw. des prudentiellen Wertes erlaubt einen prädikativen Gebrauch von ‚gut‘: Wird x gut genannt, bedarf es in der Tat der Angabe eines Wesens, für das x gut ist; dies ist aber nicht damit zu verwechseln, dass x selbst im Sinne von Geach als gutes Exemplar der Spezies ausgezeichnet wird, die die Gutheit von x festlegt.¹³
Vgl. Kraut (2011), S. 26 f.; Kraut (2013a), S. 257 f.; Kraut (2013b), S. 488: „But although I take the friends of absolute goodness to be speaking intelligibly, I do not accept – even provisionally – their assumption that there is such a property as goodness.“ Ob sich eine solche Theorie des ‚Guten für‘ vertreten lässt, ohne ihrerseits Annahmen über etwas intrinsisch Gutes voraussetzen zu müssen, bleibt freilich eine offene Frage – für eine positive
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Der prädikative Gebrauch von ‚gut‘ erweist sich mithin sowohl als problemlos verständlich wie auch als zentraler Bereich unserer alltäglichen Praxis, in der wir eben Entitäten schlicht als ‚gut‘ bzw. als ‚gut für‘ kennzeichnen. Der Vertreter des AN müsste mithin entweder eine Verteidigung von Geachs Ausgangsthese (zumindest in der schwachen Lesart) liefern oder er müsste zeigen, dass es einen prädikativen Gebrauch von ‚gut‘ zwar gibt, dass er aber für die ethische Bewertungspraxis folgenlos bleibt – doch warum sollte die Tatsache, dass etwas intrinsisch schlecht ist bzw. dass es für jemandem schlecht ist, keinerlei normative Relevanz im allgemeinen und ethische im Besonderen haben? Der AN scheint jedenfalls weit davon entfernt zu sein, die sich ergebende Beweislast abzutragen. 3. Die Geach-These führt jedoch für sich allein genommen noch nicht auf den AN. Um zum AN zu gelangen bedarf es zusätzlich einer Antwort darauf, was denn das Substantiv sein soll, dem ‚gut‘ attribuiert wird und das die Art festlegt, aus der sich dann die Kriterien ableiten sollen, nach denen etwas allererst als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ bezeichnet werden kann. Vertreter des AN wie Thomson oder Hursthouse verwenden an dieser Stelle nicht zufällig normatives Vokabular: Although you can evaluate and choose things according to almost any criteria you like, you must select the noun or noun phrase you use to describe the thing you are calling good advisedly, for it determines the criteria of goodness that are appropriate. (Hursthouse 1999, S. 195.) According to Geach, observation of the ordinary use of “good” yields that it’s an attributive adjective – thus if a person says “That’s good” of a thing, then for an appropriate kind K, the property he’s ascribing is the property ‘being a good K’. (I stress, not just any kind K, rather an appropriate kind K, a kind that I called “goodness-fixing” in Normativity.) (Thomson 2013, S. 474.)
Jedes Ding mag für allerlei Zwecke ‚gut sein‘, eine Person mag eine gute lebende Zielscheibe abgeben etc. Um zu entscheiden, ob die Person x als Zielscheibe taugt ist nun die Natur von x irrelevant, es kommt einzig darauf an, ob sich x hinreichend schnell bewegen kann etc. Für die Bewertung eines jeden lebenden Wesens jedoch gibt es, so die Kernauffassung des AN, die zu Geachs These hinzutreten muss, genau ein angemessenes Substantiv, das zugleich die Kriterien festlegt, nach denen die Gutheit von x bewertet werden muss – und zwar das Substantiv, das die biologische Spezies bezeichnet, der x zugehört.¹⁴
Antwort vgl. Kraut (2011), bes. S. 33 für die These, dass keine der beiden Kategorien die jeweils andere notwendig voraussetzt. Foot charakterisiert die natürliche Gutheit, die lebendigen Wesen qua Angehörige ihrer Art zukommt, ausdrücklich als „intrinsic or ‚autonomous‘ goodness“ (Foot 2001, S. 27) im Gegensatz zu allen anderen Formen bloßer „secondary goodness“, die etwa die Nützlichkeit von Artefakten
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Doch worauf stützt sich dieses für den AN fundamentale normative Urteil, dass es die biologische Spezies ist, die die Standards festlegt, nach der ein Individuum als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ zu bewerten ist? Wie etwa Copp & Sobel zu Recht hervorgehoben haben (Copp & Sobel 2004, S. 536, 542), gehört jedes einzelne Tier und jeder einzelne Mensch einer ganzen Reihe von Arten (kinds) neben der der biologischen Spezies zu: Ein Tier gehört einer bestimmten Gattung an, ist Träger eines bestimmten Genotyps, bildet Teil einer lokalen Herde bzw. Population; ein Mensch gehört zur Gattung der empfindungsfähigen Wesen, der rationalen Wesen, der Säugetiere etc. Vor diesem Hintergrund bedarf das für den AN konstitutive normative Urteil, dass einzig die Spezies die geeignete Instanz darstellt, von der aus die Kriterien für natürliche Gutheit zu bestimmen sind, eingehender Begründung. Der Ansatz für eine solche bei Foot und Hursthouse fehlende Begründung mag zumindest für nicht-menschliche Lebewesen in Michael Thompsons Theorie der Lebensformen gesucht werden. Eine Lebensform lässt sich Thompson zufolge durch ein „system of natural-historical propositions“ (Thompson 2008, S. 80) charakterisieren, die wiederum normative Schlüsse der folgenden Art erlauben: „Adler haben scharfe Augen“, „dieser Adler hier hat keine scharfen Augen“, also ist „dieser Adler hier unzulänglich (defective), insofern er keine scharfen Augen hat.“ Auf die Frage, inwiefern die Kategorie der natürlichen Unzulänglichkeit einen geeigneten Ausgangspunkt für die normative Bewertung von lebenden Wesen darstellt, wird noch zurückzukommen sein. An dieser Stelle genügt es jedoch festzuhalten, dass auch Thompsons Theorie der Lebensformen einfach deshalb ungeeignet zur Begründung der Ausgangsthese des AN ist, als sie genau diese These bereits als zutreffend voraussetzt: Thompson selbst räumt ein, dass er die Begriffe „Lebens-Form“ und „Spezies“ als weitgehend austauschbar verwendet (Thompson 2008, S. 28);¹⁵ Aussagen über Lebensformen und die in ihnen enthaltenen Standards beziehen sich damit qua Voraussetzung auf die Spezies als Maßstab, ohne diese Voraussetzung selbst rechtfertigen zu können. Unabhängig von der Frage, ob sich für nicht-menschliche Lebewesen die fehlende Begründung für die Wahl der Spezies als Maßstab möglicherweise nachtragen
für lebendige Wesen zum Gegenstand haben. Leist (2010), S. 133 macht zudem zu Recht auf das hier nicht weiter zu diskutierende Problem aufmerksam, den Status des Spezies-Begriff bei Foot und Thompson angemessen zu bestimmen: „Mit Bezug auf die Spezies bedienen sich Thompson und Foot einerseits einer biologischen Terminologie,verstehen sich andererseits aber als ‚common sense‘-Theoretiker.“ Die Tatsache, dass der common sense moderner Gesellschaften zudem bereits weithin durch die Theoriebildung der Evolutionstheorie geprägt ist (wie Leist ebenfalls zutreffend bemerkt), verschärft den sich hier ergebenden Klärungsbedarf noch zusätzlich. Fn. 5: „I will be using the words „life-form“ and „species“ more or less equivalently in what follows […].
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lässt, verschärft sich das hier zu Tage tretende Begründungsdefizit im Fall des Menschen indes zusätzlich: Thompson hebt nämlich ausdrücklich hervor, dass Urteile, die Lebensformen betreffen, zwar in der beschriebenen Weise eine evaluative Dimension enthalten, dass ihnen aber jede praktische, geschweige denn moralische Dimension fehle (Thompson 2010, S. 255). Dass dieser kurzsichtige Adler hier als solcher defizient ist, stelle nichts anderes als eine zutreffende Beschreibung dieses Adlers hier dar. Die Dimensionen des Praktischen wie die des Moralischen setzen jedoch voraus, dass eine Lebensform neben den fünf Sinnen zusätzlich über die weitere Fähigkeit praktischer Rationalität im Sinne der Fähigkeit, gute praktische Gründe zu erkennen und sich an ihnen zu orientieren, verfügt. Eben dies ist bei der für die Angehörigen der Spezies Mensch charakteristischen Lebensform der Fall. Der AN nun belässt es zudem keineswegs bei der Aufzählung von Fähigkeiten, die zusammengenommen die menschliche Lebensform ausmachen. Aus der Logik dieser Position heraus wäre zu erwarten, dass alle diese Fähigkeiten normativ gleichberechtigt wären und lediglich zusammen genommen (wobei die Kriterien für die Bildung eines solchen all things considered-Urteils zu klären wären) ein Urteil darüber ermöglichten, ob es sich bei einem Individuum x insgesamt um ein gutes x bezogen auf die durch die Spezies festgelegten Kriterien der Gutheit solcher xen handelt oder nicht.¹⁶ Diese Erwartung wird jedoch enttäuscht: Sowohl Foot wie Hursthouse vertreten ausdrücklich die These, dass die Bewertung eines menschlichen Wesens als gut sich allein einer Bewertung seiner praktischen Rationalität verdankt: In so far as we do speak of ‘a good S’ in these other cases [i. e. plants and animals, C.H.], we are thinking about the plant or the animal as a whole; whereas to call someone a good human being is to evaluate him or her only in a certain respect. […] For to speak of a good person is to speak of an individual not in respect of his body, or of faculties such as sight and memory, but as concerns his rational will. (Foot 2001, S. 66.)
Sicher wird Foot weiter zulassen, dass ein blinder oder tauber Mensch als schlechtes Exemplar seiner Gattung angesprochen wird, insofern er in den genannten Hinsichten mit Blick auf seinen Gesichtssinn und sein Gehör defizient ist; die Bewertung des Menschen selbst als gut oder schlecht jedoch soll sich allein auf seinen Willen stützen, der wiederum als Fähigkeit zum Handeln aus guten Gründen verstanden wird. Die Gründe für dieses Monopol der praktischen Ra-
In diesem Sinne spricht etwa Thompson davon, „that will and practical reason are on the face of it just two more faculties or powers a living being may have, on a level with the powers of sight and hearing and memory.“ (Thompson 2008, S. 29).
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tionalität bei der Bewertung von Angehörigen der Spezies Mensch bleiben bei Foot allenfalls angedeutet, werden jedoch bei Hursthouse augenfällig: Sie betont nämlich den „genuinely transforming effect the fact of our rationality has on the basic naturalistic structure.“ (Hursthouse 1999, S. 222.) Die Rationalität bleibt den anderen Fähigkeiten, die die Lebensform des Menschen ausmachen, also nicht nebengeordnet, sondern verwandelt sie selbst in einer Weise, die sie ihre normative Eigenständigkeit verlieren lässt. Ob ein sehbehinderter Mensch etwa ein guter Mensch ist, entscheidet sich daran, wie er mit seiner Behinderung umgeht – etwa daran, ob er erkennt, dass er einen guten Grund hat, das Fliegen von Flugzeugen zu unterlassen. Menschen verhalten sich nicht lediglich wie Tiere zu ihrer Umwelt und auch zu ihrer eigenen biologischen Ausstattung, sie wirken handelnd auf sie ein – eben im Licht dessen, was sie als gut und damit als wohl begründet betrachten (Hursthouse 1999, S. 222). Nun ist erstens fraglich, ob die Anerkennung der transformativen Wirkung praktischer Rationalität auf den Menschen als animal rationale tatsächlich eine so weitgehende Konsequenz rechtfertigt wie die, die Foot und Hursthouse aus ihr ziehen möchten. Die praktische Rationalität eines Menschen wird zwar die Art und Weise transformieren, wie er mit natürlichen Defekten wie eben seiner Blindheit oder Taubheit umgeht, sie ändert aber nichts an diesen Defekten selbst.¹⁷ Wenn nun aber diese Defekte anders als bei Tieren oder bei Pflanzen gar nicht länger in die Bewertung eines menschlichen Individuums als gut oder schlecht eingehen sollen, scheint der Begriff ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ unter der Hand in einem anderen Sinne gebraucht worden zu sein, nämlich eben als ‚entspricht den Forderungen praktischer Rationalität‘ oder ‚entspricht ihnen eben nicht‘. Zweitens jedoch scheint eine solche mehrdeutige Verwendung der Begriffe ‚gut‘ bzw. ‚schlecht‘ direkt das Kernprojekt des AN, nämlich eben menschliche Gutheit als eine Form natürlicher Gutheit zu verstehen, zu unterlaufen. Die Auskunft von Hursthouse, die menschliche Lebensform, „our characteristic way of going on“ bestehe eben in nichts anderem als „to do what we can rightly see we have reason to do“ (Hursthouse 1999, S. 223) muss vor diesem Hintergrund überraschen: Dass die Rationalität ein für die Angehörigen der Spezies Mensch spezifisches Merkmal ist, genügt offensichtlich nicht für den Nachweis, dass sie das einzige Kriterium für die Bewertung eines solchen Angehörigen als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ abgibt.
Thompson (2008), S. 81 macht zudem zu Recht darauf aufmerksam, dass die „abstract category of natural defect […] an artificial one“ sei und durch material reichhaltige Begriffe wie eben Lahmheit, Blindheit etc. konkretisiert werden müsse. Die Anerkennung solcher Defekte bildet jedoch gerade die Voraussetzung und den Ausgangspunkt eines rationalen Umgangs mit ihnen.
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Möglicherweise jedoch könnte das Programm des AN dadurch gewahrt bleiben, dass die natürliche Normativität an anderer Stelle zum Tragen kommt – nicht länger direkt als Bewertungsgrundlage von Menschen, sondern als normativ relevanter Input für seine praktische Rationalität. Nach guten Gründen würde demzufolge handeln, wer die Vorgaben natürlicher Normativität in seinem praktischen Überlegen angemessen berücksichtigt und ihnen normativ Rechnung trägt. Genau diese Möglichkeit jedoch weist Hursthouse dadurch ab, dass sie die Vorstellung, „that nature could be normative with respect to us, that it could determine how we should be“ (Hursthouse 1999, S. 220) explizit als nicht länger akzeptabel bezeichnet. Wenn aber natürliche Fähigkeiten als Maßstäbe für die Bewertung von Angehörigen der Spezies Mensch als gut oder schlecht vollständig durch die praktische Rationalität ersetzt werden, und wenn die praktische Rationalität nicht einmal in ihrer eigenen Ausübung an Vorgaben natürlicher Normativität gebunden sein soll, bleibt als einziger Ort des Natürlichen die Tatsache zurück, dass die Rationalität eben die Fähigkeit ist, die von Natur aus den Menschen auszeichnet. Ein AN, der zumindest in seiner Anwendung auf den Menschen auf eine solche These zusammenschnurrt, wirft indes die Frage auf, ob er überhaupt noch die Kennzeichnung als Form eben des Naturalismus verdient. Zudem verschärft das Monopol der Rationalität noch das oben konstatierte Problem der Auswahl der Spezies als „goodness-fixing kind“ für die Bewertung menschlicher Individuen. Nicht nur erscheint diese Wahl als unzureichend begründet, sie bleibt vor dem gerade diskutierten Hintergrund auch material folgenlos, insofern die kriterielle Rolle für die Bewertung sogleich an die Rationalität als das aufgrund ihrer alle biologischen Vorgaben verwandelnden Kraft einzig bewertungsrelevante Merkmal dieser Gattung weitergegeben wird. Wenn die Rationalität aber als solche, insofern sie nämlich eine Distanzierung von allen biologischen Gegebenheiten im Lichte guter oder schlechter Gründe ermöglicht und erfordert, die nicht-rationalen Vorgaben der Spezies Mensch entscheidend transformiert und in ihrer normativen Relevanz still gestellt hat, dann wird dies auch bei allen anderen Spezies, wenn sie denn im künftigen Verlauf der Evolution oder in parallelen Welt gleichermaßen eine solche Fähigkeiten ausbilden, nicht weniger der Fall sein. Dann aber spricht alles dafür, im Sinne etwa eines kantischen Programms gleich die Struktur praktischer Rationalität als Ausgangspunkt der ethischen Theoriebildung zu wählen. Der AN droht an dieser Stelle erstens in die vermeintliche Gegenposition einer Vernunftmoral zu kollabieren und er stellt damit zweitens die für ihn konstitutive Wahl der Spezies als ‚goodness-fixing kind“ in Frage, insofern im Falle des Menschen die Festlegung der Kriterien für Gutheit eben durch die Rationalität, nicht durch die Humanität übernommen wird. Insofern die durch die Rationalität vorgegebenen Kriterien jedoch für alle rationale
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Wesen als solche Gültigkeit haben werden, bleibt der Rekurs auf die Zugehörigkeit zur biologischen Spezies Mensch normativ folgenlos. 4. Nun behaupten die Vertreter des AN freilich, dass trotz der zentralen Stellung der Rationalität bei der Bewertung des Menschen und seiner Handlungen die grundlegender Struktur der Bewertung, wie sie auf alles Lebendige Anwendung finde, auch im Falle des Menschen als animal rationale keineswegs „beyond recognition“ (Hursthouse 1999, S. 222) verändert worden sei. Doch wie lässt sich eine solche Behauptung, die in offenkundiger Spannung zu der These steht, dass die durch die Rationalität bedingte Transformation der menschlichen Lebensform insgesamt die Normativität der Natur mit Bezug auf den Menschen aufgehoben sei, überzeugend begründen (Hursthouse 1999, S. 220)? Erstens könnte man an dieser Stelle versuchen nachzuweisen, dass sich aus der Lebensform des Menschen nicht nur die allgemeine Aussage ableiten lässt, dass der Mensch eben über Rationalität verfügt, sondern dass diese Lebensform selbst die materiale Struktur vorgibt, die diese Rationalität bei Angehörigen der Spezies Mensch annimmt. Damit könnte die Lebensform nun doch, wenn auch vermittelt über die Rationalität und deren materiale Struktur, weiterhin für die Bewertungspraxis des Menschen normativ relevant bleiben. Ein solcher Ansatz wird jedoch etwa durch Michael Thompson unmittelbar verstellt, wenn er in Bezug auf die von Philippa Foot vertretene Position zwischen drei Ebenen des ‚Footianismus‘ zu unterscheiden vorschlägt (Thompson 2010, S. 253 ff.): Der ‚logische Footianismus‘ beinhalte die Grammatik, die sich aus einer Beschreibung der Lebensform von Lebewesen ergebe, wie sie durch deren jeweilige Spezies festgelegt werde. Auf dieser Ebene lässt sich nun nach Thompson in der Tat konstatieren, dass die menschliche Spezies eben dadurch gekennzeichnet sei, dass Menschen über praktische Rationalität verfügen, die sich als charakteristisch für deren Lebensform erweise. Auf der Ebene der Analyse von Spezies bzw. Lebensform lassen sich Thompson zufolge nun jedoch über das bloße Vorliegen der Rationalität hinaus nur minimale Aussagen über deren Struktur treffen. Nur solche Aussagen seien möglich, die sich bereits aus dem Begriff der Rationalität ableiten lassen – dazu gehört insbesondere etwa die Geltung von Imperativen instrumenteller Rationalität der Form ‚Wenn Du x erreichen möchtest und dies nur möglich ist, indem du y tust, solltest Du y tun (wenn Du x nicht aufgeben willst)‘.¹⁸ Aber bereits die Tatsache, dass es neben instrumentellen auch gute nicht-instrumentelle Gründe gibt, lasse sich nicht mehr auf der logischen Ebene fest Vgl. Thompson (2010), S. 260: „Im Gegensatz dazu [sc. zur Orientierung an langfristiger Klugheit, an Gerechtigkeitsvorstellungen, an der Maximierung der eigenen Lust, C.H.] scheint die Fähigkeit, aufgrund von instrumentellen Gesichtspunkten zu handeln, analytisch in der Idee vernünftiger Praxis enthalten zu sein.“
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stellen. Dazu bedarf es des Übergangs zu einem ‚lokalem Footinanismus‘, der die materiale Struktur praktischer Rationalität in der Form expliziert, wie sie eine „gut entwickelte menschliche Intelligenz“ (Thompson 2010, S. 260) auszeichne. Auf einer dritten Ebene, dem ‚substantiellem Footianismus‘ schließlich werde die Klärung der Struktur menschlicher Rationalität erweitert durch den Katalog der klassischen Tugenden, die diese Struktur inhaltlich füllen können. Entscheidend ist nun Thompsons – kritisch gegen Foot gerichtete – Klarstellung, dass sich die Gehalte sowohl des ‚local‘ wie des ‚substantiellen Footianismus‘, auch wenn Foot den gegenteiligen Anschein erweckt, eben nicht rechtfertigen lassen im Sinne einer Ableitung aus einer Charakteristik der menschlichen Spezies bzw. deren Lebensform, wie es das Kernprogramm des AN vorsieht. Sie erwachsen vielmehr aus einer Hermeneutik unserer Praxis „von innen“ (Thompson 2010, S. 260), die das Vorliegen solcher grundlegenden Tatsachen wie der der Existenz nicht-instrumenteller Gründe aufdecke, es jedoch eben beim Konstatieren von deren Vorliegen bewenden lassen müsse.¹⁹ Mit einer solchen Ebenenunterscheidung zerbricht die Position des AN jedoch in zwei weitgehend unverbundene Teilprojekte: Aus der Analyse der menschlichen Lebensform lässt sich dann lediglich die Tatsache der konstitutiven Rolle praktischer Rationalität für diese Lebensform ableiten. Alle weiteren normativen Standards, die deren Ausübung leiten, und zwar sowohl mit Blick auf die Struktur dieser Rationalität wie deren inhaltliche Orientierungspunkte, erwachsen jedoch aus einer nur internen Hermeneutik der laufenden Praxis. Die Hoffnung, dass sich aus der Analyse der menschlichen Lebensform nicht nur die Tatsache praktischer Rationalität, sondern auch deren interne Struktur und damit möglicherweise auch normative Kriterien für die Bewertung des Menschen und seiner Handlungen ableiten lassen, beruht mithin selbst aus Sicht eines ‚Footianers‘ wie Thompson auf einer schlichten Konfusion von Theorieebenen (deren Vermeidung ihrerseits, wie gerade gezeigt, das Problem der Fragmentierung des Projekts eines AN aufwirft, ein Problem, das Thompson erstaunlicherweise gar nicht thematisiert). Zweitens begründet Hursthouse selbst ihre These, dass die Struktur natürlicher Normativität keineswegs durch die transformative Wirkung der Rationalität auf die menschliche Natur bis zur Unkenntlichkeit verstellt werde, durch Verweis auf die trotz dieser Wirkung fortbestehende normative Relevanz von vier Zielen, die die Bewertungskriterien für soziale Lebewesen im Allgemeinen und eben auch
Vgl. Thompson (2010), S. 260: „our confidence in the validity of considerations of justice and other fundamental forms of practical thought must, at a certain level, be groundless.“ Für eine scharfe Kritik an dem Bedürfnis, „to view our practices ‘from outside’ or ‘from sideways on’ in hope perhaps of providing them with a foundation or an external grounding“ vgl. a. Thompson (2008), S. 31 f.
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weiterhin für den Menschen im Besonderen vorgeben sollen. Bei diesen Zielen handelt es sich um (i) das individuelle Überleben, (ii) den Fortbestand der Spezies, (iii) die für die jeweilige Spezies charakteristische Freiheit von Schmerz bzw. die charakteristische Lust oder Freude und schließlich (iv) das gute Funktionieren der sozialen Gruppe, der das Individuum angehört, wiederum gemäß den für die Spezies charakteristischen Merkmalen.²⁰ Diese Ziele nun scheinen geeignet zu sein, Hursthouses These, die für Menschen charakteristische Verhaltensweise bestehe eben darin, das zu tun, was sie mit Recht als gut ansehen könnten (Hursthouse 1999, S. 222), davor zu schützen, entweder (i) vollständig leer zu bleiben oder aber (ii) den Rekurs auf normative Kategorien zu erfordern, die den Rahmen des AN sprengen.²¹ 5. Bevor indes geklärt werden kann, ob die Berufung auf diese vier natürlichen Ziele als Maßstab für die Ausübung menschlichen Rationalität geeignet ist, das Ausgangsproblem zu lösen, gilt es an dieser Stelle die Kategorie der Tugend bzw. des Lasters in die Diskussion einzubeziehen. Wie nämlich Hursthouse ausdrücklich hervorhebt, sind die vier Ziele ungeeignet als Maßstab für die Bewertung einzelner Handlungen. Die normative Relevanz dieser Ziele bestehe vielmehr darin einzugrenzen (constrain), „[…] what will pass reflective scrutiny as a candidate virtue.“ (Hursthouse 1999, S. 226.) Ein Mensch etwa, der das Bedürfnis nach Nahrung der eigenen Artgenossen nicht stärker gewichtet als das der Angehörigen anderer, zu Lust und Schmerz gleichermaßen befähigter Spezies, würde damit nach Auffassung von Hursthouse falsch handeln. Diese Bewertung seiner Handlungsweise ist jedoch ihr zufolge immer vermittelt über die Zuschreibung einer Tugend bzw. eines Lasters: Wer so handelt, dem dürfen wir möglicherweise zu Recht eine „completely impersonal benevolence“ (Hursthouse 1999, S. 224) als Charaktermerkmal zuschreiben. Aber handelt es sich bei diesem Merkmal um eine Tugend oder um ein Laster? An dieser Stelle nun kommen die genannten vier Ziele zum Tragen: Insofern nämlich ein vollständig unpersönliches Wohlwollen, das jede Form von Speziesismus im Sinne Peter Singers vermeidet, sowohl dem Fortbestehen der Spezies entgegensteht wie auch die Bande der Solidarität der eigenen sozialen Gruppe schwächt bzw. unter-
Zur Diskussion dieser vier Ziele vgl. Hursthouse (1999), S. 197 ff. Ein solcher Rekurs lässt sich etwa bei Foot konstatieren, wenn sie z. B. auf die Kategorie intrinsisch guter bzw. schlechter Handlungen zurückgreift, vgl. Foot (2001), S. 72 f. Wenn Foot in diesem Zusammenhang davon spricht, dass Handlungen wie Mord eben von Natur aus schlecht seien, so steht diese Berufung auf die Natur in keinerlei Zusammenhang mit dem Naturbegriff des AN; ein Deontologe könnte sie problemlos teilen, insofern die Rede von der Natur hier auf nichts anderes abzielt als dass es eben die intrinsischen, nicht-relationalen Merkmale des entsprechenden Handlungstyps sind, die es erlauben, ihn als gut bzw. schlecht zu charakterisieren.
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gräbt, handelt es sich bei einem solchen Wohlwollen Hursthouse zufolge eben um keine Tugend, sondern um ein Laster. Auch wenn die vier aus der Speziesnatur des Menschen abgeleiteten Ziele also zwar nicht direkt den Ausgangspunkt für die Bewertung einzelner Handlungen darstellen,²² bilden sie doch, wenn auch vermittelt über die mit ihrer Hilfe individuierten Tugenden und Laster und geeignete, tugendethische Zusatzannahmen, derzufolge der deontische Status von Handlungen eben durch Rekurs auf aretaische Gesichtspunkte sei es des aktualen, sei es eines idealen Handelnden festgelegt wird,²³ deren Grundlage. Die Tugenden übernehmen mithin innerhalb des AN die entscheidende Scharnierfunktion, die es erlauben könnte, dem Einwand der Leere zu entgehen, ohne auf externe Ressourcen wie etwa pro-tanto-Pflichten oder intrinsisch gute bzw. schlechte Sachverhalte zurückgreifen zu müssen. Insofern die Tugenden über ihre Rolle beim Erreichen der genannten, artspezifischen Ziele individuiert werden können,²⁴ bleibt für sie die Instanz der Spezies maßgeblich; insofern sie andererseits festlegen, welche normativen Gesichtspunkte eine Person zu Recht für gute Gründe halten wird und welche nicht (das mit dem Leiden der eigenen Speziesgenossen konkurrierende Leiden der Angehörigen anderer Spezies zählt etwa für Hursthouse nicht zu den guten Gründen dafür, eine Bevorzugung ersterer zu unterlassen), bilden sie den Maßstab für die Ausübung praktischer Rationalität, und mithin keineswegs, wie etwa Thompson annimmt,²⁵ einen bloßen Reflex unserer faktisch bestehenden Praxis, gute von schlechten Gründen zu unterscheiden. Die Rede von natürlicher Normativität scheint damit schließlich doch eine Rechtfertigung zu erfahren: Das Laster ist auch bei rationalen Wesen deshalb ein natürlicher Defekt,²⁶ weil das entsprechende Charaktermerkmal dem Erreichen der durch die Speziesnatur vorgegebenen Ziele im Wege steht.
Vgl. Hursthouse 1999, S. 227: „according to the form of ethical naturalism I am defending, what is particularly evaluated are character traits, not, directly, actions or lives.“ Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen tugendethischen Kernüberzeugungen findet sich in Halbig (2013), Kap. 7. Der AN versucht die Tugenden indes nicht allein über ihre Rolle dabei, ein Individuum zu einem guten Exemplar seiner Art zu machen (nämlich dadurch, dass sie ihm das Erreichen der entsprechenden Ziele ermöglichen), zu individuieren, sondern zusätzlich dadurch, dass sie sich als gut für ein jedes Individuum in der Hinsicht erweisen, dass sie einen konstitutiven Beitrag zu seinem Wohlergehen versprechen. Zudem betrachtet der AN diese beiden Strategien der Individuierung von Tugenden nicht als unabhängig voneinander, sondern als „interrelated“ (Hursthouse 1999, S. 167); ebenso Foot (2001), S. 41. Den sich daraus ergebenden Fragen nach dem Verhältnis dieser beiden Strategien zueinander kann hier freilich nicht weiter nachgegangen werden. Vgl. o. S. 188. So die von Foot (2001), S. 37, vertretene These.
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Doch bilden die Tugenden tatsächlich den Schlüssel zur Lösung des grundlegenden Problems des AN oder bilden sie lediglich dessen Ausdruck, insofern es sich bei näherer Prüfung in der Tugendlehre lediglich verdoppelt? Dass letzteres der Fall ist, soll abschließend kurz gezeigt werden, bevor dann im Schlussabschnitt im Lichte der angestellten Überlegungen die eingangs vorgestellten, vermeintlichen Vorteile des AN einer kritischen Prüfung unterzogen werden können. Durch den Rekurs auf die Tugenden vermag der AN nun in der Tat dem gegen ihn erhobenen Vorwurf der inhaltlichen Leere²⁷ erfolgreich entgegenzutreten, dies jedoch nur um den Preis einer Reteleologisierung der Tugenden: Wenn die Tugenden individuiert werden durch ihre Rolle bei der Verwirklichung etwa der vier von Hursthouse als für die Spezies Mensch konstitutiven Ziele, dann lassen sich ohne Zweifel normativ reichhaltige Ergebnisse erreichen: Wenn etwa die Tugend des Wohlwollens durch ihren Beitrag zum Überleben der Spezies Mensch und zum guten Funktionieren des sozialen Zusammenlebens aller Angehörigen dieser Spezies bestimmt wird, wird unmittelbar ersichtlich, warum etwa Hursthouse weder das Verhalten eines Anhängers des radikalen Antispeziesismus von Peter Singer noch das eines Mitglieds der Hell’s Angels²⁸ als Ausdruck des Wohlwollens und zumindest insofern als moralisch richtig zu bewerten bereit ist: Ersterer nämlich zieht die Grenzen des Wohlwollens zu weit, insofern er ihre Bindung an spezies-spezifische Ziele bestreitet, letzterer zieht sie zu eng, insofern er sie auf die Mitglieder des eigenen Clubs beschränkt und damit soziale Bande über die Grenzen von deren Mitgliedschaft hinaus erschwert oder verhindert. Eine solche teleologische Deutung der Tugenden steht jedoch in Widerspruch zu zwei systematisch eng miteinander verbundenen Annahmen des AN: Erstens hebt dieser ausdrücklich die transformative Rolle hervor, die die Rationalität in Bezug auf die natürlichen Ziele des Menschen ausübt und zweitens weist – wie bereits oben erwähnt – etwa Hursthouse die Vorstellung ausdrücklich zurück, die Natur auch des Menschen selbst könne „normative with respect to us“ (Hursthouse 1999, S. 220) sein. Ob daher ein universales, die Grenzen der einzelnen Spezies überschreitendes Wohlwollen nicht vielleicht doch eine Tugend und kein Laster darstellt, lässt sich dann nicht länger durch Berufung darauf klären, dass der Mensch nur Ziele verfolge, die die eigene Spezies zum Gegenstand haben. Eben dies ist
Für eine treffende Diskussion dieses „worry about […] emptiness“ mit Bezug auf die Konzeption von Hursthouse vgl. Copp & Sobel (2004), S. 541– 543. Das Beispiel der Hell’s Angels geht zurück auf Watson (1990), S. 463, zitiert bei Hursthouse (1999), S. 192. Watson verwendet es, um die Frage aufzuwerfen, inwiefern die soziale Natur des Menschen tatsächlich geeignet ist, nicht nur soziopathisches Verhalten, sondern eben auch das von Menschen, die ihre Loyalitäten auf eine soziale Kleingruppe beschränken, als defizient zu kennzeichnen.
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sowohl deskriptiv wie normativ schlicht nicht der Fall: Der Mensch ist durchaus in der Lage, eine egalitäre Haltung gegenüber allen (oder zumindest einigen – nämlich z. B. empfindungsfähigen) Spezies einzunehmen und er kann (wie die Argumente Peter Singers zeigen) eine solche Haltung mit guten Gründen zu belegen versuchen. Erst vor dem Hintergrund einer Prüfung dieser Gründe kann dann entschieden werden, ob universelles Wohlwollen nicht vielleicht doch eine Tugend darstellt. In diesem Fall wäre die natürliche Teleologie des Menschen als Angehöriger seiner Spezies in einer entscheidenden Hinsicht als normativ irrelevant oder sogar als irreführend und damit als fragwürdig erwiesen worden. Nun könnte man eine solche Konsequenz offensiv bejahen und Tugenden – wie dies im Übrigen auch Hursthouse selbst im Rahmen ihrer eigenen Tugendlehre tut – gerade nicht über ihre Rolle in einer natürlichen Teleologie, sondern über die für sie jeweils charakteristischen guten Gründe zu individuieren versuchen:²⁹ Ein universales Wohlwollen wäre dann als Tugend zu klassifizieren, wenn die Gründe, die Menschen, die über ein solches Charaktermerkmal verfügen, leiten, als gute Gründe anerkannt werden können. Wird indes ein solcher Zugang zur Individuierung der Tugenden gewählt, bildet die natürliche Normativität etwa von spezies-spezifischen Zielen nicht länger den Maßstab für die Tugendlehre sondern genau umgekehrt: Kandidaten für Tugenden müssen sich im Licht guter Gründe, nicht in dem ihrer Funktion für die Erreichung natürlicher Ziele bewähren. Doch wie unterscheiden sich gute von schlechten Gründen? Auch hier stellt sich das Ausgangsproblem des AN auf der Ebene der Tugendlehre lediglich erneut; letztere erweist sich damit ipso facto als untauglich zur Lösung dieses Problems: Entweder nämlich liefert der AN im Sinne des Einwands der Leere keine Antwort auf die Frage nach den Quellen guter Gründe, die eine Individuierung der Tugenden erlauben könnten, oder aber er muss entgegen der Kernidee des AN doch erneut auf Kategorien wie die der Bewertung von Sachverhalten als intrinsisch gut rekurrieren.³⁰ Der Rekurs auf die Kategorie der Tugend erweist sich damit aber nicht nur als ungeeignet, die strukturellen Probleme des AN zu lösen; vielmehr stellen die gerade angestellten Überlegungen umgekehrt die Fähigkeit des AN in Frage, eine adäquate Tugendlehre sowie eine überzeugende Theorie des Zusammenhangs zwischen Tugenden und richtigem Handeln zu formulieren.
Vgl. Hursthouse (1999), S. 234: „To recognize a character treat as a virtue […], is to recognize the X reasons for acting people with that character trait characteristically have as reasons, to recognize them as reasons for oneself.“ Zur Zurückweisung eines solchen Ansatzes vgl. Hursthouse (1999), S. 48 f. Für eine rekursive Theorie der Tugenden, die diese als intrinsisch gute Haltungen zu intrinsischen Werten zu verstehen vorschlägt, vgl. Halbig (2013), Kap. 1.
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6. Abschließend gilt es noch einmal im Licht der vorangegangenen Abschnitte einen Blick (und zwar in umgekehrter Reihenfolge) auf die eingangs diskutierten, drei grundlegenden Gesichtspunkte zu werfen, aus denen sich der AN als „fresh start“ der zeitgenössischen Ethik zu empfehlen scheint: Hier bleibt nun erstens festzuhalten, dass es dem AN gerade nicht gelingt, überzeugend eine material reichhaltige Konzeption von Ethik auszuarbeiten. Formulierungen wie die von Hursthouse, die in Bezug auf die in der Ethik anzuwendenden Maßstäbe von einer „mixture of constraints imposed by nature and the ethical outlook“ (Foot 1999, S. 229) spricht, ohne die Bestandteile dieser Mixtur klar voneinander abzugrenzen und ihr Verhältnis wie ihre Gewichtung untereinander bestimmen zu können, macht deutlich, dass der AN bei der Lösung konkreter ethischer Probleme zu einem methodisch nur unzureichend kontrollierten Rekurs auf natürliche Ziele einerseits, auf in der bestehenden Praxis faktisch als überzeugend anerkannte und akzeptierte Gründe andererseits genötigt ist. Auch die Bezugnahme auf die Tugenden löst dieses Problem nicht, sondern setzt umgekehrt dessen ausstehende Lösung voraus, wie sich etwa anhand der Speziesismus-Problematik und der Relevanz der Tugend – oder des Lasters – eines unparteiischen Wohlwollens für deren Bewältigung gezeigt hat. Zweitens gelingt es dem AN nicht, sich als ‚dritter Weg‘ zu stabilisieren, der die gleichermaßen fragwürdigen ontologischen Verpflichtungen eines einseitig szientistischen Naturalismus einerseits, der das ‚Mobiliar des Universums‘ (Mackie) auf den mit Methoden der Naturwissenschaften prinzipiell zugänglichen Gegenstandsbereich beschränkt, eines Supernaturalismus andererseits, der die Existenz transzendenter Entitäten als Quelle normativer Verpflichtungen unterstellt, zu vermeiden vermag. Mit Blick auf die Abgrenzung zum Supernaturalismus etwa stellen sich zumindest zwei grundlegende Fragen, die beide exemplarisch im Werk Robert Spaemanns als einem mit dem Programm des AN ausdrücklich sympathisierenden Theisten deutlich werden: Erstens nämlich wird ein Theist etwa in der Tradition des christlichen Naturrechts die Kernthese des AN: „What living things do is live; a good living thing lives well […]“ (Hursthouse 1999, S. 205) ohne weiteres akzeptieren, um dann jedoch, wie Spaemann dies in seinen Meditationen zu den Psalmen tut, zu ergänzen: „Leben, das heißt nicht vegetieren, Stoffwechsel, Leben muss von seiner höchsten Intensität her verstanden werden, von der Seligkeit her, also der unüberbietbaren Freude.“ (Spaemann 2014, S. 127.) Eine angemessene Deutung zumindest des menschlichen Lebens kommt mithin Spaemann zufolge ihrerseits nicht aus ohne die Anerkennung von dessen höchstem Ziel, das wiederum in der beseligenden Schau Gottes liegt. Eine angemessene Analyse der teleologischen
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Struktur des Lebens erübrigt mithin aus theistischer Sicht nicht etwa supernaturalistische Existenzannahmen, sondern setzt sie zwingend voraus. Zweitens stellt sich, selbst wenn die Existenz einer natürlichen Normativität auch ohne Inanspruchnahme transzendenter Existenzannahmen nachgewiesen werden kann, die Frage nach ihrer rationalen Verbindlichkeit: Auch wenn es wahr ist, dass den Angehörigen der Spezies Mensch die Erhaltung dieser Spezies als Ziel vorgegeben ist, warum sollte daraus für die nun einmal rationalen Mitglieder dieser Spezies ein guter Grund erwachsen, dieses Ziel tatsächlich zu verfolgen? Auch dieses Problem – das der rationalen Verbindlichkeit der Artnatur und der aus ihr abgeleiteten Maßstäbe – zwingt nach Spaemanns Auffassung zur Annahme eines Gesetzgebers, der die Befolgung oder Mißachtung natürlicher Normen durch Sanktionen abzusichern vermag und damit ihre rationale Verbindlichkeit sicherstellt: Die Frage, warum für Personen das Natürliche und gar das der Artnatur Entsprechende verpflichtende Handlungsnorm sein kann, ist nur dann plausibel, wenn die lex naturae den Charakter eines göttlichen Gebots hat, wenn also Natur Chiffre für einen göttlichen Willen ist. Ein im Gewissen vernommenes unbedingtes Sollen bleibt ein irrationales Faktum, solange es nicht als göttliche Stimme verstanden wird. (Spaemann 2004, Spalte 5.)
Eine entsprechend der beiden von Spaemann geltend gemachten Gesichtspunkte ausgearbeitete Form des AN jedoch würde offensichtlich keine ontologisch bescheidene Alternative zum klassischen, theistischen Naturrecht darstellen, sondern schlicht eine Version von letzterem. Die Abgrenzungsprobleme des AN stellen sich indes nicht nur zur Seite des theistischen Naturrechts hin, sondern gleichermaßen zur Seite des szientistischen Naturalismus. Explizite Zurückweisungen jeglicher „pretensions to establishing any conclusions from scientific foundations accessible from a neutral point of view“ (Hursthouse 1999, S. 224) koexistieren bei Vertretern des AN mit Stellen, an denen etwa Hursthouse explizit den Anspruch erhebt, wahre Aussagen, die Lebewesen im Licht der Erfüllung von Spezies-spezifischen Zielen bewerten, „are, in the most straightforward sense of the term, ‘objective’; indeed, given that botany, zoology, etology etc. are sciences, they are scientific.“ (Hursthouse 1999, S. 202.) Soll die oben diskutierte, von Thompson vertretene Deutung vermieden werden, dass der AN sich auf die logisch-metaphysische Trivialität beschränke, dass der Mensch eben ein von Natur aus rationales Wesen sei, um dann sowohl die basale Struktur dieser Rationalität wie deren konkrete Ausgestaltung einfach als nicht weiter zu rechtfertigende Tatsachen (Thompson beruft sich hier explizit auf das Kantische Faktum der Vernunft) zur Kenntnis zu nehmen, bedarf es eben doch des Aufdeckens objektiver, teleologischer Strukturen, die dann ja auch de facto etwa bei der Individuierung der Tugenden in Anspruch genommen werden. Wiederum
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bleibt unklar, wo die Grenzen zwischen den „excessive demands of foundationalism“ (Hursthouse 1999, S. 166) und der keineswegs exzessiven, sondern für den AN konstitutiven Aufdeckung von Strukturen natürlicher Normativität als „basic logical structure“ (Foot 2001, S. 27) alles Lebendigen zu ziehen sind. Aufgrund dieser ungelösten Abgrenzungsprobleme sowohl zur Seite des Supernaturalismus wie zu der des szientistischen Naturalismus erweist sich der AN nicht nur nicht als Königsweg zur Vermeidung problematischer ontologischer Verpflichtungen, vielmehr erscheint er als beladen mit den problematischen Verpflichtungen beider Seiten. Drittens schließlich haben sich erhebliche Zweifel auch daran ergeben, dass der AN den Königsweg zur Lösung des Objektivitätsproblems in der Moralphilosophie darstellt. Keine der beiden für den AN konstitutiven Thesen – die nämlich, dass ‚gut‘ immer ein attributives Adjektiv darstellt, und dass es sich bei der Entität, der ‚gut‘ im moralischen Sinne attribuiert werden muss und die damit auch die für die Bewertung als ‚gut‘ gültigen Kriterien festlegt, um die biologische Spezies des Menschen handelt – konnte überzeugend begründet werden. Vor diesem Hintergrund kann es auch nicht überraschen, dass die erhoffte Absicherung des Objektivitätsanspruchs moralischer Urteile ausgeblieben ist: Der AN führt vielmehr bei Lösung konkreter moralischer Probleme immer wieder auf das Dilemma, entweder eine natürliche Teleologie umstandslos (und entgegen dem eigenen Anspruch) als normativ verbindlich setzen zu müssen (eine Konstellation, die – wiederum entgegen dem eigenen Anspruch des AN – die ‚Injektion‘ einer externen Normativität etwa durch die Sanktionsdrohungen eines allmächtigen Schöpfers dieser Teleologie herausfordert) oder es bei dem schlichten Verweis belassen zu müssen, dass eine Praxis eben als gut begründet akzeptiert ist – dann aber läuft der AN normativ leer. Auch das Ziel des AN, angesichts der Herausforderungen des Nonkognitivismus am Objektivitätsanspruch moralischer Urteile festhalten zu können, ohne auf nicht-natürliche Entitäten als deren truth-makers rekurrieren zu müssen, muss mithin als verfehlt gelten. Weit entfernt davon, der modernen Moralphilosophie einen „fresh start“ zu ermöglichen, benötigt der AN selbst, so das Ergebnis der Überlegungen dieses Beitrags, seinerseits dringend einen solchen Neustart. Die erheblichen Probleme, mit denen der AN belastet ist, sollten indes keineswegs die Plausibilität seines grundlegenden Anliegens, nämlich die Normativität der Moral in den Kontext einer über den Menschen hinausreichenden normativen Ordnung des Lebendigen insgesamt zu reintegrieren, übersehen lassen. Bevor eines solches Programm jedoch erfolgversprechend in Angriff genommen werden kann, bedarf es einer erneuten Prüfung seiner Grundannahmen, angefangen mit der These, ‚gut‘ sei immer ein attributives Adjektiv, über die Frage nach der transformativen Kraft der Rationalität bis hin zur Frage nach dem Zusammenhang von natürlicher Teleo-
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logie und normativer Geltung. Vor diesem Hintergrund stünde eben jenes Moratorium, das G.E.M. Anscombe der modernen Moralphilosophie nahelegt hatte, um zunächst die eigenen handlungs- und normativitätstheoretischen Grundlagen klären zu können, auch dem AN selbst gut zu Gesicht.
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Ein Neustart der Ethik? Zur Kritik des aristotelischen Naturalismus
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V Implikationen für die Bioethik
Ludwig Siep
Naturbegriff und Angewandte Ethik Die Beschäftigung der gegenwärtigen Philosophie mit der Natur geht, vereinfacht gesagt, auf zwei hauptsächliche Impulse zurück: Zum einen auf die Frage, wie weit die Erklärungskraft naturwissenschaftlicher Theorien im Bereich des Geistigen reicht, also des Mentalen, Sozialen und Kulturellen. Diese Frage gehört in die theoretische Philosophie. Das zweite Problem, das hinter den aktuellen philosophischen Debatten steht, betrifft das praktische Verhältnis des Menschen zur Natur. Es ist akut geworden durch die gewachsene biotechnologische Verfügungsmacht über die Natur und ihre unbewältigten Folgen; zum anderen durch den raschen Wandel gesellschaftlicher Normen, sei es durch die demokratische Gesetzgebung oder den gesellschaftlichen Wertewandel. Das löst Fragen in zwei Richtungen aus: zum einen hinsichtlich natürlicher Grundlagen für Normen, zum anderen hinsichtlich der Vollendung des neuzeitlichen Projekts der technischen Naturbeherrschung. Für die moderne Naturethik oder Bioethik als ein Teil der angewandten Ethik sind beide Fragen zentral. Im Folgenden werde ich zunächst die Naturbegriffe erörtern, die für die angewandte Ethik relevant sind (1.). Im zweiten Teil geht es um das grundsätzliche Verhältnis von Natur und Norm (2.). Im dritten frage ich konkreter nach Handlungsnormen in Bezug auf die menschliche Natur (3.), im vierten nach Normen und Zielen im Umgang mit der nichtmenschlichen oder „äußeren“ Natur (4.).
1 Welche Naturbegriffe sind für die Angewandte Ethik relevant? Die Angewandte Ethik ist entstanden in der Auseinandersetzung mit ethischen Problemen und Dilemmata der modernen Medizin und Technologie. Die Naturethik ist nur eines ihrer Gebiete, andere haben es mit politischer Ethik, Wirtschaftsethik oder Informationsethik zu tun. Bei Wirtschaft und Politik geht es zwar auch um Auswirkungen auf die natürliche Umwelt und die Menschen als Naturwesen, aber primär um Fragen der Gerechtigkeit zwischen den Menschen. Bei der Medizin-, Bio- und Umweltethik als Teilen der Naturethik steht dagegen das Verhältnis zur inneren und äußeren Natur im Zentrum. Die beiden Begriffe sind sicher nicht unproblematisch. Die eigene körperliche Natur gehört ja für jeden anderen auch zur äußeren Natur, andere begegnen ihr als etwas nicht Hervorgebrachtes und nicht vollständig Kontrolliertes. Das bleibt der menschliche
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Körper trotz assistierter oder künstlicher Befruchtung und anderen medizinischen Techniken. „Innere Natur“ bezieht sich ihrerseits nicht nur auf das Innere, sondern auch die sichtbare Oberfläche des menschlichen Körpers. Da das Körperliche vom Seelischen nicht scharf getrennt werden kann, betrifft die innere Natur des Menschen auch seine psychischen und kognitiven Kräfte. Für die neuzeitliche Philosophie gibt es geistige Kräfte menschlicher oder übermenschlicher Art außerhalb des menschlichen Körpers nicht mehr – das trifft Max Webers Begriff der „Entzauberung“ (vgl. Weber 1960, S. 308). Die räumliche Metapher des „Inneren“ verdeutlicht, dass der menschliche Körper Teil des Selbstbezugs des Individuums und der Gattung ist. Aber die äußere Natur wirkt auf die Emotionen und die Einsichten des Menschen zurück, ist Voraussetzung seines Handelns und kann als Vorbild oder Gegenbild dafür verstanden werden. Thema der Ethik ist immer der Handelnde selber und alles von seiner Handlung Betroffene. Ersteres wiegt schwerer bei Tugendethikern und Pflichtethikern, denen es primär um den Akteur geht, Letzteres bei Konsequentialisten, für die es auf die Folgen bei den Betroffenen ankommt. Der Handelnde, sein Charakter und seine Gesinnung sind aber nicht unabhängig von den Handlungsfolgen – und unter die Betroffenen gehört auch für Folgenethiker immer der Handelnde selber. Die Unterschiede wie die Übergänge zwischen Innen und Außen, zeigen sich auch bei den Fragen der Ethik in Bezug auf die Natur. Die innere, körperlichseelische Natur hat es mit den Fähigkeiten zu tun, die der Mensch in seinem Handeln entwickeln kann – die zu Gewohnheiten entwickelten und mit der richtigen Überlegung ausgeübten Fähigkeiten nennt man traditionell Tugenden. In der modernen Bio- und Medizinethik sind die Berufstugenden ein wichtiges Thema („professional ethics“, vgl. Paslack 2011). Es gibt aber auch gute Gründe, wenn nicht Verpflichtungen, die Entwicklung natürlicher Anlagen zum guten Leben nicht nur bei sich, sondern auch bei anderen zu fördern und die Bedingungen dafür bereitzustellen. Die „Fähigkeiten-Ethik“ oder der „capabilities-approach“ hat sich zu einer wichtigen Position der modernen Sozialethik, neuerdings auch der public-health-Debatte in der Medizinethik entwickelt (vgl. Ruger 2010; Sen 2010). Nicht zum Subjekt des Handelns gehören die Gegenstände,Wesen und Gebiete der nicht-menschlichen Natur. Der Ethik im technischen Zeitalter geht es darum, bis zu welchem Grade und mit welchem Ziel man sie verändert. Die zweckmäßige Organisation der äußeren Natur war in der vor- und frühmodernen Ethik vorbildlich für das menschliche Handeln. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt: Die Natur gilt als verbesserbare Maschine. Allenfalls sind einige Fähigkeiten von Lebewesen Vorbild für die Optimierung des Menschen, etwa im Bereich der Sin-
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neswahrnehmungen oder der Körperbewegungen. Auch das ist aber eine technische Sicht auf Natur als ein Reservoir von Systemen, die zu nützlichen Funktionen und Leistungen fähig sind. Versteht man „Natur“ formal als Gegenstände, Kräfte und Systeme, die nicht vom Menschen hervorgebracht und nicht vollständig von ihm kontrolliert sind, dann sind noch alle Stufen und Schwellen innerhalb der Natur ausgeblendet. Das erweckt den Eindruck, als verliefe die entscheidende Grenze zwischen dem Hervorbringer und dem Hervorgebrachten, dem Kontrolleur und dem mehr oder weniger Kontrollierten. Ich unterstelle aber keinen Dualismus zwischen Geist und Materie, Subjekt und Objekt, Mensch und Natur. Ob es Phänomene gibt, für die dualistische Annahmen die beste Erklärung wären, kann hier offen bleiben. Das körpergebundene Handeln scheint jedenfalls nicht dazu zu gehören. Es ist keine bloß körperliche Ausführung geistiger Pläne. Diese werden sogar oft erst bewusst in der reflektierten Aneignung von Verhaltensmustern und körperlichen Kompetenzen. Auch ohne grundlegende ontologische Differenzen zwischen Natur und Vernunft, Geist oder Materie bleiben aber innerhalb der materiellen Welt wesentliche Differenzen zwischen dem Menschen und dem „Rest“ der Natur. Das ist vor allem wichtig für das Problem des Normativen: Auch wenn Normen nicht aus der außermenschlichen Natur stammen, müssen sie nicht einer reinen, immateriellen und a priori erkennbaren Vernunft angehören. Sie könnten auch im sozialen Leben des Menschen innerhalb der materiellen Natur entstehen (vgl. Siep 2013a).
2 Natur und Norm Es scheint mir hilfreich, zunächst unterschiedliche Begriffe von Norm und Normativität festzuhalten. Normen können zum einen interne und externe Maßstäbe sein, an denen Gegenstände und Prozesse gemessen werden. Als interne Maße können sie auch Sollzustände in dem Sinne sein, das ihr Erreichen zur spezifischen Gestalt oder Lebensform eines Lebewesens oder einer Gruppe gehört. Ihr Verfehlen kann dann von außen als Mangelerscheinung beurteilt werden, wie etwa bei „Kümmerformen“ in der Pflanzenwelt. Lebewesen können aber auch sozusagen „von innen“ Signale des Abstandes von der Normalverfassung empfangen und empfinden, wie körperlichen Schmerz aufgrund der Störung oder des Versagens von Funktionen und Organen (vgl. zum Begriff einer „homöodynamische Normativität“ in der Natur Merker 2004, v. a. S. 153 – 157). Von diesen Maßstabnormen sind Normen als Gebote, Vorschriften oder Erwartungen zu unterscheiden. Auch davon teilen die Menschen noch einige Stufen mit dem Tierreich: Es gibt unbewusste Normen im Gruppenverhalten höherer
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Tiere, die bereits mit Sanktionen belegt sein können (vgl. de Waal 2006; einschränkend Fellmann 2014). Das ist aber nicht zu verwechseln mit den mehr oder minder ausdrücklich erlassenen, autorisierten und bewusst sanktionierten Normen in menschlichen Gesellschaften. Menschen werfen sich schon das NichtEinhalten von gewohnheitsmäßigen Erwartungen vor. Sie unterstellen Absicht oder zumindest Fahrlässigkeit. Ihre Sanktionen sind keine allein körperlichen und emotionalen, wie die Sanktionen etwa gegen Revier- oder Rangüberschreitungen bei Tieren. In der Gruppe wird die Kompetenz zum Fordern und Vorwerfen wechselseitig akzeptiert. Es gibt eine Berechtigung zu Vorschriften und Bestrafung von Übertretungen – all das zunehmend expliziter durch Sprache und Schrift. Generell kann man sagen, dass Normen von Menschen für Menschen gesetzt, eingeführt, als Normen anerkannt werden. Die äußere Natur enthält für den Menschen keine Normen in diesem Sinne. Sicher haben sich Menschen für ihre Normgebung oft auf übermenschliche Autoritäten berufen. Wenn diese auch der materiellen Natur ihre Normen in Gestalt von Maßen und Lebensformen vorgeschrieben hätten, wäre die äußere Natur ein „Buch“ für Normen, die auch für den Menschen Gültigkeit besäßen (vgl. zur Metapher des Buches der Natur: Blumenberg 1981). Auf dieser Vorstellung beruht das klassische Naturrecht. Aber es sind immer Menschen, die Normen interpretieren, auch natürlich oder historisch geoffenbarte. Die Berufung auf den übermenschlichen Gesetzgeber ist insofern eine Selbstautorisierung, die von den Normunterworfenen anerkannt werden muss. In dem Maße, wie die Annahme eines überweltlichen Schöpfers und Gesetzgebers für die Natur an Erklärungskraft verlor, schwand auch die Überzeugungskraft eines Naturrechts in der äußeren Natur. Es wurde zunächst auf die Natur als das Wesen des Menschen, und das heißt seine Vernunft, übertragen. Das Vernunftrecht geriet erst seit dem historischen Zeitalter in eine Krise (Siep 2008) Im Bereich der sozialen Normgebung wurde das Vernunftrecht schon in der frühen Neuzeit zur Gegeninstanz des klassischen Naturrechts, weil es die Begründung gesellschaftlicher Hierarchien durch natürliche Unterschiede infrage stellte. Natürliche Unterschiede zwischen den Menschen galten zunehmend als irrelevant für Rechte und Normen. Am längsten gehalten haben sich die Vorstellungen, dass die Natur etwas „will“ im Bereich der Sexualität und der Familie – bis heute, wie der Kampf um die sexuelle Selbstbestimmung einschließlich Ehe und Adoption gleichgeschlechtlicher Paare zeigt. Die Natur als Gegenstand wissenschaftlicher Erklärungen enthält keine Normen im Sinne von Geboten für den Menschen. Das gilt auch für die innere Natur des menschlichen Körpers, seine natürlichen Maße und die Lebensformen des Menschen selber. Zwischen die körperlichen Signale der Schmerzen und Bedürfnisse und die Gebote etwa der Hilfestellung treten Akte bewusster Aneignung und Bewertung durch das betroffene Individuum und die Gruppe. Man kann zwar schon bei Tieren von
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unbewusstem Werten sprechen, das sich in ihrem Verhalten zeigt. Menschliche Handlungen entstehen aber erst durch bewusstes Werten und Stellungnehmen. Selbst spontane Kooperationen oder Verweigerungen sind von einem Bewusstsein des in der Gruppe Erwarteten oder Verpönten begleitet. Menschen werten im Blick auf ihr zukünftiges Leben und Handeln. Eine besondere Bedeutung dafür haben aktive Potentiale und Dispositionen die unter den geeigneten Voraussetzungen erwartbare Prozesse und selbstgesteuerte Entwicklungen in Gang setzen. Dabei kann es sich um biologische Entwicklungspotentiale oder kulturelle Kompetenzen handeln. Die primäre Bewertung, vor allem unter Bedingungen der Knappheit, ist die nach dem Förderlichen oder Abträglichen für einen selber. Es gibt aber auch eine natürliche und kultivierte Bereitschaft, Entwicklungschancen anderer für diese selber positiv zu bewerten, etwa bei Kindern und sonst Nahestehenden, sogar bei Tieren und Pflanzen. Die Förderung solcher Potentiale und Dispositionen ist Gegenstand von moralischen und rechtlichen Normen. Mit dem Aufkommen der subjektiven Rechte auf Verfügung über den eigenen Körper und das eigene Leben sind sie aber an die Grenze des Paternalismusverbotes gestoßen: Niemand darf zu einer Verhaltensweise gezwungen werden, weil andere es für seine Entwicklung positiv einschätzen. Jeder hat das Recht, sich selber zu schaden. Die Ethik allerdings, die mit Zwang nichts zu tun hat, kann immer noch anraten, seine Fähigkeiten zu erforschen und deren Entwicklung zu befördern (vgl. zur neueren Paternalismusdebatte: Kühler/Nossek 2014). Welche Fähigkeiten man im Bezug auf sich selber, als Individuum, Gruppe oder sogar Gattung, für fördernswert hält, hängt von den eigenen Zielen und Handlungszusammenhängen ab. Umgekehrt kann es aber dafür, wie weit diese richtig oder verfehlt sind, wichtig sein, gegebene Potentiale zu berücksichtigen. Das gilt für natürliche Potentiale des Menschen wie der äußeren Natur.
3 Handlungsnorm und innere Natur Zwei Aspekte des Umganges mit den natürlichen Fähigkeiten und Entwicklungspotentialen des Menschen werden in der angewandten Ethik besonders erörtert: Erstens das Verhalten zu den Entwicklungen am Anfang und Ende des menschlichen Lebens; zweitens die Perfektion menschlicher Fähigkeiten – sei es zu ethischen Tugenden, sei es zu verbesserten körperlichen oder seelischen Leistungen überhaupt. Umstritten ist heute in der angewandten Ethik vor allem, ob Entwicklungspotentiale der menschlichen Natur vom Anfang an, d. h. bei der befruchteten Eizelle oder jeder totipotenten Zelle zu schützen und/oder zu fördern sind (vgl.
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Damschen/Schönecker 2003; Lenzen 2004). Mit Blick auf natürliche Potentiale allein können diese Fragen nach meiner Auffassung nicht beantwortet werden. Normen zum Schutz menschlichen Lebens und menschlicher Entwicklung sind nicht von natürlichen Potentialen oder Funktionen abzulesen. Historisch waren Rechte an den sozialen Status geborener Menschen als Mitglied einer Normgemeinschaft gebunden. Seit dem Beginn der Neuzeit setzt sich schrittweise ihre universale Geltung über die Grenzen aller konkreten Rechtsgemeinschaften durch. Die Begründung für solche angeborenen Rechte war das Verfügungsrecht jedes Menschen über seinen Körper und das Recht auf Unabhängigkeit vom privaten Willen jedes Anderen. So sind sie von Locke über Kant bis in die Menschenrechtsdeklarationen des 20. Jahrhunderts verstanden worden. Die Frage, wie weit und in welchen Graden Schutzrechte auf das vorgeburtliche Leben ausgedehnt werden sollen, ist Gegenstand vernünftiger gemeinsamer Normsetzung. Deutliche Unterschiede in Gesetzgebungen bezüglich dieser Rechte beruhen auf unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, etwa im Hinblick auf die reproduktive Freiheit bzw. die selbstbestimmte Fortpflanzung. In der Gegenwart ist die Rede von natürlichen Entwicklungspotentialen des beginnenden menschlichen Lebens problematisch geworden. Sowohl die biologischen Potentiale wie die Bedingungen ihrer Entwicklung hängen immer stärker von menschlichen Handlungen ab, wie die unterschiedlichen Weisen der Herstellung totipotenter oder pluripotenter Zellen zeigen (vgl. Ach/Schöne-Seifert/ Siep 2006; Advena-Regnery/Laimböck/Rottländer/Sgodda 2012; Siep 2014). Außerdem ist die individuelle Selbstbestimmung auch im Bereich der Sexualität und der Reproduktion zunehmend rechtlich geschützt. Normsetzungen für den Umgang mit Entwicklungspotentialen haben es mit menschlichen Handlungszusammenhängen und ihren Rechtfertigungen zu tun. Kein Potential und keine Norm der Natur verbieten, dass mit Embryonen in frühen Stadien,vor allem vor der Nidation, in Bezug auf Sexualität, Fortpflanzung oder Heilkunst unterschiedlich umgegangen wird. De facto liegt auch der deutschen Rechtspraxis ein Stufenkonzept zugrunde (vgl. Dreier 2002). Deutlich anders zu behandeln ist die Frage, wie man mit den abnehmenden Fähigkeiten und Potentialen im Alter umzugehen hat. Hier sind die gleichen Schutzrechte jedes Geborenen aufgrund der universalen Rechtsnormen unbestreitbar. Umstritten ist nur die Frage, wie weit die Selbstbestimmung über den eigenen Körper am Ende des Lebens geht. Die Natur schreibt kein Ende vor, jeder ist berechtigt, sein Leben mithilfe der Medizin zu verlängern oder einen natürlichen Tod abzuwarten. Anerkannt ist auch das Recht auf ein möglichst schmerzfreies Sterben. Es ist dann aber nicht einsichtig, dass man das Lebensende nicht ebenfalls nach eigener Entscheidung selber herbeiführen kann, wenn andere dadurch nicht geschädigt werden. Wie weit andere Menschen dabei helfen dürfen
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oder sollen, muss durch eine Abwägung zwischen dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben, der Pflicht zur Hilfestellung und dem Schaden durch Missbrauch entschieden werden. Entsprechend dem Gewicht der Autonomie in Ethik und Recht ist es durchaus vertretbar, jemandem auf seinen freien, wohlerwogenen und nachvollziehbaren Wunsch hin bei der Beendigung seines Lebens zu helfen. Die konkrete Normsetzung ist auch hier keine Frage natürlicher oder kultureller Tabus, sondern rechtstaatlicher Prozesse. Obwohl weniger umstritten, so doch schwieriger für die ethischen Überlegungen scheinen mir die Fragen nach der Perfektion natürlicher Fähigkeiten des Menschen. Gibt es eine Pflicht, diese Fähigkeiten zu Tugenden zu entwickeln oder ihrer Entwicklung zu negativen Charaktereigenschaften entgegenzuwirken? Gibt es ein Recht, seine natürliche Fähigkeiten und die seiner Nachkommen zu verbessern im Sinne eines nicht-therapeutischen Enhancements? Nach der aristotelischen Tradition und ihren Erneuerungen (kritisch dazu Halbig 2014) bauen ethische Tugenden auf artspezifischen Strebungen und Fähigkeiten des Menschen auf. Die Betätigung solcher Fähigkeiten ist für jedes Lebewesen erfreulich. Die differentia specifica des Menschen ist die Vernunft in verschiedenen Funktionen: Einmal als Vermögen, Affekte situationsgemäß zu moderieren in Bezug auf gesetzlich erlaubte Zwecke. An der Gesetzgebung ist die Vernunft zweitens als öffentliche Rede beteiligt. Ihr Ziel ist das für alle Gerechte und Ungerechte, Nützliche und Schädliche in einer arbeitsteiligen und schutzfähigen Gemeinschaft. Die klassischen Einwände gegen diese Konzeption gehen in entgegengesetzte Richtungen: Für die platonische Tradition ist eine solche Vernunft weder universal noch eine echte Quelle von Normen. In der Neuzeit hat Kant diese Kritik fortgeführt: Eine Vernunft, die mit den natürlichen Strebungen harmoniert und sie nur moderiert, steht ihnen nicht autonom fordernd gegenüber und ist daher keine Quelle unbedingter Pflichten (vgl. Kant 1968a, 394; Kant 1968b, 386). Ihre Regeln gelten nur unter den Bedingungen einer bestimmten (der menschlichen) Natur und binden andere mögliche Vernunftwesen nicht. Dadurch wird auch die Idee eines mit unseren Moralgesetzen übereinstimmenden immateriellen Gottes untergraben. Zudem kann eine Vernunft, deren Regeln des Gerechten sich, wie bei Aristoteles, zu kulturell unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen konkretisieren, keine streng universalen Gesetze enthalten. Bei Kant ist aber auch die andere Richtung vertreten, die auf Hobbes zurückgeht: Es gibt kein gemeinsames Ziel und Glück des menschlichen Handelns. Auszeichnend für den Menschen ist die Freiheit in der Wahl der Mittel seiner Selbsterhaltung und der Suche nach seinem Glück. Diese Handlungsfreiheit darf nur zugunsten der gleichen Freiheit aller eingeschränkt werden. Die dafür gemeinsam installierte Rechtsgewalt darf ihn bei seiner autonomen Glückssuche im
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Rahmen der Gesetze aber nicht bevormunden, das wäre despotischer Paternalismus (vgl. Kant 1968b, 317: die „väterliche Gewalt“ als die „am meisten despotische“). Auf der Ablehnung des Paternalismus beruht in der Tat der moderne weltanschauungsneutrale Staat gleicher subjektiver Rechte.Wer aber,wie der Politiker, Arzt oder Erzieher, verpflichtet ist, an günstigen Voraussetzungen für körperliche Gesundheit und Lebenschancen mitzuwirken, sollte die arttypischen Fähigkeiten und Bedürfnisse des Menschen im Auge haben. Nur müssen die Ausstiegsoptionen für Selbstverwirklicher und Nonkonformisten jeder Art erhalten bleiben. Wegen der enorm gewachsenen Anzahl kultureller Lebensformen sind sicher auch viel individuellere Veranlagungen für mögliche künftige Optionen in ihrer Entwicklung förderungswürdig. In seinen Lebensplänen auf die eigenen Fähigkeiten Rücksicht zu nehmen, kann ethisch nur noch ein Ratschlag sein. Im Nachhinein kann man es aber vielleicht auch noch missbilligen, wenn jemand seine Talente verschleudert und seine Chancen vertan hat. Auch die Menschenrechte, zu denen die freie Persönlichkeitsentwicklung gehört, haben es noch mit Eigenschaften der menschlichen Natur zu tun. Sie folgen aus ihr allerdings so wenig,wie sie aus einer „anthropologiefreien“ Vernunft abzuleiten sind. In ihrer konkreten Form und ihrer Differenzierung und Vermehrung im Staats- und Völkerrecht, entsprechen sie nicht nur historisch gewandelten Ansprüchen auf Freiheit, Gleichheit und Selbstachtung. Ihre Bestätigung, gerade in den Erfahrungen ihrer Verletzung im 20. Jahrhundert, legen den Schluss nahe, dass sie etwas dem Menschen grundsätzlich Zustehendes und Entsprechendes getroffen haben. Das kann aber kaum eine reine Vernunft sein, denn Menschenrechte berücksichtigen spezifische Empfindlichkeiten und Verletzbarkeiten der menschlichen Natur – wenn auch in sich wandelnden historischen Konstellationen. Rechte machen Tugenden und die darin kultivierten Fähigkeiten aber nicht überflüssig. Zum einen kann eine Rechtsordnung ohne ein Mindestmaß an Tugenden nicht stabil sein. Zum anderen scheint mir auch die These, dass Tugenden zumindest die Chancen auf ein erfreuliches und erfüllten Lebens steigern, noch nicht ganz überholt zu sein. Dass Tugenden spezifisch menschliche Fähigkeiten kultivieren, ist kaum zu bestreiten. Aus Überlegung in der richtigen Situation mit dem richtigen Zweck tapfer zu sein, wird man einem nicht-menschlichen Hominiden nicht zuschreiben können. Aber man muss kein abschließbares Telos annehmen: Bestimmung und höchstes Glück des Menschen ist weder allein die Einsicht ewiger Wahrheiten noch die vollendete Lebensform der Polis. Nicht nur, dass die Weltgemeinschaft eigene neue Formen der Verfassung finden muss. Menschen können ihren Lebensinhalt und ihre moralische Qualität auch im Engagement für private über-
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staatliche Vereinigungen finden. Wissenschaft, Künste und andere lohnende Tätigkeiten befinden sich in einer zukunftsoffenen Dynamik ohne jeden Abschluss oder endgültige Erfüllung. Autarke Zustände der Zufriedenheit und Sozialverträglichkeit können Tugenden trotzdem gewähren. Aristoteles scheint mir auch immer noch Recht zu haben, dass Gerechtigkeit als Fähigkeit, den gesetzlichen Ansprüchen der Mitmenschen zu entsprechen, auf einem gewissen Maß an innerer Balance der Bedürfnisse, Affekte und vernünftigen Überlegungen beruht. Große Exzentriker verträgt eine Gemeinschaft nur in Maßen – und Menschen, die in einer destabilisierenden Not leben, muss man so schnell wie möglich davon zu befreien suchen. Heute wird aber argumentiert, dass sowohl die rechtssichernde wie die glücksbringende Funktion der Tugenden nur noch durch Biotechniken erreicht werden können. Das Programm der technischen Beherrschung und Verbesserung der äußeren Natur muss nach innen gewandt werden. In der Tat sind ja nicht nur in der Überwindung körperlicher Leiden, sondern auch psychischer Störungen erhebliche Fortschritte der modernen Medizin zu verzeichnen. Die meisten ihrer Maßnahmen allerdings sind bisher therapeutischer Art und bestehen in reversiblen Gaben. Die neue Stufe, die die angewandte Ethik beschäftigt, hat es aber mit genetischen Modifikationen oder Gehirneingriffen zu tun, die überwiegend irreversibel wären. So werden zur Förderung der sozialen Fähigkeiten biotechnische Dämpfungen der Aggressivität ins Auge gefasst – wobei offen bleibt, wie sich das auf den menschlichen Affekthaushalt insgesamt auswirkte. Die raffinierteste Form einer technischen Utopie dieser Art ist die sog. „God machine“ von Persson und Savulescu (Persson/Savulescu 2012; kritisch dazu Harris 2014). Sie soll eine im Gehirn verankerte automatische Verhinderung der Schädigung anderer mit der Vorspiegelung eigener Entscheidung verbinden. Menschliche Freiheit ist aber offenbar mit Schuldfähigkeit und ihren Kosten verbunden. Natürliche Instinktoffenheit und das Risiko der Überlegung beim Menschen durch technische Sicherungen zu verbessern, setzt zu viel aufs Spiel. Moral enhancement-Debatten gehen in der Regel von Problemen der Konfliktlösung in einer überbevölkerten Welt mit zunehmend knapperen Ressourcen aus. Dabei ist von einer Förderung der natürlichen oder kulturell entwickelten Fähigkeiten des Menschen nicht die Rede. Das Gleiche gilt für die Utopien der positiven, glücksorientierten Verbesserung des Menschen. Transhumanisten entnehmen ihre Optimierungsmaße technischen Geräten, deren Leistungen dem Menschen überlegen sind – oder aber Lebewesen, die über höhere sensorische oder motorische Kapazitäten verfügen (Siep 2013b). Ob der Genuss solcher Leistungen Menschen dauerhaft zufrieden stellt, oder in einen nach oben offenen Leistungs- und Wettbewerbssog führt, ist ganz ungewiss. Ebenso, ob die Rechte
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und Werte der menschlichen Gesellschaft der Entstehung von massiver Ungleichheit des Körpers, vor allem der Gehirnleistungen, standhalten. Das nichtnatürliche Ideal der Gleichheit aller fordert, so viele Menschen wie möglich aus Lagen zu befreien, in denen schon die Erfüllung von Rechtspflichten moralischen Heroismus erfordert. Arbeitslose Jugendliche in den Ghettos moderner Mega-Cities haben es eben schwerer, straffrei zu bleiben als ihre Altersgenossen in gesicherten Verhältnissen. Die Verbesserung sozialer Institutionen und Wohlfahrtsbedingungen ist ein ethisches Gebot (vgl. Herzog 2013), die technische Optimierung des Menschen dagegen ein erhebliches ethisches Risiko.
4 Maße und Normen für den Umgang mit der äußeren Natur Die äußere Natur enthält zwar keine Gebotsnormen, aber immanente Maße und aktive Potentiale der Selbstentwicklung, durch die vernünftige menschliche Zwecke gefördert werden können. Was folgt daraus für den Umgang mit der äußeren Natur, vor allem den biotechnischen? Was die Menschheit in der letzten Jahrhunderthälfte durch Krisen wieder entdecken musste, ist Nachhaltigkeit als Maß des kultivierenden Umgangs mit der Natur. Die Regenerierbarkeit natürlicher Kräfte ist in gewissem Sinne auch ein Vorbild für den Umgang mit technischen Produkten. Auch sie brauchen Zeit und Raum für Entsorgung und Ersetzung, im günstigen Fall für ihre Wiederverwertung. Es ist aber zu bezweifeln, dass Nachhaltigkeit als Orientierung für den menschlichen Umgang mit der natürlichen Welt ausreicht. Ihr Maß der Schonung der Natur ist abhängig vom Stand der technischen Entwicklung. Sie enthält auch nur eine Perspektive auf Ressourcen, nicht auf Formen des Lebens und auf Güter, die über Selbsterhaltung und Mühsalentlastung hinaus zu realisieren wären. Zwei Fragen sind mit Blick auf die Natur als ganze für die moderne Ethik vor allem zu beantworten: Die erste ist, ob es außer dem Guten für den Menschen noch andere Güter gibt, an deren Realisierung er mitwirken soll (1). Die zweite, ob das Ziel völliger Beherrschung der Natur, das seit der frühen Aufklärung verfolgt wird, noch uneingeschränkt gut ist (2). (1) Die Entwicklung der Tierethik seit Bentham, aber auch die Begründungen moderner Rechtsordnungen zum Schutz der Biodiversität oder der natürlichen Lebensgrundlagen, legen die Berücksichtigung auch anderer als menschlicher Interessen nahe. Nimmt man in der Naturethik den Standpunkt des „impartial benevolent spectator“ ein (vgl. Smith 2004, S. 442 f.), dann muss nicht nur das Leid schmerzempfindlicher Wesen berücksichtigt werden, sondern auch das ihrer
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artgemäßen Lebensform Förderliche. Gutes im Sinne des Förderlichen gibt es nicht nur für bewusst und sprachlich wertende Wesen, sondern auch für solche, die gedeihen oder verkümmern, sich wohl befinden oder leiden können. Für eine Ethik des richtigen Umganges mit der äußeren Natur ist die Schonung und Förderung dieser natürlichen Verfassung, der artgemäßen Selbstentwicklung und Selbsterhaltung, zumindest prima facie richtig. Ob der Reichtum der Arten und Ökosysteme, Landschaften und Formationen nur im Interesse des Menschen, oder auch an sich selber gut ist, bleibt in der angewandten Ethik bis heute umstritten („anthropozentrisch“ etwa Habermas 1997; kritisch Sturma 2012). Unter Anthropozentrikern werden dabei nicht mehr nur Erwägungen des Nutzens für das angenehme Leben vertreten. Das interesselose Wohlgefallen an schöner Natur kann nach der Argumentation von Martin Seel eine Vorstufe zum moralischen Respekt vor dem Anderssein des anderen Menschen sein (vgl. Seel 1991; Seel 1997). Autoren wie Angelika Krebs sehen in der Verwurzelung in einer Landschaft Bedingungen des guten Lebens sowie der Identität des Einzelnen und der Gruppe (vgl. Krebs 2012). Die Verbundenheit des Menschen mit einer vertrauten Umgebung ist aber auch in einer hochgradig urbanen und technischen Umwelt möglich und die globalisierte Arbeitswelt reduziert den Begriff der natürlichen Heimat bei vielen auf ein Minimum. Trotzdem ist kaum zu bestreiten, dass emotionale und kognitive Begegnungen mit dem Reichtum, der Mannigfaltigkeit, dem Überraschenden und Überwältigenden der Natur erhebliche Potentiale für Glückserfahrungen und gutes Leben besitzen. Es ist zudem unwahrscheinlich, dass künstliche Welten, die das Naturerlebnis ersetzen sollen, auch Güter des Förderlichen für nicht-menschliche Lebewesen realisieren würden. Wenn zu den Bedingungen für Gedeihen und Wohlergehen von nicht-menschlichem Leben auch die physikalischen, chemischen, geologischen und klimatischen Beschaffenheiten der Erde und ihrer näheren Umgebung gehören, dann dürfte man auch diese zum Guten im Sinne des Förderlichen zählen. (2) Die zweite Frage betrifft das hypothetische Ziel bzw. die Richtung der technischen Naturbeherrschung bzw. heute ihrer synthetischen Optimierung. Ist es gut, die Natürlichkeit der Natur selber, also ihre zumindest partielle Unkontrollierbarkeit, endgültig zu überwinden oder wäre es besser, auf dieses Ziel zu verzichten? Auch diese Frage kann in Bezug auf das für den Menschen Gute oder auf ein umfassenderes Gut erörtert werden. Das Paradox der Befreiung des Menschen von natürlicher Abhängigkeit wird heute meist darin gesehen, dass die Folgen der technischen Zivilisation ihn in eine neue Abhängigkeit von der geschädigten Umwelt versetzt haben. Bei deren Bewältigung scheint sogar die freiheitliche Verfassung demokratischer Staaten hinderlich zu sein. Das gehört zu den Problemen der Umweltethik, aber die
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Philosophie ist dafür nur begrenzt kompetent. Mehr Zuständigkeit besitzt sie für eine grundsätzliche Frage des Verhältnisses von Freiheit und Befreiung. Freiheit in Bezug auf die Natur bedeutet in der Neuzeit in der Regel Befreiung von Katastrophen, Schäden und Abhängigkeiten eben durch die möglichst grenzenlose Beherrschung der Natur. Wie die philosophische Analyse der wahren Freiheit zwischen Menschen gezeigt hat – man denke an Hegels berühmte Darstellung der Herrschafts-Knechtschafts-Beziehung – gehört zur geistigen Freiheit aber die Anerkennung der Unabhängigkeit und Fremdheit des Anderen. Dieses „bei sich Sein“ im „absoluten Anderssein“ zeichnet den Geist auch im Verhältnis zur Natur aus (vgl. Hegel 1988, S. 19). Im anderen Menschen bei sich selbst sein heißt allerdings, von diesem als Mensch und autonome Person mit gleichen Rechten anerkannt zu sein und beiderseits diese grundsätzliche Gemeinsamkeit zu bejahen. Dass ist in der nicht-menschlichen Natur nicht möglich, auch nicht in den höchsten Formen der Vertrautheit und wechselseitigen Hilfe zwischen Mensch und Tier. Zwar ist die Natur als solche dem Menschen nicht völlig fremd: Er ist ein Teil ihrer selbst und kann sie zunehmend erklären. Aber ihre Faszination, auch ihre Erhabenheit, liegt nicht darin, dass sie wie bei Kant dem Menschen die Überlegenheit der Vernunft, sei es der theoretischen oder der sittlichen, symbolisiert („die Natur als gegen die Ideen der Vernunft, wenn sie eine ihnen angemessene Darstellung verschaffen soll, verschwindend vorstellt“, Kant 1968c, S. 257). Sie liegt vielmehr in einer sowohl anziehenden wie erschreckenden Selbständigkeit der Natur. Die Perfektion der Naturbeherrschung würde die Menschheit eines Gegenübers berauben, durch das sie sowohl geschädigt wie beglückt werden kann. Darin liegt ein Erbe der Macht, die den Menschen mit Gnaden oder mit Zorn überraschen kann und durch keinen Vertrag endgültig zu binden ist. Das bedeutet aber nicht, dass eine eventuelle Aufgabe des Ziels der völligen Kontrolle natürlicher Kräfte der Verzicht auf die Hybris des „Gott Spielens“ ist. Der Mensch ist durchaus berechtigt, sich gegen das „Zürnen der Elemente“ zu erwehren, er muss nicht einen dahinter stehenden Urheber moralisch durch Demut besänftigen. Zu wollen, dass Natürlichkeit ein selbständiges Gegenüber bleibt, anstelle zum vollständig kontrollierten Instrument zu werden, könnte im Gegenteil Zeichen einer grundsätzlichen Souveränität und Freiheit sein. Für eine Angewandte Ethik, die öffentliche Diskussionen über synthetische Biologie oder die neue Konvergenz von Bio- und Informationstechnologien beraten soll, ist es von großer Bedeutung, was denn das letzte Ziel des ganzen Prozesses sein soll. Man kann diese Überlegung immer noch „anthropozentrisch“ nennen, insofern die Natürlichkeit als Gut für den Menschen beurteilt wird – als Gegenstand seines Wohlgefallens, Teil seines guten Lebens, auch noch als Voraussetzung der Freiheit als souveräner Selbstdistanz. Es kommt darauf an, wie weit diese
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Selbstdistanz gehen soll. Kann man, etwa in der Tradition des Isolationstests von Moore oder Ross, auch sagen (vgl. Moore 1970, S. 258; Ross 2002, S. 69), es sei für sich gut, dass es in der Welt so etwas wie unkontrollierbare Natürlichkeit gibt? Oder kann man mit Thomas Nagels Konzeption des „view from nowhere“ argumentieren, dass auch fundamentale Interessen des Menschen nur als eingeschränkte Perspektive gelten können (vgl. Nagel 1992)? Mir scheint eine solche Sichtweise auch angesichts der Tatsache nahe zu liegen, dass der Mensch und seine Lebensweise in eine evolutionäre Naturgeschichte eingestellt ist, in der er erst spät und zufällig auftritt. Das hat nichts mit einer Ethik zu tun, die aus der Evolution ein Gebot zur Steigerung der Fitness ableitet. Normen im Sinne von Vorschriften gibt es auch in einer evolutionären Natur nicht ohne menschliche Werturteile und Vereinbarungen. Ohnehin ist der Erhalt der menschlichen Gattung ohne moralische Minimaleigenschaften nicht unbedingt ethisch geboten. Aber die evolutionäre Perspektive scheint mir für die Ethik auch nicht irrelevant. Für die Theorie ist der selbstrelativierende Blick auf die kurze Phase menschlicher Anwesenheit in dieser Geschichte selbstverständlich. Auch für einen wertenden „unparteiischen Beobachter“ der Naturgeschichte sollten nicht nur die Beziehungen als „gut“ gelten, die dem Menschen förderlich sind. Auch das Gedeihen und Blühen von Individuen und Populationen anderer Lebewesen könnte dazu gehören. Sogar für den Reichtum an Ökosystemen, Landschaften und Formationen des Unbelebten könnte gelten, dass er in seinem Überschuss über den Nutzen für das Leben Bestandteil einer bejahens- und erstrebenswerten Welt ist (vgl. Siep 2004). Sie ist aber nur in Ansätzen wirklich und keineswegs notwendig, wie in der klassischen Kosmos-Metaphysik.Welche sozialen Reformen und welche Arten von Technik zur Verbesserung hilfreich sind, ist eine sozusagen lokale Abwägungsaufgabe, an der die angewandte Ethik beteiligt ist. Für das Projekt der Moderne im Ganzen könnte aber gelten, dass die Ethik zum Verzicht auf das Ziel der völligen Kontrolle und technischen Optimierung von Natur und Mensch raten muss.
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Philippa Foots Begriff der Funktion: Abgrenzungen und Anwendungen Bewusstsein und andere Formen geistiger Phänomene sind biologische Vorgänge, die in menschlichen und bestimmten tierischen Gehirnen vorkommen. […] Geistige Phänomene werden durch niederstufige neuronale Prozesse in menschlichen und tierischen Gehirnen verursacht und sind selbst höherstufige oder Makromerkmale dieser Gehirne. Wir wissen natürlich noch nicht genau, wie dies funktioniert, wie die besondere Neurobiologie menschlicher und tierischer Nervensysteme die ganze enorme Vielfalt unseres geistigen Lebens verursacht. Aber daraus, dass wir noch nicht wissen, wie dies funktioniert, folgt nicht, dass wir nicht wissen, dass es funktioniert. (Searle 2005, 144)
1 Der moderne Funktionsbegriff In Ernst Cassirers ausführlicher Studie „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“ schreibt dieser: „Der Funktionsbegriff enthält in sich zugleich das allgemeine Schema und das Vorbild, nach welchem der moderne Naturbegriff in seiner fortschreitenden geschichtlichen Entwicklung sich gestaltet hat.“ (Cassirer 1923, S. 27) Cassirers Untersuchung, die den Wandel von den Dingbegriffen zu den sogenannten Relationsbegriffen nachzeichnet, soll exemplarisch aufzeigen, dass mit den empirisch-mathematischen Wissenschaften eine Methodik zur Beschreibung von Tatsachen Einzug gehalten hat, die nicht mehr länger von einem substantiellen Subjekt, dem spezifische Eigenschaften zugeschrieben werden, ausgeht, sondern vielmehr von Strukturen zu sprechen ansetzt, innerhalb derer solche Subjekte als Momente eingewoben, d. h. instanziiert und exemplifiziert, sind. Dementsprechend ist „Funktion“ ein solcher Relationsbegriff, insofern er die Beziehung zwischen bestimmten Zuständen eines Systems oder einer Struktur beschreibt. Dieser relationale Funktionsbegriff gibt damit vor, den alten, an Aristoteles orientierten metaphysisch-ontologischen Zweckbegriff abzulösen bzw. zu ersetzen. Im revidierten Kontext einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ wird mit Hilfe des Funktionsbegriffs nicht mehr länger versucht, die Tendenz von natürlichen Prozessen zu verstehen, sondern Endzustände zu simulieren, auf welche anschließend zu deren Erreichung korrespondierende Mittel bezogen werden können. Mit dem Gebrauch des Ausdruckes „Funktion“ ist es in den neuzeitlichen Lebenswissenschaften damit auch möglich geworden, „einen biologischen Tatbestand rein deskriptiv als zweckdienlich oder zielgerichtet kennzuzeichnen, ohne damit zugleich eine Hypothese über die Herkunft der Zweckdienlichkeit auszusprechen.“ (Hassenstein 1981, S. 60) Der Inhalt und die Bedeutung des
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klassisch-teleologischen Zweckbegriffs kann auf diese Weise durch einen teleonomischen Funktionsbegriff erklärt bzw. ersetzt werden, wobei Funktion im eingeschränkten biologischen Sinn bedeutet – das Leisten eines Beitrags „zur Aufrechterhaltung eines als Ganzheit betrachteten Systems“. (Hassenstein 1981, S. 63) Der eben vorgestellte teleologisch interpretierte Funktionsbegriff lässt sich bezüglich seiner philosophischen Inanspruchnahme problemgeschichtlich eindeutig auf Aristoteles und dessen Bestimmung des ergon als praktische Mittel-ZielRelation im Kontext eines gelingenden Lebens zurückführen.¹ Die Realisierung dieses ergon ist dabei höherwertiger einzuschätzen als das bloße und ausschließliche Erreichenkönnen und -wollen eines Ergebnisses im Sinne der techné. Aristoteles richtet sich mit seinem Verständnis von phýsis (Natur), jenem zielgerichteten Wirken der Vernunft, gerade gegen eine kausal-mechanistische Lesart des Zweckbegriffes, welche unter anderem von Lukrez, einem der ersten Kritiker einer natürlichen Teleologie, verwendet wird. Lukrez bezeichnet die aristotelische Teleologie dabei als „ratio perversa“. Jene ‚verdrehte Vernunft‘ ziele darauf ab zu zeigen, dass ‚das Danach auch vor dem Vor sein kann‘, was allerdings gegen jede Vorstellung einer nezessitaristisch zu verstehenden und an sich unumkehrbaren Ursache-Wirkung-Relation verstößt. Diese frühe Auffassung von Lukrez bezieht sich damit auch direkt auf unsere Frage nach dem Wozu, denn eine heute geläufig gewordene, durch die positivistische Wissenschaftstheorie vorangetriebene Ansicht besteht doch darin, dass wir erst wissen können, dass und wie etwas funktioniert, sobald wir einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem Endzustand, dem Danach, und der Ursache, dem Davor, hergestellt haben. Im 20. Jahrhundert können wir all diesen Bedenken zum Trotz eine Rückkehr zur teleologischen Sprache und zur Beantwortung der Frage nach dem Wozu in der modernen Biologie feststellen, eine Rückbesinnung, die allerdings – anders als bei Aristoteles – vornehmlich als antiteleologisch einzuordnen und damit auch als antianthropomorphistisch zu verstehen ist. Man geht in dieser an Lukrez erinnernden Lesart folglich davon aus, dass Funktionen im Gegensatz zu finalen Ursachen naturalistisch und/oder systemtheoretisch erklärbar seien. Woher kommt nun dieses Neuinteresse an der Kategorie des Zweckes und weshalb kommen wissenschaftliche Erklärungen nicht ohne diese Kategorie aus? Um dies zu verstehen, müssen wir einen Blick in die neuzeitliche Geschichte des Zweckbegriffes werfen. Darin fand eine genuine Möglichkeit der Erklärbarkeit von zielgerichteten Prozessen in der Natur ihren Ursprung bekanntlich bei Kant. Kant geht in seiner Kritik der Urteilskraft davon aus, dass Organismen analysiert werden, als ob (!) ihnen Zweckgerichtetheit zukäme, ohne dass man davon ausgehen
Vgl. hierzu den Beitrag von Angela Kallhoff in diesem Band.
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könne, dass diese Organismen an sich zweckgerichtet sind. Dass ein Organismus funktioniert, ist dabei vorwiegend als Deutung, wie die Natur dieses Organismus funktioniert, zu verstehen, ohne über die Natur als solche im Sinne der Bestimmung ihres Soseins definite Aussagen treffen zu können (der berühmte „Newton des Grashalms“). Funktionsaussagen stehen bei Kant daher ausschließlich im Dienste einer Erkenntnis, die sich selbst nicht naturalisieren lässt. An dieser Stelle kommt allerdings bereits das große Aber: Indem Kant die formale von der materialen Zwecktätigkeit abgrenzt, gibt er der Auffassung einer vollständigen kausalen Determiniertheit der sublunaren natürlichen Welt Raum. Die Kausalität aus Freiheit, die er jener Naturkausalität bekanntlich entgegensetzt ist, bildet dabei ein eigenes Reich, d. h. sie ist nicht im „Reich der Zwecke“ situiert. Kant überlässt dieses „Reich der Zwecke“ konsequenterweise der exklusiven Bestimmungsgewalt einer naturwissenschaftlichen, auf die Bedingungen der Möglichkeit zielenden Analyse der Weltgegenstände. Damit entfinalisiert Kant die Natur als solche, insofern er im Gegenzug die Deutung derselben finalisiert. Das Als-ob der teleologischen Beurteilung kann aber stets wieder in wörtliche Beschreibung übersetzt werden, d. h. in Kausalsprache. Zwecktätigkeit ist demzufolge nichts anderes als eine Urteilsform, ein regulatives Prinzip. Kant schreibt dazu: „Ein teleologisches Urteil vergleicht den Begriff eines Naturproduktes nach dem, was es ist, mit dem was es sein soll.“ (Kant AA XX, S. 240) Dagegen verstehen Aristoteles und auch Philippa Foot, deren Funktionsbegriff ich noch diskutieren werde, diesen Sachverhalt genau umgekehrt, indem beide folgende Ansicht nahezulegen scheinen: Dass eine teleologische Deutung der Natur möglich ist, heißt noch nicht, dass Organismen auch zweckgerichtet sind. Aber nur weil Organismen zweckgerichtet sind, können wir uns überhaupt eine teleologische Deutung der Natur erlauben. Funktionsaussagen sind damit für Aristoteles und Foot als genuine Seinsaussagen zu verstehen, wenngleich Sein hier vornehmlich orektisch, d. h. als Aus-sein-auf, zu verstehen ist. Somit könnte man in einem umgekehrten, auf Kant bezogenen Sinne auch sagen: ‚Ein teleologisches Urteil vergleicht den Begriff eines Naturproduktes nach dem, was es sein soll, mit dem was es ist.‘ Zwecktätigkeit ist für Foot und Aristoteles – wiederum kantisch gesprochen – damit nicht nur ein regulatives, sondern auch ein konstitutives Prinzip, obgleich wir noch sehen werden, wie die Lebensform als constituens und constitutum in einem zu verstehen ist. Übrigens stimmt Michael Thompson dieser von Foot und Aristoteles präferierten ontologischen Gleichstellung der Norm mit einer dazugehörigen gattungsspezifischen Form dadurch zu, indem er an einer Stelle bemerkt, dass „das gesamte Seinsollen des konkreten Individuums durch die Artform vorgegeben wird.“ (Thompson 1995, S. 295).Während Kant also das „Reich der Zwecke“ für eine evolutionstheoretische Interpretation offenhält, sind nach Aristoteles, Foot und Thompson Lebensformen nicht zu einer solchen Auslegung geeignet, weil sie
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im Sinne eines Arttypus rezent auftreten und damit keine Analyseprodukte einer Entwicklungsgeschichte sein können.² Nun ist es in einem weiteren Schritt interessant zu fragen, wie sich Lebewesen entgegen einer evolutionshistorischen Lesart überhaupt zu solchen invarianten Typen bzw. Formen zusammenfassen lassen können. Peter Heuer hat diesen Zusammenhang über das Prinzip der Formgleichheit hergestellt und diese Formgleichheit als normatives Kriterium ausgewiesen. Ferner folge für Heuer aus dieser Formgleichheit, dass „Lebewesen, die keine Arten bilden, eine solche Norm [fehlt]“, wenngleich – so Heuer weiter – „wir auch Lebewesen, die keine Fortpflanzungsgemeinschaft bilden, aufgrund von Formgleichheit systematisieren können.“ (Heuer 2008, 324 f.) Somit lassen es bestimmte empirisch nicht zu bestätigende Ähnlichkeitsrelationen zwischen Individuen zu, von Formgleichheit zu sprechen. Dieser letzte Sachverhalt bedürfe allerdings noch einer tieferen Untersuchung, ist aber für unser Problem der Lebensform von großer Bedeutung. Nun ist im 20. Jahrhundert – ich deutete es mit Cassirer schon an – eine Verabschiedung der irreduziblen teleologischen Deutung sowohl als epistemisch unverzichtbare Urteilsform als auch im Kontext von Seinsaussagen, d. h. als Sein im Sinne von Aus-sein-auf oder Hingewirktsein, zu beobachten. Statt von Teleologie ist viel öfter von Teleonomie oder gerichteter Kausalität die Rede, wobei hier nicht eindeutig thematisiert wird, was „Richtung“ oder „Gerichtetsein“ eigentlich meint. So ist es stets der Beobachter, der sich die Richtung, die seine Aktivitäten nehmen, selbst setzen kann, indem er diesen Vollzügen bespielsweise einen bestimmten Vektor unterlegt. Dadurch ist der Ausführende nun in der Lage, diese Handlungen in Form apersonaler Geschehnisse ex post zu Funktionen zu erklären, d. h. Seinsaussagen in Funktionsaussagen umzuwandeln. John Searle vertritt diese Auffassung, insofern er behauptet, dass Funktionen immer beobachterrelativ sein müssen.³ Auf der Rückseite dieser Medaille zeigt sich indes, dass die empirische Forschung diese subjektive Richtungsnahme eines Geschehnisses eben nicht als ein Akt des Subjektes qualifiziert, sondern ausschließlich rekursiv (d. h. unter Rückgriff auf empirisch gesichertes Wissen) zu erklären in der Lage ist
Außer besteht hierbei das Problem der Deviation: Unter evolutionsbiologischer Perspektive können Abweichungen leichthin als Adaptionen ausgelegt werden, dagegen lässt die präsentische Bestimmung der Lebensform diese Modifikation nicht zu, sondern hält an einem klassischen Deszendenzmodell fest, wonach Arten einen invarianten Typus bilden. Von Funktionen spricht man dann meist unter methodologischem Vorbehalt. So dienen Sie nach Georg Toepfer der Identifikation und Differenzierung organischer Einheiten. Für Searle sind Funktionen beobachterrelativ und gehören zu einem „System früherer Wertzuweisungen … Ein Teil dessen, was das Funktionsvokabular dem Ursachenvokabular hinzufügt, ist eine Menge von Werten.“ (Searle 1997, S. 25)
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und auf diese Weise auch zu objektivieren versucht. Im Sinne des Hempel-Oppenheim-Schemas werden Ereignisse gleich welcher Natur so von ihren Antezedenzbedingungen abhängig gemacht und darüber erklärt. Aus dieser Erklärbarkeit im Sinne der Wiederherstellung des Vertrautseins durch die Angabe einer Gesetzmäßigkeit erfolgt aber noch kein Verstehen, das seinerseits, so Spaemann und Löw (2005), in der Wiederherstellung des Vertrautseins durch den Nachvollzug einer intentionalen Struktur besteht. Es ist daher für den sich aus solchen Regularitäten ergebenden und sich auch daraus erklärenden Funktionsbegriff unmöglich, dass er einem solchen Verstehensprozess dienen könne.
2 Philippa Foot und die Rolle der Funktion Philippa Foot knüpft als eine der wenigen Theoretiker unserer Zeit erneut an ein ontologisches Verständnis von Funktion und ein normatives Verständnis der menschlichen Natur an, das sie explizit über die Beobachtung nicht-menschlicher Lebensformen gewinnt. Lebensform ist dabei kein Interpretament natürlicher Erscheinungen, sondern irreduzibler Ausgangspunkt moralischen Urteilens und Handelns. Gründe für Handeln werden demzufolge aus eben dieser Lebensform, deren normative Struktur sich quasi aufdrängt, „abgeleitet“. Folgen wir dieser Rede über Lebensformen, verschwindet nach Foot auch die „Kluft zwischen Grund und moralischem Urteil“ (Foot 2004, S. 23), welche durch den Expressivismus Humescher Provenienz entstanden ist. Die Bewertung der Lebewesen kann demzufolge intrinsisch erfolgen und wird ohne Bezugnahme auf menschliche Interessen und Wünsche gewährleistet. Daneben kann und sollte die „Lebensform“ auch als sortaler Ausdruck verstanden werden, dem solche Allgemeinbegriffe wie „Art, Leben, Tod, Fortpflanzung, Ernährung“ (Foot 2004, S. 57) untergeordnet werden können. Die Lebensform bildet damit auch den passenden Rahmen für und die Referenz zum tatsächlichen allgemeinen Leben einer Art, zu der es gehört, ABC zu haben und DEF zu tun. Zur Lebensform als solcher gehört es aber auch, dass ihr Funktionen eignen bzw. Rollen inhärieren, die sie letztlich auch bestimmen, d. h. ihre Gestalt vorzeichnen. An dieser Stelle sieht Foot sich dazu veranlasst, ausdrücklich den Begriff der „Funktion“ einzuführen. Im Unterschied zur modernen Evolutionsbiologie hat ihr Funktionsbegriff aber keinen heuristischen Wert bzw. übernimmt keine explanatorische Rolle. Foot präsentiert vielmehr ein deflationäres Verständnis von Funktion, wobei ihre Ausführungen an Wittgensteins Zurückhaltungsmahnung erinnern, der zufolge wir nicht nach neuen Tatsachen respektive neuen Funk-
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tionen suchen müssen, weil diese bereits offen vor uns liegen.⁴ John Hacker-Wright unterstreicht dies, indem er Foots Funktionsbegriff als „neutral“ bezeichnet (Hacker-Wright 2009, S. 313). Funktionen nehmen in diesem Sinne keinen besonderen Erklärungswert an, woraus auch folgt, dass Philippa Foot den evolutionären Funktionsbegriff nicht zu ersetzen braucht. Foots Begriff der Funktion hat zwar dieselbe Extension wie der evolutionäre Funktionsbegriff, jedoch besteht diesbezüglich auch eine große Differenz, da Foot aus einer Beurteilungsperspektive spricht, die gerade nicht beim Endzustand eines Organismus, deren Bestimmung die historische Analyse bzw. eine retrospektive Kausalforschung voraussetzt, ansetzt. Es geht ihr in jener Bewertung vorrangig um die Verwirklichung des gesamten Lebenszyklus (Lebensform), der als entscheidender Bezugspunkt für das gesamte Foot’sche Naturverständnis dient. Die britische Philosophin entwickelt also keine biologische Theorie, sondern entwirft in erster Linie einen Ansatz, der genuine Aussagen über das Sein lebendiger Wesen macht.⁵ Hatte die frühe Foot in „Goodness and Choice“ noch die Auffassung vertreten, dass neben der Funktion als spezifische Gebrauchsweise eines Gegenstandes (z. B.
„Wir sind in größter Versuchung zu denken, daß wir es hier mit verborgenen Dingen zu tun haben, etwas, das wir von außen sehen, aber in das wir nicht hineinschauen können. Aber nichts dergleichen ist der Fall. Was wir wissen wollen, sind keine neuen Tatsachen über die Zeit. All die Tatsachen, die uns angehen, liegen offen vor uns.“ (Wittgenstein 1970, S. 22) Das berühmte Bienenbeispiel von Peter Geach, wonach der Mensch Tugenden bräuchte, wie die Bienen ihren Stachel, suggeriert fälschlicherweise die Verwendung eines ausschließlich biologisch zu verstehenden Funktionsbegriffes, demzufolge Bienen ohne Stachel im Sinne der Arterhaltung nicht überlebensfähig seien. Allerdings sind „aristotelische Notwendigkeiten“ nach Elisabeth Anscombe nicht mit materialen Notwendigkeiten gleichzusetzen. Daher spricht Foot auch von Notwendigsein als einem Zugehörigsein zu einer bestimmten Artnatur, die zu ihrer Erfüllung bestimmte Qualitäten erfordert. Und Anscombe selbst vermeidet jegliches Berufen auf eine „technical goodness“ (von Wright), insofern für sie der Bienenstachel oder die Tugend kein Instrument ist, sondern nur die Rolle eines Instruments spielt: „…if told ‘you have to say pong when I say ping’ there is clearly no answer to ‘Why do I have to?’…But if the procedure [e. g. one entailing as a rule ‘You have to do what you gave your word to do] has the role of an instrument in people’s attainment of so many of the goods of common life, the necessity that people should both actually adopt the procedure, i. e. often [make promises] and also…tend to accept the necessity expressed in [‘You have to…’] and also treat this as a rule – this necessity is a necessity of a quite different sort: it is the necessity [without which some] good cannot be attained. And hence it comes about that by the voluntary giving of a sign I can restrict my possibilities of acting well and hence it can lead to my…deserving, as well as receiving, reproach [when e. g. I fail to keep my word]…this [does not], however, prove the necessity of respecting [such a] rule…For this reason it is intelligible for a man to say he sees no necessity to act well in [such] matter[s], that is, no necessity for himself to take contracts seriously except as it serves his purposes.“ (Anscombe 1969, S. 74 f.) Hacker-Wright bestätigt diese Sichtweise, indem er schreibt, dass „Foot does not employ an evolutionary view of the biological world.“ (Hacker-Wright 2009, S. 308)
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eines Messers) auch die Funktion als Bedeutung im Sinne einer explanatorischen Funktion in Rechnung zu stellen sei (Foot 1997, S. 73), verwendet sie später das Prädikat „gut“ in Anlehnung an Peter Geach auf eine Weise, die verdeutlichen soll, dass Gutsein und Funktionieren gerade nicht intensionsgleich sind. In ihrem späteren Werk wird diese eigentümliche Rolle der Funktion noch deutlicher. Anders als William Fitzpatrick behauptet Foot gerade nicht, dass organismische Funktionen der Genreplikation dienen (Fitzpatrick 2000, S. 225). Foot entgeht auf diese Weise auch dem naturalistischen Fehlschluss, da es ihr zufolge auch unabhängig von empirischen Theorien sinnvoll ist über Funktionen zu sprechen.⁶ Ihrer Auffassung nach ist es daher notwendig einen normativen Standpunkt einzunehmen, um überhaupt etwas oder jemanden als Organismus identifizieren zu können. Dieser Standpunkt ist logisch früher als all jene empirischen Theorien, welche von diesem Organismus entwickelt werden (HackerWright 2009, S. 310). Vielmehr bringen es empirische Theorien nur zu Ad-hocHypothesen, d. h. Hypothesen, die unabhängig von der Funktion, für welche sie eingeführt wurde, gar nicht überprüfbar sind. Auch jener Naturwissenschaftler, der Lebendiges auf Nicht-Lebendiges zu reduzieren beabsichtigt, konzentriert sich – ob er es will oder nicht – auf lebendige Operationen – ja, er selbst „ist“ als Mensch eine lebendige Operation, wie uns das aus der phänomenologischen Anthropologie bekannte Phänomen der Selbstaffektion des Lebens, jener „Empfindung des Empfindens selbst“ als Ausdruck und Bestätigung der eigenen Vitalität und Selbstbewegung, zeigt.Was aber solche Operationen letztlich sind, das wird erst vor dem Hintergrund der dazugehörigen Lebensform verständlich. Infolgedessen bedeutet das Ausbleiben des Jagdtriebes für die Lebensform „Löwe“ etwas anderes als für die Lebensform „Kuh“. Grundsätzlich ist das Defektkriterium aber nur gültig in Verbindung mit der Lebensform, über welcher dieser Defekt ausgesagt wurde. Wenn wir also plötzlich feststellen würden, dass es zu Kühen gehöre, zu jagen, dann würden wir nicht mehr länger von einem Defekt, sondern von einer neuen Spezies zu sprechen. Allerdings ist hier wie dort von irreduziblen Tatsachen des Lebens, das sich in verschiedenen Ausprägungen entäußert, die Rede. Zur Plausibilisierung der eben genannten Punkte greift Foot ausdrücklich auf Michael Thompsons Gedanken der sogenannten aristotelian categoricals zurück, der auch Grundlage für die Bildung naturhistorischer Urteile ist. Naturhistorische Urteile kennzeichnen als nicht reduzierbare Bestimmungsgrößen die – und das ist an dieser Stelle wichtig – Eigenschaften einer bestimmten Spezies, nicht eines individuellen Organismus. Sie sind zeitlos, bilden also keine „Hypothesen über
Dies erklärt auch die bewusst gewählte, schmale empirische Basis in Natural Goodness.
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die Vergangenheit“ (Foot 2004, S. 40). Diese präsentisch zu verstehende Lebensform schaut im Sinne einer Momentaufnahme – intentio recta – nicht auf die etwaigen Folgen, die aus Funktionszusammenhängen abgelesen werden können, sondern auf die gegenwärtig sich zeigende, arttypische Gestalt des Organismus, der über relativ stabile Eigenschaften verfügt. Gehen wir nochmals zurück zum bereits angeführten Beispiel: Wir sagten, dass eine Löwin ihren Kindern das Jagen beibringen sollte, um Löwin zu sein. Der Appendix „um Löwin zu sein“ darf hierbei aber nicht durch die Aussage „damit sie überleben“ bzw. „weil sich in der Entwicklungsgeschichte gezeigt hat, dass die Eigenschaft das eigene Überleben sichert“, substituiert werden. Diese Aussage wird – phänomenologisch gesprochen – vielmehr in Epoché gesetzt. Infolge dieser eidetischen Reduktion können wir feststellen, dass es zu Löwinnen schlechterdings gehört, ihren Kindern das Jagen beizubringen – nicht mehr und nicht weniger. Noch deutlicher wird dieser Aspekt einer Selbstrepräsentation des Lebens bzw. seiner Vollzüge hinsichtlich dessen, was wir z. B. in Bezug auf das prächtige Gefieder eines Paradiesvogels „schön“ nennen. Nun drängt sich bei manchen Interpreten sicher der Verdacht auf, dass Foot hier womöglich einen fehlerhaften Begriff von Funktion adaptiere, der nahelege, dass ein göttlicher Schöpfer in die Organismen diesen ultimativen Plan hineingelegt habe. Diese Idee einer „ultimativen Funktion“ ist bei Foot aber nicht belegt.⁷ Anders als Kant und die Stoa, deren Überlegungen letztlich auf eine Universalteleologie – bei Kant ist es der Mensch als „letzter Zweck der Natur“ und in der Stoa ist es das „universelle Naturgesetz“ – hinauslaufen, verbleibt Foot im Rahmen einer überschaubaren daseinsrelativen Praxis. Foot kann ihre Theorie daher auch – wohlgemerkt anders als Thompson – relativ reibungslos in einer Theorie des Guten aufgehen lassen (Foot 2004, 31 ff.). Gutes Handeln ist ihr zufolge ein natürliches Handeln nach Gründen, die sich in vernünftigen Urteilen konkretisieren. Diese vernünftigen Urteile resultieren nicht aus den subjektiven Einstellungen von Sprechern, sondern sind speziesbasierte Evaluationen. Der Übergang von den Lebensformen der Pflanzen und Tieren zum Menschen wird nun dadurch realisiert, insofern das Ziel des Lebens mit seinem Wohl gleichgesetzt wird. Dieses Wohl oder Glück ist, wie Foot betont, „sui generis“ (Foot 2004, S. 74), also nicht instrumentell zu verstehen. Somit haben – bezogen auf das bisher explizierte Verständnis – Tugenden nicht eine Funktion, deren Erfüllung das Gelingen des Lebens sichert, sondern sie sind Teile eines Ganzen, das wir Leben, bios, nennen. Dieses Ganze ist in all seinen Teilen repräsentiert, sodass in jeder Tugend auch das
Dagegen verwendet Alwin Platinga 2008, S. 20, den Begriff der Funktion in seiner ultimativen, d. h. universalteleologischen Bedeutung an.
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Glück als solches zum Vorschein kommen kann, ähnlich wie wir angesichts der Bewunderung des Gerechten (groß geschrieben), die sich nicht auf sein Handeln, sondern auf seine Haltung bezieht, besser verstehen lernen, was Gerechtigkeit als solche ist. Zu dieser Deutung passt übrigens auch Foots Rückgriff auf den klassischen Habitusbegriff, insofern sie schreibt, dass es nicht entscheidend ist, was Menschen tun, sondern was sie sind (Foot 2001. S. 71).⁸
3 Einige Abgrenzungen und Missverständnisse: „Arteigene Funktion“, „Rolle“, „Zweck“ Wir haben bereits damit begonnen, Foots Funktionsverständnis von einem evolutionistischen Begriff der Funktion abzugrenzen und mit ihr versucht, dieses Verständnis auf die Frage nach dem gelingenden Leben zu übertragen. Schauen wir uns im Folgenden ausgewählte Kritiken an, die sich mit Foots ethischem Naturalismus beschäftigt haben. Zu einer vertieften Untersuchung in dieser Richtung trägt übrigens die Unterscheidung des Funktionsbegriffes in einen ätiologischen, der nach dem Woher fragt, und einen dispositionalen Funktionsbegriff, der sich der Frage nach dem Wozu widmet, bei. Während der ätiologische Funktionsbegriff (z. B. von Millikan) das Ziel, auf das Funktionen hinwirken, in der Vergangenheit des Organismus verortet, sind für dispositionale Deutungen Funktionen diejenigen Wirkungen, die kausal zu einem vom Forschenden vorgegebenen Ziel beitragen. Foot selbst lässt sich – das wurde bereits gezeigt – weder der einen noch der anderen Lesart zuordnen. In der jüngeren Literatur wurde Foots Funktionsverständnis vielfach kritisiert. Scott Woodcock spricht diesbezüglich von einer „Enttäuschung, die man sorgfältig studieren sollte“ (Woodcock 2006, S. 462). Chrisoula Andreou sucht nach einer Erklärung für diese Enttäuschung und stellt fest, dass Foots ethischer Naturalis-
Hier kann wiederum ein praktisches Problem auftreten, das mit der missverständlichen Rekonstruktion der Idee eines gelingenden Lebens unter Zuhilfenahme eines informativen, parteiischen Funktionsbegriffs, der zufolge Tugenden als Funktionen kausale Beiträge zu einem teleologisch zu verstehenden Gut verstanden werden können. Dieser Ansatz vergisst meines Erachtens, dass die Kausalbeiträge, also die so verstandenen Tugenden, auch als gerichtete Größen, deren Erfolg, d. h. Beitrag, sich einstellt oder nicht,verstanden werden können. Hier bietet es sich an, den Funktionsbegriff durch den Rollenbegriff zu ersetzen. Tugenden sind keine praktischen Instrumente, sondern spielen, so Anscombe, die „Rolle von Instrumenten“ und bekommen so ihren Sitz im Leben eines jeden moralischen Akteurs. Letztlich ist es dabei nicht unerheblich, dass sich der Träger infolge der Übernahme einer Rolle weiterhin als Inhaber dieser Rolle versteht und sich nicht mit seinem Rollenich identifiziert.
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mus scheitern muss, weil sogenannte „multiple naturally sound types“, wie Andreou es nennt, nicht möglich seien. Das Hauptinteresse von Andreous Kritik richtet sich dabei abermals auf Foots Abgrenzung zum evolutionären Funktionsbegriff, wobei Foot ja bekanntlich die Ansicht vertritt, dass aktuelle und evolutionäre Funktion nicht identisch seien.⁹ Andreou hingegen akzeptiert ausschließlich „survival-and-reproduction-related functions“ (Andreou 2006, S. 73) und möchte Foot aus diesem Grund einen genetischen Fehlschluss unterstellen. Weiterhin stellt sie Foots Anwendung ihrer Überlegungen auf die Tugendethik zur Disposition, insofern sie bemerkt: „Even if justice plays a crucial role in human survival and reproduction, it does not follow, that injustice is a defect in humans“ (Andreou 2006, S. 66). Anders als der sozialevolutionäre Funktionsbegriff Andreous ermöglicht das Modell Foots jedoch keine behavioristische Erklärung, infolgedessen das Konzept robuster Charaktermerkmale zugunsten der Idee stabilen Verhaltens aufgegeben werden könne. So setzt die Rede von nicht-verhaltensbezogenen Defekten oder Nicht-Defekten gerade die Existenz stabiler Charaktermerkmale voraus, die es erlauben, eine Abweichung von diesen zu behaupten. Hier ist insbesondere dem Einwand des Situationismus zu begegnen, der eine Rede über Defekte dadurch infrage stellt, indem er davon ausgeht, dass Verhalten, auch unveränderliches, durch zufällige Umstände bestimmt werden. Joseph Millum plädiert in seiner Kritik an Foot für die Deutungshoheit eines Verständnisses von Funktion, das sich hauptsächlich in Begriffen der Adaptation
Eine Kritik aus evolutionistischer Perspektive bezieht sich nun auf das Problem, dass diese naturhistorischen Urteile den Unterschied zwischen ‚begleitender Begünstigung‘ – incidental benefit – und ‚aktueller Funktion‘ – actual function – nicht erklären können. Hierzu ist zu sagen, dass die spezifische Erfüllung einer Lebensform überhaupt keinen günstigen Begleitumstand oder ‚happy accident‘ neben der Befolgung evolutionärer Gesetze darstellen kann. Dass wir überhaupt evolutionäre Gesetze aus der Natur ableiten können, basiert auf der Tatsache, dass eine Lebensform ihr Telos erfüllen kann. Ohne diese Begebenheit könnten wir aktuelle Funktionen gar nicht ablesen oder – sagen wir besser – konstruieren. Wir dürfen uns auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Zusammenfall einer ‚begleitenden Begünstigung‘ mit einer ‚aktuellen Funktion‘ – zum Beispiel: dass Mauerschwalben in Zeiten von Nahrungsmangel weniger Eier legen, um gemeinsam ihre Ressourcen zu schonen – nur bedeutet, dass die ‚begleitende Begünstigung‘ – kooperative Geburtenkontrolle – die ‚aktuelle Funktion‘ – altruistisches Verhalten zum Zweck des Genpoolerhaltes – korrekt erklärt. Die kooperative Geburtenkontrolle spielt neben anderen Aspekten, die uns eine empirische Untersuchung zu entdecken erlaubt, einfach eine fundamentale Rolle für die spezifische Lebensform der Mauerschwalbe. Die außerordentliche Bedeutung dieser Rolle ist für jene Lebensform im Vergleich zu den ihrerseits falliblen evolutionären Erkenntnissen,welche diese Rolle auf die Funktion als Rolle zu reduzieren beabsichtigen, nur schwer falsifizierbar. Foot (2004), S. 51, hat selbst gezeigt, dass die Rede von einer ‚Rolle‘ nur tragfähig ist, wenn wir über einen Lebensbegriff verfügen, der objektive Zwecke im Sinne einer teleologisch verstandenen Natur zulässt.
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artikulieren lässt. (Millum 2006, S. 199). Für Millum bedeutet demnach „‚gut‘, [dass] etwas funktioniert, wenn es dazu bestimmt worden ist.“ (Millum 2006, S. 213) Überraschenderweise kritisiert Millum an Foot genau das, was wir anfangs mit Bezug auf Wittgenstein und seinen Rekurs auf bedeutungstragende Formen alltäglichen Sprachgebrauchs auch als Kennzeichnen von Foots Ansatz herausgestellt hatten. Millum schreibt: „Foot′s use of function is supposed to track our every day concept of function.“ (Millum 2006, S. 203) Allerdings behauptet Millum, der hier offensichtlich einem anderem Verständnis von Normalität folgt als Foot, dass diese entgegen ihrer eigenen Behauptung einen Funktionsbegriff bediene, der durchaus eine historische Referenz aufweise (Millum 2006, S. 207), insofern der Blick in die Vergangenheit gerade aus einer Verifikationsabsicht heraus geschehen könne. Würde Foot nach Ansicht Millums an ihrem ahistorischen Lebensformkonzept weiter festhalten, könnte die Aussage, dass jemand gesund sei oder gut funktioniere, nichts darüber aussagen, ob dieser auch moralisch gut sei. Für Millum existieren daher zwei Sphären der Bewertung (Millum 2006, S. 213), wohingegen Foot diese Dichotomisierung gerade zu verhindern versucht, indem sie das Prädikat „gut“ als einstelliges Prädikat bestimme. Die Kritik Millum greift übrigens auf das prominent gewordene Funktionsverständnis von Ruth Mullikan zurück, von dem sich Foot mit Verweis auf David Wiggins explizit distanziert.¹⁰ Jene arteigenen Funktionen Millikans, „proper functions“ genannt, folgen eindeutig einem historischem Konzept, wonach es eine Kausalgeschichte gibt, einen Verweis auf Vorläufer, deren Verhalten uns Aufschlüsse über die Funktion dieses Verhalten als solches, das auch deren Nachkommen betrifft, gibt. Für „proper functions“ ist insbesondere das Selektionskriterium entscheidend. Nicht der Erfolg, sondern die Auswahl zählt: z. B. ist nur das in Rechnung zu stellen, was ausgewählt wurde, und als Ausgewähltes Rückschlüsse auf seine Ursache zulässt; dass es hätte auch anders kommen können, ist hier nicht wichtig. Es ist beispielsweise unbestritten, dass viele Spermien nicht die Eizelle befruchten, obwohl es deren Funktion ist. Im Rahmen der „proper functions“ bestünde das Problem überzähliger Samenzellen demnach nicht wirklich, was meines Erachtens einen Trugschluss darstellt und große Auswirkungen auf unsere ethische Praxis hätte, die weiterhin davon ausgeht, dass Samenzellen nur dort notwendig sind, wo sie ihrem Ziel zugeführt werden können, und das ist die Befruchtung. Eine weitere Kritik hinsichtlich des Footschen Funktionsbegriffes stammt von Alasdair MacIntyre (2002), der den Funktionsbegriff im Horizont einer common morality auszulegen versucht. Praktische Rationalität, d. h. das Handeln nach
Vgl. Wiggins (1978), S. 353.
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Gründen, ist nach Foot für uns Menschen selbstverständlich, d. h. natürlich. Dies ist aber ein Gesichtspunkt, den MacIntyre nicht anerkennt, weil er glaubt, dass eine Gesellschaft zur Selbststabilisierung auch unvernünftiger Trittbrettfahrer bedürfe, die folglich dieser Selbstverständlichkeit, d. h. der Fähigkeit, tugendhaft zu sein und nach vernünftigen Gründen zu handeln, ermangeln.¹¹ Hier sei übrigens für eine Vermittlung bei widerstreitenden Positionen an Aristoteles zu erinnern, für den Abweichungen konstitutiv dafür sind, die richtige Mitte treffen zu können. MacIntyres Kritik an Foots Verständnis des Defektes bezieht sich darauf, dass Trittbrettfahrer in einer Gesellschaft die Gesellschaft nicht böse machen, sondern im Gegenteil diese in ihrem Wert befördern. Hinter dieser Auffassung steht vermutlich die mephistophelische Einsicht, wonach das Böse letztlich auch dem Guten dienen kann, und dadurch in letzter Konsequenz auch für den glücklichen Nazi „Gerechtigkeit“ bereitzuhalten vermag. Diesen Standpunkt einer zukünftigen bzw. jenseitigen Genugtuung war Foot aufgrund ihrer nicht-theistischen Weltbildes Zeit ihres Lebens allerdings nicht zu teilen bereit. Eine weitere klassische, sich auf die sozialen Implikationen beziehende Kritik an Foot zielt in eine ähnliche Richtung wie diejenige MacIntyres und läuft darauf hinaus, dass Foot in ihrer Theorie präjudizieren würde, dass behinderte Menschen, die einen körperlichen Defekt haben, als „krank“ zu bezeichnen sind. Diese Kritik ist aber schon deswegen gegenstandslos, da wir Menschen niemals totaliter, sondern immer nur in einer bestimmten Hinsicht zu bewerten in der Lage sind, vor allem in Bezug auf ihren Willen. Foot legt dazu folgendes dar: „Von einer guten Person zu sprechen heißt nämlich nicht, ein Individuum in Hinsicht auf Körpermerkmale oder Vermögen wie Sehkraft und Gedächtnis zu bewerten, sondern: es in Hinsicht auf seinen rationalen Willen zu bewerten.“ (Foot 2004, S. 92) Im Einklang dazu weist John Hacker-Wright nach, dass es auch nach Foot eine Gesellschaft von Taubstummen geben könne, da die körperliche Einschränkung nicht zwangsläufig den rationalen Willen der Taubstummen beeinflusse.
MacIntyre lehnt in Bezug auf die Ethik bekanntlich einen Rückgriff auf teleologische Erklärungen, d. h. auf die „metaphysische Biologie“ (MacIntyre 1995, S. 220) des Aristoteles, die gerade bei Foot wieder eine große Rolle spielt, ab. Somit muss sein Ansatz zwangsläufig das Telos in der Gemeinschaft, d. h. einer common morality, suchen und finden. Dass MacIntyres und Foots Ansatz in den Grundannahmen nicht vereinbar sind, zeigt sich hiermit.
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4 Einige Anwendungsversuche: Krankheitstheorie und Enhancementdebatte Foots Theorie des natürlich Guten und ihre Deutung dessen, was Funktionen sind, wurde – wie eben gesehen – in der Literatur bislang vor allem auf die Krankheitstheorie bezogen,¹² und dass weniger im Sinne einer positiv-ermöglichenden Weise als im Kontext von Beschreibung von Defizienz- und Regressionsphänomenen (vgl. Jacobs und Walter 2011). Das vorrangige Interesse an der Bestimmung dessen, was „Defekt“ heißt, lenkt wie von selbst den Blick auf den Funktionsbegriff, insofern Defekte in der Krankheitstheorie auch als Dysfunktionen, d. h. nicht-evaluative Beobachtungen, bezeichnet werden. Ich möchte hier allerdings nicht über die psychologische Seite einer Rede von Krankheit, Defekt, Störung oder Devianz sprechen. Mich interessiert zunächst einmal nur dasjenige, wovon etwas abweicht, sofern es überhaupt dazu erklärt werden kann, Abweichungen zuzulassen. Übrigens vermeidet die Rede von der Integration einer Störung in Form einer Anpassungsleistung eine genuine Bestimmung dessen,was Defekte als solche sind. Eine Rede von Dysfunktion setzt ja die Rede von Funktion bereits voraus und legt nahe, dass es bei der Dysfunktion eigentlich nur um das Nichtvorhandensein der Funktion, die hätte erfüllt werden sollen, geht. Aus diesem Grund sollte in erster Linie über einen normierenden Funktionsbegriff gesprochen werden, dessen Bestimmung nicht nur deutlich werden lässt, dass eine Abweichung besteht, sondern auch zeigt, worin diese besteht. Unter medizinethischer Perspektive übernehmen Funktionen in der gegenwärtigen Literatur entweder eine kausale Rolle im Leben eines Organismus oder werden als aus der Evolution hervorgehende Effekte gedeutet. Dabei dienen sie vor allem der besseren Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit (Boorse 1977, S. 542). Der moderne Krankheitsbegriff ist demzufolge eine wertfreie theoretische Annahme, die durch zwei Elemente geprägt ist: biologische Funktionalität und statistische Normalität. Gesundheit bedeutet dabei ein ‚normales Funktionieren‘, d. h. unter Funktionalität ist in aller Regel Störungsfreiheit zu verstehen. Allerdings ist diese Rede selbst mechanistisch und Zeichen einer Entfremdung, da ein Organismus leben muss, bevor er funktionieren bzw. als funktionsfähig gelten kann. Dass hieraus irgendwelche Funktionszusammenhänge abgelesen werden, tut der Tatsache keinen Abbruch, dass zuvor dennoch von konkret Lebendigem gesprochen werden muss.
Eine lohnende Übersicht und Diskussion krankheitstheoretischer Positionen findet man in: Rothhaar und Frewer (2012).
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Wir haben bereits gesehen, dass Krankheiten häufig als Dysfunktionen bezeichnet werden. Solche Dysfunktionen sind als Beeinträchtigungen hinsichtlich einer fähigkeitsbezogenen Freiheit zu interpretieren, die im gesunden Zustand des ‚normalen Funktionierens‘ herrschen sollte. Dysfunktionen sind somit nicht erfüllte Funktionen, wobei die implizite Aussage, dass Funktionen zu erfüllen sind, ihrerseits nicht deskriptiv zu verstehen ist. Es gibt, und das scheint auch mir Foot zu sagen, fundamentale Fehler der Natur, wie Aristoteles es auch nennt, wobei selbst dieser Umstand jene Idee einer natürlichen Normativität nicht zwangsläufig infrage stellen muss. Hier gilt der Grundsatz: natura vulnerata, non deleta. Indes gibt es Stimmen, die behaupten, dass solche Dysfunktionen in den Beschreibungen dem Krankheitsphänomen als solchen nicht gerecht werden. Jerome Wakefield nimmt neben der deskriptiven Seite der Dysfunktion daher noch die evaluative Komponente der Schädlichkeit an, wobei hier Urteile nicht über die Krankheit als solche gefällt werden, sondern lediglich über deren Wirkung auf den eigenen Organismus. Ob ich das Prädikat „schädlich“ durch das Prädikat „leidvoll“ ersetzen möchte, bleibt für den propositionalen Gehalt der Aussage unerheblich. Wakefields Versuch der Umgehung des Naturalismus mündet m. E. aber in ein nonkognitivistisches Verständnis, von dem Foot gerade versucht hat, sich abzusetzen. Um diesen nonkognitivistischen Standpunkt zu umgehen, ist es nicht von Belang zu fragen, ob eine negative Bewertung als „schädlich“ von einer Einzelperson oder einer Gesellschaft („socially disvalued“), deren Urteil, die Einzelperson kritiklos übernehmen kann, getroffen wird. Was „schädlich“ ist, bleibt hier rein subjektiv und ist daher mit Foots objektiven Defektverständnis nicht vereinbar. Philippa Foot bietet allerdings an keiner Stelle Hinweise dafür, dass ihr Defektbegriff auf die moderne funktionalistische Krankheitstheorie angewandt werden könne. Grundsätzlich ist jede Anwendung des Funktionsbegriffes auf Menschen problematisch. Es gibt, wie Foot in „Goodness and Choice“ zeigt, in Bezug auf den Menschen und seine Beurteilung zahlreiche nicht-funktionale Wörter wie „Landwirt“, „Lügner“, „Vater“. Foot zeigt damit ferner auf, dass ihr Defektkriterium auch nicht auf die Krankheitstheorie angewendet werden kann, weil sie nicht an der für die moderne Krankheitstheorie gültige Trennung von Werten und Fakten festhält. Kerrin Jacobs und Sven Walter tun in ihrem Aufsatz hingegen so, als ob Foot selber ihren ethischen Naturalismus als anschlussfähig für eine normative Krankheitstheorie betrachtet hätte. Den beiden Autoren geht es vorrangig nicht um solche „Effekte, die eine kausale Rolle und explanatorische Kraft nicht haben“, da diese per definitionem keine Funktionen sind (Jacobs und Walter 2011, 300). Eine klassische „teleologische Interpretation des Funktionsbegriffes“ (Jacobs und Walter 2011, 300) lehnen Jacobs und Walter dagegen ab, weil „die Annahme eines speziesspezifischen Telos aus normativer Perspektive Sinn nur machen mag, wenn man versucht, jene Eigenschaften, die gesell-
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schaftlich besonders wertgeschätzt werden, als eine Art ‚alltagspraktischen‘ Standard guten und normalen menschlichen ‚Funktionierens‘ zu bestimmen.“ (Jacobs und Walter 2011, 300) Hier wird Foot m. E. grob missverstanden, da selbige zweifelsohne der Ansicht ist, dass Gutsein gerade nicht das Produkt individueller und kollektiver, d. h. die Einzelinteressen aufsummierenden Wertschätzungen sein kann. Daher ist es auch falsch, zu sagen, eine Gesellschaft definiere letztlich, was schädlich sei oder wertgeschätzt werden sollte. Nur weil die Gesellschaft für sich definiert hat – übrigens gibt es kein Subjekt, das sich Gesellschaft nennt, – was nützlich oder schädlich sei, können wir nicht wissen, dass es tatsächlich auch nützlich oder schädlich ist. Hier liegt übrigens die echte Gefahr einer Pathologisierung von Abweichungen und damit auch einer vorschnellen Moralisierung von Krankheit, die übrigens auch vor dem Begriff der Dysfunktion nicht halt macht. Bereits R. M. Hare ging davon aus, dass nicht nur illness, sondern auch disease evaluativ sei. Dysfunktion ist ebenfalls ein solcher evaluativer Term, der zwar vor ungewollten Zuschreibungen immunisieren soll, aber auch einer sinnvollen, den Patienten informierenden Erstellung psychosomatischer Zusammenhänge entgegensteht. Der etwas einseitige Blick auf Defekte im Kontext der Krankheitstheorie und die damit einhergehende Berufung auf Foot vergisst meines Erachtens, dass die britische Philosophin durch ihren tugendethischen Ansatz sehr gute Anschlussmöglichkeiten für sogenannte salutogenetische Konzepte im Anschluss an Aaron Antonofsky bietet,¹³ ohne dabei die Fehlbarkeit menschlichen Handelns auszublenden. Tugenden bieten zweifelsohne einen Schutz vor Kontingenz und beugen somit auch bestimmten Krankheiten vor. So ist für den Tollkühnen das Risiko krank zu werden größer als für den Vorsichtigen.¹⁴ Im Gegenzug ist eine grobe Gleichsetzung von Untugendhaftigkeit mit Schädigung, wie Jacobs und Walter sie vornehmen (Jacobs und Walter 2011, 303), unzutreffend, weil die Untugendhaftigkeit nach Foot ein Defekt des Willens selbst ist und nicht aus seiner eventuellen Schwachheit resultiert. So ist es beispielsweise ein Defekt des Willens, keine Kinder zu wollen, was grundsätzlich von der Tatsache zu unterscheiden ist, keine Kinder bekommen zu können. Abschließend zu diesem Punkt sei neben der Krankheits- bzw. Gesundheitstheorie noch eine weiteres Feld erwähnt, bei dem der Funktionsbegriff maßgeblich gebraucht werden kann – ich spreche vom sogenannten Enhancement, wo es – zu welchem Zweck auch immer – überwiegend um krankheitsinduzierte Eingriffe in die menschliche psychophysische Konstitution geht. Um
Siehe hierzu Antonovsky (1997). Allerdings ist bei Foot das Schicksal als ethische Größe irrelevant.
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folglich bestimmte Therapieformen von Enhancementpraktiken (zur Leistungssteigerung) sinnvoll voneinander abgrenzen zu können, wird – das sagte ich ja bereits – häufig auf den Funktionsbegriff zurückgegriffen, wobei eine Therapie im Unterschied zum Enhancement vorrangig der Wiederherstellung der (motorischen) Funktionsfähigkeit dient. Erst darüber hinaus, d. h. wenn etwas übererfüllt ist, d. h. der Leistungssteigerung über das normale Maß hinaus dient, kann man sinnvoll von Enhancement sprechen. In diesem Kontext sind daher vor allem Fragen nach der „Eingriffstiefe“ (Walters und Palmers 1997) entscheidend, woran man letztlich zu entscheiden vermag, ob Therapie oder Enhancement vorliegen. Die entscheidende Frage wäre hier z. B., ob die Laufprothese von Oscar Pistorius eine natürliche Funktion im Sinne der Therapie ersetzt oder diese eine natürliche Funktion übertrifft. Dass nun Verbesserungen mitunter nicht so einfach zu realisieren sind, zeigen ungewollte Nebenwirkungen und immer wieder auftretende Fehleranfälligkeiten. Ich denke, dass uns Foots Analysen für die Klärung dieser Problematik keine geeignete Erklärungshilfe an die Hand geben, da es für ihre „Ethik der Normalität“ unerheblich erscheint, ob Lebensformen, zu denen es gehört, sich auf zwei Beinen in einer bestimmten Geschwindigkeit fortzubewegen, schneller werden als sie sind.
5 Fazit Zum Funktionsbegriff Foots lässt sich abschließend folgendes sagen: In der Deutung dessen, was Funktion ist, gilt gegenwärtig der Vorrang einer Deutung von Funktionalität als notwendiger Erfüllbarkeit. Etwas hat eine Funktion, wenn sich herausstellt, dass im Sinne einer zweistelligen Relation etwas gut für etwas anderes war. Foot distanziert sich aber von dieser Deutung, sowohl in ihrer ätiologischen als auch dispositionalen Variante: Etwas hat für sie keine Funktion bzw. spielt keine Rolle in einem Organismus, weil es gut für etwas ist, sondern weil Organismen normalerweise, d. h. latent, ihre Form erfüllen, haben sie auch eine Funktion bzw. können funktional interpretiert werden. Grundsätzlich werde eine genuine Rede von Funktion damit redundant.¹⁵ Der direkte Blick auf die Le-
Hier zeigt sich, dass der Funktionsbegriff im Rahmen von Erklärungen gerade dort einspringt, wo der Zweifel am unreduzierbar Konkreten einsetzt. Im Raum des Organischen wird das Misstrauen gegenüber der Realität von Latentem, gemeinhin auch als „Leben“ bezeichnet, insbesondere in der Auflösung von Phänomenen in Zustände und anhand der explanatorischen Überführung natürlicher Zwecke in Funktionen deutlich. Phänomene wie der Herzschlag, dessen „Funktionieren“ wir damit nur aus der rekursiven Einzelbeobachtung, nicht aber aus einem dynamischen Gesamtzusammenhang, der sich „Leben“ nennt, deduzieren können, werden u. a. als
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bensform und ihre artspezifischen Eigenschaften genügt, um zu verstehen, worauf der Organismus aus ist, um er selbst zu sein. Diese Perspektive übt einen beträchtlichen Einfluss auf die Beantwortung bioethischer Fragen zur Krankheitstheorie und Enhancementdebatte aus, wie ich sie im vorangegangenen Abschnitt besprochen habe. Ein letztes Wort sei noch zur allgemeinen Fragestellung dieser Aufsatzsammlung gesagt: Dass Foot keinen reinen ethischen Naturalismus vertritt, zeigt für mich nicht nur die Tatsache, dass sie den evolutionsbiologischen Funktionsbegriff nicht übernimmt, sondern auch der Umstand, dass sie letztlich von der vernunftgeleiteten Konstitution des Selbst ausgeht: „For Foot, this reasoned selfconstitution is not a matter of giving ourselves a universal law; rather, it is a matter of making a coherent, general picture of our situation.“ (Hacker-Wright 2009, S. 320) Die natürliche Normativität, von der Foot spricht, ist – obwohl „automatic reason giving“ – der Selbstauslegung bedürftig, denn: „We enact ourselves according to our self-interpretation.“ (Hacker-Wright 2009, S. 317) Deshalb ist die Bewertung der menschlichen Natur und des daraus hervorgehenden Verhaltens niemals nur eine Sache der Statistik. Bei Foot gibt es also eine unlösbare Verbindung zwischen dem Guten und dem rationalen Willen eines Handelnden. Hacker-Wright bezeichnet dies auch als „Kantian strain“ in der Moralphilosophie Foots. Anders als Kant ist Foot jedoch der Auffassung, dass praktische Rationalität nicht den Inhalt für die Bestimmung dessen gebe, was gesollt ist, da die praktische Rationalität ihrerseits wieder von den natürlichen Tatsachen lebendiger (menschlicher) Wesen abhängig ist. Statt „Ansehung der Natur“, von der Kant häufig spricht, müsse man bei Foot eher von einem rationalitätsgeprägten Vollzug dieser Natur sprechen.
„Nicht-Verwendungs-Funktionen“ (John Searle) beschrieben und kommen somit in einem von den Naturwissenschaften definierten Erklärungsuniversum deshalb vor, weil sie sich ausschließlich an dem messen, was sichtbar, und nur sichtbar, ist. Das, was sichtbar ist, sind aber in erster Linie die vorhandenen Dinge, zu denen aus dieser Perspektive auch (lebendige) Personen zugerechnet werden.Wie es aber zu den Dingen selbst kommt, wie Leben wird bzw. entsteht (und auch vergeht) ist für den Funktionalismus unerheblich, da er stets seinen Ausgang und sein Ende bei den Dingen hat, an denen sich Prozesse abspielen,von denen sich dann wiederum Funktionen ablesen lassen.
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Vittorio Possenti
Reasons in favor of normativity of life/nature The notions of life and (human) nature will be at the centre of my paper, and the main position defended is in favour of their normativity. Anyway, the approach will neither be a naturalistic one if what we mean by naturalism is the attempt to trace everything back to physis, nor a non-cognitivistic one, for the classical concepts of life and nature are grounded in being. In this sense goodness is not a ‘non-natural property’ (Foot 2010, p. 6).¹ I wish to show that normativity of life and normativity of reason find a point of contact in the idea of human nature endowed with logos and life: according to Aristotle, nature is the principle of life and movement of the subject to which it is inherent².
1 Is normativity internal to life? The problem stated in the general title asks whether there is a normativity internal to life (and nature), or whether the normativity proceeds from assessments of human reason, understood as a ruling or normative reason. The question needs a few preliminary clarifications. First, although it may seem obvious, it is necessary to add that the life which we are talking about is human life, so the question becomes whether a normativity internal to human life exists. Personally I would speak of human nature’s internal normativity rather than of normativity of life, for the concept of life is central but perhaps too broad³. With this option, we shift to the question concerning ‘normativity of nature/human essence’, with the consequence of having to deepen the notions of human nature and of the human person, and to consider a personalistic bioethics based on these notions. As the anthropological horizon is primary in bioethical issues, we have to reinsert anthropology and ontology into bioethics, which in my opinion cannot move forward only on moral grounds, leaving out other premises. For this rea Foot declares herself against the necessity and even the possibility of interpreting “moral language in expressivist terms” (Foot 2010, p. 25). Cf. Physics, 192 b 20 ff. According to Jonas 1999, p. 305, philosophy of life includes philosophy of the organism and philosophy of mind, and this opinion can be shared. However, as the reference to a general philosophy of life would move us far enough away from the bioethical theme of our session, I prefer to pivot on the concept of normativity of human nature.
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son, I will refer to the substantial character of the human being, and to the Boethian – Thomistic determination of person, considered more finished and determined than that of Kant.⁴ Kant’s position in favour of human dignity stands as a moral or axiological assumption: but the most difficult and dilemmatic bioethical problems arise in border situations (conception, death, terminal patients, vegetative states of unconsciousness) where the only moral determination of person is unable to manage them, because – in order to answer adequately – we need to state objectively whether, in the border situations just alluded to, a human person is present or not. This implies that the notion of moral status, understood strictly speaking, does not seem sufficient to handle the problem of the human embryo, and it needs to be expanded to include an explicit reference to its ontological status and of course to an ontological determination of person⁵. In other terms in border situations subjects can be protected by the principle of human dignity if and only if we have sufficient reasons to consider them persons with full rights.
2 Nature: three basic meanings In order to examine the notion of nature and the question whether it is normative, we need to consider nature’s fundamental meanings, which are multiple and different. Reduced to a cultural construct produced by interconnection of experiences and languages of philosophical, scientific, literary, religious kinds, it seems that nature is merely a cultural artifice: no idea would be more cultural than that of nature. But what nature? In the absence of any attempt to determine the concept in its basic meanings, the term ‘nature’ is abandoned to uncontrolled oscillations: in turn it can mean nature as physis or cosmos as we know it, or – which is quite different – the human nature or essence. If we write “nature” but
Boethius: “Persona est rationalis naturae individua substantia.” (De duabus naturis et una persona Christi, III, 1– 3, Contra Eutichen et Nestorium). Thomas Aquinas: “persona est subsistens in rationali natura”, S. Th, I, q. 29, a. 3, cf. also Contra Gentes, l. IV, c. 35, and De Potentia, q. 9 a. 4; Kant 1980, p. 60: “Reasonable beings are called persons, because their very nature makes them already ends in themselves, that is something that cannot be used simply as a means, and this therefore limits each will (and it is object of respect).” According to Kant, if you are not a person, you are a thing. Many question this Kantian absolute difference which does not deserve different attention and obligations to animals, which are living beings and not things. In The Stanford Encyclopedia of Philosophy, the concept of moral status is defined as follows: “An entity has moral status if and only if it or its interests morally matter to some degree for the entity’s own sake, such that it can be wronged… The notion of full moral status applies for the highest degree of status”, (Jaworska and Tannebaum, 2013, p. 1).
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we think of “human nature”, it is inevitable that contradictions and confusion will be multiplied, and the investigation will fail even before one starts. To set the ideas clearly it is necessary to introduce three basic meanings of nature: (a) nature as physis, as a cosmos subject to evolution and structured according to a wide variety of laws (mechanical, chemical, electrical, electronic, biological-genetic), sciences are dealing with. Such a primary idea of nature as universe includes both the area of life and that of inanimate bodies. The laws of nature – those that govern the physical nature in all its manifold manifestations – are discovered and explored by physics and biology, and often expressed in a mathematical language. We are in an area where modern sciences have made enormous progress; (b) nature as a synonym of essence, so that “human nature” and “human essence” can be considered as equivalent terms. These two concepts relate to everything that is distinctively their own, or indeed essential, to a species and defines it. With reference to nature or essence we introduce a concept central and irreplaceable in philosophical tradition. When we say that the rising of the sun, earthquakes, and tides are natural phenomena, we employ “natural” in the first sense. When we speak of nature or human essence as something proper to human beings, we employ it in the second meaning: then we are carrying out a philosophical research on the specific characters of human nature, employing the knowledge acquired by science and experience, but without limiting ourselves only to them. (c) The third meaning is nature as life, as internal principle of self construction or autopoiesis, which expresses itself in growth and decline typical of a living being. This third concept is linked to the second, and concerns the scope or range of the living beings, human and nonhuman. Nature comes from nasci, and it means the internal principle of life and immanent action, that is the activities that originate and end within the agent. Where there is nature as internal principle of change, there is immanent action. The change does not come from outside but from within ⁶. About this matter, nature’s determination as suggested by Aristotle and St. Thomas Aquinas who understand nature as an internal principle of life and motion, is particularly modern and suitable. St. Thomas Aquinas adopts in his commentary the concept of nature developed by Aristotle in Physics, “Natura nihil aliud est quam principium motus et quietis in eo in quo est primo et per se et non secundum accidens.”⁷
On this important matter see Possenti 2004 and Possenti 2013, where more developments are offered. In octo libros Physicorum expositio, L. II, lectio 1, n. 145; cf. Physics, l. II, 192 b 20 f. “Nomen naturae primo impositum est ad significandam generationem viventium, quae dicitur nativitas. Et quia huiusmodi generatio est a principio intrinseco, extensum est hoc nomen ad significandum principium intrinsecum cuiuscumque motus”, S. Th., I, q. 29, a. 1, ad 4 m.
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It is obvious that we will start off on the wrong foot, if we do not provide as a first step a conceptual cleaning, which rarely happens, for not so many do care to distinguish at least between the first and the second meaning of nature. The issue becomes much more complicated when in opposition to the “natural” is introduced the artificial, as in today’s life there is an inextricable mix of natural and artificial. The observation is correct if referred to the first meaning of natural, but this is often played wrongly implying that artificial interventions can change the human nature/essence understood according to the second meaning, which is impossible⁸. The elimination of the concept of nature as an immanent activity, autopoiesis and telos, internal to living beings is what mechanism, materialism and positivism operate. From this it is easy to assess the threat posed by the ideology of scientism, which proceeds to a radical objectification of the world, reduced to a mechanism devoid of any purpose.
3 On the exclusion of teleology and the is-ought dualism: a digression Empiricism and positivism support a radically afinalistic vision of reality and promote the end of any internal teleology of nature/physis, which conversely is particularly striking in living beings. It is intrinsic to the phenomenon of life to move towards, and to aspire to some end. In order to grasp a living being it is first necessary to understand that towards which it tends. With materialism and mechanism the fundamental triad esse-vivere-intelligere is reduced to the polarity being-consciousness, that is to the object-subject polarity with the disappearance of the concept of life and of the teleology internal to life. But if for living beings ‘to exist is to live’ (Aristotle)⁹, in order to work them out we must understand what their life is.
On the absolute impossibility that the power of technology can change the human essence vgl. Possenti 2013, ch. VI, and Possenti 2006. De Anima, II, 4, 415 b14. While in Italian there is only one word to say ‘life’, the Greeks possessed two terms: bíos e zoé. The term ‘biology’, which seems to have been introduced by Lamarck at the end of XVIII century, clearly comes from bíos, but in fact this is not the only term available to signify life. Zoé means life that occurs in all organic beings, the root of life, the mere fact of living common to all living beings: in a certain way it is the principle of life. Its opposite is non-life, not death, for those who die are individual organic entities, not the principle of life. If one refers to human life, zoé is the life by which we live (qua vivimus), bíos the life we live (quam vivimus).
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Materialism and mechanism think of nature just as mere passive matter on which a manipulation imposed by man is exerted. When we talk about the normativity of nature/life, we must overcome the dichotomy in which being is understood as a mere positive fact, and recover the link between ontology and ethics as suggested by Jonas among others. Jonas considers the fact-valuedistinction as a postulate placed in the premise or as the result of a decision, not of an argument: The ontology as a foundation of ethics was the original point of view of philosophy. The separation of the two, which is the separation of the kingdom ‘objective’ from the ‘subjective’ one, is the modern destiny. Their rejoining, even if supposed possible, can be operated only starting from the ‘objective’ side, that is, through a revision of the idea of nature. And it is nature in becoming rather than the static one to provide such a perspective. (Jonas 1999, p. 306)¹⁰
4 Is human nature normative? Human nature reveals to ourselves by virtue of its inclinations and tendencies, its intimate teleological constitution hosting in itself a requirement of compliance and therefore of a normativity understood not only as a mere spontaneity. Reason/logos is the form of human nature, where nature in a general sense (physis) comes to itself and to consciousness. To behave according to human nature means to behave morally good toward oneself and others, being able to achieve human flourishing. According to Foot’s “natural goodness, which is attributable only to living things themselves and to their parts, characteristics and operations, is intrinsic or ‘autonomous’ goodness in that it depends directly on the relation of an individual to the ‘life form’ of its species” (Foot 2010, p. 26 s.), and this life form for mankind is to live according to logos¹¹. Thus, there is a peculiar good internal to human life, namely the activity of the soul in accordance with virtue. Living according to nature is for human being to live according to its rational nature, exercising the ergon proper to the human being. Moreover it is legitimate to maintain that not only the notion of human nature is relevant for some kind of
See also Foot 2010, p. 8 ff. According to Jonas, modern exclusion of final causes was a decision or an assumption, not a result of an investigation: “With regard to final causes it is evident that their refusal was a methodological principle that guided the investigation and not the conclusion of the results obtained from the research” (Jonas 1999, p. 47). On these issues cf. also Spaemann and Löw 2005. See Nicomachean Ethics, 1098 a 17 ff.
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normativity, but also that of human person. According to A. Rosmini, “the human person is the subsisting law (jus subsistens, diritto sussistente), and then the essence of law (jus).” (Rosmini 1967, vol. I, p. 191) In itself jus is what is due to the person as such. Rosmini introduces in modern philosophy a deep determination of law (Jus, Diritto, Recht, Derecho), which closely connects the idea of jus to that of person. His position is expression of a radical antipositivism, for the positive law cannot be contrary to the jus inscribed in the person. Then it is a waste of time and a mistake to speak of jus without a well grounded notion of person: no valid idea of jus without a well grounded idea of person (then the doctrine of “natural moral law” is formally included in the doctrine of “juspersonalism”). This position implies some consequences of paramount significance: a) there is an ontological and epistemological precedence of the notion of person in respect of the idea of human dignity which, abandoned to its own devices, may be unable to carry the weight of a rule for acting; b) human person and human nature are sources of normativity, of duties and rights: they derive from the person understood as endowed with logos and not only will; c) consequently law (jus) is an act which comes from reason and not only from will (voluntas), as Kelsen and legal nihilism unluckily maintain. The concept of human nature, introducing a normativity intrinsic to human being, reveals that it is not pure freedom, according to the opposition between nature and freedom, present in many notable moments of modern thought. Consequently man is no nature but infinite freedom with which he proceeds to build himself. Opposition between nature and freedom which was strongly marked by Kant who is dependent on a univocal and perhaps ‘physical’ understanding of nature, and much more underlined by libertarians according to whom freedom would be expressed only by destroying human nature. Libertarian spiritualism, believing that person is exclusively freedom, reduces the normative nature of the human being to the imperative ‘be free’. On the other side naturalism thinks that the unique normativity is inscribed in those natural necessities, which do not pertain to the ethical field. But if the nature/physis cannot form the basis of an ethics and moral constraints, human nature can. In fact, we see that there are many goods that attract us, and we find that some are for the human being more important and fundamental than others. We understand that some of these are essential for the continuation of physical life and others for our conduct as human subjects, as persons. We understand that there are purposes better than others (it is better to look for knowledge than to spend your life doing nothing), and finally that there are some purposes inscribed in human nature which are fundamental for it.
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5 Two cases: the question of human embryo, and that of human enhancement 5.1 Embryo In this context, the theme of the human embryo – its ontological status and its right to life and non-manipulation – takes on an emblematic value. It is one of the most decisive themes for our future, and among the most intensely debated in the past several decades. In the serious case of the human embryo coincide its non-appearance, its reduction to something quantitatively and dimensionally minimum, and the fact that it constitutes a vital crossroads, because it influences the understanding of man and life. The embryo’s question is universal and applies to all, at least for the fact that each of us was an embryo. Therefore, what is at stake in the embryo case is the most basic and the most public of all rights: the right to life. In addition, the theme of the embryo should be regulated as part of an argument that can be recognized by all and based on a close intertwining of science and philosophy. Ultimately, the question regards whether the central concepts of person and human dignity (the latter is constitutionally protected in several countries as well as by the Universal Declaration of Human Rights in 1948) are to be (or not to be) applied to the human embryo, thus protecting it from destruction that can arise from scientific or therapeutic intent, and from the practice of prolonged freezing which denies flatly the embryo’s natural right to develop and grow. In such a case we face human beings ‘suspended’ in freezers. Ultimately the question is whether human embryo is bearer of an unconditional right to life by virtue of his personal character and the dignity that belongs to him. The problem must be assessed in its anthropological and ontological status, for the resultant normativity is a normativity derived from an assessment of reality: what is the ontological-real status of the human embryo? If we have good reason to believe that such a statute is personal, the ethical judgment ruling his unconditional respect would follow from this. I hold that all human beings are equal in dignity, and ought not be harmed or considered to be less than human on the basis of age or size or stage of development or condition of dependency. With fertilization we possess the entire genetic material needed to inform (forma, morphé) and organize our growth. Human embryo development, after the substantial discontinuity represented by conception, is a continuous process, in which no phase or stage is more important than others. At the very moment of conception, a substantial transformation takes place, and no other subsequent substantial transformations are apparent
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and visible¹². Then an embryo is not a potential human person, but a person at the beginning, a person with a huge amount of potentiality to develop and to become an adult. In the book Il Nuovo Principio Persona I have developed arguments to show that the human embryo is a human being in its own right, and thus a person, deserving unconditional respect. The central arguments can be summarized as follows: 1) at the time of conception a substantial transformation occurs with the formation, starting from the two gametes, of a new substantial reality, with its own individual genetic code, distinctive of the human species; 2) from then on no further substantial transformations capable of changing the nature/essence of the new substance occur. The only transformations which do occur from this stage on are accidental transformations: accidental, however, does not mean secondary¹³. That is why the only real discontinuity is the conception; 3) therefore it must be inferred that from the moment of conception a personal human subject is present; 4) the argument does not use the concept of soul and its infusion, but that of substantial transformation as a central concept in the philosophy of nature; 5) in the overall process an important aspect is played by formal causality, represented by genetic inheritance as informing cause of the body development. The causality of the genome is not merely efficient but also formal; 6) the category of relation deserves to be mentioned: for some positions the embryo begins to become person only after implantation in the woman’s
Others such as M. Sandel do not see any biologically determined moment when an embryo acquires the moral status of a person. The process is seen as gradual, and no substantial transformation is considered. The reasoning is not ontological but phenomenological, cf. Sandel 2007, p. 110 ff. Recently I came upon a report of the United States Governments’ Domestic Policy Council. It admits that human embryos are human beings: the only differences between embryos and human beings, the report says, are accidental differences in levels of development; Washington DC, January 10, 2007 (LifeSiteNews.com). “Embryos are humans in their earliest developmental stage, writes the Council. Each of us originated as a single-celled embryo, and from that moment have developed along a continuous biological trajectory throughout our existence. To speak of ‘an embryo’ is to designate a human being at a particular stage.” The report condemns the destruction of human embryos for the purpose of stem-cell research, and instead advocates alternative sources of stem-cells, including cells derived from amniotic fluid and adult stem-cells. “In sum,” reads the Executive Summary, “it increasingly appears that the qualities researchers value in embryonic cells may also exist in other stem cells that are easier to procure, more stable to grow, safer to use in therapies, and free of the ethical violations of embryo destruction.” Human embryos are what the embryology textbooks say they are, namely, human organisms – living individuals of the human species – at the earliest developmental stage. Cf. “Advancing Stem Cell Science Without Destroying Human Life” by the Domestic Policy Council: http://www. whitehouse.gov/infocus/healthcare/ stemcell_010907.pdf.
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body: this would be the first formation of a relation. But relationship is not the principle or cause of a person’s existence, but is a perfective mode of the subject. Relation does not constitute the person ontologically but establishes it operationally. In general, the argument claims that to become a person is an act and not a process, and that between a gradualist and non-gradualist conception of becoming a person it is necessary to opt for the latter¹⁴. This depends on the BoethianThomistic determination of person, which is substantial and non-functional. By functional definition of person I mean a determination which binds the existence of person to the verifiable possession of certain functions, often empirically ascertainable, and not to the primary act of being (actus essendi) of a new substance. The gradualist conception of the person includes a gradualist conception of the rights of the embryo, so that the embryo does not have the same amplitude of the rights of the new born. This is ruled out if we resort to the language of substantial transformation.
5.2 On substantial transformation and mechanism The argument proposed, according to which the moment of fundamental discontinuity in the formation of the human being is the conception, when the only substantial transformation ascertainable happens, may well also apply when we perform a journey back, starting from that existing human being that I am, and looking for a non-arbitrary point where I can recognize the beginning of my personal being. This point is fertilization where begins a human life, distinct from that of the father or the mother: a new human being with its own growth (autopoiesis), occurring in a coordinated and continuous manner, after the ontological jump represented by the substantial transformation occurred at conception. According to the general doctrine there are four types of transformations: substantial change (conception and death, generation and corruption; function of nutrition); qualitative change as an alteration (eg. the color of a leaf alters and changes); quantitative change (increase and decrease), local change (motion or movement). The last three are classified as accidental changes.
In the book Dignità umana e Bioetica (Morcelliana, Brescia 2010) E. W. Böckenförde is inclined to the view that, after the substantial transformation of conception, there will be no more changes other than those due to the autopoiesis. Kass 2007, p. 131– 133, while arguing that human life begins with fertilization and conception, does not believe that the blastocyst is a human being in its own right.
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Now the idea of the mechanism is that all changes are reduced only to local changes. As it is assumed that only moving particles (atoms or similar) exist, all the immense variety of the universe is nothing but the outcome of accidental transformations (aggregation and disaggregation of parts), so that there would be no substantial change in the real sense. But the phenomenon of life and generation rebels openly to mechanism. Therefore the idea of substantial transformation and conception as substantial transformation can find allies in biologists. The opposite happens precisely in mechanism and in Cartesianism, by which it becomes impossible to understand the conception and appearance of something that is radically new, for in mechanism the changing spatial arrangements of individual parts have exclusive relief. These changing aggregations do not have a true or real substantiality. In short, mechanism is disastrously inadequate to understand the phenomena of generation and procreation, and of life in general.
5.3 The right to life of embryo The fundamental right to life of the human embryo requires the minimal care necessary for a human being at every stage of its development: to be supported in this process and not to be destroyed. Ethically, this should entail, at least, that embryos should not be created for research and experimental purposes, and should not be frozen, because freezing denies the fundamental natural right to growth and development. The ontological personalism claims the identity without residues between homo and person, being homo any member of the human species in its genetic makeup, and whatever its degree of development. The categories of non-person (the fetus), of quasi-person (the newborn), of semi-person (the old severely declining), of no-longer-a-person (the patient in a vegetative state are consequently removed: they are fictitious categories, whose real referents are incorporated into that of person. One thing is personalism, another ‘personism’: I call personism those doctrines for which there are human beings ‘not yet person’ and ‘no longer a person’, as claimed by some contemporary authors including H. T. Engelhardt, D. Parfit, P. Singer, etc.
5.4 Embryo and scrap culture The civil laws on the human embryo are varied according to states, but generally they do not express an adequate level of protection. In several countries the embryo can be frozen indefinitely, destroyed in order to obtain stem cells, used in scientific research, manipulated in various ways, created ad hoc for various pur-
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poses, subject therefore to the principle of utility. For several instances it seems that an embryo is part of the culture of waste or scrap: an embryo as a mere clump of cells is a waste product, and you can dispose of it freely. In general, the culture of waste does not include the recovery and preservation of scraps, including human scraps as embryos.¹⁵ The match is being played between the normativity of moral reason and the culture of waste, of rejection, of reification, which involves enormous ecological costs.
5.5 Human Enhancement and mainly Cognitive Enhancement Bearing in mind the culture of waste, we shall now have a look at the topic of human enhancement. There is a clear implication between culture of enhancement and culture of scrap: the enhancement strengthens the culture of scrap because the normal is not enough, but it must be put aside and discarded to achieve the ‘more than normal’ level, the potentiated level. So in a hypertechnological society, afflicted by a severe humanistic crisis, the race for the enhancement and improvement is also a race to increase waste and to raise the threshold below which there are scraps. Human enhancement can occur through genetics, neuroscience, pharmacology, nanotechnology, and it concerns the life of the body as much as the psychic level. In a way, the central problem of enhancement regards the issue whether the human enhancement can change the human essence, going to a posthuman subject, as it is sometimes said today. I will not deal here with such a complex theme, already mentioned (cf. note 8) and developed in the book La rivoluzione biopolitica. La fatale alleanza tra materialismo e tecnica (Lindau, Turin 2013), but I will turn to some aspects of cognitive enhancement for healthy subjects, a topic that has given rise to an opinion of the Italian National Bioethics Committee: Neurosciences and Pharmacological Cognitive Enhancement: Bioethical Profiles (February 2013). Without summarizing the document, I would now like to touch certain nuclei less present in the opinion. The cognitive enhancement relates to the use of drugs by people who do not have overt deficits to be recovered, but wish to raise their performance having in view sometimes a playful end, but more often a performant aim: better memory, more stable and acute attention, better learning ability, and so on. Although the
“The new ideologies, which are characterized by widespread individualism, self-centeredness and materialistic consumerism, weaken social bonds, fueling the mentality of ‘waste’ that leads to contempt and neglect of the weak, of those who are considered ‘useless’”, Fraternity. The Foundation and Pathway to peace, Message of Pope Francis for the 47th World Day of Peace.
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question appears more projected into the future than in the present, nonetheless the issue is beginning to be a subject of debate within the public and especially among experts for the anthropological, moral, social and medical problems it conveys. Among the main factors to consider for a comprehensive evaluation, some are easier to manage, such as safety (the cognitive enhancers should not harm or create dependency), non-coercion (no one should be forced to take them), the allocation of resources in the sense that those for cognitive enhancement should not come at the expense of resources intended to cure (therapy) and prevent (prophylaxis) illnesses. Other factors, necessary for a moral evaluation, present greater difficulties. Among these three are worthy to be considered: a) the understanding that the subject forms of himself and of others, and the influence of cognitive enhancers on the moral landscape of society; b) their impact on quality of life; c) the question whether their use violates the criteria of fairness and merit. (a) Relevant is the question whether the cognitive enhancers favor a change of self-understanding and of social relationship. Where the use of the enhancers is only on an individual basis, the mere difference ‘lawful/unlawful’ seems insufficient to provide an adequate criterion, since it is plausible that the users of enhancers orient themselves to think about themselves and those who do not take these products as different categories. A real risk in enhancing healthy subjects is that they could easily manifest a tendency to do by themselves, and to compete rather than to cooperate. Certain forms of enhancement may alter the relationship with the other through a practice that minimizes the principle of solidarity. Then the solidarity between advantaged and disadvantaged persons, which remains an essential core of any decent society, would fail or would be neglected. In addition, the increase of individual cognitive performances of a subject could go to the disadvantage of its relational qualities. Then a mutual reinforcement between use of enhancers and ethical individualism is plausible: this makes it more difficult for the individual to cultivate moral sentiments of openness to others. In ethical individualism the duties of solidarity are not real duties, as they would come only after a consensus that the subject is free to give or not to give, and they would therefore possess only a consensual or contractual character. Understood on a purely individual basis, the use of enhancers houses a propensity for competition, not for solidarity. b) With regard to the quality of life, enhancement should deal with sensitive anthropological issues, also in relation to a “humanistic canon”, which regards the activities of free fruition/enjoyment and not only of competitive performance as essential to the human being. In general it is not reasonable to assume that
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the increase in performance of individual capacities increases per se the quality of personal and collective life. And it is legitimate to raise doubts on the idea that a continuous increase in performance and records, similar to what happens in sports, is a valid parameter in social life. In other words, the fundamental social practices of any well-ordered society have a low similarity with those of a sport club. The risk is to understand the human subject as a set of performances, at a time the social pressure to improve performances or functions rather than social cooperative practices and virtues, is high. c) A further problem is represented by the principle of merit, in the sense that enhancers could alter the allocation of merit. The reflection on this criterion is complex, for merit is an elastic concept that can change significantly depending on areas of society. In the field of study/school, and reasoning roughly on the basis of similar natural endowments, those who study more and achieve better outcomes have a greater relative merit. On the other hand in the study/school domain there are fewer variables than in other social sectors, such as that of work/ job where the merit is subject to the conditioning of multiple factors, so it is less decisive. In general, and not just in sport competitions, we reward the success or the result, not the commitment or capacities, although those who have greater capacities generally achieve better results. To distribute according to merit very often is tantamount to distribute according to the results that may depend on the better qualities of the subject rather than on its higher commitment. And the natural talents are not a merit but a chance. The idea that minimizes moral merit (commitment, loyalty, willpower), and watches only the result cannot be made absolute: you must keep an area in which the moral merit, not performance, understood as the flowering of human capacities through the refinement of physical and spiritual functions, counts. There is a difference between bettering ourselves through exercise or by potentiating drugs. It is possible that the enhancers, encouraging attention to the outcome and not on moral merit, may constitute a disincentive for autoeducation and a loss for the individual and for society.
6 Conclusion The rooting of axiology in ontology and of the doctrine of action in that of being leads to detect in the concepts of life, human nature and person their internal normativity. This basic approach is important also for bioethics as it forces this discipline to pay attention to delicate ontological and anthropological issues when dealing with its major problems and in particular that of the personal sta-
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tus of human embryos. To this end, I offered an argument that, on the basis of the classical determination of the person and of the doctrine of substantial transformation, argues the personal status of the human embryo and consequently the unconditional respect that is due to him/her and the dignity that is proper to him/her. Different and somewhat simpler is the case of pharmacological cognitive enhancers: we have investigated some factors which are relevant to an ethical judgment on them. Anyway, if the question of human enhancement were about the possibility of upgrading the human subject towards a transhuman one, we should investigate whether the power of the technique could achieve so much. In any case in a period in which many bioethical matters are regulated through rules, laws and jurisprudence instead of argumentations, it should be more and more necessary to revitalize doctrinal or ‘theoretical’ Bioethics, in order to avoid an impoverishment of this fundamental discipline, the victory of a positivistic and materialistic standpoint, and the equation/identity between technical feasibility and moral goodness. This issue is vital because if predominance is attributed to positive legislation and jurisprudence, then philosophical bioethics will come to an end very quickly.
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Günther Pöltner
Menschennatur und Speziesismus 1 Der Vorwurf des Speziesismus In den bioethischen Debatten wird die Berufung auf die Menschennatur (‚Speziesargument‘) als Speziesismus, d. h. als illegitime Bevorzugung der Angehörigen der eigenen Spezies kritisiert.¹ Eine Ethik, für die Menschen einfach deshalb Träger von Grundrechten sind, weil sie Menschen, d.i. Mitglied der Menschheitsfamilie sind, wird als biologistisch kritisiert. Der Vorwurf des Speziesismus taucht vor allem in der Debatte um den sogenannten moralischen Status des menschlichen Embryos auf. Das Speziesargument, so lautet der gemeinhin erhobene Vorwurf, leite aus der „biologischen Zugehörigkeit des Embryos zur menschlichen Spezies dessen Status als Inhaber der speziestypischen Grundrechte ab“ (Merkel 2003, S. 35). Wer jedoch zur Normenbegründung „allein den sachlichen Umstand einer bestimmten biologischen Beschaffenheit“ heranziehe, begehe einen „Sein-Sollen-Fehlschluß“ (Merkel 2003, S. 37), nämlich „den ungültigen direkten Schluß von einem Faktum der Welt auf eine Norm“ (Merkel 2003, S. 37). Das in der Debatte um den Embryonenschutz vorgebrachte Speziesargument basiere auf unhaltbaren Voraussetzungen. Denn auch im Falle eines geborenen Menschen würden „nicht die biologische Beschaffenheit“, sondern einzig und allein „bestimmte speziestypische Eigenschaften, die moralisch schutzbedürftig und -würdig sind“ „eine Grundrechtsträgerschaft des Menschen“ begründen (Merkel 2003, S. 35). Da nun frühe Embryonen solche moralisch relevanten speziestypischen Eigenschaften nicht besitzen, seien sie mit den anderen Speziesmitgliedern normativ nicht gleichgestellt. Daher können sie nur im Rückgriff auf zusätzliche Prinzipien – wie z. B. das der Solidarität – in die Schutzsphären von Moral und Recht einbezogen werden, womit freilich kein subjektives Recht auf Leben und Schutz der Menschenwürde, sondern höchstens „die weitaus schwächere Form eines bloß objektiven Schutzes“ (Merkel 2003, S. 35) begründet werde. Das bedeute im Konfliktfall, dass die schutzbedürftigen Interessen geborener Menschen den Vorrang vor dem schwächer begründeten Schutzgebot von Individuen haben, die keine moralisch relevanten Eigenschaften
„Weiße Rassisten akzeptieren nicht, daß der Schmerz, den Schwarze verspüren, ebenso schlimm ist wie der, den Weiße verspüren. Ähnlich messen jene, die ich ‚Speziesisten‘ nennen möchte, da, wo es zu einer Kollision ihrer Interessen mit denen von Angehörigen einer anderen Spezies kommt, den Interessen der eigenen Spezies größeres Gewicht bei“ (Singer 1984, S. 73 f).
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aufweisen. „Universal geteilte moralische Intuitionen“ würden den Vorrang der schutzbedürftigen Interessen Geborener vor der bloß objektiven Schutzwürdigkeit Ungeborener „nachdrücklich“ demonstrieren (Merkel 2003, S. 35). „Der Grundrechtsschutz des Embryos ist also nicht nur nicht geboten; er ist in Wahrheit moralisch nicht erlaubt“ (Merkel 2003, S. 35). Es gelte, die Ethik „gegen ihre biologistische Degradierung“ zu schützen (Merkel 2003, S. 35). Es besteht hier nicht die Absicht, in die Debatte um den Embryonenschutz einzutreten, weil die Kritik am Speziesargument, wie eben zu sehen war, grundsätzlicher Natur ist und sich keineswegs auf eine bestimmte Lebensphase beschränkt. Die Kritik betrifft die Berufung auf das Menschsein als solches – gleichgültig, ob es sich um einen noch ungeborenen oder schon geborenen Menschen handelt. Für sie hat die Tatsache, ein Mensch zu sein, keinerlei Begründungsfunktion. Es heißt ausdrücklich, „auch bei allen geborenen Menschen folgt die unbezweifelbare Norm, daß sie Grundrechte haben, nicht aus dem bloßen Faktum ihrer biologischen Beschaffenheit als Mitglieder einer bestimmten Spezies. Anders gewendet: Nicht weil unsere Biologie so ist, wie sie ist, sind wir Inhaber von Rechten. Sondern weil Menschen typischerweise bestimmte Eigenschaften haben, die besonders zu schützen ein moralisches Gebot ist […]“ (Merkel 2003, S. 37 f.). Nicht die Tatsache, dass es sich um einen Menschen handelt, sondern einzig und allein der Besitz ganz bestimmter – eben: moralisch relevanter – Eigenschaften erfordert ein bestimmtes moralisches Verhalten. Auf den Träger moralisch relevanter Eigenschaften kommt es nicht an. Das heißt im Falle von uns Menschen, dass man nicht als Mensch, sondern erst aufgrund des Besitzes bestimmter Eigenschaften Person (mit entsprechenden Rechten) ist. Zu diesen Eigenschaften zählen z. B. Selbstbewußtsein, Kommunikationsfähigkeit, Handlungsfähigkeit.² Das Ausmaß der Schutzwürdigkeit hängt vom Bewußtseinsgrad der aus diesen Eigenschaften erwachsenen Interessen ab.³ Die Grundbedingung für das Vorliegen von Interessen ist die Empfindungsfähigkeit.⁴ Das selbstbewußte, mit zukunftsbezogenen Wünschen verbundene Leben einer Per-
Singer zählt im Anschluß an den protestantischen Theologen Fletcher folgende „Indikatoren des Menschseins“ auf: „Selbstbewußtsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangenheiot, die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und Neugier“ (Singer 1984, S. 104). In diesem Sinn schlägt er vor, „‚Person‘ in der Bedeutung eines rationalen und selbstbewußten Wesens zu gebrauchen“ (Singer 1984, S. 106). „Je höher entwickelt das bewußte Leben eines Wesens, je größer der Grad von Selbstbewußtsein und Rationalität, umso mehr würde man dieses Lebewesen vorziehen, wenn man zwischen ihm und einem Wesen auf einer niederigerene Bewußtseinsstufe zu wählen hätte“ (Singer 1984, S. 125). „Ein Stein hat keine Interessen, weil er nicht leiden kann […] Eine Maus hingegen hat ein Interesse daran, nicht gemartert zu werden, weil sie dabei leiden wird“ (Singer 1984, S. 73).
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son ist schützenswürdiger als das von Nichtpersonen.⁵ Im Horizont dieses empiristischen, auf John Locke zurückgehenden Personbegriffs, sind ‚Mensch‘ und ‚Person‘ nicht deckungsgleich.⁶ Nicht alle Menschen sind Personen, umgekehrt sind aber auch nicht alle Personen Menschen, sondern es gibt einige nichtmenschliche Lebewesen, welche Personen sind.⁷ Die fundamentalen Rechte eines menschlichen Lebewesens sind nicht Menschenrechte, sondern Personenrechte (Person im Sinne des empiristischen Personbegriffs). Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich der Speziesismusvorwurf keineswegs auf „universal geteilte moralische Intuitionen“ stützen kann, vielmehr auf einer Ontologie basiert, die mit unserer lebenspraktischen Erfahrung in wesentlichen Punkten unverträglich ist und uns zumutet, unser Selbstverständnis als selbständige Menschen aufzugeben. Wenn behauptet wird, einzig und allein „bestimmte speziestypische Eigenschaften, die moralisch schutzbedürftig und -würdig sind“ würden „eine Grundrechtsträgerschaft des Menschen“ begründen (Merkel 2003, S. 35) – was heißt das genau: speziestypische Eigenschaft, und woher stammt deren ‚moralische Relevanz‘? Und was genau ist das Subjekt der Schutzwürdigkeit? Was hat es mit der Unterscheidung von moralisch irrelevanter biologischer Beschaffenheit und moralisch relevanten Eigenschaften und im Zusammenhang damit mit dem Sein-Sollen-Fehlschluß auf sich? Und dem zuvor: Was setzt die Behauptung stillschweigend voraus, Mensch zu sein, sei eine biologische Tatsache? Biologische Tatsachen sind ja nicht einfach vorhanden, vielmehr muss etwas erst zu einer biologischen Tatsache gemacht werden. Biologische Tatsachen sind Tatsachen für die Biologie. Dass die Biologie die maßgebliche Zugangsart für die Bestimmung des Menschen ist, ist alles andere als selbstverständlich.
Es gibt „starke Gründe dafür, das Leben von Personen über das von Nichtpersonen zu stellen“ (Singer, 1984, S. 135). Für den ontologischen, auf Boethius zurückgehenden Personbegriff sind Mensch und Person deckungsgleich. Mensch zu sein, heißt schon, Person, d.i. ein selbständiges Wesen einer geistigen Natur („naturae rationalis individua substantia“) zu sein. (Boethius, De Persona et Duabus Naturis Contra Eutychen et Nestorium, cap. III, in: MPL, LXIV, 1343). „Manche Angehörigen anderer Gattungen sind Personen; manche Angehörigen unserer eigenen Gattung sind es nicht. Keine objektive Beurteilung kann dem Leben von Mitgliedern unserer Gattung, die keine Personen sind, mehr Wert verleihen als dem Leben von Mitgliedern einer anderen Gattung, die Personen sind“ (Singer 1984, S. 134).
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2 Anmerkungen zum Sprachgebrauch Bevor auf den Vorwurf einer biologistischen Degradierung der Ethik einzugehen ist, sind zwei Anmerkungen zum Sprachgebrauch zu machen. Die eine bezieht sich auf den Rassismusvergleich, die andere auf die Frage, was der Gegenstand der Schutzwürdigkeit ist.
2.1 Der Vorwurf rassistischen Verhaltens Wer irgendwelche Rechte eines menschlichen Lebewesens, z. B. das Recht auf Leben, an die Gattungszugehörigkeit knüpft, verhalte sich, wie viele Autoren im Anschluss an Peter Singer argumentieren, wie ein Rassist, d. h. er bevorzuge illegitimerweise die Angehörigen der eigenen Gattung vor solchen einer anderen Gattung – illegitimerweise, weil er die Gleichheit der moralisch relevanten Eigenschaften missachte.⁸ Wenn schon der Gattungsbegriff bemüht wird, dann ist im Sinne der formalen Logik darauf hinzuweisen, dass ‚Mensch‘ kein Gattungs-, sondern ein Artbegriff ist. Gattungsbegriffe werden einsinnig von Individuen unter bewußtem Absehen von deren artspezifischen Unterschieden ausgesagt. Gattungsbegriffe können durch Angabe artspezifischer Unterschiede zu Artbegriffen fortbestimmt werden. Das ist deshalb möglich, weil die artspezifischen Unterschiede nicht zu den Begriffsmerkmalen des Gattungsbegriffs gehören. So ist z. B. das artbestimmende Merkmal ‚vernunftbegabt‘ im Begriff ‚Lebewesen‘ nicht enthalten, es sind ja nicht alle Lebewesen vernunftbegabt. Anderenfalls könnte man von allen Lebewesen sagen, sie seien Menschen. Rassen- und Geschlechterunterschiede sind keine Artunterschiede, was sie wären, wäre ‚Mensch‘ ein Gattungsbegriff. Diese Unterschiede begründen keinen Unterschied im Menschsein. Hingegen ist der Unterschied zwischen Menschen und anderen Lebewesen ein Artunterschied. Der Rassismusvergleich nimmt das nicht zur Kenntnis und reduziert artspezifische Unterschiede in nominalistischer Manier auf individuelle. D.h. er behandelt Menschen und andere Lebewesen als Angehörige ein und derselben Spezies und etabliert damit – was höchst bedenkenswert ist – eine neue Form von Speziesismus, nämlich den der Eigenschaftsbesitzer.
„Die biologischen Fakten, an die unsere Gattung gebunden ist, haben keine moralische Bedeutung. Einem Leben bloß deshalb den Vorzug zu geben, weil das Lebewesen unserer Gattung angehört, würde uns in dieselbe Position bringen wie die Rassisten, die denen den Vorzug geben, die zu ihrer Rasse gehören“ (Singer 1984, S. 107). Ähnlich Hoerster 1989, S. 174.
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Freilich: Das Problem fängt schon damit an, dass das Speziesargument auf der einen und die Kritik daran auf der anderen Seite unter ‚Spezies‘ etwas anderes verstehen. Das Speziesargument operiert mit einem ontologischen Speziesbegriff und versteht unter ‚Spezies‘ die jeweilige Seinsweise selbständiger Wesen. Der ontologische Speziesbegriff gibt die Antwort auf die Frage, was es für ein selbständig Seiendes heißt zu sein. (Für den Menschen heißt zu sein, ein vernünftiges Wesen sein können). Die Kritik hingegen operiert mit einem nominalistischen Speziesbegriff und versteht unter ‚Spezies‘ eine nach pragmatischen Gesichtspunkten erstellte Klasse von Elementen mit ähnlichen Merkmalen. Die Kritik unterstellt eine Ontologie, die nur Eigenschaften kennt, wobei deren Träger austauschbar sind. Die Frage, was es für etwas heißt zu sein, wird erst gar nicht gestellt. ‚Sein‘ heißt bloß ‚Subjekt einer Aussage sein‘. Für die Kritiker des Speziesarguments ist einzig das Vorhandensein bestimmter, von Dritten festgelegter beobachtbarer Eigenschaften ausschlaggebend, nicht deren Träger.Wer der nominalistischen Spezies der Bewußtseinsbesitzer, d.i. der Personen, angehört, das ist für ein Menschenwesen keine schicksalhafte Vorgabe, sondern das bestimmen Dritte. Solch einer nominalistischen Spezies gehört man nicht kraft eigenen Rechts, sondern kraft Kooption an. Die formallogisch inkorrekte Nivellierung von Artunterschieden auf individuelle Unterschiede bei gleichzeitigem Unterlassen der Frage, was es für ein Individuum heißt zu sein, ist keineswegs so harmlos, wie sie ausschaut. Ähnliches gilt für die Rede von der Schutzwürdigkeit.
2.2 Die Rede von der Schutzwürdigkeit Bezeichnenderweise werden als Kandidaten einer Schutzwürdigkeit Eigenschaften, Wünsche, Interessen bzw. das menschliche Leben genannt. So ist bei Merkel zu lesen: Menschen haben „typischerweise bestimmte Eigenschaften […], die besonders zu schützen ein moralisches Gebot ist (Merkel 2003, S. 37). Oder es wird gesagt „daß solche Eigenschaften auf besondere Weise schutzwürdig sind“ (Merkel 2003, S. 37). Hoerster meint, „Personen haben den Wunsch nach Weiterleben, der als solcher ohne Zweifel Schutz verdient“ (Hoerster 1989, S. 176). Angesichts solcher Redeweisen fragt es sich, wer oder was streng gedacht zu schützen ist. Gilt der Schutz den Eigenschaften? Sind aber Eigenschaften nicht allemal solche von etwas oder von jemandem? Kann man Eigenschaften schützen, ohne deren Träger zu schützen? Wem gilt nun der Schutz? Gilt er in erster Linie den Eigenschaften und in zweiter Linie deren Trägern? Nimmt man den Schutz des Trägers wie eine conditio sine qua non in Kauf?
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Ähnliche Fragen stellen sich, wo der Schutz dem menschlichen Leben gilt. So heißt es: „Daß menschliches Leben mit den Mitteln der Moral- und Rechtsordnung geschützt werden muß […]“ (Hoerster 1991 b, 21). Kann man menschliches Leben schützen, ohne dabei diese Frau oder diesen Mann, zu schützen? Offensichtlich nicht. Denn ebensowenig, wie es nackte Eigenschaften ohne ein subiectum gibt, gibt es ein freischwebendes menschliches Leben, sondern allemal immer nur konkrete Menschen, welche leben. Es lebt nicht das menschliche Leben, sondern ein Menschenwesen, jemand. Subjekt des Lebens ist nicht das menschliche Leben, sondern jemand – eine individua substantia. Und das meinen wir auch, wenn wir sagen, es sei ein Menschenleben gerettet worden. Man wird geneigt sein, diesen Bemerkungen Beckmesserei vorzuwerfen, wo es sich doch offensichtlich um eine façon de parler handelt. Man sagt ‚Eigenschaften‘ oder ‚menschliches Leben‘ und meint deren Subjekt. Das mag im Alltag hinzunehmen sein. Wo es aber um die begriffliche Aufarbeitung unseres Selbstverständnisses als Mitmenschen geht, darf man sich dabei nicht beruhigen und die Frage nach dem Subjekt auf sich beruhen lassen. Die Alltagssprache darf nicht unkritisch zum Ausgangspunkt einer Reflexion gemacht werden, sondern ist auf ihren genauen Sinn hin zu befragen. Mit der dem Anschein nach unverbindlichen facon de parler werden in Wahrheit ontologische Vorentscheidungen größter Tragweite getroffen: Die ständige Rede von schutzwürdigen Eigenschaften, Wünschen oder Interessen unterstellt nämlich eine Ontologie, die keine selbständigen Wesen, d.i. keine Substanzen, kennt. Auf diese Weise werden Einzelwesen unter der Hand zu Zuständen eines unbekannten Weltsubstrats gemacht, und dementsprechend wird der Unterschied von Entstehen/Vergehen einerseits und Veränderungen andererseits aufgehoben und auf Zustandsänderungen reduziert. Dazu kommt noch ein anthropologischer Dualismus, der die Einheit des Menschen in ein moralisch irrrelevantes biologisches Substrat und moralisch relevante Eigenschaften aufspaltet. Schließlich findet sich sogar die Position eines Begriffsrealismus: Dem Allgemeinen namens ‚menschliches Leben‘ wird ein ontologischer Vorrang eingeräumt, der die Individuen zu austauschbaren Exemplaren degradiert. Einen anthropologischen Dualismus vertritt z. B. Helga Kuhse. Nach ihr hat „das biologisch-menschliche Leben nur einen extrinsischen oder instrumentellen Wert; es ist lediglich die Voraussetzung für die Realisierung von anderen moralischen Gütern und Werten […]“ (Kuhse 1991, S. 59). Andere Autoren unterscheiden biologisches und personales Leben. Dieses könne aufhören, während jenes im Falle eines Hirntoten fortbestehe. ⁹
Nach Sass bezeugt die Rede vom Hirntod: „Unsere Sprachregelung macht also stillschweigend
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Eine begriffsrealistische Position mit höchst bemerkenswerten praktischen Konsequenzen findet sich bei Hoerster. Hoerster plädiert für den Schutz des menschlichen Lebens. Aus dem „generell hohen Wert menschlichen Lebens“ folge keineswegs, „daß jedes menschliche Individuum ein eigenständiges Recht auf sein Leben erhalten müßte“ (Hoerster 1993, S. 68). Ausschlaggebend ist das menschliche Leben, nicht jedoch, ob es sich im Indiviuum M1 oder M2 findet. Das wird wie folgt veranschaulicht: „Denn wenn ich meine gegenwärtige Katze K etwa töte und dafür eine herumstreunende Katze K1 bei mir aufnehme, die offenbar sonst nicht überleben würde, so diene ich dem genannten allgemeinen Ziel – Förderung von Katzenleben – in demselben Umfang wie zuvor“ (Hoerster 1993, S. 67). Dieser Vergleich wird ausdrücklich auf das menschliche Leben als solches übertragen.¹⁰
3 Was heißt das genau: speziestypische Eigenschaft? Die Rede von moralisch relevanten speziestypischen Eigenschaften ist aus mehreren Gründen problematisch. Sie operiert erstens mit einem unzureichenden Begriff von Moralität und basiert zweitens auf einem ontologischen Kurzschluss.
3.1 Unzureichende Bestimmung von Moralität Der Rekurs auf moralisch relevante Eigenschaften (wie Selbstbewußtsein, Fähigkeit zu zukunftsbezogenen Wünschen, Ausbildung eines Überlebensinteres-
einen Unterschied zwischen biologischem menschlichem Leben, das ja unter intensivmedizinischer Behandlung nach dem Hirntod weiter erhalten werden kann, und dem personalen menschlichen Leben, das wir in dieser ethischen und kultuirgeschichtlich abgestützten Interpretation biologischer Fakten mit der Möglichkeit aktiver Hirntätigkeit gleichsetzen“ (Sass 1989, S. 163 f). „Denn gerade unter der Voraussetzung vom allgemeinen Wert menschlichen Lebens hat das individuelle menschliche Wesen M1 ceteris paribus denselben Wert wie das individuelle menschliche Wesen M2. Wer also nur ein menschliches Wesen unterhalten oder födern kann und unter diesen Bedingungen sich für das menschliche Wesen M1 anstatt für das menschliche Wesen M2 entscheidet, verletzt keinerlei individuelles Recht auf Leben“ (Hoerster 1993, S. 68). Dazu paßt, daß Individuen ohne geringstes Überlebensinteresse „eine Unterklasse menschlicher Individuen bilden“ (Hoerster 1993, S. 69) (alle Herv. original).
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ses, Empfindungsfähigkeit, Erlebnisfähigkeit als Minimalbedingung von Subjektivität¹¹) hat Moralität von vornherein um wesentliche Dimensionen verkürzt. Interessen oder Wünsche sind keineswegs per se moralisch relevant, wie das Phänomen unmoralischer Interessen oder Wünsche zeigt. Nicht das Interesse, sondern der als gut erkannte Gegenstand des Interesses ist moralisch relevant. Etwas muss ein moralisches Interesse verdienen, eines solchen Interesses wert sein. Das aber sagt mir nicht das Interesse. Moralfähigkeit ist nicht schon mit Erlebnisfähigkeit oder dem Haben von Interessen gegeben. Die Auflistung der für moralisch relevant erachteten Eigenschaften unterschlägt den Unbedingtheitscharakter des sittlich Gesollten. Moralfähig ist, wer Adressat eines Unbedingtheitsanspruchs sein kann. Unbedingt heißt, nicht durch etwas anderes bedingt, sondern durch sich selbst gerechtfertigt, in sich sinnvoll.Wer fragt,wozu das sittlich Gute nützt,welchem Zweck es dient ist, hat nicht verstanden, was Sittlichkeit besagt. Moralität hängt nicht von außermoralischen Gründen ab. Die Frage, warum man moralisch sein soll, lässt sich nur mit dem Hinweis auf Moralität selbst beantworten.
3.2 Der ontologische Kurzschluss Der Haupteinwand ist jedoch methodischer Art und besagt, dass hier zu unrecht von einer Eigenschaft geredet wird. Die Rede von einer moralisch relevanten Eigenschaft beruht auf einer ontologisch kurzschlüssigen Missdeutung der klassischen Wesensdefinition des Menschen.
3.2.1 Missdeutung der klassischen Wesensdefinition des Menschen Wenn der Mensch als das mit Vernunft begabte Lebewesen definiert wird (Zoon Logon Echon, animal rationale), dann wird nicht einem Lebewesen eine Eigenschaft namens ‚Vernunft‘ zugesprochen, sondern gesagt, als was der Mensch ein Lebewesen ist – nämlich dass er als Vernunftwesen und d. h. als ein Freiheitswesen ein Lebewesen ist. Der artbildende Unterschied bezeichnet nicht eine Eigenschaft, sondern benennt
Für Merkel z. B. ist die Erlebnisfähigkeit die Minimalbedingung für Subjektivität, ohne deren Vorliegen es auch keine moralische Bindung geben kann. Er ist der Überzeugung, daß sein Ausgangspunkt für die Begründung moralischer Normen „ohne überzeugende Alternative ist: die Bindung dessen, was Moral überhaupt will und soll, an irgendeine Form der Subjektivität derer, die in den Schutzbereich unserer moralischen Normen einbezogen sind oder einzubeziehen wären“ (Merkel 2003, S. 40).
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das Konstituens der Seinsweise des Menschen, d.i. das Konstituens der Menschennatur. Der Gattungsbegriff ‚Lebewesen‘ kann zwar einsinnig von den verschiedensten Lebewesen ausgesagt werden, aber er bezieht sich nur unbestimmt auf sie. Er lässt offen, um welche es sich handelt, d. h. er sagt noch nichts über die konkrete Seinsweise der Lebewesen aus. Der Gattungsbegriff ‚Lebewesen‘ bezeichnet nicht ein konkretes Lebewesen (etwa einen Löwen oder einen Primaten), dem dann in Form der differentia specifica eine Eigenschaft zugeschrieben wird.¹² Dass der Mensch rechtens als Lebewesen bezeichnet werden kann, sagt nur, dass er mit diesem Begriff auf unbestimmte Weise bezeichnet wird – auf unbestimmte Weise,weil ‚Lebewesen‘ offenlässt, als was der Mensch ein Lebewesen ist. Der Mensch ist nicht ein Vernunftwesen und ein Lebewesen, sondern er ist es als Vernunftwesen. Dieses sein Wesen prägt alles weitere, was ihm sonst noch zukommen mag, seine Eigenschaften und Fähigkeiten, die eben deshalb menschliche (und nicht anders geartete) Eigenschaften und Fähigkeiten sind. In Eigenschaften manifestiert sich das Wesen. Deshalb kann man einen Menschen an Eigenschaften erkennen – aber man erkennt ihn nicht an irgendwelchen, sondern eben an menschlichen Eigenschaften. Und es sind nicht Eigenschaften, die ein Lebewesen zu einem Menschen machen. Mensch zu sein ist keine Eigenschaft. Nun ist der Mensch sich selbst so vorgegeben, dass ihm dieses sein Menschsein zum Vollbringen aufgegeben ist. Wird das Wesen unter der Hinsicht betrachtet, dass es dem Menschen Vollzugsmöglichkeiten eröffnet,wird es Natur genannt (essentia als principium operationis). Denn der Mensch ist nicht deshalb der, der er ist, weil er bestimmte Eigenschaften aufweist – nicht der Besitz von Eigenschaften macht ihn zum Menschen – sondern umgekehrt: Weil er Mensch ist, hat er bestimmte Eigenschaften, stehen ihm bestimmte Möglichkeiten offen, kann er Fähigkeiten ausbilden. All das gründet in seiner Menschennatur. Er hat ja nicht irgendwelche Fähigkeiten und Eigenschaften, sondern eben menschliche – und das durchgehend. Wenn von Menschennatur geredet wird, steht Natur nicht im Gegensatz zur Freiheit. Es macht vielmehr die Natur des Menschen aus, ein Freiheitswesen zu sein.¹³ Wird in der Einheit der Menschennatur Natur und Vernunft bzw. Freiheit unterschieden, meint ‚Natur‘ nicht die methodisch reduzierte Natur der Naturwissenschaft, sondern die Leibnatur als ontische Ermöglichung von Vernunft und Freiheit.¹⁴ Diese
Schlimm wird es, wenn das begriffslogische Verhältnis von genus, differentia specifica und species in ein reales Werden verdreht wird – und ein Lebewesen sich im Laufe seines Lebens zu einem Menschen entwickelt. Schon aus diesem Grund hat die Berufung auf die Menschennatur nichts mit einem naturalistischen Fehlschluß zu tun. Die Naturwissenshaft hat es aufgrund ihres methodischen Reduktionismus keineswegs mit der Natur als Natur, sondern mit einer abstrakt verkürzten Natur zu tun. Die Frage nach der Natur
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kann zwar teilweise zu einem Organismus vergegenständlicht werden, aber eben nur teilweise. Denn die Vergegenständlichung ist als eine Form menschlichen Selbstvollzugs ihrerseits noch von der leiblichen Natur ermöglicht. Ich habe meinen Leib, indem ich mein Leib bin. Das Haben des Leibes ist kein Besitzverhältnis, sondern die Weise des Leibseins. Deshalb ist ein instrumentelles Verhältnis zum eigenen Leib eine Form der Selbstverfehlung. Im Leib bloß ein Instrument für die „Realisierung von anderen moralischen Gütern und Werten“ zu erblicken heißt im Grunde, den Leib zu funktionalisieren und damit den Menschen missachten. Die Kritiker des Speziesarguments haben nicht nur den Sinn der klassischen Wesensdefinition nicht verstanden, sondern halten überdies Aussagestrukturen unkritisch für Seinsstrukturen. Sie verwechseln das Konstituens der Seinsweise des Menschen (= der Menschennatur) mit einer Eigenschaft des Konstituierten. Und dies offensichtlich in der Meinung, dass alles,was an der Prädikatsstelle eines Satzes steht, eine Eigenschaft bezeichnet. Sie begehen einen ontologischen Kurzschluss, indem sie von einer sprachlich-logischen Struktur auf ontologische Verhältnisse schließen. Bezeichnenderweise wird Mensch und Person für eine Eigenschaft ausgegeben. So kann man lesen: „Eigenschaft, eine Person zu sein“ (Hegselmann/Merkel 1991, S. 7), „Eigenschaft, ein ‚menschliches Wesen zu sein‘“ (Leist 1990, S. 23). Solche eine Rede basiert auf einem Kategorienfehler. ‚Mensch‘ bzw. ‚Person‘ sind Subjektsausdrücke, auch wenn sie an der Stelle des Satzprädikats stehen. Sie gehören in die Substanzkategorie, nicht in diejenige der Akzidentien. Diese Ausdrücke bestimmen das Subjekt, von dem alles andere ausgesagt wird. Sie bestimmen die Art und Weise des Selbständigseins, der Substanzialität des Subjekts. Wenn von einem Individuum gesagt wird, es sei ein Mensch, dann wird ihm nicht eine Eigenschaft zugesprochen, sondern etwas über sein Selbständigsein (Substanzialität) gesagt, dass nämlich sein Selbständigsein in der Weise des Menschseins geschieht. Ich habe nicht die Eigenschaft, Mensch zu sein, sondern ich bin Mensch. Ich bin nicht die Eigenschaft von etwas anderem, noch befindet sich etwas im Zustand namens Günther Pöltner. Die Kritiker nivellieren den Unterschied von Substanz und Akzidens und infolge dessen auch den von Entstehen/Vergehen einerseits und Veränderung andererseits. Sie kennen nur Zustandsänderungen eines ignotum x.Wenn meine Mutter gestorben ist, hat nicht etwas die Eigenschaft namens ‚meine Mutter‘ gewechselt, sondern meine Mutter hat aufgehört, Mensch zu sein, sie hat zu existieren aufgehört, sie ist nicht mehr. Ein Mensch kann sich verändern, er kann anders werden, aber wenn er gestorben ist, ist nicht etwas anders geworden, sondern er ist nicht mehr.
als Natur muß beim ursprünglichen Phänomen der Natur, d.i. bei unserem Leib ansetzen. Unser Leib – die Natur, die wir selbst sind – bildet den primären Zugang zur Natur.
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Mensch zu sein ist keine Eigenschaft, die etwas besitzt. Um wessen Eigenschaft soll es sich denn handeln? Ein Mensch – genauer: eine Frau, ein Mann – kann es nicht sein, denn für diesen vermeintlichen Träger gälte dasselbe: Auch er ist die Eigenschaft von etwas anderem – und so fort ins Endlose. Eine nackte Eigenschaft, eine Eigenschaft ohne Wovon führt in den endlosen Regress, hebt sich selbst auf. Es gibt keine Individuen mehr, sondern nur Zustände eines ignotum x. So aber verstehen wir uns nicht in unserem Miteinanderleben. (Man wird den Substanzbegriff nur unter Verleugnung unseres Selbstverständnisses los – ein Preis, der zu hoch ist.)
3.2.2 Missdeutung von ‚Fähigkeit‘ Im Zuge des ontologischen Kurzschlusses kommt es nicht nur zur Leugnung selbständiger Wesen, sondern auch zu einer weiteren Nivellierung: Alles, was der Mensch kann, wird als erwerbbare Fähigkeit begriffen. So wie Mensch zu sein als Eigenschaft gilt, so gilt auch das sittlich Handelnkönnen als eine Fähigkeit unter anderen auch noch. Der Mensch ist nicht deshalb Adressat eines unbedingten Sollensanspruchs, weil er bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten besitzt, sondern weil er als Freiheits- und Vernunftwesen ein Lebewesen ist. Er ist kraft seines Menschseins ein moralfähiges Wesen, ein Wesen von Würde. Nicht der Besitz von bestimmten Eigenschaften verschafft dem Menschen Würde und damit eine sogenannte ‚moralische Relevanz‘, sondern seine Menschennatur. Subjekt der Schutzwürdigkeit ist aber nicht eine abstrakte Menschennatur, sondern der jeweilige Mensch selbst, also jemand. Dessen Würde gründet nicht darin, dass er ein Lebewesen ist, das die Eigenschaft der Vernunft besitzt, sondern darin, dass er es als Vernunftwesen ist. Weil er frei sein kann besitzt er Würde. Die moralische Relevanz, so hat es geheißen, sei an den Besitz bestimmter Fähigkeiten gebunden. So ist z. B. für Merkel nicht das aktuelle Erleben, sondern die Disposition zu ihr moralisch relevant. Er vergleicht die Erlebnisfähigkeit mit der Fähigkeit des Klavierspielens.¹⁵ Mit dem Rückgriff auf dispositionelle Fähig-
Der Begriff ‚Erlebnisfähigkeit‘ verlange „nicht ein aktuelles subjektives Erleben (wie es bei Schlafenden und Bewußtlosen fehlen mag). Er fordert […] eine vorhandene Fähigkeit dazu, nicht deren aktuelle Ausübung, nicht ihr, wenn man so will, gegenwärtiges In-Betrieb-Sein. Solche dispositionellen Fähigkeiten sind auch dann gegenwärtig vorhanden, wenn sie nicht ausgeübt werden. Damit unterscheiden sie sich grundsätzlich von erst künftig möglichen, potentiellen Fähigkeiten. Der gerade spazierengehende Pianist hat aktuell die Fähigkeit, Klavier zu spielen, auch wenn im Augenblick weit und breit kein Klavier zu haben ist“ (Merkel 2003, S. 43).
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keiten ist jedoch noch nichts gewonnen. Diese Argumentation leidet an einem undifferenzierten Gebrauch des Wortes ‚Fähigkeit‘. Sie missachtet den Unterschied von erwerbbarer Fähigkeit und natürlichem Können. Nicht alles, was der Mensch kann, ist eine erworbene Fähigkeit, wie es z. B. das Klavierspiel ist. Ein Mensch kann sich durch Unterricht und Üben diese Fähigkeit erwerben und wird so zum Pianisten. Er ist Pianist auch dann, wenn er (aus welchen Gründen auch immer) gerade nicht spielt. Gewiss ist der Erwerb solch einer Fähigkeit an entsprechende Bedingungen gebunden wie z. B. das Erreichen eines gewissen Lebensalters, manuelle Geschicklichkeit, musikalische Begabung. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um eine erwerbbare Fähigkeit handelt, deren Erwerb ich auch unterlassen kann. Anders verhält es sich bei Dingen wie dem Erleben,Wahrnehmen, Erkennen und Handeln. Dergleichen sind nicht von mir erworbene Fähigkeiten, über ihren Erwerb kann ich nicht dahingehend verfügen, dass ich ihn auch unterlassen könnte. Beim Klavierspielen liegt es (entsprechende Bedingungen vorausgesetzt) an mir, ob ich es lernen will oder nicht. Nicht so beim Erkennen und Handeln, also genau bei dem Können, das für den Menschen als Menschen charakteristisch ist. Ich kann mir nicht vornehmen, das Erleben- oder Erkennen- und Handelnkönnen zu erwerben oder den Erwerb auch unterlassen. Dieses Können steht nicht zu meiner Disposition. Das subjektive Erleben ist eben keine dispositionelle Fähigkeit,¹⁶ ebensowenig wie es Wahrnehmen, Erkennen und Handeln ist. Ich kann nicht nicht handeln und ebensowenig kann ich wählen, frei sein oder nicht frei sein zu können. (Ich kann zwar den sogenannten Freitod wählen, das aber eben nur als schon frei sein Könnender.) Versteht man unter einer Fähigkeit ein (unter entsprechenden Bedingungen) erwerbbares, den Gegenstand einer Wahl bildendes Können, dann ist das Erkennenund Handelnkönnen, das Freisein-können, keine Fähigkeit, sondern ein prinzipielles, d. h. kraft des Menschseins eröffnetes Können, eine Wesensmöglichkeit, ein natürliches Können. Dass der faktische Vollzug dieses Könnens an Bedingungen wie z. B. Erreichen eines bestimmten Lebensalters, Funktionstüchtigkeit der leiblichen Natur und Erziehung gebunden ist, ändert nichts an dem ontologischen Status dieses Könnens. Es ist ein aus der Menschennatur erfließendes Können und bleibt allemal vorausgesetzt – es kann geweckt, nicht aber eingepflanzt oder erworben werden. Ebenso verhält es sich mit dem Sprechen-können. Man lernt sprechen, indem man angesprochen wird. Aber das Ansprechen der anderen schafft nicht mein natürliches Sprechen-können, sondern setzt es voraus – und zwar nicht als etwas in der Zukunft Merkel ignoriert diesen Unterschied: „Selbstverständlich nimmt man alle seine dispositionellen Fähigkeiten, allen voran die des subjektiven Erlebens, mit in den Schlaf und verliert sie dort nicht – so wenig wie die von ihr abhängige Verletzbarkeit und Schutzwürdigkeit“ (Merkel 2003, S. 44).
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sich Einstellendes, sondern als schon verborgen anwesend. Zukünftig ist nicht das prinzipielle Können, sondern ermöglicht dessen Vollzug. Es – das von Anfang an grundgelegte Können – ist zutage getreten, indem ich älter geworden bin, nicht aber habe ich es mir erworben. Genausowenig wie ich mir vornehmen kann, älter zu werden. Das klingt trivial, ist es aber nicht, wenn man an die bioethischen Debatten über die Selbstidentität denkt. Manche Autoren kennen offenkundig nur eine summative Einheit, nicht aber eine ursprüngliche, einigende Einheit. Sie begreifen die Selbstidentität als kollektive Einheit, als Einheit nach Art eines Fussballvereins. So ist z. B. für Merkel das Leben eines Menschen prozentuell aufteilbar. Er stellt sich die Einheit eines Menschenlebens als Zusammensetzung mehrerer Teilleben vor – ohne freilich sagen zu können, was es mit diesen auf sich hat. Ebensowenig, wie nicht mehr gesagt werden kann, was das Subjekt der Eigenschaft ‚Mensch‘ ist, kann das Subjekt des Lebens bestimmt und gesagt werden, wer tot ist. Daher verwundert es auch nicht, dass nach Merkel ein Hirntoter zu 2 % tot ist, aber zu 98 % noch lebt.¹⁷ Dieselbe Denkhaltung steht auch hinter der Hypostasierung von Identität zu einem identischen Ding.¹⁸ Da wird etwa gefragt, ob „bereits der frühe Embryo identisch ist mit dem geborenen Menschen, der aus ihm werden kann“, und dann geantwortet, zwischen beiden lasse sich „nur eine einzige Identitätsbeziehung feststellen: die der DNA, des individuellen menschlichen Genoms“ (Merkel 2002, S. 179). Ganz abgesehen von dem bereits verkehrten Ansatz der Frage (ich bin nicht aus einem Embryo geworden, sondern einer gewesen – wenn anders meine Eltern nicht einen Vorgänger meiner selbst, sondern mich gezeugt haben!): Wer Identität zu einem identischen Etwas verdinglicht, begeht den Fehlschluss des ‚dritten Menschen‘ in der Meinung, die Anwesenheit eines Menschen sei ihrerseits ein anwesender Mensch. Schließlich besteht meine Selbstidentität auch nicht in der Einheit meines Selbstbewußtseins, sondern in der Einheit meiner Menschennatur – womit nichts anderes gesagt ist, als dass sein so viel wie eines sein besagt (esse = unum esse). Anderenfalls dürfte niemand von uns mehr von sich sagen, er selbst sei dann und dann geboren worden, wo er doch zur Zeit seiner Geburt noch kein Selbstbewußtsein besessen hat. Angesichts solcher Konsequenzen ist jedoch nicht unser Selbstverständnis, sondern diejenige Ontologie zu verabschieden, die es nicht mehr erlaubt, sich in ihr als Mensch wiederzufinden. Merkel fragt: „Was berechtigt uns denn, ihn [= den Hirntoten, G.P] trotz des Umstands, daß er biologisch zu 98 % seiner physischen Substanz noch lebt, als tot und damit als möglichen Organspender zu behandeln?“ (Merkel 2003, S. 42). Vgl. dazu Pöltner (2002), 251– 288, sowie Pöltner (2007), 35 – 42.
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4 Moralische Irrelevanz und moralische Relevanz. Sein-Sollen-Fehlschluss Wir kommen damit zu unserer zweiten Frage: Was hat es mit der Unterscheidung von moralisch irrelevanter biologischer Beschaffenheit und moralisch relevanten Eigenschaften auf sich? Denn diesen Unterschied nicht zu beachten heiße ja, einen Sein-Sollen-Fehlschluss zu begehen. Von biologischen Fakten führe kein Weg zur Moral. Das ist richtig, folgt aber bloß aus den nicht weiter von den Kritikern befragten Voraussetzungen. Zu einem Sein-Sollen-Fehlschluss kann es nur dort kommen, wo Sein von vornherein auf bedeutungsnackte Faktizität reduziert, Sein und Gutsein getrennt worden ist. Sein wird mit bedeutungsnackter Faktizität ohne Anspruchscharakter gleichgesetzt, der dann ein nicht-faktischer Wert von bloßem Sollenscharakter gegenübersteht. Wo dem, was ist, eine eigenständige Bedeutung ausgetrieben worden ist, eine Bedeutung, die an das Handeln Ansprüche stellt, ist einer moralischen Berufung tatsächlich der Boden entzogen. Nur unter der Voraussetzung der Reduktion von Sein auf bedeutungsnackte Faktizität greift das Argument, vom Sein führe kein Weg zum Sollen. Unsere lebenspraktische Erfahrung kennt solch eine Reduktion nicht. Die Menschennatur unterläuft die Trennung von Sein und Sollen. Menschen sind nämlich sowohl Adressat als auch Quelle eines unbedingten Anspruchs. Jeder Eltern-Kind-Bezug bezeugt das. Dergleichen lässt sich nicht andemonstrieren, sondern ist Sache von Einsicht und Anerkenntnis.¹⁹ Die Reduktion ist denn auch das, was sie ist – eine interessengeleitete methodische Ausklammerung. Die neuzeitliche Naturwissenschaft verdankt ihre ungeheuren Erfolge solch einer methodischen Abstraktion. Aber weder rechtfertigt der Erfolg die Ausklammerung, noch können die Resultate methodisch abstraktiven Vorgehens etwas über das von vornherein Ausgeklammerte sagen. Ein auf bloße Faktizität reduziertes Sein scheidet per definitionem als Quelle eines Tun-Sollens aus. – Womit wir bei der moralischen Irrelevanz biologischer Fakten wären. ‚Biologisch‘ ist der Name für eine Hinsicht, eine Herangehensweise – für das obiectum formale quo der Naturwissenschaft namens ‚Biologie‘. Ein biologisches Faktum ist dasjenige, was sich unter der Fragehinsicht der Biologie zeigt, was zum Gegenstand der Biologie gemacht worden ist. Die biologische Betrachtungsweise ist von den Lebewesen keineswegs ernötigt. Lebewesen sind zunächst einmal das, was sie sind. Das gilt auch für uns Menschen. Eine biologische Bestimmung des Menschen
Dazu gehört die Bereitschaft, Einsichten auch begrifflich ernstzunehmen und nicht auf dem Weg der Reflexion unkenntlich zu machen.
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ist durchaus legitim – nur muss man sich bewußt bleiben, dass damit die Frage nach dem Menschen als Menschen weder gestellt noch beantwortet ist, ja auf diese Weise auch gar nicht gestellt werden kann. Die Biologie lebt – wie jede andere Einzelwissenschaft auch – von einer Anfangsabstraktion und kann grundsätzlich nichts über dasjenige sagen,von dessen Ausklammerung sie lebt. Der Hinweis auf die moralische Irrelevanz biologischer Fakten ist richtig, freilich auch überflüssig. Denn die Biologie hat es aus methodischen Gründen grundsätzlich nicht mit so etwas wie Moralität zu tun, sie kann aus methodischen Gründen keine moralisch relevanten Daten ermitteln. Die Biologie kennt höchstens Selektionsvorteile oder Selektionsprämien: Was selegiert worden ist, ist in Wahrheit bloß faktisch übriggeblieben. Selektion ist ein ebenso bedeutungsnacktes, moralisch irrelevantes Faktum wie alle anderen naturwissenschaftlich erhebbaren Fakten auch. Die gegenteilige, von so vielen Biologen geteilte Meinung basiert auf einer Methodenvergesslichkeit. Um einen Begriff von Moralität bilden zu können, der so weit gefasst ist, dass tierisches und menschliches Verhalten gleicherweise unter ihn fallen, muss man Moralität um genau dasjenige verkürzen, was sie ausmacht – um ihren Unbedingtheitscharakter. Und so ist es nur konsequent, dass die Biologie mit einem auf Zweckrationalität verkürzten Vernunftbegriff operiert. Biologische Fakten sind keineswegs das primär Gegebene, vielmehr müssen lebenspraktische Erfahrungsinhalte zu biologischen Fakten gemacht werden. Die leibliche Natur des Menschen ist als solche kein biologisches Faktum, sie muss dazu erst auf dem Wege methodischer Ausklammerungen vergegenständlicht werden – ein Umstand, der von den Kritikern des Speziesarguments geflissentlich negiert wird. Wer sich auf die leibliche Natur des Menschen beruft, beruft sich keineswegs auf ein biologisches Faktum, sondern darauf, dass der Leib allemal jemandes Leib ist, der seinen Leib hat, indem er sein Leib ist.Wer einen Leib sieht, sieht jemanden. Und wer einen Leichnam sieht, sieht jemanden, der gewesen ist. Der Leib als Leib ist nur in personaler Einstellung gegeben, nicht aber in biologischer Vergegenständlichung. Und was die moralische Irrelevanz biologischer Fakten betrifft, ist Methodenkonstanz und Methodenkonsequenz einzufordern. Wer den Leib biologisch als (moralisch irrelevanten) Organismus bestimmt, muss konsequent bleiben und das auch im Falle der Eigenschaften tun – nicht aber stillschweigend die Hinsicht wechseln. Biologisch bestimmte Eigenschaften sind genauso moralisch irrelevante Fakten wie deren Träger. Alles, was sich unter biologischem Blickwinkel fassen lässt, ist aus methodischen Gründen von vornherein moralisch irrelevant. Eigenschaften sind nicht, wie Bertrand Russell meint, wie Schinken an einem unsichtbaren Pflock befestigt, sondern in Eigenschaften manifestiert sich die Seinsweise eines Individuums. Jetzt ganz abgesehen davon, dass Vernunft keine Eigenschaft ist: Eigenschaften können einzig deshalb moralisch relevant sein, weil und insofern sich in ihnen eine moralisch relevante Natur manifestiert. Eigen-
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schaften verdanken ihre moralische Relevanz einer moralisch relevanten Natur – nicht aber verhält es sich umgekehrt. Damit ist dem Speziesismusvorwurf der Boden unter den Füßen entzogen. Die Würde des Menschen gründet in seiner Natur – darin, dass er ein Freiheitswesen sein kann. Freiheit ist keine erwerbbare Fähigkeit, sondern ein natürliches Können. Der Mensch besitzt deshalb seine Würde unabhängig davon, ob er seine prinzipielle Freiheit faktisch noch nicht oder nicht oder nicht mehr vollziehen kann. Nun ist er als Freiheitswesen ein Lebewesen und steht als solches in einem Abstammungsverhältnis. Weil er von Menschen abstammt, von Menschen gezeugt ist, ist er Mensch und gehört der Menschheitsfamilie an. Man wird nicht Mensch durch Kooption. Aber es ist nicht die Abstammung – in der Sprechweise der Kritiker: nicht die Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens sapiens – die seine Würde begründet, sondern seine Menschennatur, kraft der er ein Freiheitswesen sein kann. Die Abstammung vermittelt ihm seine Menschennatur, nicht aber bringt sie diese hervor. Und nur nebenbei gesagt: Die Zeugung in ihrer unverkürzten Phänomenalität – schließlich geht aus ihr ein Freiheitswesen und damit ein Adressat eines Unbedingtheitsanspruchs hervor – die menschliche Zeugung als solche ist ebenfalls weder ein biologisches Datum noch ein biologisches Faktum. Im Blickwinkel der Biologie erscheint die Zeugung als ein bedeutungsnackter organischer Vorgang – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die Abstammung eines Menschen von menschlichen Eltern begründet nicht dessen Würde, sondern ist das einzige willkürfreie Indiz dafür, wer als Subjekt des Würdeschutzes anzuerkennen ist – oder wer (mit Boethius gesprochen) naturae rationalis individua substantia ist.
Literatur Hegselmann Rainer/Merkel Reinhard (Hg.) (1991): Zur Debatte über Euthanasie, Frankfurt. Hoerster, Norbert (1989): „Ein Lebensrecht für die menschliche Leibesfrucht?“, In: Juristische Schulung 3, S. 172 – 178. Hoerster, Norbert (1991): Abtreibung im säkularen Staat. Frankfurt. Hoerster, Norbert (1993): „Zur rechtsethischen Begründung des Lebensrechts“. In: Erwin Bernat (Hg.): Ethik und Recht an der Grenze zwischen Leben und Tod. Graz, S. 61 – 70. Kuhse, Helga (1991): „Warum Fragen der aktiven und passiven Euthanasie auch in Deutschland unvermeidlich sind“. In: Hegselmann/Merkel 1991, 51 – 70. Leist, Anton (1990): „Diskussionen um Leben und Tod“. In: Anton Leist (Hg.): Um Leben und Tod. Frankfurt, S. 9 – 72. Merkel, Reinhard (2002): Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. München. Merkel, Reinhard (2003): „Contra Speziesargument: Zum normativen Status des Embryos und zum Schutz der Ethik gegen ihre biologistische Degradierung“. In: Gregor Damschen,
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Dieter Schönecker (Hrsg.): Der moralische Status menschlicher Embryonen. Berlin, New York, S. 35 – 58. Pöltner, Günther (2002): „Ontologie des Werdens“. In: Inigo Bocken/Donald Duclow/ Stephan van Erp/Frans Jespers (Hrsg.): On Cultural Ontology. Maastricht, S. 251 – 288. Pöltner, Günther (2007): „Spezies, Identität, Kontinuität, Potentialität. Philosophisch-anthropologische Voraussetzungen einer Bioethik“. In: Ante Covic, Thomas Sören Hoffmann (Hrsg.): Integrative Bioethik, Sankt Augustin, S. 35 – 42. Sass, Hans-Martin (1989): „Hirntod und Hirnleben“. In: Hans-Martin Sass (Hrsg.): Medizin und Ethik. Stuttgart, S. 160 – 183. Singer, Peter (1984): Praktische Ethik. Stuttgart.
Autorenverzeichnis Martin Hähnel, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Stiftungsprofessur für Bioethik der KU Eichstätt-Ingolstadt Christoph Halbig, Ordinarius für Philosophie und Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Ethik an der Universität Zürich Thomas Hoffmann, Vertretung der Professur für Praktische Philosophie an der Universität Leipzig Rosalind Hursthouse, em. Professorin für Philosophie an der Universität Auckland (Neuseeland) Angela Kallhoff, Professorin für Ethik mit besonderer Berücksichtigung von angewandter Ethik an der Universität Wien Heiner F. Klemme, Professor für Geschichte der Philosophie an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg Micah Lott, Assistent Professor am Boston College (USA) Günther Pöltner, em. Professor für Philosophie an der Universität Wien Vittorio Possenti, Professor für Politische Philosophie an der Universität Venedig (Italien) Thomas Rentsch, Professor für Praktische Philosophie und Ethik an der Technischen Universität Dresden Martin Rhonheimer, Professor für Ethik und politische Wissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Päpstlichen Universität Santa Croce Rom Markus Rothhaar, Stiftungsprofessor für Bioethik an der KU Eichstätt-Ingolstadt Ludwig Siep, em. Professor für Philosophie an der Universität Münster Robert Spaemann, em. Professor für Philosophie an der LMU München
Autorenregister Ach, Johann S. 14, 206 Achtenberg, Deborah 137 Ackrill, John 138 Andreou, Chrisoula 81, 225 f. Annas, Julia 7, 143 f., 151 f., 166 Anscombe, Getrude Elizabeth Margaret 5, 7, 76–80, 85 f., 98 f., 121 f., 175 f., 180, 196, 222, 225 Antonovsky, Aaron 231 Apel, Karl Otto 1, 117 Aristoteles 1, 4, 6, 9, 14, 17 f., 20, 23 f., 26– 32, 46, 48, 54, 58–63, 95 f., 128, 163, 165 f., 169, 178, 207, 209, 217–219, 228, 230 Arnhart, Larry 19 Balme, David M. 139 Baumgarten, Alexander Gottlieb 100, 107 Bennett, Maxwell R. 155 Blackburn, Simon 47 f. Blumenberg, Hans 204 Böckenförde, Ernst-Wilhelm 245 Boorse, Christopher 129 Broadie, Sarah 14, 139 Buchenau, Stefanie 103 Busche, Hubertus 103 Cassirer, Ernst 217, 220 Copp, David 183, 191 Coreth, Emerich 168 Damasio, Antonio 167 Damschen, Gregor 206 Darwin, Charles 14, 157 f. Davidson, Donald 50, 161 De Waal, Frans 25, 204 Dreier, Horst 37, 206 Fichte, Johann Gottlieb 129 f. Fitzpatrick, William J. 223 Flemming, Arthur 98 Foot, Philippa 1–3, 5–9, 13, 20–24, 45, 55, 57, 75–78, 81–86, 88, 98 f., 119–126,
141–143, 151, 175–180, 182–185, 187– 190, 193, 195, 217, 219, 221–233, 237, 241 Forst, Rainer 1, 117 Frankfurt, Harry 2, 162 Frege, Gottlob 51 Fuchs, Thomas 155 Gaita, Raymond 75 Geach, Peter 75, 77, 98, 177 f., 180–182, 222 f. Glannon, Walter 170 Glassen, Peter 137 Gómez-Lobo, Alfonso 137, 139 Griffiths, Paul E. 17, 32 f. Grün, Klaus-Jürgen 161 Habermas, Jürgen 1, 117 f., 127, 162 f., 211 Hacker, Peter M. S. 155 Hacker-Wright, John 75, 82, 88, 222 f., 228, 233 Hähnel, Martin 1–10, 217–235 Halbig, Christoph 8, 175, 178, 190, 192, 207 Haldane, John 75 Hardie, William Francis Ross 138 Harris, John 209 Hassenstein, Bernd 217 f. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 1, 4, 6, 50 f., 54, 61–63, 68, 102, 106, 119, 124, 127– 130, 212 Hegselmann Rainer 260 Heidegger, Martin 49 Heinaman, Robert 138 Henrich, Dieter 109 Heuer, Peter 220 Hoerster, Norbert 254–257 Hoffmann, Thomas 4, 45–64 Höwing, Thomas 96, 105 Hume, David 46, 51, 58, 60, 62 Hursthouse, Rosalind 1, 3, 5, 13–35, 75 f., 85, 88–90, 99, 149, 178–180, 182–195 Jacobs, Kerrin A. 229–231 Jonas, Hans 9, 237, 241
272
Autorenregister
Kallhoff, Angela 7, 135–154, 139 f., 142, 149, 218 Kambartel, Friedrich 73 Kant, Immanuel 1 f., 4–6, 40 f., 46, 48, 58– 63, 68, 74, 95–100, 103–114, 117 f., 122, 125, 127, 129, 146 f., 150, 166 f., 176, 206–208, 212, 218 f., 224, 233, 238, 242 Kass, Leon R. 245 Keil, Geert 162 Kenny, Anthony 138 Klemme, Heiner F. 6, 95–116 Korsgaard, Christine 7, 143, 146–151 Kraut, Richard 137, 180–182 Krebs, Angelika 211 Kühler, Michael 205 Kuhse, Helga 256 Larmore, Charles 1, 117 Lear, Jonathan 38, 140 Leist, Anton 183, 218, 260 Lennox, James G. 139 Lenzen, Wolfgang 206 Locke, John 51, 206, 253 Lott, Micah 5, 75–91, 124 Louden, Robert B. 96 MacIntyre, Alasdair 22, 75, 98, 138, 145, 152, 227 f. Mattison III, William C. 167 McDowell, John 1, 7, 45, 48 f., 82, 85, 89, 95, 138, 141–143 Merkel, Reinhard 10, 251–253, 255, 258, 260–263 Merker, Barbara 203 Millgram, Elijah 81 Millum, Joseph 226 f. Moore, George Edward 58, 213 Müller, Anselm Winfried 75, 168 Mullikan, Ruth 227 Murphy, Mark 179 Nagel, Thomas 213 Neuweiler, Gerhard 159 Nossek, Alexa 205 Nussbaum, Martha 7, 20, 143, 145 f., 149 f. Özmen, Elif
98
Palmer, Julie Gage 232 Paslack, Rainer 202 Patzig, Günther 98 Pauer-Studer, Herlinde 98 Pellegrin, Pierre 139 Persson, Ingmar 209 Pöltner, Günther 10, 251–267 Possenti, Vittorio 9, 237–250 Povinelli, Daniel J. 159 Prinz, Wolfgang 170 f. Quine, Willard van Orman Quinn, Warren 98
46, 51
Ratey, John J. 171 Rentsch, Thomas 4, 65–74 Rhonheimer, Martin 1, 7, 155–173 Ricken, Friedo 178 Rödl, Sebastian 54 Rorty, Richard 48 Ross, William David 213 Rothhaar, Markus 1–10, 117–132, 229 Ruger, Jennifer Prah 202 Russell, Bertrand 51, 265 Sandel, Michael 244 Sass, Hans-Martin 256 f. Savulescu, Julian 209 Scanlon, Thomas 1, 117, 127 Schaber, Peter 122 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 106 Schöne-Seifert, Bettina 206 Schönecker, Dieter 206 Schopenhauer, Arthur 7, 161–164, 166 Schröer, Christian 101 f. Searle, John 217, 220, 233 Seel, Martin 111, 158, 179, 211 Sellars, Wilfrid 46 Sen, Amartya 202 Shakespeare, Williams 38 Siep, Ludwig 8, 201–215 Singer, Peter 189, 191 f., 246, 251–254 Singer, Wolf 156 f., 159 Smith, Adam 210 Sobel, David 183, 191 Sorabji, Richard 137
Autorenregister
Spaemann, Robert 2–4, 37–42, 193 f., 221, 241 Stekeler-Weithofer, Pirmin 54 Sterelny, Kim 17, 32 f. Sturma, Dieter 211 Suits, Bernard 137, 139 Taylor, Charles 162 Thomas von Aquin 98, 157, 163, 165 f., 179 Thompson, Michael 1 f., 45, 57, 75, 82, 95, 118–120, 138, 176, 178 f., 183–185, 187 f., 190, 194, 219, 223 f. Thomson, Judith Jarvis 180, 182 Thorhauer, Yvonne 166 Tugendhat, Ernst 125
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Walter, Sven 229–231 Walters, Leroy 232 Watson, Gary 191 Weber, Max 48, 202 White, Nicholas P. 137 Whiting, Jennifer E. 137 Wiggins, David 89, 227 Wilkes, Kathleen V. 137, 140 Williams, Bernard 13, 20, 28, 85, 138, 152 Wittgenstein, Ludwig 20, 71, 73 f., 95, 114, 155, 221 f., 227 Wolf, Ursula 14, 176, 178 f. Wolff, Christian 6, 100–106 Woodcock, Scott 225 Wright, Georg Henrik von 222 Young, Charles
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