Der Sinn der Sinnfrage: Metaphysische Reflexionen auf kantianischer Grundlage 3495483519, 9783495483510


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Einleitung
I. Systematische und historische Einordnung der Sinnfrage
1. Klassische und moderne Metaphysik
2. Andere Zugänge zur Sinnfrage
3. Paradigmen der Philosophie
4. Metaphysik bei Kant
5. Die Vermittlungsaufgabe der abschließenden Metaphysik
6. Einige Merkmale der abschließenden Metaphysik
7. Ursachen von Sinnfragen
8. ZurWort- und Begriffsgeschichte von »Sinn des Lebens«
II. Begriffliche und methodische Vorüberlegungen
1. Leben
2. Zwischen Holismus und Atomismus
3. Fünf Sinnbegriffe
4. Der metaphysische Sinnbegriff
5. Das metaphysische Verstehen
6. Merkmale des metaphysischen Verstehens
III. Ersatz-Metaphysik: Zwei unzureichende Antworten
1. Wissenschaft als Metaphysik oder Theoretizismus: Sinn entdecken
2. Ethik als Metaphysik oder Praktizismus: Sinn geben
3. Eine Zwischenbilanz
IV. Metaphysik der letzten Fragen: Die Hauptprobleme
1. Theodizee nach dem Tode Gottes
2. Der Sinn des Todes
3. Der Sinn des Leidens
4. Was darf ich hoffen?
V. Negative Metaphysik
1. Literaturverzeichnis
2. Personenregister
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Der Sinn der Sinnfrage: Metaphysische Reflexionen auf kantianischer Grundlage
 3495483519, 9783495483510

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Christian Thies

Der Sinn der Sinnfrage Metaphysische Reflexionen auf kantianischer Grundlage

BAND 81 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495998441

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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Der Autor über sein Buch: Die Frage nach dem Sinn des Lebens gilt vielen Menschen als das philosophische Problem schlechthin. Aber in der akademischen Philosophie hat sich lange Zeit niemand damit beschäftigen wollen. Das wichtigste Ziel dieses Buches ist es deshalb, diese Lücke zu schließen, und zwar in zwei Schritten: Im ersten Schritt muss untersucht werden, welchen Sinn die Frage überhaupt hat. Dafür ist zum einen der systematische Ort dieses Problems innerhalb der Philosophie zu bestimmen: Es ist dies nicht, wie viele meinen, die Ethik, auch nicht die Religionsphilosophie, sondern eine moderne Metaphysik, die in diesem Buch auf kantianischer Grundlage entwickelt wird. Zum anderen sind die Begriffe »Leben« und »Sinn« sowie deren Zusammenhang zu klären. Der zweite Schritt widmet sich der kritischen Analyse vorhandener Antworten. Zunächst werden zwei Ansätze zurückgewiesen, die in der Moderne besonders verbreitet sind: die Sinnsuche mit naturwissenschaftlichen Mitteln und die Idee, wir könnten unserem Leben selbst einen Sinn geben. Dagegen wird die Auffassung vertreten, dass wir Sinn nicht entdecken oder stiften, sondern nur über ihn reflektieren können. Gegenstand solcher metaphysischen Reflexionen ist das Negative in der Welt, das früher schon das Theodizee-Problem auslöste: Tod, Leid, Ungerechtigkeit. Am Ende des Buches steht die These, dass wegen dieser Unvollkommenheiten das Leben als Ganzes keinen Sinn hat. Metaphysik kann heute nur noch negativ sein. Der Autor: PD Dr. Christian Thies, geb. 1959, Studium der Philosophie, Geschichte und Pädagogik, 1987 Erstes Staatsexamen, 1989 Zweites Staatsexamen, 1996 Promotion in Hamburg, 1996 bis 1998 Postdoktorand im Graduierten-Kolleg »Ästhetische Bildung«, 1999 bis 2006 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophie der Universität Rostock, seit 2007 Stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover.

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Christian Thies Der Sinn der Sinnfrage

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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Lhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rmelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 81

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Christian Thies

Der Sinn der Sinnfrage Metaphysische Reflexionen auf kantianischer Grundlage

Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen

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Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / Mnchen 2008 www.verlag-alber.de Einband gesetzt in der Rotis SansSerif von Otl Aicher Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Satzherstellung: SatzWeise, Fhren Druck und Bindung: KN Digital Printforce, Erfurt ISBN 978-3-495-48351-0

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Inhaltsübersicht

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.

Systematische und historische Einordnung der Sinnfrage

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Klassische und moderne Metaphysik . . . . . . . . . . . Andere Zugänge zur Sinnfrage . . . . . . . . . . . . . . Paradigmen der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . Metaphysik bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vermittlungsaufgabe der abschließenden Metaphysik Einige Merkmale der abschließenden Metaphysik . . . . Ursachen von Sinnfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Wort- und Begriffsgeschichte von »Sinn des Lebens«

II.

Begriffliche und methodische Vorüberlegungen . . . . .

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Holismus und Atomismus . . . Fünf Sinnbegriffe . . . . . . . . . . . . . Der metaphysische Sinnbegriff . . . . . . Das metaphysische Verstehen . . . . . . . Merkmale des metaphysischen Verstehens

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84 . 84 . 89 . 93 . 105 . 113 . 118

III. Ersatz-Metaphysik: Zwei unzureichende Antworten . . . 130 1. 2. 3.

Wissenschaft als Metaphysik oder Theoretizismus: Sinn entdecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Ethik als Metaphysik oder Praktizismus: Sinn geben . . . 182 Eine Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

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Inhaltsübersicht

IV. Metaphysik der letzten Fragen: Die Hauptprobleme . . . 228 1. 2. 3. 4.

Theodizee nach dem Tode Gottes Der Sinn des Todes . . . . . . . Der Sinn des Leidens . . . . . . Was darf ich hoffen? . . . . . .

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V.

Negative Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Anhang 1. 2.

8

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346

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Einleitung

Als ich vor vielen Jahren mit dem Studium der Philosophie begann, war ich auf der Suche nach dem Sinn des Lebens: Was soll das alles? Wozu bin ich da? Was ist wirklich wichtig? Aber ich stellte schnell fest, dass dieser Problemkomplex, der von vielen Menschen für das wichtigste Thema der Philosophie gehalten wird, in universitären Veranstaltungen und wissenschaftlichen Publikationen kaum präsent war. Ich konnte meine Enttäuschung rasch überwinden, weil es noch andere Fragen gab, die mich zur Philosophie getrieben hatten bzw. die bald hinzukamen. Erst zwanzig Jahre später fiel mir wieder ein, dass es doch einmal um den Sinn des Lebens gehen sollte. Die Renaissance religionsphilosophischer bzw. metaphysischer Themen bestärkte mich in meiner Auffassung, dass die Zeit reif sei für eine wissenschaftliche Erörterung dieser Frage. Wenn es auch nicht möglich sein sollte, sie direkt zu beantworten, schon gar nicht mit wenigen Sätzen, so kann die akademische Philosophie doch wenigstens klären, welchen Sinn die Frage selbst hat, worauf sie eigentlich zielt und welche aussichtsreichen Antwortmöglichkeiten es geben könnte. Daraus ergibt sich die kritische Stoßrichtung des Textes. Meine Überlegungen richten sich sowohl gegen dogmatische wie gegen subjektivistische Standpunkte. Auf der einen Seite bestreite ich der Religion und auch der Theologie die manchmal beanspruchte alleinige Zuständigkeit für Fragen des Lebenssinns. Ebenso soll das Abgleiten entsprechender Reflexionen in eine vermeintlich tiefsinnige Esoterik oder in ein seichtes Psycho-Geschwätz verhindert werden. Auf der anderen Seite steht die verbreitete Auffassung, dass jeder für sich allein die Frage nach dem Sinn des Lebens beantworten müsse. Daraus wird bisweilen gefolgert, dass man sich diesem Thema bloß aus einer sozialwissenschaftlichen oder geistesgeschichtlichen Außenperspektive nähern könne: Mit den Instrumenten empirischer Sozialforschung ließe sich feststellen, welche Lebensinhalte faktisch bevorzugt werden; eine historische Hermeneutik könnte sichten, was die A

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Einleitung

großen Denker der Vergangenheit zu diesem Thema zu sagen hatten. Im Gegensatz zu diesen beiden Auffassungen soll meine Studie mehr sein als die Entfaltung eines unhinterfragten Dogmenbestands oder eine Bestandsaufnahme vorliegender Reaktionsmöglichkeiten auf die Sinnfrage. Mein Ziel ist es vielmehr, systematisch mögliche Standpunkte kritisch zu überprüfen und mit den Mitteln der Philosophie zu den großen letzten Fragen begründet Stellung zu beziehen. Dafür ist allerdings der Rückgriff auf die Klassiker sehr wohl notwendig. Zwar kommt es in der Philosophie letztlich allein auf die Argumente an, aber die besten und meisten Argumente finden wir in den Werken der großen Denker, deren Rang sich darin erweist, dass sie immer wieder neu interpretiert werden können, in dieser Arbeit im Hinblick auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Dadurch kommen die Klassiker untereinander und mit uns in ein Gespräch. Ein Philosoph besitzt jedoch in dieser Arbeit eine Sonderstellung: Immanuel Kant. Fundament und Aufbau meiner Überlegungen orientieren sich durchgängig an seinem Werk. Diese Wahl mag erstaunen, denn erstens taucht die Frage nach dem Sinn des Lebens nirgends in Kants Schriften auf 1, zweitens verwendet er gar nicht meinen Begriff von Metaphysik. In beiden Fällen liegt aber nur ein anderer Sprachgebrauch vor. Dennoch ist meine Untersuchung nicht unter die KantSekundärliteratur einzuordnen. Die Treue zu Kant steht nicht im Vordergrund; deshalb spreche ich bewusst nicht von einem Kantischen, sondern einem kantianischen Ansatz. Dieser liefert in erster Linie einen Rahmen, in dem die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt wird; die Rekonstruktion eines solchen kantianischen Gerüsts ist Aufgabe des ersten Teils. Trotz der Anlehnung an den großen Königsberger verfolge ich also primär systematische Interessen. Dabei geht die gesamte Untersuchung stärker in die Breite als in die Tiefe. Mein Ziel ist weniger eine sturmsichere Verankerung als ein weitläufiger Überblick, der als Orientierung dienen soll, was ja auch bedeuten kann, bewusst Das schöne Büchlein von Kraus (Hg.), Immanuel Kant: Deines Lebens Sinn, stellt eine Fülle interessanter Zitate Kants zusammen; die Titelformulierung kommt aber in keinem einzigen vor und ist offensichtlich eine Zutat des Herausgebers. – Kant-Zitate werden im laufenden Text belegt; die verwendeten Siglen finden sich am Anfang des Literaturverzeichnisses. Dort können auch die ausführlichen bibliographischen Angaben zu den Kurztiteln in den Fußnoten nachgeschlagen werden, die ich bewusst knapp halten wollte. Allerdings habe ich mich nicht zurückhalten können, in diesen einige interessante Zitate zum Sinn des Lebens unterzubringen.

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Einleitung

einen anderen als den hier vorgeschlagenen Weg zu gehen. Diese Ausrichtung erscheint mir deshalb legitim, weil die Frage nach dem Sinn des Lebens kein Detailproblem darstellt; vielmehr ergibt sie sich, wie im ersten Teil gezeigt werden soll, erst auf der Grundlage anderer wichtiger philosophischer Probleme. Welchen methodischen Maximen die Erörterung der Sinnfrage überhaupt folgen sollte, wird im zweiten Teil dargestellt. Insgesamt kommen unterschiedliche Methoden zum Zuge: Begriffsklärungen, transzendentale Argumente, die problemorientierte Interpretation philosophischer Klassiker, der typologische Überblick usw. Was meine Sprache angeht, so hoffe ich sehr, einen Text verfasst zu haben, der die Leser irgendwie mitzieht, der also trotz aller Wissenschaftlichkeit und Komplexität gut lesbar ist. Der Frage nach dem Sinn des Lebens werde ich mich in vier Teilen auf unterschiedliche Weise nähern. Im ersten Teil suche ich den historischen und systematischen Ort der Sinnfrage. Aus meiner Sicht handelt es sich um ein für die moderne Welt typisches Problem, das nicht, wie viele meinen, in der Ethik behandelt wird, sondern vielmehr in der Metaphysik, allerdings einer modernen Metaphysik, die sich als Metareflexion von theoretischer und praktischer Philosophie versteht. Mit ihr wird zwar in gewisser Weise die Tradition der klassischen Metaphysik fortgesetzt; es handelt sich aber nicht um eine ›prima philosophia‹, eine neue erste Philosophie, sondern um eine »letzte Philosophie«, die sich den Fragen widmet, die übrig bleiben, wenn die meisten anderen beantwortet sind, und die uns dennoch absolut betreffen. Im zweiten Teil geht es um die Klärung des Sinns der Frage selbst: Was meinen wir, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen? Zu diesem Zwecke sind vor allem die Begriffe »Sinn« und »Leben« ausführlich zu erläutern. Ich werde zeigen, dass sich der Begriff des Sinns, den wir in der Standardformel »Sinn des Lebens« verwenden, durch die Synthese dreier Komponenten ergibt: Verständlichkeit, Zusammenhang und Bedeutsamkeit. Nur diese drei Aspekte zusammen ergeben den vollen Gehalt dessen, worauf sich unsere Suche nach dem Sinn des Lebens richtet. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen »Sinn im Leben« und »Sinn des Lebens«. Wenn, wie sich herausstellen wird, Leben durch die unauflösliche Verbindung mit Tod, Leiden und Ungerechtigkeit nicht als Ganzes sinnvoll sein kann, ist damit nicht ausgeschlossen, dass es zahlreiche Episoden gibt (moralische Handlungen, ästhetische und religiöse Erfahrungen, kogniA

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tive Einsichten usw.), die nicht nur einen bedingten, sondern sogar einen absoluten Sinn haben. Im dritten Teil behandle ich zwei populäre Strategien, die Sinnfrage positiv zu beantworten, aber gleichsam unterhalb der Ebene der Metaphysik, nämlich mit den Mitteln der Wissenschaften bzw. der Ethik. Das Kapitel über »Wissenschaft als Metaphysik« erörtert Ansätze aus Physik, Biologie und Systemtheorie, die – wie ich zu zeigen versuche – letztlich auf eine Fortführung der klassischen Teleologie hinauslaufen. Es folgen Überlegungen zur »Ethik als Metaphysik«: Zum einen sind die meisten populären Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens hier einzuordnen; zum anderen aber ist es eine zentrale These dieser Arbeit, dass diese Ebene überschritten werden muss. Das ergibt sich nicht nur aus den absoluten Forderungen der Moral, die zu der Frage führen, in welchem Verhältnis Glück und Moral zueinander stehen bzw. stehen sollten. Darüber hinaus sind es vor allem negative Erfahrungen wie Leid und Tod, die die metaphysische Sinnfrage aufwerfen. Wenn wir uns dessen bewusst werden, müssen wir die individuelle Ebene, die Frage nach dem Sinn des jeweiligen Lebens, überschreiten und nach dem Sinn des Ganzen fragen. Im vierten Teil zergliedere ich die metaphysische Sinnfrage in Anlehnung an das alte Theodizeeproblem in drei Teilgebiete: Sinn des Todes, Sinn des Leidens, Sinn der (metaphysischen) Ungerechtigkeit. Unter dem letzten Punkt verstehe ich das Auseinanderklaffen von Glück und Moral im Weltlauf; die kantianische Frage lautet: »Was darf ich hoffen?« Diese Themen werden systematisch erörtert und führen, wie ich zeigen werde, zu einer negativen Metaphysik. Es ist zuzugestehen, dass es sich um eine akademische Arbeit handelt, von der keine leichten und griffigen Antworten zu erwarten sind. Wer also eine kurze und problemlos in das Alltagsleben überführbare Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens verlangt, wird durch diese Untersuchung enttäuscht werden. Interessierte Leser(innen) wird diese Studie wohl eher bei den Menschen finden, die über ihr Leben als Ganzes nachdenken wollen, die überkommenen Sicherheiten früherer Zeiten, seien diese religiöser, politisch-weltanschaulicher oder szientistischer Art, verloren haben, trotzdem aber nicht die Ansprüche auf Wahrheit, Moral und Sinn preisgeben möchten. Die vorliegende Studie ist eine stark gekürzte und in einigen Passagen aktualisierte Fassung meiner Habilitationsschrift, die im 12

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Einleitung

Herbst 2006 von der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock angenommen wurde. Ich war in der außergewöhnlich glücklichen Situation, dass die lebenden Philosophen, von denen ich am meisten gelernt habe, meine Gutachter sein konnten: Heiner Hastedt, Herbert Schnädelbach und Vittorio Hösle; allen dreien danke ich für ihre Einwände, die ich (soweit es mir möglich war) für diese Druckfassung berücksichtigt habe. Völlig verzichtet habe ich schweren Herzens auf die Kapitel über die anti-metaphysischen Positionen vom Nihilismus bis zum Indifferentismus sowie über die negative Metaphysik von Heidegger und Adorno; weiterhin fehlen die Abschnitte über »Geschichtsphilosophie als nach-theologische Theodizee« und »Psychoanalyse als Sinnberatung«, die ich irgendwann einmal in anderen Zusammenhängen vorzulegen hoffe. Einige Kapitel habe ich während des Schreibprozesses mit Freunden und Kollegen diskutiert; dafür danke ich sehr herzlich Michael Großheim, Bruno Heller, Bertram Kienzle, Helmut Lethen, Caroline Sommerfeld-Lethen und Niko Strobach. Wertvolle Hinweise erhielt ich bei unterschiedlichen Gelegenheiten freundlicherweise von Johann Ach, Ole Engler, Bernd Goebel, Udo Kern, Georg Raatz, Christa Runtenberg, Frank Vogelsang und Florian Wobser. Alle Student(inn)en der Universität Rostock, die meine Veranstaltungen besuchten, vor allem das Hauptseminar »Der Sinn des Lebens« im Sommersemester 2001 und die Vorlesung »Moderne Metaphysik« im Wintersemester 2004/ 05, haben indirekt zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Zu danken habe ich Ulrike Schulz, in deren wunderbarer kleiner Wohnung ich fast ein Jahr lang den ruhigen Arbeitsplatz hatte, der es mir ermöglichte, meine Gedanken niederzuschreiben. Ein ebenso schöner Ort ist das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover, wo ich die letzten Korrekturen am Manuskript vornehmen konnte. Den größten Dank aber schulde ich Beatrix Gotthold-Thies. Erstens habe ich mit ihr zusammen den Sammelband »Denn jeder sucht ein All. Vom Sinn des Lebens« (Leipzig 2003) herausgegeben, der gleichsam eine Materialsammlung und Vorstudie zur vorliegenden Untersuchung darstellt. Zweitens konnte ich jederzeit auf ihr Verständnis und ihren Zuspruch rechnen, wenn ich wieder einmal daran zweifelte, dass es sinnvoll sei, über Sinn zu schreiben.

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I. Systematische und historische Einordnung der Sinnfrage

Wer sich wissenschaftlich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigt, betreibt Metaphysik. Das ist die grundlegende These des ersten Teils dieser Arbeit. Zwar ist eine klassische Metaphysik, wie sie den großen Philosophen bis ins 18. Jahrhundert vorschwebte, nicht mehr möglich, aber sehr wohl eine moderne Metaphysik, deren Möglichkeiten und Grenzen hier dargelegt werden. Dabei favorisiere ich einen Ansatz, der sich wesentlich auf Kants Philosophie stützt. So findet der Untertitel dieser Arbeit, »Metaphysische Reflexionen auf kantianischer Grundlage«, in den folgenden Kapiteln seine Erläuterung. Dass die Frage nach dem Sinn des Lebens typisch ist für die Moderne, wird durch die Wort- und Begriffsgeschichte bestätigt, die ich am Ende dieses ersten Teils darstelle.

1.

Klassische und moderne Metaphysik

Unter Metaphysik kann man vieles verstehen. Es kann nicht Aufgabe dieses Kapitels sein, alle nur möglichen Begriffsbestimmungen zu diskutieren. Stattdessen beginne ich mit einer Arbeitsdefinition: • Metaphysik ist die Wissenschaft vom Absoluten. Diese Begriffsbestimmung erscheint weit genug, um die wichtigsten Verwendungsweisen des Wortes »Metaphysik«, die wir aus der Philosophiegeschichte kennen, einzuschließen. Zugleich ist sie so eng, dass sie einen Informationswert hat und andere Zugänge zum Absoluten ausschließt. Diese Arbeitsdefinition gilt es zunächst zu erläutern. Was ist das Absolute? Das lateinische Wort »absolutus« heißt »unbedingt«; der Gegenbegriff ist also das Bedingte oder das Relative. Obwohl das Adjektiv schon bei antiken Denkern zu finden ist, wird dieses Wort erst als Substantiv zu einem philosophischen Terminus, und zwar bei Nikolaus von Cues, der ausdrücklich Gott als das A

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Absolute bezeichnet. 1 Was man mit diesem Wort meint, also den Begriff des Absoluten, kann man problemlos zurückverfolgen bis in die Anfänge der Philosophiegeschichte und sogar darüber hinaus. Zur Verdeutlichung seien einige Kandidaten für das Absolute genannt: die arché der Vorsokratiker, das Gute bzw. das Eine bei Platon und im Neuplatonismus, der Logos bei den Stoikern, Gott im christlichen Denken, deus sive natura bei Spinoza, die Materie im klassischen Materialismus, das Ich bei Fichte, der Wille bei Schopenhauer, das Leben in der Lebensphilosophie usw. Aus dem östlichen Denken kommen hinzu: Brahma und Dharma in der indischen Geisteswelt, Nirvana und die absolute Leere (Shunyata) in der buddhistischen Tradition, das Dao im chinesischen Denken usw. Man kann sagen, dass fast jede philosophische Strömung dem Absoluten einen anderen Namen gegeben hat – was allerdings nicht heißt, dass alle darunter etwas völlig anderes verstanden hätten. Dieses Absolute, was immer es auch sein mag, kann man zum Gegenstand der Wissenschaft machen. Wissen ist (nach verbreiteter philosophischer Auffassung) eine wahre begründete Überzeugung. Hingegen hat sich der Begriff der Wissenschaft im Laufe der Jahrhunderte grundlegend gewandelt. Im Folgenden unterscheide ich deshalb eine klassische und eine moderne Konzeption von Metaphysik. Wissenschaftsfähig ist nach klassischer Auffassung nur das Wissen, das notwendig und unveränderlich ist; die Wissenschaft selbst gilt als Systematisierung solchen Wissens. Die entsprechende Auffassung von Metaphysik lautet deshalb: • Klassische Metaphysik ist das System notwendigen und unveränderlichen Wissens vom Absoluten. Diese Idee einer Wissenschaft vom Absoluten lässt sich auf Aristoteles zurückführen; im Mittelalter erlebte sie einen zweiten Anfang, der jedoch ihre Grundstruktur nicht veränderte. 2 Seit Beginn der Neuzeit ist jedoch die klassische Metaphysik einer Fülle von schwer wiegenden Einwänden ausgesetzt. Diese haben sie letztlich, wie hier nicht näher dargestellt zu werden braucht, zum Einsturz gebracht. Damit ist aber nicht die Metaphysik als solche vernichtet; an die Stel-

Kuhlen, Art. Absolut, das Absolute, 14. Vgl. Honnefelder, Der zweite Anfang der Metaphysik, 165–186; ders., Möglichkeit und Formen der Metaphysik, 11–60.

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le der klassischen Konzeption ist vielmehr ein moderner Ansatz getreten, für den ich folgende Arbeitsdefinition verwende: • Moderne Metaphysik ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem, was uns alle absolut betrifft. Meine Bestimmungen von klassischer und moderner Metaphysik sollen an Kants Unterscheidung zwischen dem Schulbegriff und dem Weltbegriff der Philosophie erinnern (KrV B 866 ff.). Eine Metaphysik nach dem Schulbegriff, so also die These, ist nicht mehr möglich, wohl aber eine Metaphysik nach dem Weltbegriff, also eine Metaphysik, die »das betrifft, was jedermann notwendig interessiert« (KrV B 867 Fn). Wie Kant im ersten Satz der »Kritik der reinen Vernunft« schreibt, gibt es nämlich Fragen, die die menschliche Vernunft notwendigerweise stellt (KrV A VII). Die Kantische Formulierung ist weitgehend äquivalent mit meiner Arbeitsdefinition, deren Elemente ich folgendermaßen erläutern möchte. (a) Mit dem Begriff der Moderne ist die Epoche gemeint, die mit drei großen Revolutionen begann: der industriellen Revolution in England, den politischen Revolutionen in Nordamerika und Frankreich sowie der kulturellen Revolution in Deutschland. Die moderne Philosophie beginnt demgemäß mit den Hauptwerken von Immanuel Kant, noch genauer: 1781 mit dem Erscheinen der »Kritik der reinen Vernunft«. Allerdings soll »modern« hier nicht als chronologisch-historischer, sondern als strukturell-idealtypischer Begriff benutzt werden. Das bedeutet: Es gibt moderne philosophische Konzeptionen auch vor 1781 – und nicht alles, was sich nach 1781 ereignete, ist modern. Beispielsweise kann man aus der antiken Philosophie immer noch sehr viel lernen, auch für meine Fragestellung. Dass tatsächlich die Frage nach dem Sinn des Lebens erst in der Moderne formuliert wurde, zeige ich am Ende dieses Teils. (b) In der Moderne hat sich die Struktur der Wissenschaft gewandelt; sie versteht sich nicht mehr als System notwendigen und ewigen Wissens, sondern als dynamisches Projekt, in den empirischen Wissenschaften als Forschung. Deshalb ist nur noch von wissenschaftlicher Beschäftigung die Rede. Es ist nämlich hochgradig umstritten, ob von den Gegenständen der Metaphysik überhaupt systematisches Wissen im strengen Sinne möglich ist, ob es also noch eine Theorie des Absoluten geben kann. Aber selbst wenn wir das Absolute nicht widerspruchsfrei denken und es nicht nachweisbar erkennen können, ist dennoch eine moderne Metaphysik als Wissenschaft möglich. Die gewählte Formulierung soll also VerfahrensweiA

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sen einschließen, die nicht zu apodiktischen Erkenntnissen führen. Dennoch muss jede Wissenschaft mindestens folgenden Kriterien genügen: – Wahrheitsanspruch: Mit wissenschaftlichen Aussagen sind klar definierte Geltungsansprüche verbunden, in der Regel der Anspruch auf Wahrheit. – Verständlichkeitsanspruch: Wissenschaftliche Aussagen müssen (unter Verwendung geklärter Begriffe) allgemein verständlich formuliert sein. – Intersubjektive Überprüfbarkeit: Wissenschaftliche Aussagen müssen in ihren Begründungen für alle Interessierten nachvollziehbar sein. – Systematische Vorgehensweise: Die Wissenschaft geht methodisch vor; sie folgt in Forschung und Darstellung ausweisbaren Regeln. Das Systematische der Wissenschaft bezieht sich also nicht mehr auf die Gesamtheit aller Resultate, sondern auf die Arbeitsweise. Diese vier Minimalanforderungen gelten auch für die Philosophie. Im Rahmen einer modernen Metaphysik ist dabei vor allem an die folgenden Arten wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Sinnfrage gedacht: die sprachanalytische Klärung der metaphysischen Begriffe, die systematische Entfaltung der metaphysischen Fragen, die transzendentale Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit metaphysischen Wissens sowie die interne und externe Kritik des vorhandenen historischen Wissens der Metaphysik. Auch die radikale Kritik an metaphysischen Aussagen bzw. deren Dekonstruktion wären im Sinne der genannten Arbeitsdefinition als Beitrag zu einer modernen Metaphysik zu verstehen. (c) Die moderne Metaphysik behandelt ihre Fragen nicht aus der Außen-, sondern aus der Innenperspektive, aus der Perspektive der ersten Person Plural. Dafür steht der Ausdruck »uns«. Man kann nämlich über metaphysische Fragen auch aus der Perspektive der dritten Person sprechen. Dann würde die Formulierung lauten: »was alle Menschen absolut betrifft«. Thema wäre dann beispielsweise, was faktisch für den Sinn des Lebens gehalten wird und wie sich die unterschiedlichen Auffassungen erklären lassen, etwa durch soziale Lage, Bildungsgrad, konfessionelle Zugehörigkeit usw. Das ist Aufgabe der empirischen Sozialwissenschaften. Empirisches Wissen und kausale Erklärungen mögen in metaphysische Reflexionen einfließen, ausschlaggebend sind sie nicht. Ziel ist eine intersubjektive 18

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Selbstverständigung, die diskursiv nach überzeugenden Argumenten hinsichtlich des Absoluten sucht. (d) Mit dem Partikel »alle« wird der universalistische Anspruch aufrechterhalten, den implizit bereits die klassische Metaphysik erhob: Metaphysik ist keine Beschäftigung für eine Elite, sondern ein Gespräch, an dem alle Menschen teilnehmen könnten. Zumindest sollten sich metaphysische Überlegungen an ein allgemeines Publikum richten. Ausgangspunkt sind die bestehenden Vormeinungen zum Sinn des Lebens; diese darf man aber keinesfalls unkritisch zugrunde legen. So hätte eine Befragung der Soldaten des Ersten Weltkrieges oder der deutschen Bevölkerung um 1940 sicherlich zu Antworten geführt, die uns nicht nur aus heutiger Sicht, sondern aufgrund allgemeiner philosophischer Reflexionen als völlig falsch erscheinen. In der Metaphysik geht es also nicht darum, was faktisch von einer noch so großen Mehrheit aller Menschen für den Sinn des Lebens gehalten wird, sondern was sich berechtigterweise (also mit dem Anspruch auf ideale Geltung) über den Sinn des Lebens sagen lässt. (e) Am auffälligsten ist die letzte Veränderung: Das Absolute ist nicht mehr Substantiv, auch nicht Subjekt oder Adjektiv, sondern nur noch Adverb (»absolut betreffen«). Es ist kein Objekt, das wir erkennen oder herstellen könnten, sondern eine Art der Bezogenheit oder des Involviertseins. Die Formulierung stützt sich auf Paul Tillich, setzt sich von diesem allerdings explizit ab. Denn für Tillich ist es die Theologie, die sich mit dem beschäftigt, was uns unbedingt angeht. 3 Für ihn unterscheidet sich diese von der Philosophie durch zwei Merkmale. Das erste können wir akzeptieren, das zweite nicht. Erstens würde die Theologie immer vom Christentum ausgehen: Sie betrachte alles aus der Sicht des »Neuen Seins«, das durch Jesus Christus in die Welt kam, und handele vom »logos, der Fleisch wurde«. 4 Demgegenüber sei die Philosophie allgemein; ihr Prinzip sei der universale Logos. Als zweiten Unterschied markiert Tillich: »Die Philosophie beschäftigt sich mit der Struktur des Seins an sich, die Theologie mit dem Sinn des Seins für uns.« 5 Diese Entgegensetzung ist nicht zutreffend. Tillich identifiziert hier die Philosophie offensichtlich mit der klassischen Metaphysik; deren moderne Variante 3 4 5

Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1: 18 u. ö. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1: 32, vgl. ebd. 24. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1: 30. A

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Systematische und historische Einordnung der Sinnfrage

kann sehr wohl den »Sinn des Seins für uns« thematisieren – und im Unterschied zur Theologie, auf allgemeine, universale Weise, also ohne sich auf einen religiösen Standpunkt zu stellen, der sich rational nicht ausweisen lässt. Was ist das, was uns unbedingt (oder absolut) betrifft? Es muss von allen spezifischen Bedingungen der menschlichen Existenz unabhängig sein und so bedeutend, dass es für jedes Individuum eine wichtige Rolle spielt, zumindest unbewusst. Ein Beispiel ist auf jeden Fall der Tod: Wir alle müssen sterben, alle unsere Vorhaben und Wünsche finden an unserem Sterbedatum ihre definitive, aber vom Zeitpunkt her kontingente Grenze. Deshalb ist der Tod ein Phänomen, das uns alle absolut angeht. Über dessen Sinn nachzudenken, gehört insofern zu den Aufgaben der Metaphysik. Die zusammenfassende Formulierung für alle Probleme, die uns absolut betreffen, ist die Frage nach dem Sinn des Lebens.

2.

Andere Zugänge zur Sinnfrage

Der Sinn des Lebens ist nicht nur Gegenstand der Wissenschaften; es gibt auch andere Zugänge zu dem, was uns alle absolut betrifft. Bei einer Typologie dieser Alternativen zur Metaphysik kann man sich an Hegels Lehre vom absoluten Geist orientieren; jeder Gestalt des absoluten Geistes entspricht ein Zugang zum Sinn des Lebens. Allerdings sind einige Revisionen vorzunehmen: Erstens kennt Hegel nur drei Gestalten, hingegen unterscheide ich sechs (inklusive der Philosophie bzw. Metaphysik). Vielleicht ließe sich die Liste sogar noch verlängern. Zweitens konstruiert Hegel eine eindeutige Hierarchie, die zugleich die historische Entwicklung wiedergibt (von der Kunst über die Religion zur Philosophie). Zwar verzichte ich nicht auf eine kritische Prüfung der verschiedenen Zugänge, aber eine klare Stufenfolge ist nicht erkennbar. Faktisch ist es ohnehin so, dass die Metaphysik gegenüber demjenigen, der keine Begründungen hören will, ihren Vorrang nicht nachweisen kann. Das muss für den Einzelnen nicht unbedingt von Nachteil sein; insofern stimmt es nicht, dass »es kein gelungenes Leben ohne Metaphysik gibt«. 6 Drittens sei betont, dass es sich bloß um analytische Abgrenzungen handelt; zwischen den idealtypisch skizzierten Wegen zur Sinnfrage gibt es vielerlei 6

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Überschneidungen. Entscheidend sind im Folgenden die Unterschiede zum wissenschaftlichen Zugang der Metaphysik, also die methodischen Prinzipien der verschiedenen geistigen Gestalten. Es geht nicht um das Wer oder Was oder Warum, sondern um das Wie. (a) Mythos Als Mythen bezeichnet man Erzählungen, die in einer Gemeinschaft von Generation zu Generation überliefert werden. Ursprünglich wurden sie nur mündlich tradiert, erst sekundär schriftlich fixiert. Sie sind oft mit rituellen Handlungen verbunden, eventuell sogar aus diesen hervorgegangen. Die Mythen gehören zum kollektiven Besitz einer sozialen Gemeinschaft und werden von dieser als heilig angesehen. Deshalb darf man sie in der Regel nicht anzweifeln oder verändern. Eine Überprüfung ist auch gar nicht möglich. Denn die mythischen Erzählungen enthalten meistens keine exakten Ortsund Zeitangaben. Die dargestellten Geschehnisse ereigneten sich, wie Eliade betont, in illo tempore, »zu jener Zeit«, nämlich in der entscheidenden Zeit, in der alles »be-gründet« wurde. 7 Man kann deshalb nicht fragen: Wann war das? Die Geschichte, die der Mythos erzählt, ist zugleich unendlich fern und doch gegenwärtig. Ohne Zweifel thematisieren Mythen die großen Fragen der Menschheit; sie sind menschheitsgeschichtlich vielleicht die erste Art und Weise, mit dem umzugehen, was uns absolut betrifft. Eines der Hauptthemen etlicher Mythen ist die Entstehung der Welt (Kosmogonie) und innerhalb dieser die Entstehung des Menschen. Immer wieder werden auch Ursprung und Aufstieg, Verfall und Ende der eigenen Kultur dargestellt. Tod, Leid und Schuld sind Themen des Mythos wie der Metaphysik. Mythen erzählen davon, wie alles so geworden ist, wie es ist. Dadurch erhält alles Bestehende Wert und Sinn. 8 Philosophie und Wissenschaft verstehen sich als Überwindung Vgl. Eliade, Das Heilige und das Profane, 85 ff. (»Der Mythos als exemplarisches Modell«); zur kategorialen Struktur des mythischen Denkens vgl. vor allem Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II: Das mythische Denken; ders., Versuch über den Menschen, 116 ff. 8 Für Leszek Kolakowski (Die Gegenwärtigkeit des Mythos, 104) hat nur der Mythos »die Kraft, die Gleichgültigkeit [= Sinnlosigkeit] der Welt aufzuheben«, vor allem durch eine Deutung der extremsten Erfahrungen unseres Lebens, der Liebe und des Todes. 7

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des Mythos: »Vom Mythos zum Logos« lautet dafür die bekannte Formel. Methodisch wird die narrative Darstellung durch eine diskursive Begründung ersetzt; inhaltlich tritt an die Stelle der vielen Gottheiten das eine Absolute. Sicherlich gibt es keine klare historische Grenze. Man kann sogar zu Recht fragen, ob nicht viele Elemente des mythischen Denkens in der klassischen Metaphysik weitertransportiert wurden. 9 Zudem haben moderne Autoren wie Freud, Lévi-Strauss und Quine ihre eigenen Positionen als Mythen bzw. Mythologie bezeichnet. 10 Das ist aber nicht wörtlich gemeint, sondern nur als Einschränkung des wissenschaftlichen Geltungsanspruchs, als reflexive Einsicht, dass die eigenen Aussagen kein apodiktisches Wissen darstellen und jederzeit widerlegbar sind. Denn in den idealtypischen Begriffen von Mythos und Wissenschaft, die ich verwende, liegen die Unterschiede auf der Hand: Mythen im eigentlichen Sinne sind überhaupt nicht überprüfbar, sie sind oft nicht einmal verständlich, sondern enthalten logische und sachliche Ungereimtheiten, die aber angesichts des heiligen Charakters des Mythos hingenommen werden. Den entscheidenden Punkt, durch den sich Mythos und Metaphysik unterscheiden, hat Hans Blumenberg herausgearbeitet: Blumenberg sieht im Mythos eine Reaktion auf das, was er »Absolutismus der Wirklichkeit« nennt, die furchteinflößende Übermacht und Fremdheit der Welt, in der das ›Mängelwesen‹ Mensch leben muss. Mythen geben eigentliche keine Antworten auf die Frage nach dem Absoluten. Sie sorgen gleichsam im Vorfeld dafür, dass Sinnprobleme gar nicht erst auftauchen können; sie verhindern Fragen. Mythen sind Geschichten, die nicht erzählt werden, »um Fragen zu beantworten, sondern um Unbehagen und Ungenügen zu vertreiben, aus denen allererst Fragen sich formieren können«. 11 Dafür, dass sich daran nichts ändert, sorgt die ständige Präsenz der Mythen in der Kultur der entsprechenden Gesellschaft. Wenn doch einmal jemand nach Die inhaltliche Kontinuität zwischen Mythos und klassischer Metaphysik betont (in kritischer Absicht) Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 355–397. 10 Freud, Studienausgabe I: 529 (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse …, 1932); Lévi-Strauss, Mythologica I: 14, 20 u. ö.; Quine, Von einem logischen Standpunkt, 24, 49 u. ö.; ders., Wort und Gegenstand, 430 ff.; vgl. Wittgenstein, Bemerkungen über Frazers ›Golden Bough‹, 38: »In unserer Sprache ist eine ganze Mythologie niedergelegt.« 11 Blumenberg, Arbeit am Mythos, 204; vgl. ebd. 142 (»Mythen antworten nicht auf Fragen, sie machen unbefragbar.«) u. 219. 9

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einer Erklärung oder Begründung fragen sollte, wird er oder sie gewissermaßen mit einer Geschichte abgespeist, die so gut ist und so direkt mit der kollektiven Identität einer sozialen Gemeinschaft verbunden, dass sich alle weiteren Nachfragen erübrigen. Wir leben heute in einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Das heißt aber nicht, dass das mythische Denken völlig überwunden ist. Zwar haben die alten Mythen für uns oft nur noch eine ästhetische Qualität, aber an deren Stelle sind, ohne dass es uns immer bewusst ist, neue Mythen getreten. Die wichtigste Funktion des Mythos war es immer, Identitäten zu sichern. Außer den kollektiven Mythen einer Gesellschaft gibt es in der Moderne als dem Zeitalter der Individualisierung inzwischen auch individuelle Mythen, die wir uns zur Sicherung unserer Ich-Identität erzählen. Vielleicht existiert eine anthropologische Basis für narrative Konstruktionen dieser Art. Das betrifft auch die Frage nach dem Sinn unseres Lebens. Eine Person mit einer in diesem Sinne mythisch gesicherten Ich-Identität wird sich selbst und ihr Leben nicht in Frage stellen. Das mag eine gesunde Einstellung sein, philosophisch kann man sich damit nicht zufrieden geben. (b) Religion Unter »Religion« verstehe ich das Verhältnis des Menschen zum Heiligen, also zu Entitäten, die die profane Welt sowohl an Macht als auch an Wert übersteigen. Religiöse Menschen haben eine Bindung an eine solche Instanz und versuchen mit ihr zu kommunizieren; sie richten ihre Lebensführung an ihr aus und drücken ihre Verehrung in bestimmten kultischen Handlungen aus. Es gibt sehr unterschiedliche Gestalten von Religion. Insbesondere kann man zwischen nicht-theistischen (kosmozentrischen) und theistischen Religionen unterscheiden, bei diesen darüber hinaus zwischen Polytheismus und Monotheismus. Die drei bekanntesten monotheistischen Religionen sind das Judentum, der Islam und das Christentum; ihre zentrale Annahme ist, dass es ein einziges personales geistiges Wesen gibt (Gott), dessen Vollkommenheit sich in Allmacht, Allwissenheit und umfassender Güte ausdrückt. In der Vormoderne hat es im Abendland immer wieder Versuche gegeben, die Existenz eines solchen Gottes auf Wissen zu gründen. Den Kern dieser Bestrebungen bilden die drei klassischen GottesA

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beweise, der ontologische, der kosmologische und der teleologische. Obwohl es in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Neuauflagen dieser Argumente gegeben hat, muss man feststellen, dass die Einwände, die vor allem Hume und Kant auf den Punkt gebracht haben, nicht widerlegt sind, wenn auch ein apodiktischer Beweis für die Nichtexistenz eines persönlichen Gottes ebenfalls nicht vorliegt. Die moderne Metaphysik wird deshalb die Frage nach dem biblischen Gott ausklammern. Aus diesem methodischen Atheismus folgt aber nicht, dass alle Absolutheitsansprüche aufgegeben werden müssten; andere Formen einer rationalen Letztbegründung von Wissenschaft und/ oder Moral sind auch unter den Prämissen moderner Philosophie nicht von vornherein auszuschließen. Für die Mehrheit frommer Menschen spielten Gottesbeweise ohnehin nie eine wichtige Rolle, faktisch stützte sich Religion immer schon auf Glauben, nicht auf Wissen. Bei der Unterscheidung dieser erkenntnistheoretischen Grundbegriffe kann man sich an Kants entsprechende Erläuterungen anlehnen (vgl. KrV B 850 ff. u. KdU § 91). Umgangssprachlich verwenden wir den Begriff des Glaubens auch im Sinne eines unbegründeten Fürwahrhaltens, das sich als trügerisch erweisen kann (engl. belief). Dafür steht in philosophischen Zusammenhängen meist der Begriff des Meinens. Glaube (engl. faith) ist hingegen eine subjektive Gewissheit ohne intersubjektive Überprüfbarkeit. Der religiöse Glaube ist eine spezifische Form dieses Fürwahrhaltens, die sich durch ihren Bezug auf ein Heiliges oder Absolutes auszeichnet. In einem weiteren Sinne spielt Glaube (faith) für unser alltägliches Leben eine größere Rolle, als wir oft wahrhaben möchten. Denn ohne subjektive Gewissheiten, die prinzipiell nicht überprüfbar sind, wären wir gar nicht lebensfähig; Beispiele sind die Gewissheit, dass mein Leben nicht in akuter Gefahr ist, dass mich nicht alle Menschen betrügen, dass die Welt nicht demnächst untergeht o. ä. Für diese Art des Glaubens kann man auch den tiefenpsychologischen Begriff des Urvertrauens verwenden. Im Unterschied zum Meinen und Glauben ist Wissen, wie bereits erwähnt, eine begründete wahre Überzeugung, die prinzipiell intersubjektiv nachprüfbar ist. Der religiöse Glaube ist sicherlich auch in der Moderne einer der wichtigsten Zugänge zum Absoluten und damit zur Sinnfrage. Oft wird die Frage nach dem Sinn des Lebens sogar allein in den Zuständigkeitsbereich der Religion verwiesen. Das ist historisch falsch. Abgesehen von einer gewissen Vorläuferrolle, die Schleiermacher spielt 24

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(siehe I.8.b), haben sich Theologen mit diesem Thema sogar erst sehr viel später als Philosophen beschäftigt. Auf Seiten der Theologie bestanden wohl zunächst Vorbehalte wegen der Depotenzierung des Absoluten zu dem, was uns absolut betrifft. Zu Recht schreibt etwa Bonhoeffer, dass »Sinn« ein »unbiblische(r) Begriff« sei, »eine Übersetzung dessen, was die Bibel ›Verheißung‹ nennt«. 12 Und der Theologe Sauter warnt, dass die »universal gestellte Sinnfrage« zur »Götzenfrage« werde – weil der Mensch sich anmaße, alles verstehen, ja sogar herstellen zu können. 13 Dennoch ist die Sinnfrage inzwischen auch in der Theologie von zentraler Bedeutung. 14 Das gilt für die beiden großen westeuropäischen Konfessionen. Den Anfang macht der wohl bedeutendste protestantische Theologe des 20. Jahrhunderts, Paul Tillich. 1917/18 erlebte er die schrecklichen Geschehnisse des Ersten Weltkriegs an der Westfront; dadurch tritt für ihn das Theodizeeproblem immer stärker in den Vordergrund. In einem Brief an Emanuel Hirsch vom 9. 5. 1918 heißt es: »Das Göttliche ist Sinn, nicht Sein« und »Ich lehre also einen Monismus des Sinnes«. 15 Das wird besonders deutlich in exoterischen Äußerungen Tillichs, wie in seinen Oster- und Weihnachtspredigten aus den zwanziger Jahren. 16 Systematisch hat er einen sinntheoretischen Begriff der Religion vor allem in der »Religionsphilosophie« von 1925 entwickelt: »Religion ist Richtung des Geistes auf den unbedingten Sinn«. 17 In späteren Schriften aus der Zeit des Exils ist Tillichs Fundamentalkategorie nicht mehr »Sinn«, sondern »Sein«; dass er die Theologie als Beschäftigung mit dem »Sinn des Seins für uns« bezeichnete, wurde bereits erwähnt. Für die katholische Seite kann man auf eine Schrift des jetzigen Papstes Benedikt XVI. verweisen, die »Einführung in das Christentum« von 1968: Ratzinger erwägt den Begriff des Sinns als Übersetzung sowohl für das aus dem HeBonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 210 (Brief vom 21. 8. 1944). Sauter, Was heißt: nach Sinn fragen?, 163; vgl. die Rezension von R. Schröder, Der Sinn der Sinnfrage, 121–136. 14 Einige Beispiele: Machovec, Vom Sinn des menschlichen Lebens (zuerst 1957); Gollwitzer, Krummes Holz – aufrechter Gang (1970); Pöhlmann (Hg.), Worin besteht der Sinn des Lebens? (1985); M. Heller, Der Sinn des Lebens und der Sinn des Universums (2006). 15 Zit. nach Barth, Religion in der Moderne, 93. Eine von Tillichs Quellen war vielleicht der Rembrandt-Aufsatz von Simmel (ebd. 95). 16 Tillich, Der Glaube an den Sinn (ca. 1927), 105–112. 17 Tillich, Religionsphilosophie, 329. 12 13

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bräischen stammende Amen wie für das griechische Wort ›Logos‹. 18 Mit dem christlichen Glauben, so Ratzinger weiter, vertraue man sich einem Sinn an, der alles trägt, den man nicht machen, sondern nur empfangen kann. Das christliche Glaubensbekenntnis ließe sich auf folgende Kurzfassung bringen: »Ich glaube an Dich, Jesus von Nazareth, als den Sinn (›Logos‹) der Welt und meines Lebens.« 19 Obwohl den Religionen das Privileg, etwas zur Frage nach dem Sinn des Lebens sagen zu dürfen, bestritten werden muss, ist klar, dass man aus dem Glauben heraus einen Sinn finden kann, der ungewöhnlich sicher und kraftspendend ist. Es seien zwei Belege aus Kriegszeiten angeführt. Ludwig Wittgenstein hat in seinen Tagebüchern, die er als Soldat im Ersten Weltkrieg verfasste, den Sinn des Lebens direkt mit Gott verbunden: »Den Sinn des Lebens, d. i. den Sinn der Welt, können wir Gott nennen.« (11. 6. 1916) Und weiter: »An einen Gott glauben heißt, die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. An einen Gott glauben heißt sehen, daß es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist. An Gott glauben heißt sehen, daß das Leben einen Sinn hat.« (8. 7. 1916) 20 In seine Publikationen hat Wittgenstein allerdings diese Formulierungen nicht aufgenommen. Geradezu erschütternd sind die Ausführungen, die sich in den Briefen des inhaftierten Dietrich Bonhoeffer finden. Die Frage nach dem Sinn sei zwar, wie er schreibt, »oft belastend«. 21 Dennoch war Bonhoeffers Glaube ungebrochen, der Glaube an Jesus Christus: »Ich glaube, daß mir nichts Sinnloses widerfährt, und daß es für uns alle gut so ist, wenn es auch unseren Wünschen zuwiderläuft.« 22 Einen solchen Glauben kann man bewundern, ein philosophisches Argument ist er offensichtlich nicht. Ein weiterer möglicher Zugang soll hier als Exkurs behandelt werden: Es ist das von Michael Theunissen so bezeichnete vormetaphysische Denken. 23 Im Gegensatz zum nachmetaphysischen DenRatzinger, Einführung in das Christentum, 50. Ratzinger, Einführung in das Christentum, 53; vgl. ebd. 47 f., 153, 299 f. u. ö.; vgl. Ratzinger, Vom Sinn des Christseins (1966). 20 Wittgenstein, Werke 1: 167 f. 21 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 158 (19. 5. 1944). 22 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 147 (9. 5. 1944); vgl. einen seiner letzten Briefe vom 21. 8. 1944: »Wenn die Erde gewürdigt wurde, den Menschen Jesus Christus zu tragen, wenn ein Mensch wie Jesus gelebt hat, dann und nur dann hat es für uns Menschen einen Sinn zu leben. Hätte Jesus nicht gelebt, dann wäre unser Leben trotz aller anderen Menschen, die wir kennen, verehren und lieben, sinnlos.« (210) 23 Theunissen, Vormetaphysisches Denken, 23–46; vgl. ders., Pindar (2002). 18 19

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ken, das die Metaphysik im 20. und 21. Jahrhundert überwunden wähnt, greift dieses zurück auf die Epoche vor der Herausbildung der Metaphysik, auf die Zeit vor Platon oder sogar vor Thales. Einen ähnlichen Schritt propagierte wohl zuerst Nietzsche in seiner Tragödienschrift, ihm folgten in dieser Hinsicht Klages, der späte Heidegger und viele andere. Theunissen sieht die große Stärke des vormetaphysischen Denkens darin, dass in ihm Metaphysik und Religion noch nicht getrennt sind. Bei Dichtern wie Pindar lassen sich der rationale Zugang zum vollkommenen Sein und die Erfahrung eines lebendigen Göttlichen nicht unterscheiden; das Göttliche zeige sich innerhalb dieser Welt, etwa beim Umschlag negativer Widerfahrnisse in positive Erfahrungen oder in der Zerbrechlichkeit eines zeitlich begrenzten Glücks. In späteren Epochen, so Theunissen im Anschluss an Heidegger, haben daran bestenfalls andere Dichter wie Hölderlin angeknüpft. Aber es ist fraglich, ob in der Moderne die Differenzierungen zwischen Metaphysik und Religion, zwischen Wissen und Glauben wieder rückgängig gemacht werden können. Selbst wenn dies möglich sein sollte, wäre das vormetaphysische Denken nur eine weitere Alternative zu der modernen Metaphysik, um die es in dieser Arbeit gehen soll. Schließlich verweisen die Beispiele, die Theunissen für vormetaphysisches Denken und dessen Fortsetzung gibt, auf eine andere Alternative, die jetzt behandelt werden soll: die Kunst. (c) Kunst Mit »Kunst« meine ich alle ästhetischen Gebilde, die man diesem Begriff heute in alltagssprachlicher und philosophischer Redeweise subsumiert. Dieser Kollektivsingular ist typisch modern; erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts unterscheidet man die schönen (und heute nicht mehr nur schönen) Künste von den mechanischen, nützlichen und freien Künsten. Modern ist ebenfalls die Auffassung, in den Künsten einen Zugang zum Absoluten zu sehen. Ein krasser Gegenbeleg aus früheren Zeiten ist Platons Kritik an Malerei und Dichtkunst. Einer der ersten wichtigen Philosophen, der die Kunst sogar über das Denken stellt, ist Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. In seinem »System des transzendentalen Idealismus« (1800) heißt es in einem der letzten Abschnitte, »daß die Kunst das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Dokument der Philosophie sei, welches immer und fortwährend aufs neue bekundet, was die PhiA

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losophie äußerlich nicht darstellen kann … Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß.« 24 Noch deutlicher spricht es Schopenhauer aus: Philosophie und Kunst versuchen, das »Problem des Daseyns zu lösen« bzw. »die Frage: ›Was ist das Leben?‹« zu beantworten. 25 Man kann sagen, dass die Mehrheit der großen Denker des 20. Jahrhunderts der Kunst einen privilegierten Zugang zum Absoluten zubilligte: Dewey und Rorty, Heidegger und Gadamer, Benjamin und Adorno, Lyotard und Derrida. Dass man sich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens an die Kunst wenden solle, kann allerdings dreierlei bedeuten: Erstens kann gemeint sein, dass der Sinn des Lebens in der ästhetischen Produktion liege, also in einer autonomen und möglichst niveauvollen künstlerischen Tätigkeit; nur diese habe einen absoluten Wert. Eine solche Aufforderung, zum Künstler zu werden, gehört in das Kapitel »Ethik als Metaphysik«; darauf wird in Kap. III.2.1. einzugehen sein. Die zweite Variante besagt, dass wir den Sinn des Lebens nur in einer ästhetischen Einstellung erfahren können. Sowohl die wissenschaftliche Perspektive wie eine moralische Haltung sind unzureichend; aus ihnen wird das Dasein immer als wertlos erscheinen. Wir benötigen vielmehr eine alternative Einstellung, eben die ästhetische. Das wird an einigen Stellen von Nietzsche suggeriert: »nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt«. 26 Auch darauf wird zurückzukommen sein (IV.3.c). Andere Philosophen formulieren vorsichtiger: An bedeutenden Kunstwerken und an der schönen Natur können wir ästhetische Erfahrungen machen, die uns etwas über den Sinn des Ganzen vermitteln, was die diskursive Sprache nicht zu sagen vermag. Der metaphysische Sinn wäre also jenseits des sprachlichen Sinns, zumindest dem der üblichen sprachlichen Aussagen. Drittens schließlich kann gemeint sein: Wer etwas über den Schelling, Sämmtliche Werke I/3: 627 f. Schopenhauer, ZA IV: 479 (Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Bd., Kap. 34: »Ueber das innere Wesen der Kunst«). 26 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, 5 (1872, KSA I: 47 = S I: 40), vgl. ebd., 24 (KSA I: 152 = S I: 131) u. Versuch einer Selbstkritik, 5 (KSA I: 17 = S I: 14, 1887). 24 25

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Sinn des Lebens erfahren möchte, solle sich an Künstler wenden. In der Moderne haben tatsächlich viele Künstler metaphysische Ambitionen gehabt; aus allen Gattungen und Richtungen lassen sich dafür Beispiele nennen: in der Literatur von Goethe und Schiller über Tolstoi und Dostojewski bis zu Beckett und Borges; in der Musik von Beethoven über Wagner und Mahler bis Messiaen; in der bildenden Kunst von Caspar David Friedrich über Franz Marc und Barnett Newman bis Joseph Beuys; in der Filmkunst von Ingmar Bergman über Andrej Tarkowski bis Woody Allen. Ein besonders interessanter Fall ist Giorgio de Chirico mit seiner pittura metafisica (metaphysischen Malerei). So wird der Stil genannt, in dem er zwischen 1911 und 1919 mehrere berühmte Bilder malte, etwa »Der große Metaphysiker« (1916) und »Großes metaphysisches Interieur« (1917). Unter dem programmatischen Titel »Wir Metaphysiker« schreibt de Chirico 1919: »Schopenhauer und Nietzsche lehrten als erste, welche profunde Bedeutung der Nicht-Sinn des Lebens hat. Sie lehrten auch, wie dieser Nicht-Sinn in Kunst umgesetzt werden könnte … Die guten neuen Künstler sind Philosophen, welche die Philosophie überwunden haben.« 27 De Chirico möchte also explizit das Erbe der Philosophie antreten. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden. Selbstverständlich können Künstler sich zu metaphysischen Fragen äußern; ob sie allerdings kraft ihrer ästhetischen Kreativität dazu eine besondere Kompetenz besitzen, wage ich zu bezweifeln. Wenn man nämlich Manifeste, Stellungnahmen oder Selbsterläuterungen von Künstlern liest, wird der philosophisch Interessierte meistens enttäuscht sein. Ein deutlicher Beleg dafür ist eine private Umfrage, die im Jahr 1962 stattfand, aber erst über 40 Jahre später veröffentlicht wurde. 28 Die damals 17-jährige Silke Siegel schreibt an bekannte deutschsprachige Schriftsteller. Die fünfzehn Antworten, die sie erhält, sind aus philosophischer Sicht nichtssagend; insofern kann man verstehen, dass die Briefe auf dem Dachboden landeten und erst einige Jahrzehnte später wieder auftauchten. Beispielsweise wird von keinem der Autoren der Begriff des Sinns differenzierend behandelt. Mehrfach findet sich die bekannte, aber letztlich wenig aussagekräftige Formel, dass das Leben den Sinn habe, den man ihm selbst gibt. Walter Jens verweist auf die Kleinigkeiten des Lebens; Luise Rinser auf die große 27 28

de Chirico, Wir Metaphysiker (1919), 38. »Hat das Leben einen Sinn?«, in: »Die Zeit« vom 7. 4. 2004, S. 49 f. A

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»Liebesordnung«, deren Teil wir alle seien; Carl Zuckmayer schickt als Antwort sein berühmtes Drama »Des Teufels General« 29 . Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet die deutliche, sich auch in den Großbuchstaben ausdrückende Antwort des alten Dadaisten Raoul Hausmann, »soweit ich jemals sehen konnte, hat das Leben KEINEN Sinn«. Immerhin gestehen die meisten Autoren ihre Unsicherheit und das Unzureichende ihrer Antworten ein. Wie dem auch sei, wer im eigentlichen Sinne etwas über den Sinn des Lebens wissen möchte, wer sich für eine kritische und argumentative Behandlung der Sinnfrage interessiert, der sollte sich nicht an die Kunst oder an Künstler wenden, sondern an die Metaphysik. (d) Weltanschauungen Das Wort »Weltanschauung« entstand, wie die Rede vom »Sinn des Lebens«, um 1800 im Umkreis der Romantik und erlebte im 19. Jahrhundert eine großartige Karriere. In einem weiten Sinne kann man das handlungsorientierende Weltbild, das wahrscheinlich jedes Individuum besitzt, so bezeichnen. Im engeren Sinne meint der Begriff eine Theorie des Ganzen auf empirisch-wissenschaftlicher Grundlage, aus der sich Maßstäbe für unser Handeln und darüber hinaus Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens ableiten lassen. Solche Weltanschauungen entstanden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, nachdem die christliche Religion und die klassische Metaphysik (mit dem deutschen Idealismus als einem der letzten Ausläufer) ihre Überzeugungskraft verloren hatten. In ihrem Anspruch, alles erklären zu können, in ihrer Verknüpfung von deskriptiven und norZuckmayer denkt wohl vor allem an eine Textstelle im ersten Akt. Zu nächtlicher Stunde richtet sich dort der General Harras an den jungen Flieger Hartmann, der unglücklich verliebt ist und sich am Ende als eine der wenigen anständigen Gestalten erweist: »Ich aber sage Ihnen, das Leben ist schön. Die Welt ist wunderbar. Wir Menschen tun sehr viel, um sie zu versauen, und wir haben einen gewissen Erfolg damit. Aber wir kommen nicht auf – gegen das ursprüngliche Konzept. Woher das stammt – das weiß ich nicht. Ich bin kein Denker, und kein Prophet. Ich bin ein Zeitgenosse. Ein Techniker, ein Soldat. Aber ich weiß – das Konzept ist gut. Der Plan ist richtig, der Entwurf grandios. Und der Sinn heißt – nicht: Macht. Nicht: Glück. Nicht: Sättigung. Sondern – die Schönheit. Oder – die Freude. Oder beides. Nennen Sie es von mir aus, wie Sie wollen – vielleicht gibt es kein Wort dafür. Es ist das, was wir in unsren besten Stunden ahnen, und besitzen. Und dafür – nur dafür – leben wir überhaupt.« (Zuckmayer, Des Teufels General, 70 f.)

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mativen Aussagen und ihrer sozialen Funktion gleichen die Weltanschauungen der Religion. Wissenssoziologisch wird deshalb zwischen beiden gar nicht unterschieden. Aus philosophischer Sicht besteht die Differenz darin, dass sich Weltanschauungen nicht auf Glauben (faith) stützen, sondern passend zur wissenschaftlichen Zivilisation, in der wir leben, auf empirisch-wissenschaftliches Wissen. Das erste Beispiel einer modernen Weltanschauung ist wahrscheinlich der Positivismus von Auguste Comte. In seinem berühmten Drei-Stadien-Gesetz wird die Religion durch die Metaphysik überwunden und diese schließlich durch die Wissenschaft; die wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte könne uns die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft zeigen und lehren, wie das Individuum sich dieser unterzuordnen habe. Ein deutsches Pendant dazu ist die seit den 1850er Jahren aufblühende induktive Metaphysik, die durch eine Zusammenschau des empirischen Wissens zu einer neuen Gesamtsicht der Wirklichkeit gelangen möchte. Ein populärer Vertreter dieses weltanschaulichen Positivismus ist Ludwig Büchner (der Bruder des berühmten Schriftstellers). Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wird konstatiert, dass es Weltanschauungen im Plural gebe und diese deshalb immer miteinander im Streit liegen. Dilthey zieht daraus die Konsequenz, sich gegenüber allen Positionen neutral zu verhalten und diese in eine übersichtliche Typologie zu bringen – was aus Sicht seiner Kritiker selbst wiederum nur eine bestimmte Weltanschauung war. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, vor allem in der Weimarer Republik, kommt es in Deutschland zu einer Vervielfältigung der Weltanschauungen; solche wurden aus fast allen Wissenschaften und Pseudo-Wissenschaften abgeleitet. Erwähnt seien nur die Energetik von Wilhelm Ostwald, der dritte Humanismus von Werner Jaeger und die Anthroposophie Rudolf Steiners. Durchgesetzt haben sich schließlich zwei totalitäre Weltanschauungen, zum einen der Nationalsozialismus, zum anderen der Marxismus-Leninismus. In beiden wurde beansprucht, etwas zum Sinn des Lebens sagen zu können. Für einen Nationalsozialisten liegt der Sinn des Lebens darin, dem Führer zu folgen, um Volk und Rasse zu dienen, auch unter Opferung des eigenen Lebens. 30 Ein beDie nationalsozialistische Weltanschauung kann man philosophisch sehr gut rekonstruieren durch Synopse einiger Einträge im 1943 erschienenen »Philosophischen Wörterbuch« (hg. von W. Schingnitz u. J. Schondorff); zum Charakter des Nationalsozialismus als »totalitärer Metaphysik« vgl. Safranski, Wahrheit, 235–253.

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zeichnendes Beispiel aus der Nazi-Kunst ist das Ende des Propaganda-Films »Kolberg« (1945): Nachdem der Ansturm der napoleonischen Truppen erfolgreich abgewehrt wurde, sagt der Bürgermeister (gespielt von Heinrich George) zu seiner Patentochter (Kristina Söderbaum), die während der Kämpfe ihren Vater, ihre Brüder und ihren Geliebten verloren hat, dass dennoch alles einen Sinn gehabt habe. – Der Marxismus-Leninismus lehnte metaphysische Fragen zunächst ab; umso bemerkenswerter ist es, dass das Buch, das man seit 1983 in der DDR zur Jugendweihe geschenkt bekam, »Vom Sinn unseres Lebens« hieß. Dieser, so kann man zusammenfassen, bestehe darin, sich allseitig zu entwickeln, um eine sozialistische Persönlichkeit zu werden, die sich durch nützliche Arbeit und politischen Kampf unter Führung der SED am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft beteiligt. 31 Ob an die Stelle dieser beiden totalitären Weltanschauungen inzwischen neue getreten sind und welches Gewicht diese in modernen Gesellschaften haben, kann hier nicht untersucht werden. Aus philosophischer Sicht lassen sich aber gegen alle Weltanschauungen im engeren Sinn drei durchschlagende Argumente vorbringen. Erstens sind diese bereits auf der empirischen Ebene einer Fülle von Einwänden ausgesetzt. Um noch einmal zu dem beiden obigen Beispielen zurückzukehren: Die gesamte Menschheitsgeschichte als Geschichte von Klassenkämpfe oder als Kampf ums Dasein zu deuten, mag dem unbedarften Anhänger dieser Weltanschauung das Gefühl vermitteln, einen Schlüssel zum Verstehen des Ganzen in der Hand zu haben. Bei näherer Betrachtung erweisen sich die weltanschaulichen Ansätze aber als weniger überzeugend; eine vorurteilsfreie Betrachtung der Dinge fördert in der Regel eine Fülle von Gegenbelegen zu Tage. Zweitens verkennen Weltanschauungen den wissenschaftstheoretischen Status empirischen Wissens. Selbst in den am besten bestätigten physikalischen Theorien handelt sich es letztlich um hypothetische Annahmen, die jederzeit zu Fall gebracht werden können. Das gilt sogar für formale Wissenschaften wie Logik und Mathematik. Wegen dieses Fallibilismus kann die moderne Wissenschaft nicht das von Weltanschauungen beanspruchte unerschütterliche Fundament liefern. Aber selbst wenn die beiden ersten Einwände nicht stichhaltig wären, also die empirische Validität und wissenschaftstheoretische Gewissheit gesichert sind, würde man drittens mit der 31

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Oppermann (Hg.), Vom Sinn unseres Lebens, 209 ff., 220, 231 ff., 246, 255 ff.

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Ausdehnung auf normative Aussagen einen Sein-Sollens-Fehlschluss begehen. Auch aus sicheren Prognosen über den künftigen Lauf der Dinge kann man nämlich nicht ableiten, dass man sich diesem zu unterwerfen oder ihn voranzutreiben habe. Das wäre nur dann ein gültiges Argument, wenn der Lauf der Dinge bejahenswert ist, was separat begründet werden müsste. Die Sinnfrage geht, wie gleich zu erläutern sein wird, sogar von dieser Kluft zwischen Sein und Sollen aus. (e) Weisheit Kant unterschied, wie bereits erwähnt, zwischen Schul- und Weltphilosophie, zwischen Philosophie als Wissenschaft und Philosophie als Weltweisheit. Es gibt aber noch einen dritten Begriff der Philosophie, den Kant vielleicht deshalb nicht ergänzte, weil er, trotz einiger Ansätze vor allem in der Antike, eher in anderen Kulturen wie in Asien zu finden ist: Philosophie als Lebensform. Der entsprechende Zugang zum Absoluten ist an eine konkrete Person gebunden und an deren Weisheit. Weisheit in diesem Sinne beruht auf Erfahrungen mit dem Absoluten, aber diese werden nicht in sprachlicher Form dargestellt, weder diskursiv wie in der Metaphysik noch narrativ wie in Mythen, auch nicht in ästhetischen oder religiösen Symbolen. Auf Thesen und Argumente wird ganz verzichtet; an deren Stelle tritt das vorbildlich gelebte Leben sowie der charismatische Charakter des Weisen. Solche Menschen hat es zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben. Erinnert sei an die Weisen des klassischen Griechenland; Sokrates ist die Gestalt, die die Einheit von Weisheit und wissenschaftlichem Philosophieren markiert. Das wird auch von Kant so gesehen (Logik A 24 u. 34 = VI: 447 u. 453). Während sich im Abendland die wissenschaftliche Form des Philosophierens institutionalisierte, blieben im Morgenland die weisheitlichen Traditionen stärker erhalten. Zwar entwickelten sich auch in Asien (und vielleicht ebenso in anderen Weltregionen) geistige Systeme, die den oben formulierten Kriterien der Wissenschaftlichkeit gerecht werden. Nichtsdestotrotz ist die soziale Rolle des Weisen in den kulturellen Traditionen Indiens und Chinas sehr viel präsenter als in der europäisch geprägten Welt. Eine Bestätigung dafür ist der Umstand, dass es in Indien und China (die beide nach Größe, Vielfalt und Bevölkerungszahl kein Land, sondern eher ein mit A

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Europa vergleichbarer ganzer Kontinent sind) überhaupt keinen originären Begriff der Philosophie gegeben hat. So wurde etwa in China erst in jüngerer Zeit aus dem Japanischen der Ausdruck zhexue übernommen, der eben mit »Weisheitslehre« zu übersetzen wäre. 32 Weise in diesem Sinne gibt es auch noch in der Moderne. Besonders Indien scheint reich an solchen Personen zu sein. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist Ramana Maharshi (1879–1950). 33 1896, im Alter von 16 Jahren, soll Maharshi eine mystische Erfahrung gemacht haben, die ihn dazu bewog, sein normales Leben zu beenden und sich schweigend in die Wildnis zurückzuziehen. Die Zurückgezogenheit und Einsamkeit nutzte er für meditative Übungen, die dazu dienen sollten, zur ursprünglichen Einheit (advaita) zu finden. Er schwieg die meiste Zeit und lebte von zunächst kärglichen Zuwendungen. Aber im Laufe der Jahre und Jahrzehnte bildete sich um ihn ein Schülerkreis, der immer größer wurde und auch Menschen aus anderen Kontinenten anzog. Es gibt zwar Bücher, die unter seinem Namen veröffentlicht wurden, aber diese enthalten nur die von anderen aufgezeichneten Antworten Maharshis auf Fragen, die ihm häufig gestellt wurden. Im Grunde kann die Lehre dieses Mannes nur praktiziert werden, durch Meditation. Die charismatische Ausstrahlung seiner Person lässt sich nicht bestreiten; viele Menschen haben durch ihn einen Sinn im Ganzen finden können. Ein Beispiel dafür, wie dieser Mann sogar noch nach seinem Tod wirken konnte, gibt Carl Friedrich von Weizsäcker. Zwanzig Jahre nach dessen Tod brachte ihn einer von Maharshis Schülern, der Philosophieprofessor T. M. P. Mahadevan, zu dessen Wirkungsstätte. Weizsäcker schildert mit eindringlichen Worten, was ihm hier widerfuhr: »Als ich die Schuhe ausgezogen hatte und im Ashram vor das Grab des Maharshi trat, wußte ich im Blitz: ›Ja, das ist es.‹ Eigentlich waren schon alle Fragen beantwortet. … Das Wissen war da, und in einer halben Stunde war alles geschehen. Ich nahm die Umwelt noch war, den harten Sitz, die surrenden Moskitos, das Licht auf den Steinen. Aber im Flug waren die Schichten, die Zwiebelschalen durchstoßen, die durch Worte nur anzudeuten sind: ›Du‹ – ›Ich‹ – ›Ja‹. Tränen der Seligkeit. Seligkeit ohne Tränen. Ganz behutsam ließ die Erfahrung mich zur Erde zurück. Ich wußte nun, welche Liebe der Sinn der irdischen Liebe ist. Ich wußte alle Gefahren, alle Schrecken, aber in dieser

Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, 17 f. Vgl. Zimmer, Der Weg zum Selbst. Lehre und Leben des Shri Ramana Maharshi (zuerst 1944).

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Andere Zugänge zur Sinnfrage

Erfahrung waren sie keine Schrecken. … Ich war jetzt ein völlig anderer geworden: der, der ich immer gewesen war.« 34

Auch Weisheit bzw. Weisheitslehren mögen also ein Zugang zum Absoluten sein. Aus philosophischer Sicht sind aber die Differenzen zur modernen Metaphysik deutlich zu machen: Die meisten Aussagen der Weisen bleiben explizit an ihre jeweiligen Sprecher und ein ausgewähltes Publikum gebunden; es wird keine universale Plausibilität beansprucht, sondern esoterisches Wissen weitergegeben. Ein Symptom ist die Verehrung der jeweiligen Denker als Meister, für die im Chinesischen eine Silbe steht, die in den Transkriptionen mit -zi, -tse, -dzu, -dsi o. ä. wiedergegeben wird. In Indien soll der Schüler sich ganz dem Lehrer anvertrauen, in dessen Haushalt aufwachsen und auf jede Kritik verzichten. 35 Auch vom japanischen Zen-Buddhismus wird oft behauptet, dass er eher eine Lebensform und schon gar keine Philosophie sei. 36 Weil zudem viele wichtige Textstellen der östlichen Klassiker unklar sind und ohne Begründung vorliegen, sind zwei weitere Merkmale einer wissenschaftlichen Vorgehensweise, an die sich die moderne Metaphysik halten möchte, nicht erfüllt. – Das Fazit dieses Abschnitts lautet: Es gibt außer der modernen Metaphysik, die sich den Kriterien wissenschaftlichen Philosophierens unterstellt, noch andere Zugänge zum Absoluten, die sich nicht in ihrer Zielsetzung und in den Inhalten, sondern in ihrem methodischen Vorgehen und ihrer kommunikativen Form voneinander unterscheiden: die Verdrängung von Sinnfragen durch die narrativen Konstruktionen des Mythos, die unüberprüfbare subjektive Gewissheit eines absoluten Sinns im religiösen Glauben, die ästhetische Erfahrung eines diskursiv nicht darstellbaren Sinns, die empirischwissenschaftlich gestützten Sinngewissheiten der (totalitären) Weltanschauungen sowie die in einer charismatischen Person verkörperte Lebensweisheit. Nur die Weltanschauungen stellen sich auf die Stufe der Wissenschaften und können deshalb definitiv zurückgewiesen werden. Auch die anderen Wege zum Absoluten sind nicht jeder Kritik entzogen, aber sie konkurrieren nicht direkt mit der modernen Metaphysik. Allerdings ist die Wahl zwischen den verschiedenen Zugängen auch nicht beliebig, denn sie ist bedingt durch gesellschaftli34 35 36

Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, 443 f. Zimmer, Philosophie und Religion Indiens, 56 ff. Suzuki, Die große Befreiung, 35, 75, 80, 109 u. ö. A

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che Umstände und sozialisatorische Zufälle, Begabung und persönliches Temperament. Wer als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens anderes will als eine Erzählung oder einen Glauben, ästhetische Erfahrungen oder eine personal verkörperte Weisheit (die sich alle argumentativ nicht ausweisen lassen), nämlich begründetes Wissen, der ist gut beraten, sich an die Philosophie zu wenden.

3.

Paradigmen der Philosophie

Nachdem die Metaphysik von nicht-wissenschaftlichen Zugängen zum Absoluten abgegrenzt wurde, nehme ich nun innerhalb der Philosophie eine Einteilung vor. Diese dient dazu, die Grundlage dieser Studie deutlich herauszustellen und fruchtbare Vergleichsmöglichkeiten für die folgenden Teile zu gewinnen. Die zahllosen Ansätze und Konzeptionen des modernen Philosophierens lassen sich zu drei Hauptströmungen zusammenfassen. 37 Die Unterscheidung dieser drei Positionen geht auf Kant zurück (KrV B 166 ff.; vgl. KrV B 789 ff. u. B 881 ff.). Im letzten Paragraphen der Transzendentalen Deduktion der B-Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« nennt er drei prinzipiell mögliche philosophische Positionen: (a) Begriffe sind in unserer Erfahrung begründet; (b) Begriffe machen Erfahrung erst möglich; (c) Begriffe und Realität stimmen von vornherein überein. Später findet sich eine entsprechende Unterscheidung bei Trendelenburg. 38 Dilthey hat daraus eine wirkungsmächtige Typologie von Weltanschauungen entwickelt, die er auf die gesamte Geistesgeschichte der Menschheit anwenden möchte: Naturalismus, Idealismus der Freiheit, objektiver Idealismus. 39 Die drei Ansätze sollte man nicht, wie es oft fälschlicherweise geschieht, ontologisch oder genetisch verstehen, sondern geltungsbzw. argumentationstheoretisch, als fundamentale Möglichkeiten des philosophischen Denkens in der Neuzeit. In Anlehnung an die

Darauf hat Vittorio Hösle an verschiedenen Stellen hingewiesen, vor allem in ders., Begründungsfragen des objektiven Idealismus, 235 ff.; vgl. ders., Wahrheit und Geschichte, 96–107; ders.: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, 205–208. 38 Vgl. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 107–121, bes. 109. 39 Dilthey, GS VIII: 92 u. 99 ff. (Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, 1911), vgl. auch IV: 528–554, V: 402–404 u. VII: 296. 37

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Sprache der neueren Wissenschaftstheorie handelt es sich um drei metatheoretische Paradigmen (die allerdings nicht inkommensurabel sind) bzw. um die harten Kerne von drei philosophischen Denkprogrammen. Im Folgenden skizziere ich kurz einige Hauptmerkmale der drei Positionen und nenne auch einzelne Untertypen, vor allem die entsprechenden skeptizistischen oder relativistischen Varianten. Da es sich um eine idealtypische Konstruktion handelt, sind alle Zuordnungen von Namen oder Werken mit Einschränkungen zu versehen. Das erste Paradigma ist der Empirismus. Dieser ist eine Variante des Realismus, denn die fundamentale Prämisse des Empirismus lautet, dass es eine von uns unabhängige Realität gibt, von der wir Erfahrungen machen; in diesen Erfahrungen sind unsere Begriffe begründet. Da diese Realität in der Moderne in der Regel als materielle angesehen wird, tendiert der Empirismus ontologisch zum Materialismus. Das Bewusstsein bzw. die Sprache werden gleichsam als Spiegel angesehen, mit denen wir die Realität möglichst genau wiedergeben sollten. Wahrheitstheoretisch wird deshalb meistens eine Korrespondenztheorie vertreten. Als wichtige Vertreter dieses Paradigmas aus unterschiedlichen Epochen seien genannt: Demokrit, Hobbes, Hume, die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts, aus jüngerer Zeit vor allem Russell. Innerhalb dieses Paradigmas lassen sich verschiedene Positionen unterscheiden. Die erste ist der naive Realismus der Alltagserfahrung, der auch genetisch am Anfang des Erkenntnisprozesses steht. Hier zählt allein die Erfahrung, die ich mit meinen Sinnen von der Wirklichkeit machen kann. Eine Weiterentwicklung ist der wissenschaftliche Realismus: Real ist das, was die Wissenschaften durch empirische Forschung feststellen. Radikale Empiristen wie Hobbes haben versucht, auch Logik und Mathematik auf Erfahrung zurückzuführen, als Abstraktionen aus der sinnlichen Wahrnehmung. Die Konsequenz aus dem Scheitern dieser Versuche zieht der Logische Empirismus, wie er vor allem im Wiener Kreis konzipiert wurde: Es gibt nicht nur die empirischen Aussagen der Wissenschaften, sondern auch die formalen Sätze aus Logik und Mathematik, in Kants Sprache: synthetisch-aposteriorische und analytisch-apriorische Urteile (kurz: empirische und logische Aussagen). Gegen den Empirismus richten sich die skeptischen Argumente, die zum großen Teil seit der Antike bekannt sind und in der frühen Neuzeit weiterentwickelt wurden. Es seien zwei genannt: Erstens A

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kann ein reinen Empirismus, wie zuerst Hume zeigte und Kant bereits als Prämisse akzeptierte (KrV B 3), wegen des Induktionsproblems letztlich überhaupt keine allgemein gültigen Aussagen begründen. Zweitens ist die empiristische Annahme, dass es eine von uns unabhängige Außenwelt gebe, weder empirisch noch logischmathematisch begründbar. Wenn man zu der Einsicht gelangt, dass wir mit unserem Bewusstsein nicht über unser Bewusstsein und mit der Sprache nicht über die Sprache hinauskommen, wird der (Logische) Empirismus zu einem Phänomenalismus, der die Außenwelt prinzipiell für unerkennbar hält oder sogar ihre Existenz bestreitet. Im klassischen Empirismus wird dieser Schritt von Berkeley vollzogen; vergleichbare Ansätze finden sich in den postmodernen Theorien der Simulation. Das zweite Paradigma, dem ich mich in dieser Arbeit anschließen möchte, ist der subjektive Idealismus. Dieser kann die eben vorgetragene Skepsis durch folgendes Königsargument beseitigen: Selbst derjenige, der alles bezweifelt, letztlich sogar die Existenz der Welt, setzt immer noch etwas voraus, nämlich den Akt des Zweifelns. Auch kritische und destruktive Argumente bleiben Argumente, die sich an allgemeinen Kriterien orientieren müssen, um triftig zu sein. Im Unterschied zu den induktiven Argumenten des Empirismus (die, wie gesagt, nicht allgemein gültig sind) und zu den deduktiven Argumenten der Logik (die nicht über Tautologien hinausführen) stützt sich der subjektive Idealismus auf reflexive Argumente der vorgeführten Art. Wenn solche Reflexionen zu universal gültigen, nicht mehr bestreitbaren Voraussetzungen führen, kann man von transzendentalen Argumenten sprechen. Ontologisch bzw. erkenntnistheoretisch begeben sich die subjektiven Idealisten oft in unkomfortable dualistische Positionen. Auf jeden Fall beruht der subjektive Idealismus auf der erkenntnistheoretischen Annahme, dass unserem Zugang zur Welt immer schon etwas voraus liegt, dass die Wirklichkeit durch uns konstituiert wird. Neben den empirischen und den logisch-mathematischen Aussagen kennt der subjektive Idealismus einen dritten Aussagentyp: synthetisch-apriorische Urteile (siehe unten I.6.b); nur Aussagen diesen Typs sind substantielle Argumente bzw. der Beleg für ein kreatives Denken. Begründungstheoretisch orientiert man sich in diesem Paradigma nicht an Logik und Mathematik, auch nicht am experimentellen Vorgehen der Naturwissenschaften, sondern an den institutionalisierten Verfahren der Rechtsfindung und Rechtsprechung (vgl. KrV B 116 ff., B 765 ff. u. ö.). Die 38

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Einsicht in die konstitutiven Leistungen des Subjekts findet sich vereinzelt bereits in der Antike. Aber erst durch Descartes tritt dieses Paradigma deutlich hervor; Kant und Fichte haben es weiterentwickelt. Aus der Philosophie des 20. Jahrhunderts kann man Husserl, Popper und Habermas hier zuordnen. Diese Position wird entweder auf mentalistischer oder auf sprachphilosophischer Grundlage vertreten; im ersten Fall gibt es subjektive, im zweiten Fall intersubjektive Bedingungen allen Argumentierens. Deshalb ist, wie im Folgenden zu beachten sein wird, der Oberbegriff »subjektiver Idealismus« unglücklich gewählt; ich kenne jedoch keinen besseren. Wahrheitstheoretisch neigt die subjektive Variante zu einer Kohärenz-, die intersubjektive zu einer Konsenstheorie. Alle eben genannten Autoren stützen sich auf universalistische Prämissen, auf die Annahme einer einzigen, allgemein gültigen Vernunft. Lässt man diese Voraussetzung fallen, wird der subjektive Idealismus zu einer relativistischen Hermeneutik (vgl. II.6.): Denn auch die Tradition der Hermeneutik von Schleiermacher über Dilthey bis Gadamer ist zu diesem Paradigma zu rechnen, weil in ihr die subjektiven Voraussetzungen betont werden, die in jeden Akt des (wissenschaftlichen) Verstehens eingehen. Wenn es aber kein universales Vorverständnis gibt, kommt man zu einem nicht überwindbaren Pluralismus von Befindlichkeiten oder Begriffsschemata, von Sprachspielen oder Diskursen. Das dritte Paradigma ist der objektive Idealismus. Seine Prämisse ist, dass die apriorischen Begriffe nicht nur für die Erscheinungswelt gelten, sondern (kantisch gesprochen) auch für die Dinge an sich, also für das Wesen der Realität. Das Königsargument des objektiven Idealismus ist eine Art ontologischer Beweis: Was wir notwendigerweise denken, muss auch für die Wirklichkeit gelten. Wir denken nicht mit unseren Begriffen, vielmehr haben wir teil an der objektiven Realität dieser Begriffe. Wie im Realismus wird eine monistische Ontologie bevorzugt, allerdings keine materialistische, sondern eine spiritualistische. Der objektive Idealismus kann radikalisiert werden zum absoluten Idealismus; darunter verstehe ich die Auffassung, dass es nur das Ideale gibt, also Geistiges; alles andere ist nicht nur Erscheinung (wie der objektive Idealismus behauptet), sondern sogar bloß Schein. Eine solche Weltsicht ist vor allem in der indischen Geistesgeschichte immer wieder vertreten worden. Außer den bisher schon genannten Argumenttypen werden zum einen intuitive, zum anderen spekulative Begründungen zuA

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gelassen. Wahrheitstheoretisch neigt der objektive Idealismus deshalb entweder zu einer Evidenztheorie oder zu dem berühmten Diktum »Das Wahre ist das Ganze«. In dieser holistischen Variante des objektiven Idealismus sind die einzelnen Sätze bestenfalls richtig, aber nicht wahr. Deshalb werden auch die Unterschiede zwischen verschiedenen Aussagentypen heruntergespielt; zum Ganzen gehören gleichermaßen deskriptive und normative sowie empirische und transzendentale Aussagen. Auch die Differenzen zwischen Genesis und Geltung sowie zwischen These und Begründung haben nicht denselben Rang wie etwa im subjektiven Idealismus. Hegels System ist dafür der beste Beleg. Andere wichtige historische Vertreter des objektiven Idealismus sind Platon, Spinoza, Schelling und Whitehead. Die Gegner des objektiven Idealismus, etwa Kant und Popper, befürchten, dass das Fehlen von empirischen Falsifikationsmöglichkeiten und kritischen Kontrollinstanzen notwendigerweise zum Dogmatismus führt. Zudem kann der objektive Idealismus ins andere Extrem umschlagen: Wenn alles nur Schein oder Erscheinung ist, das Reale aber als das Absolute unerkennbar bleibt, landet man bei einem neuen Skeptizismus; historische Beispiele sind dem Umschlag des Platonismus in die akademische Skepsis sowie die Entwicklung der spätmittelalterlichen Theologie vom Thomismus zu einem Nominalismus mit seiner fideistischen Konsequenz, dass man das Absolute nicht denken oder erkennen, sondern nur an es glauben könne. Die drei Paradigmen lassen sich in den verschiedenen Disziplinen und Strömungen der modernen Philosophie schnell wiederfinden. Ein erstes Beispiel ist die Diskussion um den ontologischen Status der mathematischen Gestalten. Ist man der Auffassung, dass es Strukturen ohne Wirklichkeitsbezug sind, wie die Anhänger von Hilberts Formalismus, dann tendiert man zum Logischen Empirismus. Die subjektiven Idealisten behaupten hingegen, dass es sich zwar um apriorische Konstruktionen handelt, diese aber für unsere Wirklichkeitserkenntnis notwendig sind; die Ansätze von Brouwer und Lorenzen stehen dieser Position am nächsten. Der von Frege begründete Logizismus war hingegen ursprünglich eine Variante des objektiven Idealismus, für den die mathematischen Formen nichts Subjektives sind, sondern die Strukturen der Wirklichkeit selbst. Dass man auch die angelsächsisch dominierte sprachanalytische Philosophie nach diesem Muster sortieren kann, hat wohl zuerst Richard 40

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Rorty erkannt. 40 Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass Quine und Dennett für den Empirismus, Davidson und Putnam für den subjektiven Idealismus sowie Brandom und McDowell für den objektiven Idealismus stehen. Darüber hinaus finden sich die drei Paradigmen in allen wichtigen Disziplinen der Philosophie, etwa in der Ästhetik, der Naturphilosophie oder der Anthropologie. Für die praktische Philosophie sei dies näher erläutert. Im Empirismus ist für moralische Fragen im eigentlichen Sinne oft zwischen Sozialwissenschaft, Rechtspositivismus und politischen Entscheidungen gar kein Ort mehr (Lübbe); im Extremfall wird die Position vertreten, dass alles nur eine Frage der Verhältnisse oder der Macht sei (Marxismus, Nietzsche). Reflektiertere Vertreter dieses Paradigmas, die die normative Dimension philosophisch ernst nehmen, tendieren zu einer Minimalmoral und zum Utilitarismus (heutige Vertreter: Mackie, Singer, Hoerster, Birnbacher). Hingegen setzt der subjektive Idealismus, wie man an Kants Ethik exemplarisch studieren kann, auf reflexive und transzendentale Begründungen, mit denen beispielsweise die Goldene Regel und der Kategorische Imperativ als Fundamente einer deontologischen Position ausgewiesen werden. Die intersubjektive Variante führt zu einer Diskurstheorie der Moral und der Demokratie (Apel, Habermas, auch Rawls, Gewirth und Höffe). Dadurch reißt allerdings die im Empirismus undramatische Kluft zwischen Sein und Sollen auf. Der objektive Idealismus versucht diese zu kitten, indem er die Werthaftigkeit der Wirklichkeit bzw. die Wirklichkeit der Werte herausarbeitet; das ist die Leistung der materialen Wertethik (Scheler, Hartmann, auch Spaemann, Jonas und Hösle). Aber selbstverständlich, so sei noch einmal wiederholt, handelt es sich bei den drei Paradigmen um eine idealtypische Unterscheidung. Zum einen lässt sich nicht alles eindeutig in eine dieser drei Schubladen einordnen; zum anderen bestehen zwischen den Vertretern der dargestellten Grundpositionen teilweise erhebliche Unterschiede. Ich werde mich in dieser Arbeit an einer Position des subjektiven Idealismus orientieren, nämlich an Kant.

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Als Arbeitsdefinition für eine moderne Metaphysik wurde oben vorgeschlagen: • Moderne Metaphysik ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem, was uns alle absolut betrifft. Diese Idee einer modernen Metaphysik möchte ich in diesem Abschnitt konkretisieren, und zwar im Anschluss an das Paradigma des subjektiven Idealismus in einer kantianischen Version. Dabei beanspruche ich nicht, alle Feinheiten von Kants Denken, etwa hinsichtlich seiner Metaphysik der Natur, wiederzugeben; vielmehr geht es mir um eine zweckgebundene Rekonstruktion vor dem Hintergrund der klassischen Metaphysik. Zunächst werden drei Begriffe von Metaphysik skizziert, die sich aus dem aristotelischen Entwurf herleiten lassen. Sodann stelle ich Kants Neubegründung der Metaphysik dar. Innerhalb dieser interessiert mich schließlich der neue Typ einer abschließenden Metaphysik. (a) Konzeptionen der klassischen Metaphysik Schon bei Aristoteles gibt es unterschiedliche Beschreibungen der später als Metaphysik bezeichneten philosophischen Disziplin. Sie lassen sich auf drei Begriffe bringen: (a) Metaphysik als allgemeine Seinswissenschaft (Ontologie): »Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende, insofern es seiend ist, betrachtet und das, was ihm an sich zukommt.« 41 (b) Metaphysik als Wissenschaft vom höchsten bzw. vollkommenen Seienden (philosophische Theologie): Für diesen Ansatz steht vor allem das zwölfte Buch der Metaphysik. Aber auch schon an früheren Stellen ist von der »göttlichste(n) Wissenschaft« die Rede. 42 Metaphysik als Erste Philosophie ist also das Wissen vom an sich Ersten. (c) Metaphysik als Wissenschaft von den allgemeinsten Prinzipien: Die Metaphysik als Erste Philosophie thematisiert aber auch das für uns Erste; »sie muß die ersten Prinzipien und Ursachen un-

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Aristoteles, Met. IV 1, 1003a 21 f. Aristoteles, Met. II 2, 983a 5; vgl. Met. VI 1, 1026a 29–32.

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tersuchen«.43 Das beste Beispiel dafür sind die Ausführungen über den Satz vom Widerspruch im vierten Buch der »Metaphysik«. Seit der Antike konkurrieren diese drei Varianten dessen, was klassische Metaphysik sein kann. Die spätantiken Denker verstehen die Metaphysik in erster Linie als philosophische Theologie. Im Mittelalter wird zunächst die Auffassung bevorzugt, dass die Metaphysik Ontologie sei. Der Grund dafür ist einfach: Theologie soll christliche Offenbarungstheologie sein – und nicht rationale Theologie wie bei Aristoteles oder dem moslemischen Gelehrten Ibn Rusˇd (Averroes). Im dreizehnten Jahrhundert, mit der Entwicklung verschiedener Gottesbeweise, kommt die philosophische Theologie wieder zu Ehren. Die ersten beiden Ansätze verschmelzen bei vielen Denkern sogar zu einer Onto-Theologie. Dieser Ausdruck wird erst von Kant (KrV B 660) geprägt und später von Heidegger zur kritischen Kennzeichnung der gesamten klassischen Philosophie verwendet. Zu den klassischen Themen dieser Onto-Theologie zählen u. a. das Verhältnis von Welt und Gott sowie von Seele und Gott. 44 Den Abschluss dieser Strömung bildet die deutsche Schulphilosophie der frühen Neuzeit. Bei Christian Wolff in seiner Schrift »Philosophia prima sive Ontologia« (1730) wird der Lehrbestand auf folgende Weise kanonisiert: I. metaphysica generalis (= Ontologie) II. metaphysica specialis 1. rationale Theologie 2. rationale Kosmologie 3. rationale Psychologie Die Bezeichnung der drei Teildisziplinen der speziellen Metaphysik als »rational« soll diese zum einen von empirischen Disziplinen wie der Physik, zum anderen von der Offenbarungstheologie abgrenzen. Inzwischen war aber längst ein Gegenmodell zur klassischen Schulphilosophie entwickelt worden. Bereits im Spätmittelalter hatten englische Autoren wie Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham den dritten aristotelischen Begriff in den Vordergrund gerückt: Metaphysik als Prinzipienwissenschaft. Francis Bacon versteht unter Metaphysik bereits nichts anderes als eine allgemeine ErkenntAristoteles, Met. I 1, 982b 8. Vgl. Heimsoeth, Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters (1922, 3 1953).

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nistheorie, die den anderen Wissenschaften als Erste Philosophie vorangeht. 45 Ein ähnliches Modell mit großer Wirkkraft entwickelt René Descartes in der Vorrede zur französischen Ausgabe seiner späten Schrift »Prinzipien der Philosophie« (1647). Dort heißt es: »Die gesamte Philosophie ist also einem Baume vergleichbar, dessen Wurzel die Metaphysik, dessen Stamm die Physik und dessen Zweige alle übrigen Wissenschaften sind, die sich auf drei hauptsächliche zurückführen lassen, nämlich auf die Medizin, die Mechanik und die Ethik.« 46 Die Metaphysik, so Descartes, enthalte »die Prinzipien der Erkenntnis«, nämlich die Vernunftbegriffe von Gott, der Seele usw. (b) Kritik und Neubegründung der Metaphysik bei Kant Diese verschiedenen Konzeptionen von Metaphysik standen Kant vor Augen. Sein ausgesprochenes Ziel war es, die Metaphysik auf den sicheren Weg einer Wissenschaft zu bringen. Diese sei das »Lieblingskind« unserer Vernunft (Prol. § 57/V: 228) bzw. gleiche »einer mit uns entzweiten Geliebten«, zu der man jederzeit zurückkehren werde (KrV B 878). Kant will die Metaphysik also keineswegs, wie einige Zeitgenossen nach einer ersten Lektüre der »Kritik der reinen Vernunft« meinten, zerstören, sondern sie vielmehr durch Neubegründung stärken. Dabei setzt er sich mit allen gängigen Versionen der Metaphysik auseinander und nimmt folgende fünf Operationen vor. Erstens knüpft Kant an die westeuropäischen Philosophen an, die vor die Metaphysik eine Untersuchung der Grenzen und Möglichkeiten unserer kognitiven Kompetenzen gesetzt hatten. Wenn man Metaphysik als Erste Philosophie versteht, so ist diese seit Bacon und Descartes die Erkenntnistheorie. Sowohl im Empirismus als auch im Rationalismus wird diese Grundlegung der Philosophie aber nicht konsequent zu Ende gedacht. Mit ganzer Klarheit wird die Idee einer metaphysischen Propädeutik zur Metaphysik erst bei Kant herausgearbeitet. Er selbst spricht einmal von einer »Metaphysik von der Metaphysik« (AA X: 269: Brief vom 11. 5. 1781 an M. Herz). 47 Dies Vgl. zu diesem Paradigmenwechsel Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik, 16, 172 ff., 277, 298. 46 Descartes, Prinzipien der Philosophie, 136 f. 47 Bereits am 2. 9. 1770 schreibt Kant an J. H. Lambert: »Es scheinet eine ganz besonde45

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geschieht in der kritischen Transzendentalphilosophie, die nicht psychologisch oder ontologisch vorgeht, sondern reflexiv nach den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit unserer apriorischen Erkenntnisse fragt. (Kant unterscheidet noch zwischen Kritik und Transzendentalphilosophie, aber das muss uns hier nicht interessieren.) In der Gegenwart vertritt beispielsweise Karl-Otto Apel einen solchen Typus von Metaphysik als Erster Philosophie. 48 Man darf den Stellenwert von Kants kritischer Transzendentalphilosophie nicht missverstehen; sie ist keine Fundamentalphilosophie. Das zeigt ein Vergleich mit Descartes. Auch dieser war durch ein transzendentales Argument zu einem unhintergehbaren Prinzip gelangt, dem »ich denke«. Aber in zwei wesentlichen Punkten unterscheiden sich Descartes und Kant. Erstens missversteht Descartes seine transzendentalen Überlegungen und ontologisiert das »ich denke« zur »res cogitans«. 49 Zweitens möchte er aus dem Ich, auf dem Weg über den Gottesbeweis, alles andere Wissen deduzieren. Exemplarisch sei an dieser Stelle der Einwand Humes erwähnt: Ein solches »ursprüngliches Prinzip« gäbe es nicht und selbst wenn sich ein solches finden ließe, könne man aus ihm nichts folgern. 50 Kant greift zwar wie Descartes auf das »ich denke« zurück; aber das transzendentale Ich ist bei ihm erstens keine Substanz und zweitens kein Grundprinzip, aus dem sich alle anderen Vernunftwahrheiten ableiten ließen. Es ist bloß die notwendige Voraussetzung bzw. transzendentale Ermöglichungsbedingung allen Wissens. Metaphorisch gesprochen, war das Ich bei Descartes ein archimedischer Punkt, von dem aus man die Welt aus den Angeln heben konnte; bei Kant ist es nicht mehr und nicht weniger als eine Verankerung oder ein Haltegriff, der verhindern kann, dass man hilflos davontreibt oder alles ins Schwimmen gerät. Zweitens: Ein Hauptstrang der Philosophiegeschichte betrachtet die (generelle) Metaphysik als allgemeine Seinswissenschaft (Ontologie) mit dem Zentralbegriff des Wesens (ousia) bzw. der Substanz. Im Zuge der erkenntnistheoretischen Wendung der neuzeitlichen Philosophie gerät der Substanz-Begriff in die Kritik. Als Substanz re, obzwar blos negative Wissenschaft … vor der Metaphysik vorher gehen zu müssen …« (AA X: 98). 48 Vgl. Apel, Metaphysik und die transzendentalphilosophischen Paradigmen der Ersten Philosophie, 1–29. 49 Vgl. Husserl, Hua VI: Die Krisis der europäischen Wissenschaften …, § 18. 50 Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 12. Abschnitt, 1. Teil. A

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wird jetzt das verstanden, was unabhängig von unserer Erkenntnis als seiend behauptet werden kann. Descartes und Locke hatten noch zwei Substanzen bzw. Arten von Substanzen ausgezeichnet: die res cogitans bzw. die Seele und die res extensa bzw. das Substrat aller Qualitäten, die wir wahrnehmen. Bei Spinoza und Berkeley gibt es nur noch eine Substanz bzw. einen Typ von Substanz; bei dem einen die göttliche Natur (deus sive natura), bei dem anderen das Bewusstsein. Hume und Kant kritisieren auch diesen Substanzbegriff: Beide bestreiten, dass man das Bewusstsein bzw. das »ich denke« als dauerhafte, eigenständig existierende Substanz auffassen darf. Kant vollendet damit die Destruktion der Ontologie und dekretiert zu Recht, dass der »stolze Name der Ontologie« dem einer »bescheidenen … Analytik des reinen Verstandes« weichen muss (KrV B 303). Als ontologischer Rest bleibt bei Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« bestenfalls das mysteriöse »Ding an sich« stehen. In einer kantianischen Philosophie gibt es also eigentlich gar keine Ontologie mehr; an deren Stelle tritt die Reflexion auf apriorische Annahmen über das Seiende als solches. Für diese kann man, wenn man will, den Ausdruck »Ontologie« weiterverwenden. Das geschieht auch in Strömungen wie der Phänomenologie, der sprachanalytischen Philosophie oder der Wissenschaftstheorie, in denen, wenn von Ontologie die Rede ist, Existenzannahmen gemeint sind, die (sehr verkürzt gesagt) aus einer mentalen Einstellung, einem Begriffsschema oder einem Paradigma folgen. Insbesondere im angelsächsischen Sprachraum wird hierfür, vor allem seit Strawson, auch der Begriff »metaphysics« verwendet. 51 Dagegen ist sprachgeschichtlich nichts einzuwenden, hat aber mit meinem Begriff von moderner Metaphysik nichts zu tun. Die Kritik an den speziellen Metaphysiken findet sich, drittens, im Dialektik-Kapitel der »Kritik der reinen Vernunft«, wo dieser gesamte Bereich als »Logik des Scheins« entlarvt wird. Die Gegenstände der klassischen Konzeptionen werden als drei unterschiedliche Formen des Unbedingten rekonstruiert: Die Seele ist die Idee, dass alle unseren Vorstellungen durch eine subjektive Einheit bedingt sind; die Welt ist die Idee von der Gesamtheit aller unserer Vorstellungen; Gott ist das Ideal einer absoluten Vollkommenheit. Unsere Vernunft, so Kant, bringt diese drei Formen des Unbedingten notStrawson, Individuals. An Essay on Descriptive Metaphysics (zuerst 1959); vgl. als repräsentativen Sammelband: Kim (Hg.), Metaphysics (2000).

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wendigerweise hervor. Aber Denken ist erstens nicht gleich Erkennen. Eine Erkenntnis des Absoluten ist nicht möglich, weil alle drei Formen des Unbedingten jenseits des Bereichs möglicher Erfahrung liegen, innerhalb dessen nur Erkenntnis möglich ist. Sprachphilosophisch reformuliert: Sie liegen jenseits der Grenzen unseres sinnvollen Sprechens; unsere Begriffe werden jenseits ihrer empirischen Anwendungsbedingungen bedeutungslos oder sogar widersinnig. 52 Wenn wir uns dessen bewusst werden, lassen sich zweitens durch eine Kritik der Vernunft auch die Fehlschlüsse aufdecken, in die sich das Denken verwickelt. Wichtig sind für unser Thema die folgenden Einsichten: (a) Vom transzendentalen Subjekt, das jede Erkenntnis voraussetzen muss, wird fälschlicherweise (in Form eines Paralogismus) auf eine ontologische Einheit des realen Subjekts geschlossen. Ob irgendetwas in uns unsterblich ist oder nicht, entzieht sich aber prinzipiell unserem Erkennen. (b) Hinsichtlich der Frage, ob der Mensch absolut frei oder total determiniert sei, verwickelt sich die Vernunft in einen Widerspruch (Antinomie), der sich aber vermeiden lässt. Willensfreiheit ist möglich und damit die Tür zur praktischen Philosophie geöffnet. (c) Wie vor Kant schon viele Aufklärer, vor allem Hume, zeigten, lassen sich die drei klassischen Gottesbeweise allesamt widerlegen. Die Konsequenz, und damit eine der Grundlagen der kantianischen Metaphysik, ist der oben bereits erwähnte methodische Atheismus. Damit hat Kant den gesamten Bereich der speziellen Metaphysik vernichtend kritisiert. Aber viertens will Kant die Metaphysik nicht zerstören, sondern er will sie im Gegenteil neu begründen. Die kritische Transzendentalphilosophie ist nur die Propädeutik, die Vorbereitung einer neuen Metaphysik, einer neuen Doktrin (Lehre). Dieses neu begründete System der Metaphysik entspricht der alten Prinzipienwissenschaft. Diese aber zerfällt nun in zwei Disziplinen, die sich auf Kants erste zwei Kritiken stützen: Zum einen ist die »Kritik der reinen Vernunft« die transzendentalphilosophische Grundlegung einer neuen Metaphysik der Natur; diese wird ausgeführt in Kants Schrift »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft« und soll das Fundament der empirischen NaturwissenschafStrawson, Die Grenzen des Sinns, z. B. 13: Unser Denken neige immer wieder dazu, dieses »Sinnprinzip« zu verletzen.

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ten bilden. Zum anderen ist die »Kritik der praktischen Vernunft« die transzendentalphilosophische Grundlegung einer neuen »Metaphysik der Sitten«, also einer umfassenden Morallehre und zugleich das Fundament der Rechtswissenschaften. In diesem Sinne sind Begriffe wie einerseits »Natur«, »Kausalität«, »Gesetz« usw., andererseits »Moral«, »Freiheit«, »Maxime« usw. metaphysische Begriffe. Ebenso gibt es bei Kant auch zwei Begriffe des Absoluten, zum einen Gott als den höchsten Begriff der theoretischen Philosophie, zum anderen das höchste Gut als den höchsten Begriff der praktischen Philosophie (V: 274). In diesem Parallelbau zweier metaphysischer Systeme zeigt sich die Entflechtung deskriptiver und normativer Aussagen, mit der Kant endgültig die Verschmelzung auflöst, die das Denken vom Absoluten seit der Antike bestimmt. Vorbereitet wurde dieser Schritt vor allem durch Humes Einsicht, dass sich aus Seinsaussagen keine Sollensaussagen ableiten lassen; ein solcher Argumentationsfehler, der in etwas anderer Form auch als sog. »naturalistischer Fehlschluss« auftritt, ist unbedingt zu vermeiden. Hingegen war die gesamte klassische Metaphysik bestimmt durch eine Konversionsontologie. 53 Diese besagte, dass das Wahre und das Gute (und meistens auch noch das Schöne) austauschbar seien, also immer notwendigerweise auf dieselbe Entität zutreffen würden. Auf ähnliche Weise wird im christlichen Begriff Gottes die Einheit zweier grundlegender Prädikate gedacht, »mächtig« und »gut«. 54 Nach der Konversionsontologie ist also das, was ist (oder mächtig ist), immer auch etwas, was sein soll – und das, was sein soll, ist auch. Sein und Sollen sind in der klassischen Metaphysik ineinander überführbar bzw. gar nicht voneinander unterscheidbar. Weil diese Verschmelzung von Ontologie und Ethik dem Augenschein so krass zuwiderläuft, behalf sich die klassische Metaphysik mit einer anderen Leitdifferenz: der Unterscheidung von Sein und Schein bzw. Wesen und Erscheinung. Wenn etwas nicht so ist, wie es sein soll, dann ist es nicht wirklich, sondern bloß Schein oder Erscheinung; auf der Ebene des wahren Seins, des Wesens der Erscheinungen, stimmen Sein und Sollen auf jeden Fall überein. Seit Kant sind wir von diesem gesamten Gedankenkomplex

Lütkehaus, Nichts, 28, 36, 102 u. ö.; vgl. auch die prägnante Zusammenfassung bei Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, 344 f. 54 Vgl. Spaemann, Das unsterbliche Gerücht, 17 u. ö. 53

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befreit. Thema der Metaphysik wird nun, wie wir gleich sehen werden, die Differenz von Sein und Sollen. (c) Ein neuer Typ von Metaphysik Denn Kant entwirft fünftens, wenn auch nicht unter diesem Namen, das Programm einer abschließenden Metaphysik. 55 Zu ihr gehört prinzipiell alles das, was »die ganze menschliche Erkenntnis schließt« (KrV B 669). Eine solche Metaphysik der »Abschlussgedanken« will das in verschiedenen Disziplinen vorliegende Wissen vermitteln und zusammenführen, möglichst zu einem System. Denn Kants Philosophie hatte an mehreren Stellen zu Dualismen geführt, die nach einer Schlichtung verlangen. Insbesondere gilt dies für das Auseinanderdriften der theoretischen und der praktischen Philosophie, das die »Kritik der Urteilskraft« verhindern soll. 56 Während sich die theoretische Philosophie mit Tatsachen beschäftigt und die praktische Philosophie mit Werten (wie man in einer anderen Begrifflichkeit sagen kann), geht es in der abschließenden Metaphysik um die Vermittlung dieser beiden Sphären, um den Wert der Tatsachenwelt bzw. die Frage, inwieweit Werte als Tatsachen anzusehen sind. 57 Ihre Aufgabe ist es also, eine Einheit in unserem Denken herzustellen. So wie die »Kritik der reinen Vernunft« auf eine Synthesis erster Stufe zielte, die Verbindung von Sinnlichkeit und Verstand, bemüht sich die abschließende Metaphysik um eine Synthesis zweiter Stufe. Das ist nicht als intellektuelles Spiel zu verstehen. Hinter den Dualismen von Kants Denken stehen Spannungen, Ambivalenzen und Antagonismen des realen Lebens. Wie wenig später zuerst Schiller, dann die Frühromantiker und die deutschen Idealisten richtig erkannten, sind die Dualismen von Kants Philosophie Ausdruck der Zerrissenheit der modernen Welt, die abschließende Metaphysik also ein Bedürfnis aller nachdenklichen Menschen. Terminologisch ist zu beachten, dass Kant selbst den Begriff der Metaphysik in diesem Zusammenhang nicht gebraucht. Den Unterschied zwischen dieser modernen Metaphysik und der klassischen Grundlegungsmetaphysik hat vor allem Dieter Henrich mehrfach betont, vgl. Henrich, Was ist Metaphysik, was Moderne?, 495. 56 Zur Vermittlungsaufgabe der »Kritik der Urteilskraft« vgl. Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, bes. 9–14. 57 Vgl. Weil, Probleme des Kantischen Denkens, 68, 80 f., 97–100 u. ö. 55

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Aus dieser Stellung der modernen Metaphysik im Ganzen der Philosophie ergeben sich wichtige Konsequenzen. Erstens behandelt diese nicht mehr die ersten, sondern die letzten Fragen. Die üblichen Fragen, die wir im Alltag stellen, und die Fragen des »puzzle-solving« in der normalen Wissenschaft kann man einem mittleren Bereich zuordnen. Nur in Krisensituationen werden im Alltag und in der Wissenschaft die ersten und die letzten Fragen gestellt. Die ersten Fragen sind die einer Metaphysik als Erster Wissenschaft, bei Kant der kritischen Transzendentalphilosophie im Theoretischen und im Praktischen, also »Was kann ich wissen?« und »Was soll ich tun?«; auch »Was ist Wahrheit?« könnte genannt werden. Beispiele für letzte Fragen sind »Was darf ich hoffen?« (siehe IV.4.) sowie alle Fragen nach Zweck und Sinn, wie »Wozu bin ich da?« und »Was ist der Sinn des Lebens?«. Zweitens setzt sich die abschließende Metaphysik nicht dem Verdacht aus, die Menschen von normativ gebotenen Handlungen abzuhalten. Sie entgeht somit den ideologiekritischen Einwänden, die im Materialismus von der französischen Aufklärung über Marx bis zur frühen Frankfurter Schule immer wieder vorgebracht wurden: Die Metaphysik sei ein gesellschaftlich notwendiges falsches Bewusstsein, durch das unnötiges Leiden, Ungerechtigkeiten und Ausbeutung verschleiert und verklärt werden; deshalb diene sie, bewusst oder unbewusst, der Stabilisierung illegitimer Herrschaft. Die hier vorgestellte abschließende Metaphysik setzt jedoch keine einzige begründete normative Überzeugung außer Kraft, auch keine empirisch bewährte Erkenntnis. Sie geht nicht der Praxis voraus und tritt auch nicht an deren Stelle; die abschließende Metaphysik ist vielmehr deren nachträgliche Reflexion, eben die Metareflexion von Theorie und Praxis. Wenn die moderne Metaphysik beispielsweise nach dem Sinn des Leidens fragt, so beschäftigt sie sich nicht mit dem Leiden, das wir abschaffen könnten (denn dazu wären wir in der Regel moralisch verpflichtet), sondern mit dem Leiden, das wir – soweit wir sehen – trotz größter Anstrengung nicht beseitigen können. Welchen Sinn hat dieses Leiden? Das ist eine der Fragen der abschließenden Metaphysik (vgl. IV.3.). Drittens müssen die anderen Zugänge zum Absoluten in diesem Lichte neu bedacht werden. Gegen Glaube, ästhetische Erfahrung und Lebensweisheit ist auf den ersten Blick dann nichts einzuwenden, wenn sie weder empirisch-theoretisches noch normativ-praktisches Wissen in Frage stellen. Beispielsweise ist gegen christliche, 50

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moslemische oder hinduistische Glaubenslehren dann prinzipiell nichts einzuwenden, wenn sie bewährten wissenschaftlichen Erkenntnissen und gut begründeten moralischen Einsichten nicht widersprechen, wenn sie sich, wie Kant sagt, »innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« bewegen. Unzulässig sind hingegen religiöse Argumente, die beispielsweise unter Berufung auf heilige Schriften oder göttliche Offenbarung gegen die Evolutionstheorie und gegen Rechtsnormen vorgebracht werden. Ferner ergibt sich aus der Stellung der Ethik im Rahmen der Philosophie, dass moralische Argumente alle anderen übertrumpfen können, vor allem ästhetische und religiöse. Das alles folgt, wenn die Metaphysik nicht mehr das Fundament, sondern unter den Bedingungen der Moderne den Abschluss philosophischer Denkbewegungen bildet. Diese abschließende Metaphysik, deren metatheoretische Grundlegung in der »Kritik der Urteilskraft« erfolgt, bildet den Rahmen meiner Überlegungen zur Frage nach dem Sinn des Lebens. 58 In den nächsten Kapiteln werde ich wichtige Merkmale dieses Typs einer modernen Metaphysik herausarbeiten, zwar im Anschluss an Kant, aber ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne strikte Treue zum Original.

5.

Die Vermittlungsaufgabe der abschließenden Metaphysik

Während sich die Metaphysik der Natur auf den Verstand in seinem theoretischen Gebrauch und die Metaphysik der Sitten auf die praktische Vernunft stützt, ist das subjektive Vermögen, das die Grundlage dieser neuen Metaphysik der Abschlussgedanken bildet, die reflektierende Urteilskraft. Diese kann man allgemein als Kompetenz einer rationalen Vermittlung auffassen. 59 Um dies zu erläutern, muss man jedoch zunächst Kants Philosophie von ihrer Bindung an das obsolete Modell einer Vermögenspsychologie lösen. Aus heutiger Sicht lässt sich nicht mehr unbefangen Rudolf Makkreel behauptet: »Tatsächlich ist es möglich, die Gesamtstruktur der Kritik der Urteilskraft als eine zu interpretieren, in der … der Sinn des Lebens schrittweise expliziert wird« (ders., Einbildungskraft und Interpretation, 118 f., vgl. 136, 167 u. ö.). 59 Für Martin Seel (Die Kunst der Entzweiung, 15 u. 22 f.) ist diese Kompetenz das, was man eigentlich als Vernunft bezeichnen sollte, im Unterschied zur Rationalität, die immer mit Begründbarkeit im strengen Sinn verknüpft ist. Vgl. auch Lyotard, Der Widersteit, 217–225. 58

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über Sinnlichkeit, Verstand, Urteilskraft usw. als »Vermögen« des Menschen sprechen. Das mentalistische, ja stellenweise psychologistische Vokabular Kants muss durch eine aussagentheoretische Terminologie ersetzt werden. Auf die Zuordnung geistiger Vermögen ist ganz zu verzichten; an die Stelle des mentalistischen Grundbegriffs der Vorstellung tritt der Begriff der Aussage (Proposition). Aussagen in diesem Sinne sind immer mit einem Geltungsanspruch verbunden. Es gibt jedoch unterschiedliche Modi (bzw. illokutionäre Rollen) von Aussagen, dadurch sind mindestens zwei verschiedene Geltungsansprüche möglich, der auf Wahrheit und der auf normative Richtigkeit. Darüber hinaus schlage ich folgende Transformation vor: Wenn Kant vom Besonderen spricht und auf die Anschauung verweist, sind singuläre und partikulare Aussagen gemeint (Ein x ist … ; einige x sind …). Wenn Kant vom Allgemeinen spricht und auf die oberen Vermögen verweist, sprechen wir von generellen Aussagen (in der theoretischen Philosophie: alle x sind …) und universalen Aussagen (in der praktischen Philosophie: alle x sollen …). Für die Differenz zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen steht der Dualismus von deskriptiven, meistens empirisch-theoretischen Aussagen auf der einen und normativ-praktischen Aussagen auf der anderen Seite. Darüber hinaus gibt es in der theoretischen Philosophie noch die apriorischen Aussagen, die Kant der Vernunft im engeren Sinne zuschreibt. – Die beiden Vermittlungsaufgaben der Urteilskraft, die für eine abschließende Metaphysik wichtig sind, lassen sich jetzt angemessen analysieren. (a) Vermittlung von Partikularem und Allgemeinem Die erste Aufgabe, singuläre und partikulare Sätze mit Allgemeinaussagen zu vermitteln, kann auf verschiedene Weise geschehen: Die erste Möglichkeit, die Zusammenfassung des Besonderen zum Allgemeinen, ist der Weg der Induktion, der nicht zum Ziel führt und deshalb außer Betracht bleiben kann. Die beiden anderen Möglichkeiten werden bei Kant der bestimmenden und der reflektierenden Urteilskraft zugeordnet. Wir sprechen abkürzend vom Subsumieren und Reflektieren. Subsumieren ist immer dann notwendig, wenn wir über Allgemeinaussagen verfügen und mannigfaltige partikulare bzw. singuläre Aussagen zuordnen müssen, was sowohl in der theoretischen 52

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wie der praktischen Philosophie vorkommt. Weil diese Aufgabe nicht in den Bereich der abschließenden Metaphysik fällt, beschränken wir uns auf einige Bemerkungen zur theoretischen Philosophie. Zuständig ist in jedem Fall die bestimmende Urteilskraft, der in der »Kritik der reinen Vernunft« ein eigenes Kapitel gewidmet ist; da Kant dort nur diesen einen Typus der Urteilskraft im Blick hat, verzichtet er auf die adjektivische Spezifizierung. Wegen der Zweistufigkeit der oberen Erkenntnisvermögen gibt es zwei Ergebnisse von Subsumtionstätigkeiten der Urteilskraft: Die Subsumtion der Anschauung unter die Verstandesbegriffe (Kategorien) führt zu den Schemata und ist eine Form des wissenschaftlichen Erklärens. Davon zu unterscheiden ist die Subsumtion der Anschauung unter die Vernunftbegriffe (Ideen), die zu regulativen Ideen führt; darauf komme ich später noch einmal zurück (III.1.4.). Die schwierigere Vermittlungsleistung hat das Reflektieren zu erbringen. Die Ausgangssituation ist nämlich: Wir haben eine Reihe von singulären und partikularen Aussagen (oder mehrere Theorien mit begrenztem Anspruch), aber keine generellen bzw. universalen Aussagen (oder keine allumfassende Theorie). Wenn ein mannigfaltiges Besonderes vorliegt, aber kein Allgemeines, müssen wir (in Kants Terminologie) nicht subsumieren, sondern reflektieren. Was heißt bei Kant »Reflexion«? Vorweg sind Reflexionen von Deduktionen oder induktiven Schlüssen zu unterscheiden. In der »Kritik der reinen Vernunft« schreibt er dann: »Die Überlegung (reflexio) hat es nicht mit den Gegenständen selbst zu tun« (KrV B 316). Sie richtet sich vielmehr auf unsere Aussagen; in meiner Terminologie handelt es sich also um Aussagen über Aussagen, um reflexive Aussagen. Dabei vollzieht die Reflexion zwei Operationen, die nicht voneinander zu trennen sind: Sie vergleicht Aussagen untereinander und setzt sie zueinander in Beziehung. (Kant schreibt: Die Reflexion setzt sie zu unseren Erkenntnisvermögen in Beziehung.) Es sind allerdings mehrere Arten von Reflexion zu unterscheiden: Die logische Reflexion ist »eine bloße Komparation« (B 318), der Vergleich von Aussagen, die sich auf derselben Ebene befinden. Die transzendentale Reflexion sucht nach den subjektiven Bedingungen, unter denen es uns überhaupt nur möglich ist, Aussagen zu vergleichen (B 319). Ihr Thema sind die grundlegenden Reflexionsbegriffe, ohne die wir gar nicht denken könnten. Zu diesen unausweichlichen Präsuppositionen oder meta-logischen Begriffen gehören »Identität« (»Einerleiheit«), »Verschiedenheit«, »Widerspruch« u. a. (B 319 ff.); auch der von A

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Kant an anderer Stelle erwähnte Begriff der Wahrheit wäre hier einzuordnen (B 114). Die transzendentale Reflexion können wir auch als Grundlagenreflexion bezeichnen, die entsprechenden Begriffe als Transzendentalien. Der dritte Typ von Reflexion, der in der »Kritik der reinen Vernunft« noch nicht auftaucht, vergleicht gegebene Aussagen unterschiedlichen Typs, um sie in einen Zusammenhang zu bringen. Im Gegensatz zum Fundierungsanspruch der transzendentalen Reflexion handelt es sich um eine nachträgliche Reflexion, um die vermittelnden Akte einer Metareflexion. Diese Vermittlungsaufgabe obliegt der reflektierenden Urteilskraft, die von Kant in seinem dritten kritischen Hauptwerk analysiert wird. Dabei unterscheidet er noch einmal zwischen zwei Typen der reflektierenden Urteilskraft, nämlich der ästhetischen und der teleologischen Urteilskraft. Diese Differenzierung ergibt sich aus der Zweistufigkeit der oberen Erkenntnisvermögen: Die ästhetische Urteilskraft reflektiert über den Zusammenhang von Anschauung und Verstand (und im Kapitel zum Erhabenen über den Widerstreit von Anschauung und Vernunft), die teleologische Urteilskraft reflektiert über den Zusammenhang von Anschauung und Vernunft. Beide Sphären haben in unserer Rekonstruktion eine Zwischenstellung zwischen deskriptiven und präskriptiven Aussagen: In ästhetischen Aussagen wird gesagt: »x ist schön (oder erhaben) – und jeder soll zustimmen«, ohne dass wir über begründbare allgemeine Maßstäbe verfügen würden. Während das Subsumieren zu Schemata und regulativen Prinzipien führt, verwendet das ästhetische Reflektieren Musterbilder und Symbole, die sich nicht vollständig begrifflich ausweisen lassen. Die Musterbilder dienen der Beurteilung einzelner ästhetischer Phänomene; als Symbol weist das Ästhetische über sich hinaus, etwa wenn das Schöne als Symbol des Sittlichen gilt. In teleologischen Aussagen wird gesagt: »y ist zweckmäßig, also so, wie es sein soll«. In einer kritischen Teleologie reflektieren wir die Aussagen, für die wir im lebensweltlichen oder im wissenschaftlichen Gebrauch ein intentionalistisches Vokabular benutzen, ohne auf ein reales Subjekt oder allgemeine Zwecke verweisen zu können; Beispiele dafür sind Sätze wie »Das hat die Natur gut gemacht«, »Die Evolution hat rationale Lebewesen hervorgebracht«, »Der Blinddarm hat keinen Zweck« usw. Wichtige Reflexionsbegriffe sind beispielsweise »Organismus«, »Umwelt« und »Selbstorganisation« (vgl. III.1.). Kant hat die Reichweite seiner methodologischen Überlegungen 54

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sogar noch unterschätzt. Es gibt nämlich zwei weitere Anwendungsbereiche für die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft. Erstens sind Metareflexionen im eben skizzierten Sinne immer dann notwendig, wenn wir einer komplexen Wirklichkeit gegenüber stehen, ohne deren Gesetzmäßigkeiten zu kennen. Das ist in den Sozialwissenschaften, wie Kant noch nicht wissen konnte, der Regelfall. Allerdings hat er im § 83 der »Kritik der Urteilskraft« auch das methodologische Fundament für seine Kultur- und Geschichtsphilosophie gelegt. 60 Man kann sagen, dass die reflektierende Urteilskraft zuständig ist für die metatheoretischen Reflexionen der Sozialwissenschaften, also für die Entwicklung und Überprüfung ihrer Grundbegriffe. Den Kantischen Reflexionsbegriffen entsprechen somit die hermeneutischen Typen bei Dilthey und die soziologischen Idealtypen bei Max Weber. 61 Denn auch diese sind keine Gegenstandsbegriffe: Bei Kant trifft das auf Begriffe wie »Kultur« und »Fortschritt« zu. Aber auch Idealtypen wie »Kapitalismus« und »Staat« finden keine exakte Entsprechung in der Realität; es sind gedankliche Hilfsmittel, die nützlich, ja unentbehrlich sind, um die Wirklichkeit zu verstehen und zu erklären. Dabei ist zu beachten, dass solche Reflexionsbegriffe nicht als einzelne auftreten, sondern (wie auf anderer Ebene Hegel deutlich erkannte) immer in einer Gesamtheit. Ein wichtiges begriffliches Mittel ist deshalb die Typologie, die mit einer begrenzten Anzahl von Reflexionsbegriffen ein komplexes Material sortieren hilft. Dies geschieht, wie vielleicht zuerst Trendelenburg festgestellt hat, zum Zwecke eines »bedeutsamen Überblicks«. 62 Eine ähnliche Funktion wie eine Typologie hat das, was der späte Wittgenstein (allerdings nur bezogen auf Sprachanalysen) »übersichtliche Darstellung« nennt. 63 Adorno hat darauf hingewiesen, dass das Denken in Idealtypen kein identifizierendes oder subsumierendes Denken ist, kein Herrschaftswissen, sondern ein Denken in Konstellationen, das die Gegenstände nicht bezwingt, sondern sich bewusst bleibt, dass diese niemals in den Begriffen aufgehen. 64

Vgl. Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 206–237. Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation, 164 f., 198 u. ö. 62 Adolf Trendelenburg, Über den letzten Unterschied der philosophischen Systeme (1847), zit. nach: Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 113. 63 Vgl. Wittgenstein, PU § 122. 64 Adorno, GS VI: Negative Dialektik, 166 ff. 60 61

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(b) Vermittlung von Deskriptivem und Normativem Schließlich besteht die große Aufgabe, zwischen empirisch-theoretischen und normativ-praktischen Aussagen einen Zusammenhang herzustellen. Eine Subsumtion ist unmöglich: Wer normativ-praktische Aussagen aus empirisch-theoretischen abzuleiten versucht, begeht einen Sein-Sollens-Fehlschluss (auch naturalistischer oder empiristischer Fehlschluss genannt). Psychologisch liegt ein solcher Denkfehler nahe; wir neigen dazu, das Bestehende für das Gute zu halten – aus argumentationslogischer Sicht ist es dennoch falsch. Wer hingegen empirisch-theoretische aus normativ-praktischen Aussagen abzuleiten versucht, begeht einen normativistischen Fehlschluss. Psychologisch entspricht dieser Denkfehler dem Phänomen des Wunschdenkens: Weil wir wollen, dass es so ist, nehmen wir an, es sei so – oder negativ: Wir akzeptieren nicht, dass etwas anders ist, als es sein soll. Diese beiden Fehler muss man vermeiden. Dennoch strebt unsere Vernunft danach, eine Einheit herzustellen, die Bereiche des Seins und des Sollens zu verknüpfen. Dabei besitzen die normativ-praktischen Aussagen jedoch einen Primat. In Kants vermögenspsychologischer Terminologie ausgedrückt: Weil empirischtheoretische Aussagen eine Verstandesleistung darstellen, jedoch normativ-praktische Aussagen auf Vernunft beruhen, stehen diese ›höher‹ ; sie gelten unbedingt, während jene nur in unserer empirischen Welt wahr sind. Auch für diese Synthesis zweiter Stufe ist nach Kants Ansicht die reflektierende Urteilskraft zuständig. Sofern sich diese Reflexionen auf das beziehen, was uns absolut betrifft, spreche ich ergänzend zu Kants Terminologie von metaphysischen Aussagen. Deren begriffliche Mittel sind Brückenprinzipien, mit denen die Kluft zwischen Sein und Sollen vermittelt oder sogar überwunden werden soll. Nach Kants Auffassung gibt es ein subjektiv-apriorisches Prinzip der reflektierenden Urteilskraft: den Begriff der Zweckmäßigkeit. Die Zusammenhänge, die die metaphysischen Reflexionen herstellen, sollen zweckmäßig sein. Weil wir dieses Prinzip immer schon voraussetzen, ist Zweckmäßigkeit ein transzendentaler Begriff. Welchen Status hat der Begriff der Zweckmäßigkeit? Er ist keine unausweichliche Präsupposition, die (wie die Kategorien, beispielsweise Kausalität) notwendigerweise auf alle Erscheinungen zutrifft und ohne die wir gar nichts erkennen würden. Es handelt sich aber auch nicht um einen empirischen Begriff (bzw. eine empirischtheoretische Gesetzesannahme), die sich falsifizieren ließe. Zweck56

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mäßigkeit ist vielmehr eine widerlegbare Präsumtion, die wir notwendigerweise entwickeln und an die Phänomene herantragen. 65 Oftmals lässt sich diese Vorannahme nicht bestätigen, dennoch geben wir sie nicht auf. Prinzipien mit einem ähnlichen methodischen Stellenwert finden wir bei allen menschlichen Tätigkeiten. Einige Beispiele seien aufgezählt: Bei Prozessen des Verstehens, also in der Hermeneutik, gibt es den Vorgriff auf Vollkommenheit bzw. das Prinzip der Nachsicht (II.6.b); bei unseren alltäglichen Interaktionen wird unterstellt, dass der Andere ein Mensch ist; im Rechtswesen gilt die Unschuldsvermutung für den Angeklagten; in Erziehungsprozessen unterstellen wir, dass das Kind entwicklungswürdige Anlagen in sich trägt usw. An anderer Stelle deutet Kant ein zweites apriorisches Prinzip an. Er schreibt nämlich, dass die Urteilskraft die Frage »Worauf kommt’s an?« stelle (Anthr., Ende 1. Buch, XII: 547). Die reflektierende Urteilskraft, so kann man diese Stelle interpretieren, verwendet immer den Gesichtspunkt der Wichtigkeit. Denn sie bezieht sich auf eine Vielzahl von Aussagen, bei deren Verknüpfung unterschiedliche Relevanzen zu berücksichtigen sind. Wichtigkeiten lassen sich nur unterscheiden, wenn wir Entitäten (auch symbolischen Entitäten wie Aussagen) generell einen Wert zuschreiben. Der Begriff der Wichtigkeit ist deshalb das zweite transzendentale Prinzip des Reflektierens. Die Unausweichlichkeit des Wertens ergibt sich aus der Notwendigkeit des Vorziehens (Präferierens); wenn wir überhaupt in die Welt reflexiver Aussagen eintreten, dann können wir nicht anders, als dort auch Wertungen vorzunehmen. Das gilt nicht nur für normativ-praktische Aussagen, wo dies offensichtlich der Fall ist. Deskriptive Aussagen selbst enthalten zwar keine Wertungen, aber die Reflexion auf deskriptive Aussagen bewertet diese mit Prädikaten wie »wahr/falsch«, »triftige/nicht triftige Begründung«, »elegante/ nicht elegante Erklärung« usw. In einem kurzen Fazit dieses Kapitels kann man sagen, dass es unterschiedliche Arten reflexiver Aussagen gibt: in der Logik (logische Reflexion), in der Transzendentalphilosophie (transzendentale Reflexion), in der Ästhetik, in einer kritischen Teleologie, in der Kultur- und Geschichtsphilosophie, in der praktischen Philosophie. Uns interessieren im Folgenden vor allem die reflexiven Aussagen der

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Metaphysik. Im Unterschied zu den anderen beziehen sich diese gemäß unserer Begriffsbestimmung von moderner Metaphysik auf das, was uns absolut betrifft. Zudem halten wir folgende Merkmale fest: Metaphysische Aussagen richten sich auf den Zusammenhang von deskriptiven und normativen Aussagen. Ihnen liegen zwei transzendentale Prinzipien zugrunde: zum einen der Begriff der Zweckmäßigkeit und zum anderen der Begriff der Wichtigkeit. Auf diese drei Begriffe werden wir später in anderer Terminologie zurückkommen (II.4., III.1.4.).

6.

Einige Merkmale der abschließenden Metaphysik

Im Folgenden sollen einige weitere Merkmale der abschließenden Metaphysik dargestellt werden, einige Besonderheiten ihres wissenschaftstheoretischen Status: (a) Sie ist offen, aber in ihrer Vorgehensweise nicht beliebig. (b) Ihre Aussagen sind synthetisch, aber sie beanspruchen keine strikte Wahrheit, sondern nur intersubjektive Plausibilität. (c) Deshalb kann man auch von Orientierungswissen sprechen, das keine zwingende Verbindlichkeit besitzt. (a) offen, aber nicht beliebig Die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft ist prinzipiell nicht abschließbar; sie gelangt nicht zu bestimmenden, sondern nur zu vorläufigen Urteilen (iudicia praevia, MdS-TL § 50, VIII: 618). Eine definitive Erledigung von Vermittlungsaufgaben wäre nur möglich um den Preis der Nivellierung der Relata oder der Beseitigung eines der beiden Glieder. In diesem Sinne ist die abschließende Metaphysik eben gerade nicht abschließend, sondern bleibt immer offen, eine unendliche Aufgabe. Dadurch unterscheidet sich der kantianische Ansatz vom Modell der klassischen Metaphysik. Die durch die Metaphysikkritik verlorene Einheit der Philosophie ist nicht wiederzugewinnen; der Systemanspruch der klassischen Metaphysik muss fallengelassen werden. Die Aussagen der abschließenden Metaphysik bilden zwar nicht bloß einen zufälligen äußeren Zusammenhang, den Kant »Aggregat« nennen würde (KrV B 89, B 763 u. ö.), aber sie fügen sich auch nicht zu einem deduktiv aus einem Prinzip ableitbaren System zusammen 58

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(vgl. KrV B 860). Zwar kann es der reflektierenden Urteilskraft gelingen, die verschiedenen Momente (also etwa theoretische und normative Begriffe) in Relation zueinander zu setzen. Aber es besteht ein wichtiger Unterschied zwischen den ersten beiden Kritiken und Kants dritter Kritik: Auf der Grundlage der »Kritik der Urteilskraft« kann man keine systematische Lehre (Doktrin) errichten. Diesen besonderen Status der abschließenden Metaphysik macht Kant durch eine feine Differenzierung deutlich: Alle drei untersuchten Vermögen sind gesetzgebend. Aus dem theoretischen Verstand entspringen die kognitiven Strukturen, die wir aller unser Welterkenntnis zugrunde legen; man kann deshalb sagen, dass wir »der Natur gleichsam das Gesetz« vorschreiben (KrV B 159, vgl. B 163). Die praktische Vernunft stellt die Normen auf, nach denen sich unser Handeln in der Welt richten soll; ihre Selbstgesetzgebung (Autonomie) bestimmt unser Handeln. Auch die reflektierende Urteilskraft ist selbstgesetzgebend; aber die von ihr erzeugten Regeln beziehen sich weder auf die Welt noch auf unser Handeln, sondern allein auf unser Denken. Sie ist deshalb nicht autonom, sondern (wie Kant sagt) heautonom (heautou = in Bezug auf sich selbst) (KdU, Einl. VI, X: 95). Die moderne Metaphysik ist kein System. Hingegen kehren Schelling und Hegel in dieser Hinsicht zur klassischen Metaphysik zurück. Schelling macht die Einschränkungen, unter denen Kant die teleologischen Begriffe der reflektierenden Urteilskraft gebraucht, rückgängig (vgl. III.1.3.). Hegel schreibt in einem frühen Aufsatz, der Vermittlungsversuch der »Kritik der Urteilskraft« sei »der interessanteste Punkt des Kantischen Systems« 66 . Kants Fehler sei es aber, zwischen den verschiedenen kognitiven Vermögen Mauern zu errichten; tatsächlich aber, so Hegel, könne man von der reflektierenden Urteilskraft zur bestimmenden und von dieser zur Vernunft übergehen. Zudem halte Kant fälschlicherweise das für subjektive Zutaten, was die Wahrheit selbst sei. Schelling und Hegel entwickeln folgerichtig ein »System des transzendentalen Idealismus« bzw. ein »System der Wissenschaften«, das unter den kantianischen Prämissen nicht möglich ist. Das andere Extrem sind Positionen, nach denen unser gesamtes Wissen bloß den Status hat, den Kant den Aussagen der reflektierenden Urteilskraft

Hegel, Werke II: 322 (»Glauben und Wissen«, 1802); vgl. ders., Werke VIII: Enzykl. §§ 55 bis 58.

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zuschreibt. Diese Ansicht vertritt etwa Hans Vaihinger, der sämtliche Erkenntnisse, auch die der Logik, Mathematik, Physik und Moralphilosophie, als Fiktionen, als als-ob-Aussagen deutet. Auch die Konzeptionen eines Radikalen Konstruktivismus könnten hier genannt werden. Die Offenheit des metaphysischen Reflektierens führt allerdings zu keiner Beliebigkeit. Erstens stützen sich metaphysische Reflexionen auf die begründeten Aussagen der anderen philosophischen Disziplinen, vor allem kritisch-transzendentalphilosophische, empirisch-theoretische und normativ-praktische Aussagen. Zweitens lassen sich Maximen formulieren, denen das metaphysische Reflektieren folgen sollte. Diese finden sich bei Kant zwar an anderer Stelle, nämlich in seinen Ausführungen über den gesunden Menschenverstand bzw. den Gemeinsinn. Aber sie können, wenn man Kants Spezifizierungen außer Acht lässt, problemlos auf die Tätigkeit des Reflektierens übertragen werden. Die Maximen sind (KdU § 40, vgl. Anthr., Ende 1. Buch, XII: 549): 1. Selbstdenken (vorurteilsfreies Denken); 2. an der Stelle jedes anderen denken (erweitertes Denken); 3. jederzeit mit sich selbst einstimmig denken (konsequentes Denken). (b) synthetisch, aber bloß intersubjektiv plausibel Zu welcher Art von Wissen führen metaphysische Reflexionen? Wissen, so hieß es oben, beruht auf wahren begründeten Überzeugungen. Aber sowohl der Begriff der Wahrheit als auch die Begründungstypen unterscheiden sich je nach Wissensform. Um den spezifischen Charakter des Wissens der abschließenden Metaphysik deutlich zu machen, empfiehlt sich der Rückgriff auf Kants berühmte Urteilslehre, wie sie vor allem in der Einleitung zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« entwickelt wird. Kant kombiniert zwei Differenzierungen, die ich in anderer Terminologie rekonstruiere. Die Unterscheidung zwischen a priori und a posteriori bezieht Kant auf die Quelle der Erkenntnisse, den Verstand und die Erfahrung. Die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen wird von Kant semantisch eingeführt: In analytischen Urteilen erläutert das Prädikat bloß das, was bereits das Subjekt enthält; in synthetischen Urteilen erweitert das Prädikat das 60

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Subjekt, geht über dieses hinaus. In analytischen Urteilen wird deduziert; bei synthetischen Urteilen liegt ein kreatives Denken vor. Das Unterscheidungskriterium lässt sich auch so formulieren: Über die Wahrheit von analytischen Urteilen entscheidet allein eine erfahrungsunabhängige Instanz, letztlich unsere Vernunft; bei synthetisch-aposteriorischen (also: empirischen) Aussagen entscheidet die wirkliche Erfahrung, bei synthetisch-apriorischen (oder kurz: synthetischen) Aussagen entscheidet die mögliche. Wahre synthetische Aussagen gelten also nicht für alle Welten, die wir uns vorstellen können, sondern für alle Welten, die wir erfahren können. Betrachten wir Kants Urteilslehre genauer. Erstens gibt es die empirischen Aussagen. Da in solchen Sätzen immer Allgemeinbegriffe verwendet werden, die auf theoretischen Vorannahmen beruhen, kann man auch von empirisch-theoretischen Aussagen sprechen. Sie sind wahr, wenn der gemeinte Sachverhalt wirklich besteht. Empirisches Wissen dieser Art ist prinzipiell überführbar in Verfügungswissen: Wenn es ein Ziel gibt, können die dafür geeigneten Mittel in der Regel empirisch bestimmt werden. Der zweite Typ sind die analytischen Aussagen. Sie gibt es nicht nur (wie Kant meinte) in der Logik, sondern auch in Mathematik und Mengenlehre sowie in der Semantik. Analytische Aussagen sind wahr in allen möglichen Welten. Allerdings muss man hinsichtlich der semantischen Aussagen eine Einschränkung machen. Diese sind nämlich dem historischen Wandel nicht entzogen. Das gilt sogar für das beliebteste Beispiel eines semantisch-apriorischen Satzes: »Junggesellen sind unverheiratet«. Denn im späten Mittelalter verstand man unter Junggesellen die auf Wanderschaft befindlichen Handwerksburschen, in der frühen Neuzeit dann junge unverheiratete Männer. Erst später setzte sich die heutige Bedeutung durch, unter einem Junggesellen einen unverheirateten Mann beliebigen Alters zu verstehen. Im 15. Jahrhundert wäre der Satz »Alle Junggesellen sind auf Wanderschaft« analytisch gewesen, heute ist ein solcher Satz empirisch (und falsch). Semantische Aussagen sind also wahr für alle Möglichkeiten in einer bestimmten Sprachwelt. Darüber hinaus kann man sich fragen, ob es nicht auch analytische Aussagen a posteriori gibt. Ein solcher Satz ist aus seinen Prämissen deduktiv ableitbar, aber nicht für unsere begrenzte Vernunft, sondern beispielsweise nur für einen Computer. Wissenschaften wie Meteorologie und Ozeanographie arbeiten überwiegend mit solchen Aussagen. Aber wie dem auch sei, sowohl der Rationalismus als auch der A

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Empirismus kennen nur empirische und analytische Aussagen. 67 Der moderne Empirismus geht nur insofern über seine Vorläufer hinaus, als er die eindeutige Unterscheidbarkeit der beiden Aussagetypen bezweifelt. 68 Die Schicksalsfrage des kantianischen Ansatzes ist, ob es synthetische Aussagen gibt. Kant behauptet, dass solche synthetischapriorischen Urteile in der gesamten Mathematik und in den Grundlagen der Naturwissenschaft zu finden seien. Das muss man wohl aus heutiger Sicht, auch hinsichtlich seiner Beispiele, revidieren. Wie oben bereits erwähnt, hat der Logische Empirismus Recht, dass mathematische Aussagen wie diejenigen der Logik und der Semantik analytisch a priori sind. Das gilt allerdings nicht für die Axiome der Logik und Mathematik; bei diesen handelt es sich tatsächlich um synthetische Aussagen. Die Frage, ob es vorempirisch-theoretische und somit synthetische Aussagen der Naturphilosophie gibt, kann an dieser Stelle offen gelassen werden (vgl. aber III.1.4.). Klar ist aber, dass die normativen und evaluativen Aussagen der Ethik und Ästhetik synthetisch sind. Aus Humes Entdeckung des Sein-Sollens-Fehlschlusses kann man nämlich zwei Konsequenzen ziehen: Entweder man folgt dem radikalen Empirismus und leugnet die Möglichkeit einer normativen Ethik – oder man zieht die Kantische Konsequenz, dass Normenbegründungen nicht empirisch, sondern synthetisch vorzunehmen sind. (Das dritte Paradigma, der objektive Idealismus, tendiert zu einer Kombination der beiden Aussagetypen in der Ethik: Die evaluativen Aussagen der Wertethik sind zugleich deskriptiv wie empirische Aussagen und normativ wie synthetische Aussagen.) Normativ-praktische Aussagen sind wahr nur in einem übertragenen Sinne, nämlich im Sinne einer Begründung, die für jedes vernünftige Wesen überzeugend ist. Ästhetische Aussagen erheben denselben Anspruch, ohne dass man diesen aber einlösen könnte; ästhetische Begründungen sind nach Kants Auffassung immer unzureichend. Neben den Axiomen der formalen Wissenschaften und den normativ-praktischen Aussagen sowie möglicherweise vorempirischtheoretischen und ästhetischen Aussagen gibt es noch die synthetischen Aussagen in der kritischen Transzendentalphilosophie und in Leibniz, Monadologie, § 33; Hume, Untersuchung über den menschlichen Verstand, 4. Abschnitt. 68 Quine, Von einem logischen Standpunkt, 27 ff. (»Zwei Dogmen des Empirismus«); vgl. schon Schopenhauer, ZA III: 44 (Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band, Kap. 4). 67

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der abschließenden Metaphysik. Für den Unterschied zwischen den beiden Letzteren spielt eine oft übersehene Differenzierung Kants eine Rolle: Die Grundlagenreflexionen operieren mit reinen Begriffen, »denen gar nichts Empirisches beigemischt ist« (KrV B 3). Es gibt aber auch apriorische Begriffe, die sich auf mögliche Erfahrung beziehen bzw. auf Erfahrung überhaupt. Mit solchen Begriffen operieren die Metareflexionen der abschließenden Metaphysik; ein Beispiel wären geschichtsphilosophische Reflexionen über die Möglichkeit des Fortschritts. Das reflexive Grundlagenwissen ist wahr, weil sein Gegenteil gar nicht vorstellbar bzw. möglich wäre. Das reflexive Metawissen der abschließenden Metaphysik ist dann wahr, wenn eine überzeugende Zusammenführung der anderweitig begründeten deskriptiven und normativen Aussagen gelingt. Das mag wegen der Offenheit der abschließenden Metaphysik auf verschiedene Weise gelingen. So kann es zu unterschiedlichen Ansätzen kommen, die sich gegenseitig ausschließen, aber nicht im Sinne eines binären wahr/falsch-Gegensatzes. Vielmehr wird es sich um Standpunkte handeln, die man nicht gleichzeitig einnehmen kann. Obwohl es also in der Metaphysik um Wissen geht, das uns absolut betrifft, kann hier von Wahrheit nur im Sinne einer intersubjektiven Plausibilität gesprochen werden – mehr ist von einer abschließenden Metaphysik nicht zu erwarten. 69 (c) orientierend, aber nicht verbindlich Die Art des Wissens, zu dem die reflektierende Urteilskraft führt, nenne ich Orientierungswissen. Die vermittelnden Reflexionen im Rahmen der theoretischen Philosophie führen zu theoretischer Orientierung; das bezieht sich also auch auf die kritische Teleologie sowie die kultur- und sozialwissenschaftlichen Reflexionen, die mit Idealtypen arbeiten. Die vermittelnden Reflexionen im Rahmen der praktischen Philosophie, denen Kant keine Bedeutung zumisst, führen zu einer praktischen Orientierung. Schließlich erzeugen die metaphysischen Reflexionen bei der Vermittlung von Sein und Sollen metaphysisches Orientierungswissen. Es tritt an die Stelle des von

Vgl. Kamlah/Lorenzen, Logische Propädeutik, 146–149, die das allgemein anerkannte wissenschaftliche Wissen vom ›existenztragenden Wissen‹ unterscheiden.

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Scheler so bezeichneten Heilswissens, das eher für die Vormoderne charakteristisch ist. Den Begriff der Orientierung hat Kant schon vor der »Kritik der Urteilskraft« behandelt, 1786 in dem kleinen Aufsatz »Was heißt: Sich im Denken orientieren?« (V: 265–283). Dort spricht er von drei Arten der Orientierung, die alle auf subjektiv-apriorischen Prinzipien beruhen. Erstens gibt es die geographische Orientierung an den vier Himmelsrichtungen, die aber der links/rechts-Unterscheidung bedarf, die ich an meinen beiden Händen ablesen kann. Zweitens gibt es die mathematische Orientierung, die sich auf formal-apriorische Axiome stützen muss. Schließlich geht es Kant um die gedankliche Orientierung. Zu dieser heißt es: »Sich im Denken überhaupt orientieren heißt also: sich, bei Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft, im Fürwahrhalten nach einem subjektiven Prinzip derselben zu bestimmen.« (270 Fn) In der Einleitung zur »Kritik der Urteilskraft« wird der Begriff wieder aufgegriffen: Orientierung ist notwendig, wenn wir uns in einem Kontext befinden, über den wir nur unvollständiges Wissen besitzen können. Wir müssen dann von subjektiven Prinzipien ausgehen, um die notwendigen Zusammenhänge herzustellen. An verschiedenen Stellen verwendet Kant in diesem Kontext den Begriff des Leitfadens (u. a. KdU XXXVI). Orientierungen geben eine Richtung an, sind aber nicht verbindlich, wie etwa moralische Gebote. Ein Orientierungspunkt ist kein Wegweiser. Ein Wegweiser richtet sich genau auf ein bestimmtes Ziel; für dieses darf es keinen zweiten, davon abweichenden geben. Hingegen ist es gut, wenn wir über eine Mehrzahl von Orientierungspunkten verfügen. Diese kann man auch negativ nutzen, ihnen gleichsam den Rücken zuwenden und genau in die entgegengesetzte Richtung gehen. Allerdings darf es auch nicht zu viele Orientierungspunkte geben, denn dann sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Dass wir uns in einem Ganzen befinden, das wir nicht überblicken und durchschauen können, ist typisch für die Situation der Menschen in der modernen Welt. Was unter metaphysischer Orientierung verstanden werden sollte, kann man an dem gängigen Bild des Lebens als einer Reise verdeutlichen. Ich werde durch Zufall in eine fremde Stadt verschlagen (»Geworfenheit«). Nehmen wir an, es sei Rostock. Ich möchte wissen, was es Interessantes zu sehen gibt. Deshalb befrage ich andere Menschen oder lese in Stadtführern. Ich werde auf verschiedene Dinge aufmerksam gemacht: »Am schönsten 64

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ist der Universitätsplatz!« – »Sie sollten unbedingt die östliche Altstadt angucken!« – »Auf jeden Fall muss man nach Warnemünde fahren!« Bei der Befolgung der Ratschläge darf ich selbstverständlich allgemein gültige Normen nicht verletzen (etwa durch Schwarzfahren). Sodann müssen die empirischen Informationen der unterschiedlichen Ratschläge korrekt sein. Die Verbindung der empirischen Daten mit ihren verschiedenen Wertsetzungen (Was lohnt es sich, in Rostock anzugucken?) muss ich jedoch selbst vornehmen. Dazu greife ich auf subjektiv-apriorische Prinzipien zurück. Dann kann der Aufenthalt in Rostock sinnvoll werden.

7.

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Die abschließende Metaphysik dreht sich um den Sinn des Lebens. Danach gesucht haben in einem weiten Sinne Menschen wohl zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften. Insbesondere die Religionen können als Antworten auf Sinnfragen verstanden werden. Das hat Max Weber in seinen religionssoziologischen Untersuchungen gezeigt (vgl. dazu später in IV.1.b). Aber in einem engeren Sinne, so meine These, sind Sinnfragen charakteristisch für die am Ende des 18. Jahrhunderts beginnende Moderne. Das kann auf zweierlei Weise gezeigt werden, einmal durch einen Abriss der Geschichte des Standardausdrucks »Sinn des Lebens«, zum anderen durch eine sozialphilosophische Analyse der Ursachen von Sinnkrisen. Damit möchte ich beginnen. Dass die Frage nach dem Sinn des Lebens typisch sei für die Moderne, wird auch von Tillich und Habermas vertreten. Tillich spricht von drei historischen Zäsuren, bei denen jeweils unterschiedliche Typen der Angst im Vordergrund standen. 70 Am Ende der Antike überwog die ontische Angst, d. h. die Angst vor Tod und Vergänglichkeit. Die Antwort, die sich durchsetzt, ist das Christentum (und später der Islam) mit seiner Lehre von der persönlichen Unsterblichkeit. Am Ende des Mittelalters dominierte die moralische Angst, d. h. die Angst vor Schuld und Verdammnis. Eine Antwort darauf ist der Protestantismus mit dem lutheranischen Verständnis einer Rechtfertigung durch den Glauben und mit der calvinistischen Prädestinationslehre. Schließlich wird das Ende der Neuzeit, wie Tillich diagnostiziert, ge70

Tillich, Der Mut zum Sein, 33 ff. u. 45–49. A

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prägt durch die geistige Angst, die Angst vor Sinnlosigkeit und Leere. Einen noch weiteren Bogen schlägt Habermas. Bereits in den siebziger Jahren hat er »Sinn« als die im »Spätkapitalismus« knapp werdende Ressource bezeichnet. 71 Diese These steht im Rahmen einer gewagten Theorie der sozialen Evolution: Die archaischen Wildbeutergesellschaften stehen vor dem Problem, sich gegenüber der Natur zu behaupten; das gelingt durch kooperative Sozialverbände mit politischen Hierarchien. Die hochkulturellen Agrargesellschaften stehen vor dem Problem, Rechtssicherheit für die große Zahl ihrer Mitglieder herzustellen; das gelingt durch die Konstruktion rationaler Weltbilder. Die neuzeitlichen Industriegesellschaften stehen vor dem Problem, materiellen Reichtum angemessen zu verteilen; das gelingt den sozialstaatlichen Massendemokratien zumindest ansatzweise. Hingegen stehen die post-industriellen Dienstleistungsgesellschaften der Gegenwart vor dem Problem, dass die Menschen ihren Lebenssinn verloren haben. Tatsächlich ist in den demokratischen Wohlstandsgesellschaften der westlichen Welt (oder zumindest in Teilen von ihnen) die materielle Existenz der Individuen gesichert. Die alten Geißeln »Pest, Hunger und Krieg« sind weitgehend abgeworfen. Aber gerade deshalb treten nun andere Problemlagen hervor. In diesem Zusammenhang sei an die berühmte Bedürfnishierarchie von Abraham Maslow erinnert: Sein Grundgedanke ist, dass höherrangige Wünsche erst dann in den Vordergrund treten können, wenn die niederrangigen erfüllt sind. Frei nach Brecht: Erst kommt das Essen, dann die Moral, schließlich der Sinn. Metaphysische Bedürfnisse wie das Streben nach Transzendenz oder kosmischer Harmonie stehen an der Spitze von Maslows Bedürfnispyramide, sie setzen also die Befriedigung aller anderen Bedürfnisse voraus. 72 Soziologen haben dies ansatzweise für die demokratischen Wohlstandsgesellschaften bestätigen können: Es gibt einen säkularen Trend von materialistischen zu post-materialistischen Werten. 73 Mit dieser Entwicklung ist eine andere verbunden, die Individualisierung. In früheren Epochen verstanden sich die Menschen als Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 182; vgl. ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: 447 u. 477 f. 72 Maslow, Motivation und Persönlichkeit, bes. Kap. 4; ders., Psychologie des Seins, wo einiges zu den höheren Bedürfnisstufen ergänzt wird. 73 Vgl. als Klassiker Inglehart, Kultureller Umbruch, Kap. 2: Das Vordringen der postmaterialistischen Werte. 71

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Elemente einer umfassenden Kette der Wesen, als Kinder Gottes oder als Mitglieder eines Kollektivs (von der Horde bis zum Volk). In der Neuzeit, teilweise schon nach der Entwertung des christlichen Glaubens, trat vor allem der sinnstiftende Gedanke der Nation in den Vordergrund. Die Zugehörigkeit zu einer solchen schien für viele Europäer alle Sinnfragen zu beantworten; jedenfalls waren sie bereit, für deren Macht ihr Leben zu opfern, unter anderem in zwei Weltkriegen. In den letzten Jahrzehnten ist aber der »mittlere Gott« der Nation durch die »kleinen Gott« des eigenen Ichs abgelöst worden: Die modernen Menschen begreifen sich jetzt als Individuen, die primär für sich selbst verantwortlich sind. Tatsächlich müssen wir unser Leben selbst in die Hand nehmen, sehr viel mehr biographisch relevante Entscheidungen treffen als früher; dabei verfügen wir sogar über mehr Optionen, als sich je verwirklichen ließen. Aber wofür sollen wir leben, geschweige denn unser Leben einsetzen? Früher waren die Lebensmittel, die Mittel zum Leben knapp, jetzt sind die Lebensziele knapp, eben die Vorstellungen eines erfüllten Daseins. Das führt paradoxerweise zu einem Überangebot von Sinnversprechungen, von der Werbung über die Gesundheitsindustrie bis hin zu obskuren Sekten. In zeitdiagnostischen Romanen wie »Ausweitung der Kampfzone« von Michel Houellebecq, »Life After God. Die Geschichten der Generation X« von Douglas Coupland und »Die Korrekturen« von Jonathan Franzen wird diese Situation, bezogen auf die demokratischen Wohlstandsgesellschaften am Ende des 20. Jahrhunderts, eindringlich dargestellt. Nur auf Sex, Geld und Markenartikel lässt sich kein sinnvolles Leben aufbauen. Ein weiterer Faktor, der dazu beitragen wird, dass die metaphysische Sinnfrage aktuell bleibt, ist der wissenschaftliche Fortschritt. Max Weber hat diesen in Verbindung gebracht mit dem epochenübergreifenden religionsgeschichtlichen Prozess der Entzauberung. Dessen Muster ist die Überwindung des magischen Denkens, von dem sich Elemente noch im heutigen Denken finden, vor allem in der Orientierung am Charisma. Einen vorläufigen Endpunkt der Entzauberung sieht Weber im Calvinismus erreicht. Weber betont, dass sich mit der Entzauberung der Welt überhaupt erst die metaphysische Sinnfrage in expliziter Form stellt. 74 Die Dinge der Welt verlie»Je mehr der Intellektualismus den Glauben an die Magie zurückdrängt, und so die Vorgänge der Welt ›entzaubert‹ werden, ihren magischen Sinngehalt verlieren, nur noch ›sind‹ und ›geschehen‹, aber nichts mehr ›bedeuten‹, desto dringlicher erwächst

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ren ihre geheimnisvolle Aura und wir erkennen, dass sich im Prinzip alles wissenschaftlich erklären lässt. Wenn es aber nichts mehr gibt, das eine übernatürliche Bedeutung hat, büßt auch unser Leben die ihm bisher unterstellte ontologische Wichtigkeit ein. »Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht.« 75 Aber gerade der Untergang des immer schon unterstellten Sinns wirft die Sinnfrage auf. Wissenschaftliche Erkenntnisse können in Verfügungswissen überführt werden, in Technik im weitesten Sinne. Inzwischen ist die moderne Technologie so weit fortgeschritten, dass wir auch unsere innere Natur zum Gegenstand instrumenteller Eingriffe machen können. Die menschlichen Zeugungs- und Geburtsvorgänge könnten durch reproduktionsmedizinische und gentechnische Mittel völlig umgestaltet werden. Entsprechendes gilt für Sterben und Tod. Krankheiten und Schmerzen lassen sich durch medizinische und pharmazeutische Eingriffe immer besser bekämpfen. Das gilt auch für psychische Beschwerden, selbst für Antriebslosigkeit und Aggressivität. Aus den USA erreichen uns immer neue Sciencefiction-Phantasien von angesehenen Wissenschaftlern (Moravec, Tipler, Kurzweil u. a.), die darauf hinauslaufen, dass wir unseren »Geist« (unsere Datenverarbeitungskapazitäten) auf Computer »herunterladen« sollten, um besser für die kommenden kosmischen Katastrophen gerüstet zu sein. Werden leiblose Wesen noch nach dem Sinn ihres Lebens fragen? Aber bevor es so weit ist, werden die neuen technischen Möglichkeiten uns wohl darüber nachdenken lassen, was eigentlich der Sinn unserer Leiblichkeit und Pluralität, unserer Natalität und Mortalität, unserer Hinfälligkeit und Schuldfähigkeit sein mag. Schließlich hat sich generell die Einstellung zu den menschlichen Lebensverhältnissen gewandelt. Durch die neuen technischen Möglichkeiten, aber auch durch die Erfahrungen großer revolutionärer Umbrüche erscheint uns die Geschichte nicht mehr nur als göttliche Vorsehung oder Schicksal, sondern wenigstens teilweise als Handlungsprodukt, das in unserer Macht steht. Deshalb kann der Sinn der Geschichte nicht nur verstanden, sondern auch gestiftet werden. Diese veränderte Einstellung schlägt sich beispielsweise in Marx’ berühmter Forderung nieder, die Welt nicht zu interpretieren, die Forderung an die Welt und ›Lebensführung‹ je als Ganzes, daß sie bedeutungstragend und ›sinnvoll‹ geordnet seien.« (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 308) 75 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 27.

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sondern zu verändern. Dadurch wird die Suche nach dem Sinn des Lebens von einer theoretischen zu einer praktischen Frage.

8.

Zur Wort- und Begriffsgeschichte von »Sinn des Lebens«

Die im vorigen Kapitel dargestellten Bedingungen mögen vereinzelt immer wieder aufgetreten sein, charakteristisch sind sie erst für die letzten beiden Jahrhunderte. Die moderne Gesellschaft ist also der Nährboden für die Frage nach dem Sinn des Lebens. Diese Hypothese lässt sich durch die Wort- und Begriffsgeschichte bestätigen. Im alten Griechisch und im Lateinischen, auch in der Bibel finden wir kein Äquivalent für diese Wortverkettung. Erst um 1800 taucht das Syntagma im Kreis der frühen Romantiker auf 76 und setzt sich fast genau hundert Jahre später durch Tolstoi-Übersetzungen gegen Konkurrenzformulierungen wie »Zweck des Lebens« und »Wert des Daseins« durch. (a) Vorläufer Davor gibt es jedoch noch William Shakespeare. Jeder kennt den Satz, den er einem seiner tragischen Helden Anfang des 17. Jahrhunderts in den Mund legte: »Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage«. Hamlet sinnt über Tod und Moral; er steht vor der Alternative zwischen zwei Lebensformen, vita contemplativa und vita activa; zudem sucht er nach Wahrheit in einer wahrheitsfeindlichen Umgebung. Erlösungshoffnung oder metaphysische Rückendeckung kennt er nicht. Zwar bleibt Hamlets Nachdenken an seine konkrete Situation gebunden, aber man kann es auch auf die allgemeine Frage nach dem Sinn des Lebens beziehen. Andere Dramen Shakespeares, in erster Linie der düstere »King Lear«, lösen ebenfalls radikale metaphysische Reflexionen aus. Existenzielle Verzweiflung, wie bei Hamlet oder König Lear, können wir jedoch bereits in der klassischen Antike oder sogar früher finden. Allerdings taucht bei Shakespeare, soweit ich recherchieren Vgl. Gerhardt, Art. Sinn des Lebens, 815–824; ders., Sinn des Lebens. Über einen Zusammenhang zwischen antiker und moderner Philosophie, 371–386; C. Fehige/ G. Meggle/U.Wessels, Vorab, 19–22.

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konnte, tatsächlich zum ersten Mal die Rede vom Sinn des Lebens auf. Kurz vor dem dramatischen Ende, als ihm der Tod seiner Frau gemeldet wird, spricht MacBeth die folgenden Worte: »Life’s but a walking shadow, a poor player/That struts and frets his hour upon the stage/And then is heard no more: it is a tale/Told by an idiot, full of sound and fury,/Signifying nothing.« 1765 werden die letzten Zeilen von Christoph Martin Wieland folgendermaßen ins Deutsche übersetzt: »Leben ist … ein Märchen, das ein Dummkopf erzählt, voll Schall und Bombast, aber ohne Sinn.« Hingegen übersetzt einige Jahrzehnte später Dorothea Tieck, die Tochter von Ludwig Tieck, für die Schlegel-Ausgabe wörtlicher: »Ein Märchen ist’s, erzählt von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,/Das nichts bedeutet.« Die semantische Terminologie (»Sinn«, »bedeuten«) liegt bei diesem Shakespeare-Zitat deshalb nahe, weil das Bild für das menschliche Leben hier eine symbolisches Entität, ein Märchen, ist und nicht wie sonst oft eine Reise, ein Kampf, ein Jammertal oder (wie vor allem in Indien) das Rad. Andere symbolische Gebilde, die für metaphorische Wendungen dieser Art verwendet wurden, waren die Begriffe »Kunstwerk« und »Buch«. So sprach man beispielsweise seit der christlichen Spätantike von der Natur als einem Buch, in dem man lesen könne; deshalb findet sich auch in diesem Zusammenhang der Sinnbegriff. Ein Beispiel ist das folgende berühmte Zitat von Johann Georg Hamann aus dem Jahr 1758: »Alle Erscheinungen der Natur sind Träume, Gesichter, Räthsel, die ihre Bedeutung, ihren geheimen Sinn haben. Das Buch der Natur und der Geschichte sind nichts als Chiffern, verborgene Zeichen, die eben den Schlüssel nöthig haben, der die heilige Schrift auslegt und die Absicht ihrer Eingebung ist.« 77 Was aber hier fehlt, im Unterschied zu Wielands Shakespeare-Übersetzung, ist die Verknüpfung von »Sinn« und »Leben«. (b) Die Frühromantiker Auf die später gängige Redewendung vom »Sinn des Lebens« muss man noch einige Jahre warten. Sie erscheint in den Jahren des Baseler Friedens (1795–1806), der den Norden Deutschlands aus den Koalitionskriegen gegen das zuerst revolutionäre, dann napoleonische 77

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Hamann, Brocken (1758), 148 (§ 8).

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Frankreich heraushielt. Ein wichtiger Wegbereiter ist Johann Gottlieb Fichte. Zwar spricht auch er nirgendwo vom »Sinn des Lebens«. Aber er stellt deutlicher als Kant die metaphysische Frage nach dem Endzweck unseres Lebens bzw. der »Bestimmung des Menschen« – und er gibt eine eindeutige (und gegenüber den differenzierten Reflexionen Kants) einseitige Antwort: Endzweck ist allein das moralische Leben, geleitet durch die absolute praktische Vernunft. Im »System der Sittenlehre« von 1798 schreibt Fichte: »Der moralische Endzweck jedes vernünftigen Wesens ist … Selbständigkeit der Vernunft überhaupt«. 78 In seiner wirkungsmächtigen Schrift »Die Bestimmung des Menschen« (1800) heißt es: Nur wenn ich moralisch handele, wenn ich der inneren Stimme der Vernunft folge, nur dann hört mein Leben auf, »ein leeres Spiel ohne Wahrheit und Bedeutung zu sein«. 79 Erst in einigen späteren Schriften (»Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters«, 1804; »Anweisung zum seligen Leben«, 1806) taucht der metaphysische Sinnbegriff auf. Einschlägig ist vor allem eine Formulierung aus dem »System der Sittenlehre« von 1812: »Das Ich soll wollen nach dem vorausgesetzten Begriffe. Dieses Soll ist das innere Wesen, und der Sinn seines Daseins.« 80 Inhaltlich entspricht diese Formulierung ganz der früheren Sittenlehre, nur dass das Wort »Endzweck« durch »Sinn« ersetzt ist. Unter dem Eindruck von Fichtes früher Wissenschaftslehre stand vor allem Novalis (d. i. Friedrich von Hardenberg), der 1798 in mehreren, damals zunächst unveröffentlichten Texten als Erster vom »Sinn des Lebens« spricht. Wie kein anderer Autor seiner Zeit leidet Novalis an der Entzauberung der Welt, an der Verwandlung der Natur in mathematische Formeln und Buchstaben. »Der Sinn der Welt ist verlohren gegangen.« 81 Nicht die Wissenschaft, sondern nur die Kunst, vor allem die Poesie, könne die Natur wieder beleben: »Die Welt muß romantisirt werden, so findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder.« 82 An anderer Stelle findet sich zum ersten Mal die spä-

Fichte, Werke IV: Das System der Sittenlehre, 233, vgl. auch Fichtes Zusammenfassung, ebd. IV: 253. 79 Fichte, Werke II: Die Bestimmung des Menschen, 258 f., vgl. ebd. 248, 271, 278 u. ö. 80 Fichte, Werke XI: System der Sittenlehre (1812), 23. Die Stelle findet sich also nicht, wie Gerhardt in seinem Artikel für das »Historische Wörterbuch der Philosophie« schreibt (Sp. 822 mit Bezug auf Sp. 816) im »System der Sittenlehre« von 1798. 81 Novalis, Werke II: 383. 82 Novalis, Werke II: 334. 78

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tere Standardformel: »Nur ein Künstler kann den Sinn des Lebens errathen«. 83 In der posthum veröffentlichten Erzählung »Die Lehrlinge zu Sais« ist erneut das menschliche Naturverhältnis das zentrale Thema. Anonyme Sprecher vertreten drei unterschiedliche, philosophisch fundierte Einstellungen zur Natur. Der erste plädiert für eine langfristig angelegte, kollektiv und mit List getätigte Überwindung der Natur. Für den zweiten »offenbart sich der wahre Sinn des großen, bunten, verwirrten Schauspiels« allein in uns selbst; wenn wir mit unseren Kategorien an sie herantreten, wird uns alles wohlbekannt erscheinen. 84 Die dritte Figur empfiehlt (wohl angelehnt an Fichte), sich vor allem moralisch zu vervollkommnen, dann werde sich die Natur ihm öffnen, denn der »Sinn der Welt ist die Vernunft.« 85 An anderer Stelle heißt es, die Betrachtung der Natur könne, wenn sie sich »zur andächtigsten Religion verwandelt, einem ganzen Leben Richtung, Haltung und Bedeutung geben«. 86 Auch vom »Sinn des Todes« ist bei Novalis schon die Rede. 87 Als Symbol für das Fragen nach dem Sinn des Lebens steht die Suche nach der blauen Blume, die von Novalis in seinem berühmtesten Werk, dem im gleichen Jahr verfassten Roman »Heinrich von Ofterdingen« dargestellt wird. Neben Fichtes Wissenschaftslehre haben die frühen Romantiker ein zweites großes Diskussionsthema: Goethes 1795/96 erschienenen Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Novalis verglich das Buch mit Voltaires »Candide«; so wie sich dieser gegen Leibniz’ Theodizee richtete, würden im »Wilhelm Meister« die Kunst und die schöne Natur untergehen, zugunsten eines bürgerlichen, eines gewöhnlichen Lebens. 88 Friedrich Schlegel verwendet in seiner ebenfalls 1798 Novalis, Werke II: 351. Vgl. die Notiz über die geplante Fortsetzung des »Heinrich von Ofterdingen«: »Heinrich erräth den Sinn der Welt.« (Werke II: 395) 84 Novalis, Werke I: Die Lehrlinge zu Sais, 212. 85 Novalis, Werke I: Die Lehrlinge zu Sais, 213. 86 Novalis, Werke I: Die Lehrlinge zu Sais, 208. 87 In den Materialien zum »Heinrich von Ofterdingen« heißt es: »Helft uns nur den Erdgeist binden/Lernt den Sinn des Todes fassen/Und das Wort des Lebens finden« (Novalis, Werke I: 403). 88 Novalis, Werke II: 807. In Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahren« kommt der metaphysische Sinnbegriff nicht vor. Aber es gibt eine interessante Textstelle in der Fortsetzung, in »Wilhelm Meisters Wanderjahren oder die Entsagenden« (letzte Fassung 1829). Kurz nachdem sich Wilhelm mit Montan darüber unterhalten hat, worauf es im Leben ankomme, begegnen sie Arbeitern, die ihnen den traditionellen Bergmannsgruß 83

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erschienenen Rezension »Über Goethes Meister« die Formulierungen »Sinn für das Weltall« und »Sinn für das Universum«. 89 Das ist noch nicht der metaphysische Sinnbegriff. Dennoch findet sich bei Schlegel zum ersten Mal das Syntagma »Sinn des Lebens« in gedruckter Form, und zwar 1799 am Ende des Romans »Lucinde«. Der Abschnitt, überschrieben »Tändeleyen der Phantasie«, beginnt mit der (paradoxen) Aufforderung, alle Absichten, jede Intentionalität aufzugeben: »Es ist der Gipfel des Verstandes, aus eigner Wahl zu schweigen, die Seele der Fantasie wiederzugeben … Dann zieht sich ein frischer Hauch von Jugendblüthe über das ganze Daseyn und ein Heiligenschein von kindlicher Wonne. Der Mann vergöttert die Geliebte, die Mutter das Kind und alle den ewigen Menschen. Nun versteht die Seele die Klänge der Nachtigall und das Lächeln des Neugebohrenen, und was auf Blumen wie an Sternen sich in geheimer Bilderschrift bedeutsam offenbart, versteht sie; den heiligen Sinn des Lebens wie die schöne Sprache der Natur. Alle Dinge reden zu ihr und überall sieht sie den lieblichen Geist durch die zarte Hülle. Auf diesem festlich geschmückten Boden wandelt sie den leisen Tanz des Lebens, schuldlos und nur besorgt dem Rhythmus der Geselligkeit und Freundschaft zu folgen und keine Harmonien der Liebe zu stören.« 90

Eine sich selbst aufhebende Vernunft, so kann man diese Textstelle interpretieren, könnte in den Zustand der All-Einheit gelangen, ihr würde sich der Sinn des Lebens offenbaren. Schlegels Mitbewohner in diesen Jahren ist Friedrich Schleiermacher. In einem damals nicht publizierten Manuskript behandelt er bereits 1792/93 den »Wert des Lebens«. In seinen berühmten Reden »Über die Religion« (1799) bestimmt er diese noch nicht (wie in »Der christliche Glaube« von 1821) als Gefühl einer schlechthinnigen Abhängigkeit vom Absoluten, sondern als »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«. 91 Damit greift er offensichtlich Schlegels Formulierung aus der Goethe-Rezension auf. An einer Stelle findet sich ein Übergang zum metaphysischen Sinnbegriff: »Für die, deren Sinn »Glück auf« entrichten. Daraufhin sagt Montan: »Ich möchte wohl … ihnen manchmal zurufen: ›Sinn auf!‹, denn Sinn ist mehr als Glück … Das Glück allein tut’s nicht, sondern der Sinn, der das Glück herbeiruft, um es zu regeln.« (II, 9/267 f.) Diese Textstelle ist deshalb besonders wichtig, weil Wilhelm am Ende seiner Lehrjahre durch Selbstbegrenzung sein Glück gefunden zu haben glaubt. 89 Schlegel, Über Goethes Meister, 148 u. 151. 90 Schlegel, Lucinde, 116–119, hier 118 f. 91 Schleiermacher, Über die Religion, 36 (= ders., Schriften, 101), vgl. ebd. 86 u. 175. A

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fürs Universum … dort mehr und neuen Stoff sucht, gibt es ein anderes Ende, das ihr Mißverhältnis gegen die Zeit nur zu deutlich offenbart … – den Selbstmord des Geistes, der nicht verstehend, die Welt zu fassen, deren inneres Wesen, deren großer Sinn ihm fremd blieb unter den kleinlichen Ansichten seiner Erziehung …« 92 In seiner im nächsten Jahr, 1800, erschienenen Schrift »Monologen. Eine Neujahrsgabe« heißt es im II. Teil, ganz wie bei Hamann und Novalis, der Künstler suche »geheimen Sinn« in der Natur. Und im III. Teil, »Weltansicht«, schreibt Schleiermacher: »Die Tat, die aus den heiligsten Ideen entsprungen ist, gibt tausendfacher Deutung Raum; es muß geschehen, daß oft das reinste Handeln im Geist der Sittlichkeit verwechselt wird mit dem Sinne der Welt.« 93 Das kann erneut als Fichte-Kritik verstanden werden. Die genannten Schriften und Textstellen habe ich aufgezählt, weil in ihnen der metaphysische Sinnbegriff explizit verwendet wird. Selbstverständlich kann man metaphysische Fragen auch in einer anderen Terminologie erörtern. Herausragende Beispiele aus dem Umkreis der frühen Romantik sind Jean Pauls »Rede des toten Christus« (schon 1789 geschrieben, 1796 im Roman »Siebenkäs« veröffentlicht), die »Phantasien über Kunst« von Wackenroder (1799 posthum veröffentlicht), die Schriften von Friedrich Heinrich Jacobi sowie die nihilistische Stimmung in den anonym publizierten »Nachtwachen des Bonaventura« (1804). Auch berühmte Schriftsteller wie Kleist und Hölderlin wären zu erwähnen. Alle diese Ansätze werden, allerdings ohne Gebrauch des metaphysischen Sinnbegriffs, philosophisch auf den Begriff gebracht und kritisiert in Hegels »Phänomenologie des Geistes« (1807). Dieses Werk ist somit Höhepunkt und Abschluss dieser ersten großen Diskussion über den Sinn des Lebens. Den metaphysischen Sinnbegriff verwendet Hegel nur beiläufig, etwa in seiner Geschichtsphilosophie. 94 Schleiermacher, Über die Religion, 107. Schleiermacher, Schriften: Monologen, 166 u. 185 f. 94 Hegel, Werke XII: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 76. Die Weltgeschichte ist »das Hervorbringen eines Zwecks von bestimmtem Inhalte. Diesen Zweck haben wir von Anfang an festgestellt; es ist der Geist, und zwar nach seinem Wesen, dem Begriff der Freiheit. Dies ist der Grundgegenstand und darum auch das leitende Prinzip der Entwicklung, das, wodurch diese ihren Sinn und ihre Bedeutung erhält …, wie umgekehrt das Geschehene nur aus diesem Gegenstande hervorgegangen ist und nur in der Beziehung auf denselben einen Sinn und an ihm seinen Gehalt hat.« Der erste, der nachdrücklich vom »Sinn der Geschichte« spricht, ist Hermann Lotze im 1864 erschienenen dritten Band seines Hauptwerks »Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschich92 93

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(c) Eine Parallele: Nihilismus Dass die Jahre um 1800 eine besonders fruchtbare Zeit für metaphysisches Fragen waren, lässt sich noch durch einen zweiten wortgeschichtlichen Fund zeigen. In dieser Zeit taucht auch der Begriff auf, den man als Antonym zu »Sinn des Lebens« verstehen kann: »Nihilismus«. Zwar gibt es wenige vereinzelte Vorläufer. Aber erst 1799 bekommt dieses Wort eine besondere Prägnanz. In diesem Jahr bezeichnet nämlich der damals viel gelesene Friedrich Heinrich Jacobi sowohl die rationalistische Metaphysik von Spinoza als auch den transzendentalen Idealismus von Kant als »Nihilismus«. Denn auf Vernunft, ob als objektive oder als subjektive, so schreibt er in einem berühmten Brief an Fichte, ließe sich nichts gründen; der Mensch stürze in einen Abgrund, ins Nichts. Deshalb sei die gesamte neuere Philosophie Nihilismus. 95 Die einzige Alternative, so Jacobi, sei die unmittelbare Gewissheit des Glaubens; deshalb plädiert er für eine »Unwissenheitslehre«. Wir stehen also vor der Wahl: »das Nichts oder einen Gott. Das Nichts wählend macht er [der Mensch] sich zu Gott, das heißt: er macht zu Gott ein Gespenst; denn es ist unmöglich, wenn kein Gott ist, daß nicht der Mensch und alles was ihn umgibt blos Gespenst sey.« Zu den vielen philosophischen Schriften, die von dem großen Eindruck zeugen, den Jacobis Intervention damals auslöste, gehören Fichtes schon erwähnte Schrift »Die Bestimmung des Menschen« (1800) und Hegels Aufsatz »Glauben und Wissen« (1802). Die Karriere von »Nihilismus« ähnelt im folgenden Jahrhundert auf verblüffende Weise der Geschichte des Syntagmas »Sinn des Lebens«. Im allgemeinen Sprachgebrauch setzen sich beide Begriffe erst seit 1900 durch. Eine entscheidende Zwischenstation bildet dabei die große russische Literatur. Im Fall von »Nihilismus« war dies primär der Roman »Väter und Söhne« (1862) von Iwan Turgenjew. Die Nihilisten gelten bei Turgenjew als Nachfolger der Hegelianer und gehören im Roman zur Generation der Söhne. Ihr Hauptvertreter ist Jewgeni Wassiljew Basarow, ein naturwissenschaftlich ausgebildeter Arzt, dessen Lieblingsbuch »Kraft und Stoff« von Ludwig Büchner ist. Basarow ist also ein radikaler Materialist. An einer Stelle heißt te und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie«, vgl. dazu Stückrath, »Der Sinn der Geschichte«, 48 ff., 60 ff. 95 Jacobi, Werke III: 44. Die folgenden Zitate finden sich ebd. 55 u. 49. A

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es: »Ein Nihilist ist jemand, der sich keiner Autorität beugt, der kein Prinzip auf Treu und Glauben hinnimmt, mag es auch noch so viel Geltung haben.« 96 Sowohl das Vater-Sohn-Thema als auch die Problematik des Nihilismus führt Dostojewski weiter, vor allem in dem Roman »Die Dämonen« (1871/72). (d) Belege aus dem Vormärz Kehren wir aber zum Sinn des Lebens zurück. Interessante philosophische Belegstellen finden sich nach den Jahren des Baseler Friedens in einer zweiten Phase, nämlich dem Vormärz, vor allem in der ersten Hälfte der 1840er Jahre, und zwar bei allen wichtigen Kritikern des Hegelianismus. Zunächst sei hingewiesen auf Arthur Schopenhauer. 1844 veröffentlicht er die zweite Auflage seines Hauptwerks »Die Welt als Wille und Vorstellung«, ergänzt um einen zweiten Band. Obwohl sich seine philosophischen Überzeugungen kam verändert haben, gebraucht er nun, im Gegensatz zum ersten Band von 1818, mehrfach Ausdrücke aus dem Umfeld des metaphysischen Sinnbegriffs, einmal, im 49. Kapitel, »Die Heilsordnung«, sogar die Wendung »Sinn des Lebens«. 97 Dort und an anderer Stelle dominiert aber die Formel »Zweck des Lebens«. 98 Ludwig Feuerbach verwendet in seinem Buch »Das Wesen des Christentums« (1841, 3 1849) mehrfach in unterschiedlichen Zusammenhängen einen metaphysischen Sinnbegriff. Er spricht vom »Sinn des Seins«, vom »Sinn der Geschichte« und vom »Sinn der Unendlichkeit«. 99 Von »Sinn des Lebens« ist bei Feuerbach allerdings noch nicht die Rede. Feuerbachs Begrifflichkeit spielt eine große Rolle in den berühmten Pariser Manuskripten (1844) von Karl Marx. Dort heißt es, dass die kapitalistische Gesellschaft durch ihre Ausrichtung auf das Privateigentum in allen Menschen einen »Sinn des Habens« fördere. Das sei aber eine Beschränkung und Verkürzung der menschlichen Fähigkeiten; wir würden alles, in der Terminologie Turgenjew, Väter und Söhne, 30. Schopenhauer, ZA IV: 745. 98 Schopenhauer, ZA IV: 576, 744 (zweimal), 745, 746 u. 749. In Bd. III: 272 heißt es einmal »Sinn und Zweck des Lebens«. 99 Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 93 (3. Kap.), 243 (17. Kap.) u. 425 (Anhang IV). 96 97

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des späten Marx, bloß als Tauschwert, in seiner quantifizierbaren, verwertbarkeitsorientierten Form wahrnehmen, auch andere Menschen und sogar uns selbst. »Der unter dem rohen praktischen Bedürfnis befangene Sinn hat auch nur einen bornierten Sinn.« Eine Entwicklung unserer menschlichen Fähigkeiten, die wesentlich leiblich-sinnliche Vermögen seien, wäre nur möglich, so die Entfremdungskritik des jungen Marx, wenn es zu einer Aufhebung des Privateigentums komme; erst dann könne es gelingen, einen »für den ganzen Reichtum des menschlichen und natürlichen Wesens entsprechenden menschlichen Sinn zu schaffen«. 100 Marx verschmilzt hier offensichtlich den sinnlichkeitsorientierten und den metaphysischen Begriff des Sinns. An anderer Stelle, in der »Heiligen Familie« (1844/45), heißt es: In der bürgerlichen Gesellschaft muss für das vereinzelte Individuum alles »sinnlos« sein, aber »jeder seiner Sinne zwingt es, an den Sinn der Welt und der Individuen außer ihm zu glauben«. 101 Man kann Marx so verstehen: Nur für Menschen, die über produktive Arbeit miteinander verbunden sind, bekommt das Leben Sinn (vgl. III.2.1). In ganz anderen Kategorien denkt Søren Kierkegaard. Vor allem in »Entweder-Oder« von 1843 finden sich viele Sätze, in denen er den metaphysischen Sinnbegriff gebraucht, und zwar mit Bezug auf das Leben. Im Original steht meistens der Ausdruck »livets betydning«, also wörtlich »Bedeutung des Lebens«. Es gibt aber auch Textstellen, an denen Kierkegaard das dänische Wort »mening« benutzt, das im Deutschen eher mit »Sinn« zu übersetzen wäre. 102 Diese Uneinheitlichkeit des Sprachgebrauchs gilt auch für die wenigen Stellen, an denen sich der metaphysische Sinnbegriff in anderen Schriften Kierkegaards findet. 103 Im heutigen Dänisch ist der Ausdruck »livets mening« gebräuchlich, was sich vielleicht als Rückwirkung aus dem Deutschen erklären lässt. Die meisten dieser Textstellen stehen entweder am Anfang, in den »Diapsalmata«, dort mit negativem Unter100 Marx, MEW Erg. I: Pariser Manuskripte, 538 u. 541 (= Landshut-Ausgabe 240 u. 243). 101 Marx/Engels, MEW 2: Die heilige Familie, 127 (= Landshut-Ausgabe 324). 102 Kierkegaard, GW 1: Entweder-Oder 38 (SV I: 20 = E-O 46): »Mit Liv er aldeles meningsløst« = »Mein Leben ist völlig sinnlos«. Für ihre hilfreichen Hinweise danke ich sehr herzlich der Kierkegaard-Übersetzerin Gisela Perlet (Rostock). 103 Kierkegaard, GW 16: Unwissenschaftliche Nachschrift II: 157 (SV VII: 391) sowie ders., GW 11/12: Der Begriff Angst, 108: »Sinn im Leben« (SV IV: 374 f.: »Mening i Livet« = BA 124: »Sinn des Lebens«).

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ton 104 , oder in den Passagen, in denen der Gerichtsrat Wilhelm spricht, hier mit positivem Unterton 105 . Es liegt die Vermutung nahe, dass Kierkegaard in der Rede vom Sinn des Lebens eine Komponente der bürgerlichen Ethik sieht, die er selbst religiös überwinden möchte. Im Deutschen wurde dafür im 19. Jahrhundert der Ausdruck »Lebenszweck« verwendet (siehe II.3.c). Alle dargestellten Ansätze nehmen eine nachdrückliche Erfahrung des Negativen zum Ausgangspunkt: Leiden bei Schopenhauer, Entfremdung bei Marx, Verzweiflung bei Kierkegaard. Überall wird ein Ausweg gesucht. Allerdings steht bei keinem der Autoren die Frage nach dem Sinn des Lebens im Mittelpunkt. (e) Der Durchbruch bei Tolstoi Dies ist erst einige Jahrzehnte später der Fall, am Ende des 19. Jahrhunderts. Dieser dritte Schub steht im Zeichen der Kritik an einem einseitigen Rationalismus oder Intellektualismus, an der Dominanz von Naturwissenschaften, Technik und Kapitalismus, aber auch an einem weltanschaulich aufgeladenen Darwinismus. Gegen eine abstrakte, entfremdete, durchrationalisierte Welt kämpfen unter anderem Jugendstil, Neoromantik und Symbolismus. Die geistige Speerspitze bildet aber nicht Westeuropa, sondern Russland. Das zeigt sich in den Werken der beiden berühmtesten russischen Schriftsteller, bei Fjodor M. Dostojewski und bei Lew N. Tolstoi. Metaphysische Sinnfragen spielen eigentlich in allen großen Romanen Dostojewskis eine Rolle; besonders hervorzuheben sind »Die Brüder Karamasow« von 1880 mit der berühmten Legende vom Großinquisitor, die im Rahmen eines Gesprächs zwischen zwei der Brüder erzählt wird. Der erste Text jedoch, der sich ganz um die Frage nach dem Sinn des Lebens dreht, ist wohl Tolstois »Meine Beichte« (1879 geschrieben, 1882 zum ersten Mal publiziert). »Meine Beichte« ist gleichsam eine Fortsetzung von »Anna Karenina«. Denn am Ende dieses großen Romans denkt die Hauptperson, Konstantin Lewin, intensiv über den Sinn des Lebens nach – und genau 104 Kierkegaard, GW 1: Entweder-Oder 31 (SV I: 13 = E-O 39), 33 (SV I: 15 = E-O 41), 36 (SV I: 18 = E-O 44), 38 (SV I: 20 = E-O 46) u. ö. 105 Kierkegaard, GW 2/3.2: Entweder-Oder 221 (SV II: 187 = E-O 765), 225 (SV II: 190 = E-O 769), 266 (SV II: 224 = E-O 814), 271 (SV II: 228 = E-O 819) u. ö.

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das tat auch Tolstoi während der Niederschrift dieses Werks. Nach der Beendigung der Arbeit stürzt er in eine tiefe Krise. Alte Zweifel an seinem Lebensstil werden wach, religiöse und philosophische Fragen beschäftigen ihn intensiver denn je. Das Ergebnis dieses Nachdenkens ist »Meine Beichte«. Tolstoi wollte diese aus 16 Kapiteln bestehende Abhandlung, die zweifellos stilistisch zu den besten seiner nicht-literarischen Werke gehört, als Zäsur verstanden wissen: Was er vorher geschaffen hatte, sei nichts wert; erst jetzt, nachdem er sich Rechenschaft über sein bisheriges Leben abgelegt habe, könne er wirklich mit dem Schreiben beginnen. Tatsächlich aber bringt er mit diesem Text nur einen lebenslangen Reflexionsprozess zu einem vorläufigen Abschluss; viele der dort entwickelten Überzeugungen finden sich bei ihm (und seinen Romanfiguren) schon vorher. Ausgangspunkt ist, wie er im dritten Kapitel ausführlich darstellt, die Erfahrung des Todes. Am 2. Februar 1856 stirbt sein Bruder Dmitrij an Tuberkulose; Tolstoi besucht den Todkranken in Petersburg, kann aber seinen Anblick nicht aushalten und flüchtet sich in die Geschäftigkeit des Stadtlebens. Tief erschüttert ist er vom Tod seines Bruders Nikolai am 20. September 1860. Seine eigene Angst vor dem Tod schildert er am Beispiel eines eigenen Erlebnisses aus dem Jahr 1869 in den »Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen« (ca. 1885). Aber den Schock seines Lebens bekommt Tolstoi am 6. April 1857, als er in Paris (der wichtigsten Metropole der angeblich so zivilisierten westlichen Welt) einer öffentlichen Hinrichtung durch die Guillotine beiwohnt. Immer wieder kreisen Tolstois Gedanken um das Phänomen des Todes und lösen ein Grauen aus. In mehreren großartigen Erzählungen findet diese Beschäftigung literarischen Ausdruck: in »Drei Tode« (1859), in »Der Tod des Iwan Iljitsch« (1886) und in »Herr und Knecht« (1895). Hinzu kommen die beeindruckenden Szenen aus seinen beiden großen Romanen. Man lese etwa, wie Andrei in der Schlacht von Austerlitz lebensbedrohlich verletzt wird 106 und wie er Jahre später nach der Schlacht von Borodino stirbt 107 , sowie die Darstellung des Todes von Lewins Bruders in »Anna Karenina«. 108 Zeitweise, so sieht es Tolstoi im dritten Kapitel von »Meine Beichte«, kann er den Tod verdrängen. Er betont, wie gut es ihm ei106 107 108

Tolstoi, Krieg und Frieden, 1. Buch, 3. Teil, Kap. XVI u. XIX. Tolstoi, Krieg und Frieden, 3. Buch, 3. Teil, Kap. XXXII u. 4. Buch, 1. Teil, Kap. XVI. Tolstoi, Anna Karenina, Teil 5, Kap. 20. A

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gentlich geht: Er ist gesund, hat mehrere Kinder, ist sehr wohlhabend und hat vor allem großen Erfolg als Schriftsteller. »Nun gut, du wirst berühmter sein als Gogol, als Puschkin, als Shakespeare, als Molière, als alle Schriftsteller der Welt – nun, und dann!« 109 Auch moralisch hat er sich nichts vorzuwerfen. Was nützt aber das moralische Handeln, wenn wir alle irgendwann sterben müssen und es den Bösen sogar oft besser geht als den Guten? Deshalb wird er immer wieder schwermütig, kommt sein Leben zum Stillstand und drängt sich der Gedanke auf, dass der Suizid der einzige Ausweg sei. Damit exemplifiziert er einen von Dostojewskis mehrfach dargelegten Gedanken: dass die Selbsttötung die logische Konsequenz der Sinnlosigkeit unseres Daseins sein müsste. Liebe und Arbeit, Gesundheit und Moral werden also allesamt durch den Tod entwertet. Tolstoi schildert die menschliche Existenz im vierten Kapitel von »Meine Beichte« mittels eines orientalischen Märchens: Ein Wanderer flüchtet vor einem Raubtier und will in einen wasserlosen Brunnen springen. Weil er dort unten einen schrecklichen Drachen sieht, hält er sich an einem Strauch fest, der aber von zwei Mäusen angenagt wird. Doch an den Zweigen des Strauches entdeckt er Honigtropfen, die er begierig ableckt. 110 Angesichts dieser Lage fragt Tolstoi ausdrücklich nach dem Sinn (russ. smysl) des Lebens – und »Meine Beichte« ist das Dokument dieser Suche. Tolstoi ist (wie auch Dostojewski) davon überzeugt, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens mit der Vernunft nicht beantwortet werden kann. Im fünften Kapitel von »Meine Beichte« beschreibt Tolstoi, wie er sich mehr oder weniger systematisch mit allen Wissenschaften und philosophischen Systemen beschäftigte, um den Sinn des Lebens zu ermitteln. Die Wissenschaften jedoch verfehlen die Frage; sie können uns vieles sagen zur chemischen Zusammensetzung unseres Körpers und zur Lage unseres Planeten im Universum; aber Antworten auf die Sinnfrage sind das nicht. Abzulehnen sind unreinliche Vermischungen von Empirie und Spekulation, die auf jene Fortschrittstheorie hinauslaufen, der auch Tolstoi früher anhing. Hingegen führen die Antworten der großen Philosophen (Sokrates, Schopenhauer, Salomo, Buddha), wie im sechsten Kapitel dargelegt Tolstoi, Meine Beichte, 36 f. (Kap. III). Vgl. auch den »Traum des haltlosen Schwebens« im Nachwort zu »Meine Beichte«, 138–142. 109 110

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wird, zu einem pessimistischen Ergebnis: Alles ist eitel, unser (diesseitiges) Leben ist ein Übel; es wäre besser, niemals geboren worden zu sein. Im siebten Kapitel werden die üblichen Auswege, vom Epikureismus bis zum Suizid, verworfen. Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, dass 1901 in Deutschland unter dem Titel »Der Sinn des Lebens« eine populäre Broschüre mit Aussagen Tolstois erscheint. 111 Ein Herausgeber hat kürzere Passagen aus Briefen, Tagebüchern und Privatpapieren zusammengestellt, ohne Quellenangaben, ohne erkennbare Systematik und ohne größere philosophische Substanz. Ungeachtet dessen erlebt dieses »Taschenbuch« von neunzig Seiten in kurzer Zeit mehrere Auflagen in verschiedenen Verlagen. Das ist der Durchbruch. Der Sinn des Lebens wird in den folgenden Jahren Thema und (Unter-)Titel vieler populärphilosophischer Schriften von Autoren unterschiedlichster Provenienz: Psychologen und Mediziner wie Franz Carl Müller-Lyer oder Alfred Adler, Freidenker und Religionsstifter wie Bruno Wille und Rudolf Steiner, Astronomen wie Bruno H. Bürgel, Philosophen wie Ludwig Klages u. a. Einen unvergleichlichen Erfolg in bildungsbürgerlichen Kreisen hatte vor allem das Buch »Der Sinn und Wert des Lebens« von Rudolf Eucken, das 1908 in erster Auflage erscheint und für das der ostfriesische Philosoph im selben Jahr den Nobelpreis für Literatur erhält. Darüber hinaus wäre es möglich, die Spuren der Sinnfrage durch die Werke der großen deutschsprachigen Schriftsteller zu verfolgen, mit besonders vielen Belegen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre. (f) Die Sinnfrage in der Philosophie des 20. Jahrhunderts Aber wir wollen uns hier beschränken auf die akademische Philosophie, in der die Begriffe »Sinn« und »Leben« seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer wichtiger werden. Das gilt insbesondere für die Exponenten der Lebensphilosophie, Wilhelm Dilthey 112, Georg

Tolstoi, Der Sinn des Lebens (1901). Dilthey, GS I: Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), 92 u. 96; ders., GS VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) 199, vgl. ebd. 291 u. ö. (= Riedel-Ausgabe 246 u. 364). Dass Dilthey der Urheber der metaphysischen Sinnfrage sei, behauptet (etwas voreilig, wie wir zeigen konnten) Marquard, Apologie des Zufälligen, 37. 111 112

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Simmel 113 und Friedrich Nietzsche. Letzterer schwankt noch zwischen verschiedenen Ausdrücken; außer dem »Sinn des Lebens«, der sich bei ihm bereits 1874 findet 114 , gibt es auch den »Werth des Daseins«, den »Sinn der Erde«, den »metaphysischen Werth«, den »Zweck des Werdens« usw. 115 Dass es sich dabei keineswegs nur um eine deutsche Angelegenheit handelt, belegen die um die Jahrhundertwende erschienenen wichtigen Schriften von William James, Bertrand Russell und Henri Bergson. 116 In der deutschsprachigen Philosophie wird »Sinn« nach der Jahrhundertwende sogar zum Fundamentalbegriff. Das gilt nicht nur für die Lebensphilosophie, sondern auch für die Phänomenologie und die Hermeneutik sowie die damals dominierende akademische Strömung, den Neukantianismus. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte der bei Kant noch unwichtige Sinnbegriff ein großes Gewicht gewonnen, vor allem bei Emil Lask, Heinrich Rickert und Paul Natorp. Dass Martin Heidegger die Frage nach dem »Sinn von Sein« in den Mittelpunkt seines 1927 erschienenen Hauptwerks stellt, liegt insofern ganz auf dieser Linie. Sogar der entstehende Logische Empirismus schließt sich diesem Trend an, mit der Suche nach dem »Sinnkriterium«. In einer zeitgenössischen Überblicksdarstellung konnte deshalb gesagt werden: »Dieser Durchbruch der Sinnfrage ist ein Charakteristikum der Gegenwart überhaupt« 117 . Die Sinnphilosophie ist in den dreißiger Jahren ein neues Paradigma, dem man viele dickleibige akademische Wälzer zuordnen kann. 118 Simmel, Philosophie des Geldes (1900), 491, 555 u. 674. Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher 4 (KSA I: 371 = S I: 317). 115 Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I § 33 (KSA II: 52 = S I: 471); ders., Also sprach Zarathustra, Vorrede 3 (KSA IV: 14 = S II: 280) u. ebd. I, »Von der schenkenden Tugend« (KSA IV: 100 = S II: 319); ders., »Der europäische Nihilismus« (KSA XII: 215 = S III: 854), vgl. ders., KSA XIII: 47 (= S III: 677). In einer gängigen Einführung in Nietzsches Werk (Volker Gerhardt, Nietzsche, 66) heißt es sogar: »Die Frage, mit der Nietzsche alle Fragen der Philosophie auf radikal moderne Weise freilegt, ist die Frage nach dem Sinn.« 116 James, Ist das Leben wert, gelebt zu werden? (engl. 1895); Russell, Was der freie Mensch verehrt (engl. 1903); Bergson, Einführung in die Metaphysik (frz. 1903); ders., Schöpferische Entwicklung (frz.1908), vor allem Kap. III: »Von der Bedeutung des Lebens« (Überschrift 191). 117 Heinemann, Neue Wege der Philosophie, 88 (in einem Kapitel über Natorps Spätphilosophie). 118 Hofmann, Sinn und Geschichte (1937); Burkamp, Wirklichkeit und Sinn (1938); Reininger, Wertphilosophie und Ethik. Die Frage nach dem Sinn des Lebens als Grundlage einer Wertordnung (1939). 113 114

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Zur Wort- und Begriffsgeschichte von »Sinn des Lebens«

Damit ist eine gewisse Übersättigung erreicht. In Anlehnung an eine Formulierung Stegmüllers kann man für diese Jahre von einer »Sinnpest« sprechen. Zudem ist die Frage nach dem Sinn des Lebens so populär geworden, dass sich kaum noch ein angesehener Philosoph mit ihr beschäftigen möchte. Hintergründig spielt sie vor allem in der Existenzphilosophie eine Rolle, etwa bei Camus. 119 Aber sowohl Heidegger als auch Sartre (in seinem Roman »Der Ekel« 120 ) distanzieren sich von ihr. Der Missbrauch durch den Nationalsozialismus tut ein Übriges. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden Sinnfragen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs von den meisten Philosophen als überflüssig, sinnlos oder ideologieverdächtig angesehen. Die 1960 erschienene kleine Schrift »Der Sinn unseres Daseins« von Hans Reiner wirkt wie ein Fossil. Die Lage ändert sich erst wieder am Ende des Jahrhunderts. Ein wichtiger Wegbereiter ist Dieter Henrich, dessen Vorstoß zu metaphysischen Fragen Mitte der achtziger Jahre noch von Jürgen Habermas scharf zurückgewiesen wird. In den folgenden Jahren findet die Metaphysik erstaunlicherweise gerade das Interesse von akademischen Denkern, die aus der sprachanalytischen Philosophie kommen. Mit den großen letzten Fragen, auch der nach dem Sinn des Lebens, beschäftigen sich in den USA beispielsweise Thomas Nagel 121 und Robert Nozick 122 ; aus Deutschland wären Georg Meggle 123 und Ernst Tugendhat 124 zu nennen. Durch diese Autoren werden in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts metaphysische Sinnfragen rehabilitiert.

Vgl. Fenner, Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn des Lebens (2006). Sartre, Der Ekel (frz. 1938), 128 ff. 121 Nagel, Der Blick von Nirgendwo (engl. 1986), Kap. 12; ders., Was bedeutet das alles? (engl. 1987), 80–84. 122 Nozick, Philosophie und der Sinn des Lebens (engl. 1987); ders., Vom richtigen, guten und glücklichen Leben (engl. 1989), 179–199. 123 Meggle, Das Leben eine Reise (zuerst 1997). 124 Tugendhat, Über den Tod (1996); ders., Egozentrizität und Mystik (2003). 119 120

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II. Begriffliche und methodische Vorüberlegungen

Nachdem geklärt wurde, wie die Frage nach dem Sinn des Lebens systematisch und historisch einzuordnen ist, erörtere ich jetzt die kategorialen und methodologischen Grundlagen ihrer wissenschaftlichen Behandlung. Als erstes muss man die verwendeten Begriffe analysieren, wobei ich mit der leichteren Aufgabe, »Leben«, beginne und mich dann dem schwierigen Wort »Sinn« zuwende. Dabei ist vor allem auf die Alltagssprache zurückgehen; aber auch philosophische und wissenschaftliche Verwendungsweisen sollten berücksichtigt werden. Aus der Klärung des metaphysischen Sinnbegriffs ergibt sich zwanglos der Übergang zur Hermeneutik: Denn wer Sinn verstehen möchte, muss sich dieser philosophischen Disziplin zuwenden. Die moderne Metaphysik der Sinnfragen, die mir vorschwebt, überträgt hermeneutische Grundgedanken in den kantianischen Rahmen, der im ersten Teil entwickelt wurde, und wendet diese dann auf die Frage nach dem Sinn des Lebens an.

1.

Leben

Was ist mit »Leben« gemeint, wenn vom »Sinn des Lebens« gesprochen wird? Ich unterscheide fünf verschiedene Begriffe des Lebens, von denen erst die beiden letzten für die metaphysische Sinnfrage einschlägig sein werden. Erstens ist Leben der Zustand des Lebendigseins. Für diesen biologischen Lebensbegriff steht im alten Griechisch zoe. Unter »Leben« versteht man dann das Organische im Gegensatz zum Anorganischen. Die klassischen (intensionalen) Unterscheidungsmerkmale, durch die sich Leben in diesem Sinne auszeichnet, sind vor allem Stoffwechsel, Fortpflanzung, Bewegung, Entwicklung und Reizbarkeit. Gegenwärtige Theorien beziehen molekulargenetische Erkenntnisse ein, betonen also etwa den Dualismus von Genotyp und Phäno84

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Leben

typ sowie bestimmte chemische Eigenschaften der Makromoleküle, aus denen sich die DNS zusammensetzt, etwa deren Fähigkeit zur fast fehlerfreien Selbstreplikation. Wissenschaftlich sehr fruchtbar sind systemtheoretische Konzeptionen, die davon ausgehen, dass Lebewesen sich selbst regulierende offene Systeme sind, die mit der Umwelt ständig Materie, Energie und Information austauschen. Sie besitzen zudem die Fähigkeit, unter Energieverbrauch aus Unordnung eine zeitlich befristete Ordnung zu schaffen und stabilisieren so ihre labile Struktur fern des thermodynamischen Gleichgewichtszustands (vgl. III.1.). Zweitens könnte man einen spezifischen Begriff menschliches Lebens herausstellen. Dieses wird nicht gegenüber dem Anorganischen abgegrenzt; es geht vielmehr um wesentliche Differenzen zwischen Menschen und (anderen) Tieren, vor allem den Affen. Dafür stehen anthropologische Grundbegriffe wie Freiheit, Vernunft, Bewusstsein, Sprache, Arbeit usw. Für unser Thema sind jedoch beide Lebensbegriffe zweitrangig. Wer nach dem Sinn des Organischen oder dem Sinn der TierMensch-Unterschiede fragt, betreibt Naturphilosophie und Anthropologie, aber keine Metaphysik. Sicherlich sollten metaphysische Reflexionen auch berücksichtigen, welche Funktion das Leben überhaupt und vor allem das menschliche Leben hat oder haben kann. Aus zwei Gründen ist eine solche Betrachtung von biologischen Entwicklungs- und Wirkungszusammenhängen aber nicht ausreichend: Zum einen fehlt der Bezug auf unser individuelles Leben, auf das fragende Subjekt. Zum anderen handelt es sich um einen Blick aus der Außenperspektive, während die moderne Metaphysik nach meiner Bestimmung die Innenperspektive bevorzugt. Diese beiden Perspektivwechsel führen zu zwei weiteren Begriffen von Leben. Der dritte bezeichnet den Verlauf des individuellen menschlichen Lebens, also (biologisch gesprochen) die Ontogenese des Organismus zwischen Geburt (bzw. Zeugung) und Tod sowie (auf der soziokulturellen Ebene) die Biographie einer Person. Dafür verwendeten die alten Griechen den Ausdruck bios. Auch Biographien kann man aus der Außenperspektive betrachten. Wird diese auf den universalen Rahmen, in dem wir alle stehen, die kosmische Entwicklung, ausgedehnt, kann das Ergebnis nur sein, dass selbst das Leben historischer Persönlichkeiten wie von Alexander dem Großen, Julius Caesar oder Mohammed bedeutungslos gewesen ist, erst recht das Leben der Millionen und Milliarden anderer Menschen. Jedoch folgt A

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Begriffliche und methodische Vorüberlegungen

jetzt noch der zweite Perspektivwechsel, mit dem wir die Ebene der modernen Metaphysik erreichen und vom Standpunkt der ersten Person Singular fragen: Was ist der Sinn meines Lebens? Diesen vierten Begriff von Leben kann man durch den Begriff der Existenz ersetzen. Auf die Betrachtung dieses jeweiligen individuellen Lebens aus der Innenperspektive konzentrierte sich die Existenzphilosophie, die als Thematisierung metaphysischer Sinnfragen unter modernen Bedingungen verstanden werden kann. Ein wesentliches Merkmal der jeweiligen Existenz sind die unterschiedlichen Befindlichkeiten, in denen sich ein Individuum in der Welt befinden kann, von negativen Stimmungen wie Verzweiflung und Angst bis zu positiven wie Freude und Glück. Die Analyse unseres Sprachgebrauchs zeigt aber, dass es noch einen fünften Begriff des Lebens gibt. Ich beziehe mich damit auf Formulierungen wie »allgemeines Leben«, »das Leben der Römer« oder »das Leben in dieser Welt«. Gemeint ist hier mit »Leben« ein übergreifendes dynamisches Wirkungsgefüge bzw. (aus der Innenperspektive, die wir nicht mehr verlassen wollen) die Totalität, in der ich existiere. Löwith hat sehr schön formuliert, dass der vierte Begriff des Lebens sich nur auf den Vornamen, den Eigennamen eines Menschen beziehe, der fünfte auf den Familiennamen. Das ist einseitig und greift zu kurz; richtig ist aber seine Formulierung: »Wir sind das Leben.« 1 Auch Dilthey hat das Leben als den umfassenden Zusammenhang, in dem sich ein Individuum bewegt, unterschieden vom individuellen Lebensverlauf. 2 Als Äquivalent für diese fünfte Möglichkeit verwende ich den Begriff der Lebenswelt. Die Lebenswelt ist nicht die aus der Außenperspektive objektivierbare Welt, sondern zu ihr gehört alles das, was ich aus der Innenperspektive erfassen und nach dessen Sinn ich fragen kann. Was ich unter meinem Leben verstehe, erweitert sich gegenüber dem Existenzbegriff damit um das Leben anderer Menschen, um weitere Lebewesen, materielle Gegenstände, symbolische Gebilde usw. Das Zentrum der Lebenswelt bleibe jedoch notwendigerweise immer ich selbst. Das impliziert keinen normativ-praktischen Egoismus, also die Instrumentalisierung alles Seienden, wohl aber einen epistemischen Egozentrismus. Wenn ich nicht mehr bin, verschwindet auch meine Lebenswelt. Löwith, Vier Grundbedeutungen von ›Leben‹ und deren Zusammenhang, 61 (Hervorhebung von Löwith). 2 Vgl. Bollnow, Dilthey, 32 ff. 1

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Leben

Die metaphysische Sinnfrage kann sich also auf den vierten und den fünften Begriff des Lebens beziehen, auf meine jeweilige Existenz und auf unsere gemeinsame, aber epistemisch in mir zentrierte Lebenswelt. Es gibt einen methodischen und einen inhaltlichen Grund, in metaphysischen Reflexionen diesen gegenüber jenem zu bevorzugen. Methodisch kommen wir vom Existenz- zum Lebensweltbegriff durch den Wechsel von der Perspektive der ersten Person Singular zu derjenigen der ersten Person Plural, die deshalb besser ist, weil die moderne Metaphysik die Fragen behandeln soll, die uns alle absolut betreffen und nicht nur mich allein. Inhaltlich spricht für den Lebensweltbegriff, dass dem Existenzbegriff eine falsche Vorstellung des »jemeinigen« Daseins zugrunde liegt, nämlich die Illusion eines isolierten Individuums bzw. eines »homo clausus«. 3 Das ist der Kritikpunkt aller wichtigen Soziologen von Karl Marx über Georg Simmel bis Norbert Elias. Biologisch, sozial und psychisch wäre die Existenz einer isolierten Person gar nicht möglich. Das belegt vor allem die Relevanz der Sprache für unser Leben. Der Mensch ist ein »animal symbolicum« und die symbolischen Welten, in denen wir uns bewegen, sind ein irreduzibel intersubjektives Phänomen. Zwar bezeichnet beispielsweise Sartre auch unser Sprechen als einen individuellen Entwurf. 4 Aber die Möglichkeiten, die der Einzelne zum kreativen Umgang mit der Sprache hat, beruhen auf einem Potential, das prinzipiell allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung steht und uns alle miteinander verbindet. In der hermeneutischen Philosophie wird davon gesprochen, dass mein »Lebensverlauf« immer »verstrickt« ist mit den Geschichten anderer Personen. Das Leiden mir nahestehender Menschen kann die Sinnfrage für mich stärker aufwerfen als mein eigenes Leid. Leben, nach dessen Sinn wir fragen, ist immer Zusammenleben. Nachdem sich die Extension (der Umfang) des Begriffs »Leben« bei den ersten vier Möglichkeiten immer weiter verengte, bis hin zu meiner individuellen Existenz, führt der fünfte Begriff zu einer Erweiterung. Diese lässt sich jetzt in mehreren Schritten weiter ausdehnen. Was ich nämlich als meine Lebenswelt auffasse, hängt ganz von meinem Horizont ab; die Gesamtheit, die ich als meine Lebenswelt ansehe, kann eine sehr unterschiedliche Größe haben. Eine erste Elias, Einleitung, VII-LXX, hier IL f.; ders.: Über die Einsamkeit des Sterbenden in unseren Tagen, 81 ff.; ders., Die Gesellschaft der Individuen, 266 u. ö. 4 Sartre, Das Sein und das Nichts, 887 ff. 3

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grundsätzliche Erweiterung bezieht sich zunächst auf die Gesellschaft, in der ich lebe, dann den Kulturkreis, also die abendländische Zivilisation, schließlich auf die Menschheit als Ganze, und zwar nicht nur die derzeit Lebenden, sondern auf die Menschen aller Epochen und Gesellschaften. Worauf zielt alles menschliche Streben und Sehnen? Ist nicht die Menschheitsgeschichte eine einzige Abfolge von Leid, Krieg und Verbrechen? Oder gibt es doch Anzeichen eines Fortschritts? Das ist die Frage nach dem Sinn der Geschichte. Eine zweite grundsätzliche Erweiterung fragt nach dem Sinn des organischen Lebens überhaupt. Geburt und Tod, Wachsen und Verfallen, Krankheit und Gesundheit sind Aspekte aller Lebensformen. Worin liegt ihr Sinn? Was ist der Sinn der Natur? Nichts spricht jedoch dagegen, die Frage in einem dritten grundsätzlichen Schritt noch stärker auszudehnen. Wir sprechen (metaphorisch) auch vom Leben der Erde oder vom Lebenszyklus von Sternen, vom Leben der Atome oder der Elementarteilchen. Nicht nur die organische, sondern auch die anorganische Natur ist vergänglich, sie entsteht und vergeht. In der Philosophiegeschichte sind Formulierungen bekannt wie die vom »Sinn der Erde« (Nietzsche 5 ) oder – in seiner Abstraktheit nicht zu übertreffen – vom »Sinn von Sein« (Heidegger 6 ). Man kann auch nach dem Sinn des Kosmos fragen. Diese Totalisierungen ändern nicht die Struktur der Frage. Festzuhalten ist aber, dass es sich um eine Frage aus der Innenperspektive handelt. Metaphysik ist nicht identisch mit Evolutionstheorie oder Kosmologie (vgl. III.1.). Welche Eigenschaften besitzt das Leben, nach dessen Sinn wir metaphysisch fragen? Man kann nach den vorangegangenen Reflexionen grob drei ›Ausspannungen‹ des Lebens benennen: Erstens ergibt sich bereits aus der biographischen Bedeutung seine zeitliche Erstreckung zwischen Geburt (bzw. Zeugung) und Tod. Zwar überdauert der Generationenzusammenhang einer Lebenswelt die Lebensspanne eines Individuums; aber auch jedes Mitglied einer Lebenswelt wird geboren und muss sterben. Zweitens befindet sich jedes Leben in subjektiv bewerteten Zuständen, die zwischen Extremen schwanken, die wir als Glück und Not bezeichnen können. 7 Ebenso wie die erste Eigenschaft gilt dies in erster Linie für die SituaNietzsche, Also sprach Zarathustra, Vorrede 3 (KSA IV: 14 = S II: 280) u. ebd. I »Von der schenkenden Tugend« (KSA IV: 100 = S II: 319). 6 Heidegger, Sein und Zeit, 1 ff. 7 Henrich, Selbstverhältnisse, 131–141. 5

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tionen des individuellen Lebens, aber auch Gemeinschaften bzw. Lebenswelten kann es mehr oder weniger schlecht gehen. Drittens ist, wie schon mehrfach hervorgehoben, Leben ein soziales Phänomen. Wir sind viele und diese Pluralität ist ein irreduzibles Faktum. Das Miteinander-Leben kann aber nicht chaotisch sein, sondern muss einer minimalen Ordnung unterliegen, die wir als moralfähige Wesen im Hinblick auf ihre Gerechtigkeit beurteilen können. Sicherlich ließen sich weitere wichtige Eigenschaften ergänzen; hier seien nur diese drei eingeführt, weil sie für die metaphysischen Reflexionen der späteren Kapitel wichtig sind.

2.

Zwischen Holismus und Atomismus

An dieser Stelle lässt sich eine Überlegung einfügen, die sich auf die ontologischen Implikationen unserer Verwendungsweise des Begriffs »Leben« bezieht. »Leben«, im Sinne sowohl von Existenz wie von Lebenswelt, ist ein Reflexionsbegriff, den wir auf Ganzheiten beziehen, die man nicht auf die Summe ihrer Bestandteile reduzieren oder in diese zerlegen kann. (Ob dies auch für den empirisch-biologischen Begriff des Lebens gilt, braucht uns hier nicht zu interessieren.) Wie der frühe Kant feststellte, ist der alltagssprachliche Begriff des Ganzen (totalitas) nur scheinbar klar und tatsächlich »das Kreuz für den Philosophen« (De mundi sensibilis atque intelligibilis, § 2). Der philosophische Gegensatz zwischen Summe und Ganzem findet sich schon bei Aristoteles. 8 Die entsprechende Unterscheidung Kants ist die zwischen quantitativer und qualitativer Vollkommenheit (KdU § 15/X: 143). Eine Summe ergibt sich aus der Addition von Teilen, wobei das Ergebnis nicht mehr enthalten kann als alle Teile zusammen; Entsprechendes gilt für das Produkt einer Multiplikation. Hingegen geht das Ganze über die Allheit der Teile hinaus; es ist auch eine Summe und ein Produkt, aber zugleich mehr als diese. Deshalb sollte man beim Ganzen gar nicht von Teilen sprechen, sondern von Elementen, die in wechselseitigen Beziehungen zueinander und zum Ganzen stehen. 9 Die klassischen Beispiele für Ganzheiten in diesem Sinne sind Organismen (vgl. Kap. III.1.) und bewusst hergestellte Artefakte, also Werkzeuge, Maschinen, Kunstwerke u. a. 8 9

Vgl. Aristoteles, Met. V 26 = 1023b 26 bis 1024a 11. Vgl. N. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, 301. A

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Begriffliche und methodische Vorüberlegungen

Allerdings ist die Bestimmung des Lebens als Ganzheit noch unzureichend. Zum einen ist mein individuelles Leben nicht das Ganze überhaupt oder ein absolutes Ganzes. Es ist selbst Element einer größeren Ganzheit, die wiederum zu einer noch größeren Totalität gehört. Mit der Eingliederung meiner Lebenswelt in die Menschheitsgeschichte und dieser in die kosmische Geschichte kann man mindestens zwei Stufen der Totalisierung unterscheiden, ganz abgesehen von möglichen Zwischenebenen. Zum anderen setzt sich mein Leben ebenfalls aus Ganzheiten zusammen. Denn aus der Innenperspektive lassen sich auch Handlungen, sozialen Beziehungen, Lebenssphären usw. nicht auf ihre Teile zurückführen: Eine Handlung ist mehr als die Summe von neurobiologischen und mechanischen Prozessen; eine Familie ist mehr als die Summe ihrer Mitglieder. Mein Leben ist also eine Entität, die zu einem übergeordneten Zusammenhang gehört, sich aber selbst in Untereinheiten zergliedern lässt. Solche Phänomene hat Arthur Koestler als Holons bezeichnet. Dieser Neologismus beruht einerseits auf dem griechischen Wort für »ganz« (hólos), andererseits erinnert er mit der Endung -on an Namen für Elemente wie »Proton« oder »Neuron«. Ein Holon ist, wie Koestler so schön sagt, »janusköpfig«; es ist ein Ganzes, das gleichsam in zwei Richtungen blickt, nach unten zu seinen Elementen, die ebenfalls Ganzheiten sind, nach oben zu der Ganzheit, von der es selbst ein Element darstellt. So entsteht eine Hierarchie von Holons, eine Holarchie. 10 Wo die Abfolge von Holons unten und oben endet, wissen wir nicht; möglicherweise entdeckt man immer weitere Holons an beiden Enden der Skala. Koestler wollte durch den Begriff des Holons den klassischen Gegensatz zwischen Atomismus und Holismus vermitteln. Das war ontologisch gemeint; wir machen daraus eine methodologische Maxime: Wenn man Holons begreifen will, muss man beide Richtungen berücksichtigen. Wer eine Entität verstehen will, indem er ihre Teile analysiert, verfährt atomistisch; diese bottom-up-Strategie ist charakteristisch für den Empirismus. Wer eine Entität verstehen will, indem er sie als Element eines Ganzen auffasst, verfährt holistisch; diese top-down-Strategie ist charakteristisch für den objektiven Idealismus. Beide Verfahrensweisen sollten kombiniert werden. Das kann man auf die moderne Metaphysik der Sinnfragen übertragen: Der Koestler, Das Gespenst in der Maschine, 59; vgl. Wilber, Eros – Kosmos – Logos, 36– 42 u. ö.

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metaphysische Atomismus (nicht zu verwechseln mit der Atomlehre der Physik) postuliert, dass etwas nur dann Sinn hat, wenn es sich aus sinnvollen Teilen zusammensetzt. Der metaphysische Holismus postuliert, dass etwas nur dann Sinn hat, wenn es Element eines sinnvollen Ganzen ist. Beide Auffassungen sind in dieser Form einseitig und deshalb nicht zutreffend. Der Sinn des Lebens ist durch Einflüsse aus beiden Richtungen, von unten und von oben, bedingt, aber nicht determiniert. In einem schwachen Sinne sind Atomismus und Holismus zutreffend; in einem starken Sinne sind jedoch beide Konzeptionen falsch. Betrachten wir zunächst den metaphysischen Atomismus. Der starke Atomismus ist falsch: Weil wir unser Leben als ein Ganzes verstehen, ist der Sinn des Lebens nicht die Summe oder das Produkt seiner sinnvollen Episoden. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass es durchaus möglich ist, ein sinnvolles Leben zu führen, auch wenn ein Episodentypus fehlt. Wenn nämlich von einer Summe ein Teil fehlt, ist sie nicht mehr vollständig; wenn ich von einem siebenarmigen Leuchter, einer Menora, einen Kerzenständer abbreche, ist er nicht mehr der symbolisch besetzte Gegenstand, der er war. Verliert jedoch ein Mensch einen Finger, ist sein Organismus zwar nicht mehr vollständig, aber er bleibt als Ganzes erhalten, weil die Aufgaben des verlorenen Gliedes durch andere kompensiert werden können. In Analogie dazu kann ein Leben durchaus sinnvoll sein, obwohl beispielsweise auf die Erfahrung, eigene Kinder in die Welt zu setzen und großzuziehen, verzichtet wurde. Allerdings mag es essentielle Episoden geben, die zu jedem sinnvollen Leben gehören müssen. Um noch einmal die Analogie mit dem Organismus aufzugreifen: Auf einen Finger kann man verzichten, aber wenn das Herz versagt, ist es mit dem Organismus aus. Zu solchen essentiellen Elementen gehört sicherlich, dass es im Leben überhaupt sinnvolle Episoden gibt, etwa Erfahrungen von Freiheit und Glück (vgl. III.2.). Daraus ergibt sich das Recht des schwachen Atomismus: Ein Leben ohne sinnvolle Momente kann nicht selbst einen metaphysischen Sinn haben. Wer alles als sinnlos erlebt, wird nicht das Ganze für sinnvoll erklären. 11 Für ein sinnvolles Leben ist Sinn im Leben notwendig. Auch vom metaphysischen Holismus gibt es eine starke und eine schwache Version. Bei einem starken Holismus sind die Eigenschaften der Elemente bloße Zustände des Ganzen. Ein Beispiel dafür 11

Vgl. Sylvan/Griffin, »Dem« Sinn des Lebens auf der Spur?, 466–473. A

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liefert die Welt der Quanten, in der nur das Gesamtphänomen bestimmte Eigenschaften besitzt und die Elemente bloß funktionale Zustände dieses Systems sind. Im schwachen Holismus sind die Eigenschaften der Elemente durch das Ganze bedingt, aber sie kommen den Elementen selbst zu. Das gilt beispielsweise für uns als Individuen: Viele unserer Eigenschaften sind bedingt durch die Gesellschaft, in der wir aufwachsen und leben; es wäre ein Kategorienfehler, von der Sportlichkeit oder dem Fleiß einer Gesellschaft zu sprechen, auch wenn diese für solche Eigenschaften bei ihren Mitgliedern verantwortlich sein mag. Im Hinblick auf philosophische Konzeptionen ist beides vertreten worden: Hegelianer behaupten, dass nur das Ganze wahr sei; die einzelnen Aussagen, aus denen das Ganze besteht, sind bestenfalls richtig (starker Holismus). Hingegen findet sich bei Kohärenztheoretikern die Auffassung, dass sehr wohl Aussagen die Träger des Wahrheitswertes sind; jedoch beruhe diese Eigenschaft darauf, dass sie mit anderen Aussagen in geordneten Beziehungen stehen (schwacher Holismus). Bei einem starken metaphysischen Holismus würde es keinen Sinn im Leben geben, wenn das Leben als Ganzes sinnlos wäre. Dieses selbst wäre in seinem Sinn von der übergeordneten Einheit abhängig; beispielsweise würde aus der Sinnlosigkeit der menschlichen Geschichte folgen, dass jedes individuelle Leben, das ja Element der Menschheitsgeschichte ist, sinnlos sei. Die Metaphysik müsste sich allein auf das umfassendste Ganze richten. Das widerspricht unserem Sprachgebrauch: Von Sinn, auch von metaphysischem Sinn, sprechen wir nicht nur in Bezug auf das umfassendste Ganze; auch kleinere Einheiten können sinnvoll sein. Damit soll nicht bestritten werden, dass es auch Elemente geben kann, deren Sinn sich nur durch ihre Beziehung zum Ganzen ergibt. Im schwachen metaphysischen Holismus haben die Elemente Sinn, aber nur weil sie zueinander und zum Ganzen in bestimmten Relationen stehen. Etwas könnte metaphysisch sinnvoll sein, auch wenn die Ganzheit, von der es Element ist, keinen Sinn hätte. Beispielsweise könnte es in einem sinnlosen Kosmos sinnvolle individuelle Leben geben und es könnte metaphysischen Sinn im Leben geben, selbst wenn das Leben als Ganzes ohne Sinn wäre. Beispiele für solche intrinsisch sinnvollen Episoden sind moralische Handlungen, ästhetische Erfahrungen, Glückszustände usw., die ihren Sinn in sich haben und nicht im Bezug zu etwas anderem. Weil metaphysischer Sinn aus der Innenperspektive erfahrbar sein muss, kann es 92

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Fünf Sinnbegriffe

einen solchen unterhalb der Ebene bewusst erlebter Episoden nicht geben; die kleinste Einheit metaphysischen Sinns ist also ein als solcher erfahrener Augenblick oder ein intentionaler Akt des Sprechens bzw. Handelns. Nach oben ist die Holarchie allerdings offen. Selbst wenn wir meinen, ein Ganzes erfasst zu haben, könnten wir nie sicher sein, dass es nicht noch eine übergeordnete Einheit gibt. Die Feststellung, dass das Universum sinnvoll ist, könnte durch neuere Indizien für ein Multiversum, d. h. für die Existenz zahlloser Welten, deren Sinn uns verborgen bleibt, aufgehoben werden. Daraus schließe ich, dass ein totaler Sinn nicht möglich ist. Wir können nach oben hin immer weitere Stufen besteigen, ohne zu einem Ende zu kommen. In dieser Hinsicht ist Sinn immer partiell. Das bedeutet aber nicht, dass ein solcher partieller Sinn unzureichend oder relativ sein muss.

3.

Fünf Sinnbegriffe

Was ist überhaupt mit »Sinn« gemeint, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen? Die umgangssprachliche ›Geographie‹ ist verworren. Aber wir sollten an die lebensweltliche Redeweise vom »Sinn des Lebens« wohlwollend herantreten und nicht unser primäres Ziel darin sehen, diese durch analytische Argumente zu zerstören. Meine Vorgehensweise ist deshalb nicht destruktiv, sondern rekonstruktiv, zwar aufklärend, aber nicht therapeutisch im Sinne Wittgensteins. Ich werde mehrere Hauptbedeutungen herausarbeiten, aus denen sich jeweils wichtige Konsequenzen für unsere Fragestellung ergeben. 12 Letztlich wird sich aber keiner der fünf folgenden Begriffe als ausreichend erweisen. (a) Richtungssinn Beginnen wir mit der Etymologie. 13 Als (west-)indogermanische Wurzel des deutschen Wortes »Sinn« und verwandter Ausdrücke Die ausführlichste Analyse stammt wahrscheinlich von Lauth, Die Frage nach dem Sinn des Daseins, 59–106 u. 278 ff., der insgesamt 12 Momente des Sinnbegriffs unterscheidet. 13 J. u. W. Grimm, Art. Sinn, Sp. 1103–1152. 12

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Begriffliche und methodische Vorüberlegungen

(lat. sensus, engl. sense) wird das Verb *sent- angenommen. Dessen Entwicklung verlief durch drei Phasen: In der ersten Phase bedeutete es »eine Richtung nehmen« und bezog sich auf alle natürlichen Bewegungen. Im zweiten Stadium bezeichnete es nicht nur Ortsveränderungen, sondern auch zielgerichtete Prozesse, die von Menschen beabsichtigt werden, ursprünglich vielleicht »einer Fährte folgen«, dann »gehen« und »reisen«. Aus diesem Umkreis stammen unsere Worte »senden« (als verbum factitivum = gehen machen) und »Gesinde« (ursprünglich die Begleitung oder die Gefolgschaft). Im dritten Stadium bezieht sich das Verb »sinnen«, wie heute noch, auf psychische Prozesse, und zwar solche, die eine klare Ausrichtung besitzen: einer Sache geistig nachgehen, seine Gedanken auf etwas richten, nach etwas streben. Diese Vervielfältigung der Bedeutungen ereignete sich (wie im Gotischen nachweisbar) so früh, dass die unterschiedlichen Gebrauchsweisen bereits im Althochdeutschen zu erkennen sind. Schon damals, also im 8. bis 11. Jahrhundert, kommt es zu einer Aufspaltung in zwei Substantive: Das eine, »sin«, korrespondiert dem Verb der dritten Phase, bezeichnet demnach ein psychisches Vermögen, das nicht rezeptiv ist, sondern sich aktiv auf etwas richtet. In Abgrenzung dazu entwickelt sich im Mittelhochdeutschen, also im 12. bis 15. Jahrhundert, für unsere rezeptiven organischen Sinne ein eigener Ausdruck, aus dem das Wort »Sinnlichkeit« hervorgeht. Die Grenzen zwischen Sinn und Sinnlichkeit bleiben sprachlich fließend. Diese Bedeutungsschicht wird unter (b) behandelt. Das andere Substantiv, »sind«, später »sint«, geht auf die indogermanische Wurzel *sentos zurück und korrespondiert dem Verb der zweiten Phase. Es heißt also »Gang«, »Weg« oder »Reise«. Wie bei der schon erwähnten Metapher wäre der Sinn des Lebens demnach die Reise oder der Weg des Lebens (lat. cursus vitae). Interessanterweise kann man auch, wie Richard Wilhelm es getan hat, das Grundprinzip des chinesischen Daoismus, »dao«, sowohl mit »Weg« oder »Lauf« wie mit »Sinn« übersetzen. Das Bild der Wanderung findet man auch in allen mystischen Traditionen. So wird etwa im islamischen Sufismus zwischen der breiten Straße der »shari’a« (ursprünglich: der Weg zur Wasserstelle) und dem engen Pfad (»tariqa«) der Derwische unterscheiden. Das entsprechende deutsche Substantiv ist jedoch im Hochmittelalter außer Gebrauch gekommen. Schließlich gibt es auf der substantivischen Ebene noch einen Überrest der allerersten Bedeutung, nämlich in einem Kompositum 94

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wie »Uhrzeigersinn« oder »widersinnig«, im Italienischen etwa im Wort für Einbahnstraße »senso unico«. Das spanische »sentido de la vida« meint nicht nur den Sinn des Lebens, sondern auch die Richtung des Lebens. Ich nenne diesen ersten, aus der Etymologie abgeleiteten Begriff des Sinns Richtungssinn. Er wird vor allem von Autoren benutzt, die durch die Phänomenologie beeinflusst sind: Das gilt etwa für Plessner und für Merleau-Ponty. 14 Aber auch Heidegger spielt auf ihn an, wenn er behauptet, der Sinn des Daseins liege in der Zeitlichkeit. Mit dem Sinn des Lebens wird also hier die Richtung des Lebens gemeint, seine Erstreckung in der Dimension der Zeit als ein Geschehen zwischen Geburt (bzw. Zeugung) und Tod oder sein Verlauf aus der Innenperspektive (siehe II.1.). Sprachlich anwendbar ist diese Redeweise auch auf andere gerichtete Prozesse, etwa den »Sinn der Geschichte« oder den »Sinn der Zeit«, aber nicht auf Ereignisse oder Zustände, also nicht auf den »Sinn des Todes« oder den »Sinn des Leidens«. (b) Fähigkeitssinn In der organologischen Bedeutung bezieht sich »Sinn« auf die Fähigkeit von Lebewesen, Reize wahrzunehmen und zu verarbeiten. Wir Menschen haben fünf organische Sinne. Es gibt darüber hinaus körperliche Sinne für Temperatur, Gleichgewicht usw. Die oben schon angesprochene Bedeutungserweiterung vom Physischen zum Psychischen hat sich auch hier vollzogen. So spricht man vom sechsten und siebten Sinn, vom inneren Sinn, vom Gemeinsinn, vom Sinn für Humor etc. Manchmal wird der gesamte Bereich des Organischen als »Sinnlichkeit« bezeichnet und dem Geistigen gegenübergestellt. »Sinn« kann auch als Kollektivsingular alle mentalen Fähigkeiten des Menschen umfassen, wie das lateinische »animus«. Diese Bedeutungsschicht weist sprachlich zwei Besonderheiten auf: • Bei den zugehörigen Adjektiven ist die Unterscheidung physischer und psychischer Vermögen erhalten geblieben. Bezogen auf unsere körperlichen Sinne spricht man von »sinnlich«. Für die höheren menschlichen Vermögen verwendet man hingegen das Adjektiv Plessner, GS VII: Die Deutung des mimischen Ausdrucks, 85; ders., GS VII: Lachen und Weinen, VII: 361 u. ö.; Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 488 u. 294 ff.

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»sinnig«, auch in vielen Wortzusammensetzungen (»feinsinnig«, »tiefsinnig«, »scharfsinnig«, »eigensinnig«, aber auch »wahnsinnig«, »blödsinnig«, »leichtsinnig«, »trübsinnig« usw.). • Nur zum hier behandelten Sinnbegriff kann man (und zwar seit dem 13. Jahrhundert) einen Plural bilden: »Sinne« (bis ins 19. Jahrhundert übrigens noch »Sinnen«). Da der Ausdruck »Sinn des Lebens« nur im Singular auftritt, kann man daraus den Schluss ziehen, dass der organologische Sinnbegriff für unsere Fragestellung keine Rolle spielt, weil er sich sprachlich verselbständigt hat. Inhaltlich wäre jedoch die These möglich, dass man für den Sinn des Leben (oder für das Leben überhaupt) einen Sinn haben müsse. Tatsächlich verwendet Goethe, kurz bevor die ersten Belege für die metaphysische Redeweise vom »Sinn des Lebens« auftauchen, das Wort »Lebenssinn« für eine umfassende Wahrnehmungsfähigkeit dieser Art. 15 Der Lebenssinn ist ein Sinn für das Leben – so wie der Lichtsinn (das Auge) der Sinn für das Licht ist. Diese besondere Fähigkeit könnte man sogar als »Sinn des Lebens« bezeichnen, wobei der verwendete Genetiv dann der relativ ungebräuchliche genitivus respectus wäre, der Genitiv der Hinsicht. Aber sowohl das Wort »Lebenssinn« wie auch eine solche Verwendung des Ausdrucks »Sinn des Lebens« haben sich in der deutschen Sprache nicht durchgesetzt. (c) Handlungssinn Drittens gibt es den teleologischen Sinn des Wortes »Sinn«, das man bei den entsprechenden Verwendungsweisen ersetzen kann durch den Ausdruck »Zweck« (griech. telos = Zweck, Ziel). Dieses Wort hat wiederum drei Bedeutungen: Erstens bezeichnet es eine bewusste oder unbewusste Intention (Absicht) eines handlungsfähigen Lebewesens. Gemeint ist also die mentale Ausrichtung, womit diese Begriffsschicht auf die ersten beiden Bedeutungen zurückverweist. Zweitens bezieht sich der Ausdruck »Zweck« auf das, was die entsprechenden Aktivitäten bewirken sollen, deren objektivierte Intention oder deren Ziel. Drittens sprechen wir von Zwecken auch in Bezug auf natürliche Phänomene, vor allem bei Bewegungen und bei Organismen, die auf ein Ziel ausgerichtet zu sein scheinen. Der Sinn 15

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Brief an Schiller vom 9. 7. 1796, zit. nach Gerhardt, Art. Sinn des Lebens, 815 f.

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wäre hier die Zweckursache (lat. causa finalis) eines Phänomens. Diese dritte Bedeutung von »Zweck« spielte philosophiegeschichtlich eine große Rolle; darauf komme ich in einem eigenen Kapitel ausführlich zu sprechen (III.1.). Zu erörtern bleibt hier die zweite Bedeutung des Wortes »Zweck«. Was hat alles einen solchen teleologischen Sinn? Gemeint sind erstens Handlungen, mit denen (wie Max Weber es formulierte) der Akteur einen »subjektiven Sinn«, also eine Absicht, verbindet. Dadurch, dass sie mit »Sinn und Zweck« geschehen, unterscheiden sich menschliche Handlungen prinzipiell von tierischen Verhaltensweisen oder einfachen Körperbewegungen. Im übertragenen Sinn spricht man zweitens von dem Sinn kollektiver Handlungen (etwa dem Handeln einer Mannschaft oder eines Staates). Drittens sind in diesem Sinne auch Handlungsprodukte (Artefakte, Dienstleistungen, Rechtsakte wie ein Vertragsabschluss usw.) sinnvoll. Aber nicht nur die menschlichen Produkte, die direkt aus einer intendierten Handlung entsprungen sind, haben für uns Sinn, sondern viertens auch diejenigen, die sich von den Handlungen einzelner Personen abgelöst haben. Beispiele sind etwa Industrieprodukte, soziale Institutionen, religiöse Zeremonien usw. Allerdings kann es sein, dass diese Phänomene im Laufe der Zeit ihren Sinn verlieren, dass man gleichsam ihren Sinn vergessen hat, beispielsweise bei Maschinen, Traditionen und Institutionen, von denen man nicht mehr weiß, wozu sie gut waren. Sprachlich bestehen zwischen den Ausdrücken »Sinn« und »Zweck« zwei interessante Unterschiede. Erstens können wir von »Zweck« einen Plural bilden, von »Sinn« nicht; »Sinn« ist ein Singularetantum. Wir verfolgen in unserem Leben in der Regel eine Vielzahl von Zwecken – während der »Sinn des Lebens« ein Singular ist, so wie das Absolute in der klassischen Metaphysik nur Eines sein kann. Übrigens könnte nachdenklich machen, dass auch andere geläufige Lebensziele wie Geld, Gesundheit, Liebe und Macht sprachlich nur im Singular auftreten. Eine weitere sprachliche Konsequenz ist, dass »Sinn des Lebens« (im Gegensatz zu »Zweck des Lebens«) selten mit einem unbestimmten Artikel benutzt wird; es geht fast immer um den Sinn. Zweitens ist dem Begriff des Zwecks der des Mittels untergeordnet; beim Wort »Sinn« ist dies nicht der Fall. 16 Die Aufstufung der Zwecke wird sehr schön von Aristoteles beschrie16

Vgl. Heyde, Vom Sinn des Wortes »Sinn«, 87 ff.; auf diesen Umstand verweisen bei A

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ben: Jeder Zweck kann Mittel für einen höheren Zweck sein; der umfassendste bzw. höchste Zweck aber ist für Aristoteles die Glückseligkeit (eudaimonia). Zwecke sind a priori wertvoller als Mittel; ein Mittel, das sich nicht auf einen Zweck bezieht, ist wertlos. Wenn sich tatsächlich alle Zwecke in eine umfassende Hierarchie einordnen ließen, wäre nur die höchste Stufe, der Endzweck, niemals Mittel und somit von absolutem Wert. Hingegen kann der Ausdruck »Sinn« auf alle Stufen angewandt werden, auf die unterste wie die oberste, auf Mittel und auf Zwecke. Allerdings zeigt sich die Differenz auf einer anderen Ebene, nämlich bei den Ausdrücken »Sinn haben« und »Sinn sein«: Gymnastik hat einen Sinn (= ist ein geeignetes Mittel); ihr Sinn (= Zweck) ist es, gesund zu bleiben. Diese sprachlichen Differenz zwischen »Zweck« und »Sinn« hat inhaltliche Konsequenzen: Erstens können wir sagen, dass erfolglose Handlungen zwecklos (oder nutzlos) waren; aber deswegen sind sie nicht unbedingt sinnlos. Der Sinn einer Handlung hängt nicht allein davon ab, ob ihr Ziel erreicht wurde. Selbst wenn ich es nicht schaffen sollte, das Schreiben dieses Buches zu beenden, könnte die Tätigkeit als solche doch sinnvoll gewesen sein. Zweitens hört ein Zweck auf, ein solcher zu sein, wenn er erreicht wurde. Wenn ein Historiker nach einer Quelle sucht und diese gefunden hat, so muss er sich einen neuen Zweck wählen und sei es auch die Suche nach einer weiteren Quelle; der Sinn seiner Tätigkeit, die Forschung, bleibt jedoch bestehen. Er ist unabhängig vom Erreichen und Nicht-Erreichen, Verfolgen und Nicht-Verfolgen von bestimmten Zielen. Der Ausdruck »Zweck des Lebens« (oder »Zweck des Daseins«) wurde um 1900 von der Wendung »Sinn des Lebens« verdrängt. Man kann die Vermutung anstellen, dass die zuletzt genannten Gründe dazu beitrugen. Denn in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhundert hatten die Männer ihren Lebenszweck im Beruf, die Frauen in der Familie. 17 Mit der zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität, Arbeitsteilung und Vernetzung verschwanden die Zwecke, die die menschlichen Tätigkeiten hatten, immer mehr aus dem subjektiven etwas anderer Begrifflichkeit auch Dewey, Erfahrung und Natur, 340 ff., sowie Arendt, Vita activa, 140 f. 17 Zwei berühmte Beispiele aus der Literatur sind der Schneidermeister Böck aus Wilhelm Buschs »Max und Moritz« (1865, »Alle diese Kleidungssachen/wußte Schneider Böck zu machen …/Alles macht der Meister Böck/denn das ist sein Lebenszweck«) und der reiche Schweinezüchter Kálmán Zsupán aus dem »Zigeunerbaron« von Johann Strauss (1885, »Ja, mein idealer Lebenszweck/ist Borstenvieh, ist Schweinespeck«).

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Blickfeld; deshalb erschienen die einzelnen Handlungen und sogar die Gesamtheit der zielgerichteten Handlungen einer Person als zwecklos. Mit der Umstellung auf die Sinn-Terminologie wurden also Handlungen, die offensichtlich nicht als Endzweck anzusehen waren, aufgewertet. Darüber hinaus gibt es zwei weitere Gründe dafür, dass mit dem »Sinn des Lebens« etwas anderes gemeint ist als die Gesamtheit der Zwecke, die man verfolgt (ob hierarchisch geordnet oder nicht). Erstens ist es prinzipiell möglich, den Zweck einer Handlung auch aus der Außenperspektive festzustellen, aber nicht ihren Sinn. Wenn man eine Person in einer Werkstatt beobachtet, kann man bei Kenntnis aller Umstände und nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne anhand der hergestellten Produkte den Zweck der einzelnen Handgriffe, letztlich der gesamten Tätigkeit, verstehen; man könnte auch beobachten, wofür die Produkte verwendet werden. Dennoch wäre es möglich, dass der Handwerker selbst unter der Sinnlosigkeit seiner Tätigkeit leidet. Zwischen Handlungen und ihren Zwecken bestehen zudem kausale Zusammenhänge, zwischen dem Leben und seinem Sinn nicht. Allein aus diesem Grund verlangt die Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens den Wechsel von Außen- in die Innenperspektive. Zweitens besteht das Leben nicht nur aus Zwecken. Das gilt unter der Voraussetzung, dass keine objektive Teleologie existiert. Denn das menschliche Leben ist, bis jetzt jedenfalls, unserer Verfügung zu einem nicht geringen Teil entzogen. Dafür reicht ein Beleg: der Alterungsprozess, dem jedes Leben unterliegt. Das Altern, das mit der Geburt (bzw. der Zeugung) beginnt und mit dem Tod endet, ist offensichtlich niemals Zweck irgendeiner Handlung und bestimmt doch unser Dasein, vor allem in späteren Lebensphasen. In allen Episoden unseres Lebens sind wir das Referenzsubjekt, aber nicht das Handlungssubjekt. 18 Dennoch ist der teleologische Sinn ein Bestandteil des Sinns des Lebens. Denn ein sinnvolles Leben scheint unter anderem zwei Voraussetzungen zu haben: Erstens muss es möglich sein, den teleologischen Sinn dessen, was uns in unserer sozialen Welt wichtig ist, zu verstehen; in einer Lebenswelt, die man nicht begreift, würde man verzweifeln. Zweitens wird das Leben vollends sinnlos für denjenigen, der nicht in der Lage ist, ob aus inneren oder aus äußeren Gründen, sich Zwecke zu geben, diese zu verfolgen und erfolgreich Mittel 18

Lübbe, Praxis der Philosophie, Praktische Philosophie, Geschichtstheorie, 101. A

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einzusetzen. Zumindest muss dies prinzipiell möglich sein, auch wenn man freiwillig darauf verzichtet. Das wird sowohl durch die empirische wie die klinische Psychologie immer wieder bestätigt: Wer ein gesundes und erfülltes Leben führen will, muss in der modernen Welt offensichtlich in der Lage sein, sich Zwecke zu setzen und dafür eigene Ressourcen zu mobilisieren; vor allem aber muss man Vertrauen in seine »Selbstwirksamkeit« haben, also das Gefühl besitzen, die eigene Ziele realisieren zu können. 19 (d) Mitteilungssinn Der vierte Begriff von »Sinn« bezieht sich auf die Hervorbringungen eines besonderen Typus von Handlungen, nämlich der Sprechakte. Mit diesen können wir nämlich anderen (oder auch im Grenzfall uns selbst, beispielsweise in einem Tagebuch) etwas mitteilen. 20 Voraussetzung dafür ist, dass die Produkte dieser Aktivitäten von anderen verstanden werden können, eben Sinn haben. In dieser seit dem 19. Jahrhundert üblichsten Gebrauchsweise von »Sinn« wird auch oft der Begriff »Bedeutung« benutzt; »Sinn und Bedeutung« ist das zentrale Thema der modernen Sprachphilosophie bzw. der Semantik. Welche Entitäten sind Träger von Sinn? Was hat alles einen semantischen Sinn? Als materielle Grundlage kommen Schallwellen, Graphitablagerungen, Siliziummoleküle und vieles andere in Frage. Interessanter ist die Frage nach den semantischen Formen. In einem Teilgebiet der Linguistik, der Phonologie, werden die Laute untersucht, die in einer Sprache bedeutungsrelevant sind. Silben, also Folgen von wenigen Buchstaben, können vor allem als Prä- und Affixe Bedeutungsunterschiede bewirken. Träger von Sinn finden wir jedoch erst auf der nächsten Stufe, bei den Wörtern und ihrem lexikalischen Sinn. Sprachphilosophisch unterscheidet man in der Regel zwei Arten von Wörtern, Nominatoren (singuläre Terme) und Prädikatoren (generelle Terme). Bei vielen Wörtern ergibt sich ihr Sinn aber nicht aus dem lexikalischen Gehalt; das gilt vor allem für indeVgl. Schaeppi, Braucht das Leben einen Sinn?, 14–17, 22 ff. unter Berufung auf Roy F. Baumeister (»Meanings of Life«, New York 1991) und Aaron Antonovsky (»Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit«, Tübingen 1997). 20 Zur Unterscheidung von Handlungs- und Mitteilungssinn vgl. Schnädelbach, Philosophie in der modernen Kultur, 131 ff. 19

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xikalische Ausdrücke (»hier«, »jetzt«, »heute« usw.), für synkategorematischen Ausdrücke (etwa Präpositionen und Konjunktionen) sowie für Eigennamen. Zudem können alle Wörter durch Wortstellung, Betonung u. a. einen anderen Sinn bekommen (»Hans kommt nach Hause« – »Kommt Hans nach Hause«). Deshalb muss nicht nur der lexikalische, sondern auch der grammatische Sinn verstanden werden; beide zusammen bilden den linguistischen Sinn. 21 Die nächsthöhere Einheit ist der Satz bzw. die Äußerung. Darüber hinaus sprechen wir auch vom »Sinn einer Rede« oder vom »Sinn von Texten«, den man manchmal in Sinnsprüchen oder Sentenzen zusammenfassen kann. Mit dem Sinn bezeichnet man in diesen Fällen die Lehre, die man aus einem Text ziehen kann, oder, wie es in einer Redewendung heißt, »die Moral von der Geschicht’«. Allerdings haben nur wenige Texte einen solchen eindeutigen Sinn, etwa Gebrauchstexte oder die »Lehrstücke« von Brecht. Was aber ist der Sinn von Rilkes Gedicht »Der Panther« oder von Kafkas Erzählung »Der Landarzt«? Da der semantische Sinnbegriff keinen Plural besitzt, spricht man in solchen Fällen eher von den Bedeutungen eines Textes oder von möglichen Interpretationen. Aber es gibt nicht nur sprachliche Zeichen. Auch nicht-sprachliche Entitäten können einen semantischen Sinn haben. In der Sprachphilosophie gibt es dafür unterschiedliche Terminologien. In Anlehnung an Langer unterscheide ich zwischen diskursiven und präsentativen Symbolen. 22 Alle sprachlichen Zeichen sind diskursive Symbole. Aber auch Bilder, Musik, Rituale, Träume u. a., die Langer zu den präsentativen Symbolen rechnet, können etwas mitteilen, allerdings auf andere Weise als die höher entwickelte Form der Sprache. Richtet sich die metaphysische Sinnfrage auf den semantischen Sinn? Sicherlich wird derjenige, der nach dem Sinn des Lebens fragt, sprachliche Äußerungen und symbolische Gebilde interpretieren, vor allem Texte lesen. Wenn diese Annahme falsch wäre, würde diese ganze Abhandlung sinnlos sein. In den neueren Kulturwissenschaften ist aber darüber hinaus ein inflationärer Gebrauch des Wortes »Text« üblich geworden, dem ich mich nicht anschließen kann. Denn das Leben als Ganzes lässt sich nicht als Text verstehen, ebenso wenig wie der Tod. Es mag zwar Ritualmorde und Selbsttötungen geben, 21 22

Vgl. Künne, Verstehen und Sinn, 1–16; ders., Abstrakte Gegenstände, 196–202. Langer, Philosophie auf neuem Wege, 4. Kap.: Diskursive und präsentative Formen. A

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mit denen etwas mitgeteilt werden soll, aber in der Regel ist der Tod selbst nicht bedeutungstragend. Mit dem semantischen Sinn verhält es sich also ähnlich wie mit dem teleologischen Sinn. Beide bilden einen Aspekt dessen, was wir als Sinn des Lebens ansprechen. Aber dieser geht offensichtlich über den Handlungssinn und über den Mitteilungssinn hinaus. Das ist jedenfalls die moderne Sicht der Dinge. Bis ins 18. Jahrhundert war jedoch die Ansicht verbreitet, dass es zum einen eine objektive Teleologie gebe, zum anderen alles als Zeichen göttlicher Tätigkeit gesehen werden könne. Im christlichen Weltbild galt Gott als Urheber beider; sein Wirken sei in Natur und Geschichte zu erkennen. Den Gedanken einer objektiven Teleologie, allerdings ohne handelndes Subjekt (vgl. III.1.), gab es bereits in der Antike. Mit Augustinus setzte sich das Bild vom Buch der Natur durch. Für diejenigen, die des Lesens im wörtlichen Sinn unkundig sind, stand außer der Bibel noch ein zweites Buch zur Verfügung: Auch aus der Natur konnte man, wenn man dazu fähig war, den Sinn der Schöpfung ersehen. Dieser Auffassung war noch Galilei: Es gibt zwei Bücher Gottes, das zweite ist die Natur, die mit Zahlen geschrieben ist; deshalb konvergieren letztlich auch Glaube und Wissen. Reste dieser Metaphorik finden sich noch bei Kant (KdU § 42/X: 234 f.; XI: 116). Sie setzt aber voraus, dass es einen Autor gab, der das Buch der Natur geschrieben hatte. Mit der Widerlegung der Gottesbeweise ist diese Prämisse wissenschaftlich nicht mehr einholbar. Erst nachdem sowohl der teleologische wie der semantische Sinn restlos auf uns Menschen (bzw. andere vernunftbegabte Lebewesen) zurückgeführt werden muss, taucht die metaphysische Frage nach dem Sinn des Lebens auf. Als gemeinsame Grundlage der Tätigkeiten, durch die teleologischer und semantischer Sinn in die Welt kommt, gilt die menschliche Intentionalität, die Ausrichtung des Bewusstseins. In gewisser Weise wird dadurch der erste Begriff des Sinns, der Richtungssinn, integriert. Darüber hinaus sind sowohl der teleologische wie der semantische Sinn auf Verstehensleistungen angewiesen. Die philosophische Disziplin, die sich mit dem Verstehen von Sinn beschäftigt, ist die Hermeneutik. Deshalb lassen sich Handlungs- und Mitteilungssinn zusammenfassen zum hermeneutischen Sinn.

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(e) Funktionssinn Es gibt allerdings noch eine fünfte Wortbedeutung, die über die menschliche Intentionalität hinausführt: Ich meine den systemischen Begriff des Sinns, der weitgehend äquivalent ist mit dem Ausdruck »Funktion«. Der Sinn, den ein bestimmtes Element in einem System hat, ist das, was es zu dessen Funktionieren beiträgt. Überall da, wo man von Systemen spricht, kann man also nach dem Sinn der einzelnen Teile suchen: bei Maschinen, Organismen, Gesellschaften usw. Bei dynamischen Systemen, deren Veränderungen nicht chaotisch sind, sondern erkennbare Tendenzen aufweisen (etwa immer größer werdende Komplexität), kann der Funktionssinn sogar mit dem Richtungssinn verschmolzen werden. Diese Verwendungsweise tritt in gewisser Weise an die Stelle der klassischen Teleologie und ersetzt den traditionellen Begriff der Zweckmäßigkeit. Für den Bereich der organischen Natur bildet die Evolutionstheorie die Grundlage, um die Funktion aller Phänomene zu bestimmen. Das hat einer der Begründer der synthetischen Evolutionstheorie, Theodosius Dobzhansky (1900–1975), in folgendem Diktum zusammengefasst: »Nothing in biology makes sense except in the light of evolution«. 23 Eine systemtheoretische Antwort auf den Sinn des Lebens könnte also auf dessen Funktion im Ganzen der Evolution verweisen, auf den evolutionären Sinn des Lebens. Diese Sichtweise lässt sich über den Bereich des Organischen hinaus auf den gesamten Kosmos ausdehnen, auf die kosmische Evolution (vgl. III.1.2.). Der systemische Sinnbegriff wird immer dann in den Vordergrund treten, wenn wir eine Ganzheit aus der Außenperspektive betrachten. Wer nach dem Sinn des Lebens fragt, kann sicher durch Hinweise auf den evolutionären Sinn des Lebens interessante Informationen erhalten. Es wäre unsinnig, dass immense Wissen, das sich über das Leben aus der Außenperspektive gewinnen lässt, völlig abzublenden. Dennoch wird uns eine solche Antwort nicht zufrieden stellen. Das kann ein Beispiel leicht verdeutlichen: Der evolutionäre Sinn dessen, Dieser immer wieder zitierte Satz findet sich nicht, wie manchmal behauptet, in Dobzhanskys wirkungsmächtigen Hauptwerk »Genetics and the Origin of Species« (1937), mit dem er die Synthetische Evolutionstheorie begründete. Das Zitat geht vielmehr zurück auf eine Vorlesung, die 1973 unter diesem Titel zum ersten Mal veröffentlicht wurde in »The American Biology Teacher«, 35. Jg./1973, S. 125–129, (zit. nach Dennett, Darwins gefährliches Erbe, 201).

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was wir geschlechtliche Liebe nennen, ist offensichtlich vor allem die Fortpflanzung und damit die Weitergabe genetischer Daten. Wer aber nach dem metaphysischen Sinn der Liebe fragt, kann darin nicht die ganze Antwort sehen, weil die Innenperspektive nicht berücksichtigt wird. Ziehen wir eine Zwischenbilanz. Wir haben fünf verschiedene Sinnbegriffe unterschieden; das folgende Schaubild fasst diese noch einmal zusammen. Terminus

Sinnart

Parallelbegriff Anwendungsbereich

etymologisch Richtungssinn

Sinn und Verlauf

gerichtete Prozesse

organologisch

Fähigkeitssinn

Sinn und Verstand

menschliche Kompetenzen

semantisch

Mitteilungssinn

Sinn und Bedeutung

sprachliche Zeichen präsentative Symbole

teleologisch

Handlungssinn Sinn und Zweck Handlungen Handlungsprodukte

systemisch

Funktionssinn

Sinn und Funktion

Systeme

Im Hinblick auf metaphysische Sinnfragen spielt der organologische Sinn keine Rolle; diese Begriffsdimension hat sich weitgehend abgespalten. Hingegen bieten sich mit dem hermeneutischen und dem evolutionären Sinn zwei Synthesen an. Ihnen korrespondieren zwei Betrachtungsweisen: Der hermeneutische Sinn ist zu verstehen nur aus der Innenperspektive, der Perspektive der ersten Person. Der evolutionäre Sinn zeigt sich einer objektivierenden Beobachtung aus der Außenperspektive, aus der Perspektive der dritten Person. In beiden Fällen ist mit »Sinn«, so kann man sagen, die Verständlichkeit eines Phänomens gemeint. Sicherlich muss ein Leben, das als sinnvoll bezeichnet werden soll, verständlich sein. Verständlichkeit (ob aus der Innen- oder der Außenperspektive) ist jedoch nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für metaphysischen Sinn. Wer aber nach dem Sinn des Lebens fragt, will mehr wissen als den hermeneutischen Sinn der Phänomene und wird sich mit ihrem evolutionären Sinn nicht zufrieden geben. 104

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Der metaphysische Sinnbegriff

4.

Der metaphysische Sinnbegriff

Aber worum handelt es sich denn, wenn wir nach dem »Sinn des Lebens« oder dem »Sinn des Ganzen« fragen? Ist dieser »emphatische Sinnbegriff« 24 vielleicht eine bestimmte Kombination der bereits erwähnten oder eine eigenständige, sechste Variante? Auf der Grundlage des üblichen Sprachgebrauchs lässt sich diese Frage schwer beantworten; zu vielfältig und ungenau sind die alltäglichen Verwendungsweisen. Deshalb muss ich das, was ich im Folgenden in Anknüpfung an den ersten Teil dieser Arbeit als metaphysischen Sinnbegriff bezeichne und zum Maßstab für spätere Überlegungen nehme, selbständig entwickeln. (a) Zwei zusätzliche Komponenten Dabei spielen zwei Komponenten eine Rolle, die bisher noch nicht erwähnt wurden, aber durch einen Blick in andere Sprachen erkannt werden können. Im alten Griechisch und im Lateinischen findet man keine Äquivalente für die Formel vom »Sinn des Lebens«. Das Französische unterscheidet sich nicht vom Deutschen; dort verwendet man den Ausdruck »sens de la vie«. Interessant ist das Englische: Als Äquivalent für »Sinn des Lebens« kann man »point of life« ansehen, also der Witz bzw. der letzte Zweck des Lebens. In manchen Zusammenhängen steht auch das Wort »sense«, etwa in der Rede vom »sense of history« 25 oder im obigen Dobzhansky-Zitat. In der philosophischen Fachsprache dominiert jedoch der Ausdruck »meaning of life«, der wohl zuerst bei Carlyle 1833 auftaucht. 26 Im Deutschen wird jedoch »meaning« meistens nicht mit »Sinn«, sondern mit »Bedeutung« übersetzt. »Sinn« und »Bedeutung« sind aber keine Synonyme. Wenn wir den Begriff der Bedeutung in unsere sprachanalytische Betrachtung einbeziehen, ergeben sich die angekündigten Ergänzungen. »Bedeutung« hat vier Hauptbedeutungen. 27 An erster Stelle, soMarquard, Apologie des Zufälligen, 36 ff. Vgl. die Hinweise in Rüsen, Zerbrechende Zeit, 9 Fn. Löwiths Buch »Weltgeschichte und Heilsgeschehen« hieß allerdings im Original »Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History« (1949). 26 Zit. bei Fehige/Meggle/Wessels, Vorab, 22. 27 Vgl. Nozick, Philosophie und der Sinn des Lebens, 379. 24 25

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wohl etymologisch als auch im heutigen Sprachgebrauch, steht die semantische Bedeutung. »Bedeutung« ist dann äquivalent mit dem semantischen Sinn des Wortes »Sinn«. Die zweite Bedeutung ist ein Sonderfall, der nur kurz erwähnt werden sollte, nämlich die Verwendungsweise bei Gottlob Frege. »Bedeutung« ist bei ihm der Bezug oder (mit einem sprachphilosophischen Terminus) die Referenz eines sprachlichen Ausdrucks: Die Bedeutung des Abendsterns ist bei Frege in diesem Sinn nicht der semantische Sinn des Wortes »Abendstern«, sondern das, worauf sich dieses Wort bezieht, also der zweite Planet unseres Sonnensystems, die Venus. Wir können diese Verwendungsweise die referentielle Bedeutung von »Bedeutung« nennen. Für die Frage nach dem Sinn des Lebens spielt sie keine Rolle – im Gegensatz zu den beiden folgenden Sinnschichten. Die dritte Bedeutung von »Bedeutung« ist die kausale Indikation. »Rauch bedeutet Feuer« – das heißt, ich weiß, dass ich vom Auftreten von Rauch auf Feuer als dessen Ursache schließen kann. Der Rauch ist also kein diskursives oder präsentatives Symbol für Feuer, aber ein Anzeichen (Symptom) des Feuers. 28 Ein Anzeichen verweist direkt (d. h. ohne Vermittlung eines Zeichens im weitesten Sinn) auf ein Objekt, auf dessen vergangenes, gegenwärtiges oder zukünftiges Vorhandensein. Es gibt natürliche und künstliche Anzeichen. Ein natürliches Anzeichen ist der Schrei, der durch einen Schmerz ausgelöst wird. Ein künstliches Anzeichen ist der Pfiff einer Lokomotive. Die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem ist bei Anzeichen aber nicht semantischer, sondern kausaler Art. Aus der Außenperspektive kann man sich damit begnügen. Wenn wir jedoch in die Innenperspektive wechseln, wird aus der kausalen Indikation ein semiotischer Zusammenhang. Was wir wahrnehmen, ist immer schon symbolisch strukturiert, denn »das menschliche Gehirn (ist) beständig in einem Prozeß der symbolischen Transformation von Erfahrungsdaten begriffen« 29 . Wir leben in einer Welt der Zeichen; es gibt nichts, was für uns nicht die Form eines Zeichens im weitesten Sinne annimmt. Aus der Innenperspektive bzw. in meiner Lebenswelt bedeuten alle Entitäten etwas, allerdings nicht im Sinne des Mitteilungssinns, sie sind vielmehr mit Langer, Philosophie auf neuem Wege, 3. Kap.: Die Logik der Anzeichen und der Symbole. 29 Langer, Philosophie auf neuem Wege, 2. Kap.: Symbolische Transformation, hier 51; vgl. Cassirer, Versuch über den Menschen, 50. 28

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einem kulturellen Sinn aufgeladen. Das gilt nicht nur für die symbolisch vorstrukturierten Gegenstände, sondern für die gesamte Wirklichkeit, in der ich lebe. Dass wir eine Wolke als Wolke und ein bestimmtes Geräusch als Schmerzensschrei wahrnehmen, ist nur möglich, weil diese Phänomene für uns nicht mehr nur rohe Natur sind – und selbst rohe Natur haben wir nur in einer von uns bereits semiotisch geprägten Form. Zudem stehen diese Entitäten immer in vielfältigen Verweisungszusammenhängen; sie verweisen auf andere Gegenstände oder auf Personen, auf ihre Herkunft, ihren Zweck oder ihre Funktion. Das Wissen von diesen Beziehungen muss nicht auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen; es ist kein objektives, sondern ein epistemisches Wissen, also mein subjektives, mir für mein Handeln zur Verfügung stehendes Wissen. Implizite Fertigkeiten, intuitive Einschätzungen und affektive Wertungen spielen in ihm eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Es ist jedoch nicht abgeschottet gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen, durch die es sich korrigieren, vermehren und systematisieren lässt. Dieses epistemische Wissen reagiert, zumindest implizit, auf die Frage »Was bedeutet das alles?«; in Krisensituationen wird jedoch keine Antwort gefunden, dann ist alles fraglich und sinnlos geworden. Sinn meint in dieser Hinsicht so etwas wie Ordnung, Einheit oder Zusammenhang. Diese Bedeutungsschicht scheint mir eine wichtige Komponente des metaphysischen Sinnbegriffs zu sein. Das wird auch die gleich folgende Analyse des Wortes »Verstehen« bestätigen, das sich auch oder sogar primär auf Zusammenhänge richtet. Zudem kann man eine empirische Bestätigung einholen: Einer der entscheidenden Faktoren, um ein physisch, psychisch und sozial gesundes Leben zu führen, scheint etwas zu sein, was Psychologen »Kohärenzgefühl« getauft haben. Gemeint ist damit eine umfassende Orientierung, die es dem Individuum erlaubt, zumindest einen relevanten Ausschnitt der Wirklichkeit, in der es lebt, zu verstehen und erfolgreich auf die an ihn gestellten Anforderungen zu reagieren. 30 Schließlich gibt es noch eine vierte Bedeutung von »Bedeutung«, die wir kennen aus Verwendungsweisen wie »ein bedeutender Mann« (= »ein Mann von Bedeutung«), »das hat für mich große Bedeutung«, »die Bedeutung der Philosophie in unserer Gesellschaft« usw. »Bedeutung« meint hier »Wert«, »Wichtigkeit« oder »Relevanz«. Für diese axiologische Bedeutung kann die im 18. Jahrhundert 30

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Begriffliche und methodische Vorüberlegungen

entstandene Wortvariante »Bedeutsamkeit« stehen, die in der Philosophie Diltheys eine wichtige Rolle spielt. Als englische Übersetzung von »Bedeutsamkeit« bietet sich »significance« an, zu unterscheiden von »signification«, das im Englischen nur eine semantische Bedeutung hat. Diese axiologische Komponente kommt hinzu, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen. Denn wer nach diesem sucht, will nicht nur verstehen (in welchem Sinne auch immer), sondern es wird darüber hinaus ein wertendes Urteil gefällt. Auch in metaphysischen Dingen gilt also das bekannte Diktum »tout comprendre ce n’est pas tout justifier«. Verstehen heißt nicht Verzeihen und schon gar nicht Rechtfertigen. Diese axiologische Komponente wird, wenn man sich allein auf das Wort »Sinn« konzentriert, vernachlässigt. Es ist deshalb nicht falsch, wenn früher viele Philosophen, etwa der einflussreiche Eucken, immer von »Sinn und Wert« in einem Atemzuge sprachen. Man kann sagen, dass durch die Popularisierung der metaphysischen Frage diese auf das Wort »Sinn« verengt wurde. Zwischen »Sinn« und »Wert« bestehen zwei markante Unterschiede. 31 Erstens sind zwar mit den Prädikaten »sinnvoll«, »sinnlos« usw. Wertungen verbunden; aber diese beschränken sich auf den Bereich des prinzipiell Verständlichen, des Sinnhaften (siehe unten). Hingegen überschreiten die Wertungen, die mit dem Ausdruck »Bedeutsamkeit« angesprochen werden, den Bereich der kulturellen Welt; auch Gebilde, die nicht symbolisch strukturiert sind, können mehr oder weniger bedeutsam sein. Zweitens ist »Sinn« eine Beziehungskategorie; sinnvoll ist etwas immer nur für jemanden und/oder in einem Zusammenhang. Hingegen kann etwas extrinsisch und intrinsisch wertvoll sein; im hier vorausgesetzten kantianischen Rahmen besitzen Sachen einen extrinsischen, personale Eigenschaften und Personen selbst jedoch einen intrinsischen Wert (vgl. III.2.2.). Insofern kann es keinen absoluten Sinn geben, aber sehr wohl einen absoluten Wert, Personen haben einen solchen. Die beiden zusätzlichen Komponenten, Zusammenhang und Bedeutsamkeit, führen nicht notwendigerweise auf den metaphysischen Sinnbegriff. Alles steht in irgendwelchen Zusammenhängen; vieles kann bedeutsam sein. Von metaphysischen Zusammenhängen und von einer metaphysischen Bedeutsamkeit sollte man nur sprechen, wenn sich diese auf eine Entität beziehen, die uns absolut beVgl. Nozick, Vom richtigen, guten und glücklichen Leben, Kap. 15: Wert und Sinn, bes. 184 ff.

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trifft. Das ist der Fall, wenn es um Leben und Tod geht: Wenn wir begreifen wollen, was unser Leben bedeutet, fragen wir nach seinem Zusammenhang (und den Zusammenhängen, in denen es steht) und nach seiner Bedeutsamkeit. Über Zusammenhänge und Wichtigkeiten, so hatten wir oben festgestellt (I.5.), wird reflektiert. Als Arbeitsdefinition für die kommenden Reflexionen halte ich fest: In der modernen Metaphysik geht es um Entitäten, die uns absolut betreffen; diese sind sinnvoll, wenn sie verständlich, zusammenhängend und bedeutsam sind. Die drei Dimensionen und Komponenten des metaphysischen Sinnbegriffs werden noch einmal durch das folgende Diagramm darstellt. Dimension

Komponente

hermeneutisch oder evolutionär

Verständlichkeit

epistemisch

Zusammenhang

axiologisch

Bedeutsamkeit

(b) Gegenbegriffe Fast immer ist es philosophisch fruchtbar, nach den Gegenbegriffen zu fragen. Was ist also gemeint, wenn behauptet wird, das Leben habe keinen Sinn? Bei der Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, von den adjektivischen Verwendungsweisen auszugehen. (Es ist daran zu erinnern, dass wir in diesem Kapitel keine inhaltlichen Antworten geben wollen, sondern uns auf einer sprachtheoretischen Meta-Ebene bewegen.) Das folgende Schema sei vorausgeschickt. sinnfremd

sinnhaft sinnlos unsinnig

sinnfrei sinnvoll

widersinnig

Im ersten Schritt unterscheide ich zwischen »sinnfremd«, »sinnhaft« und »sinnfrei«. Nur das Sinnhafte kann sinnvoll sein; das Sinnfremde ist diesseits des Sinns, das Sinnfreie jenseits des Sinns. Auf der zweiten Ebene unterscheide ich innerhalb des Sinnhaften zwischen dem Sinnlosen und dem Sinnvollen, wobei das Sinnlose in das Unsinnige und das Widersinnige zerfällt. »Sinnvoll« und »sinnlos« bilden sprachlich eine vollständige Alternative, es gibt keine AbstufunA

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Begriffliche und methodische Vorüberlegungen

gen. Um zwischen mehr oder weniger Sinn zu differenzieren, mag es deshalb besser sein, von »sinnarm« und »sinnreich« zu sprechen. Die Gegenbegriffe zu »sinnvoll« liegen also auf unterschiedlichen Ebenen; die Aussage, dass das Leben keinen Sinn habe, kann auf verschiedene Weise verstanden werden. Der erste Gegenbegriff ist das Sinnfremde. So bezeichne ich Phänomene, die prinzipiell nicht Träger von Sinn sein können, die nicht einmal Kandidaten für Sinnzuschreibungen sind. Es wäre gewissermaßen ein Kategorienfehler, den Sinnbegriff auf Bereiche anzuwenden, in denen er nichts zu suchen hat. Im Unterschied zu den beiden folgenden Prädikaten wäre damit nicht einmal ein Werturteil oder eine Kritik verbunden. Etwas Sinnhaftes ist nicht per se besser als etwas Sinnfremdes. Dem Sinnfremden mangelt nichts – so wenig wie Büchern etwas fehlt, wenn man feststellt, dass sie nicht lachen können. Dieses Argument wird von denen vorgebracht, die behaupten, dass schon die Frage nach dem Sinn des Lebens falsch gestellt sei, weil das Leben eben als Sinnträger gar nicht in Frage komme. Wie aus meinen bisherigen Ausführungen hervorgegangen sein sollte, gilt dies zwar für den hermeneutischen Sinnbegriff, aber nicht für den metaphysischen. Zweitens kann etwas, das keinen Sinn hat, unsinnig sein. Als philosophischen Fachausdruck, der sich auf das Leben als Ganzes bezieht, verwende ich für diese Art der Sinnlosigkeit im Folgenden auch den Ausdruck »absurd«. Beispiele dafür sind Äußerungen und Handlungen, die prinzipiell sinnvoll sein könnten, es aber in diesem Fall nicht sind. Solche Unsinnigkeiten kann es auf verschiedenen Ebenen geben, etwa auf denen von Wort, Satz und Handlung: Ein Beispiel für lexikalischen Unsinn sind Buchstabenfolgen, die in einer oder in allen Sprachen keinen semantischen Sinn haben; bei Christian Morgenstern gibt es dafür einige Beispiele, etwa »Gingganz«. Grammatisch unsinnig ist sodann der folgende deutsche Satz: »Laufen und er ähnlich.« Unsinnig sind schließlich Verhaltensweisen, die nicht zu verstehen sind, etwa unregelmäßige Körperzuckungen. Insbesondere im letzten Fall könnte man aus der Außenperspektive zu einem anderen Ergebnis kommen: Vielleicht stellt sich heraus, dass die entsprechenden Bewegungen Symptom für eine schwere Krankheit sind. Der hermeneutische und der systemische Sinn müssen keineswegs zusammenfallen. Aber auch aus der Außenperspektive mag es vieles geben, dessen Funktion sich nicht erschließen lässt, etwa chaotische Abläufe und Zustände. Auf der gesellschaftlichen Ebene könnte man auf Prozesse verweisen, bei denen die beteiligten Indi110

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Der metaphysische Sinnbegriff

viduen jeweils für sich sinnvoll handeln, aber die Zusammenführung aller dieser Handlungen zu chaotischen Situationen führt, etwa bei einer Panik oder im ökonomischen Bereich bei irrationalen Preisschwankungen. Ist auch das Leben absurd? Drittens kann etwas, das keinen Sinn hat, widersinnig sein (oder, was hier ein äquivalenter Ausdruck sein soll, sinnwidrig). Als philosophischen Fachausdruck, der sich auf das Leben im Ganzen bezieht, verwende ich für diese Art der Sinnlosigkeit im Folgenden auch den Ausdruck »paradox«. So bezeichnet man Äußerungen und Handlungen, deren Elemente sinnvoll sind, die sich aber nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. Wiederum lassen sich verschiedene Typen unterscheiden. Semantisch widersinnig ist der Ausdruck »dreiseitiges Quadrat«. Sowohl »dreiseitig« als auch »Quadrat« sind sinnvolle Ausdrücke, aber nicht ihre Verbindung. Teleologisch widersinnig sind Handlungen, bei denen die Mittel das Erreichen des Zwecks verhindern, etwa das Reparieren einer Armbanduhr mit dem Presslufthammer; ein Beispiel auf kollektiver Ebene sind militärische Aktionen, die auf Eroberung zielen und mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zur Selbstzerstörung führen. Auch an die negativen Nebenwirkungen von Techniken, die eigentlich zur Wohle der Menschheit gedacht waren, könnte man denken. Motivatorisch widersinnig sind Handlungen, bei denen unbewusste Intentionen und bewusste Zwecksetzungen im Widerspruch zueinander stehen; die Tiefenpsychologie beschäftigt sich mit solchen Phänomenen. Kommunikativ widersinnig sind Sprechakte, bei denen mindestens zwei der Sprachfunktionen in Widerstreit geraten, etwa die Darstellungs- und die Appellfunktion. Das sind die berühmten »double binds«, die eine Rolle spielen bei einigen psychotherapeutisch relevanten Kommunikationsparadoxien. Evolutionär widersinnig sind dysfunktionale Prozesse und Strukturen. Ist das Leben auf diese Weise widersinnig? Normalerweise gilt der Widerspruch (die Antinomie) als Steigerung der Paradoxie (des Widersinns). Dennoch steht, wie an dieser Stelle kurz vermerkt werden sollte, das Widersprüchliche nicht im Gegensatz zum Sinnvollen. Es gibt logische, semantische und pragmatische Widersprüche. Man kann diese durch folgende Beispiele verdeutlichen. Eine logische Antinomie ist die Aussage »Zur gleichen Zeit existiert A und existiert A nicht«. Eine semantische Antinomie (in der deutschen Gegenwartssprache) ist die Aussage »Dieser Junggeselle ist verheiratet«. Eine pragmatische Antinomie ist die Aussage A

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Begriffliche und methodische Vorüberlegungen

»Ich sage nichts«. In solchen Fällen handelt es sich um Verstöße gegen elementare Regeln unseres Denkens, Sprechens und Handelns. Da das Leben aber, wie bereits oben ausgeführt, nicht im Denken, Sprechen und Handeln aufgeht, wird dieser Typ der Sinnlosigkeit bestenfalls in Teilbereichen eine Rolle spielen. Man kann sogar sagen: Es macht nichts, wenn das Leben widersprüchlich ist, es könnte trotzdem sinnvoll sein. Fünftens kann etwas sinnfrei sein, sich also, wie oben bereits erwähnt, nicht diesseits des Sinns befinden wie das Sinnfremde, sondern jenseits des Sinns. Freiheit ist etwas Positives. Die Aussage, dass etwas »sinnfrei« sei, wäre somit als positive Bewertung zu verstehen. Diejenigen, die das Leben für sinnfrei halten, verstehen ihre Auffassung also als wichtigen Befreiungsschlag gegen die Herrschaft des Sinns, als Ausbruch aus dem Gefängnis des Sinns. Zwei weitere Gegenbegriffe ergeben sich aus den oben hervorgehobenen zwei Komponenten, die nicht vom Wort »Sinn«, sondern vom Wort »Bedeutung« abgeleitet sind. Zum einen kann man die axiologische Komponente einbeziehen. Interessanterweise lässt sich zu »Bedeutsamkeit« sowohl in der substantivischen wie in der adjektivischen Verwendungsweise gar kein Gegenbegriff bilden. 32 Etwas kann also nur mehr oder weniger bedeutsam sein, eine geringere oder eine größere Bedeutsamkeit besitzen, allerdings sehr wohl auch gar keine. Zu »bedeutend« in der axiologischen Verwendungsweise gibt es zwei Gegenbegriffe: »bedeutungslos« und »unbedeutend«, von denen der erste sich jedoch auch auf die semantische Komponente beziehen kann. Für »unbedeutend« können wir auch Ausdrücke wie »unwichtig«, »wertlos« oder »irrelevant« einsetzen. Ein Leben, das in der axiologischen Dimension seinen Sinn verloren hat, wird also als unwichtig empfunden. Dass Menschen solche Sinnkrisen erleben (die bis zum Suizid führen können), ist bekannt. Für eine moderne Metaphysik, wie sie im ersten Teil dieser Arbeit konzipiert wurde, lässt sich jedoch der besorgniserregende Verdacht, das Leben sei wertlos, bereits an dieser Stelle ausräumen. Denn der absolute Wert jedes menschlichen Lebens ist durch moralphilosophische Argumente gesichert. (Grenzfälle wie Embryonen und Komatöse sowie noch nicht existierende Generationen wollen wir hier ausklammern.) Metaphysische Reflexionen, selbst wenn sie zu dem Ergebnis führen Nur Heidegger, Sein und Zeit, 187 verwendet einmal seine Wortprägung »Unbedeutsamkeit«.

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sollten, dass das Leben sinnlos sei, können die Würde des Menschen nicht im Nachhinein in Frage stellen. Zum anderen haben wir Sinn auch als Zusammenhang bestimmt. Wenn das Leben als Sinnzusammenhang verstanden wird, ist dieser auf zweifache Weise gefährdet. Erstens kann ein Sinnzusammenhang zerreißen. Beispielsweise mag es uns nicht gelingen, die unterschiedlichen Sinnzusammenhänge, in denen wir leben, zu integrieren. 33 Das ist ein internes Problem. Es wird, wie wir sehen werden, an zwei Stellen auftreten: Die eine Diskrepanz findet sich zwischen den verschiedenen Deutungen, die wir unserem Leben geben können, aus der Innen- und aus der Außenperspektive, zugespitzt gesagt: im Gegensatz zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen der kosmischen Irrelevanz und dem absoluten Wert unseres Lebens (III.1.5.). Die andere Diskrepanz besteht vor allem zwischen zwei praktischen Orientierungen, der an Glück und der an Moral (III.2.3.). In beiden Fällen geht der einheitliche Sinn des Lebens verloren, weil die Kluft unsere auf Kohärenz angewiesene Selbstdeutung in Stücke gehen lässt; das Leben wird widersinnig. Allerdings kann der Sinn einzelner Episoden oder Zusammenhänge, der Sinn im Leben, erhalten bleiben. Das ist Thema des dritten Teils dieser Arbeit. Dramatischer ist der zweite Gefahrentyp, der kein internes, sondern ein externes Problem darstellt. Der Sinnzusammenhang wird nicht nur zerrissen in antagonistische Sphären, sondern sogar zerstört. Diese destruktive Kraft besitzen die Phänomene des Todes und des Leidens. Sie können dazu führen, dass jeglicher metaphysischer Sinn aus unserem Leben verschwindet. Das ist Thema des vierten Teils dieser Arbeit.

5.

Das metaphysische Verstehen

An die begriffliche Analyse schließen wir jetzt methodologische Überlegungen an. Wie fragen wir nach dem Sinn des Lebens? Mit welchen Methoden sollten wir uns diesem Thema nähern? Da es um »Sinn« geht (wenn auch um den metaphysischen Sinn), liegt es nahe, in der Hermeneutik die Methodologie einer modernen Metaphysik zu sehen – und im Verstehen die unserem Thema angemessene Verfahrensweise. Dass hermeneutische Leistungen für metaphysische 33

Vgl. Henrich, Fluchtlinien, 13. A

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Begriffliche und methodische Vorüberlegungen

Fragen notwendig sind, hatte bereits meine Interpretation von Kants »Kritik der Urteilskraft« gezeigt. Die leitende Überzeugung dieses Kapitels ist es daher, dass eine kantianische Metaphysik sich mit einer metaphysischen Hermeneutik verbünden muss. Die Hermeneutiker behaupten, dass Verstehen und Sinn immer korrelativ sind: Wo Verstehen ist, ist auch Sinn; wo Sinn ist, ist auch Verstehen. Wegen der oben behandelten Vieldeutigkeit des Begriffs »Sinn« ist diese Auffassung nicht so klar, wie sie scheinen mag. Zudem ist auch der Begriff des Verstehens explikationsbedürftig. Diesen von der Hermeneutik wenig beachteten Umstand hat vor allem Wittgenstein hervorgehoben. 34 Auch hier kann es nicht um eine umfassende Erläuterung aller Varianten gehen, sondern nur um die Markierung der Differenzen und Zusammenhänge, die für unsere Fragestellung wichtig sind. Ziel ist es, einen für eine metaphysische Hermeneutik brauchbaren Begriff des Verstehens zu entfalten. Man kann mindestens fünf unterschiedliche Begriffe des Verstehens unterscheiden, von denen allerdings die ersten drei keine Rolle spielen. Erstens beziehe ich mich nicht auf Verstehen als akustisches Wahrnehmen, also das sinnliche Vernehmen mit unserem Hörorgan. Zweitens kann Verstehen einfach Können bedeuten, Sich-verstehenauf-etwas. So spricht man davon, dass man sich aufs Heimwerken, aufs Tanzen, aufs Schreiben usw. verstehe. In der Regel sind praktische Tätigkeiten gemeint, von denen man ein know-how besitzt, das in bestimmten Situationen aktualisiert wird. Auch das Beherrschen einer Sprache kann eine solche Disposition sein. Wir sprechen sogar davon, dass eine Person zu leben verstehe; damit ist die praktische Lebenskunst gemeint, nicht die Fähigkeit, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten. Drittens gibt es ein psychisches Verstehen, das Verstehen einer anderen Person, im Grenzfall sogar der eigenen Person. »Ich verstehe dich«: Das heißt meistens, dass man das verworrene Fühlen, Urteilen, Handeln des Anderen nachvollziehen kann, dass wir uns in diesen Menschen hineinversetzen können. Ein solches Verstehen mag intuitiv, empathisch, spontan geschehen, in der Regel wird es aber nicht ohne das Verstehen der Sprechakte und Handlungen dieser Person erfolgen können. Damit sind wir beim vierten Begriff des Verstehens, dem hermeneutischen Verstehen. Hermeneutik heißt eigentlich Auslegungslehre; aber in den letzten beiden Jahrhunderten hat sich ihr Anwen34

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Wittgenstein, PU §§ 138 bis 155, §§ 526 ff. u. ö.

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Das metaphysische Verstehen

dungsbereich in mehreren Schüben erweitert. Gegenstand der klassischen Hermeneutik waren gesellschaftlich wichtige Texte, oft heilige Schriften, von denen die Leser durch einen historischen Abstand getrennt sind. Das beste Beispiel ist die Bibel, an deren Exegese, angeregt durch das sola-scriptura-Prinzip des Protestantismus, sich im 16. und 17. Jahrhundert die klassische Hermeneutik konstituierte. Vor allem Schleiermacher ist die erste Erweiterung zu verdanken. Obwohl er selbst sich noch überwiegend mit zwei klassischen Werken beschäftigte, nämlich der Bibel und den Schriften Platons, kann er als Begründer der allgemeinen Hermeneutik gelten. Sie bezieht sich auf alle sprachlichen Dokumente und ist als solche die allgemeine Methodenlehre der historischen Wissenschaften. Das hat vor allem Droysen herausgestellt, der das historische Verstehen neben das naturwissenschaftliche Erklären und das philosophische Erkennen stellte. Die zweite Erweiterung führt zu einer anthropologischen Hermeneutik. Nicht nur sprachliche Dokumente, alle Lebensäußerungen des Menschen können und müssen, wie vor allem Dilthey betonte, verstanden werden. Deshalb ist die Hermeneutik nicht nur für Textwissenschaften, sondern für die Humanwissenschaften insgesamt wichtig, für Ethnologie und Soziologie, für Pädagogik und Medizin. Allerdings ist bei Dilthey das Verstehen keine Universalmethode, sondern nur die Methode der Geisteswissenschaften. Neben dieser steht das Erklären, das den Naturwissenschaften zuzuordnen ist. Damit ist der Stand der klassischen Erklären-Verstehen-Debatte erreicht. Das Resultat der dritten Erweiterung ist eine universale Hermeneutik. Nietzsche war wohl der erste, der auf den interpretativen Charakter jeder Erfahrung hingewiesen hat. Auch die naturwissenschaftliche Betrachtung des Seienden sei nur eine Perspektive. Diesen Schritt haben Heidegger und Gadamer nachvollzogen. Wenn Verstehen »der ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen Lebens selber« ist, sind Verstehensakte die Grundlage aller Operationen des menschlichen Geistes. 35 Tatsächlich haben Argumente aus unterschiedlichen Theorietraditionen und für verschiedene Gegenstandsbereiche gezeigt, dass es keinen Weltzugang gibt, der frei ist von interpretativen Elementen; das gilt sogar für die physikalische Empirie und unsere unbefangene Alltagswahrnehmung. Trotzdem ist der Universalitätsanspruch der Hermeneutik zurückzuweisen. Erstens folgt aus der sprachlichen Strukturierung un35

Gadamer, Wahrheit und Methode, 246. A

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Begriffliche und methodische Vorüberlegungen

seres Zugangs zur Welt nicht, dass die Welt selbst sprachlich strukturiert sei. Diesen Irrtum kann man als anti-ontologischen Fehlschluss bezeichnen. Der Begriff »Gen« ist unter angebbaren Umständen Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt worden; daraus darf man aber nicht folgern, dass das, was mit diesem Wort bezeichnet wird, vorher nicht existierte. Die sprachliche Konstitution eines Gegenstandsbereichs ist nicht dessen faktische Erzeugung; epistemologische Überlegungen (auf der Meta-Ebene) dürfen nicht mit gegenstandsbezogenen Erkenntnissen (die für die Objekt-Ebene gelten) verwechselt werden. Zweitens folgt aus der Tatsache, dass Verstehensleistungen in jedem kognitiven Akt enthalten sind, kein Verzicht auf Erklärungsanspruche; natur- und sozialwissenschaftliche Erklärungen sind bloß komplexer, als man früher meinte. Ein Beispiel für die erfolgreiche Integration hermeneutischer Leistungen in eine explanative Methodologie bietet Max Webers soziologischer Ansatz: Den sinnverstehenden Zugang zur sozialen Welt hielt er für unerlässlich; aber dieser dient verbesserten Erklärungen. Drittens darf man Unterschiede zwischen verschiedenen Wissensarten nicht nivellieren. So haben es die Sozialwissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften mit einer doppelten Hermeneutik zu tun. 36 Nicht zwischen Erklären und Verstehen besteht ein Gegensatz, sondern zwischen Beschreiben und Interpretieren; während Naturwissenschaftler ihren Gegenstandsbereich beschreiben, müssen die Sozialwissenschaftler ihren interpretieren. 37 Nicht nur die Zugangsweise, auch die Gegenstände selbst sind symbolisch strukturiert; wer diese Dimension abblendet, verfehlt eine wichtige Komponente des menschlichen Zusammenlebens. Dadurch reproduziert sich gewissermaßen die Verstehen-Erklären-Kontroverse auf höherer Ebene, als Unterschied zwischen sozial- und naturwissenschaftlichen Erklärungen. Das sind die Gründe, die gegen den Universalitätsanspruch der Hermeneutik sprechen. Wir müssen aber zu den unterschiedlichen Begriffen des Verstehens zurückkehren, denn es gibt noch eine weitere, eine fünfte Verwendungsweise, die umgangssprachlich gebräuchlich ist. Wenn mir jemand etwas erklärt hat (sei es ein Naturgeschehen wie die Entstehung eines Gewitters, sei es die Funktionsweise einer Maschine oder Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I: 162, im Anschluss an Giddens. 37 Vgl. Stegmüller, Die sogenannte Methode des Verstehens, 414–429, bes. 416. 36

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auch ein soziales Ereignis, etwa den Ausbruch des Ersten Weltkriegs), dann kann ich sagen: »Das hast du gut erklärt – jetzt verstehe ich es.« Was verstanden wurde, ist immer der Zusammenhang eines Ganzen, der auf den ersten Blick nicht offensichtlich war. Deshalb nenne ich diesen Typus Zusammenhangsverstehen. In gewisser Weise ist dieser Begriff des Verstehens sogar der grundlegende. Denn Verstehen richtet sich eigentlich immer auf Beziehungen im Rahmen von Ganzheiten, auf den »Zusammenhang eines Ganzen« 38 oder, wie wir in Anlehnung an das zweite Kapitel dieses Teils sagen können, auf Holons. Das gilt für die akustische Wahrnehmung einer Gestalt, das Beherrschen einer Kunst, das Verstehen einer anderen Person und das hermeneutische Verstehen. Auch die Wörter für »Verstehen« in anderen Sprachen legen das nahe: comprendere im Italienischen, comprendre im Französischen; man vergleiche zudem das englische Wort comprehensive, das wir mit »umfassend« übersetzen. Jedes Verstehen ist ein konstruktiver Akt, nämlich das Herstellen eines Zusammenhangs, in dem das Objekt, dessen Bedeutung man kennen möchte, eine Bedeutung bekommt. Das Zusammenhangsverstehen geht, wie aus dem Gesagten folgt, auf zweierlei Weise über das hermeneutische Verstehen hinaus. Das gilt erstens für den Anwendungsbereich. Während die Hermeneutik auf menschliche Akte (vor allem Sprechen und Handeln, zusätzlich unwillkürliche Ausdrucksbewegungen) bzw. die kulturelle Welt begrenzt bleibt, kann sich das Zusammenhangsverstehen auf alle ontischen Regionen beziehen. Das können, wie die obigen Beispiele andeuteten, auch Naturphänomene sein (eine biologische Zelle, der Lebenszyklus eines Sterns usw.). Gemäß der bereits eingeführten Terminologie wird das Zusammenhangsverstehen zum metaphysischen Verstehen, wenn es sich auf Ganzheiten bezieht, die uns absolut angehen. Dazu gehört in erster Linie unser eigenes Leben, dann aber der Kontext, in dem dieses steht, schließlich der Zusammenhang aller Zusammenhänge. Zweitens ist das Zusammenhangsverstehen weder eine Alternative zum Erklären (wie in der klassischen Erklären-Verstehen-Kontroverse) noch eine von dessen Komponenten (wie die universale Hermeneutik behauptet). Vielmehr sind Erklärungen die Voraussetzungen des Zusammenhangsverstehens. Deshalb verwenden auch Dilthey, VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 212 (= Riedel-Ausgabe 261) sowie ders. V: 319.

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Physiker diesen Verstehensbegriff. Sie wissen, dass sie vieles erklären (und auch prognostizieren), also bei Kenntnis der Gesetzesaussagen und Rahmenbedingungen ableiten können. Dennoch fehlt oft ein Verständnis der betreffenden Phänomene. Dieses liegt erst vor, wenn, wie ein berühmter Physiker sagte, »eine große Fülle von Erfahrungstatsachen als zusammenhängend« erkannt wird. 39 Das Zusammenhangsverstehen ist insofern ein Verstehen dritter Ordnung, gegenüber dem lebensweltlichen Verstehen als Verstehen erster und dem wissenschaftlichen Auslegen als Verstehen zweiter Ordnung. 40 Das metaphysische Verstehen übergreift noch die Zusammenhänge, denen wir uns objektivierend oder hermeneutisch näheren, etwa durch eine Verknüpfung empirisch-theoretischer mit normativpraktischen Aussagen.

6.

Merkmale des metaphysischen Verstehens

Nachdem der Begriff des metaphysischen Verstehens bestimmt wurde, kann man zwei wichtige Einsichten der philosophischen Hermeneutik fruchtbar machen. Was für das Verstehen von Texten gilt, kann auf das Begreifen des Lebens übertragen werden. Ich fasse die Ergebnisse vorweg in Thesen zusammen: (a) Jeder Akt eines metaphysischen Verstehens dehnt sich potentiell zum Verstehen des Ganzen aus. (b) Dem metaphysische Verstehen liegt immer ein Vorverständnis zugrunde, das aber nicht individuell-subjektiv und beliebig ist, sondern auch universale transzendentale Unterstellungen enthält. Dabei ist zwischen unausweichlichen Präsuppositionen und widerlegbaren Präsumtionen zu unterscheiden.

Wolfgang Pauli in Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 45; vgl. Edward Teller, Das Verstehen (1982). Weizsäcker beginnt eine seiner bekanntesten Schriften folgendermaßen: »Das Buch berichtet über einen Versuch, die Einheit der Physik zu verstehen.« (Aufbau der Physik, 15, meine Hervorhebung, C. T.). An anderer Stelle schreibt er: »Der Fortschritt der Wissenschaften vollzieht sich nicht nur dadurch, daß uns neue Tatsachen bekannt und verständlich werden, sondern auch dadurch, daß wir immer wieder neu lernen, was das Wort ›Verstehen‹ bedeuten kann.« (149) In ähnlicher Weise soll sich schon Bohr geäußert haben (vgl. ebd. 499 f.). 40 In Anlehnung an Dilthey, GS VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 210 (= Riedel-Ausgabe 258). 39

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Merkmale des metaphysischen Verstehens

(a) Die Totalisierung des metaphysischen Verstehens Die erste These lautet, dass sich jedes Verstehen notwendigerweise zum Verstehen des Ganzen erweitern muss. Wir verfolgen diesen Prozess zunächst beim hermeneutischen Verstehen über mehrere Stufen. Als Verstehen erster Ordnung bezeichneten wir oben das lebensweltliche Verstehen, das normalerweise implizit geschieht. Von dem Begründer der modernen Sprachphilosophie, Gottlob Frege, stammt das Kontextprinzip der Wortbedeutungen: »[N]ach der Bedeutung der Wörter muss im Satzzusammenhange, nicht in ihrer Vereinzelung gefragt werden.« 41 Die traditionelle Sprachphilosophie hatte sich viel zu sehr an einzelnen Wörtern, vor allem an Substantiven orientiert. Weil aber viele von diesen mehrdeutig sind und ihr Sinn nur aus dem Kontext erschlossen werden kann, müssen wir auf die zweite Stufe steigen, die Ebene des Satzes, die auch deshalb zentral ist, weil nur mit Sätzen, nicht mit Begriffen Geltungsansprüche verbunden sind. Außer den verwendeten Wörtern muss man, um einen Satz zu verstehen, seine Struktur begreifen, die Grammatik des Satzes. Sodann müssen wir nach den Erkenntnissen der Sprechakttheorie die illokutionäre Rolle bzw. den Modus des Satzes kennen. Es gibt vor allem diese zwei Möglichkeiten: Entweder handelt es sich um einen konstativen oder um einen regulativen Sprechakt. Ist also die Proposition deskriptiv oder normativ zu verstehen, als Seinsoder als Sollensaussage? Darüber hinaus ist der pragmatisch implizierte Sinn, der nur indirekt mitgeteilt wird, zu beachten. Die Sprechakttheorie spricht hier vom perlokutionären Effekt, d. h. dem, was man mit der Äußerung erreichen möchte. Ferner müssen wir, worauf vor allem Brandom hingewiesen hat, die inferentielle Rolle des Satzes kennen. Sehr verkürzt gesagt: Aus welchen Sätzen ist unser Beispielsatz abgeleitet und welche Schlussfolgerungen werden aus ihm gezogen? Solche Verstehensleistungen setzen schließlich voraus, dass man ein kompetenter Sprecher der verwendeten Sprache ist. Der späte Wittgenstein hat deshalb das Kontextprinzip auf die Sprache erweitert: »Das Zeichen (der Satz) erhält seine Bedeutung von dem System der Zeichen, von der Sprache, zu dem es gehört. Kurz: Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen.« 42 Bereits Frege, Grundlagen der Arithmetik, XXII, vgl. ebd. §§ 60, 62, 106. Wittgenstein, Werke 5: Blaues Buch, 21. Der letzte Satz findet sich auch in Wittgenstein, PU § 199.

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bei Wilhelm von Humboldt heißt es, man könne die Sprache mit einem »ungeheuren Gewebe vergleichen, in dem jeder Teil mit dem andren und alle mit dem Ganzen in mehr oder weniger deutlich erkennbarem Zusammenhang stehen«. 43 Eine ähnliche These, nämlich dass die Sprache ein System sei, findet sich auch bei Saussure und der ihm folgenden (post-)strukturalistischen Philosophie. Das Verstehen zweiter Ordnung, das wissenschaftliche Auslegen, setzt ein, wenn wir den Sinn des Satzes verstehen, aber nicht den Gedanken, der mit ihm geäußert wird, seinen propositionalen Gehalt. Auch zu diesem Zweck ist es sinnvoll, das Kontextprinzip anzuwenden. In der Regel helfen die benachbarten Sätze und Absätze beim Verständnis, zur Not muss der ganze Text gelesen werden. Aber auch das reicht oft nicht aus: Wir müssen die intertextuellen Bezüge ermitteln. Es muss also erneut eine Totalisierung vorgenommen werden, die letztlich die gesamte Philosophiegeschichte umfasst, ja die gesamte Geistesgeschichte der Menschheit. Was auch immer Gegenstand der Hermeneutik sein mag, ein sprachlicher Ausdruck, eine Handlung oder ein Ereignis – unsere Bemühung, diese Entitäten zu verstehen, wird nach dem Kontextprinzip immer weitere Kreise ziehen. Jedes Verstehen führt zur Totalisierung. Um x zu verstehen, muss man nicht alles kennen, aber das Ganze, von dem x ein Teil ist. Das ist der hermeneutische Holismus. 44 Das Ganze kann sehr klein sein und sich vergrößern, wie es im Prozess des Spracherwerbs geschieht. Ob es noch einen weiteren Kontext für das Ganze gibt, über das wir jeweils verfügen, wissen wir nicht. Deshalb bleibt jedes Verstehen eine unendliche Aufgabe; das Verstehen verläuft nicht »ad infinitum« (ins Unendliche), sondern »ad indefinitum« (ins Unbestimmte). 45 Das ist die hermeneutische Analogie zu der von Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« behaupteten Notwendigkeit, mit der die menschliche Vernunft zum Unbedingten fortschreitet, ohne dieses doch jemals erreichen zu können (vgl. KrV B 445). Schnädelbach konstatiert deshalb zu Recht einen »holistischen Trieb« 46 des menschlichen Geistes. Übertragen auf die moderne Metaphysik bedeutet dies, dass wir Humboldt, Einleitung zum Kawi-Werk, 65. Eine alternative Bezeichnung, »Bedeutungsholismus«, stammt von Putnam, Repräsentation und Realität, 16 f., 33 ff. 45 Seel, Vom Handwerk der Philosophie, 129. 46 Schnädelbach, Metaphysik und Politik, 151. 43 44

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zunächst nach dem Sinn einzelner Episoden unseres Lebens fragen, sich dieses Fragen aber notwendigerweise auf unser Leben insgesamt, ja auf das Ganze ausdehnt. Auf diese Homologie zwischen sprachlichem und metaphysischem Verstehen hat wohl Dilthey als Erster hingewiesen: So wie die Worte eines Satzes nur aus dem Zusammenhang verstanden werden können, so haben einzelne Ereignisse und Erlebnisse nur Bedeutung im Ganzen eines Lebensverlaufes. 47 Angenommen, es handelt sich um ein negatives Erlebnis, etwa ein berufliches Scheitern. Wenn wir dessen Sinn begreifen wollen, werden wir es in zeitliche, soziale und sachliche Zusammenhänge einordnen. Wir fragen nach der Bedeutsamkeit dieses Misserfolgs für unser Leben; dabei kann es sich im Nachhinein als sinnvoll erweisen, weil es eine positive Richtungsänderung des Lebensverlaufes bewirkte. Unser individuelles Leben muss aber, wie oben dargestellt, ebenfalls in größere Zusammenhänge gestellt werden. In ihm können allgemeine Merkmale der conditio humana oder der societas humana, der menschlichen Natur oder des menschlichen Zusammenlebens überhaupt, zum Ausdruck kommen. Diese lassen sich in immer umfassendere Kontexte einordnen. Jede noch so geringfügige und punktuell veranlasste Frage nach der Bedeutsamkeit einer Entität erweitert sich notwendigerweise (wenn wir sie ernsthaft und konsequent angehen) zur Frage nach dem Sinn des Ganzen. Die Totalisierung des Verstehens ist jedoch normalerweise nicht nötig. In Prozessen sprachlicher Kommunikation findet die intersubjektive Verständigung in der Regel mühelos statt; die Grundlage dafür bildet das massive Vorverständnis, das jeder kompetente Sprecher besitzt und das sich zu weiten Teilen deckt mit dem anderer Mitglieder seiner Lebenswelt. Zudem reicht oft ein partielles, sogar ein fragmentarisches Verstehen. Bei einfachen Missverständnissen genügt meistens die erste Kontexterweiterung, um wieder eine gemeinsame Situationsdeutung herzustellen. Die üblichen Horizonte muss das Verstehen nur bei größeren Missverständnissen, starken Konflikten und existenziellen Krisen überschreiten – aber diese sind es, die die metaphysische Sinnfrage auslösen.

Dilthey, GS VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 235, vgl. ebd. 195 ff. u. 229 f. (= Riedel-Ausgabe 290 f., vgl. ebd. 240 ff. u. 283 f.); vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, 227 f.

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(b) Die subjektiven Voraussetzungen des metaphysischen Verstehens Mit dem Begriff des Vorverständnisses kommen wir zu der zweiten hermeneutischen Einsicht, die die moderne Metaphysik übernehmen sollte: Es bedarf subjektiver Voraussetzungen, um überhaupt etwas zu verstehen. Mit dem Verstehen ist es wie mit dem Suchen: Ein gewisses Vorverständnis dessen, was gesucht wird, muss bereits vorliegen. Wenn mich jemand auffordert, in meiner Wohnung den Odradek zu suchen, so wird die Suche erfolglos sein, weil ich nicht weiß, was ein Odradek ist. 48 Eine vollständige Kenntnis ist jedoch nicht notwendig: Wenn mich jemand auffordert, ein heruntergefallenes Armband zu suchen, so kann ich dieses finden, ohne es jemals vorher gesehen zu haben. Auf der Ebene des wissenschaftlichen Verstehens ist das Vorverständnis ein bestimmtes Paradigma oder Forschungsprogramm. 49 Die neuere Wissenschaftstheorie hat uns darüber belehrt, dass alle wissenschaftlichen Theorien auf einem solchen Hintergrundwissen aufbauen. Das gilt für ›harte‹ Wissenschaften wie die Physik, die außer einem »mathematischen Entwurf der Natur selbst« auch allgemeine Gesetzesaussagen voraussetzen. 50 Bei den Kultur- und Sozialwissenschaften kommen Reflexionsbegriffe wie die Idealtypen hinzu. Auch Werte wie Wahrheit, Begründbarkeit, Systematizität, Einfachheit, Eleganz u. a. spielen eine Rolle. Schließlich enthält das wissenschaftliche Wissen auch pragmatische Regeln, Handlungsanweisungen (Injunktionen), etwa über die Art von Experimenten, die zu Ergebnissen führen sollen. 51 Auf der Ebene des metaphysischen Verstehens wird das Vorverständnis, wie Heidegger sagt, zu einer »Sicht des DaDas Wesen Odradek entstammt der Erzählung »Die Sorge des Hausvaters« (1919) von Franz Kafka. Vielfach wurde diese merkwürdige Entität als Bild für den Sinn des Lebens interpretiert. Nach seiner Beschreibung heißt es in Kafkas Erzählung: »Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Das scheint aber nicht der Fall zu sein … das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist.« (Kafka, Sämtliche Erzählungen, 139). Eine Besonderheit Odradeks scheint übrigens seine Unsterblichkeit zu sein: Er stirbt nicht, gerade weil er kein Ziel hat und seine Existenz sinnlos ist. 49 Vgl. Stegmüller, Der sogenannte Zirkel des Verstehens, 63–88. 50 Heidegger, Sein und Zeit, 362. 51 Vgl. Wilber, Eros – Kosmos – Logos, 339 f. 48

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seins«. 52 In Bezug auf den »Sinn von Sein« heißt es: »Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom Gesuchten her. Der Sinn von Sein muß uns daher schon in gewisser Weise verfügbar sein. Angedeutet wurde: wir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis. Aus ihm heraus erwächst die ausdrückliche Frage nach dem Sinn von Sein und die Tendenz zu dessen Begriff.« 53 Darüber hinaus aber ist mit dem Vorverständnis auch ein Vorgriff auf die Ergebnisse dieser Verstehensakte verbunden. In diesen Zusammenhang spricht Heidegger vom Verstehen als Entwurf und Vorgriff. 54 »Sinn bedeutet das Woraufhin des primären Entwurfs«.55 Deshalb ist Verstehen, wie Heidegger so schön sagt, niemals das »[B]egaffen eines Sinnes« 56 , sondern ein komplexer Prozess der Wechselwirkung zwischen Vorstruktur und Vorgriff, Vorverständnis und Verstehensprozess. Das Kontextprinzip und die Notwendigkeit eines Vorverständnisses führen zum Begriff des hermeneutischen Zirkels. 57 Dieser aus der antiken Rhetorik stammende Begriff bezeichnete in der klassischen Hermeneutik die Pendelbewegung des Lesers zwischen einem Element und dem Ganzen eines symbolischen Gebildes, bei der man (wie eben dargestellt) genötigt sein kann, immer größere Kontexte einzubeziehen. Schleiermacher erkannte, dass der hermeneutische Zirkel nicht nur die objektive Seite umfasst (das grammatische Verstehen, wie er sagte), sondern auch die subjektive Seite (das psychologische Verstehen). Wenn wir etwas verstehen wollen, müssen wir nicht nur den objektiven Kontext berücksichtigen, sondern auch Voraussetzungen, Art und Intention des subjektiven Zugriffs. Nach Heideggers Auffassung bleibt unser Verstehen von der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses dauerhaft bestimmt; wir können also den hermeneutischen Zirkel gar nicht verlassen. Das Problem sei aber gar nicht, den Zirkel zu vermeiden, »sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.« 58 Wer aus irgendwelchen Gründen, so kann man dies deuten, kein Vorverständnis vom Sinn des Lebens beHeidegger, Sein und Zeit, 146. Heidegger, Sein und Zeit, 5. 54 Heidegger, Sein und Zeit, 145 u. 150. 55 Heidegger, Sein und Zeit, 324. 56 Heidegger, Sein und Zeit, 263. 57 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, 296 ff.; vgl. Dilthey, GS VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt, 162 (= Riedel-Ausgabe 198). 58 Heidegger, Sein und Zeit 153, vgl. ebd. 315. 52 53

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sitzt, wird auch die metaphysische Sinnfrage nicht beantworten können; in einer Welt, in der die denknotwendige Idee des Absoluten immer nur lächerlich gemacht wird, interessiert sich bald keiner mehr für Metaphysik. Für Gadamer sind wir immer schon in einem hermeneutischen Zirkel. Denn sowohl wir als auch das Objekt, das wir verstehen wollen, gehören zu einer übermächtigen Geschichte. Der Fragehorizont ist bestimmt durch die Wirkungsgeschichte, in die auch der Text selbst gehört. 59 »Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.« 60 Heidegger meinte Ähnliches mit seinem Ausdruck »geworfener Entwurf«. Dies führt notwendigerweise in einen radikalen Historismus und Relativismus. Diese Konsequenz findet sich nur deshalb nicht bei Heidegger und Gadamer, weil beide von der Einheit der Seins- bzw. Wirkungsgeschichte ausgingen, die man in der pluralistischen Weltgesellschaft nicht mehr unterstellen kann. Bedeutet dies nicht, dass die Metaphysik in den Relativismus zurückstürzt, vielleicht nicht in einen individuellen Subjektivismus, aber dass sie in eine Vielzahl von Traditionen, Diskursen und Sprachspielen zerfällt? Ist der Sinn des Lebens also etwas, das sich der universalen wissenschaftlichen Behandlung entzieht? Richtig an dieser Vermutung ist, dass der hermeneutische Zirkel das Gegenprinzip zum archimedischen Punkt darstellt. Ein solcher müsste sich außerhalb jedes Zirkels befinden. Hinter diesen beiden Metaphern stehen unterschiedliche Ansichten über die philosophische Vorgehensweise und die damit verbundenen Geltungsansprüche. So wie Dilthey, Heidegger und Gadamer den hermeneutischen Zirkel propagieren, sind Descartes, Fichte und Husserl Anhänger eines archimedischen Punktes. Aber hermeneutischer Zirkel und archimedischer Punkt bilden keine vollständige Alternative. Die dritte Möglichkeit ist der transzendentalphilosophische Ansatz im Kantischen Sinne. Dieser besitzt zwar keinen archimedischen Punkt, er steht nicht auf einem unerschütterlichen Fundament, aber dreht sich auch nicht um sich selbst und bleibt nicht an zufällige historische Kontexte gebunden. Dafür steht ein drittes Bild: Unser Wissen schwimmt auf dem Meer dessen, was wir noch nicht wissen und wahrscheinlich niemals wissen werden; unser Wissen ist umgeben 59 60

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Gadamer, Wahrheit und Methode, 308, 368–384. Gadamer, Wahrheit und Methode, 295.

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von Rätseln und Geheimnissen. Aber dieses Wissen ist wie ein vor der Küste liegendes Schiff auf mehrfache Weise im Grund verankert – und das reicht für unsere Zwecke völlig aus. In einen solchen Rahmen, so meine ich, kann man die Hermeneutik integrieren, und zwar als Methodologie für die abschließende Metaphysik. Dadurch lässt sich der Relativismus, den der Begriff des hermeneutischen Zirkels impliziert, vermeiden. Erstens ist der hermeneutische Zirkel nicht universal. Wir haben oben (II.5.) bereits den Universalitätsanspruch der Hermeneutik zurückgewiesen, weil ihm natur- und sozialwissenschaftliche Erklärungen nicht unterworfen sind. Wie Popper mit einem weiteren schönen Bild vorschlägt, können wir in den empirischen Wissenschaften Pfeiler in einen sumpfigen Boden schlagen. 61 Entsprechendes gilt für die Logik; auch wenn es unterschiedliche Typen von Logik geben mag, so setzt deren jeweilige Einführung doch immer die Grundannahmen der klassischen Logik voraus. 62 Darüber hinaus sind sowohl die kritische Transzendentalphilosophie als auch theoretische und praktische Philosophie nicht dem historischen Relativismus unterworfen; in diesen Disziplinen gelangen wir zu Aussagen, die zum einen mit einem universalistischen Anspruch auftreten, also für uns alle gelten sollen, zum anderen intersubjektiv überzeugende Begründungen aufweisen. Hingegen ist einzuräumen, dass die abschließende Metaphysik nicht abschließbar ist; sie erreicht, mit Kant gesprochen, nicht den Status einer Doktrin. Ihren Reflexionen liegen tatsächlich, wie die Hermeneutiker behaupten, unterschiedliche Vorannahmen zugrunde. Allerdings sind nicht alle Vorannahmen gleichberechtigt; es gibt gleichsam bessere und schlechtere hermeneutische Zirkel. Die meisten Sinndeutungen scheitern in einer kantianischen Metaphysik bereits im Vorfeld daran, dass sie den hohen Ansprüchen einer empirischen Bewährung und/oder der intersubjektiven Begründung ihrer normativ-praktischen Aussagen nicht gerecht werden können. So lassen sich etwa mythische oder totalitär-weltanschauliche Angebote aussortieren, bevor man überhaupt mit metaphysischen Reflexionen beginnt. Wir haben gleichsam eine Reihe von Filtern, die verhindern, dass das Leben zu einer Projektionsfläche für beliebige subjektive Sinnbelegungen wird. Dennoch sind auf dieser Grundlage immer 61 62

Popper, Logik der Forschung, 76. Vgl. Wittgenstein, TLP 6.13 (2): »Die Logik ist transzendental.« A

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Begriffliche und methodische Vorüberlegungen

noch viele plausible Sinndeutungen möglich. Das ist jedoch eine Aussage über den faktischen Pluralismus metaphysischer Entwürfe; es wird nicht gesagt, dass es zwangsläufig mehrere oder sogar zahllose Sinndeutungen gibt. Zweitens lassen sich transzendentale Differenzen angeben, die dem metaphysischen Verstehen notwendigerweise zugrunde liegen. Man kann zwar zwei Arten von Hermeneutik unterscheiden: Die eine ist affirmativ, wiederherstellend, dogmatisch an Tradition und Autorität orientiert; die andere ist kritisch, entlarvend, subversiv, dekonstruierend. 63 Aber beide haben eine gemeinsame Grundlage: Sowohl um eine Tradition fortzusetzen als auch um sie zu destruieren, muss man sie überhaupt erst einmal richtig verstehen, um sich dann auf dieser Grundlage affirmativ oder kritisch verhalten zu können. Auch Ironie und Verstellung, Metaphorik und Allegorien sowie andere abgeleitete Sprachmodi blieben uns sonst unverständlich. Damit setzt jedes Verstehen mehrere Differenzen voraus. Diese Differenzen sind zum einen transzendental verankert; es sind notwendige Voraussetzungen jedes Verstehensprozesses; zum anderen sind es keine Klassifikationen zwischen zwei gleichberechtigten Alternativen (wie männlich/weiblich, links/rechts usw.), sondern wertbesetzte Hierarchisierungen: Die eine Alternative wird immer als besser angesehen als die andere. Elementar ist zunächst die Unterscheidung zwischen Verstehen und Nichtverstehen, die wir implizit ständig anwenden. Wenn wir diese Differenz nicht kennen und nicht akzeptieren würden, wären wir überhaupt keine sprachfähigen Wesen. Auf ihr beruhen auch die metaphysischen Reflexionen. Denn diese setzen dann ein, wenn wir den Sinn unseres Lebens nicht mehr begreifen, wenn wir aus der implizit immer schon verstandenen Lebenswelt in den Abgrund der Sinnlosigkeit stürzen, vom Verstehen ins Nichtverstehen. Sodann gibt es den Unterschied zwischen Verstehen und Missverstehen, zwischen einer richtigen und einer falschen Interpretation. Diese Differenz spielt in unserer zwischenmenschlichen Kommunikation eine entscheidende Rolle; wir sind ständig bemüht, falsche Interpretationen zu vermeiden. Darauf folgt der Unterschied zwischen Verstehen und Bewerten, zwischen einer angemessenen Interpretation und der kritischen Prüfung des damit verbundenen Geltungsanspruchs, bei empirisch-theoretischen Aussagen des Anspruchs auf Wahrheit, bei 63

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In Anlehnung an Ricoeur, Die Interpretation, 41 ff.

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normativ-praktischen Aussagen auf ideale normative Gültigkeit. Diese setzen schließlich die Unterscheidung zwischen wahren und falschen, gültigen und nicht gültigen Aussagen voraus. Damit ist nicht gemeint, dass man immer eindeutig feststellen kann, welche Interpretation richtig ist und ob die Geltungsansprüche erfüllt sind; entscheidend ist, dass man notwendigerweise überhaupt von diesen Differenzen ausgeht. Durch transzendentale Reflexion lassen sich aus diesen Unterscheidungen weitere Einsichten ableiten. Ich meine die meta-logischen Aussagen, ohne die wir überhaupt nicht vernünftig denken und nichts verstehen könnten. Dazu gehören auf jeden Fall der Satz der Identität und der Satz vom Widerspruch.64 Die transzendentalen Differenzen und meta-logischen Aussagen sind, metaphorisch gesprochen, nicht bloß Pfeiler in sumpfigem Gelände, sondern Anker, mit denen fester Grund erreicht wird. Es handelt sich um unausweichliche Präsuppositionen, die wir immer schon voraussetzen, wenn wir überhaupt in einen Verstehensprozess eintreten wollen. Dieses zuletzt genannte voluntative Element bleibt allerdings unauflösbar: Wer nicht verstehen will, wird alles das, was auf den letzten Seiten gesagt wurde, nicht akzeptieren. Eine solche Person wird man wahrscheinlich nur mit pragmatischen Argumenten überzeugen können: Der Mensch ist ein soziales Wesen, das auf Kommunikation angewiesen ist; wer sich Verstehensprozessen entzieht, wird kaum überleben können, zumindest wird er eine wichtige Dimension des guten Lebens willentlich verschenken. Für das metaphysische Verstehen bringen solche Argumente jedoch nichts: Es ist nicht gesagt, dass derjenige, der nach dem Sinn des Lebens sucht, in pragmatischer Hinsicht besser dran ist als der metaphysische Nihilist; vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall. Außer unausweichlichen Präsuppositionen gibt es widerlegbare Präsumtionen, die unser Verstehen leiten. Im Hinblick auf das hermeneutische Verstehen kommen zwei Denker, die aus sehr unterschiedlichen Traditionen stammen, nämlich Gadamer und Davidson, zu einer vergleichbaren Einsicht. 65 Auf viele wichtige Fragen geben Vgl. Schopenhauer, ZA V: 124 ff. (Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, § 33); außerdem Schopenhauer, ZA I: 79, 86, 114 (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Bd., §§ 9/10 u. 15); vgl. dazu Ferber, Philosophische Grundbegriffe [Bd. I], 83. 65 Vgl. Hösle, Wahrheit und Verstehen, 275 ff. 64

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sie abweichende Antworten; was etwa Gadamer dem gemeinsamen Vorverständnis zuschreibt, ist für Davidson eher das Produkt einer gegenseitigen Unterstellung. Trotz dieser Unterschiede behaupten beide zu Recht, dass jeder Verstehensprozess von der Vorannahme geleitet wird, dass das das Ganze sinnvoll sei. Diese Sinnunterstellung nennt Gadamer einen »Vorgriff auf Vollkommenheit«. Dabei handelt es sich um eine »Antizipation von Sinn, in der das Ganze gemeint ist«. 66 Damit ist gesagt, »daß nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt«. 67 In der sprachanalytischen Philosophie entspricht dem das »principle of charity«. In der von Quine skizzierten Situation einer radikalen Übersetzung soll man im Hinblick auf logische Junktoren nachsichtig verfahren, also unterstellen, dass die fremden Sprecher wahrscheinlich ebenfalls über grundlegende logische Muster verfügen (Negation, Konjunktion usw.). 68 Der berühmteste und wichtigste Schüler Quines, Donald Davidson, geht von einer ähnlichen Situation wie sein Lehrer aus. Er spricht aber, um dem »explizit semantischen Element« mehr Nachdruck zu verleihen, von radikaler Interpretation. 69 Vor allem aber erweitert er das Prinzip der Nachsicht: In einer absoluten Gesprächssituation, die Davidson radikale Interpretation nennt, muss man unterstellen, dass der fremde Sprecher sich rational verhält. 70 Bei sprachlichen Äußerungen setze ich also voraus, dass der Fremde aus seiner Sicht nicht nur absurdes Gebrabbel von sich gibt, sondern bedeutungstragende Ausdrücke. Wie auch immer die Ansätze von Gadamer und Davidson im Einzelnen aussehen mögen, beide gehen davon aus, dass jedes Verstehen von einer Sinnunterstellung geleitet wird. Entsprechend unterstelle ich beim metaphysischen Verstehen, dass das Ganze einen Sinn besitzt, also verständlich, zusammenhängend und bedeutsam ist. Es handelt es sich aber wohlgemerkt um Unterstellungen, die scheitern können, gleichsam um Arbeitshypothesen, die aber notwendig sind, um überhaupt etwas herauszufinden. Das Scheitern einer Präsumtion ist jedoch zu unterscheiden vom Scheitern einer empirischen Hypothese. Wenn eine solche widerlegt ist, muss eine neue aufgestellt werden; Präsumtio66 67 68 69 70

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Gadamer, Wahrheit und Methode, 296. Gadamer, Wahrheit und Methode, 299. Quine, Wort und Gegenstand, 115. Davidson, Wahrheit und Interpretation, 184. Vgl. Davidson, Wahrheit und Interpretation, 222.

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Merkmale des metaphysischen Verstehens

nen erhalten wir jedoch aufrecht, auch wenn sie noch so oft scheitern. Das scheint bei der Annahme, dass die Welt sinnvoll sei, der Fall zu sein. Sogar Menschen, die allergrößte Enttäuschungen erlebt haben, geben die (oft unbewusste) Ansicht, dass das Leben sinnvoll sei, nicht auf. Wie gezeigt wurde, ist eine solche Annahme sogar nützlich, um sich in der Welt zurechtzufinden, zumal die Totalisierung des Verstehens uns ohnehin zum Zusammenhang aller Zusammenhänge treibt. Über die Berechtigung der Sinnunterstellung ist damit aber nichts gesagt; erst die nächsten beiden Kapitel beschäftigen sich damit.

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III. Ersatz-Metaphysik: Zwei unzureichende Antworten

In der metaphysikfeindlichen Moderne haben sich, sofern man die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht generell verwarf, zwei Antwortgruppen durchgesetzt, die sich den Wissenschaften und der Ethik zuordnen lassen. In dieser Zweiteilung finden wir die beiden großen Disziplinen unseres Faches wieder, die theoretische und die praktische Philosophie. Deshalb kann man, mit zwei unschönen Kunstwörtern, von Theoretizismus und Praktizismus sprechen. Im ersten Fall wird der naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung eine Antwort auf die alten metaphysischen Fragen zugetraut; mit den geeigneten Mitteln könnten wir Sinn im Kosmos entdecken. Im zweiten Fall kann der Sinn des Lebens nur in Praxis fundiert sein, letztlich in einer Ethik; Sinn werde nicht gefunden, sondern geschaffen. In beiden Fällen erhalten wir also auf unsere metaphysischen Fragen ziemlich konkrete Antworten. Beide Ansätze scheitern jedoch. Die Antworten werden der Komplexität des Problems nicht gerecht; sowohl eine immanente als auch eine externe Kritik kann gravierende Schwächen der ersatzmetaphysischen Konzeptionen aufweisen.

1.

Wissenschaft als Metaphysik oder Theoretizismus: Sinn entdecken

Die Auffassung, die in diesem Kapitel diskutiert werden soll, lautet: Das Leben ist an sich sinnvoll; wir müssen bloß den Sinn des Ganzen entdecken. Wenn dies als metaphysische Aussage im oben erläuterten Sinne gemeint sein soll, darf es sich nicht um eine unbegründete Meinung, eine Glaubenssache und eine Frage der Entscheidung handeln, sondern muss wissenschaftlich begründet werden. An die Stelle der überholten klassischen Metaphysik, so die methodologische Konsequenz der Vertreter dieser Position, treten deshalb die Wissenschaften, vor allem die Naturwissenschaften, deren Aufstieg ohne130

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hin mit dem Durchbruch der Moderne eng verknüpft ist. Bereits Darwin hatte sich notiert: »Wer den Pavian versteht, täte mehr für die Metaphysik als Locke.« 1 Ein bekannter Wissenschaftspublizist behauptete vor einigen Jahrzehnten: Die moderne Naturwissenschaft ist »nichts anderes als die Fortsetzung der Metaphysik mit anderen Mitteln« – gemeint war: mit empirischen, der Wirklichkeit angemessenen und intersubjektiv überprüfbaren Methoden. 2 Wenn wir die Gesetze der Natur erkannt haben, so wollen uns diese Autoren sagen, dann wissen wir, welchen Sinn das Leben hat. Das war auch schon die Überzeugung vieler Vertreter der klassischen Metaphysik (auch wenn es die direkte Frage nach dem Sinn des Lebens damals noch nicht gab): Sie meinten im Kosmos, vor allem in der belebten Natur, eine umfassende Zweckgerichtetheit zu erkennen; nichts auf der Welt sei zwecklos und insofern ohne Sinn. Die vormoderne Metaphysik ist also größtenteils teleologisch ausgerichtet; entsprechende Gedankenfiguren sind in der Moderne von vielen Philosophen und Wissenschaftlern immer wieder aufgegriffen worden, auch wenn die Begrifflichkeit der Teleologie oft vermieden wird. Ein solches teleologisches Weltbild soll in diesem Kapitel zurückgewiesen werden. Auf den teleologischen Gottesbeweis, den vor Kant schon Hume vernichtend kritisiert hatte, gehe ich gemäß den Prämissen dieser Arbeit nicht ein. Aber wie für Hume (bzw. sein alter ego Philo) 3 ist für Kant das Thema »Teleologie« damit nicht erledigt; es wird wieder aufgerollt in der »Kritik der Urteilskraft«, an der ich mich im Folgenden immer wieder orientiere. Zunächst stelle ich die Gründe dar, warum die klassische Teleologie aufgegeben wurde (1). Dennoch gibt es etliche Wiederbelebungsversuche, die aber nicht erfolgreich sind; das Universum, so die Schlussfolgerung, ist kein sinnvoll geordnetes Ganzes (2). Aber kann man nicht wenigstens das Organische teleologisch erklären? Mit dieser Auffassung beschäftige ich mich, im dritten Abschnitt. Kant war der Auffassung, dass keine der gängigen naturphilosophischen Positionen das Phänomen des Lebens erklären könne; dadurch kommt das teleologische Denken als Möglichkeit wieder ins Spiel. In diesem Punkt müssen wir über Kant hinausgehen; heute haben die Naturwissenschaften selbst mit kompleDarwin (aus dem Notebook D, 1836–1844), zit. nach Hösle/Illies, Darwin, 24. Ditfurth, Kinder des Weltalls, 23 3 Vgl. die nachträgliche Rehabilitierung der Teleologie in Hume, Dialoge über natürliche Religion, 122 f. 1 2

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xeren Formen des Organischen prinzipiell keine Probleme mehr (3). Es folgt eine weitere Abschwächung der Teleologie: Könnten wir das Organische nicht wenigstens so deuten, als ob es sinnvoll wäre? Das ist Kants Vorschlag, dem teleologischen Begriff der Zweckmäßigkeit eine heuristische Funktion zuzuschreiben. Aber selbst diese Rehabilitierung der Teleologie scheitert ständig an den Phänomenen. Dennoch können wir den Begriff der Zweckmäßigkeit nicht fallenlassen; es handelt sich nicht um eine falsifizierbare Gesetzesformel, sondern eine widerlegbare Präsumtion, an der wir kontrafaktisch festhalten (4). Zwar kann man auf der einen Seite das Universum und das Organische nicht teleologisch erklären. Aber auf der anderen Seite ist es für uns unmöglich, uns selbst naturwissenschaftlich zu verstehen; wir müssen uns nicht nur als zwecktätige Wesen deuten, sondern uns sogar selbst als Zweck betrachten. So entsteht eine Kluft zwischen Wissenschaft und Selbstverständnis, die man auf die Differenz von Außen- und Innenperspektive zurückführen kann. Damit zerreißt der einheitliche Sinnzusammenhang, in dem wir unser Leben gern führen würden (5).

(1) Der Zusammenbruch der klassischen Teleologie Man kann zwei Varianten teleologischen Denkens unterscheiden, eine schwache und eine starke; beide standen im 18. Jahrhundert noch in voller Blüte. In einem schwachen Sinne ist die Welt sinnvoll, wenn sich alles in ihr in einer vollkommenen Ordnung befindet; der Zweck jeder Entität ergibt sich aus ihrem Platz in der übergreifenden Harmonie des Ganzen. In einem starken Sinne ist die Welt sinnvoll, wenn nicht nur alles geordnet ist, sondern dieses Ganze selbst wiederum zweckmäßig ist, nämlich zu unseren Gunsten. Ich spreche dann von einem organisierten Ganzen. Beide Varianten des teleologischen Denkens richten sich gegen die Auffassung, dass unsere Welt bloß ein Aggregat sei. Den Unterschied zwischen vollkommener Ordnung und organisiertem Ganzen kann man sich an folgendem Beispiel klar machen: Nehmen wir eine große Zahl von Büchern, etwa meine private Bibliothek. Wenn diese, etwa durch einen chaotischen Umzug, durcheinander geraten sind, bilden sie bloß noch ein Aggregat, einen sinnlosen Haufen. Ein Bibliothekar kann die Bücher ordnen, nach mehr oder weniger sinnvollen Kriterien wie Alphabet, Größe, Regensbur132

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ger Systematik usw.; jedes Buch hat dann im Gefüge der Bibliothek seinen Ort. Ich kann mir meine Bibliothek aber auch nach einer Zwecksetzung, etwa für das Schreiben eines bestimmten Buches, einrichten; dann ist sie ein organisiertes Ganzes. Die erste Auffassung einer schwachen Teleologie verbindet sich mit einer Weltsicht, die fast zwei Jahrtausende das abendländische Naturverständnis prägte und sich auch in anderen Kulturkreisen findet: Wir leben in einer vollkommenen Ordnung; alle Entitäten (Dinge, Lebewesen usw.) bilden zusammen eine große Kette der Wesen. 4 Diese Metapher, die es schon bei Homer gibt 5 , bürgerte sich, kurz vor dem Untergang dieses Weltbildes, im 18. Jahrhundert ein. 6 Drei Grundgedanken, für die es bei Platon und Aristoteles erste Ansätze gibt, lassen sich hervorheben. Erstens ist die Welt kein Chaos, sondern Ordnung. In der Philosophie finden wir diese Behauptung schon bei den Vorsokratikern: Das vermeintliche Durcheinander der Erscheinungen, mit denen wir jeden Tag konfrontiert sind, lässt sich nicht nur auf wenige Prinzipien, sondern sogar auf ein einziges zurückführen, auf die »arché«. Hinter der oberflächlichen Vielfalt entdeckt man eine Einheit, die das Wesen aller Dinge ausmacht. Das (neo)platonische Prinzip des Einen ist dafür das beste Beispiel. Zweitens ist aber eine Welt, in der es nur das Eine gibt, schlechter als eine Welt, in der es das Eine und das Viele gibt. Das Eine drückt sich ebenso notwendig in dem Vielen aus, wie das Viele sich auf das Eine zurückführen lässt. Hierfür steht das Prinzip der Fülle, des Wertes der Mannigfaltigkeit der Dinge. Allerdings sind nicht alle Dinge gleichrangig, sie stehen vielmehr in einer hierarchischen Ordnung. Das beste Beispiel ist der Stufenbau der Natur von der Pflanze über das Tier bis zum Menschen. Dieses Prinzip einer linearen Abstufung, einer scala naturae, findet sich sowohl in Platons »Timaios« 7 als auch in der aristotelischen Naturphilosophie 8. Vgl. den Klassiker der Ideengeschichtsschreibung Lovejoy, Die große Kette der Wesen, Kap. II (S. 37–86). Die im Folgenden dargestellten drei Prinzipien weichen allerdings etwas von Lovejoys Interpretation ab. 5 Homer, Illias, VIII: 19 ff. 6 Beim frühen Kant spielte diese Idee, wahrscheinlich unter Rückgriff auf Pope, eine wichtige Rolle, vgl. Probst, Kant. Bestirnter Himmel und moralisches Gesetz (1994). Beim späten Kant taucht sie noch an wenigen Stellen auf, etwa KrV B 696 und in IX: 164 (1788, »Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie«). 7 Platon, Timaios, 27c ff. 8 Vgl. Aristoteles, De historia animalibus (Tierkunde) VIII 1, 588 b 2 ff.; ders., Met. XII 10, 1075 a 10 ff. u. ö. 4

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Jeder mögliche Platz im Kosmos ist besetzt, aber alle Orte haben einen unterschiedlichen intrinsischen Wert. Drittens ergibt sich notwendigerweise aus den beiden Prinzipien der Einheit und der hierarchischen Mannigfaltigkeit ein weiteres Prinzip: die Kontinuität. Alle Wesen sind miteinander verwandt; trotz der großen Unterschiede gehören alle zu der einen natürlichen Ordnung der Dinge. Das christliche Denken des Mittelalters prägte dafür den Begriff der analogia entis, der Ähnlichkeit alles Seienden. Die Idee einer solchen Kette der Wesen kann unter theistischen, pantheistischen und nicht-theistischen Prämissen vertreten werden. Die genannten Prinzipien finden sich in der antiken kosmos-Idee ebenso wie im christlichen ordo-Gedanken, im indischen und chinesischen Denken, ansatzweise auch in den archaischen Weltbildern der vorhochkulturellen Gesellschaften. 9 Erforderlich ist nämlich keine Schöpfung aus dem Nichts oder eine creatio continua, sondern bestenfalls ein Weltbaumeister (Demiurg). Deshalb konnte die Idee der großen Kette der Wesen gerade in der frühen Neuzeit eine neue Blüte erleben, vor allem im Deismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Dieser konzipiert das Universum als eine nicht-teleologische, allein nach mechanischen Gesetzen arbeitende Weltmaschine, vergleichbar einem gewaltigen Uhrwerk. Aber diese Maschine, so die deistische Annahme, bedürfe eines göttlichen Uhrmachers, von dem sie gebaut und in Gang gesetzt wurde. In der großen Kette hat jedes Wesen seinen Platz um seiner selbst willen und um der allgemeinen Harmonie wegen. Die vollkommene Ordnung ist keinem Zweck untergeordnet; insofern ist sie ein Beispiel einer schwachen Teleologie. 10 Dagegen nimmt eine starke Teleologie an, dass das Ganze selbst zweckmäßig ist. Anthropozentrisch ist eine solche Teleologie, wenn alles um unserer willen existiert. Eine solche Auffassung findet sich schon bei Aristoteles: »Wenn nun die Natur nichts unvollkommen und nichts zwecklos macht, so muß die Natur all dies um der Menschen willen gemacht haben.« 11 Die christliche Version lautet: Gott hat alles geschaffen, aber wir sind Gottes Ebenbild und deshalb existiert alles andere um unserer willen. So erkläre sich der Nutzen der Pflanzen und Tiere für Vgl. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, 175 ff. u. ö. Die Behauptung von Lovejoy, die Kette der Wesen sei als Gegensatz zur Teleologie zu verstehen (Die große Kette der Wesen, 226 f.), ist sicherlich zu stark. 11 Aristoteles, Pol. I 8, 1256a 20 f. 9

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uns; eine solche Teleologie hat sogar zu der Behauptung geführt, dass der nächtliche Sternenhimmel nur für uns geschaffen sei, zu unserer Freude an diesem schönen Anblick. Diese Variante des teleologischen Denkens verdichtete sich im 17. und 18. Jahrhundert zu dem physiko-theologischen Gottesbeweis. 12 Vorläufer für einen solchen teleologischen Gottesbeweis gab es schon in der Antike. 13 Aber erst in der frühen Neuzeit, mit der aufstrebenden empirischen Naturbeobachtung und der Aufwertung des Diesseits, konnte eine solche Kombination von Frömmigkeit und Naturkenntnis aufblühen. Wurde im Mittelalter noch empfohlen, sich von der äußeren Welt abzuwenden, weil wir in dieser nur die Schöpfung in einem korrumpierten Zustand sehen würden, so entdeckte man nun in allen Dingen Gottes zweckmäßiges Tun zu unseren Gunsten. Kritik am teleologischen Denken bzw. an dessen Relevanz für unser Weltbild gab es schon immer. Seit der Renaissance setzen sich die Teleologie-Gegner durch. »Dieser stille und fast unbemerkte Wandel war die größte Revolution in der Geschichte der Menschheit und stellt jede der politischen Revolutionen, die die Welt in Atem hielten, bei weitem in den Schatten.« 14 Die Teleologie gerät empirisch und theoretisch ins Wanken. Auf der empirischen Ebene wachsen seit der frühen Neuzeit die Anomalien, die das Paradigma der großen Kette der Wesen in Verlegenheit bringen. Das gilt im Kleinen für alles das, was nicht in die vollkommene Ordnung zu passen scheint: Tiere, die sich keiner Art zuordnen ließen; Abweichungen im Grad ihrer Umweltanpassung; große Unterschiede in der Zahl der Angehörigen einer Art usw. Diese empirischen Probleme potenzieren sich durch zwei neue Entdeckungen. Die erste ist die Unendlichkeit des Raumes, in dem sich offensichtlich fast gar nichts befindet. Das widerspricht dem Prinzip der Fülle. Pascal bringt nur eine allgemeine Stimmung auf den Punkt, wenn er schreibt: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.« 15 Die zweite Wichtige Vertreter waren William Derham mit seiner Schrift »Astro-Theology, or a Demonstration of the Being and Attributes of God from a Survey of the Heavens« (1715) und William Paley mit seiner Schrift »Natural Theology: or, Evidences of the Existence and Attributes of the Deity, collected from the appearence of nature« (1802). 13 Sokrates nach Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, I 4 u. IV 3; Aristoteles in seinem Höhlengleichnis nach Cicero, Vom Wesen der Götter II 37 u. 95; Paulus in NT, RömerBrief 1: 20 u. a. 14 Stace, Der Mensch in der Finsternis, 66. 15 Pascal, Gedanken, 141 (Fr. 206/206), vgl. ebd. 63 f. (Fr. 68/205). 12

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Entdeckung ist die Geschichtlichkeit der Natur. Dass sich nämlich diese verändert, dass vor allem Arten ersatzlos verschwinden, ist mit der Idee einer Kette der Wesen nicht vereinbar. Der historisch wirkungsmächtigste Schlag gegen die anthropozentrische Teleologie war aber das Seebeben, das sich am 1. 11. 1755 vor der portugiesischen Küste ereignete und zu so starken Zerstörungen in Lissabon führte, dass wahrscheinlich ein Fünftel der Bewohner der portugiesischen Hauptstadt (50.000 von 250.000) ums Leben kam. Inzwischen kennen wir Naturkatastrophen, die sehr viel mehr Menschen das Leben kosteten. Wenige Jahre vorher, 1737, forderte ein Erdbeben im indischen Bengalen erheblich mehr Menschenleben, vielleicht 300.000. Am 26. 12. 2004 kommen durch ein Seebeben in Indonesien und anderen Ländern am Indischen Ozean wohl mehr als 200.000 Personen ums Leben. Am schlimmsten betroffen war immer das bevölkerungsreiche China: Die Chroniken verzeichnen für das Jahr 1556 ein Erdbeben mit über 800.000 und für das Jahr 1976 mit über 650.000 Toten; 1887 kam es am Huanghe, dem großen Strom Chinas, zu einer Flut, der ca. 900.000 Menschen zum Opfer fielen; vielleicht ebenso viele Menschen starben durch eine Taifun, der am 21. 8. 1931 in derselben Gegend wütete und dem verheerende Überschwemmungen folgten. Die Liste ließe sich endlos ergänzen. Aus diesen Daten kann man ableiten, dass in der Natur keineswegs alles zugunsten der einzelnen Menschen eingerichtet ist. Die wissenschaftliche Abkehr von der Teleologie erfolgte aber nicht primär aus empirischen, sondern aus theoretischen Gründen. Für Francis Bacon gehört das teleologische Denken zu den »Idolen des Stammes«, also zu den Vorurteilen, die jeder Mensch in sich trägt. 16 Teleologische Erklärungen seien nutzlos; wer die Natur beherrschen möchte, müsse die causa efficiens kennen und nicht die causa finalis. Die Teleologie wird deshalb gewissermaßen mit einem Tabu belegt. 17 Auch Hans Jonas spricht von der »Verneinung der Zweckursachen als Apriori neuzeitlicher Wissenschaft«. 18 Descartes und Hobbes meinen völlig auf teleologische Aussagen verzichten zu können. Entsprechendes gilt für Spinoza, dessen Metaphysik die Teleologie konsequent eliminiert und durch den modernen Begriff des F. Bacon, Novum organon scientiarum (1620), I 48. Spaemann, Philosophische Essays, 22 f., 52 u. ö.; vgl. Spaemann/Löw, Die Frage Wozu?, Kap. IV. 18 Jonas, Das Prinzip Leben, 66. 16 17

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Naturgesetzes ersetzt. Die großen Erfolge der modernen Naturwissenschaften gelten schließlich als Beleg dafür, dass teleologische Aussagen überflüssig sind. Trotz aller Kritik hat aber die Teleologie im Alltagsdenken, in den Naturwissenschaften und in der Philosophie lange überlebt. Im 17. und 18. Jahrhundert feiert sie, wie bereits erwähnt, im Kreis der Gebildeten sogar neue Triumphe; sowohl die Idee einer Kette der Wesen als auch die anthropozentrische Teleologie kommen zu einer neuen Blüte. Mit der Ersetzung des geozentrischen durch das heliozentrische Weltbild hat sich zwar die erste narzisstische Kränkung der Menschheit schon ereignet. 19 Aber die kosmische Dezentrierung des Menschen im kopernikanischen Universum ist mit der Idee einer großen Kette der Wesen sehr gut vereinbar, wenn dieses All so vernünftig geordnet ist, wie es die von Newton gefundenen Gesetze nahe legen. Die mechanischen Gesetze konnte man auf der Grundlage der Extremalprinzipien so formulieren, dass der Anschein einer zweckmäßigen Ordnung der Welt entsteht; beispielsweise kann das Gesetz formuliert werden, dass das Licht immer den Weg wählt, auf dem es in der kürzesten möglichen Zeit am Ziel ist. An diesem vor allem von Maupertuis Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten Gedanken hielt noch Max Planck fest. 20 Bereits vorher hatte Leibniz behauptet: Die großartige Einfachheit und Allgemeingültigkeit von Newtons Mechanik belege, dass die Welt eine vernünftige Ordnung darstellt; zwar gebe es viele Ereignisse und Phänomene, die nicht sinnvoll seien. Dennoch leben wir in der besten aller möglichen Welten (vgl. zu Leibniz’ Theodizee IV.1.). Selbst der frühe Kant meinte, dass Newton einen neuen Gottesbeweis geliefert habe. 21 Dass zuminVgl. Thies, Einführung in die philosophische Anthropologie, 138 ff. Planck, Religion und Naturwissenschaft, 34 ff.; vgl. auch Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, 158–168 (»Naturgesetz und Theodizee«, 1944). 21 »Newton sahe zu allererst Ordnung u. regelmäßigkeit mit großer Einfalt [= Einfachheit] verbunden wo vor ihm Unordnung u. schlim gepaarte Mannigfaltigkeit anzutreffen u. seitdem laufen Cometen in geometrischen Bahnen. Rousseau entdeckte zu allererst unter der Mannigfaltigkeit der Menschlichen angenommenen Gestalten die tief verborgene Natur desselben u. das verstekte Gesetz nach welchem die Vorsehung durch seine Beobachtungen gerechtfertigt wird. Vordem galt noch der Einwurf des Alphonsus u. Manes. Nach Newton u. Rousseau ist Gott gerechtfertigt und nunmehr ist Popens Lehrsatz wahr.« (AA XX: 58 f.) Alphonsus ist der kastilische König Alfons der Weise (1221–1284), der gesagt haben soll, die Welt wäre besser, wenn Gott vor ihrer Erschaffung ihn zu Rate gezogen hätte. Manes ist der Begründer des Manichäismus. Popes Lehrsatz lautet »Alles ist gut«. 19 20

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dest die belebte Natur auf wundervolle Weise geordnet sei, war noch die Auffassung der bedeutendsten Biologen der vordarwinschen Zeit, Linné, Buffon und Lamarck. Endgültig zerstört wurde das teleologische Denken in den Naturwissenschaften erst durch zwei Theorien, die unabhängig voneinander in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden. Ich meine zum einen die Evolutionstheorie, zum anderen die Thermodynamik. Die von Darwin entwickelte Evolutionstheorie beraubt einem zentralen Argument der (anthropozentrischen) Teleologie die Grundlage. Diese konnte immer auf die inneren und äußeren Zweckmäßigkeiten in der Natur verweisen; die so rätselhaft erscheinende Harmonie so vieler Naturvorgänge und Naturformen meinte man nur durch eine immanente oder eine transzendente Teleologie erklären zu können. Darwin liefert eine andere Erklärung: Entscheidend sind Rahmenbedingungen wie die Überproduktion von Nachkommen und die Knappheit der Ressourcen sowie Faktoren wie individuelle Verschiedenheiten (einschließlich deren Weitergabe an die eigenen Nachkommen) und die natürliche Auslese der am besten angepassten, der fittesten Individuen; kurz: Variation und Selektion unter Knappheitsbedingungen. Dann können die Zweckmäßigkeiten der Natur durch das Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit erklärt werden, ohne jeden Rückgriff auf teleologische Prinzipien. So schreibt etwa Engels kurz nach Erscheinen von »The Origin of Species« an Marx, Darwin habe die Teleologie »kaputt gemacht«. 22 An die Stelle des göttlichen ist ein blinder Uhrmacher getreten. 23 Darwins Ansatz wies noch einige Lücken auf, vor allem in der Vererbungslehre. Das war einer der Gründe, warum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Evolutionstheorie gerade von philosophisch interessierten Naturwissenschaftlern abgelehnt wurde; vor allem Hans Driesch wollte teleologische Gedanken rehabilitieren. 24 Schon zu Darwins Lebzeiten fand jedoch Gregor Mendel einige Gesetzmäßigkeiten der Vererbung, die aber erst nach 1900 von verschiedenen Forschern wiederentdeckt wurden. Theodosius Dobzhansky, Julian Huxley, Ernst Mayr und Bernhard Rensch gelang es einige Friedrich Engels an Karl Marx in einem Brief vom 11./12. 12. 1859, siehe MEW 29: 524; vgl. MEW 30: 578 (Marx an Lassalle, 16. 1. 1861). 23 Dawkins, Der blinde Uhrmacher (2 1996), der sich gegen die Schrift Paleys von 1802 richtet. 24 Vgl. Mayr, … und Darwin hat doch recht, 75 ff., 87 ff., 149 u. ö. 22

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Jahrzehnte später, diese beiden biologischen Paradigmen, Darwins Abstammungslehre und Mendels Vererbungslehre, in der Synthetischen Evolutionstheorie zusammenzufassen. Die neue Konzeption konnte die spektakulären molekulargenetischen Erkenntnisse der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, allen voran die Entdeckung der DNS-Doppelhelix, problemlos integrieren. Vererbungsprozesse, so weiß man jetzt, laufen in der gesamten Natur nach den gleichen biochemischen Mechanismen mit dem gleichen molekularen Material ab. Man ist sogar bestrebt, all die großartigen Zweckmäßigkeiten der Natur physikalisch zu erklären. Auf jeden Fall besitzt der Mensch keine biologische Sonderstellung; teleologische Prinzipien scheinen überflüssig zu sein. Dagegen behaupten einige Evolutionstheoretiker, dass Darwins Konzeption sehr wohl mit einem schwachen teleologischen Denkens vereinbar sei: Die innere Komplexität und die äußere Angepasstheit der Lebewesen nimmt im Laufe der Zeit immer weiter zu. Der Mensch mag vom Affen abstammen (bzw. mit diesem gemeinsame Vorfahren haben); trotzdem erscheine er als das vollkommenste Lebewesen am Ende der (bisherigen) Naturgeschichte. So konnte man Darwins Evolutionstheorie als schwache Form einer Fortschrittstheorie bzw. einer dynamisierten Kette der Wesen deuten. Wir werden noch sehen, dass dies nicht zutrifft. Aber wie dem auch sei, selbst diese schwache Form teleologischen Denkens wird durch eine naturwissenschaftliche Theorie zu Fall gebracht, nämlich die Thermodynamik. Ihre metaphysische Konsequenz lautet, dass jede Ordnung im Universum zum Untergang verurteilt ist. Die Thermodynamik ist die physikalische Wärmelehre oder (wörtlich) Wärmebewegungslehre. Sie wurde parallel seit 1840 von britischen, französischen und deutschen Wissenschaftlern entwickelt. Die Wärme eines Körpers ist die Gesamtenergie, die sich aus der ungeordneten Bewegung seiner Moleküle ergibt. Man unterscheidet unterschiedliche Zustände: Totales Durcheinander herrscht in Gasen (deshalb ist unser Wort ›Gas‹ aus dem griechischen ›Chaos‹ entstanden); in Flüssigkeiten bilden die Moleküle veränderliche Klümpchen, die sich ständig aneinander vorbeischieben; in Festkörpern kommt es durch dreidimensionale gitterartige Strukturen zu stärkeren Verbindungen. Aber überall finden wir ungeordnete Molekülbewegungen. Der Kerngehalt der Thermodynamik ist in drei Hauptsätzen zusammengefasst, die sehr unterschiedliche metaphysische ImplikatioA

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nen haben. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik ist der Energieerhaltungssatz: Die verschiedenen Energieformen können ineinander verwandelt werden. Die Gesamtenergie der Welt bleibt konstant; es existiert heute so viel Gesamtenergie wie vor Milliarden von Jahren und wie in Milliarden von Jahren. Energie kann weder geschaffen noch vernichtet werden; sie kann weder spurlos verschwinden noch aus nichts entstehen. Dieser Satz untermauert die Annahme einer fundamentalen Ordnung im Universum, scheint also mit einer schwachen Teleologie vereinbar zu sein. Allerdings gibt es wohl Ausnahmen im subatomaren Bereich, wo nach Ansicht einiger Quantenphysiker minimale Energiemengen gleichsam aus dem Nichts auftauchen und wieder verschwinden. Ein harter Schlag für das teleologische Denken ist aber der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Zwar bleibt die Gesamtenergie konstant, aber sie strebt danach, bestimmte Formen anzunehmen. Mechanische Energie wird in der Regel immer in Wärmeenergie umgewandelt, diese neigt dazu, sich über den größtmöglichen Raum zu zerstreuen (Dissipation). So wie Wasser unter normalen Umständen nur abwärts fließt, werden die Molekülbewegungen immer ungeordneter. Diese Vorgänge kann man an vielen Beispielen veranschaulichen: Eine Kaffeetasse kühlt ab; die in ihr gespeicherte Energie ist zwar noch vorhanden, aber als nutzlose Wärmeenergie unregelmäßig verteilt im ganzen Raum. Ähnlich steht es um die größte Wärmequelle, die wir haben, unsere Sonne. In einigen Milliarden Jahren wird sie ausgebrannt sein, ihre Energie zerstreut im Universum. 1865 gab Rudolf Clausius dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik eine elegante mathematische Form. Dabei prägte er ein neues Wort: Entropie. Zum einen lehnt sich Clausius an das griechische Wort für Umkehr, trope, an; das griechische Verb entropein heißt so viel wie ›umwenden‹. Zum anderen wollte er ein Wort finden, das so ähnlich klingt wie ›Energie‹, weil die beiden Phänomene eng verwandt sind. Die Entropie eines Systems ist ein (mit den Mitteln der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie präzisierbares) Maß für die Unordnung seiner Elemente. Bei maximaler Entropie herrscht totale Unordnung; Ordnung hingegen ist negative Entropie. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ist also das Gesetz von der wachsenden Entropie; nach Clausius strebt diese unausweichlich ihrem Maximum zu. Die pessimistischen Langzeitkonsequenzen des zweiten Hauptsatzes hat deutlich zum ersten Mal 140

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1854 Hermann Helmholtz ausgesprochen: Letztlich werde alles Leben zerstört und das Weltall sei zu ewiger Ruhe verurteilt. 25 Es könnten Inseln der Ordnung und des Lebens aufrechterhalten bleiben, aber nur mit einem großen Energieaufwand, der letztlich vergeblich sein werde. Als Bezeichnung des Endzustandes taucht bald das Wort ›Wärmetod‹ auf. Dieser Begriff ist missverständlich, was man schon daran sieht, dass auch der Ausdruck ›Kältetod‹ benutzt wird. 26 Gemeint ist jeweils die vollständige Umwandlung der gesamten Energie in Wärme (also der ›Tod‹ aller anderen Energieformen) und der Ausgleich aller Temperaturunterschiede auf niedrigsten Niveau (also der ›Tod‹ der Wärme). Ein stabiles Gleichgewicht, in dem alle Prozesse aufhören, wäre erst mit dem Zustand der größtmöglichen Unordnung erreicht. Deshalb stehe dem Universum eine trostlose Zukunft bevor. Zwar kann niemand exakt angeben, wie es weitergehen wird in der kosmischen Entwicklung. Verschiedene Szenarien wurden entwickelt. Momentan glauben viele Experten, dass dem Universum noch eine lange Zeit bevorsteht, mehr als man früher annahm, vielleicht 100 Milliarden Jahre. Aber dies wird, so kann man aus dem Entropiesatz schließen, eine langweilige Zukunft sein, ohne komplexe Strukturen, ohne dramatische Ereignisse. Metaphorisch gesprochen: der Tod dauert sehr viel länger als das Leben. Einer der wenigen Philosophen, der sich in den letzten Jahrzehnten mit der Thermodynamik beschäftigt hat, ist Hans Blumenberg. Eine seiner kurzen Meditationen beginnt mit Freuds berühmter Aussage, dass die Menschheit bisher drei große narzisstische Kränkungen zu verkraften hatte: ihre kosmologische Dezentrierung durch Kopernikus, die biologische Einordnung durch Darwin und die Entmachtung des Bewusstseins durch die Psychoanalyse. 27 Am schlimmsten, so Blumenberg, treffe uns jedoch die Tatsache, dass wir sterben müssen. Lange Zeit hätten sich die Menschen darüber hinweggetröstet, indem sie an unsterblichen Ruhm oder an den Fortbestand der Gattung glaubten. Diese Illusionen wurden durch das Entropiegesetz beseitigt, das somit »die härteste Zumutung« für uns Menschen sei. 28 Helmholtz, Ueber die Wechselwirkung der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Entwicklungen der Physik, 66 f. 26 So etwa bei Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 198. An anderer Stelle bin ich dieser Metaphorik nachgegangen: Thies, Kältetod und Entropie, 189–196. 27 Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917), 7 ff.; ders., Studienausgabe I: 283 f. (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse …, 1933). 28 Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, 154. 25

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In diesem Zusammenhang plädiert der Antiplatoniker Blumenberg auch für ein Verbleiben in der Höhle, in den selbst geschaffenen Institutionen; diese seien »ein einziges Aufbäumen gegen den Zug der Entropie, gegen den Sog der Wahrscheinlichkeit, die Dekadenz der Diffusion«. 29 Allerdings kennt Blumenberg einen schwachen Trost. Denn 1965 wurde die kosmische Hintergrundstrahlung entdeckt. Es handelt sich um Mikrowellen, die mit äußerster Gleichmäßigkeit über das ganze Universum verstreut sind; wahrscheinlich handelt es sich um ein Nachglühen des Urknalls. Wegen dieser Strahlung liegt die Temperatur des Weltraums bei 3 Grad Kelvin. »Diese drei Grad sind freilich, könnte man einwenden, noch kalt genug, wenn man ihre Unerträglichkeit für jede Art von Leben und Bewegung bedenkt; aber sie sind eben nicht das Äußerste, was sein könnte.« 30 Die Tatsache der 3-K-Hintergrundstrahlung, mag an sich belanglos sein. Aber ihr lasse sich eine symbolische Bedeutung beimessen: Es könnte alles viel schlimmer sein, nämlich noch kälter. Das ist auch die Aussage des dritten Hauptsatzes der Thermodynamik: Alles nähert sich zwar dem absoluten Nullpunkt (minus 273,15 Grad Celsius = 0 Grad Kelvin), aber dieser kann niemals ganz erreicht werden. Diese kleine Einschränkung ändert aber nichts an der Quintessenz der modernen Naturwissenschaften: Zwecke oder zielgerichtete Prozesse sind im Universum nirgendwo zu finden; wir leben in einem Weltall ohne höheren Sinn. Die vorhandenen Zweckmäßigkeiten sind kurzfristige Phänomene, die früher oder später wieder verschwinden werden. Wir Menschen als bewusste Lebewesen, die nach Wahrheit und Sinn trachten, sind eine extreme Ausnahme in einem All von Zufall und Notwendigkeit. Viele berühmte Naturwissenschaftler haben das ausgesprochen und als Ergebnis ihrer empirischen Forschungen hingestellt. Nur ein Autor sei erwähnt, der französische Biologe Jacques Monod. Er richtet sich implizit gegen seinen Landsmann, den Jesuiten und Paläoanthropologen Pierre Teilhard de Chardin. 31 Dieser hatte aus Darwins Evolutionstheorie den Schluss gezogen, den MenBlumenberg, Höhlenausgänge, 813. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, 156. Ein ähnlicher Gedanke in ders., Ein mögliches Selbstverständnis, 203–206. 31 Zu dieser Kontroverse, auch im Hinblick auf die Sinnfrage: Lüth, Der Mensch ist kein Zufall, 15–21. 29 30

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schen nicht mehr als festen Mittelpunkt einer Kette der Wesen zu betrachten. Er sei aber auch »nicht einsam in den Einöden des Weltalls verloren«, sondern die »Achse und Spitze der Entwicklung«, die auf einen teleologischen Endpunkt, den Omega-Punkt, zuläuft. 32 Dem hält Monod entgegen, dass wir nur aus Angst und narzisstischer Ich-Schwäche nach einem übergreifenden Sinn des Ganzen suchen, der sich wissenschaftlich aber nicht aufzeigen lasse. Der Mensch müsse »endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden und Verbrechen.« 33 Mit anderen Worten: Die modernen Wissenschaften zeigen, dass das Leben sinnlos ist.

(2) Wiederkehr einer wissenschaftlichen Teleologie? Das ist aber nicht das letzte Wort; die erwähnten pessimistischen Schlussfolgerungen blieben nicht unwidersprochen. Immer wieder wurde auf Mängel der bisherigen Paradigmen hingewiesen; viele Wissenschaftler haben sich zu einem neuen Optimismus bekannt. Damit verbunden ist seit einigen Jahrzehnten, meistens ohne dies so zu bezeichnen, eine Renaissance des teleologischen Denkens. Ein solches kann selbstverständlich nicht hinter den Forschungsstand der Naturwissenschaften zurück; im Gegenteil, man versucht, über diesen mit einer neuen Teleologie hinauszukommen, so dass am Ende doch ein Sinn des Ganzen sichtbar wird. Ich präsentiere zunächst drei Bündel von Indizien, aus der makro-, mikro- und mesokosmischen Sphäre, durch die Zweifel an einigen Grundannahmen der neuzeitlichen Wissenschaft gesät wurden. Das erste Indiz stammt aus dem makrokosmischen Bereich. Die Physiker der frühen Neuzeit nahmen an, dass das Weltall räumlich unendlich und zeitlich unendlich, also grenzenlos und ewig sei. Diese Annahmen werden widerlegt durch das kosmologische Modell, das Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, 23. Vgl. Schiwy, Pierre Teilhard de Chardin (1881–1956), 330–343. 33 Monod, Zufall und Notwendigkeit, 151. Monods Konzeption ist aber aus wissenschaftstheoretischer Sicht nicht unproblematisch, vgl. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie II: 649–655. 32

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auf der Grundlage von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie entwickelt wurde und für das die meisten empirischen Daten und theoretischen Überlegungen sprechen. Entstanden ist das Weltall nach neuesten Berechnungen vor 13,7 Milliarden Jahren. Räumlich ist das Universum zwar unbegrenzt, aber dennoch endlich, weil es keinen euklidischen, sondern einen gekrümmten Raum bildet; zudem produziert das expandierende Universum ständig neuen Raum. Kennzeichnend für den Ablauf der kosmischen Geschichte, vor allem in der dramatischen Anfangsphase, ist nach diesem Modell keineswegs (wie die frühneuzeitliche Physik annahm) seine strenge Notwendigkeit, sondern vielmehr seine radikale Kontingenz: Alles hätte auch anders kommen können. Das Weltall beruhe in seiner gegenwärtigen Gestalt auf einer Fülle von unwahrscheinlichen Rahmenbedingungen und Naturgesetzen. Dass Leben und bewusstes Leben überhaupt entstanden sind, verdanke sich einer Fülle von glücklichen Zufällen, die kaum zu erklären sind. Einige dieser erstaunlichen empirischen Bedingungen der Möglichkeit unserer Existenz seien aufgezählt: Es hätte nur wenig gefehlt, dass sofort nach der Anfangssingularität (dem Urknall) die gesamte Materie entweder sofort wieder kollabiert oder aber in alle Richtungen zerstreut worden wäre. Die Entstehung der Sterne der ersten Generation war extrem unwahrscheinlich; aber nur in ihnen können die schweren Elemente (Kohlenstoff, Sauerstoff, Eisen usw.) produziert werden. Diese wurden durch Supernova-Explosionen ins Universum hinausgepustet und bildeten das Material, aus dem unser Planet und alles Leben auf ihm entstehen konnten; auch wir Menschen sind Sternenstaub. Notwendig war in der Anfangsphase unseres Kosmos weiterhin ein bestimmtes Verhältnis zwischen Energiedichte und Expansionsgeschwindigkeit, das offensichtlich exakt getroffen wurde. Entsprechendes gilt für das Verhältnis zwischen den atomaren Wechselwirkungen, der starken Wechselwirkung, die die Atomkerne zusammenhält, und der schwachen Wechselwirkung, die für den radioaktiven Zerfall verantwortlich ist und zur Energieerzeugung im Inneren der Sonne führt. Ein weiterer Zufall ist die Sonderrolle des Mondes: Wenn es diesen toten Begleiter der Erde nicht geben würde, hätte unser Heimatplanet keine stabile Atmosphäre ausbilden können. Schließlich wird bekanntlich die biologische Evolution durch zufällige Mutationen, die Unwägbarkeiten der genetischen Rekombination sowie die Kontingenzen des Selektionsprozesses, beispielsweise das Aussterben der Saurier, vorangetrieben. 144

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Es gibt offensichtlich eine Reihe von Zahlenwerten, die beliebig sein könnten, aber exakt den Wert haben, damit das Universum sich so entwickeln konnte, dass Leben und schließlich der Homo sapiens möglich wird. In allen anderen Fällen würde es keine Menschen geben. Die Gesamtheit dieser Rahmenbedingungen wird als Feinabstimmung bezeichnet. Denn so wie bei einem Klavier alle Saiten exakt aufeinander abgestimmt sein müssen, ist dies bei den makrokosmischen Voraussetzungen unserer Existenz der Fall. 34 Wie ist das möglich? Für diesen Umstand prägte 1973 der australische Kosmologe Brandon Carter den Ausdruck »anthropisches Prinzip«. Es ist kein Zufall, dass dies auf einer Veranstaltung zum fünfhundertsten Geburtstag von Nikolaus Kopernikus geschah, denn man kann in diesem Gedanken eine Rückkehr zum ptolemäischen Weltbild sehen: Wir Menschen werden wieder ins Zentrum des Kosmos gestellt. Das anthropische Prinzip wird in verschiedenen Fassungen vertreten. 35 In einer schwachen Variante (weak anthropic principle = WAP) bezeichnet es die Auffassung, dass im Universum notwendigerweise die Bedingungen erfüllt sein müssen, damit bewusstes Leben möglich ist. Das ist fast eine Tautologie: Nur wo bewusstes Leben möglich ist, gibt es bewusstes Leben. Immerhin kann das schwache anthropische Prinzip als heuristische Regel fungieren, die sich folgendermaßen formulieren lässt: Im Universum müssen im Laufe seiner Geschichte die Bedingungen für bewusstes Leben entstanden sein – suche nach diesen Bedingungen und ihrer Entstehungsgeschichte! Das starke anthropische Prinzip (strong anthropic principle = SAP) gleicht dem schwachen teleologischen Denken: Das Universum ist geordnet, und zwar so, dass die Existenz bewussten Lebens von Anbeginn vorprogrammiert gewesen ist. Zu dieser Auffassung neigt Stephen Hawking. 36 Eine andere Fassung des starken anthropischen Prinzips stammt von dem berühmten Astronomen John Wheeler, der folgende Überlegung anstellte: Wenn Quantenphänomene nur dann zur Existenz gelangen, wenn wir sie beobachten, muss dies für ihre Gesamtheit, also das Universum, ebenfalls gelten. Also existiere das Vgl. Kanitscheider, Auf der Suche nach dem Sinn, 88 ff.; Steinvorth, Docklosigkeit, 176 ff. 35 Vgl. Kanitscheider, Kosmologie, 272 ff. 36 Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 158, 183 u. 208. Nach eigener Einschätzung bevorzugt Hawking allerdings eine schwache Version des anthropischen Prinzips. 34

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Universum nur, weil und wenn und solange wir es beobachten. 37 Schließlich wird ein finales anthropisches Prinzip (final anthropic principle = FAP) vertreten. Danach ist bewusstes Leben der Zweck des Universums, auf den alles notwendigerweise ausgerichtet ist. Diese Neuformulierung eines starken teleologischen Denkens haben John D. Barrow und Frank J. Tipler vorgenommen. Tipler geht deshalb auch davon aus, dass das »Leben, weit davon entfernt, unbedeutend zu sein, als der Letzte Sinn und Zweck der Existenz des Universums selbst betrachtet werden kann«. 38 Eine mathematischnaturwissenschaftliche Kosmologie, so die Behauptung, könne die metaphysischen Sinnfragen beantworten. Das zweite Indizienbündel stammt aus dem mikrokosmischen Bereich. Kennzeichnend für die neuzeitliche Wissenschaft war ihr materialistischer Atomismus: Alles ließe sich auf letzte stoffliche Elemente zurückführen; damit schien eine metaphysische Interpretation der Dinge unmöglich zu sein. Sowohl der Materialismus als auch der Atomismus sind jedoch inzwischen in Frage gestellt wurden. Zwar können die Materialisten behaupten, dass letztlich alles aus Wasserstoff entstanden ist. Genauso gut ließe sich aber vertreten, dass sich alles aus den dispositionellen Eigenschaften der Wasserstoffatome entwickelt hat. Auch die meisten anderen Begriffe der Atomphysik, etwa elektrische und magnetische Ladung, sind Dispositionsbegriffe. Eigenschaften werden aber nur unter bestimmten Umständen aktualisiert. Ist das noch Materialismus? 39 Zudem ist schon lange bekannt, dass sich die Atome (eigentlich die Unteilbaren) in immer kleinere Teilchen zerlegen lassen; dem Universum ist gewissermaßen sein Grund und Boden durchschlagen worden. Vor allem aber bieten sich verschiedene Deutungen für die (vorläufig) kleinsten und letzten Elemente an: Man kann sie mit Demokrit als Teilchen, mit Leibniz als ausdehnungslose Energiepunkte, mit Spinoza als Felder oder mit Pythagoras als Saiten (strings) interpretieren. Weizsäcker hat die letzten Elemente sogar als Informationen gedeutet und daraus einen monistischen Spiritualismus abgeleitet. 40 Aber nicht nur der Materialismus, auch der Atomismus ist Vgl. B. Heller, Wie entsteht Wissen?, 178 f. Wheeler bezeichnet seine Version auch als participatory anthropic principle (PAP). 38 Vgl. Tipler, Die Physik der Unsterblichkeit, 15. 39 Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie II: 615 ff. 40 Weizsäcker, Aufbau der Physik, 165–168; ders., Der Mensch in seiner Geschichte, 46, 98 f., 136 f. u. ö. 37

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zweifelhaft geworden, womit hier die ontologische Auffassung gemeint ist, dass sich alles in letzte Bausteine zerlegen lasse. Einwände gegen die atomistische Vorgehensweise gab es immer in der Biologie; dort wird seit langem eine spezifische Form des Holismus bevorzugt, der Organizismus. 41 Zweifel am Atomismus entstand aber auch in der Mikrophysik, genauer in der Quantenphysik und deren Kopenhagener Deutung durch Bohr, Heisenberg und Weizsäcker. 42 Die neuzeitlichen Naturwissenschaften, einschließlich der Relativitätstheorie, gingen davon aus, dass alle Objekte (a) raum-zeitlich lokalisiert, (b) separiert (getrennt voneinander) sowie als Konsequenz daraus (c) individuiert sind. Diese drei scheinbar selbstverständlichen Annahmen werden von der Quantenphysik über den Haufen geworfen: (a) Schwierigkeiten mit der Lokalisierbarkeit eines Objekts kann es immer geben; ich weiß auch nicht immer, wo sich mein Terminkalender gerade befindet. Im mikrophysikalischen Bereich sind jedoch die Objekte nicht nur nicht lokalisierbar, sie sind überhaupt nicht lokalisiert. Bei präziser Bestimmung des Impulses verwischt sich gleichsam ihr raumzeitlicher Ort, ein Phänomen, das im Mesokosmos völlig unbekannt ist. (b) Quantensysteme haben keine voneinander unabhängigen intrinsischen Eigenschaften, sondern sind miteinander »verschränkt«. Schrödinger, der diesen Begriff einführte, verstand darunter korrelierte Zustände von Entitäten, ohne dass zwischen diesen eine Wechselwirkung bestehen würde. Das berühmte Gedankenexperiment, das sich Einstein zusammen mit Rosen und Podolsky ausdachte, sollte zeigen, dass es eine solche Verschränkung nicht gebe und jede Entität mindestens eine charakteristische Eigenschaft besitze. In den achtziger Jahren gelang jedoch der experimentelle Nachweis, dass Einsteins Vermutung falsch war: Tatsächlich gibt es Zustandsverschränkungen zwischen Elementarteilchen, ohne dass sich diese durch Wechselwirkungen oder andere äußere Einflüsse erklären ließen. Daraus folgt dann (c), dass es in der Welt der Quanten keine unterscheidbaren Individuen gibt, deren Weltlinien sich verfolgen ließen. Im Mikrokosmos existieren weder Dinge noch Ereignisse, sondern nur Relationen, die sich aus der zugehörigen Totalität ergebe; die Welt ist kein Uhrwerk, sondern ein Netzwerk. Dieses Ganze ist aber, so wird behauptet, letztlich nichts anderes als das UniverMayr, Das ist Biologie, 39–44. Esfeld, Einführung in die Naturphilosophie, 52 ff. u. 76 ff.; Scheibe, Die Philosophie der Physiker, Kap. 8 u. 9.

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sum. Die Einzelphänomene, mit denen sich die Wissenschaften beschäftigen und die wir im Alltag vor Augen haben, müssen als Glieder eines Gefüges aufgefasst werden. Deshalb kann man aus der Quantenphysik ableiten, dass es nicht nur wissenschaftstheoretisch (wie etwa Duhem und Quine meinten), sondern auch ontologisch erforderlich ist, einen Holismus zu vertreten. 43 Nach der Abkehr sowohl vom Materialismus wie vom Atomismus ergibt sich demnach ein Weltbild, in dem sich Natur und Geist nicht fremd gegenüber stehen. Wie ein Protagonist der neuen Quantenmetaphysik schreibt, ist ein neuer Bund zwischen Mensch und Wirklichkeit möglich, »der dem entwurzelten Leben wieder einen Sinn gibt«. 44 Das dritte Indiz ist die spontane Entstehung von höheren Ordnungsniveaus im mesokosmischen Bereich. Dass es solche inneren und äußeren Zweckmäßigkeiten gebe, war immer schon das Hauptargument der Teleologen; nun entdeckt man solche Systeme auch in der Welt des Anorganischen. Ein bekanntes Beispiel sind die sog. Bénard-Zellen: Wenn man eine Flüssigkeit kontinuierlich von unten erhitzt, bilden sich nach einer Zwischenphase, in der chaotische Turbulenzen dominieren, regelmäßige Formen der Auf- und Ab-Bewegung, in denen die Moleküle zirkulieren. Meistens handelt es sich um sechseckige Figuren, die wie Bienenwaben aussehen. Auch die gewöhnliche Kerzenflamme könnte erwähnt werden: Zahllose Gasmoleküle strömen von unten nach oben, aber solange keine äußeren Störungen vorliegen und die Energiezufuhr nicht nachlässt, bleibt ihr Erscheinungsbild erhalten. Die Materie fließt also durch eine konstante Form hindurch; Ludwig von Bertalanffy hat dafür den Begriff des Fließgleichgewichts geprägt. Ähnliche Phänomene der spontanen Erzeugung von Strukturen lassen sich auch bei Lichtstrahlen oder Wasserströmungen beobachten. Offensichtlich ist die Materie unter gewissen Bedingungen dazu in der Lage, sich allein, also ohne die äußeren Eingriffe einer Intelligenz, auf ein höheres Niveau zu hieven, gleichsam selbst Ordnung zu schaffen. Solche Phänomene haben Ilya Prigogine dazu veranlasst, für die Thermodynamik einen Paradigmenwechsel vorzuschlagen. Die alte Thermodynamik hätte, so wird gesagt, zu wenig zwischen verschiedenen Typen von Systemen unterschieden. Das Entropiegesetz mit seinen pessimistischen Konsequenzen gelte nur für isolierte Syste43 44

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Weizsäcker, Der Mensch in seiner Geschichte, 134 f., 146, 214 u. ö. Schäfer, Versteckte Wirklichkeit, 9, vgl. ebd. 148–151.

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me, die in der Wirklichkeit selten vorkommen. (Ob das Universum als Ganzes als ein isoliertes System gedacht werden darf, ist umstritten.) Geschlossene Systeme tauschen zumindest Energie mit ihrer Umwelt aus; dies ist der Fall bei der Erde, die ihre Energie von der Sonne erhält. Auf der Erde selbst finden sich größtenteils offene Systeme, die Energie und Materie austauschen; das beste Beispiel dafür sind alle Lebewesen, für die deshalb das Entropiegesetz nicht gelte. Wenn sich dieses neue Paradigma der Thermodynamik bewähren sollte, verschwindet auch der Widerspruch, der zwischen den beiden Naturwissenschaften besteht, die das teleologische Denken zerstörten. Denn in der Evolutionstheorie wird behauptet, dass im Laufe langer Zeiträume immer komplexere Strukturen entstehen. Hingegen folgt aus der Thermodynamik, dass im Laufe langer Zeiträume komplexere Strukturen immer weiter abgebaut werden. Während der Evolutionsprozess Ordnung hervorbringt, wird diese durch thermodynamische Prozesse zerstört. Wenn aber die Thermodynamik nicht mehr von Systemen nahe am Gleichgewichtszustand, sondern nach ihrem Paradigmenwechsel von Systemen fern des Gleichgewichtszustands ausgeht, verschwindet diese Kluft: In beiden Prozessen kommt es zur permanenten Neubildung von komplexeren Strukturen. Dann können die Thermodynamik offener dynamischer Systeme und die biologische Evolutionstheorie integriert werden in ein neues gemeinsames Forschungsprogramm. Eine solche Konzeption bietet sich auch deshalb an, weil Darwins evolutionstheoretischer Erklärungsansatz inzwischen erfolgreich auf Bereiche außerhalb der belebten Natur angewandt wurde. 45 Ein wichtiger Schritt war die Theorie der Hyperzyklen (Kombination von Nukleinsäuren und Proteinen), mit der Manfred Eigen einen evolutionären Übergang vom Anorganischen zum Organischen konstruieren konnte. Die Evolutionstheorie wird inzwischen sogar auf die gesellschaftliche Entwicklung und auf geistige Tendenzen ausgedehnt; bis ins alltägliche Bewusstsein gilt sie als das dominierende Paradigma unserer

Vgl. beispielsweise Rensch, Das universale Weltbild (1977). Von einem »letzten Sinn«, so Rensch (ebd. 296), könne aber keine Rede sein. Dafür hat er zwei Argumente: erstens die Ablehnung jeder Teleologie, zweitens die Unwichtigkeit der Menschheit, die sich durch ihre Einordnung in eine universalisierte Evolutionstheorie ergibt. Weil es diese aber ermöglicht, die Ordnung des Universums zu erfassen, kann man sagen, dass Rensch eine neue Version der Lehre von der Kette der Wesen bzw. einer schwachen Teleologie vertritt.

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Zeit. 46 Darwins Grundgedanken sind offensichtlich so leistungsfähig, dass alle durch sie beschriebenen und erklärten Phänomene in einem neuen Licht erscheinen, ja sinnvoll sind. Vor allem in den letzten Jahren werden diejenigen immer zahlreicher, die den Sinn des Lebens allein durch eine darwinistische Evolutionstheorie verstehen wollen. 47 Die neuen integrativen Ansätze behaupten sogar, dass es auf makrokosmischer Ebene, also in der Entwicklung des Universums, eine Tendenz zu mehr Ordnung und höherer Komplexität gebe, also alles einen evolutionären Sinn habe. Grundlage ist eine neue Typologie von Systemen und ihren Strukturen. In statischen Systemen bestehen die Strukturen aus festen Elementen; Beispiele dafür sind alle materiellen Artefakte, aber auch das Knochengerüst eines erwachsenen Menschen. Demgegenüber werden in dynamischen Systemen die Elemente der Strukturen ständig ausgetauscht (Prozess-Strukturen). Dazu gehören alle Organismen und ihre Bestandteile (Zellen, Organe usw.); sie überdauern die Zeit, obwohl sie ihre Elemente mit großer Geschwindigkeit erneuern. Beispielsweise werden in unserem Körpereiweiß in ungefähr achtzig Tagen alle Stickstoffatome ausgetauscht. Der entsprechende biologische Prozess heißt sehr treffend Stoffwechsel. Alle sozialen Institutionen sind ebenfalls dynamische Systeme: Die Bundesregierung bleibt bestehen, auch wenn alle Minister ausgewechselt wurden. Wie die Bénard-Zellen belegen, gibt es dynamische Systeme aber auch im Bereich der anorganischen Natur. Bei den dynamischen Systemen kann man zwischen zwei Untertypen differenzieren: Die einen bleiben trotz allen Austausches immer gleich, sie haben also konservative Strukturen; dazu gehören alle individuellen Organismen. Die anderen entwickeln sich evolutionär weiter und produzieren dabei neue Strukturen. Sie fallen also nicht auf den thermodynamischen Gleichgewichtszustand der größten Unordnung zurück, sondern sorgen fern von diesem für die Weiterentwicklung der Naturgeschichte. Dabei lassen sich schließlich zwei Arten der Entwicklung unterscheiden: lineare und dialektische. Lineare Entwicklungen sind geradlinig; sie führen zu quantitativen Verbesserungen. Ein Beispiel ist ein soziales Vgl. Poser, Wissenschaftstheorie, Kap. C III (S. 256–277). Zwei herausragende Beispiele: Pinker, Wie das Denken im Kopf entsteht, Kap. 8: »Der Sinn des Lebens«; Dennett, Darwins gefährliches Erbe (1997) mit dem Untertitel »Die Evolution und der Sinn des Lebens«. Vgl. auch das Buch des Neurobiologen Spitzer, Vom Sinn des Lebens, bes. Kap. 1.

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System, das immer komplexer wird. Bei dialektischen Entwicklungen kommt es zur Herausbildung einer neuen Struktur erst nach einer Krise und der spontanen Herausbildung eines neuen Ordnungsniveaus; dieser Vorgang wird als Emergenz bezeichnet. Evolvierende dynamische Systeme sind nicht nur organisiert, sondern sie organisieren sich sogar selbst. Ein solches Phänomen, so wird behauptet, gebe es im makromolekularen, im biologischen und im kosmologischen Bereich; vor allem aber sei das Phänomen des Lebens ein Beispiel einer solchen Selbstorganisation. Dieser Schlüsselbegriff des neuen teleologischen Denkens wurde von Kant geprägt. Er findet sich im § 65 der »Kritik der Urteilskraft« (vorher schon in IX: 163). Kant erläutert diesen Begriff durch folgende Merkmale: Der erste Punkt bezieht sich auf das Verhältnis von Teil und Ganzes. Während im kausalen Denken eine Totalität nur aus ihren Teilen entstehen kann, bezieht sich der Begriff der Selbstorganisation auf eine Totalität, deren Teile (oder besser: Elemente, vgl. II.2.) nur durch das Ganze möglich sind. Kant schreibt »ihrem Dasein und der Form nach«. Die schwächere These ist, dass das Ganze seine Elemente in ihrer Form bestimmt, vor allem in ihren Beziehungen untereinander. Die stärkere These (gegenwärtig vertreten durch die AutopoiesisTheorie von Maturana/Varela) lautet, dass das Ganze sogar die Elemente erst hervorbringt. 48 Ob dieser stärkere Ansatz sich über den engen Bereich der Zellbiologie hinaus auf andere ontische Sphären ausdehnen lässt, ist sehr zweifelhaft. Denn es mag beispielsweise sein, dass die Gesellschaft die Beziehungen zwischen den Menschen bestimmt, aber die Menschen selbst werden weiterhin durch Menschen ›produziert‹. Schon die schwächere Variante setzt jedoch eine Abkehr vom kausal-mechanistischen Denken voraus. Dieses arbeitet nämlich ›bottom-up‹, von unten nach oben; hingegen arbeitet das teleologische Denken ›top-down‹, von oben nach unten. Wir können uns das am Beispiel menschlicher Handlungen klarmachen: Im Extremfall eines kausalen Denkens, dem Mechanismus, wird eine Handlung das Ergebnis zahlloser Prozesse auf physikalischer Ebene sein. Dagegen ist im teleologischen Denken eine Handlung das Ergebnis der bewussten Zwecksetzung einer Person. Zweitens sind im teleologischen Begriff der Selbstorganisation Ursache und Wirkung nicht getrennt, sondern wechselseitig aufVgl. die Unterscheidung zwischen rigider und generischer Abhängigkeit der Teile vom Ganzen bei Esfeld, Holismus, 23 f.

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einander bezogen. Jede Ursache ist Wirkung und jede Wirkung ist Ursache. Das gilt gleichsam horizontal und vertikal: Horizontal wirken die Teile aufeinander ein; vertikal wirken Ganzes und Teile aufeinander ein. Insofern existiert in einem teleologischen System jedes Teil nur durch alle anderen und für alle anderen (einschließlich des Ganzen). Drittens wird in einem solchen Phänomen jedes Teil durch die anderen erzeugt; ein teleologisches System ist ein »hervorbringendes Organ« (KdU § 65/X: 321). Durch diesen letzten Punkt unterscheidet sich ein Organismus von einer Maschine. Auch in einer Maschine (Kant verwendet das Standardbeispiel der Uhr) wird die Funktion der Teile durch das Ganze bestimmt und es existiert eine umfassende sowohl horizontale wie vertikale Wechselwirkung. Während aber eine Maschine »lediglich bewegende Kraft« besitzt, verfügt ein Organismus im teleologischen Denken, wie Kant in Anlehnung an die Biologie seiner Zeit formuliert, über »bildende Kraft« (ebd. X: 322). Mit anderen Worten: gerade die Fähigkeit zur Selbstorganisation ist es, die den Maschinen fehlt. Kant fasst zusammen: In selbstorganisierten Systemen ist »alles Zweck und wechselseitig auch Mittel«. »Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanismus unterworfen.« (§ 66/X: 324) Diese Aussage gilt jedoch nur im Medium der reflektierenden Urteilskraft, als eine alsob-Behauptung. Darauf komme ich gleich zurück. Ein Beispiel für einen neueren naturwissenschaftlichen Ansatz, der den Begriff der Selbstorganisation als Grundlage hat, ist die Theorie der kosmischen Evolution von Erich Jantsch. In seinem Buch, für das Feyerabend das Vorwort verfasste, integriert er Gedanken aus der neuen Thermodynamik von Ilya Prigogine, der Theorie der Hyperzyklen von Manfred Eigen, der Autopoiesis-Lehre von Maturana und Varela, der Synergetik von Hermann Haken, der Chaosforschung usw. Ausdrücklich stellt sich Jantsch die Aufgabe, eine optimistische Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu geben. 49 Er leitet aus seiner Konzeption sogar normative Aussagen ab, offensichtlich ohne dass er sich der Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses bewusst wäre. 50 Warum hat das Leben für Jantsch einen Sinn? Weil im Universum, in der kosmischen Entwicklung bereits die Tendenzen angelegt seien, die auch wir Menschen verwirklichen wollen (und sollten): Autonomie, Selbstorganisation, Transzendieren. Ausdrück49 50

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Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums, 17 ff., 411–416. Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums, 357–360.

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lich behauptet Jantsch beispielsweise, dass »spätestens bei Sternen … auch jene Autonomie eines selbstorganisierenden Systems erreicht« sei 51 , von der Kant sich nur in Bezug auf den Menschen als intelligibles Wesen zu reden getraute. Leben sei kein peripheres Phänomen, sondern bedeutsam für die kosmische Evolution; wir Menschen können durch Kreativität zum Fortschritt des Ganzen beitragen. Ein anderes Beispiel ist Ervin Laszlo, der an einer universalen Theorie evolutionärer Systeme arbeitet. Aus dieser »neuen Synthese« meint er eine gegen Monod gerichtete Konsequenz ziehen zu können: »Wir sind nicht mehr Fremde in einem feindseligen Kosmos. … Diese neue Vision unseres Platzes in der Natur verleiht uns Bedeutung ohne Schmeichelei, Würde ohne Illusion.« 52 Hat also das Universum doch einen Sinn? Entwickeln sich Ordnung und Zweckmäßigkeit zielgerichtet in diesem Kosmos, und vielleicht sogar zugunsten des Menschen? Können wir also auf naturwissenschaftlichem Wege einen Sinn des Lebens entdecken? Ich bezweifle das und möchte gegen die neuen Ansätze einer integrativen Theorie dynamischer Systeme mehrere Einwände vorbringen. Zunächst einmal ist zu fragen, ob man hier nicht wenige Phänomene zur Grundlage einer Theorie macht, für die es kaum weitere Bestätigungen gibt. In den Begriffen der Wissenschaftstheorie handelt es sich also um eine ad-hoc-Theorie. Ist es nicht noch viel zu früh, um aus wenigen spektakulären experimentellen Befunden der Quantenphysik, die man auf der Grundlage einer umstrittenen Theorie deutet, weitreichende philosophische Schlussfolgerungen zu ziehen? Mit solchen fragwürdigen Konstruktionen einen Sinn des Kosmos zu postulieren, erinnert verdächtig an ein Wunschdenken, das man sich in der Metaphysik nicht leisten kann. Man vergleiche einen ähnlichen Fall: den verantwortungslosen Umgang vieler postmoderner Philosophen mit neueren naturwissenschaftlichen Begriffen, der vor wenigen Jahren wirkungsvoll entlarvt wurde. Weitere Einwände betreffen den evolutionstheoretischen Rahmen: Kann man die kosmische und die biologische Evolution wirklich in einer übergreifenden gehaltvollen Theorie zusammenfassen? Beispielsweise fehlen im anorganischen Bereich die Äquivalente sowohl für die informationsspeichernden und verhaltenssteuernden genetischen Programme als Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums, 138. Laszlo, Evolution, 213; vgl. auch Wilber, Eros – Kosmos – Logos, 23 ff., 32 f., 115 ff. u. ö.

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auch für einen Selektionsmechanismus. 53 Zudem gleicht die Entwicklung von Sternen, Galaxien u. ä. weniger der Evolution der Arten als vielmehr dem Wachstum eines Tieres oder einer Pflanze. 54 Vor allem aber ist zu bezweifeln, dass, selbst wenn eine übergreifende Theorie möglich wäre, die Erdgeschichte tatsächlich einen Fortschritt darstellt. Das hat Stephen Jay Gould mit guten Argumenten gegen bestimmte Deutungen des Darwinismus vorgebracht. 55 Die Auffassung, dass wir Menschen die bemerkenswertesten und wertvollsten Lebewesen seien, ergibt sich nicht aus der Evolutionstheorie selbst. Wir Menschen existieren erdgeschichtlich erst seit kurzer Zeit. Bakterien hingegen gibt es bereits seit 3½ Milliarden Jahren; sie sind äußerst widerstandsfähig und die am weitesten verbreiteten Organismen, ohne dass sie sich evolutionär weiterentwickeln mussten. Ähnliche Lobgesänge könnte man auf die Insekten anstimmen, die ca. 80 % aller tierischen Lebewesen bilden. Es gibt viele Erfolgsgeschichten innerhalb einer weit verzweigten Evolution. Zudem ist diese noch keineswegs abgeschlossen; es könnte sogar neue Katastrophen geben. Sollte man nicht in den Naturwissenschaften überhaupt auf evaluative Begriffe verzichten? Bereits Darwin notierte sich folgende Maxime: »gebrauche niemals die Worte höher oder tiefer«. 56 Sicherlich haben sich im Verlauf der Naturgeschichte komplexere Organismen entwickelt. Aber Komplexität ist kein intrinsischer, sondern ein extrinsischer Wert. Komplexere Organismen verbrauchen mehr Energie, entwickeln größere destruktive Kräfte, sind anfälliger für innere und äußere Störungen usw.; ihr Auftreten ist deshalb nicht in jedem Fall als Fortschritt zu bewerten. Aus philosophischer Sicht ist schließlich einzuwenden, dass der Sinnbegriff nicht zureichend geklärt wird. Jantsch bezeichnet Sinn als »evolutionäre Verbundenheit« bzw. die »Subtilität der Einstimmung auf die vielfältige Dynamik einer unteilbaren Evolution«. 57 Vgl. Mayr, Die Unterschiede zwischen kosmischer und organischer Evolution, 80– 103. 54 Rees, Das Rätsel unseres Universums, 96. 55 Gould, Illusion Fortschritt, bes. 48: Unsere menschliche Arroganz hält uns ab, Darwins Hauptaussage anzuerkennen, »daß der Homo sapiens ein winziges, erst gestern entstandenes Ästchen an einem riesigen Lebensbaum ist«. 56 Darwin (Notebook B, 1836–1844), zit. nach Hösle/Illies, 90. 57 Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums, 400, vgl. 414: »Die neue Synthese gibt dem menschlichen Leben tiefen Sinn. Sinn entsteht aus der Erkenntnis von Verbundenheit.« 53

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Nach meinem Verständnis meint Jantsch damit kaum mehr als das, was ich oben als evolutionären Sinn bezeichnete (siehe II.3.). Das Universum, so wird behauptet, müsse verstanden werden als ein umfassender Wirkungszusammenhang, als ein gigantisches dynamisches System, in dem alles mit allem in Beziehung stehe und das sich ständig weiterentwickele. Deshalb habe in diesem Ganzen alles eine Funktion, einen evolutionären Sinn. Vielleicht ist es tatsächlich möglich, allen Phänomenen im Kosmos eine Funktion zuzuschreiben, auch den negativen Seiten unseres Lebens wie Tod, Leiden, Verlassenheit, Schuld usw. Ein solcher kosmischer Sinn meiner Sterblichkeit oder meiner Schmerzen ist für mich als Individuum jedoch wenig tröstlich. Zudem besteht zwischen evolutionärem und metaphysischem Sinn, wie oben dargestellt, der Unterschied, dass dieser auch eine axiologische Komponente enthält, die bei jenem offensichtlich fehlt. Der Sinn des Lebens, nach der wir in metaphysischer Absicht fragen, ist nicht auf seine Funktion reduzierbar. 58

(3) Eine Typologie naturphilosophischer Positionen Auch wenn die neuen funktionalistischen Supertheorien massiven Einwänden ausgesetzt sind, bleibt es die Frage, ob sich natürliche Zweckmäßigkeiten und selbstorganisierende Systeme durch andere Konzeptionen besser erfassen lassen. Kant war der Auffassung, dass das kausale Denken das Organische nicht zureichend erklären könne. In diesem Zusammenhang entwickelt er eine Typologie möglicher naturphilosophischer Positionen, die im 20. Jahrhundert alle wieder ihre Verfechter gefunden haben. Wir beginnen mit dem objektiven Idealismus, den Kant in der »Kritik der Urteilskraft« als Möglichkeit in Betracht zieht, vor allem im § 77: Zur Erklärung der Zweckmäßigkeiten kann man sich widerVgl. Poser, Wissenschaftstheorie, 277: »Handlungen setzen Normen und Werte voraus; die aber sind nicht auf ein Spiel von Zufall und Notwendigkeit zurückführbar. Der Empirie sind solche Ziele nie zu entnehmen, sie liefert immer nur deskriptive, keine normativen Aussagen. Ohne Sinnzuschreibungen aber sind wir nicht mehr Menschen. Nur indem wir der Welt einen Sinn geben, entstehen Werthaltungen, denen das Evolutionsschema seine heutige Akzeptanz verdankt! … So weit auch die ordnende Kraft des neuen Deutungsschemas reichen mag, es läßt uns mit der Aufgabe zurück, die Absicht, den Sinn unseres menschlichen Daseins, je für uns zu suchen und zu finden.«

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spruchsfrei ein zwecktätiges Subjekt denken, was diese hervorgebracht hat, einen intellectus archetypus (X: 362; vgl. KrV B 723). Dieser Weltbaumeister gehe sowohl kausal-mechanisch wie teleologisch vor; sein Werk sei so eingerichtet, dass alles kraft mechanischer Gesetze seinen Sinn erfüllt. Nach Kants Überzeugung müssen wir sogar notwendigerweise einen übersinnlichen Grund der Welt annehmen, der mit dem übersinnlichen Grund in uns, der ebenfalls eine Denknotwendigkeit ist, korrespondiert. Anknüpfend an diese Ausführungen rehabilitiert zunächst Schelling und diesem folgend Hegel den objektiven Idealismus, der mindestens bis Platon zurückverfolgt werden kann und sich in vergleichbarer Form im indischen Denken findet. Der junge Schelling ist sehr beeindruckt von Kants Organismus-Begriff. 59 Das zeigt am deutlichsten seine frühe Schrift »Einleitung zu: Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft« (1797/2 1803). Dort referiert er zunächst, wie ein guter Kantianer, den Begriff der Selbstorganisation. Aber dann macht er die Einschränkungen, denen dieser in der »Kritik der Urteilskraft« unterliegt, Schritt für Schritt rückgängig. Erstens erweitert er ihn über den Bereich der Organismen hinaus. Auch die organisierte Materie sei schon Leben; die gesamte Natur ist ein organisiertes Ganzes. 60 Eines seiner Beispiele sind die Kristalle; aus heutiger Sicht wären Phänomene wie die oben erwähnten Bénard-Zellen und andere Selbstorganisationsprozesse zu nennen. Zweitens kann sich Kant keine Evolution des Lebens vorstellen, trotz einiger Andeutungen in § 80. Schelling hingegen dynamisiert die Naturphilosophie. Das Absolute sei kein Sein, sondern ein Werden, ein Prozess, in dem das Göttliche sich erst entwickele und zu sich komme. 61 Wir als bewusste Lebewesen seien der Ort, an dem der Geist sich seiner selbst bewusst werde, an dem sich die Natur ein Licht aufstecke. Weil Vernunft und Natur nicht mehr getrennt seien, empfehle es sich, den Begriff der Vernunft durch den des Geistes zu ersetzen. »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein.« 62 Drittens ist »Selbstorganisation« bei Kant ein Begriff der reflektierenden Urteilskraft. Schelling kritisiert die Differenzierung verschiedener Vgl. Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, 98–115. Schelling, Sämmtliche Werke I/2, 40–45 u. 54 ff. 61 Vgl. die berühmten Formulierungen in Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit …, 95. 62 Schelling, Sämmtliche Werke, I/2: 56. 59 60

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kognitiver Vermögen bzw. Tätigkeiten: Es gebe nur die eine menschliche Vernunft, zu der auch die reflektierende Urteilskraft gehört. Dadurch verändert sich der Status der teleologischen Begriffe. 63 Tatsächlich sind die vermögenspsychologischen Einteilungen Kants zu verwerfen; an deren Stelle kann aber eine Differenzierung verschiedener Aussagentypen treten. Viertens gelten alle naturphilosophischen Überlegungen Kants nur für Erscheinungen, nicht für die Dinge an sich. Schelling stimmt Kant hinsichtlich des Kausalprinzips zu, nicht aber für den Begriff der Organisation, die eine Eigenschaft der Dinge an sich sei. 64 Charakteristisch für den objektiven Idealismus ist darüber hinaus, dass er reflexiv zu Einsichten zu gelangen meint, die eine ontologische Valenz besitzen. So greift Schelling den Gedanken Kants auf, dass wir bei einer Vernunftidee, nämlich der Freiheit, ihrer objektiven Realität sicher sein können, weil wir dieser an uns selbst als moralischen Wesen gewahr werden (KdU § 91/X: 435 u. 441). Wenn wir, so Schelling in seiner Freiheitsschrift (1809), an dieser einer Stelle, nämlich hinsichtlich der Idee der Freiheit, etwas über das Wesen der Dinge, sagen können – warum sei dies nicht überall möglich? Könne man dann nicht die Idee der Freiheit allen Erscheinungen zugrunde legen? 65 Das Schöne und die organische Natur, die beiden Themen der »Kritik der Urteilskraft«, sind also für Schelling »nicht nur das Bild einer Welt, wie sie wäre, hätte Freiheit von ihr Besitz ergriffen; die Welt ist das Werk der Freiheit«. 66 Bei Schopenhauer findet sich derselbe Gedanke, bezogen auf den Begriff des Willens. Nach diesen Umdeutungen von Kants Ansatz kann Schelling zu der Auffassung gelangen, dass es einen Sinn des Ganzen gibt, den wir erkennen können. Ganz im Stil der Romantik heißt es in einem seiner Hauptwerke: »Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Rätsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen … ; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach

Schelling, Sämmtliche Werke, I/3: 607 ff. (System des transzendentalen Idealismus, 5. Hauptabschnitt). 64 Schelling, Sämmtliche Werke, I/2: 41. 65 Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit …, 47. 66 Frank, Einführung in Schellings Philosophie, 30. 63

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dem wir trachten.« 67 Mit anderen Worten: Den Sinn des Lebens haben wir dann erfasst, wenn wir in der Naturgeschichte die Geschichte unseres Geistes erkennen können. Eine ähnliche Auffassung liegt auch einigen Versionen der Selbstorganisationstheorie zugrunde, etwa derjenigen von Jantsch: Jeder von uns sei vielleicht »Geist schlechthin – und hätte teil an der Evolution des Gesamtgeistes, und damit am göttlichen Prinzip, am Sinn«. 68 Am Ende des letzten Abschnitts haben wir die Gründe dargelegt, aus denen wir uns dieser Ansicht nicht anschließen können. Eine andere Variante des objektiven Idealismus geht nicht von Schelling aus, sondern von der platonischen Ideenlehre. Das Universum sei kein kreatives Subjekt, sondern eine geistige Ordnung. Vertreter einer solchen Position sind im 20. Jahrhundert vor allem die Physiker Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker. So spricht Heisenberg von einer »zentralen Ordnung der Welt«. 69 »Am Anfang war die Symmetrie« wird als aussichtsreiche Hypothese für die Erklärung der kosmischen Entwicklung vorgeschlagen. 70 Der Kosmos sei durch Formen bestimmt, letztlich durch eine große Struktur. Heisenberg äußert sogar vorsichtig die Auffassung, dass wir in die zentrale Ordnung der Welt Vertrauen haben können, dass man sie als das Gute ansehen könne. 71 Die Strukturen müssten wir nicht an den Gegenständen ablesen, sondern könnten sie prinzipiell, wenn auch erst nach langen Mühen, apriorisch entwickeln: Es sind wie bei Platon mathematische Strukturen. Grundlegend sei weder die causa finalis noch die causa efficiens, erst recht nicht die causa materialis, sondern die causa formalis; auch die kausalen Naturgesetze könnten mathematisch formuliert werden. Der Schöpfer der Welt, so könne man metaphorisch sagen, sei kein Handwerker und kein Ingenieur, sondern (wie schon Leibniz behauptete) ein MathematiSchelling, Sämmtliche Werke, I/3: 628 (System des transzendentalen Idealismus). Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums, 412; ganz ähnlich bei Schäfer, Versteckte Wirklichkeit, Kap. 6 u. 7. Vgl. die Konzeption eines kreativen Universums bei Whitehead, Prozeß und Realität, 611–627. 69 Heisenberg, Ordnung der Wirklichkeit (1942); ders., Der Teil und das Ganze, 251 ff., 288; vgl. ders., Physik und Philosophie (1959). 70 Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 159 u. 280, vgl. ebd. 15 f., 55, 191 ff. u. ö. 71 Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 281 u. 252. Vgl. Heisenberg, Ordnung der Wirklichkeit, 336: »Aber wir dürfen uns doch voll Vertrauen der höheren Macht in die Hände geben, die … unsere Welt und unser Schicksal bestimmt. … Insofern sollen und dürfen wir als Menschen immer an den Sinn des Lebens glauben …« 67 68

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ker. Die mathematischen Gestalten sind nicht bloße Konventionen (wie im Empirismus), es sind auch nicht unsere universal gültigen Konstruktionen (wie im Kantianismus), sondern es sind die objektiven Strukturen des Seins selbst, die wir kraft unserer Vernunft entdecken können. Die Natur sei, so wird behauptet, die Entäußerung einer höheren Intelligenz. Nach Kants Auffassung können wir uns eine solche Vernunft und auch das Modell einer Entäußerung der Vernunft in Natur zwar denken, aber wir haben keinerlei Indizien für deren empirische Realität. Auch die mathematischen Gestalten sind dafür kein Beleg. Denn für die wissenschaftliche Beschreibung eines Phänomens kann man unterschiedliche mathematische Ansätze wählen. So stützte sich Heisenberg in seiner Quantenphysik auf die Matrizenrechnung, Schrödinger in seiner Wellenmechanik hingegen auf die Differentialrechnung. Zwei verschiedene Arten der Mathematik für dieselben Phänomene – das macht es sehr unwahrscheinlich, dass die mathematischen Gestalten selbst das Wesen der Dinge darstellen. Dieser Ansicht war wohl auch Einstein: »Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.« 72 Die Mathematik erleichtert uns die Erkenntnis der Wirklichkeit, aber die mathematischen Gestalten sind nicht diese selbst. Neben dem objektiven Idealismus ist der Realismus die andere große Gegenposition zu Kants transzendentalem Idealismus. Im § 72 der »Kritik der Urteilskraft« werden die verschiedenen Systeme einer realistischen Naturerklärung typologisch geordnet; im § 73 finden sich seine Einwände. Es geht jeweils darum, wie der Anschein der Zweckmäßigkeit bestimmter Naturphänomene erklärt wird. Kant kombiniert dabei zwei Leitdifferenzen. Zum einen unterscheidet er, ob die Zwecktätigkeit als eine unabsichtliche oder als eine absichtliche gedacht wird (technica naturalis oder technica intentionalis). Die Vertreter der ersten Position bezeichnet Kant als Idealisten, die der zweiten als Realisten in einem engeren Sinne. Die Idealisten, so Kant weiter, gehen von leblosen Kräften aus, die Realisten von lebendigen; diese finden in der Natur nicht nur Zweckmäßigkeiten, sondern sogar Zwecktätigkeit(en). Das andere Einteilungskriterium beruht auf der Unterscheidung von physischen und hyperphysischen

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Einstein, Mein Weltbild, 133 (Vortrag »Geometrie und Erfahrung« vom 27. 1. 1921). A

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Gründen, der die klassische ontologische Entgegensetzung von Materialismus und Spiritualismus entspricht. Denn wer einen physischen Grund annimmt, behauptet, dass die Materie die alleinige Substanz sei; der hyperphysische Grund verweist hingegen auf supranaturale Entitäten. Somit gibt es vier idealtypisch unterschiedene Antworten auf die Frage, wie teleologische Phänomene zu erklären sind. – Das Schema mit den Namen der vier Positionen sieht demnach folgendermaßen aus:

physischer Grund (Materialismus)

Idealismus technica naturalis

Realismus technica intentionalis

Kasualismus (Zufallsprinzip)

Hylozoismus

hyperphysischer Grund Fatalismus (Spiritualismus) (Determinismus)

Theismus

Ein Durchgang durch diese Positionen zeigt, dass alle in veränderter Weise heute noch vertreten werden – und sich gegen jede schwer wiegende Einwände formulieren lassen. Wir beginnen mit dem Theismus, wie er sich vor allem in den monotheistischen Religionen der abrahamitischen Tradition findet. Im Unterschied zum Deisten, der das Göttliche in den Naturgesetzen sieht, glaubt der Theist an einen lebendigen (und personalen) Gott (KrV B 661). Ein bedeutender Vertreter des gegenwärtigen Theismus ist Richard Swinburne. Die Hypothese, dass es einen allmächtigen Gott gebe, erklärt nach seiner Überzeugung viel besser als alle anderen Ansätze die Zweckmäßigkeiten, ja überhaupt die Existenz des Universums. 73 Es ist zwar zuzugestehen, dass der Theismus eine ziemlich gute Erklärung für all die Zweckmäßigkeiten und Feinabstimmungen liefern würde, von denen oben gesprochen wurde. Aber er kann nicht selbst begründet werden; die Existenz Gottes lässt sich nicht nachweisen; es ist ein Gebot intellektueller Redlichkeit, nicht mit einer solchen Hypothese zu operieren. Ein solcher methodischer Atheismus ist auch eine der Grundlagen dieser Studie. Hylozoisten postulieren eine Lebenskraft. Kant denkt vor allem an Biologen des 18. Jahrhunderts wie Buffon und Blumenbach (§ 81/

Swinburne, Die Existenz Gottes (engl. 1979); dagegen Mackie, Das Wunder des Theismus, 232 ff.

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X: 381). 74 Man kann bis Thales zurückgehen, der gesagt haben soll, dass alles voller Seelen sei (Panpsychismus). Das wirkungsmächtigste Modell des Hylozoismus findet sich im teleologischen Denken von Aristoteles. Zu diesem gibt es Parallelen in anderen Kulturkreisen, vor allem in der chinesischen Philosophie, etwa im Daoismus mit seinem übergreifenden Lebensprinzip (›Qi‹ oder ›chi‹). 75 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebt der Hylozoismus in der Annahme eines ›élan vital‹ bei Henri Bergson sogar eine kleine Renaissance. 76 Auch an Jakob von Uexküll wäre zu denken. 77 Aus dem Spektrum gegenwärtiger naturphilosophischer Ansätze könnte man verschiedene Autoren nennen, etwa Rupert Sheldrake mit seiner Theorie der morphogenetischen Felder oder die kosmische Teleologie von John Leslie. Auch der schon erwähnte Ervin Laszlo glaubt nachgewiesen zu haben, dass es auf submolekularer Ebene, ähnlich wie bei den verborgenen Parametern der impliziten Ordnung des Quantentheorikers David Bohm, eine Prozessdynamik gebe, eine fünfte große Naturkraft, die immer wieder neue Ordnungen erzeuge. 78 Der Hylozoismus ist nach Kants Auffassung selbstwidersprüchlich, weil er sich in einen Zirkel verstrickt: Das Phänomen der Selbstorganisation werde erklärt aus Eigenschaften der Materie, für die man nur in den selbstorganisierten Organismen selbst ein Beispiel habe. Zudem gerate, wer mit Entitäten wie »Lebenskraft« arbeite, letztlich in eine »Dämonologie« (vgl. § 86/X: 406). 79 In den letzten Jahrzehnten haben sich die physikalischen Erklärungen als so erfolgreich erwiesen, sowohl intern (d. h. als wissenschaftliche Theorien) wie extern (d. h. in der Praxis, vor allem in ihrer technischen Anwendung bis hin zur Atombombe und den Raumflügen), dass eine so grundlegende Änderung an den Prämissen der Naturwissenschaften kaum Anhänger finden wird. Als Kasualisten (von lat. casus = Fall, Sturz, Unglück) bezeichnet man diejenigen, die die Zufälligkeiten in der kosmischen GeFrank/Zanetti, Kommentar, 1321, erinnern an Buffons »moule intérieur« (innere Prägeform), die den »Bildungstrieb« von Blumenbach vorwegnehme. 75 Robinet, Geschichte des Taoismus, 19 ff. 76 Vgl. Bergson, Schöpferische Entwicklung, 93–103, 252 ff. 77 Uexküll, Der Sinn des Lebens, 78 (letzter Satz des Textes von 1942): »Endlich sollte man einsehen, daß weder aus Leblosem etwas Lebendiges noch aus Sinnlosem Sinnvolles hervorgehen kann – weil Leben und Sinn identisch sind.« 78 Laszlo, Kosmische Kreativität, 13, 17, 62 ff., 272, 302; vgl. Bohm, Fragmentierung und Ganzheit, 275 ff. 79 Vgl. Stegmüller, Probleme und Resultate …, 678 u. 702. 74

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schichte betonen: Es gebe nichts als leblose Materie und die Kontingenzen ihrer Bewegung; der Ausdruck »matter in motion« fasst diese Auffassung einprägsam zusammen. Kant nennt Demokrit und Epikur. Demokrit müsste jedoch eher bei den Fatalisten eingeordnet werden, denn er vertritt die Auffassung, dass alles mit Notwendigkeit geschehe. Richtig ist aber die Zuordnung von Epikur, denn dieser betont, dass die Bewegung der kleinsten Teilchen nicht nach strengen Gesetzen erfolge, sondern es zu kleinen Unregelmäßigkeiten komme; sein Anhänger Lukrez spricht von irrationalen Abweichungen im Fall der Atome. Erklärungsgrund für die natürlichen Zweckmäßigkeiten ist also der »blinde Zufall« (§ 63/X. 343). Einen Kasualismus vertreten heute die Autoren, die die Kontingenz des Universums betonen, vor allem die Physiker, die den Urknall für ein singuläres Phänomen halten und die darüber hinaus weitere unerklärliche Symmetriebrüche vor allem in der Anfangsphase der kosmischen Entwicklung postulieren. Auch die (inzwischen widerlegte) Hypothese, dass Planeten nur durch eine äußerst seltene kosmische Katastrophe entstanden sein können, wäre hier einzuordnen. Nach Ansicht von Stephen Jay Gould spielt der Faktor Zufall bei der Entstehung höherer Lebensformen und des Menschen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zwei bekannte Philosophen, die ohne nähere naturphilosophische Begründung das Prinzip der Kontingenz betonen, sind Richard Rorty und Odo Marquard. Kant hält den Kasualismus, also die Erklärung durch Zufälle, für aussichtslos; aus einer Abfolge kontingenter Ereignisse könne weder Ordnung noch ein zweckmäßiges Ganzes entstehen. In der Biologie erlebte dieser Ansatz um 1900 noch einmal eine kleine Renaissance; die Saltationisten gingen davon aus, dass der Mensch durch eine Abfolge größerer Mutationen entstanden sei. Inzwischen weiß man, dass solche Zufälle nur Monstren hervorbringen können. 80 Es bleibt der Fatalismus, dessen Hauptvertreter aus Kants Sicht Spinoza und die Deisten des 18. Jahrhunderts sind. Der Ausdruck »Fatalismus« (von lat. fatum = Schicksal) klingt abwertend, ist es aber in diesem Fall nicht. Gemeint ist, dass alles durchgängig von Naturgesetzen oder sogar einem einzigen System von Gesetzen bestimmt ist. Da Naturgesetze nicht selbst als physische Entitäten angesehen werden können, spricht Kant hier von einem hyperphysischen Grund. Einer der berühmtesten Spinozisten innerhalb der 80

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Mayr, … und Darwin hat doch recht, 66–71, 149 f. u. ö.

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modernen Wissenschaft, der sich ausdrücklich als solcher bekannte, war Albert Einstein: »Jene mit tiefem Gefühl verbundene Überzeugung von einer überlegenen Vernunft, die sich in der erfahrbaren Welt offenbart, bildet meinen Gottesbegriff; man kann ihn also in der üblichen Ausdrucksweise als ›pantheistisch‹ (Spinoza) bezeichnen.« 81 Einstein störte sich deshalb an der Aufweichung des kausalen Denkens durch die Quantentheorie: Der liebe Gott (der bei ihm nur der Gott Spinozas sein kann) würfele nicht. 82 An anderer Stelle heißt es bei Einstein: »Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht.« 83 Eine aktuelle Version dieser Position vertritt Stephen W. Hawking mit seiner Quantentheorie der Gravitation, einer Vereinigung von Relativitätstheorie und Quantenphysik. Der entscheidende Punkt in seinem Modell des Universums ist nämlich, dass es keine Singularitäten wie den Urknall mehr gibt, keine Zustände, in denen die Naturgesetze nicht gelten würden oder neue hinzukommen müssten. Alle Kontingenzen sind ausgeschlossen. Dieses Modell ist, wie Hawking zugibt, noch nicht ausgearbeitet; wenn dies aber geschehen ist, dann »würden wir Gottes Plan kennen«. 84 Fatalismus in diesem Sinne ist die konsequenteste Variante des naturwissenschaftlichen Denkens der Neuzeit. Kants Kritik am Fatalismus als naturphilosophischer Position findet sich an vielen Stellen; sie ist zentral für seinen Versuch einer kritischen Rehabilitierung der Teleologie. Apodiktisch behauptet er, dass eine mechanistische Erklärung von Organismen nicht möglich sei. Dafür steht die berühmte These, dass es niemals einen Newton des Grashalms geben könne (§ 75/X: 352; vgl. auch § 67/X: 327, § 78/ X: 370 u. ö.). Bereits in einem seiner Frühwerke, der »Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels« (1755), schreibt Kant, »daß eher die Bildung aller Himmelskörper, die Ursach ihrer Bewegungen, kurz, der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues, werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe aus mechanischen Gründen, Einstein, Mein Weltbild, 191; vgl. ders., Religion und Wissenschaft, 77 f. In einem Brief vom 4. 12. 1926: »Die Quantenmechanik ist sehr achtung-gebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß das doch nicht der wahre Jacob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der nicht würfelt.« (Einstein/Born, Briefwechsel 1916–1955, 129 f.) 83 Zit. nach Ziegelmann, Was ist wirklich? Albert Einstein – Leben und Werk, 248, vgl. ebd. 133. 84 Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 218. 81 82

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deutlich und vollständig kund werden wird« (Vorrede, I: 237). Eine Welt, in der alles immer nur mechanischen Gesetzen folgt, könne komplexe Phänomene wie das Leben nicht hervorbringen. Damit hofft Kant, das teleologische Denken wenigstens als Möglichkeit wieder ins Spiel bringen zu können. Das gilt auch für diejenigen Physiker, die nach den spektakulären Erkenntnissen der Quantenmechanik der Biologie zuwandten, um dort die Besonderheit der Lebensphänomene nachzuweisen, etwa Erwin Schrödinger. 85 Aus heutiger Sicht stellen sich die Dinge jedoch anders dar. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts arbeiten auch die Biowissenschaften mit physikalischer Begrifflichkeit. Inzwischen hat es nicht nur einen Newton des Grashalms (also den Entdecker von Gesetzmäßigkeiten des Lebens) gegeben, sondern sogar einen James Watt des Grashalms (also einen Konstrukteur von Leben). Was Kant nämlich zu wenig berücksichtigt, ist die Möglichkeit der Kombination von Notwendigkeit und Zufall, von Fatalismus und Kasualismus, über lange Zeiträume und unter komplexen Randbedingungen. Genau dies geschieht in den Evolutionstheorien, die ihr Augenmerk auf das Auftauchen (Emergieren) neuer Strukturen oder Eigenschaften richten. Sie erklären dies letztlich mit darwinistischen Begriffen, wenn auch nur im Nachhinein. Exakte Vorhersagen der Entstehung des Neuen sind nach Ansicht der neuen Emergenztheorien nicht möglich. 86 Was ist Emergenz? Haken gibt ein sehr anschauliches Beispiel. 87 An einem schönen Sommertag ist das Schwimmbad voller Leute; alle stürzen sich in das quadratische Wasserbecken. Es kommt aber nur zu Gedrängel, Zusammenstößen; keiner kann sich wirklich entfalten und längere Strecken schwimmend zurücklegen – es herrscht Chaos. Das dauert eine Zeit. Mit einem Mal stellt sich, ohne dass es der Bademeister oder eine sonstige Autorität angeordnet hätte, eine Ordnung her: Alle schwimmen große Runden im Uhrzeigersinn. Niemand wird mehr behindert; alle können sich austoben und verbrauchen doch viel weniger Energie als vorher im chaotischen Zustand. Aus großer Entfernung, etwa beobachtet von einem Hubschrauber,

Schrödinger, Was ist Leben?, 133 ff. Vgl. Stephan, Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation, 58, 70 u. ö. 87 Haken, Erfolgsgeheimnisse der Natur, 52 f.; vgl. auch Bischof, Das Rätsel Ödipus, 570 f. 85 86

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der über das Schwimmbad fliegt, ergibt sich das Bild einer perfekten Ordnung aus bewegten Teilen. Solche Prozesse beruhen offensichtlich auf der Voraussetzung, dass es eine hinreichend große Zahl ähnlicher Elemente gibt, die sich in schneller Bewegung und spannungsreicher Interaktion miteinander befinden. Aus der Wechselwirkung der Elemente kann nach einer längeren turbulenten Phase plötzlich ein neuer Zustand entstehen, der aus evolutionärer Sicht als Fortschritt anzusehen ist. Diesen Prozess der Herausbildung einer bisher unbekannten Struktur hat Konrad Lorenz (in Anlehnung an Leibniz) als Fulguration (Blitzschlag) bezeichnet. Durchgesetzt hat sich aber der Begriff der Emergenz. Die Herausbildung der neuen Ordnung ist nicht präzise zu prognostizieren. Die Dynamik kommt vielmehr an einen Punkt, an dem zwei (oder auch mehr) Möglichkeiten bestehen (Bifurkation) und allerkleinste Unregelmäßigkeiten zu sehr unterschiedlichen Wegen führen können. In unserem Beispiel gibt es zwei Bewegungsrichtungen für die Schwimmer: im Uhrzeigersinn und gegen den Uhrzeigersinn; warum die eine sich durchsetzte und nicht die andere, kann man nicht erklären; es hätte auch bei dem Chaos bleiben können. Wichtig ist noch, dass keine äußere Reglementierung vorliegt, obwohl es so scheinen mag, als ob ein »Ordner«, wie Haken sagt, die Elemente »versklavt« hat. Auch für Prozesse der Emergenz kann man den Begriff der Selbstorganisation verwenden. Allerdings ist dieser dann vom oben dargestellten Kantischen Konzept und dessen Aktualisierungen zu unterscheiden. Denn er enthält keinerlei Zugeständnisse an die teleologische Denken: Alles kann ›bottom-up‹ erklärt werden; das ›lineare‹ Ursache-Wirkungs-Konzept wird nur insofern korrigiert, als man von einer unübersehbaren Vielzahl kausaler Faktoren und kontingenter Randbedingungen ausgeht; auf die Annahme einer »bildenden Kraft« wird verzichtet. Zudem vermeidet man eine begriffliche Schwäche: Denn mit welchem Recht wird bei den als »Selbstorganisation« bezeichneten Prozessen der eindeutig der humanen Sphäre entstammende Begriff des Selbst benutzt? Gegen die so verstandene Emergenztheorie wird oft eingewandt, dass die Entstehung komplexer Strukturen auf diese Weise nicht erklärt werden könne. Dazu stützt man sich oft auf folgendes Bild: Man setze einen Affen vor eine Schreibmaschine und lasse ihn wild in die Tasten schlagen; nun könne man endlose Zeiten warten, bis dieser einen sinnvollen Text geschrieben habe – allein durch die A

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Kombination von Naturgesetzen und Zufällen entstehe nichts Vernünftiges. Aber das Bild ist falsch; man muss es folgendermaßen abändern: Zwar hämmert der Affe einfach drauflos, aber immer dann, wenn er durch Zufall eine richtige Tastenkombination trifft (also eine stabile Eigenschaft auftaucht), wird diese gespeichert. 88 Sehr schnell wird der Affe dann einen sinnvollen Text produzieren. Offensichtlich filtert der Evolutionsprozess solche richtigen Tastenkombinationen mit ziemlicher Sicherheit heraus. Gegen den Darwinismus wurde oft eingewandt, dass man die Entstehung des Auges nur durch Zufall und Notwendigkeit nicht erklären könne. Tatsächlich emergiert das Auge im Bereich der Wirbeltiere etwa vierzig Mal auf verschiedenen Linien, ohne dass supranaturale Kräfte am Werke wären. Auf kosmischer Ebene ist wahrscheinlich die Gravitationskraft dafür verantwortlich, dass winzige Unterschiede in der Massenverteilung immer weiter verstärkt werden und so sich Strukturen herausbilden; ähnlich hatte schon der junge Kant die Entstehung der Sterne erklärt. In den neueren Emergenztheorien sind teleologische Begriffe offensichtlich überflüssig. Auch für die kosmischen Feinabstimmungen kann man eine andere Deutung vorlegen: Wenn es nämlich nicht nur unser Universum gibt, sondern (wie schon Demokrit vermutete 89 ) eine sehr große Zahl von Universen, die entweder parallel mit unserem existieren (ohne dass wir etwas von ihnen mitbekommen könnten) oder wieder verschwunden sind, dann ist die Zweckmäßigkeit der Rahmenbedingungen und Naturgesetze gar keine Überraschung mehr. Wir haben vielmehr einfach das unverdiente Glück, im richtigen Universum zu leben. Allerdings dürfte man dann eigentlich nicht mehr von »Universum« sprechen, sondern stattdessen von einem »Multiversum«. 90 Diese Hypothese, die zurzeit in der Kosmologie diskutiert wird, entspricht historisch der Einsicht, dass es nicht nur ein Sonnensystem gibt, sondern derer viele – es ist also eine weitere Steigerung der ursprünglich durch Kopernikus ausgelösten kosmologischen Kränkung. Während das anthropozentrische Prinzip in seinen stärkeren Fassungen den Menschen in den Mittelpunkt rückt, wird er durch die Hypothese vom Multiversum weiter dezentriert: Leben ist ein periphe-

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Dawkins, Der blinde Uhrmacher, Kap. 3. Demokrit, DK 68 A 40 (ed. Mansfeld). Rees, Das Rätsel des Universums, Kap. 11.

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res und extrem seltenes Phänomen. Wir sind noch einsamer im Weltall als früher angenommen. Sollten diese Überlegungen richtig sein, kann man an dieser Stelle zwei weitere Gedanken zum Verhältnis von Wissenschaft und metaphysischem Sinn ergänzen. Auf der einen Seite hat spätestens seit der Speziellen Relativitätstheorie von 1905 das naturwissenschaftliche Wissen seine Anschaulichkeit verloren. Offensichtlich sind unsere Sinne und vielleicht sogar unser Verstand überfordert, wenn die Grenzen des Mesokosmos, der gleichsam unsere ökologische Nische bildet, überschritten werden. Auf jeden Fall gibt es keine Möglichkeit der Veranschaulichung des Wissens, das die Relativitätstheorie für den makro- und die Quantentheorie für den mikrokosmischen Bereich erbracht haben. Auch die Mathematisierung anderer Wissensbereiche, etwa der Biologie durch Molekulargenetik und Soziobiologie, schreitet voran. Wenn das Verstehen komplexer Zusammenhänge nur durch deren ›Übersetzung‹ in alltagssprachliche Formulierungen, eventuell sogar in konkrete Bilder, möglich ist, dann finden wir als Menschen nur im Mesokosmos einen Sinn. In einem anderen Sinn von »verstehen« erschließen uns die Wissenschaften diese Welten sehr wohl: Es geht überall mit rechten Dingen zu; alles lässt sich prinzipiell erklären, wenn auch nicht von jedem und noch nicht in jedem Einzelfall. Aber durch ihre prinzipielle wissenschaftliche Erklärbarkeit verliert die Natur (zumindest in dieser Perspektive) ihre Geheimnisse und ihre tiefere Bedeutung; diesen Prozess hat Max Weber als »Entzauberung« gedeutet. Schon vorher stellte Nietzsche fest: Je mehr wir über die Welt wissen, umso sinnloser erscheint sie uns. 91

(4) Die Wissenschaftstheorie des transzendentalen Idealismus Dem objektiven Idealismus und den vier Varianten des Realismus stellt Kant seine kritische Transzendentalphilosophie gegenüber. Er plädiert also auch in Sachen Teleologie für eine kopernikanische Nietzsche, Morgenröthe, § 551: »Wie kommt es, dass, je begreiflicher die Welt geworden ist, um so mehr die Feierlichkeit jeder Art abgenommen hat?« (KSA III: 321 = S I: 1271). Ein Echo davon findet sich in dem Buch des berühmten Astrophysiker Steven Weinberg, Die ersten drei Minuten, 162: »Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch.« Im Original heißt es statt »sinnloser« »more pointless«.

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Wende. Teleologische Phänomene sind weder Eigenschaften der Dinge noch der Erscheinungen, also der empirischen Realität. Vielmehr handelt es sich um unsere Zutaten. Zweckmäßigkeit in jeder Form ist ein subjektives Prinzip. Um das zu erläutern, muss ich etwas weiter ausholen und die Kausalitätsanalyse aus der »Kritik der reinen Vernunft« darstellen. 92 Hume hatte überzeugend nachgewiesen, dass eine kausale Verknüpfung zweier Ereignisse niemals aus diesen selbst abgelesen werden könne; Kausalität ist nichts, was wir in den Dingen bzw. Phänomenen selbst finden. Kausalität ist vielmehr ein menschliches Produkt, eine Hinzufügung unserer Erkenntnisvermögen, Hume vermutet: unserer Einbildungskraft. Damit ist die Objektivität wissenschaftlicher Aussagen in Frage gestellt. Um dieses schwierige Problem zu klären, sollten wir zunächst mit Kant verschiedene Ebenen unterscheiden, auf denen der Begriff der Kausalität eine Rolle spielt. Auf der ersten Ebene gibt es singuläre Kausalaussagen, beispielsweise die Aussage, dass ein Windstoß in der Rostocker Augustenstraße ein Fahrrad umstieß. Auf der zweiten Ebene finden sich spezifische Kausalgesetze, etwa die Gesetzmäßigkeiten einer gleichmäßig beschleunigten Bewegung im freien Raum (Fallgesetz). Kant spricht hier meistens von Regeln bzw. empirischen Gesetzen. Die Diskussion, ob Naturgesetze deterministisch oder probabilistisch (bzw. statistisch) seien, gehört auf dieses Niveau. In der Thermodynamik waren erstmals statistische Gesetzmäßigkeiten an die Stelle eines strengen Determinismus getreten; auch Phänomene wie die Radioaktivität und die Brownsche Molekularbewegung lassen sich nicht ohne Wahrscheinlichkeiten erklären. Peirce hatte als erster Philosoph daraus Konsequenzen gezogen. Durch die Quantenphysik wird nicht, wie Heisenberg im ersten Überschwang seines Erkenntnisdurchbruchs vermutet, das Kausalprinzip aufgehoben, sondern nur die Möglichkeit singulärer Kausalaussagen bestritten. Kurz gesagt: Die Thermodynamik bestreitet die faktische Möglichkeit singulärer Kausalaussagen, die Quantenphysik die prinzipielle Möglichkeit singulärer Kausalaussagen. Die ersten beiden Ebenen sind Sache der »Naturgeschichte« im klassischen Sinn (als einer Erkundung von Einzelfällen) und der verschiedenen speziellen Naturwissenschaften. Die Philosophie kann sich in diese Dinge nicht ein-

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Vgl. Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft, 186–193.

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mischen. Auf der dritten Ebene geht es um Kausalität, um das Kausalgesetz im Singular, für das bei Kant meistens der Ausdruck »Mechanismus« besteht. Darauf kommen wir gleich zurück. In der »Kritik der reinen Vernunft« richtet sich Kants Interesse jedoch auf eine vierte, noch abstraktere bzw. fundamentalere Ebene, auf den transzendentalen Begriff der Kausalität. Wir können auch sagen, es geht um das Kausalprinzip überhaupt. Ein solches ist (wie Hume gezeigt hatte) aus den Phänomenen nicht herauszulesen, es ist eine subjektive Hinzufügung. Gegen Hume weist Kant aber nach, dass es sich nicht um eine durch Akkulturation erworbene Gewohnheit, sondern um einen kulturunabhängigen Begriff unseres reinen Verstandes handelt. Ohne diesen könnten wir die Wirklichkeit als solche überhaupt nicht erfassen und keine empirisch-theoretischen Aussagen formulieren; es handelt sich also um eine unausweichliche Präsupposition. Inhaltlich ist es eine Version des Satzes vom Grunde, nämlich dessen naturphilosophische Variante »Nichts geschieht ohne Ursache«. Da der Verstand, so Kants Konzeption, immer mit der Sinnlichkeit zusammenarbeitet, wird die transzendentale Kategorie der Kausalität in eine der beiden reinen Formen der Anschauung, die Zeit, übersetzt und so zu dem Schema der zeitlichen Nichtumkehrbarkeit einer notwendigen Ereignisfolge (KrV B 183). In Anwendung auf mögliche Erfahrung kommt der empirische Begriff der Veränderung hinzu; der entsprechende Grundsatz des reinen Verstandes lautet: »Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung.« (KrV B 232) Nur durch dieses Kausalprinzip, das allen explanativen Aussagen zugrunde liegt, sind überhaupt eine zusammenhängende Alltagserfahrung und eine wissenschaftliche Weltsicht möglich. Wenn wir aber von der vierten zur dritten Ebene zurückkehren, so unterscheidet Kant dort verschiedene Arten von Kausalgesetzen, nämlich drei. Die erste ist die Kausalität der Wirkursachen (nexus effectivus). Diese gewinnt Kant in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« dadurch, dass er das transzendentale Kausalprinzip auf den Begriff der Materie anwendet; so gelangt er zu dem Naturgesetz »Alle Veränderung der Materie hat eine äußere Ursache« (MAN IX: 109). In der »Kritik der Urteilskraft« spricht Kant auch einfach von Mechanismus oder einer bewegenden Kraft (vgl. KdU § 81 u. ö. sowie § 65/X: 322 u. § 72/X: 340). Von der entsprechenden kausal-mechanischen Erklärung sind teleologische Erklärungen zu unterscheiden, die es aber in zwei Formen A

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gibt. 93 Die eine (und somit zweite Form des Kausalgesetzes) ist die Kausalität der Zweckursachen (nexus finalis), auf die sich die teleologischen Erklärungen beziehen. Sie unterscheidet sich vom Kausalmechanismus dadurch, dass nicht äußere, sondern innere Ursachen wirken; das ist nach klassischer Auffassung nicht bei der Materie, sondern beim Phänomen des Lebens der Fall. Darauf beruht, wie schon erwähnt, das dritte Merkmal der Selbstorganisation, durch das sich Organismen von Maschinen unterscheiden. Kant spricht hier von einer bildenden Kraft bzw. einfach von Teleologie. Wir haben oben bereits diese Konzeption zurückgewiesen. An deren Stelle können allerdings funktionale Erklärungen treten, in denen die Aufmerksamkeit nicht auf kausale Wirkfaktoren gerichtet wird, sondern auf dynamische Systeme und die Zweckmäßigkeit ihrer Elemente für das Prozessieren des Ganzen. Die neueren Systemtheorien arbeiten in erster Linie mit solchen funktionalen Erklärungen. Die Kausalität der Zwecke darf man nicht verwechseln mit der dritten Art eines Kausalgesetzes, der Kausalität nach Zwecken. Darunter versteht Kant die Fähigkeit eines zwecksetzenden Wesens, seine Vorstellungen in der Wirklichkeit kausal wirksam werden zu lassen. Das ist nichts anderes als eine Kausalität nach Begriffen bzw. die Kausalität der praktischen Vernunft selbst. Nach diesem Erklärungstypus gibt es also nicht nur die Zweckmäßigkeit von Formen oder Prozessen, sondern sogar die Zwecktätigkeit eines Subjekts. Der Begriff des Subjekts oder der Person liegt auf derselben Ebene wie die Begriffe »Materie« und »Leben« (bzw. »System«). Eine solche Sichtweise nehmen wir auch gegenüber uns selbst und gegenüber allen anderen Menschen ein; wir denken uns und andere Personen als Wesen, die Zwecke setzen und Zwecke verwirklichen können. In moderner Terminologie kann man auch von intentionalen Erklärungen sprechen. Es sei noch einmal betont, dass das transzendentale Prinzip der Kausalität und das Schema der unumkehrbaren zeitlichen Abfolge unausweichliche Präsuppositionen sind; wir können Natur gar nicht anders denken als unter einem solchen Kausalprinzip. Auch die drei Arten des Kausalgesetzes bzw. die drei genannten Erklärungstypen liegen noch den Wissenschaften und unserer Alltagserfahrung voraus; es sind ebenfalls vorempirische Konstruktionen, aber keine unhintergehbaren. Vielmehr handelt es sich um drei konstitutive Einstellungen, die wir auf der Grundlage des transzendentalen Kau93

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Vgl. Marc-Wogau, 328–336; Hartmann, Teleologisches Denken, 25.

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salprinzips gegenüber der Welt einnehmen können und die sich empirisch bewähren müssen. Durch sie wird jeweils ein Phänomenbereich konstituiert bzw. eine bestimmte Begrifflichkeit impliziert. 94 Sehr verkürzt gesagt: Die kausalen Erklärungen erfordern eine Ontologie der Gegenstände, die funktionalen Erklärungen eine Ontologie der Systeme und die intentionalen Erklärungen eine Ontologie der Subjekte. Kant lässt jedoch nur kausale Erklärungen zu; teleologische Aussagen sind nur als deskriptive möglich, nicht als explanative. Der gemeinsame Fehler aller realistischen Positionen sei es, »Zweckmäßigkeit« für einen Begriff der bestimmenden Urteilskraft und damit für das Prinzip einer Erklärung zu halten (KdU § 74). Hinter dieser Auffassung steht Kants sehr strenger Begriff von Wissenschaft, der sogar darüber hinaus noch die Mathematisierung aller Aussagen erfordert. Aus heutiger Sicht sollte man in diesen Dingen liberaler sein als Kant. Wissenschaft ist kein Singular mehr, sondern ein Plural, bei dem die Königsdisziplin nicht eindeutig festgelegt ist. Deshalb können verschiedene Erklärungstypen zu ihrem Recht kommen, also auch funktionale und intentionale. Ausschlaggebend dafür sind nicht ontologische Gründe. Auch nach meiner Auffassung, die oben im Zusammenhang mit dem Begriff der Emergenz dargelegt wurde, ist prinzipiell alles in einer kausalen Terminologie erklärbar. Aber zum einen sind wir faktisch weit von kausalen Erklärungen des menschlichen Lebens und sozialer Phänomene entfernt. Zum anderen würden wir wohl, selbst wenn beispielsweise moralisches Handelns oder kriegerische Auseinandersetzungen irgendwann einmal in ferner Zukunft physikalistisch erklärt werden könnten, aus pragmatischen Gründen bei intentionalen Erklärungen bleiben. Wer biologische Organismen und ökologische Zusammenhänge, vielleicht auch soziale Systeme betrachtet, wird mit kausalen Erklärungen nicht die Antworten finden können, für die er sich interessiert. Das gilt a fortiori für menschliche Handlungen; in der Geschichtswissenschaft sind schon funktionale, aber erst recht kausale Erklärungen völlig unergiebig. Systeme mit zweckmäßigen Eigenschaften und zwecktätige Subjekte lassen sich nicht vollständig aus den Wissenschaften eliminieren; Restbestände einer teleologischen Sprache sind unverzichtbar. Neben transzendentalen Prinzipien und konstitutiven EinstelVgl. eine ähnliche Konzeption bei Dennett, Intentional Systems, 4 ff.; ders., The Intentional Stance (1987).

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lungen kennt Kant noch regulative Ideen, und zwar regulative Ideen für die Vernunft und für die reflektierende Urteilskraft. Diese dienen nicht der Erklärung der Natur, sondern der Systematisierung der Erkenntnisse und der Anleitung ihrer Erforschung; sie sind also heuristisch wertvoll. Meine These lautet nun, dass Kant die Prinzipien des schwachen und des starken teleologischen Denkens, die Begriffe der vollkommenen Ordnung und des zweckmäßigen Ganzen, für eine wissenschaftliche Heuristik rehabilitiert. 95 Sowohl die systematische Einheit der Erscheinungen (etwa in Form der Kette der Wesen) als auch die Zweckmäßigkeit der Natur sind keine Eigenschaften der Erscheinungen, sondern regulative Ideen, die unsere Vernunft konsequenterweise entwickelt. Das soll im Folgenden erläutert werden. Im Dialektik-Kapitel der »Kritik der reinen Vernunft« hatte Kant gezeigt, dass wir durch reines Denken nicht zu Wissen über die Welt gelangen können. Aber das Ergebnis dieser Analysen ist nicht nur negativ. Das begründet Kant erstaunlicherweise teleologisch: Es sei unwahrscheinlich, dass unsere reine Vernunft völlig nutzlos ist, dass die Ideen gleichsam zwecklose Konstruktionen seien. »Alles, was in der Natur unserer Kräfte gegründet ist, muß zweckmäßig und mit dem richtigen Gebrauch derselben einstimmig sein … Also werden die transzendentalen Ideen allem Vermuten nach ihren guten und folglich immanenten Gebrauch haben« (KrV B 670 f., vgl. B 697). Diese teleologische Hypothese bestätigt Kant, indem er zeigt, dass die drei Vernunftideen als regulative Ideen dienen können. Zwar führen sie nicht zu neuen Erkenntnissen über die Welt; für den Fortschritt der empirischen Wissenschaften sind sie nutzlos. Aber sie dienen einer anderen Art des Fortschritts, den man im Unterschied zum eben angesprochenen horizontalen Wissenszuwachs als vertikalen Fortschritt bezeichnen könnte: Sie dienen der Systematisierung der bereits gewonnene Erkenntnisse und zeigen auf, an welchen Stellen noch Lücken bestehen. Auf diese Weise geben sie dem wissenschaftlichen Forschungsprozess Einheit und Richtung. Es gibt drei regulative Ideen dieser Art: (a) Einheit (Homogenität): Kant spricht auch vom »Prinzip der Gleichartigkeit des Mannigfaltigen unter höheren Gattungen« (B 685). Wir sollten sparsam sein mit der Annahme von Entitäten.

Vgl. Bischof, Ordnung und Organisation als heuristische Prinzipien des reduktiven Denkens, 88 ff., 100 ff., 122 ff.

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Die Schulregel lautet: entia praeter necessitatem non esse multiplicanda (B 680). Ein Beispiel dafür sind die Bestrebungen der Physiker, die verschiedenen Grundkräfte auf eine einzige zurückzuführen. (b) Mannigfaltigkeit (Spezifikation): Kant spricht auch vom »Grundsatz der Varietät«. Die Schulregel lautet: entium varietates non temere esse minuendas (B 684). Die Verschiedenheit der Entitäten darf nicht grundlos reduziert werden. Ein Beispiel dafür sind die Bestrebungen der Chemiker, das Periodensystem vollständig auszufüllen. (c) Verwandtschaft (Kontinuität): Dieses Prinzip entsteht, so Kant, durch die Vereinigung der ersten beiden. Er spricht auch von der »Affinität aller Begriffe« (B 686). Die Schulregel lautet: non datur vacuum formarum bzw. datur continuum formarum (B 687). Populär ausgedrückt: Die Natur macht keine Sprünge. Vielmehr orientiert sich alles am Begriff der Kontinuität (Stetigkeit), der keine Kategorie ist, sondern eine regulative Idee, die die ersten beiden verbindet. Ein Beispiel dafür sind die Bestrebungen der Biologen, die »missing links« in der Stammesgeschichte der Lebewesen zu finden und damit die Lücken in der Evolutionstheorie zu schließen. Insgesamt ergibt sich aus den drei forschungsleitenden Regeln die Leitidee einer systematischen Einheit der Wissenschaft. Es sollte noch einmal klargestellt werden, dass diese regulativen Ideen keine Gegenstandsbegriffe sind, schon gar keine transzendentalen Kategorien, ohne die wir überhaupt nichts erkennen könnten; es sind aber auch nicht bloß logische Prinzipien oder Schlussformen, die als »leere Gedankendinge« (B 697) für unser Weltwissen völlig nutzlos wären. Es handelt sich vielmehr um transzendentale Ideen, um »Maximen der Vernunft« (B 694), die wir mit Notwendigkeit entwickeln – zu heuristischen Zwecken. Wie man unschwer erkennen kann, sind in den drei aufgezählten heuristischen Maximen die Grundgedanken der klassischen Idee einer Kette der Wesen enthalten (vgl. III.1.1.). Allerdings beziehen sich diese jetzt nicht auf das Wesen der Dinge, auch nicht auf diese als Erscheinungen, sondern auf unser Wissen von ihnen. Es gibt die große Kette der Wesen – aber nur als Anleitung zur Systematisierung unserer Forschungsergebnisse. Ob eine entsprechende systematische Einheit in der Welt selbst existiert, können wir aufgrund der Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeiten niemals wissen. Allerdings scheint die Natur gegen diese regulativen Ideen, metaphorisch gesprochen, kein Veto einzulegen; sonst würden unsere Systematisierungsbemühungen immer wieder scheitern. InA

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sofern besitzen die drei Forschungsregeln, wie Kant schreibt, eine »unbestimmte, objektive Gültigkeit« (B 697, vgl. B 692). In der »Kritik der reinen Vernunft« scheint es so, als wolle Kant nachweisen, dass in den drei regulativen Ideen auch die Zweckmäßigkeit bereits enthalten sei. Tatsächlich meinte Kant zunächst, mit seiner ersten Kritik bereits die gesamte Propädeutik für eine neue Metaphysik abgeschlossen zu haben. Aber bereits wenig später wurde ihm klar, dass er zwei weitere kritische Analysen würde vornehmen müssen, die zu der »Kritik der praktischen Vernunft« und der »Kritik der Urteilskraft« führten. Der Begriff der Zweckmäßigkeit gehört nämlich, in Kants Terminologie, nicht in den Bereich der Vernunft, sondern in den der reflektierenden Urteilskraft. Auch »Zweckmäßigkeit« ist ein subjektiv-apriorisches Prinzip, das wir notwendigerweise entwickeln; aber wie die Vernunftideen dient es nicht als transzendentales oder als konstitutives Prinzip, sondern als regulative Idee, in diesem Fall nicht zur Systematisierung bereits vorhandener Erkenntnisse, sondern als Anleitung für den Erwerb neuer. Es betrifft also, in wissenschaftstheoretischen Termini, den »context of discovery«, den Forschungszusammenhang, nicht den Kontext der Systematisierung, schon gar nicht den »context of justification«, also die Begründung wissenschaftlicher Aussagen. Wir unterstellen der lebendigen Natur das Prinzip der Zweckmäßigkeit, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, die selbst aber nicht teleologisch formuliert sein werden. Um die Wissenschaft zu befördern, sollten wir alles so betrachten, als ob es zweckmäßig ist. Wir geben der lebendigen Natur damit eine Art Vertrauensvorschuss; die wissenschaftstheoretische Leitidee der Zweckmäßigkeit hat insofern denselben Status wie die Sinnunterstellung in der Hermeneutik. Ein Beispiel für die Zweckmäßigkeit als heuristisches Prinzip sei dargestellt: Klapperschlangen haben an ihrem Kopf zwischen Nase und Augen zwei grubenartige Vertiefungen. Die biologische Forschung folgte nun dem regulativen Prinzip der Zweckmäßigkeit: Wozu ist dieses Phänomen da? 1937 wurde das Rätsel gelöst: Die Gruben sind ein Sinnesorgan, das Infrarotstrahlung wahrnimmt; damit können kleine Warmblüter, die die Schlangen gern verspeisen, in der nächtlichen Kühle auf größere Distanz geortet werden. 96 Die Funktion des Grubenorgans war gefunden. Man kann inzwischen auch kausal erklären, wie es funktioniert: Die Grube ist überspannt von 96

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Das Beispiel entnehme ich: Bischof, Das Rätsel Ödipus, 179.

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einer Membran mit Nerven, deren Enden nicht auf die Temperaturhöhe reagieren, sondern auf Temperaturunterschiede zwischen der Außen- und Innenseite der Membran. Veränderungen der Gesamttemperatur, wie wir sie etwa mit einem Thermometer messen, bleiben deshalb unberücksichtigt. Durch die Paarigkeit des Grubenorgans kann die Einfallsrichtung der Infrarotstrahlen besser wahrgenommen werden. Auch auf das anthropische Prinzip können wir in diesem Zusammenhang noch einmal zurückkommen: Das finale anthropische Prinzip ist Beispiel für eine starke Teleologie, das starke anthropische Prinzip für eine schwache Teleologie; zu rechtfertigen ist jedoch allein das schwache anthropische Prinzip, das als heuristische Anleitung für die kosmologische Forschung dienen kann. Wie die vorempirischen Einstellungen muss sich das Prinzip der Zweckmäßigkeit bewähren; es ist keine unhintergehbare Präsupposition, sondern eine widerlegbare Präsumtion. 97 Im Unterschied zur regulativen Idee einer systematischen Einheit scheitert das Prinzip der Zweckmäßigkeit oft (ohne dass wir es deshalb aufgeben müssten); es gibt in der Natur vieles, was nicht zweckmäßig ist, sondern sogar zweckwidrig. Das gilt bereits für die Deutung der Darwinschen Evolutionstheorie im Sinne einer schwachen Teleologie. Die Evolutionstheorie, so hat vor allem Stephen Jay Gould betont, dürfe nicht im Sinne eines Panglossianismus verstanden werden, also einer teleologisch-optimistischen Weltsicht, wie sie Voltaire im »Candide« persiflierte. Es ist nämlich nicht alles in der Natur zweckmäßig geordnet. Nicht Vollkommenheit, sondern bloßes Überleben oder gesteigerte Macht (in einem weiten Sinne) ist das Ergebnis der Evolution. Aristoteles behandelte die funktionslosen Aspekte der Natur in Buch V der »Zeugung der Tiere«. Darwin beschäftigte sich mit Rudimenten, überflüssigen Überbleibseln früherer Phasen der Naturgeschichte. Aber nicht nur die objektiv-innere Zweckmäßigkeit der Natur ist begrenzt, auch die objektiv-äußere: 99 % aller Tierarten sind im Laufe des Evolutionsprozesses ausgestorben, von optimaler Anpassung kann also in den meisten Fällen keine Rede sein. Viele Belege dafür, dass die Natur nicht zweckmäßig ist, finden wir ausgerechnet an einer Stelle, die für uns besonders wichtig ist: an unserem eigenen Körper. Kant selbst hat in einer kleinen Schrift eine Liste der Schwächen unseres Leibes erstellt, die man aus heutiger Sicht verlängern muss (XII: 767 ff.): Probleme mit der langen 97

Abweichend von Illies, Jenseits der Gene, 224–227. A

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Schwangerschaft und Gefahren beim Geburtsvorgang, Neigung zu Schwindelgefühlen und Krampfadern, riskante Verdrehung des Rachenraumes, die Infektionen erleichtert, die Kreuzung von Atemund Nahrungswegen usw. Der Mensch ist, wie Kants Schüler Herder ausführt, ein Wesen voller Mängel. Diese Zweckwidrigkeiten können nur teilweise ausgeglichen werden. Man kann sie auch als Folgeerscheinungen des aufrechten Ganges ansehen, durch den der Mensch »auf der einen Seite unendlich viel über die Tiere gewinnt, aber auch mit den Ungemächlichkeiten vorlieb nehmen muß, die ihm daraus entspringen, daß er sein Haupt über seine alte[n] Kameraden so stolz erhoben hat« (XII: 769). Wenn die Schwächen der menschlichen Natur so als Kehrseite unseres aufrechten Ganges (und unserer Sprachfähigkeit) gedeutet werden, geben wir ihnen eine symbolische Bedeutung, ähnlich wie es Blumenberg mit dem dritten Hauptsatz der Thermodynamik getan hat. Solche konstitutionellen Schwächen und Unvollkommenheiten sind aber nichts gegen das »physische Zweckwidrige«, das Kant in der Natur findet: den Schmerz bzw. das Leiden (XI: 107). Hinzu kommt die prinzipielle Unvollkommenheit des Menschen: seine Endlichkeit bzw. seine Sterblichkeit. Welchen Sinn haben Schmerz und Sterblichkeit, Leiden und Tod? Sind dies nicht Phänomene, die endgültig jede teleologische Deutung der Natur scheitern lassen? Darauf kommen wir später zurück (Teil IV). Einen vergleichbaren Status wie das Prinzip der Zweckmäßigkeit hat der Begriff der Zwecktätigkeit. Wir betrachten die menschliche Welt so, als ob die in ihr agierenden Subjekte zwecktätig sind, also Zwecke setzen können und verwirklichen wollen. Auch diese Präsumtion scheitert oft, etwa wenn wir es mit Menschen zu tun, die physisch oder psychisch krank sind, wenn Handlungen unter äußerem Zwang oder aufgrund von struktureller Gewalt geschehen. So wie der Begriff der Zweckmäßigkeit die widerlegbare Präsumtion der Wissenschaften ist, die mit funktionalen Erklärungen arbeiten, so ist der Begriff der Zwecktätigkeit die widerlegbare Präsumtion der Wissenschaften, die mit intentionalen Erklärungen arbeiten. Obwohl sich beide oft nicht bewähren, halten wir an ihnen als regulativen Ideen fest. Allerdings dürfen wir uns durch sie nicht in die Irre führen lassen. Die Präsumtionen der Zweckmäßigkeit und der Zwecktätigkeit sind erstens unsere Zutaten und zweitens lassen sie sich oft nicht bestätigen. Weil wir sie aber nicht fallenlassen, entsteht immer wieder 176

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der Eindruck, dass das Ganze mit teleologischen Begriffen erfassbar sei. Das ist jedoch bloß ein transzendentaler Schein. 98 Ein transzendentaler Schein lässt sich nicht einfach beseitigen, wie dies bei einem Mangel an empirischem Wissen, einem einfachen Denkfehler (etwa einem der bekannten logischen Fehlschlüsse) oder einem sophistischen Überlistungstrick möglich wäre. Wie eine optische Täuschung hört der transzendentale Schein nicht auf; selbst dem Astronomen scheint der aufgehende Mond größer zu sein als der im Zenit stehende (KrV B 353 f.). Die teleologische Verfassung des Ganzen ist ein solcher transzendentaler Schein. Immer wieder drängt sich uns die Meinung auf, dass das Ganze sinnvoll sei – aber das stimmt (leider) nicht.

(5) Zwei komplementäre Weltsichten Es ist an der Zeit, ein kleines Fazit zu ziehen, das ich in wenigen Thesen verdichten möchte: • Die klassische Teleologie, nach der alles im Universum zweckmäßig sei und der Kosmos ein sinnvolles Ganzes darstelle, ist tot (1). • Eine moderne Teleologie, nach der das Universum ein funktionaldynamisches Ganzes sei und damit alles einen evolutionären Sinn habe, steht auf wackligen Füßen. Zudem ist es nicht der evolutionäre Sinn, nach dem wir in der modernen Metaphysik vorrangig fragen (2). • Prinzipiell ist alles durch die Kombination von Zufall und Notwendigkeit erklärbar (wenn auch nicht prognostizierbar). Zudem führt der Fortschritt der Wissenschaften dazu, dass das menschliche Leben im Universum als immer bedeutungsloser erscheint (3). • Dennoch halten wir aus pragmatischen Gründen an funktionalen und intentionalen Erklärungen fest. Diese verwenden die Prinzipien der Zweckmäßigkeit und der Zwecktätigkeit als regulative Ideen mit dem Status einer widerlegbaren Präsumtion. Aber selbst diese heuristischen Maximen scheitern oft. Gerade im Hinblick auf das, was uns absolut betrifft, stoßen wir auf Indifferentes und Zweckwidriges (4). Insgesamt kann man deshalb feststellen, dass sich auf wissenschaftlichem Wege kein Sinn des Ganzen entdecken lässt. Allerdings ist da98

Vgl. Hartmann, Teleologisches Denken, 10. A

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mit noch nicht das letzte Wort gesprochen. Die wissenschaftliche Betrachtung der Welt hat auf einer ganz prinzipiellen Ebene zwei Schwächen, die sich, so weit ich sehen kann, nicht beseitigen lassen. Erstens können wissenschaftliche Erklärungen nicht selbst wissenschaftlich erklärt werden. Man kann zwar die Entstehung und die Funktion der Wissenschaften erklären, aber nicht die Bedeutungen der wissenschaftlichen Termini, den Geltungsanspruch wissenschaftlicher Aussagen und deren argumentative Kraft. Eine physikalistische Begrifflichkeit ist aus physikalistischer Sicht im Grunde nicht möglich, weil ein Physikalismus gar keine Begriffe im eigentlichen Sinne zulässt. Nicht nur der Physikalismus der kausalen Erklärungen, auch Funktionalismus und Intentionalismus lassen sich nicht totalisieren. Dieses Problem der Begründung der Wissenschaften, das meines Erachtens nur kritisch-transzendentalphilosophisch lösbar ist, möchte ich hier nicht vertiefen. Interessanter für unsere Fragestellung nach dem Sinn des Lebens ist die zweite Schwäche eines wissenschaftlichen Blicks auf die Welt. Auch die modernen Wissenschaften sind in unserer Lebenswelt und unserer Alltagssprache verwurzelt; sie repräsentieren keineswegs die alleinige und selbstverständliche Zugangsweise zur Wirklichkeit. Vielmehr haben sie aus unserer lebensweltlichen Einstellung zur Welt eine bestimmte Perspektive abstrahiert und verabsolutiert, nämlich die Perspektive der dritten Person. Bereits mit den intentionalen Erklärungen wechseln wir von der Perspektive der dritten Person zu einer Perspektive der zweiten Person: Wer die Akteure der kulturellen Welt als Wesen betrachtet, die Zwecke setzen und verwirklichen können, nimmt ihnen gegenüber die Einstellung ein, die wir prinzipiell in unserer Lebenswelt gegenüber anderen Menschen haben; wir betrachten sie als ein Du, auf das wir antworten (könnten). Aber welche Einstellung nehmen wir gegenüber uns selbst ein? Wir können uns aus der Perspektive der dritten und aus der Perspektive der zweiten Person betrachten; beide Perspektiven sind für bestimmte Zwecke sogar notwendig. Darüber hinaus aber ist es für uns unerlässlich, uns auch aus der Perspektive der ersten Person zu betrachten, also von uns mit Vokabeln wie »ich« und »mich« zu sprechen. Damit verbunden sind teleologische Begriffe; wir müssen uns als Wesen betrachten, die selbst Zweck sind und damit absoluten Wert besitzen (GMS VII: 59 f. = 428). Die heuristischen Maximen der Zweckmäßigkeit und Zwecktätigkeit kann man, wie eben noch einmal wiederholt, nur als fehlbare Forschungsregeln festhalten; 178

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nicht-kausale Erklärungen sind eigentlich nur aus pragmatischen Gründen zulässig. Hingegen ist die Innenperspektive unhintergehbar; wir können auf unsere Selbstdeutung, die mit teleologischen Begriffen operiert, nicht verzichten. Diese rationalen Selbstdeutungen, die überhaupt nicht aus der Außenperspektive rekonstruierbar sind, können wir nicht auf unser Bewusstsein oder uns als kulturelle Wesen beschränken. 99 Wir verstehen uns selbst immer als eine Ganzheit, wenn auch oft eine zerrissene und ambivalente Ganzheit. Selbst wenn wir auf bewusste Zwecksetzungen verzichten, spüren wir, dass in uns Zwecke angelegt sind: Selbsterhaltung, sexuelles Begehren, vielleicht auch destruktive Triebe usw. Wir wissen aber auch, dass wir keine andere Naturgeschichte hinter uns haben als andere Lebewesen. Wir können unsere Natürlichkeit nicht verleugnen, sonst würden wir mit unserer Leiblichkeit, unseren somatischen Empfindungen (Schmerzen, Hunger usw.) und körperlich verankerten Gefühlen, unserer Natalität und Mortalität usw. nicht mehr zurechtkommen. Für ein einheitliches Selbstbild von uns als Individuen und als Gattung bedürfen wir also eines Verständnisses der Dimension unseres Wesens, die Natur ist wie alles andere auf diesem Planeten auch. Es gibt keine unüberbrückbare Kluft zwischen Menschen und Tieren. Alle Forschungsergebnisse an den großen Affen deuten darauf hin, dass deren Natur nicht allzu weit von unserer unterschieden ist. Wenn aber die Demarkationslinie zwischen Mensch und Affe keine mehr ist, kann man auch keine andere retten. Die teleologische Deutung unserer selbst, die wir aus der Innenperspektive vornehmen, betrifft also das Leben überhaupt, sogar den gesamten Kosmos. Es gibt also grundsätzlich zwei mögliche Einstellungen zum Ganzen. Einen vergleichbaren Perspektivendualismus finden wir bei dem großen Physiker des 20. Jahrhunderts, der am stärksten zu einer kantianischen Position tendierte: Niels Bohr. Er erkannte, dass unsere normalen Anschauungsformen und klassischen Begriffe als Grundlage auch für die unanschauliche und postklassische Physik unentbehrlich sind, gleichsam einen transzendentalen Status haben. Er betonte die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeiten, die konstitutive Rolle des Subjekts sowie die Unmöglichkeit, das Wesen der Erscheinungen zu erfassen. Ein kategoriales Angebot für den eben erwähn-

99

Spaemann, Philosophische Essays, 53. A

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ten Perspektivendualismus ist sein Begriff der Komplementarität. 100 Der Einführungskontext ist die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik, in der man davon ausgeht, dass es unmöglich ist, von den atomaren Objekten zugleich den Ort und den Impuls anzugeben. Für ein physikalisches Phänomen wie das Licht lassen sich zwei Beschreibungen geben, als Teilchen (Korpuskel) und als Welle; einen entsprechenden Dualismus hatte de Broglie auch für die Materie nachgewiesen. Die Beschreibungen schließen sich aus und sind dennoch beide richtig; das Phänomen ist nur verstanden, wenn beide Deutungen zusammengenommen werden. In ähnlichen Stellenwert hat der Begriff der »Doppelaspektivität« bei Plessner, der auf die belebte Natur bezogen wird. 101 Bohr war sogar der Ansicht, dass sich der Begriff der Komplementarität auch bei psychischen und sozialen Phänomen bewähren könnte. Das ergibt sich nach seiner Überzeugung daraus, dass wir sowohl Zuschauer als auch Mitspieler im Drama des Lebens sind. 102 Sowohl die Innen- wie die Außenperspektive sind also notwendig; nur gemeinsam ergeben die beiden Weltsichten ein zutreffendes Bild des Ganzen. Seitdem einwandfreie mathematische Reformulierungen gelungen sind, gehört der Begriff der Komplementarität in der Quantenphysik nicht mehr zum Lehrbestand. Das bedeutet aber nicht, dass eine Philosophie, die der lebensweltlichen Sichtweise und der Alltagssprache verbunden bleiben möchte, diesen Begriff ebenfalls aufgeben muss. Allerdings spricht Bohr von zwei komplementären Erklärungen der Phänomene. In meiner Rekonstruktion gehören (wissenschaftliche) Erklärungen insgesamt zur Außenperspektive; dieser stehen unsere rationalen Selbstdeutungen aus der Innenperspektive gegenüber. Aus der Außenperspektive sprechen alle empirischen Daten dafür, dass nicht nur unser individuelles Leben, sondern sogar das Leben überhaupt (trotz der These vom anthropischen Prinzip) bloß ein kleiner Auswuchs eines kleinen Auswuchses ist. 103 Aus der Innenperspektive geben wir nicht nur unserem Leben, sondern in mo100 Bohr, Atomtheorie und Naturbeschreibung, 6 f., 12 f., 15, 36 f., 55, 59, 62 f., 65, 76 u. ö.; ders., Einheit des Wissens, 147; vgl. Meyer-Abich, Korrespondenz, Individualität und Komplementarität (1965). 101 Vgl. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 81 ff.; ders., GS IX: Das Problem der Natur in der gegenwärtigen Philosophie, 68 ff. (mit Bezug auf Bohr). 102 Bohr, Atomtheorie und Naturbeschreibung, 77; ders., Einheit des Wissens, 156. 103 Quine, Theorien und Dinge (engl. 1981): »Die Physik erforscht die wesentliche Natur der Welt, und die Biologie beschreibt einen ortsspezifischen Auswuchs [eine Beule].

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ralischer Einstellung sogar dem Leben jedes Menschen einen absoluten Wert; wir können gar nicht anders, als uns selbst in den Mittelpunkt unserer Lebenswelt zu stellen. Diese beiden Deutungen des Lebens lassen sich nicht zur Deckung bringen oder in einem Kompromiss vermitteln. Das Leben hat also eine ambivalente Stellung im Kosmos. Der erste Vertreter einer solchen dialektischen Sichtweise war Blaise Pascal. Immer wieder spricht er von »Größe und Elend des Menschen«. 104 Für die eine Seite, die Nichtigkeit und Verlorenheit des menschlichen Lebens, stehen die unermesslichen Weiten des leeren Raumes. Für die andere Seite verweist er auf die Vernunft und Würde, die allein uns als animal rationale zukommt. Der Mensch gleicht einem zerbrechlichen Schilfrohr, die Natur kann ihn problemlos zerschmettern; aber er weiß um seine Schwäche und seine Vergänglichkeit, was ihn über diese erhebt. Dieselbe Position vertritt auch Kant, in seinen berühmten Sätzen am Ende der »Kritik der praktischen Vernunft«: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« (KpV VII: 300). Denn der erste Anblick, so führt Kant aus, macht selbst aus unserem Planeten einen kleinen Punkt in der Menge zahlloser Welten und aus meinem Leben den Bruchteil einer Sekunde. Der zweite Anblick hingegen erhebt mich als moralisches Subjekt über die gesamte Natur, gibt mir und allen menschlichen Wesen einen absoluten Wert. Ich bin ein Ding unter zahllosen anderen und eine Person neben vielen anderen. Dieser Widerstreit zwischen Innen- und Außenperspektive ist unaufhebbar. Wir würden gern einen einheitlichen Zusammenhang herstellen, aber es gelingt nicht. Unser Leben ist auf der theoretischen Ebene in sich zerrissen. Allerdings ist ein solcher Antagonismus lebensweltlich meistens ohne dramatische Konsequenzen. Viel gravierender sind die Sinngefährdungen, die wir im nächsten Kapitel aufzeigen möchten.

Die Psychologie – die Humanpsychologie – beschreibt einen Auswuchs des Auswuchses.« (zit. nach Keil, Quine zur Einführung, 143) 104 Pascal, Gedanken, 81 (Fr. 114/397), 84 f. (Fr. 122/416), 109 (Fr. 149/430), 246 (Fr. 430/ 431), 252 (Fr. 442/560a), 258 (Fr. 450/494), 363 (Fr. 613/443) u. ö. A

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2.

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Es ist eine These dieser Arbeit, dass die metaphysische Sinnfrage im engeren Sinne erst in der Moderne gestellt wird. Dennoch kann man die Antwort rekonstruieren, die antike Philosophen und christliche Denker gegeben hätten: Der Sinn des Ganzen sei im Kosmos bzw. in Gott zu finden; dort könnten wir den Sinn des Lebens entdecken (vgl. III.1.). Diese Auffassung wird jedoch in der frühen Neuzeit allmählich zurückgedrängt. Es findet ein Paradigmenwechsel statt, bei dem der Vorrang von der Theorie auf die Praxis übergeht: Sinn ist nicht mehr Gegenstand des Erkennens, sondern das Ergebnis des Handelns; an die Stelle der theoretischen Betrachtung der Welt tritt die praktische Gestaltung unseres Lebens. Man kann von einem metaphysischen Vico-Axiom sprechen: So wie Vico behauptete, dass wir nur das wirklich verstehen, was wir selbst geschaffen haben, so wird hier behauptet, dass das Leben nur den Sinn hat, den wir ihm selbst gegeben haben. Sinn wird nicht entdeckt, sondern produziert. Nicht mehr die theoretische, sondern die praktische Philosophie dient als Metaphysik. Wichtig für diesen Paradigmenwechsel ist das neuzeitliche Freiheitsbewusstsein: Wenn es stimmen würde, dass der teleologisch geordnete Kosmos sinnvoll ist, bestünde wahre Freiheit in der Einsicht in die naturgesetzlichen Notwendigkeiten und in der Einfügung in die vorgegebene Ordnung. Es wäre widersinnig, sich diesen Zusammenhängen zu entziehen. Dagegen begehrt der moderne Mensch auf: Die Welt an sich ist nicht sinnvoll, aber gerade dadurch gewinnen wir die Freiheit, ihr unseren Stempel aufzudrücken und Sinn zu stiften. Nur weil die Teleologie obsolet sei und Gott tot, können wir überhaupt ein sinnvolles Leben führen. 105 Dieser Paradigmenwechsel hat viele Vorläufer. Als den deutlichsten Ausdruck dieser Zäsur können wir die durch Kant vollzogene kopernikanische Wende rekonstruieren: Lange hat man vergeblich versucht, einen Sinn in der Welt zu finden; jetzt sollte man versuchen, ihn selbst in die Dinge hineinzulegen; nur im Handeln haben wir einen Zugang zum Unbedingten. Den besten Beleg dafür liefert eine Fußnote aus der »Kritik der Urteilskraft«; dort zieht Kant die Konsequenz aus seinen kritisch-transzendentalphilosophischen Überlegungen zu den Begriffen Zweck und Wert. (Wie oben bereits 105

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Vgl. N. Hartmann, Ethik, 21. Kap.; ders., Teleologisches Denken, 15 f. u. ö.

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Ethik als Metaphysik oder Praktizismus: Sinn geben

erwähnt, kennt er den metaphysischen Sinnbegriff noch nicht.) »Es bleibt also wohl nichts übrig als der Wert, den wir unserem Leben selbst geben durch das, was wir nicht allein tun, sondern auch so unabhängig von der Natur zweckmäßig tun, daß selbst die Existenz der Natur nur unter dieser Bedingung Zweck sein kann.« (KdU § 83/X: 393 Fn; vgl. KdU § 4/X: 121, § 86/X: 403 f.). Wir können dieses Zitat folgendermaßen interpretieren: 1. Die »Entzauberung« der Welt ist abgeschlossen und endgültig; in der Natur können wir keinen Sinn entdecken; auch in unserer inneren Natur finden wir keine vorgegebene Bestimmung dessen, was wir sein sollen. 2. Wir allein (man beachte den Plural!) können unserem Leben einen Sinn geben. 3. Das ist uns möglich, weil wir in einem starken Sinne unabhängig von der Natur sind, nämlich vernünftige Lebewesen, autonome Personen. 4. Unter dieser Voraussetzung vermögen wir sogar dem nicht-vernünftigen Seienden, der Natur, einen Sinn beizulegen. Aus diesem Paradigmenwechsel ergibt sich eine der populärsten Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens: Der Sinn des Lebens ist es, gut zu leben. Diese Antwort lässt sich aber auf zweierlei Weise ausbuchstabieren: 106 (1) Der Sinn des Lebens ist es, glücklich zu sein. (2) Der Sinn des Lebens ist es, moralisch zu sein. Die folgenden Kapitel werden sich diesen Antworten zuwenden; die entsprechenden Disziplinen sind im ersten Kapitel eine eher pragmatisch orientierte, oft typologisch verfahrende Philosophie der Lebenskunst (klassisch: »Eudämonologie«) und im zweiten Kapitel die argumentativ verfahrende, auf normative Verbindlichkeit zielende Moralphilosophie. In beiden Kapiteln werden schon einige interne Bedenken laut werden. Der entscheidende Einwand folgt aber erst im dritten Kapitel: Beides kann sinnvoll sein, die Glücks- und die Moralorientierung; aber leider stehen diese beiden Prinzipien in einem Spannungsverhältnis zueinander: Wir wollen glücklich sein und wir sollen moralisch sein. Weil außerdem noch zwei externe Einwände (Tod und Leiden) hinzukommen, ist letztlich auch die ethische Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens unbefriedigend. Dieses Scheitern macht den Übergang von der praktischen Philosophie zur Metaphysik nötig.

106

Vgl. Lenzen, Liebe, Leben, Tod, 121 ff. A

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(1) Sinn = Glück Alle Menschen wollen glücklich sein. Deshalb ist die Antwort, im Glück liege der Sinn des Lebens, so nahe liegend. Aber was heißt das? Ist es tatsächlich der richtige Weg? Diesen beiden Fragen widmet sich dieses Kapitel: Erstens ist der notorisch vage Begriff des Glücks mit Hilfe einer komplexen Typologie unterschiedlicher Glücksarten zu klären. Zweitens werden einige wichtige interne Bedenken gegen diese Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens präsentiert, zunächst gegen die verschiedenen Grundformen des Glücks (Zustandsglück, Strebensglück, Tätigkeitsglück), darüber hinaus aber auch gegen die Glücksorientierung überhaupt. (a) Was ist Glück? Kann man überhaupt etwas Allgemeines zum Glück sagen? Kant war in dieser Hinsicht skeptisch; für ihn gehört der Begriff des Glücks zu denen, die »mit allgemeiner Nachsicht herumlaufen«, sich aber nicht ausweisen lassen (KrV B 117). Tatsächlich ist eine Theorie des Glücks, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, wohl kaum möglich. Nichtsdestotrotz hat Kant den Begriff des Glücks schon am Ende der »Kritik der reinen Vernunft«, später in vielen anderen Schriften, einer näheren Bestimmung unterzogen. Eine solche, aber von Kant abweichende Explikation soll hier in wenigen groben Schritten vorgenommen werden, primär mit sprachanalytischen und typologischen Mitteln. In einem ersten Schritt sind verschiedene Glücksbegriffe zu unterscheiden. Das deutsche Wort »Glück«, im 12. Jahrhundert aus unbekannten Quellen entstanden, verdeckt die Mehrdeutigkeit dieses Begriffs, der sich sowohl auf das Glücklichsein wie auf das Glückhaben bezieht. Viele andere Sprachen sind differenzierter. So gibt es etwa im Lateinischen mindestens drei Ausdrücke für unser deutsches Wort »Glück«: felicitas, fortuna und beatitudo. Für das extern bedingte, gleichsam objektive Glück steht der Begriff des Schicksals (griech. moira, lat. fatum). Schicksal darf man nicht verwechseln mit Vorsehung (griech. heimarmene, lat. providentia), die einen Intellekt voraussetzt, der ein Geschehen plant und lenkt. Das Schicksal ereilt uns in zweierlei Form, aus Notwendigkeit (griech. ananke) oder durch Zufall (griech. tyche). In Bezug auf 184

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unser Glück sind mit Ersterem dauerhaft günstige äußere Lebensverhältnisse gemeint, die vorteilhafte Lage, der Segen, den man offensichtlich genießt, im Lateinischen felicitas. Eine solches Glück genießen im mythischen Weltbild die Götter; in agrarischen Verhältnissen besitzt felicitas, wer über einen fruchtbaren Boden verfügt; in der Moderne entsprechen dem die glücklichen Lebensverhältnisse in den demokratischen Wohlstandsgesellschaften. Davon zu unterscheiden ist fortuna, das Glücks des Zufalls: der Lottogewinn, die überraschende Wendung einer krisenhaften Situation zum Positiven, das Gelingen eines anspruchsvollen Vorhabens wider alle Erwartungen. Dieses Zufallsglück wird im Griechischen als eutychia bezeichnet, im Gegensatz zum unglücklichen Zufall, dystychia. Wer über felicitas und/oder fortuna verfügt, ist vom Glück begünstigt, er (oder sie) hat Glück. Über externe Umstände dieser Art haben wir aber keine Macht. Wenn man davon spricht, dass der Sinn des Lebens im Glück liege, so ist deshalb fast immer die intern bedingte, subjektive Seite des Glücks gemeint, das Glücklichsein. Für diese steht im Griechischen der Ausdruck eudaimonia, was wörtlich übersetzt bedeutet, dass man einen wohlwollenden inneren Dämon besitzt bzw. von einem guten Geist beseelt ist. Der lateinische Ausdruck ist beatitudo, das englische Wort happiness. Zur Abgrenzung von der dauerhaften Glückssituation der felicitas und dem Zufallsglück fortuna wird in der Philosophie, vor allem in den Übersetzungen antiker Texte, der etwas altmodische Begriff der Glückseligkeit verwendet. Die zweite Überlegung betrifft die zeitliche Dimension: Wer in einem elenden Leben nur einen Augenblick der Freude erlebt, und sei diese noch so überschäumend, dessen Leben würden wir nicht als glücklich und sinnvoll bezeichnen. Ohne zahlreiche Augenblicke des Glücks ist Glückseligkeit nicht denkbar, aber diese allein machen nicht glücklich. Glück ist nicht bloß ein kurzfristiger positiver Zustand, ein momentanes Wohlbefinden. Aber auch als Dauerzustand kann das Glück nicht sinnerfüllend sein. Ganz abgesehen davon, dass eine permanente Ausschüttung von Endorphinen wahrscheinlich gar nicht möglich und letztlich sogar schädlich ist, braucht jedes Glück als Kontrast oder Ansporn die Phasen, in denen man sich plagt und müht. Glück ist nicht identisch mit der Erfüllung aller Wünsche. Vielmehr sprechen wir zu Recht von einer glücklichen oder unglücklichen Kindheit, dem Glück eines erfüllenden Berufs oder eines Hobbys, einer glücklichen Ehe o. ä. Wir beziehen den Begriff der Glückseligkeit also auf zeitliche Perioden, wiederkehrende Aktivitäten oder A

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übergreifende Aspekte eines Lebens. Das gilt vor allem für moderne Gesellschaften, die Lebensläufe aus einem Guss kaum noch ermöglichen. Im Rückblick allerdings können wir den Begriff der Glückseligkeit auch auf die Gesamtkonstellation unseres Lebens beziehen. Die dritte Reflexion betrifft die Frage, wer entscheidet, ob ein Mensch glücklich ist oder nicht. Aus der Außenperspektive, allein mit den Instrumenten einer objektivierenden Wissenschaft ist dies nicht möglich. Messbar sind sicherlich der Lebensstandard und auch der sehr viel komplexere Begriff der Lebensqualität. Manche Autoren sprechen in diesen Zusammenhängen statt von Glück von Wohlergehen. Aber gegen eine Fremdzuschreibung von Glück würde sich jeder von uns wehren. Jedoch reicht auch die rein subjektive Beurteilung nicht aus: Es ist sehr wohl möglich, dass es einer Person subjektiv gut geht, sie aber nicht weiß, dass sie eine schwere Krankheit hat, ein geliebter Mensch gerade ums Leben gekommen ist usw.; der Extremfall ist die Person, die, ohne es zu wissen, angeschlossen ist an eine Erlebnismaschine, die sie permanent mit positiven Reizen versorgt. Das illusionäre Pseudoglück ist keine Glückseligkeit. Umgekehrt gibt es viele Menschen, die oft schlechter Stimmung sind oder unbegründete Befürchtungen hegen, obwohl die äußeren Lebensumstände dazu gar keinen Anlass bieten. In einer solchen Situation kann ein anderer mir durch liebevolle Zuwendung, triftige Argumente oder psychotherapeutische Intervention mein wahres Glück vor Augen führen. Sicherlich ist jeder für sein Glück die letzte Instanz; Glück muss immer aus der Innenperspektive erfahrbar sein. Aber das impliziert weder die Ausrichtung auf ein Glück der Innerlichkeit noch die Beliebigkeit eines radikalen Subjektivismus. Denn aus der Innenperspektive entwickelt jeder Mensch Kriterien, mit denen er zu seinen eigenen Absichten und Verhaltensweisen reflexiv Stellung bezieht; keiner will ein illusionäres, sondern ein für ihn zustimmungsfähiges Glück. Solche Urteile und deren Maßstäbe sind aber, weil wir keine absoluten Eremiten sind, in der Regel auch für andere verständlich. Auf dieser Grundlage kann man über Glückseligkeit diskutieren: Wer sich etwa vorgenommen hat, gesund zu leben, dem können wir von bestimmten Verhaltensweisen begründet abraten. Wenn dies nicht stimmen würde, müsste die Erörterung des Glücksbegriffs tatsächlich hier abgebrochen werden.

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(b) Arten des Glücks Auf Grund der bisherigen Überlegungen lassen sich jetzt, im insgesamt vierten Schritt, typologisch verschiedene Arten des Glücks unterscheiden. In der Realität überlagern sich diese; sicherlich sind sogar abweichende Typologien möglich, wenn wohl auch keine völlig anderen. Glück kann entweder als Zustand oder als Tätigkeit verstanden werden, als Ruhe oder als Bewegung. Wenn man Glück als einen Zustand auffasst, so sind damit nicht äußere Zustände, wie Lebensumstände oder das günstige Schicksal gemeint, die zu den bereits betrachteten Formen des extern bedingten Glücks gehören. Glück wird als intern bedingter Zustand verstanden, der entweder negativ oder positiv bestimmt werden kann, also entweder als Abwesenheit von Negativem oder als Anwesenheit des Positiven. Das herausragende Beispiel für die negative Bestimmung ist die Seelenruhe (ataraxia), die in der hellenistischen Philosophie im Vordergrund stand, bei den Stoikern als Freiheit von allen störenden Affekten (apatheia). Die asketischen Bewegungen, die es in allen Epochen und Kulturkreisen gegeben hat, könnten hier ebenfalls genannt werden. Eine Radikalisierung dieses Zustands sind die Ideale des buddhistischen Denkens: die Erlösung von dieser Welt, das Erlöschen aller Bedürfnisse und schließlich das Verwehen des Selbst. Aber auch Adornos Utopie, »auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen«, wäre hier zu nennen. 107 Das Urbild dieses Glücks ist vielleicht unser vorgeburtlicher Zustand im Mutterleib. Dass die Seelenruhe einen unüberbietbaren Zustand des Glücks darstellt, braucht man nicht zu bezweifeln. Aber angesichts der Wechselhaftigkeit der äußeren und inneren Umstände ist ein solcher Zustand schwer zu erreichen und noch schwerer über längere Zeit aufrecht zu erhalten. Plotin soll nur viermal den Zustand einer absoluten mystischen Erfahrung erreicht haben. In einem sehr schönen Bild spricht Nietzsche von solchen Augenblicken als einem »großen Mittag«. Der positiv bestimmte Zustand ist die Lust (hedone). Lust, so kann man auch sagen, ist das Erlebnis eines Zustands, den wir beibehalten wollen; hingegen wollen wir den als Unlust erlebten Zustand möglichst schnell verlassen. Eine Schwäche des Hedonismus war im107

Adorno, GS IV: Minima Moralia, § 100. A

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mer der undifferenzierte Begriff der Lust. 108 Bei Kant findet sich folgende Unterscheidung: Für die sinnliche Lust, die durch das Angenehme hervorgerufen wird, verwendet er auch den Begriff des Vergnügens. Mit dem Begriff des Wohlgefallens bezeichnet er die ästhetische und die intellektuelle Lust, die vor allem mit dem Schönen und dem Guten verbunden sind (Anthr. § 60/XII: 550 ff.; KdU § 3, § 4). Statt Lust können wir in solchen Fällen auch von Freude sprechen. Diese bildet einen unverzichtbaren Bestandteil des Glücks, verbindet sich aber eher mit bestimmten Tätigkeiten als mit positiv erlebten Zuständen. Deshalb interessiert uns hier in erster Linie die sinnliche Lust, die wahrscheinlich die anthropologische Wurzel unseres gesamten Glücksempfindens ist, sowohl in der ontogenetischen wie in der phylogenetischen Dimension. Sie entsteht bei der Befriedigung unserer elementaren Bedürfnisse, vor allem im Bereich der Selbsterhaltung und Fortpflanzung. Generell erfahren wir dieses Wohlgefühl bei der Erfüllung von Wünschen. Man kann empirisch zeigen, dass die meisten Individuen in den demokratischen Wohlstandsgesellschaften den Sinn ihres Lebens in erster Linie in einem solchem Glück sehen: Spaß haben, etwas erleben, es sich gut gehen lassen. 109 Gegen eine ausschließliche Orientierung an diesem Glücksbegriff sprechen aber folgende Argumente. Erstens liegt dem Erlebnisglück eine verkürzter Bedürfnisbegriff zugrunde. Denn zum einen gibt es die Defizitbedürfnisse, die einen Mangel signalisieren und uns nach dessen Beseitigung streben lassen; Hunger und Durst sind die besten Beispiele, aber auch die Bedürfnisse nach Sicherheit und Freiheit dürften dazugehören. Zum anderen gibt es Wachstumsbedürfnisse, die nicht auf einem Mangel beruhen; Beispiele sind das Bedürfnis, mit anderen Menschen zusammen zu tun (das keineswegs auf der Unfähigkeit beruhen muss, mit sich selbst und seiner Freiheit zurechtzukommen), sowie das Bedürfnis, seine eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und zu aktualisieren, seien dies nun Kompetenzen sprachlicher, technisch-pragmatischer, ästhetischer oder kognitiver Art. Während die Befriedigung der Defizitbedürfnisse immer in einen homöostatischen Ausgangszustand zurückführt, treiben die Wachstumsbedürfnisse unsere Selbstverwirklichung voran. Die Be108 Als beste Analyse des Hedonismus kann immer noch gelten: Sidgwick, The Methods of Ethics, Book II: 117–195. 109 Schaeppi, Braucht das Leben einen Sinn?, 74 u. 99.

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friedigung der Wachstumsbedürfnisse geschieht jedoch nicht in Zuständen der Lust, sondern prozessual, also über Tätigkeiten. Der zweite Einwand wird als das hedonistische Paradox bezeichnet. Glück kann man nicht direkt herstellen; wer verzweifelt nach seinem Glück sucht, wird aus seiner Verzweiflung nicht herauskommen, also den Sinn des Lebens verfehlen. Alle Ratgeber der Lebenskunst empfehlen deshalb, sich geeignete andere Ziele zu setzen, bei deren Verfolgung sich das eigene Glück einstellen könnte, gleichsam hinterrücks. Wer hingegen daran festhält, möglichst unmittelbar Lustzustände zu erreichen, wird sich bald nur noch auf seine somatischen Bedürfnisse konzentrieren, denn allein diese erlauben eine direkte Befriedigung. Deshalb tendiert jeder Eudämonismus, auch wenn ihm ein umfassender Begriff des Glücks zugrunde liegt, notwendigerweise zu einem positiven Hedonismus, in dem wir von relevanten Sinnquellen abgeschnitten sind. 110 Lust ist bestenfalls eine notwendige Bedingung des Glücks, keineswegs eine hinreichende. Trotzdem ist nicht zu bestreiten, dass Seelenruhe und sinnliche Lust wichtig für ein gelungenes Leben sind. Entspannung und Befriedigung, jede Genugtuung nach der Bewältigung einer Aufgabe kann glücklich machen. 111 Kant schreibt: »Der größte Sinnengenuß, der gar keine Beimischung von Ekel bei sich führt, ist im gesunden Zustande Ruhe nach der Arbeit.« (Anthr. § 87) Wie aber aus der Formulierung von Kant deutlich wird, setzt auch das Zustandsglück Tätigkeiten voraus. Zudem ist das Leben nur ausnahmsweise ein (passiver) Zustand, vorwiegend aber Bewegung und Streben. Schon bei Aristoteles wird hervorgehoben, dass die Glückseligkeit nicht in einem Zustand, sondern einer Aktivität zu finden ist. Der Bereich der Tätigkeit zerfällt nach einer klassischen aristotelischen Unterscheidung, die von vielen wichtigen Denkern aufgegriffen wurde, in zwei Klassen: die zielorientierten Tätigkeiten (griech. poiesis) und die vollzugsorientierten Tätigkeiten (griech. praxis). Viele andere haben sich mit ihren kategorialen Unterscheidungen daran orientiert, etwa Hannah Arendt (Herstellen/Handeln), Jürgen Habermas (erfolgs-/verständigungsorientiertes Handeln) oder Erich Fromm (Haben/Sein). Im ersten Fall streben wir nach einem Ziel, im zweiten Fall liegt das Ziel 110 Scheler, GW II: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 339; auch in ders., Schriften zur Anthropologie, 276. 111 Für ein komplexes Modell des Glücks, das auch diese Formen berücksichtigt, vgl. Fromm, Psychoanalyse und Ethik, 143–149.

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schon in der Tätigkeit selbst. 112 Wir sprechen deshalb abkürzend zum einen vom Strebensglück und zum anderen vom Tätigkeitsglück (in einem engeren Sinne). Das Strebensglück beruht auf folgender Struktur: Wir wünschen uns etwas, ein Gut. Diesen Wunsch können wir uns nur erfüllen, wenn wir unser Handeln über längere Zeiträume auf dieses Ziel richten. Unter günstigen Umständen, vor allem stabilen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und ausreichenden individuellen Freiheiten, erwachsen aus solchen Wünschen Projekte für ganze Lebensphasen oder sogar regelrechte Lebenspläne. 113 Nicht beim Erreichen des Ziels, sondern bereits auf dem Weg dorthin, also in unserem Streben, sind wir glücklich, solange uns der Erfolg nicht als unmöglich erscheint. Selbstverständlich müssen wir auf eine bestimmte Art und Weise vorgehen, Voraussetzungen bedenken, Mittel umsichtig auswählen, negative Nebenwirkungen vermeiden usw. In der Terminologie von Habermas handelt es sich also um instrumentelle oder, sofern andere Menschen mit im Spiel sind, um strategische Handlungen. Beim Streben nach dem gewünschten Gut richten wir uns (implizit oder explizit) nach empirisch bewährten Regeln. Kant benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff der Geschicklichkeit (GzMdS VII: 44 = 415 f. u. ö.). Eine zweckmäßige Klassifikation der zahllosen Arten dieses Strebens kann nach Art der Ziele differenzieren: Es gibt erstens materielle Ziele, also Reichtum im weitesten Sinne, an materiellen Gütern, an Geld, an Kindern o. ä.; zweitens sind soziale Ziele zu nennen, vor allem Ehre, Ruhm und Macht; drittens kann man ideelle Ziele verfolgen, Wahrheit oder Moralität. Zielorientierte Handlungen hatten auch in Kants Philosophie der Lebenskunst einen hohen Stellenwert: »das Ausfüllen der Zeit durch planmäßig fortschreitende Beschäftigungen, die einen großen beabsichtigten Zweck zur Folge haben (vitam extendere factis), ist das einzige sichere Mittel, seines Lebens froh und dabei doch auch lebenssatt zu werden.« (Anthr. § 61/XII: 556) Für die entsprechenden Tätigkeiten verwendet er den Begriff der Arbeit; diese sei »die beste Art, sein Leben zu genießen« (Anthr. § 60/XII: 552) und allein in der Lage, jeden Ekel zu vertreiben (Anthr. § 14/XII: 443). Allerdings

112 Zur Unterscheidung von praxis und poeisis bei Aristoteles siehe NE I 1, NE VI 5 u. Met. IX 6. 113 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 445–454, 594–601.

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spricht Kant realistischerweise auch hier nicht von Glück, sondern von »Zufriedenheit« (Anthr. § 61/XII: 556). Drei Einwände lassen sich formulieren. Erstens besteht die Gefahr der Depravation. Das leidenschaftliche Streben kann zu einer Sucht werden, in der wir unsere innere Freiheit verlieren und keine Distanz zu den eigenen Zwecken mehr besitzen. Das Streben nach Reichtum wird zur Habsucht, das Streben nach Ruhm zur Ehrsucht und das Streben nach Macht zur Herrschsucht (Anthr. § 85). Nach Kant hat ein solcher Mensch »seinen Endzweck verfehlt«, weil er »der Geck (Betrogene) seiner eigenen Neigungen wird« (Anthr. § 84/XII: 608). Dahinter steht Kants Überzeugung, dass nur derjenige seinen Endzweck erfüllt, der moralisch lebt und gemäß der ZweckFormel des kategorischen Imperativs auch seine eigene Würde achtet. Eine Depravation anderer Art ist die Ersetzung absoluter durch relativer Ziele: Wer wollen nicht reich, berühmt und mächtig sein, sondern in erster Linie reicher, berühmter und mächtiger als relevante andere Personen; dadurch befördert diese Art des Glücksstrebens einen endlosen Konkurrenzkampf. Zweitens: Wer nach Reichtum, Ehre oder Macht strebt, selbst wenn dies in einem normativ verbindlichen Rahmen geschieht, kommt nie an ein Ende; denn Reichtum, Ehre und Macht lassen sich immer weiter vermehren. Insofern besteht hier ein Unterschied zum hedonistischen Erlebnisglück: Meine körperlichen Bedürfnisse lassen sich nicht unbegrenzt ausweiten; ich muss nicht immer mehr und besser essen, um mich beim Essen wohl zu fühlen (es sei denn aus Gründen der sozialen Distinktion, also wiederum einer Variante des Strebens nach Macht) – hier steht noch der Gebrauchswert im Vordergrund, nicht der Tauschwert. Diese zu einem infiniten Regress neigende Struktur des Strebensglücks lässt sich mit einem Begriff Hegels auf den Punkt bringen: schlechte Unendlichkeit. 114 Napoleon wollte Caesar übertreffen, dieser Alexander den Großen und dieser orientierte sich an Herakles, den es nie gegeben hat. 115 Schließlich lautet der dritte Einwand: Wenn ich mir vorgesetzt habe, einen bestimmten Endpunkt zu erreichen (der reichste, berühmteste, mächtigste Mann der Welt), und diesen Gipfel erklommen habe – was dann? Entweder setzt man sich ein neues Ziel und 114 Hegel, Werke V: 149 u. 155 u. VIII: 198 f. – allerdings richtet Hegel diese Denkfigur nicht gegen das Strebensglück, sondern gegen das Sollen. 115 Vgl. Russell, Eroberung des Glücks, 63.

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die schlechte Unendlichkeit beginnt von vorn – oder man stürzt das große Unglück einer post-teleologischen Depression. Martin Seel hat es prägnant formuliert: »Wer Glück als Planerfüllung faßt, muß dafür sorgen, daß der Plan nicht in Erfüllung geht.« 116 Sein Beispiel für das Unglück der Wunscherfüllung ist Graf Wronski aus Tolstois Roman »Anna Karenina«, für den »der einzige Sinn seines Daseins« darin lag, mit der geliebten Anna zusammen zu sein – und nachdem er dies gegen viele Widerstände endlich erreicht hatte, bald wieder unzufrieden wurde. 117 Auch Tolstoi selbst hat seine schweren Sinnkrisen kurz nach der Fertigstellung seiner beiden großen Romane erlebt. Der ewig strebende Faust ist nicht glücklich – und als er sein Ziel erreicht hat, heben die Lemuren schon sein Grab aus. Alle diese Gründe sprechen gegen die Auffassung, der Sinn des Lebens bestehe allein darin, im Streben nach bestimmten Zielen glücklich zu werden. Diese Konsequenz zog schon Aristoteles: Nicht nur das Genussleben, auch das auf Gewinn ausgerichtete kaufmännische Leben und das bloß nach Ehre strebende politische Leben sind unzureichend. Zu bevorzugen ist der andere Typus von Tätigkeiten, die Praxis im engeren Sinne, bei der das Ziel nicht das Ende, sondern der Weg selbst ist. Diese vollzugsorientierten Tätigkeiten geschehen um ihrer selbst willen; das Wie steht im Vordergrund. Da zwischen Mitteln und Zwecken nicht unterschieden wird, entfällt der Einwand der schlechten Unendlichkeit; an die Stelle der Linie, die sich im Endlosen verliert, tritt die gute Unendlichkeit des Kreises, auf dem jeder Punkt gleichberechtigt ist, nämlich in gleicher Entfernung vom Mittelpunkt. Prinzipiell können fast alle Tätigkeiten um ihrer selbst willen geschehen, sogar das vergebliche Hinaufrollen eines Steines auf einen Berg. Aber es gibt Tätigkeiten, die man nur um ihrer selbst willen vollziehen kann, für die die Selbstzweckhaftigkeit konstitutiv ist und die deshalb immer wieder als Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens genannt werden. Vier seien kurz vorgestellt. 118 Die erste Antwort gibt Aristoteles: Am besten sei das theoretische Leben (bios theoretikos), das reine Denken, das Fortschreiten von Einsicht zu Einsicht, die Schau des Göttlichen. Die aristotelische Bestimmung, selbst wenn man ihre religiösen Untertöne berücksichSeel, Art. Glück, 152; vgl. ders., Versuch über die Form des Glücks, 97 ff. Tolstoi, Anna Karenina, I 31 u. V 8. 118 Vgl. Seel, Versuch über die Form des Glücks, 138–176 (dort aber andere Bestimmungen). 116 117

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tigt, ist aber zu eng. Besser ist die lateinische Bezeichnung dieser Lebensform als vita contemplativa. Es gibt nämlich außer ihrer theoretischen Variante, an die Aristoteles allein denkt, noch weitere Formen der Kontemplation: zum einen die ästhetische Kontemplation, bei der wir ganz aufgehen in der Anschauung der schönen Natur, uns verlieren in der Wahrnehmung eines Kunstwerks oder sogar eines zweckgebundenen Artefakts 119 ; zum anderen die praktische Kontemplation, unter der hier die absichtslose Identifikation mit dem wohlwollend betrachteten Mitmenschen verstanden werden soll. 120 Darüber hinaus darf man die religiösen und metaphysischen Formen der Kontemplation nicht vergessen: das Gebet, die Meditation, die mystische Versenkung. Hier treffen sich Tätigkeit und Zustand, die Kontemplation wird zur Seelenruhe. Kontemplative Akte unterscheiden sich von den üblichen Weisen unserer Welterschließung dadurch, dass wir in ihnen einen unmittelbaren Zugang zu den Objekten erreichen, ohne Vermittlung von Begriffen oder von technischen Hilfsmitteln. In ihnen scheint sogar unsere Subjektivität aufgehoben zu sein; wir sind nicht mehr ein empirisches Subjekt, ein Individuum, sondern verschwinden im betrachteten Objekt. Dieses kann ein ideales Gebilde, eine Landschaft, ein Kunstwerk oder ein anderer Mensch sein, aber auch Gott, das Absolute oder unser wahres Selbst. In bestimmten Vollzügen solcher Akte wird sogar jeder Gegenstandsbezug und damit das SubjektObjekt-Verhältnis überhaupt aufgehoben. Aristoteles hat Recht, dass ein solches Leben den großen Vorteil besitzt, von äußeren Umständen weitgehend unabhängig zu sein; es erfüllt somit das von ihm genannte Kriterium der Selbstgenügsamkeit (Autarkie) auf besondere Weise. Für kontemplative Akte benötigen wir keinen Reichtum, keine Freunde, sind unabhängig von widrigen Umständen. Schopenhauer schreibt, dass wir uns an einem Sonnenuntergang erfreuen können, egal ob wir im Gefängnis oder in einem Palast sitzen. 121 Der wichtigste interne Einwand gegen das Sinnkonzept der Kontemplation wurde oben schon gegen das Ideal 119 »Die Sinngebung, die durch ästhetischen Wert in das Menschenleben hineinkommt, besteht im Grunde in nichts anderem als in dem überzeugenden Gefühl, Auge in Auge mit etwas absolut Eigenwertigem zu stehen – mit etwas, um dessentwillen allein es sich lohnen würde zu leben, einerlei wie man sonst im Leben dasteht.« (Hartmann, Ästhetik, 408) 120 Vgl. Seel, Ethisch-ästhetische Studien, 260–272. 121 Schopenhauer, ZA I: 253 (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Band, § 38).

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der Seelenruhe vorgebracht: Obwohl wir uns bei dieser Tätigkeit subjektiv der Zeit enthoben fühlen, in einer Art ewiger Gegenwart, ist die Versenkung ins Andere oder gar die Übereinstimmung mit dem Ganzen uns wohl nur eine kurze Spanne im objektiven Zeitverlauf möglich. Das Leben insgesamt kann nicht Kontemplation sein; diese ist als alleiniges Glücksideal und übergreifendes Sinnkonzept ungeeignet. Im Unterschied zur Kontemplation, bei der wir in der Regel immer allein sind, ist die zweite vollzugsorientierte Tätigkeit notwendigerweise auf andere Menschen angewiesen: die Geselligkeit. Wir Menschen sind soziale Lebewesen, die fast immer in intersubjektiven Verhältnissen stehen. Kants kategorischer Imperativ fordert in seiner berühmten Zweckformulierung, andere Menschen niemals bloß als Mittel zu gebrauchen. Die Alternative zwischen Mittel und Zweck besteht auch für unser Verhältnis zu den sozialen Verhältnissen selbst: Wir können also das Zusammensein mit anderen Menschen ziel- oder vollzugsorientiert angehen. Im einen Fall dient die dialogische Interaktion anderen Zwecken (etwa der Informationsbeschaffung, der Herstellung eines Produkts, der Vertreibung von Langeweile usw.); auch das kommunikative Handeln in der Terminologie von Habermas wäre hier einzuordnen, weil es sich auf ein externes Ziel, die Verständigung, richtet. Bei der Geselligkeit hingegen ist die Vereinigung selbst Zweck. 122 Geselligkeit ist also eine dialogische Interaktion mit anderen Menschen um ihrer selbst willen. Diese muss keineswegs immer zwischen gleichberechtigten Personen stattfinden; die Anderen können auch Kinder oder pflegebedürftige Menschen sein. Exemplarisch lassen sich folgende Grundformen der Geselligkeit unterscheiden. Das erste Beispiel ist das Gespräch, von dem es zahllose Arten gibt. Kant unterscheidet einmal drei Phasen des Gesprächs, das idealerweise bei einer gemeinsamen Mahlzeit stattfindet: »1) Erzählen, 2) Räsonieren und 3) Scherzen« (Anthr. § 88/XII: 620). Zu den Regeln, die man beachten sollte, zählt Kant unter anderem das Vermeiden von Rechthaberei und das Aufrechterhalten eines freundlichen Tons auch bei Meinungsverschiedenheiten. Das zweite Beispiel ist die Freundschaft, allerdings nicht diejenige, der der Lust 122 Bei Hegel heißt es: »Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck« (Werke VII: Rechtsphilosophie, § 258 A). Diese Aussage ist allerdings nicht auf die Geselligkeit, sondern den Staat bezogen.

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oder des Nutzens wegen besteht, sondern eine Freundschaft, die auf gemeinsamen Werten beruht. 123 Freundschaften dieser Art sind symmetrische soziale Beziehungen, die wir um ihrer selbst eingehen und unterhalten. Der Sinn des Lebens, so könnte ein Anhänger dieser Auffassung sagen, bestände darin, möglichst viele gleichberechtigte Beziehungen dieser Art zu pflegen. Die höchste Form der Geselligkeit ist schließlich die Liebe, hier bestimmt als vorbehaltlose positive Zuwendung zum konkreten Anderen, zum Du. Dass der Sinn des Lebens die Liebe sei, wird immer wieder behauptet. 124 Für Platon symbolisiert die mythische Figur des Eros das Streben nach dem Absoluten. Einen noch höheren Stellenwert hat die Liebe im Christentum, wie Papst Benedikt XVI. in seiner ersten Enzyklika bekräftigt hat: Gott ist die Liebe; er liebt uns und wir sollen ihn lieben (und mit ihm alle Menschen) – darin liegt der Sinn unseres Lebens. 125 Die Liebe zwischen Menschen, vor allem die geschlechtliche Liebe, tritt mit der Romantik in den Vordergrund. Das gilt schon für die oben erwähnte erste Textstelle, an der sich die Formulierung vom »Sinn des Lebens« gedruckt findet, am Ende von Friedrich Schlegels Roman »Lucinde« (I.8.b). Unglücklich ist man allerdings, wenn die Liebe nicht erwidert wird; eine unglückliche Liebe ist einer der häufigsten Gründe für die Auffassung, dass das Leben sinnlos sei – bis hin zur radikalen Konsequenz des Suizids. Den dritten Typus bezeichne ich als Arbeiten. Gemeint ist aber nicht die oben bereits erwähnte zielorientierte Tätigkeit, bei der man nach Reichtum, Macht, Wissen o. ä. strebt, schon gar nicht die extrem arbeitsteilig organisierte, oft monotone und fremdbestimmte Erwerbstätigkeit in modernen Gesellschaften. Als entfremdete Tätigkeit war diese die Negativfolie, auf der sich für Karl Marx ein positiver Begriff von Arbeit als selbstzweckhafter Tätigkeit abhob. Ein solches Arbeiten ist immer ein freier und bewusster Akt der Kooperation unter prinzipiell gleichberechtigten Personen, die sich auf diese Weise mit der widerständigen Außenwelt auseinander setzen. 126 Zwar wird, wie beim zielorientierten Arbeiten, ein Produkt hervorAristoteles, NE VIII 3/4. Vgl. zuletzt H. Frankfurt, Gründe der Liebe, 107, und Grondin, Vom Sinn des Lebens, 125 f. 125 Vgl. NT, 1. Joh. 4, 16. 126 Marx, MEW Erg. I: Mill-Exzerpte, 462, MEW III: Deutsche Ideologie, 68; MEW XXIII: Das Kapital, 192–200; MEW XIX: Kritik des Gothaer Programms, 21; ders., Grundrisse, 504 f. 123 124

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gebracht, aber erstens ist der Schaffensprozess nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern selbst bereits sinnerfüllt; zweitens dient das Produkt selbst als Mittel, nämlich im lebenslangen Prozess der Selbstverwirklichung: In ihm gelangen die Produzenten zu einer Selbsterkenntnis, die sie zu weiteren Entwürfen anregt. Arbeiten ist das »produktive Leben« selbst. 127 Das vollzugsorientierte Arbeiten vereint deshalb folgende Aspekte: die Aneignung der äußeren Wirklichkeit, der Aufbau sozialer Beziehungen und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Paradigma dieser Tätigkeit ist der gemeinschaftliche künstlerische Schaffensprozess (also nicht, wie bei der Kontemplation, die ästhetische Rezeption). Für Marx war Arbeit in diesem Sinne eine gegenständliche Tätigkeit, d. h. an die Hervorbringung eines materiellen Gegenstands gebunden. Aber auch Arbeitsprozesse, bei denen das nicht der Fall ist, vor allem interaktive Tätigkeiten in forschenden, pädagogischen und medizinischen Berufen, wären zu nennen. In der modernen Gesellschaft können vielleicht Wissenschaftler, Künstler und Ärzte am ehesten noch in ihrem Beruf den Sinn des Lebens erfahren. 128 Marx’ Kritik ist, dass solche Tätigkeiten in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise kaum möglich sind. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass das selbstzweckhafte Arbeiten zum instrumentellen oder strategischen Handeln degeneriert, das all den Einwänden unterliegt, die vorher gegen zielorientierte Tätigkeiten vorgebracht wurden. Im Arbeiten kann man die typische Antwort moderner Gesellschaften auf die Frage nach dem Sinn des Lebens sehen; die Protagonisten der bürgerlichen Gesellschaft befürworten die Arbeit als zielorientierte Tätigkeit, ihre Kritiker als vollzugsorientierte Tätigkeit. Der Gegenbegriff zu Geschäft und Arbeit ist schon bei Kant das Spielen (vgl. KdU § 29, § 43, § 51; Anthr. § 60). Im Spielen sind wir frei von inneren und äußeren Zwängen sowie nicht auf die Hervorbringung eines verwertbaren Produkts angewiesen; im einsamen Spiel erleben wir Momente höchster Kontemplation und im geselligen Spiel Höhepunkt zwischenmenschlichen Zusammenseins. Der Kantianer Schiller machte sogar das Spielen zum Zweck des menschlichen Daseins. 129 Marx, MEW Erg. I: Pariser Manuskripte, 516. Vgl. Fetscher, Vom Sinn der Endlichkeit des menschlichen Lebens, 105; ders., Arbeit und Lebenssinn, 14–25. 129 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen …, 63 (15. Brief). 127 128

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Ein prominenter Vertreter dieser Auffassung ist Moritz Schlick. Er richtet sich nachdrücklich gegen alle zielorientierten Tätigkeiten, vor allem die moderne Erwerbsarbeit. Alle selbstzweckhaften Tätigkeiten möchte Schlick unter dem Begriff des Spielens zusammenfassen. Man müsse sich dem Spiel hingeben und seinem inneren Rhythmus folgen; das schließe nicht aus, dass man sich Aufgaben setze und eine Spannung aufgebaut werde. Schlick betont vor allem das Schöpferische des Spiels und deutet es deshalb auch als Prozess der Selbststeigerung. »Nur im Spiel erschließt sich der Sinn des Daseins.« 130 Als Antwort auf die Sinnfrage finde sich das Spielen vor allem bei der Jugend, wobei er darunter kein bestimmtes Alter, sondern eine Lebenseinstellung versteht. »Der Sinn des Lebens ist die Jugend.« 131 Abgesehen von dieser schwer nachvollziehbaren Begrifflichkeit ist vor allem die Ausschließlichkeit zu kritisieren, mit der Schlick allein im Spiel den Lebenssinn sieht. Wenn Schlick auch Wissenschaft und Kunst als Spiel bezeichnet, meint er im Grunde die oben genannten Tätigkeiten der Kontemplation und der gegenständlichen Selbstverwirklichung durch produktive Arbeit. In bisher nicht veröffentlichten Briefen hat Max Planck diese Konzeption deshalb zu Recht kritisiert. Zum einen betont er den moralischen Wert der Verantwortlichkeit, der beim zweckfreien und entlasteten Spielen fehle. Zum anderen möchte er die »begeisterte bewußte Hingabe an eine hohe Sache« gerade nicht als Spiel, sondern als Arbeit bezeichnen. 132 Es mag mehr dieser vollzugsorientierten Tätigkeiten geben und meine Bestimmungen mögen modifizierbar sein; zudem gibt es sicherlich viele Überschneidungen, zwischen Spielen und Geselligkeit, zwischen Arbeiten und Kontemplation usw. Alle diese Tätigkeiten schaffen Sinn im Leben. Das kann nicht bestritten werden. Eingewandt werden soll nur, dass ein sinnvolles Leben nicht allein aus vollzugsorientierten Tätigkeiten bestehen kann und auch nicht bestehen sollte. Denn erstens beschränken sich alle vollzugsorientierten Tätigkeiten (im Gegensatz zu den zielorientierten, die das ganze Leben übergreifen können) auf befristete Zeiträume. Das gilt, wie bereits erwähnt, für die Kontemplation; aber auch das Spielen ist schon begrifflich durch seinen Kontrast zum gewöhnlichen Leben bestimmt. 130 131 132

Schlick, Vom Sinn des Lebens, 312. Schlick, Vom Sinn des Lebens, 318. Planck, unveröffentlichte Briefe an Schlick vom 21. 8. und 8. 9. 1927. A

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Es gilt aber auch, wie uns die Lebenserfahrung lehrt, für das selbsterfüllte Arbeiten und das hingebungsvolle Lieben. Alle vollzugsorientierten Tätigkeiten sind auf privilegierte Situationen angewiesen; sie beruhen auf sozialen, ökonomischen und technischen Voraussetzungen, die nicht durch diese Tätigkeiten selbst geschaffen werden können. In der Regel kann sich ihnen nur eine privilegierte Gruppe widmen: die Aristokraten der antiken Stadtstaaten, Mönche in religiösen Gemeinschaften, eine kleine Elite in der globalisierten Welt – die anderen müssen schuften oder sogar hungern. Man kann Philosophen, die Kontemplation und geistige Arbeit als den alleinigen Weg zum Sinn propagieren, den Vorwurf einer beruflich bedingten Blindheit nicht ersparen. 133 Zweitens besteht die Gefahr einer schlechten Selbstgenügsamkeit. Wer seine Zeit allein mit kontemplativen Akten, Gesprächen und Spielen zubringt, der wird den Sinn für das Leben verlieren. Auch das produktive Arbeiten stößt bald an seine Grenzen. Die Langeweile zieht ein, das Glück wird schal. Die Gefahren der vollzugsorientierten Tätigkeiten bestehen also nicht in ihrer Übersteigerung wie bei den zielorientierten, sondern in einer Vereinseitigung der Lebensweise. Das gilt für die einzelnen Typen, aber auch für alle zusammen; als übergreifendes Lebensideal sind vollzugsorientierten Tätigkeiten nicht geeignet. Ohne die zielorientierten Tätigkeiten geht es nicht, ohne Planen und strategisches Handeln, ohne Mühe und Anstrengung. Hannah Arendt war sogar der Auffassung, dass nur in den mühseligen reproduktiven Tätigkeiten, die sie Arbeiten nennt, wahrhaftes Glück möglich ist. 134 Ähnelt das Glück dem »Segen der Erde« (Hamsun)? Das Erfolgsglück der zielorientierten Tätigkeiten des Herstellens sei nur wenigen vergönnt. Wahrhaft sinnvoll, so Arendt weiter, sei weder das Arbeiten noch das Herstellen, sondern allein die selbstzweckhafte Tätigkeit des öffentlichen Handelns, der politischen Kommunikation, die wiederum nichts zu unserem Glück in einem üblichen Sinne beitrage. 135 Welche Art des Glücks ist nun die richtige? Welche Lebensform ist zu empfehlen? In erster Linie wird dies vom jeweiligen Mensch und seiner sozialen Situation abhängen. In zweiter Linie spricht viel 133 Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 259 u. ö.; ders., Philosophie des Glücks, 8. 134 Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, 98, 107 ff., 121 f. 135 Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, 141, 231, 317, vgl. aber ebd. 158.

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für die alte Weisheit, dass das richtige Leben in der Vermittlung verschiedener Tätigkeiten liege, in einer Balance vielleicht sogar von Extremen. Deshalb liegt die Einsicht nahe, »daß jede dieser Lebensformen zu ihrer Zeit angenehm ist und daß vor allem die Vielfalt und kluge Mischung der Lebensformen dafür verantwortlich sind, daß sie alle ihr Gutes haben«. 136 An die Stelle eines exklusiven sollte ein inklusiver Glücksbegriff treten, eine offene Synthese verschiedener Konzepte. Zu einem umfassenden Glück kann alles beitragen: Seelenruhe und sinnliche Lust, das Strebensglück der zielorientierten Tätigkeiten und das Glück der vollzugsorientierten Tätigkeiten. (c) Allgemeine Glückskritik Allerdings gibt es noch weitere Einwände, die sich nicht gegen einzelne Glückskonzepte, sondern gegen die Glücksorientierung überhaupt richten. Es handelt sich also um Argumente, die uns überzeugen wollen, dass der Sinn des Lebens nicht im Glücklichsein allein liegen kann. Der erste Einwand lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das, was eben ausführlich dargestellt wurde: die objektive Vielfalt der Glückskonzepte. Wir sollten uns fragen: Wissen wir wirklich, was wir wollen? Dieser Kritikpunkt findet sich schon bei Augustinus: Unter Hinweis auf den römischen Autor Varro zählt er 288 verschiedene Glücksbegriffe. 137 Wie können wir uns in dieser Vielfalt zurechtfinden? Woher sollen wir wissen, was wir wirklich wollen? Kant schreibt, der Begriff der Glückseligkeit sei »ein so unbestimmter Begriff«, dass ein Mensch »doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle« (GzMdS VII: 47 = 418, vgl. KpV VII: 133 ff.). Glück sei eben kein Ideal der Vernunft, sondern eines der Einbildungskraft – und damit so schwankend wie diese. Was wir für Glück halten, ändert sich im Lauf unseres Lebens, manchmal von Tag zu Tag, Stunde zu Stunde. Dieser Einwand wird eher noch verstärkt, wenn man, wie oben, keinen bestimmten Glücksbegriff, sondern eine offene Synthese verschiedener Konzepte favorisiert. Dann kann uns immer die Furcht 136 Hume, Vom schwachen Trost der Philosophie, 43; vgl. ders., Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 7. 137 Augustinus, Vom Gottesstaat, XIX: 1.

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befallen, die Liebe der Arbeit und die Arbeit dem Spiel geopfert zu haben. Der zweite Einwand setzt den ersten fort. Neben der voluntaristischen Unsicherheit über unsere wirklichen Ziele gibt es die epistemische Unsicherheit über die angemessenen Wege und Mittel. Selbst wenn wir immer wüssten, was wir wollen, besteht die große Gefahr einer Täuschung über den besten Weg dorthin. Gerade in der modernen Welt kommt es zu Konflikten zwischen den verschiedenen Glücksbegriffen nicht nur auf der Ziel-, sondern ebenfalls auf der Mittelebene. Das Streben nach Glück, in welcher Form auch immer, verlangt Klugheit, nach Kants Bestimmung »Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein« (GzMdS VII: 45 = 416). Aber nach Kants Überzeugung reicht die menschliche Klugheit nicht aus, um wirklich glücklich zu werden. Deshalb seien auch die Imperative der Klugheit eher »Anratungen (consilia) als Gebote (praecepta)« (GzMdS VII: 48 = 418, vgl. KpV VII: 148). Da wir die erforderliche Allwissenheit niemals besitzen können, wäre es besser, wenn wir statt unserer Vernunft mit Instinkten ausgestattet worden wären (vgl. GzMdS VII: 20 f. = 395 f.). Der dritte Einwand ist der des Pessimismus: Es gibt im Leben mehr Leid als Freud. Glück ist, wie Hegel, Schopenhauer und Freud betonen, für uns Menschen ein unerreichbares Ziel. 138 Bei Kant handelt es sich um eine Überlegung der reflektierenden Urteilskraft: Wenn es der Fall sein sollte, dass die Natur auch mit der Existenz menschlicher Individuen einen Zweck verfolgt haben sollte – welcher Zweck könnte es dann sein? Das Glück kann es nicht sein; wenn sich der Wert unseres Leben danach richten müsste, würde er »unter Null« sinken (KdU § 83/X: 393 Fn). Allerdings ergibt sich diese Konsequenz nur deshalb, weil Kant einen überspannten Begriff des Glücks zugrunde legt. Erstens bedeutet für Kant Glückseligkeit, dass uns »alles nach Wunsch und Willen« gehe (KpV VII: 255; MdS-TL VIII: 620). Das ist jedoch eher Seligkeit als Glück. Zwischenzeitliches Scheitern, Phasen der Enttäuschung und integrierte Schwächen können durchaus Bestandteile eines glücklichen Lebens sein; das belegen auch die Resultate der empirischen Glücksforschung. Das Gegenteil von Glück ist nicht Leiden, sondern vielmehr eine spannungslose Mittelmäßigkeit, ein Abstumpfen aller Bedürfnisse und Fähigkei138 Vgl. Hegel, Werke XII: 42; Schopenhauer, ZA IV: 743 (Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Bd., Kap. 49); Freud, Studienausgabe IX: Das Unbehagen in der Kultur, 208.

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ten. 139 Zweitens ist Glück für Kant eine Summe, die Addition der Befriedigung aller Neigungen (GzMdS VII: 25 = 399, VII: 32 = 405; vgl. VII: 47 = 418). Das ist aber sehr unplausibel; unsere Neigungen haben sicherlich nicht alle denselben Stellenwert, weshalb etwa quantitative Vergleiche im Bereich des Glücks kaum möglich sind. Glück sollte auch nicht, wie Kant erwägt (KdU § 84/X: 395 Fn), als letzter Zweck angesehen werden, dem alle andere Zwecke unseres Lebens unterzuordnen sind. Demgegenüber ist ein holistischer Begriff des Glücks zu empfehlen: Es gibt einen komplexen Verweisungszusammenhang zwischen den Zuständen, Prozessen und Gütern, die unser Glück ausmachen. Glückseligkeit ist ein Ganzes, das aus Elementen besteht; diese haben eine unterschiedliche Relevanz und bilden eine hierarchische Ordnung; zudem kann das eine oder andere dieser Glieder fehlen oder durch ein drittes ersetzt werden, ohne dass das Ganze Schaden erleidet. So gewinnen wir einen realistischeren Begriff des Glücks, der an einem Beispiel erläutert werden kann. 140 Der Vergleich des Lebens mit einer Reise ist alt. Wenn wir eine Urlaubsreise als glücklich bezeichnen möchten, so müssen mehrere Dinge zusammenkommen: günstige Witterungsverhältnisse, schöne Landschaften, interessante Kunst- und Kulturdenkmäler, delikate Speisen und wohlmundende Getränke, eine spannende Lektüre, vor allem aber das wechselseitige Verständnis mit den Reisepartner und die Begegnung mit freundlichen Menschen. Auf das eine oder andere Element aus diesem Gefüge können wir verzichten; so lässt schlechtes Wetter sich vielleicht durch eine komfortable Unterkunft wettmachen und auf die Lektüre kann man zur Not ganz verzichten. Dennoch könnte der Urlaub insgesamt als glücklich bezeichnet werden. Der unversöhnliche Streit mit dem Reisepartner wird uns jedoch in jedem Fall unglücklich machen. Diese Argumente richten sich also nicht gegen die Glücksorientierung überhaupt, aus ihnen folgt nur ein bescheidener Begriff des Glücks. 141 Im Individuellen ist es wie im Politischen: Es ist nicht sinnvoll, sich an abstrakten Utopien zu orientieren; seien dies das SchlaBirnbacher, Philosophie des Glücks, 6. Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 450 f. u. 598. 141 Vgl. B. Heller, Glück, 184. In diesem Sinne verstehe ich auch das Plädoyer für eine »Diätetik der Sinnerwartung« von Marquard, Apologie des Zufälligen, 33–53. Vgl. auch das sehr gute Buch von Wetz, Die Kunst der Resignation, 155–184. 139 140

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raffenland (in dem alle Bedürfnisse prompt befriedigt werden), der christliche Himmel (wo wir immerzu Gott schauen können und die allumfassende Liebe herrscht), der Sozialismus (in dem die sich selbst erfüllende Arbeit im Zentrum stehen sollte) oder das Automatenparadies (wo keiner mehr arbeiten muss und alle spielen können). Ein Kennzeichen der Moderne ist es, dass Erwartungen nicht mehr durch Erfahrungen gedeckt sein müssen; diese Steigerung des Anspruchs an unser Leben drückt sich auch in den Glücksbegriffen aus. Der antike Diskurs zur Glückseligkeit blieb, das darf nicht vergessen werden, auf eine schmale privilegierte Schicht begrenzt; viele Kulturen kennen überhaupt kein Äquivalent für unser Wort »Glück«, weil ihre Mitglieder gar nicht den Handlungsspielraum besaßen, der dafür notwendig ist. Deshalb hatte Saint-Just, einer der Anführer der Jakobiner, nicht ganz Unrecht, als er in einer spektakulären Rede am 3. 3. 1794 verkündete: »Das Glück ist eine neue Idee in Europa.« 142 Wer ein sinnvolles Leben führen möchte, ist wohl gut beraten, wenn er sich anstelle des großen mit einem kleinen Glück begnügt. Das ist kein Plädoyer für Askese, sondern für Zufriedenheit mit der Zufriedenheit. Schließlich ein letzter Vorbehalt, den ich das intentionalistische Paradox nennen möchte. Bereits oben beim Erlebnisglück wurde eingewandt, dass das Streben nach Lust keine empfehlenswerte Glücksstrategie ist. Dieses Argument kann man erweitern: Wer den Sinn seines Lebens im Herstellen von Sinn sieht, wird sicherlich enttäuscht werden. Der selbst produzierte Sinn, so kann man sagen, gleicht dem Lob, das man sich bestellt, oder dem Beifall, den man bezahlt hat. 143 »Der Begriff des Sinns involviert Objektivität jenseits allen Machens«. 144 Das wahre Glück wie der wahre Sinn kommen immer von einer anderen Seite, unerwartet und unerhofft. Das sind die internen Einwände, die gegen die Glücksorientierung vorgebracht werden können. Es fehlen aber noch die externen Einwände, die moralphilosophischen und metaphysischen. Bevor wir zu diesen kommen, muss jedoch erst die andere Variante des guten Lebens dargestellt werden, das moralische Leben. 142 Zit. nach Soboul, Kurze Geschichte der Französischen Revolution, 93. Gegen den Mythos des modernen Glücks wendet sich auch Baggini, Der Sinn des Lebens, 116, 132 ff. Ebenso Eagleton, The Meaning of Life, Kap. 4, der sich aber gegen einen metaphysischen Sinn wendet. 143 Vgl. Schröder, Vom Sinn der Sinnfrage, 124. 144 Adorno, GS VI: Negative Dialektik, 369.

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(2) Sinn = Moral Die zweite ethische Antwort auf die metaphysische Sinnfrage lautet: Der Sinn des Lebens liegt im moralisch Guten. Diese Auffassung kann man auf unterschiedlicher philosophischer Grundlage vertreten. Sie findet sich etwa bei Albert Schweitzer, der eine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben propagiert, 145 in der materialen Wertethik von Nicolai Hartmann 146 und bei Peter Singer, der eine präferenzutilitaristische Position vertritt. 147 Wir werden uns im Folgenden weiterhin an Kant orientieren. (a) Ein Netz von Pflichten Kant vertritt bekanntlich eine deontologische Moralphilosophie, in der unsere unbedingte Verpflichtung zu bestimmten Handlungsmaximen grundlegend ist und somit der Begriff der Pflicht im Mittelpunkt steht. Gemeint sind nicht die faktischen Pflichten, die in einer spezifischen Gemeinschaft oder Gesellschaft von ihren Mitgliedern verlangt werden, oder die innere Nötigung zu einem bestimmten Handeln. In Siegfried Lenz’ Roman »Die Deutschstunde« stehen sich zwei falsche Pflichtbegriffe gegenüber: der positivistische Rechtsgehorsam des Vaters sowie der zwanghafte Drang des Sohnes, die vom Vater bedrohten Kunstwerke zu retten. Im Kantischen Sinne hängt der Begriff der Pflicht hingegen eng mit einem freien und durch praktische Vernunft bestimmten Wollen zusammen. Die unerreichte Subtilität und Komplexität der Kantischen Moralphilosophie zeigt sich gerade an den verschiedenen, sich überlagernden Differenzierungen am Pflichtbegriff. Erstens ist zu unterscheiden zwischen Pflicht im Singular und Pflichten im Plural. Wer aus Pflicht handelt, dem kann Moralität zugesprochen werden, denn er hat den kategorischen Imperativ zur Grundlage seiner Maximen gemacht. Wer zwar nicht aus Pflicht handelt, aber immerhin den legitimen Pflichten folgt, der handelt pflichtgemäß; Kant spricht dann von Legalität. Dieser Ausdruck ist missverständlich, weil er sich nicht nur auf rechtliche, sondern auch auf moralische Pflichten bezieht; 145 146 147

Schweitzer, Kultur und Ethik, 71–78, 328–353 Hartmann, Sinngebung und Sinnerfüllung, 264–273. Singer, Praktische Ethik, 418–423. A

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besser wäre etwa der Begriff der Normenkonformität. Damit ist schon die zweite Differenzierung angesprochen: Rechtspflichten sind erzwingbar; in der Regel bedarf es dafür einer legitimierten öffentlichen Instanz, die mit dem Gewaltmonopol ausgestattet ist und beispielsweise Strafe verhängen kann. Die Einhaltung moralischer Pflichten ist hingegen nicht auf diese Weise sanktionierbar. Bei Kant heißt es: Rechtspflichten sind von enger, Tugendpflichten von weiter Verbindlichkeit. Drittens gibt es vollkommene und unvollkommene Pflichten bzw. (weitgehend deckungsgleich) negative und positive Pflichten. Eine vollkommene Pflicht ist ein Verbot (etwa das Tötungsverbot); gefordert ist die Unterlassung bestimmter Handlungen. Eine unvollkommene Pflicht ein Gebot (etwa das Gebot der Hilfeleistung); gefordert ist die Ausführung bestimmter Handlungen. Gebote sind zu befolgen, aber die Art und Weise der Befolgung lässt einen gewissen Spielraum; hingegen sind Verbote exakt beschreibbar und ebenso die durch sie geforderten Handlungsweisen. Wie man es anstellt, keinen Menschen absichtlich zu töten, ist meistens klar; weniger klar ist, wie man es anstellt, einem Menschen das Leben zu retten. Die Erfüllung vollkommener Pflichten ist geschuldet, die Erfüllung unvollkommener Pflichten verdienstlich. Bei den vollkommenen Pflichten kommt es nur auf die Maxime an, bei den unvollkommenen Pflichten auch auf den Zweck der Handlungen; insofern sind an dieser Stelle teleologische bzw. utilitaristische Gedanken in eine kantische Ethik integrierbar. Viertens kennt Kant sowohl Pflichten gegenüber anderen als auch Pflichten gegenüber sich selbst. Als Beispiel für eine vollkommene Pflicht gegenüber sich selbst sollte man nicht das Verbot der Selbsttötung nennen, denn diese kann in extremen Situationen sogar geboten sein. Ein besseres Beispiel ist das Verbot der eigenen Selbsterniedrigung, die Pflicht, seine eigene Würde nicht zu verletzen, etwa durch Kriecherei. Eine unvollkommene Pflicht gegenüber sich selbst ist das Gebot der Entfaltung wertvoller eigener Anlagen. Fünftens gibt es außer den eben genannten beiden Arten der direkten Pflichten auch noch indirekte Pflichten; damit sind Pflichten gemeint, die wir nicht gegenüber jemandem, sondern im Hinblick auf etwas haben. Problematisch ist, dass Kant hier nur die kategoriale Differenz zwischen Personen (jemandem) und Sachen (etwas) kennt, denn dadurch werden Tiere auf den Status von Sachen herabgestuft. Bekanntlich ist das Verbot der Tierquälerei bei Kant bloß eine Pflicht im Hinblick auf etwas. Die Aufzählung sollte die Reichweite und Differenziertheit von 204

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Kants Moralphilosophie belegen; sie zeigt uns, in welchem Netz unterschiedlicher Verpflichtungen wir alle leben. Besteht der metaphysische Sinn unseres Lebens also in der Pflichterfüllung, selbstverständlich im präzisen Kantischen Sinn? Daran sind Zweifel möglich und angebracht. Selbstverständlich kann hier nicht die moralphilosophische Kritik an Kants kategorischem Imperativ oder an einer deontologischen Pflichtenethik überhaupt vorgestellt werden; eine solche müsste in einem ganz anderen Rahmen erfolgen. Es geht vielmehr um Argumente, die uns in einer Meta-Reflexion, nämlich einer metaphysischen Reflexion, am Sinn der Moral zweifeln lassen. (b) Neue Werte schaffen Der erste Einwand wurde von Nietzsche formuliert. Von den unterschiedlichen Ansätzen einer Kant-Kritik in seinem Werk handelt es sich um ein Argument, mit dem Nietzsche gleichsam die kopernikanische Wende Kants um eine Windung weiter dreht. Der Paradigmenwechsel von der Theorie zur Praxis, vom Erkennen zum Handeln ist noch nicht ausreichend; er muss fortgeführt werden durch den Übergang vom normenregulierten zum normenproduzierenden Handeln, von der Orientierung an Werten zum Schaffen von Werten. Nach der Wende vom »Erkenne dich selbst« zum »Werde, der du bist« folgt jetzt noch die Wende zum »Erfinde dich selbst«. Heidegger hat zu Recht herausgearbeitet, dass man deshalb in Nietzsche den Höhepunkt der neuzeitlichen Metaphysik des Subjektivismus sehen kann. In der Terminologie dieser Studie: Sinnvoll kann nicht das Leben sein, das moralische Normen erfüllt, sondern nur dasjenige, das selbst solche Normen stiftet. Im Einzelnen lässt sich Nietzsches Einwand gegen die kantianische Moralphilosophie in folgenden Schritten nachvollziehen. Erstens ist festzuhalten, dass es keinen Sinn an sich gibt. Nietzsche sieht, dass alle Werte und Zwecke allein durch den Menschen in die Welt kommen. In »Also sprach Zarathustra« heißt es: »Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, – er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn!« 148 Damit ist der Rahmen des Kantianismus noch nicht gesprengt. Zweitens aber möchte Nietzsche ernst 148 Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, »Von tausend und Einem Ziele« (KSA IV: 75 = S II: 323).

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machen mit der Einsicht, dass Gott tot ist, dass wir, neutral formuliert, zum Absoluten nichts aussagen können. Daraus ergibt sich für ihn unter anderem die Unmöglichkeit eines unbedingten Sollens. In einem dritten Schritt betrachtet Nietzsche das Moralische aus der Außenperspektive, sowohl historisch als auch funktional. Er erkennt den Wandel der Werte; die Erforschung der Frage, wie unsere moralischen Empfindungen entstanden sind, ist eines seiner wichtigsten Projekte. Darüber hinaus fragt er nach dem »Werth der Moral« 149 . Ihn interessiert, welche Funktion die Moral für die Ausbildung individueller und kollektiver Identitäten hat. Nietzsche möchte zeigen, dass Edles und Gutes aus niederen Motiven entstanden sowie mit hohen Kosten verknüpft ist. Die bisherigen Moralvorstellungen sind platonisch und vulgärchristlich korrumpiert, eine Sklavenmoral. Insbesondere sind alle bisherigen Ethiken, auch die Kantische, lebensfeindlich gewesen. 150 Viertens werden deshalb neue Werte verkündet. Das Festhalten am kategorischen Imperativ gilt als Blindheit für die wahren Voraussetzungen moralischer Vorstellungen – und als Zeichen von Selbstsucht. »Selbstsucht nämlich ist es, sein Urteil als Allgemeingesetz zu empfinden; und eine blinde, kleinliche und anspruchslose Selbstsucht hinwiederum, weil sie verräth, dass du dich selber noch nicht entdeckt, dir selber noch kein eigenes, eigenstes Ideal geschaffen hast: – dies nämlich könnte niemals das eines Anderen sein, geschweige denn Aller, Aller!« 151 Jeder sollte den Mut finden, seinen eigenen Weg zu finden und neue Tafeln moralischer Werte zu schaffen. 152 Nietzsche selbst schwankt zwischen zwei Auffassungen, einer radikal-humanistischen und einer neoaristokratischen: Nach der einen sind die neuen Werte vor allem die Fernstenliebe, die schenkende Tugend und die Liebe zur Erde. Deren Ziel ist »ein Glück, welNietzsche, Zur Genealogie der Moral, Vorrede 5 (KSA V: 251 = S II: 767) u. ö. Nietzsche, Götzendämmerung, »Moral als Widernatur«, bes. KSA VI: 85 = S II: 968. 151 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, § 335 (KSA III: 562 = S II: 196). 152 Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, »Von alten und neuen Tafeln« (KSA IV; 246 ff. = S II: 443 ff.); ders., Jenseits von Gut und Böse, § 211 (KSA V: 144 f. = S II: 676 f.). Ein moderner Nietzscheaner ist beispielsweise Reinhold Messner. In einem Interview (1996) sagte er auf die Frage »[S]tiften Sie sich … ihren eigenen, privaten Sinn?«: »Ganz genau, und darin bin ich mit Nietzsche verwandt. Natürlich, Nietzsche hat … den Übermenschen so verstanden, dass dieser den Sinn in sich und für sich erfindet. Auch die Moral ist eine Erfindung. Die Moral ist … immer eine Spießbürgermoral. Denn in der Summe sind wir auf Spießbürgerniveau.« (Caysa/Schmid, Hg., Reinhold Messners Philosophie: Sinn machen in einer Welt ohne Sinn, 24) 149 150

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ches wie die Sonne am Abend, fortwährend aus seinem unerschöpflichen Reichthume wegschenkt und in’s Meer schüttet und, wie sie, sich erst dann am reichsten fühlt, wenn auch der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dieses göttliche Gefühl hiesse dann – Menschlichkeit!« 153 Nach der anderen kommt es darauf an, sich vom Mitleid und Menschenliebe zu verabschieden; Ziel müsse es vielmehr sein, einen Übermenschen hervorzubringen. »Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!« 154 Die großen Individuen sollen sich durchsetzen und ihren Weg gehen dürfen. Aber egal ob man Nietzsche im Sinne eines radikal weltlichen Humanismus oder im Sinne eines präfaschistischen Heroismus deutet, in jedem Fall ist er ein Anti-Universalist und Anti-Egalitarist. Ein sinnvolles Leben ist nur wenigen Menschen möglich, den freien Geistern, den Starken, den Gesunden, den Vornehmen. Aus kantianischer Sicht macht Nietzsche aber mindestens zwei Fehler: Erstens schließt Nietzsche von der Unmöglichkeit einer absoluten Geltung zu Unrecht auf die Unmöglichkeit einer intersubjektiv legitimen Geltung; so gelangt er zu seiner Grundthese, dass alles eine Frage der Macht sei. Nietzsche hält als Nihilist jede Moralbegründung für unmöglich. Einen ähnlichen Fehler macht er, wenn er meint, dass jede Moral nur einen funktionalen Charakter haben könne, weil es ihm gelungen ist, die bisherigen Moralvorstellungen als »Symptome« 155 zu diagnostizieren, die dem Leben einen Sinn gaben, den Herrschenden bzw. den Unterdrückten als Kampfmittel dienten usw. Zweitens schließt Nietzsche von der Einsicht in den konstruktiven Charakter moralischer Werte zu Unrecht auf die Notwendigkeit einer praktischen Erzeugung moralischer Werte. Dass es bei der Moral um unsere Konstruktion handelt, bedeutet nicht, dass es sich um eine beliebige Konstruktion handelt, die willentlich verändert und fortgesetzt werden könnte. Auch die Personen, die wir zu Recht als moralische Vorbilder und Pioniere der moralischen Entwicklung betrachten, Sokrates und Jesus, aus dem 20. Jahrhundert vielleicht Gandhi und Martin Luther King, haben keine neue Moral geschaffen, Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, § 337 (KSA III: 565 = SII: 198). Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Vorrede 3 (KSA IV: 14 = S II: 280). 155 Nietzsche, Götzendämmerung, »Das Problem des Sokrates« II (KSA VI: 68 = S II: 951). 153 154

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sondern sind eher Exponenten der gesellschaftlichen Veränderung moralischer Einstellungen. Moral ist überhaupt nichts Individuelles, sondern immer ein intersubjektives Phänomen. Hier gilt im übertragenen Sinne Wittgensteins Kritik an der Privatsprache: Es ist unmöglich, seine eigenen Werte zu haben. Nietzsche hat bestenfalls Recht, wenn er sich auf Glücksvorstellungen und individuelle Lebensideale bezieht, nicht aber hinsichtlich der Moral. (c) Seinsvermiesung und materiale Wertethik Der zweite Einwand findet sich in Hegels Kritik an Kants Moralphilosophie und lässt sich sehr frei folgendermaßen formulieren: Wenn der Sinn des Lebens in einem moralischen Leben bestehe, im Sollen, so folgt daraus, dass das Leben, so wie es ist, also das Sein, keinen Sinn habe. Denn gut sei bei Kant nur der reine Wille, nicht die Wirklichkeit; dadurch werde die Welt, wie ausdrücklich bei Fichte, nichtig bzw. zum bloßen Material. Marquards Kurzfassung dieses Gedankens lautet: Sollensabsolutismus bewirkt »Seinsvermiesung«. 156 Hegel plädiert jedoch nicht dafür, zu einer Dominanz des Seins (und damit zur klassischen Metaphysik) zurückzukehren. Das Sollen wird sehr wohl akzeptiert, aber es müsse als ein seiendes Sollen begriffen werden. Das Gute wie das Schöne seien bereits in der Welt, wir erkennen sie jedoch nicht immer. An manchen Stellen schießt Hegel sicherlich mit diesem Einwand über das Ziel hinaus; er klingt dann so, als ob es an der Wirklichkeit gar nichts mehr auszusetzen gebe, weil das Wirkliche, wie die berüchtigte Formulierung in der Vorrede zur »Rechtsphilosophie« suggeriert, immer das Vernünftige sei. 157 Dann würde in der Tat der Gegensatz von Sollen und Sein wegfallen. Auch wenn dies nicht der Fall sein sollte, so bleibt doch der Einwand, dass durch die unüberwindbare Kluft zwischen Sollen und Sein der Sinnzusammenhang unseres Lebens zerreiße. Hegels frühes Hauptwerk, die »Phänomenologie des Geistes«, enthält großartige Beschreibungen der Lebensformen, die sich aus dieser unzureichenden Auffassung eines metaphysischen Sinns ergeben können und sich in den verschiedenen Epochen der Welt156 Marquard, Apologie des Zufälligen, 50 f.; vgl. ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 37–51. 157 Hegel, Werke VII: Rechtsphilosophie, 24.

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geschichte auf unterschiedliche Weise realisieren. Die erste ist der heillose Fanatismus, bei dem aus dem Sollensabsolutismus gefolgert wird, mit absolutem Recht das Gute durchsetzen zu müssen. Eine solche Haltung zeigt sich bei denen, die mit naiver Moralität ihr gutes Herz gegen die schlechte Wirklichkeit setzen und den Kampf gegen das Böse aufnehmen. »Das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit geht darum in das Toben des verrückten Eigendünkels über«. 158 Beispiele dafür sind (literarische) Figuren wie Michael Kohlhaas und Karl Moor. Das Pendant dieses Phänomens ist das Individuum, das die Tugend nicht in sich als Individuum, sondern im Weltlauf verkörpert sieht; deshalb ist es bereit, sich als Werkzeug einer höheren Instanz zu betrachten und aufzuopfern. 159 Der heillose Fanatismus zeigt sich in kollektiver Form im organisierten Terror, der die absolute Tugend gegen die vollendete Sündhaftigkeit durchsetzen will, angeführt von den Moralaposteln wie Savonarola, Robespierre oder Lenin. 160 Je höher ein Individuum die Moralität hält, desto größer ist nach Hegel die Gefahr des Umschlags ins Böse. 161 In diesem Zusammenhang verdient ein Problem besondere Beachtung, nämlich das Verhältnis von Zweck und Mittel. 162 ZweckMittel-Kalkulationen können aus dem Bereich des Moralischen nicht fern gehalten werden. Insbesondere für diejenigen, die höhere moralische Werte verwirklichen wollen (etwa Gerechtigkeit), besteht die Gefahr, beim Streben nach diesem Ziel die eigenen Werte zu verletzen. Weizsäcker hat dies 1975 als das »moralische Problem der Linken« in der modernen Gesellschaft bezeichnet: Wer sich in einer unmenschlichen Welt für Menschlichkeit einsetzt, ist oft genötigt, die Herrschenden unmenschlich zu behandeln – und damit seine eigenen Prinzipien zu verletzen. 163 Dasselbe Problem besteht aber auch viel krasser in einem gerechten Krieg: Wer einen brutalen Aggressor zurückschlagen will (und das ist nach der Theorie des gerechten Krieges legitim), kann dies nur mit Mitteln militärischer Gewalt tun; er ist also gezwungen, Menschen zu töten, obwohl sein Ziel die Verhinderung des Tötens von Menschen ist. In solchen Situationen kann Hegel, Werke III: Phänomenologie des Geistes, 280. Hegel, Werke III: Phänomenologie des Geistes, 283 f. 160 Hegel, Werke III: Phänomenologie des Geistes, 431–438. 161 Hegel, Werke VII: Rechtsphilosophie, § 139 A, VII: 261. 162 Zum berühmten Satz »der Zweck heiligt die Mittel« vgl. Hegel, Werke VII: Rechtsphilosophie, § 140 A/271. 163 Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, 85–89. 158 159

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der moralische Mensch eigentlich nur falsch handeln: Entweder scheitert man als Heiliger oder man verletzt bei der Durchsetzung seiner Werte diese selbst. Der Linke wird entweder Privatier oder Revolutionär; der Angegriffene geht unter oder muss selbst angreifen. Man kann von moralischem Glück (moral luck) sprechen, wenn man sich nicht in solchen aporetischen Situationen befindet. Damit sind wir bei der zweiten Haltung, die sich aus der Sollensmetaphysik ergibt, der objektlosen Innerlichkeit: Aus der Schlechtigkeit der Welt kann man auch folgern, dass sich moralisches Handeln nicht lohne und man sich in sich selbst zurückziehen müsse. Allerdings werde man dadurch zerrissen in ein höheres und ein niedriges Selbst, Seele und Leib, Inneres und Äußeres. Auf dem historischen Niveau einer christlichen Weltanschauung führt dies zu dem Typus des unglücklichen Bewusstseins 164, auf dem historischen Niveau einer moralischen Weltanschauung zu dem Typus der schönen Seele, die sich in Form einer Gemeinde sogar auf sozialer Ebene darstelle. 165 Diese schöne Seele werde niederträchtig, wenn sie den Handelnden immer nur unlautere Motive unterstelle, sich selbst aber davon ausnehme. 166 Die höchste (und deshalb für Hegel schlimmste) Form dieser Flucht aus der Wirklichkeit ist die romantische Ironie, die er in Friedrich Schlegel personifiziert sieht. Die Ironie werde zur »absolute(n) Selbstgefälligkeit«, die alles Objektive vernichtet. 167 Es handelt sich um einen Umschlag, der sich aus der Biographie mancher Personen gut herauslesen lässt: erst fanatischer Kämpfer, dann Apostel der Innerlichkeit, am Ende zynischer Besserwisser. Schließlich, so kann man Hegels Typologie weiterentwickeln, gibt es noch das Handeln mit schlechtem Gewissen. Weil ich weder das Gute mit Gewalt durchsetzen noch auf dessen Realisierung völlig verzichten möchte, werde ich zum unglücklichen Pragmatiker; ich beschränke mich also auf ein mehr oder weniger moralisches Handeln, mit dem ich immer hinter meinen eigenen Ansprüchen zurückbleibe, deshalb also ein schlechtes Gewissen habe. Dieser faule Kompromiss zwischen Anspruch und Wirklichkeit zerreißt ebenfalls den Sinnzusammenhang meines Lebens. Hegel, Werke III: Phänomenologie des Geistes, 163–174. Zur Gemeinde der schönen Seelen vgl. Hegel, Werke III: Phänomenologie des Geistes, 481 f. u. Werke VII: Rechtsphilosophie, § 140 A/279. 166 Hegel, Werke III: Phänomenologie des Geistes, 489. 167 Hegel, Werke VII: Rechtsphilosophie, § 140 A/279; vgl. XI: 233 (»selbstbewußte Vereitelung des Objektiven«) u. XIII: 93–99 u. 211. 164 165

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Hegels Kritik an der Seinsvermiesung hat vor allem die materiale Wertethik weiterentwickelt. Scheler stellt fest, dass Kants Moralphilosophie zu einem Pessimismus führe, dass Kants Haltung zur Welt feindselig war, »das Gegenteil von Liebe zur Welt, von Vertrauen, von schauender und liebender Hingabe an sie; d. h. es ist im Grunde nur der die Denkweise der modernen Welt so stark durchziehende Welthaß, der Weltfeindschaft, das prinzipielle Mißtrauen in sie« 168 – mit der Konsequenz, sie technisch beherrschen und moralisch umgestalten zu wollen! Ein direkter Bezug dieser Kant-Kritik zur Frage nach dem Sinn des Lebens findet sich bei Nicolai Hartmann. Kant habe, so behauptet er, die erste Grundfrage der Ethik, »Was soll ich tun?«, gut beantwortet. Es gebe aber noch eine zweite Grundfrage, die Kant völlig vernachlässigt habe und die Hartmann folgendermaßen formuliert: »Wofür gilt es die Augen offen zu haben, um daran teilzuhaben? Was ist wertvoll im Leben, ja in der Welt überhaupt? Was gilt es sich zu eigen zu machen, zu begreifen, zu würdigen, um Mensch zu sein im vollen Sinne des Wortes? Wofür fehlt uns noch der Sinn, das Organ, so daß wir es erst in uns bilden, schärfen, erziehen müssen?« 169 Während die erste Grundfrage, »Was soll ich tun?«, auf unser äußeres Tun zielt, betreffe die zweite unsere inneren Stellungnahmen. Bei dieser gehe es nicht um ein Sollen, sondern um die Werte, die bereits in der Welt zu finden sind und von uns entdeckt werden müssen. Kant schreibt, dass das Dasein ohne Vernunft und Moral »gar keinen Wert« hätte (KdU § 87/X: 411); »ohne den Menschen (wäre) die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck« (KdU § 86/403). Wie Scheler wendet sich Hartmann gegen diese »Stumpfheit«, Eindimensionalität und Blindheit des Menschen, auch des moralischen. »Als ob das Menschenleben von sich aus ein sinnwidriges Spiel, die Welt ein Jammertal wäre, und als ob alles Dasein nur auf ihn gewartet habe, um erst durch seinen Willen und sein Tun Licht, Sinn und Wert zu gewinnen.« 170 Die Wertfülle nicht zu erkennen, so Hartmann weiter, sei eine »Versündigung am Sinn des Lebens«. 171 Wer nur die präskriptiv gebotenen Handlungen als sinnvoll anerkenne, für den wird die Welt zu einer a-moralischen Ödnis, vor allem angesichts der Tat168 169 170 171

Scheler, GW II: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 86. Hartmann, Ethik, 10. Hartmann, Ethik, 9. Hartmann, Ethik, 16. A

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sache, dass unser moralisches Handeln so oft scheitere und so wenig zum Besten der Welt gereiche. Dies alles, so kann man diesen Einwand zusammenfassen, sei Folge des Sollensabsolutismus, also in unserem Zusammenhang der Überzeugung, dass der Sinn des Lebens im moralischen Handeln liege. Es ist nicht zu bestreiten, dass diese Kluft zwischen Sollen und Sein den Sinnzusammenhang unseres Lebens gefährdet. Aber man kann Kant (oder zumindest eine an ihn anknüpfende Philosophie) gegen diese Kritik verteidigen. Zum einen hat Kant die Vermittlung zwischen Sein und Sollen keineswegs vernachlässigt; die »Kritik der Urteilskraft« dient der transzendentalphilosophischen Grundlegung eines Nachdenkens über dieses Thema, wie in Kapitel IV.4. dieser Arbeit dargestellt werden soll. Zum anderen ist das Verhältnis von Kant und Scheler/Hartmann zu überdenken. Oft sieht man in ihnen unvereinbare Positionen: Auf der einen Seite eine formale, deontologische Moralphilosophie auf dem Fundament praktischer Vernunft im Rahmen eines transzendentalen Idealismus – auf der anderen Seite eine materiale Wertethik auf dem Fundament moralischer Intuitionen (oder emotionaler Akte) im Rahmen eines objektiven Idealismus. Diese Debatte kann hier nicht ausgetragen werden, da ich den Kantischen Standpunkt bereits als Ausgangsbasis akzeptiert habe. Zu bestreiten ist aber, dass eine Wertlehre mit dem Kantischen Denken unvereinbar wäre. Man darf die metatheoretische Ebene (Empirismus – subjektiver Idealismus – objektiver Idealismus) nicht mit der axiologischen Ebene verwechseln. 172 Auf der metatheoretischen (oder fundamentalphilosophischen) Ebene geht es um die Frage, welche ontologischen Status Werte haben. Der Empirist behauptet, dass Werte Entitäten seien, die gänzlich von der Existenz des Betrachters abhängen; es handelt sich um Bewusstseinsphänomene (Vorstellungen) oder die Erzeugnisse bestimmter Sprechakte. Der objektive Idealist behauptet, dass Werte reale Phänomene seien, die unabhängig von dem betrachtenden Subjekt existieren; das Schöne wird nicht nur an bestimmten Gegenständen erfahren, diese sind wirklich schön. Eine Vermittlungsposition bezieht der transzendentale Idealismus: Werte sind Phänomene, die zwar vom betrachtenden Subjekt abhängen – würde es keine Menschen geben, gäbe es auch keine Werte. Aber es sind keine beliebigen 172

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Vgl. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 251 ff.

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Phänomene, sondern notwendige Voraussetzungen unseres Denkens und Handelns. Auf der normativen Ebene geht es um die Wertordnung selbst, die auf der Basis aller drei Paradigmen entwickelt werden kann. Subjektivisten behaupten, dass nur subjektive Zustände bewusstseinsfähiger Wesen wertvoll sind. Diese Position dominiert vor allem in den ökonomischen Theorien, die alles am subjektiven Nutzen für das Individuum messen. Bei Objektivisten gibt es hingegen auch strukturelle Werte wie Gerechtigkeit oder Solidarität, die nicht auf subjektive Zustände zurückführbar sind. Wieder eine andere Frage ist, ob die Geltung einer solchen Wertordnung partikular oder universal ist und wie sie gegebenenfalls begründet werden kann. Von der materialen Wertethik unterscheidet sich Kant nur auf der ersten Ebene; Objektivist und Universalist ist er ebenso wie Scheler oder Hartmann, auch wenn er inhaltlich eine andere Wertordnung propagiert und andere Begründungsformen vorschlägt. Allerdings sollte man Kants mentalistische Begrifflichkeit durch eine sprachtheoretische ersetzen: Werte lassen sich dann rekonstruieren als die Regeln, die festlegen, wie wir das evaluative Vokabular (böse, schlecht, gut, besser) verwenden. 173 Es gibt eine Fülle von Wertprädikaten und somit eine Fülle von Regeln, die untereinander in Zusammenhang stehen und eine Präferenzordnung bilden. Kant selbst spricht ständig von Werten: Vor allem die ausgearbeitete Moralphilosophie Kants in der »Metaphysik der Sitten« setzt, wie im Einzelnen gezeigt werden könnte, eine umfassende Axiologie voraus. Gleich zu Beginn der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« schreibt er, dass nur ein guter Wille einen »innern unbedingten Wert« besitze, andere Eigenschaften nur einen bedingten (VII: 18 = 394). Später heißt es bekanntlich, dass Personen einen absoluten (unbedingten) Wert haben, Sachen hingegen einen relativen (VII: 59 f. = 428). Heute sagt man, dass die Eigenschaften, Dinge, Zustände, Handlungen usw., die nur als Mittel wertvoll sind, einen extrinsischen Wert besitzen; die Entitäten, die »an sich«, d. h. als Zweck wertvoll sind, besitzen einen intrinsischen Wert. Einen relativen Wert besitzen die Entitäten, die mit anderen in eine Präferenzordnung gebracht, durch andere überboten oder ersetzt werden können; einen absoluten Wert hat hingegen das, was außerhalb der Präferenzordnung steht und durch nichts ausgeglichen werden kann. Einen ab173

Vgl. Schnädelbach, Analytische und postanalytische Philosophie, 242–281. A

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soluten intrinsischen Wert besitzt nach Kants Moralphilosophie und nach unserem Grundgesetz die Würde eines Menschen. Kants Einteilung der Werte sieht also folgendermaßen aus: Wert

a¨ußerer (extrinsischer) innerer (intrinsischer) d. h. als Mittel wertd. h. an sich wertvoll voll

relativ (bedingt)

Sachen im weitesten Sinne

absolut (unbedingt) ——

personale Eigenschaften die Würde einer Person

Ein Kästchen bleibt also leer: Es gibt keine absolut extrinsischen Werte. Das war in der Vormoderne anders, insofern in ihr bestimmte Handlungen oder Gegenstände als Mittel absolut vorgeschrieben waren, etwa rituell-kultische Verrichtungen, Sakramente und Reliquien. Das ist aber in der Moderne nicht mehr der Fall; die Moderne ist die Epoche, in der die Mittel keinen absoluten Wert mehr haben – und gerade deshalb alles zum Mittel werden kann, außer den absoluten inneren Werten. Hingegen kennt die Postmoderne nur relative Werte; alles hat prinzipiell den gleichen Rang, ist gleich-gültig. Darüber hinaus bestreitet Kant nicht, dass es auch nicht-moralische Werte gebe. In der »Kritik der Urteilskraft« spricht er ausdrücklich vom »ästhetischen Wert« der verschiedenen Künste (§ 53). Schließlich haben die südwestdeutschen Neukantianer und die materialen Ethiker Recht, dass es noch weitere Wertsphären gibt, vor allem den Bereich der theoretischen Werte (Wahrheit, Begründetheit, Systematizität, Einfachheit usw.). Zusammenfassend kann man sagen, dass, selbst wenn Kant das Spektrum der Werte nicht angemessen analysiert hätte, eine Axiologie auf kantianischer Basis prinzipiell möglich ist. Diese würde uns die Fülle an Werten erschließen, die es in der Welt gibt – wenn auch nicht an sich (wie die Wertrealisten meinen), sondern bloß für uns. Die Orientierung an Werten ist nicht gleichbedeutend mit der Orientierung am eigenen Glück. Denn wir halten an vielen Werten fest, obwohl sie entweder nichts zu unserem Glück beitragen oder sogar unser Glück gefährden. So ist der Wert der Wahrheit prinzipiell neutral gegenüber unserer Glücksorientierung; das Erkennen von Wahrheiten kann zwar glücklich machen, es kann aber auch unser Glück gefährden. Es gibt auch bittere Wahrheiten, die narzisstischen Kränkungen sind dafür ein Beispiel. Ein krasser Fall ist der 214

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einer unglücklichen Liebe: Die geliebte Person hat für uns nicht nur moralisch einen absoluten Wert (den besitzt jede Person), sondern auch in unserer individuellen Strebensordnung; sollte diese Liebe jedoch nicht erwidert werden, kann mich das stärker als alles andere unglücklich machen. (d) Normative Konflikte und tragische Situationen Ließen sich die ersten beiden Zweifel am Sinn der Moral mehr oder weniger ausräumen, so ist dies beim dritten Einwand nicht möglich. Dieser richtet sich gegen die von Kant gehegte Überzeugung, im Gegensatz zum Glück seien bei der Moral sowohl die voluntaristische wie die epistemische Unsicherheit beseitigt. Die Pflicht leuchte immer so hell, dass wir Weg und Ziel problemlos erkennen können. Dem liegt die Ansicht zugrunde, dass es im Moralischen keine Pflichtenkollisionen gebe und wir auf Zweck-Mittel-Kalkulationen verzichten könnten. Das Moralische, wie es später Friedrich Theodor Vischer ausdrückte, verstehe sich immer von selbst. 174 Dagegen hatte schon Hegel betont, dass sich Pflichtenkollisionen mit Kants kategorischem Imperativ nicht vermeiden lassen. 175 Diese Auffassung wird bestätigt durch die vielen normativen Konflikte, in die wir als Individuen in der modernen Welt hineingezogen werden. Es gibt sehr wohl moralische Dilemmata, widerstreitende Normen und konfligierende Werte. Davon zeugen vor allem die Diskussionen, die die anwendungsorientierte Moralphilosophie führt, in denen es beispielsweise um den Widerstreit von Selbstbestimmung (Autonomie) und Menschenwürde geht. Darüber hinaus kann es sogar zu tragischen Situationen kommen. Hegel versteht darunter den notwendigen Antagonismus von zwei berechtigten moralischen Normen, der zum Kampf und zum Untergang mindestens einer Partei führt. Die paradigmatische Darstellung des Tragischen findet sich in der »Antigone« des Sophokles, im Konflikt zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz, zwischen Gemeinwesen und Familie. 176 Der Zusammenprall zwischen Vischer, Auch einer, 25: »Das Moralische versteht sich immer von selbst« (1879). Hegel, Werke VIII: Enzyklopädie, § 508/315. 176 Hegel, Werke III: Phänomenologie des Geistes, 329 f. u. 348; vgl. II: 495 f. (Naturrechtsaufsatz), XIII: 258 ff.; XV: 521 ff. (Ästhetik I u. III). 174 175

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Glück- und Moralorientierung ist nicht tragisch, auch nicht als Kollision des Strebens nach Authentizität mit dem nach Moralität – denn in solchen Fällen hat diese gegenüber jener immer den höheren Wert. 177 Sein eigenes Glück für andere zu opfern ist nicht tragisch; es kann in manchen Fällen sogar geboten sein, obwohl das Streben nach der eigenen Glückseligkeit auch für Kant zu den Pflichten gegen sich selbst zählt. Denn Glück hat keinen absoluten, sondern nur einen relativen Wert; die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit sind in Kants Moralphilosophie wichtiger. Tragisch ist aber die Opferung des eigenen Lebens aus moralischen Gründen, etwa zur Rettung anderer, denn jedes individuelle Leben hat einen absoluten Wert. Das Scheitern eines moralischen Lebens an den Kontingenzen des Lebens, an Leiden und Tod, ist ebenfalls nicht tragisch, sondern traurig. 178 Tragisch ist allein der notwendige und unauflösliche Antagonismus zweier berechtigter moralischer Orientierungen. Diese Möglichkeit hat Kant offensichtlich nicht in Betracht gezogen. Abzulehnen ist allerdings ein Pantragismus, der in allen Handlungssituationen unauflösbare moralische Konflikte sieht – in den meisten Fällen wissen wir sehr wohl (oder könnten wissen), was gut und gerecht ist. Das Tragische ist zum Glück nicht der Normalfall, sondern die Ausnahme. 179 Wir müssen eine kleine Zwischenbilanz ziehen: Es ging um die These, dass der Sinn des Lebens in einem moralischen Leben liege. Dagegen wurden drei interne Einwände formuliert. Die nietzscheanische Kritik, Moral müsse im individuellen Schaffen neuer Werte liegen, konnte zurückgewiesen werden. Dem Einwand, dass sich zwischen Sollen und Sein eine Kluft auftue, die tendenziell den Sinnzusammenhang unseres Lebens zu zerreißen drohe, muss man zustimmen; allerdings kann eine die deontologische Moralphilosophie ergänzende Wertethik als Gegenmittel dienen. Richtig ist schließlich die Beobachtung, dass das Moralische keineswegs Konflikte ausschließt; tragische Situationen sind sogar nur für einen moralischen Menschen möglich. Insgesamt muss also man also feststellen, dass moralisches Handeln allein nicht zu einem sinnvollen Leben führt. 180 Das führt uns zur Frage nach dem Verhältnis von Glück und Moral. 177 Das verkennt Menke, Tragödie im Sittlichen, 242 f., der ansonsten den Begriff des Tragischen gut analysiert (bes. 19–41). 178 Hegel, Werke XV: 525 u. XIII: 270. 179 Vgl. Jaspers, Über das Tragische, 59–63. 180 Diese Einsicht findet sich ausdrücklich formuliert, im Anschluss an Dilthey, bei

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(3) Glück und Moral Die beiden letzten Kapitel behandelten die Glücks- und die Moralorientierung als zwei Wege eines sinnvollen Lebens. Einige interne Einwände, die mehr oder weniger stark ins Gewicht fallen, wurden erörtert. Die entscheidende Frage wurde aber bis jetzt aufgeschoben: In welchem Verhältnis stehen überhaupt die beiden Orientierungen als ganze? Idealtypisch lassen sich vier Modelle unterscheiden: (1) Koinzidenz, (2) Harmonie, (3) Dissonanz, (4) Widerstreit. Das erste Modell ist Gemeingut der antiken Ethik. Glück und Moral fallen zusammen; sie unterscheiden sich zwar intensional (in ihrem semantischen Sinn), aber nicht extensional (in ihrem Umfang) – so wie Paarhüfer und Wiederkäuer. Wer glücklich ist, ist auch moralisch; wer moralisch handelt, ist auch glücklich. Das gilt sowohl für die Anhänger Epikurs wie die Schule der Stoa: »Der Epikureer sagte: sich seiner auf Glückseligkeit führenden Maxime bewußt sein, das ist Tugend; der Stoiker: sich seiner Tugend bewußt sein, ist Glückseligkeit.« (KpV VII: 239) Anders formuliert: Der Epikureer hält die Moral für ein Begleit- oder Folgephänomen unseres (wohlverstandenen) Glücksstrebens; der Stoiker hält Glück für ein Begleit- oder Folgephänomen unseres (wohlverstandenen) moralischen Handelns. Aber auch Platon und Aristoteles sehen keinen Unterschied zwischen der Glücks- und der Moralorientierung. Der moralische Mensch ist glücklicher als der unmoralische. Im Extremfall, so Sokrates, wird der moralische Mensch sogar lieber ein Unrecht erleiden wollen als einer anderen Person ein Unrecht zufügen – weil er weiß, dass Moral und Glück koinzidieren. Nach dem zweiten Modell sind Glück und Moral zwar verschieden, das eine geht aber letztlich doch in das andere über. Die Divergenz ist ein Oberflächenphänomen, die Konvergenz nur verborgen, etwa durch eine zeitliche oder räumliche Differenz zwischen Handlungen und ihren Folgen. Diese Auffassung wird vor allem vom christlichen Denken und einigen frühbürgerlichen Konzeptionen nahe gelegt. Aus christlicher Sicht wird gefordert, moralisch zu handeln; das Glück stelle sich spätestens im Jenseits ein. Aus frühbürgerlicher Sicht wird gefordert, nach seinem eigenen Glück zu streben; die positiven Konsequenzen für alle, nämlich die Steigerung des allBaumgardt, Der Kampf um den Lebenssinn unter den Vorläufern der modernen Ethik, 193 (am Ende des Kant-Teils). A

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gemeinen Wohlstands, bildeten die langfristige Folge. Am prägnantesten hat es Mandeville formuliert: private vices, public benefits – unser egoistisches Glücksstreben, das Verfolgen privater Laster, führe indirekt zu Vorteilen für alle. Adam Smith wählte eine weniger anstößige Formulierung, die zur Grundlage der klassischen Nationalökonomie wurde: Wenn alle Menschen in den kapitalistischen Gesellschaften ihre individuellen Interessen verfolgen, werde dadurch der allgemeine Wohlstand gefördert. 181 Da die individuellen Interessen immer in irgendeiner Form auf das eigene Glück gerichtet sind und die Beförderung des allgemeinen Wohlstands eine moralische Handlung ist (nach Kant das Erfüllen einer unvollkommenen Pflicht gegenüber anderen), bestehe zwischen Glück und Moral keine Kluft. Zur Begründung dieser erfreulichen Konvergenz muss Smith jedoch auf die dunkle Hypothese einer unsichtbaren Hand zurückgreifen; die Neoklassiker von heute sprechen von den Kräften des Marktes, die alles zum allgemeinen Vorteil regeln. Das dritte Modell konstatiert eine Dissonanz von Glück und Moral. Das ist eine alte Erfahrung. Sie findet sich beispielsweise schon im Alten Testament; sie gehört zu den Klagen des Hiob und des Kohelet: Den Gerechten ergeht es schlecht und den Gottlosen (also den Unmoralischen) ergeht es gut. 182 Warum die Bösen in der vermeintlich rationalen Welt die Macht haben, ist die Ausgangsfrage von Boethius, der im Gefängnis, auf seine Hinrichtung wartend, sein Hauptwerk »Trost der Philosophie« schreibt. Allerdings meinte man in der Antike und im christlichen Mittelalter in der Regel harmonische Lösungen dieses Problems finden zu können, meistens mit der Unterscheidung von Sein und Schein, Wesen und Erscheinung. In der Neuzeit wurde die Dissonanzthese von einigen kritischen Aufklärern aktualisiert, etwa von Voltaire nach seiner Wende zum Pessimismus. 183 Darauf konnte sich Kant stützen: Es bestehe zwar kein Gegensatz von Glück und Moral (KpV VII: 217); kontingenterweise können diese sogar zusammenfallen. Aber der Regelfall sei, dass Glück und Moral in der Welt, in der wir leben, nicht konvergieren. Ist es nicht so, fragt Kant, dass der tugendhafte, der moralische Mensch »des Lebens nicht froh werden« könne? (KpV VII: 245) HinVgl. Hirschman, Leidenschaften und Interessen, 27 f., 121 f. u. ö. AT, Psalm 73, Prediger 7: 15 u. 8: 14 u. ö.; Platon, Politeia, 361d-362c (Beginn von Buch 2); Epikur, Von der Überwindung der Furcht, 135. 183 Vgl. Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, 474 ff. 181 182

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gegen lassen es sich böse Menschen gut gehen. Auch der Utilitarismus ist hier einzuordnen. Sein normatives Prinzip ist zwar das größtmögliche Glück aller; dieses kann zwar mit meinem Glück zusammenfallen, aber es ist es durchaus möglich, dass ich und andere, vielleicht sogar alle von ihrem individuellen Glück Abstriche machen müssen, um das allgemeine Glück zu befördern. Wenn Kierkegaard die ästhetische und die ethische Existenzweise voneinander unterscheidet, lässt sich dies ebenfalls als Dissonanz von Glück und Moral verstehen – die bei ihm jedoch durch die christlich-religiöse Lebensform überwunden werden. Im vierten Modell wird die Divergenz auf die Spitze getrieben: Es besteht ein Antagonismus von Glück und Moral; der Konflikt zwischen diesen beiden Sinnorientierungen sei prinzipiell nicht aufzuheben. Deshalb müsse man eines der beiden Prinzipien opfern, entweder die Glücksorientierung oder die Moralorientierung. Es gibt also zwei Fraktionen in dieser Gruppe. Die einen plädieren für das Fallenlassen der Glücksorientierung, etwa im Sinne einer totalen Askese. Die anderen plädieren für das Fallenlassen der Moralorientierung, für einen Immoralismus. Die Protagonisten dieser beiden Fraktionen sind Schopenhauer und Nietzsche. Vorläufer sind auf der einen Seite die Bettelorden, Eremiten und Asketen verschiedener großer Religionen. Vorläufer des Amoralismus auf der anderen Seite sind radikale Sophisten wie Kallikles 184 und radikale Aufklärer wie La Mettrie und der Marquis de Sade. 185 Nietzsche kann ein Argument Kants für sich verwenden, in folgendem Syllogismus: Für unser Glück gibt es keine Regeln (es kommt meistens überraschend; liegt da, wo man es gerade nicht vermutet usw.) – Moral beruht auf strengen Regeln – deshalb ist Moral in jedem Fall glücksfeindlich! 186 Nietzsche neigt zu der All-Aussage: Jede Moral betrügt uns um unser Glück. Sehr wirkungsmächtig ist diese Entgegensetzung von Foucault in seinen letzten Schriften wieder aufgegriffen worden. Als Beispiele diente ihm die Sexualität, denn diese bildet in der abendländischen Kulturgeschichte eines der wichtigsten Felder, auf dem sich moralische Reglementierungen mit unserem Bedürfnis nach Glück in die Quere kommen. Foucaults Resultat ist der Antagonismus einer Ästhetik der Existenz, die durch die Entwicklung von be184 185 186

Platon, Gorgias, 482c-484c, 491b-492c. Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, 504 f., 510 ff. Nietzsche, Morgenröte, § 108 (KSA III: 95 = S I: 1080). A

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stimmten Haltungen und eines Lebensstils zur individuellen Selbstverwirklichung anleiten soll, mit einer Ethik der Verpflichtung, die mit ihren Kodifizierungen immer Ausdruck einer Fremdbestimmung ist. 187 Welches dieser vier Modelle kommt der Wahrheit am nächsten? Wahrscheinlich lässt sich diese Frage nicht generell beantworten. Auf der einen Seite mag es wohlgeordnete Gemeinschaften geben, in denen das Glück des einen zugleich das Glück des anderen ist; vielleicht bildeten die Privilegierten im antiken Stadtstaat (der polis), im Hinblick auf den Platon und Aristoteles ihre Koinzidenzthese aufstellten, eine solche Gemeinschaft. Auf der anderen Seite gibt es Gesellschaften, in denen es kaum möglich ist, sich moralisch zu verhalten, ohne sein eigenes Überleben zu gefährden. Ich denke dabei beispielsweise an totalitäre Regime, die so korrupt sind, dass fast jeder selbst korrupt handeln muss (etwa andere bespitzelt o. ä.), und an soziale Zustände, in denen alle unter Lebensgefahr handeln oder an der Grenze des Existenzminimums dahinvegetieren müssen. Beschränken wir uns also auf die moderne Welt, auf die demokratischen Wohlstandsgesellschaften. Die meisten Menschen glauben, wie die empirische Sozialpsychologie gezeigt hat, dass unsere Welt gerecht ist, dass also das erste Modell zutreffe. 188 Immer wieder tendieren wir zu der Auffassung, dass Opfer sich etwas haben zuschulden kommen lassen, dass die Glücklichen ihr Los auch verdient haben usw. Wir erlauben uns fälschlicherweise Rückschlüsse vom Schicksal einer Person auf den Wert ihres Handelns oder ihrer Charaktereigenschaften; der Erfolgreiche müsse doch fleißig oder wenigstens begabt gewesen sein; der Versager habe sich seine Situation irgendwie selbst zuzuschreiben. Selbstverständlich erfolgen diese Zuordnungen weitgehend unbewusst. Sie finden sich sowohl bei den Privilegierten, die damit ihren Status legitimieren, wie bei den Unterprivilegierten, die sich dadurch mit ihrem Schicksal versöhnen; wobei die empirischen Daten zeigen, dass der Glaube an eine gerechte Welt bei den Privilegierten stärker ist. Offensichtlich dient diese fundamentale Illusion dazu, die Welt als geordnet wahrzunehmen und sich von einem aufwändigen, riskanten moralisch-politischem Engagement zu entlasten. Es kann aber auch als Kompensation realer Ohnmacht dienen. Wahrscheinlich entsteht der Koinzidenzglaube im 187 188

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Foucault, Sexualität und Wahrheit, 2. Bd.: 18, 36–45, 118 u. 318 sowie 3. Bd.: 305 ff. Lerner, The Belief in a Just World. A Fundamental Delusion (1980).

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Laufe einer durchaus wohlwollenden Enkulturation, die den Kindern und Heranwachsenden die Strukturen und Normen der eigenen Gesellschaft als gerecht vermittelt; dazu passen die vielen Märchen und Erzählungen, in denen am Ende die Bösen besiegt werden. Erst wenn man selbst am eigenen Leibe signifikante Ungerechtigkeiten erlebt, wird der Glaube an eine gerechte Welt erschüttert. Vielleicht fällt man dann sogar ins andere Extrem, in eine Ungerechte-Welt-Hypothese, in die Überzeugung, dass Glück und Moral antagonistisch zueinander stehen. Empirische Untersuchungen zeigen übrigens auch, dass Menschen, die an eine gerechte Welt glauben, glücklicher sind als diejenigen, die diese für ungerecht halten. Welches Modell jedoch wirklich zu bevorzugen ist, ist eine Frage der Sozialphilosophie, wobei normatives, anthropologisches und soziologisches Wissen herangezogen werden sollte. Gegen die Koinzidenzthese spricht, dass wir Menschen zweifellos Anlagen und Neigungen besitzen, deren Entwicklung und Aktualisierung uns glücklich macht, unter denen aber andere Menschen leiden müssen. Extreme Beispiele sind sadistische und aggressive Tendenzen. Gegen die Harmoniethese spricht, dass die Menschen so unterschiedlich, die gesellschaftlichen Verhältnisse so unübersichtlich sind, dass das Glück des einen oft das Unglück des anderen ist. Die christliche Auffassung ist empirisch nicht überprüfbar; wir können uns mit dieser bloßen Hoffnung auf ein Jenseits nicht beruhigen. Die frühbürgerliche Auffassung, obwohl immer wieder von wirtschaftsliberaler Seite propagiert, ist offensichtlich empirisch falsch. Ohne ordnende Regeln, also allgemeine Normen, setzen sich immer nur die Stärkeren und vom Glück Begünstigten durch. Die Wirtschaftswissenschaftler, die an diesem Modell festhalten wollen, legen zudem trotz aller Finessen einen unzulänglichen, nämlich auf ökonomisch gebundene Bedürfnisse fixierten Begriff des Glücks zugrunde. Das christliche und das frühbürgerliche Denken müssen letztlich die Idee einer prästabilierten Harmonie voraussetzen, für die es keine Belege gibt. Die größte Herausforderung stellt das vierte Modell dar, vor allem die Variante des Amoralismus. Die philosophische Anthropologie kann zeigen, dass der Mensch sehr wohl die Anlage, vielleicht sogar einen Hang zum Bösen besitzt, also destruktive Neigungen, bewusste Grausamkeit usw. Am weitesten verbreitet ist sicherlich eine egoistische Orientierung, in der jeder sich selbst der Nächste ist. Beide, sowohl Bosheit als auch Egoismus, werden aber durch verA

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schiedene andere Anlagen im Menschen abgemildert oder sogar aufgehoben: Erstens hat sich nicht der rücksichtslose Egoismus, sondern der rationale Egoismus als erfolgreiche Strategie erwiesen. Zu denken ist dabei vor allem an die Transformation des rationalen Egoismus zum Prinzip der Gegenseitigkeit: Was du mir gibst, gebe ich auch dir; was du mir antust, werde ich an dir wiederholen. Nicht nur in ökonomischer Hinsicht kann sich dieses Prinzips für alle Seiten vorteilhaft auswirken. Zweitens gibt es sicherlich im Menschen die Neigung, seine engeren Verwandten, ja sogar die Angehörigen seiner Bezugsgruppen wohlwollend zu behandeln, bis hin zu eigenen Nachteilen, sogar der Selbstaufopferung. Drittens besitzen wir Menschen eine Reihe von moralbezogenen Affekten, deren wichtigster das Mitleid ist, das sich ohne Rücksicht auf Gegenleistung oder Gruppenzugehörigkeit auf den Nächsten richtet. Auch Sympathie und Liebe sind Phänomene, die sich nicht vollständig auf zweckrationale Verhaltensstrategien zurückführen lassen. Viertens darf der Beitrag der praktischen Vernunft nicht über-, aber auch nicht unterschätzt werden; zumindest dürfte die praktische Vernunft dazu führen, dass wir zum einen über Absichten zweiter Ordnung verfügen (also zu unseren primären Absichten Stellung beziehen können) und zweitens generell nach inneren Regeln (Maximen) handeln. Insgesamt sprechen diese anthropologischen Reflexionen dafür, dass wir Menschen in der Regel keine radialen Amoralisten sind. Zweitens kann man soziologisch argumentieren. Mindestens seit Durkheim gehört es zu den zentralen Einsichten der Soziologie, dass menschliches Zusammenleben nur möglich ist, wenn es soziale Regeln gibt. Diese werden zwar immer wieder verletzt, aber gerade die Verletzung zieht Aufmerksamkeit, Verachtung oder Bestrafung nach sich, so dass das Gewicht der sozialen Regeln (Normen) dadurch nur gestärkt wird. Ohne solche Normen würden Gemeinschaften im Chaos versinken; in diesem schwachen Sinne ist Moral konstitutiv für unser menschliches Zusammenleben. Zwar gilt diese Einsicht nicht für Gesellschaften, also soziale Systeme, die sich über funktionale Integrationsmechanismen wie Geld oder Macht stabilisieren, aber ohne den Zusammenhalt kleinerer und größerer Gemeinschaften würde auch die gesellschaftliche Kohäsion Schaden erleiden. Nun müssen zwar die Normen einer Gemeinschaft keineswegs aus einer übergeordneten Sicht moralisch legitim sein; auch Räuberbanden haben ihre Regeln. Dennoch kann man aus dieser soziologischen Einsicht schließen, dass der extreme Egoismus keine Chance hat. 222

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Drittens legen entwicklungspsychologische Einsichten die These nahe, dass Menschen, die in einer Welt ohne Normen aufwachsen oder leben, nicht glücklich werden können. Es gibt keine Verlässlichkeit, kein Vertrauen, keine Freundschaften, keine Familien usw. Denn wir können zu glücksfähigen Individuen nur in normativ geregelten sozialen Beziehungen werden; Kaspar Hauser und das im KZ aufgewachsene Kind sind überhaupt nicht zu einem glücklichen Leben in der Lage. Das vierte Argument ergibt sich aus unserer obigen Analyse des Glücks. Für wohl alle Menschen gehören Freundschaften zu einem glücklichen Leben dazu; man mag bewusst dem Alleinsein dem Vorzug geben, sogar als Eremit leben wollen; aber zumindest auf die Möglichkeit des freundschaftlichen Beisammenseins mag kaum jemand verzichten. 189 Schon die aristotelische Analyse der Freundschaft führte aber zu dem Schluss, dass diese als eine wertorientierte Beziehung verstanden werden muss; zwei Menschen können im eigentlichen Sinne nur Freunde sein, wenn sie sich an gemeinsamen Werten orientieren. Damit ist zwar wenig bewiesen; es gibt auch Freundschaften unter Gaunern und sogar Bewunderung unter Feinden; einen radikalen Amoralisten wird man jedoch selten antreffen. Außer auf Freundschaften, so die betrübliche Nachricht für den radikalen Egoisten, müsste dieser auch auf das Glück des Spielens und der gemeinsamen erfüllten Arbeit verzichten. Alle diese Argumente sind in ihrer Reichweite begrenzt. Sie widerlegen nur die extreme These vom Antagonismus zwischen Glück und Moral, den extremen Egoismus bzw. Amoralismus des Glücks. Aus ihnen folgt keineswegs eine universale, sondern eher eine partikulare Moral. Aber immerhin hat dadurch das dritte Modell, Kants Dissonanz-These, die besten Argumente auf seiner Seite. »Glück ist nicht ohne Moral, aber durchaus auf Kosten von Moral möglich.« 190 Dieses Auseinanderfallen von Glück und Moral bezeichne ich ab jetzt als metaphysische Ungerechtigkeit. 191

Vgl. Seel, Versuch über die Form des Glücks, 196 ff. Seel, Art. Glück, 162 = Seel, Versuch über die Form des Glücks, 209. 191 Den Begriff der »metaphysischen Gerechtigkeit« prägte Simmel 1907 in seiner Schopenhauer-Deutung, vgl. Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, 260 ff. 189 190

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Eine Zwischenbilanz

Damit ist diese Studie über die Frage nach dem Sinn des Lebens an einem wichtigen Wendepunkt gelangt. Wir haben unterschieden zwischen dem Sinn im Leben und dem Sinn des Leben (vgl. II.2). Von einem Sinn im Leben können wir dann sprechen, wenn glückliche Episoden und moralische Handlungen vorliegen. In solchen Zuständen und Tätigkeiten erleben wir, oft allerdings erst im Nachhinein, uns als bedeutsam; in solchen Momenten können wir, wenn wir aufmerksam sind, einen unbedingten, einen metaphysischen Sinn erfahren. 192 Sinnerfahrungen sind also auf sehr unterschiedliche Weise möglich; wie wir jeweils Sinn im Leben finden und schaffen können, hängt von vielerlei Faktoren ab: von historisch-sozialen Rahmenbedingungen, von unseren Anlagen und unserer Sozialisation sowie von den Umständen der Situation. Aber offensichtlich gibt es in unserem Leben nicht nur glückliche Episoden und moralische Handlungen: Unser Leben ist ständig vom Scheitern bedroht. Für unser menschliches Dasein ist, da hatte die Existenzphilosophie völlig Recht, das Misslingen und das AnGrenzen-Stoßen charakteristisch; als endliche Wesen sind wir notwendigerweise unvollkommen. 193 Die Gefahren sind für die Glücksorientierung größer als für die Moralorientierung. Obwohl wir uns auch für unsere moralischen Handlungen den Erfolg wünschen, haben diese schon einen Wert in sich. Hingegen ist unser Glücksverlangen immer auf seine Erfüllung ausgerichtet; wer ständig scheitert, wird nicht glücklich werden und deshalb immer mehr am Sinn seines Lebens zweifeln. Aber wie oft werden wir in beiden Orientierungen enttäuscht! Wer ein sinnvolles Leben führen möchte, will glücklich sein und soll moralisch sein. Sowohl die Glücks- wie die Moralorientierung sind berechtigt. Wer nicht glücklich ist, wird am Sinn seines Lebens zweifeln. Wer nicht moralisch handelt, mag vielleicht faktisch sein Leben für sinnvoll halten; aus unserer Sicht ist dies aber nicht der Fall: Das moralische Handeln ist die unverzichtbare Voraussetzung eines sinnvollen Lebens. Der Sinn des Lebens setzt also die Konver192 Vgl. Scherer, Philosophische Anthropologie, 133–141; ähnlich Schaeffler, Art. Sinn, Sp. 1339 f. 193 Das letzte Kapitel von Jaspers’ Hauptwerk »Philosophie« behandelt bezeichnenderweise das Scheitern (III: 219–236).

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genz von Moral und Glück voraus. Allerdings haben wir gesehen, dass die Glücks- und die Moralorientierung divergieren. Das zeigt sich sogar in den empirisch erfassbaren subjektiven Ansichten vom Sinn des Lebens: Auf die Frage, welchen Sinn ihr Leben haben solle, favorisiert eine Mehrheit den Genuss; auf die Frage, was ihnen in ihrem Leben wichtig sei, stehen Gerechtigkeit und Ehrlichkeit an erster Stelle. 194 Wenn Glück und Moral aber nicht vereinbar sind, zerreißt der Sinnzusammenhang unseres Lebens. Ein weiteres Problem kommt hinzu: Das menschliche Leben besteht nicht nur aus Handlungen, nicht nur aus dem, was wir aktiv bewirken können. Es besteht auch aus dem, was mit uns ohne unser Zutun geschieht, was uns passiv widerfährt. 195 Es lassen sich zwei Typen von Widerfahrnissen unterscheiden, mit denen in gewisser Weise die beiden Begriffe des externen Glücks, fortuna und felicitas, in unsere Überlegungen zurückkehren. Zum einen gibt es Zufälle, Kontingenzen, die nicht in meiner Hand liegen und die man sich nicht ohne weiteres erklären kann. Zum anderen sind wir den Notwendigkeiten des Weltlaufs unterworfen, naturalen und sozio-kulturellen Zwängen, die sich nicht (oder nur sehr schwer) ändern lassen. Wir können Widerfahrnisse als positiv oder als negativ erleben; es gibt beglückende und widrige Ereignisse, denen wir ausgesetzt sind. Die Auffassung, dass wir als aktive Subjekte unser Leben in der Hand hätten, ist eine europäische Illusion der Neuzeit. Tatsächlich fallen die Widerfahrnisse stärker ins Gewicht als die Handlungen. Denn was gehört nicht alles zu den Widerfahrnissen! Es beginnt mit der Geburt und der familiären Konstellation, in die ich hineingeboren werde, sowie den gesellschaftlichen und historischen Umständen, unter denen wir aufwachsen. Wir werden, wie Heidegger zu Recht sagt, in die Welt geworfen. Für meine genetisch verankerten Anlagen kann ich so wenig etwas wie für die Neigungen und Befähigungen, die sich aufgrund meines Sozialisationsprozesses in den frühen Lebensjahren entwickelten. Zu nennen sind die Krankheiten, die wir bekommen, und die Begegnungen, die sich ergeben. Kaum jemand kann sein privates und berufliches Leben vollständig planen; in den meisten Fällen sind wir auch in diesen Bereichen mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen. 196 194 195 196

Schaeppi, Braucht das Leben einen Sinn?, 85 ff. Kamlah, Philosophische Anthropologie, 34–40. Marquard, Apologie des Zufälligen, 117–139. A

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Ersatz-Metaphysik: Zwei unzureichende Antworten

Schließlich ist der gesamte Alterungsprozess, dem wir unterliegen, ein Widerfahrnis – bis hin zur äußersten Grenze unseres Lebens, dem Tod. Der selbstbestimmte Tod, vollzogen durch eigene Hand, ist die große Ausnahme. In jedem Fall macht der Tod als definitive und doch kontingente Tatsache alles zu einem vergänglichen Phänomen, sowohl das Glück als auch das Moralische. Der Tod trifft alle, die moralischen und die unmoralischen Menschen, die Täter und die Opfer, die Glücklichen und die Unglücklichen. Angesichts des Todes ist, so sagte man früher, alles eitel. Diese zusätzlichen Probleme nötigen uns, einen Ebenenwechsel zu vollziehen. In Anlehnung an Tugendhat 197 kann man folgende Schritte unterscheiden, die ein reflektierender Mensch vollzieht bzw. vollziehen sollte: Auf der ersten Stufe liegen die Überzeugungen und Absichten erster Ordnung, denen gemäß ein naives Subjekt zu leben versucht. Auf der zweiten Stufe können wir als vernunftbegabte Lebewesen zu unseren Überzeugungen und Absichten erster Ordnung Stellung nehmen; wir können uns beispielsweise vornehmen, bestimmte Absichten zugunsten anderer zurückzustellen. Kant spricht in diesen Fällen von Klugheit. Letztlich bleibt dies aber ein Standpunkt der Zweckrationalität, ein egocentric point of view. Immerhin kann eine solche Reflexion so weit gehen, dass wir unser gesamtes (noch vor uns liegendes) Leben in unsere Überlegungen einbeziehen und uns fragen: Wie möchte ich eigentlich leben? Worin finde ich mein Glück? Wer aber so fragt, weiß prinzipiell auch, dass alle anderen, die »ich« sagen können bzw. Überzeugungen und Absichten besitzen, ebenso fragen. Ein solches Subjekt wird über einen rationalen Egoismus, der die Quintessenz der zweiten Stufe bilden könnte, hinausgetrieben. Man reflektiert nicht nur die eigenen Absichten, sondern berücksichtigt auch diejenigen der anderen. Auf der dritte Stufe fragt man: Was soll ich tun? Was sind die allgemein gültigen Normen, an denen ich mich (wie alle anderen) in meinem Handeln orientieren sollte? Das ist der moral point of view, der Standpunkt eines unparteiischen Beobachters bzw. die exzentrische Position, die wohl unter allen Lebewesen nur wir Menschen einnehmen können. Die Orientierungen der zweiten und dritten Stufe können, wie im letzten Abschnitt erörtert wurde, in einen Konflikt geraten. Diese Dissonanz von Glück und Moral sowie weitere Erfahrungen, die ich als vernunftbegabtes Lebewesen machen kann, vor allem die Wider197

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Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, 93 ff., 107 u. ö.

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fahrnisse des Todes und des Leidens, treiben mich über die dritte Stufe hinaus. Auf der vierten Stufe überwinden wir nicht nur unseren Egoismus, sondern unsere Egozentrizität und betreten die metaphysische Ebene der Orientierung am Ganzen. Das meint Schopenhauer mit der ›transzendentalen Veränderung‹ 198 , der Überwindung des principium individuationis. Damit erreichen wir den metaphysic point of view. Vorher bezogen sich unsere Fragen auf das eigene, individuelle Dasein: Wie kann, will und soll ich sinnvoll leben? Was ist der Sinn meines Lebens? Jetzt beziehen sich unsere Fragen auf das Allgemeine: Was ist der Sinn des Lebens? Was ist der Sinn des Ganzen?

198 Schopenhauer, ZA II: 487, 492, 498 (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Bd., §§ 68 ff.).

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IV. Metaphysik der letzten Fragen: Die Hauptprobleme

1.

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In der Welt, so wie wir als Menschen sie aus der Innenperspektive erfassen, gibt es Positives und Negatives. Positiv für uns sind das Glück, der Erfolg, das Gelingen, positiv sind auch das Wahre, das Gute, das Schöne, das Vollkommene usw. Die Menschen haben selten das Bedürfnis gespürt, nach einer Rechtfertigung für das Positive zu suchen. Wenn sich jemand freut, muss er dies meist nicht legitimieren und er wird auch nicht nach dem Sinn des Glücks fragen. Hingegen verlangt die Existenz des Negativen nicht nur eine Erklärung (warum? wie kam es dazu? wie lässt es sich das nächste Mal vermeiden?), sondern der Betroffene empfindet das Verlangen nach einer Rechtfertigung: Wieso gerade ich? Wozu? Welchen Sinn hat das Negative? Nicht alles Negative ist sinnlos. Ohne die genetischen Reproduktionsfehler käme es nicht zu den biologischen Variationen, die die Evolution vorangebracht haben; Irrtümer haben sich als nützlich erwiesen für den Fortschritt der Wissenschaften usw. Es gibt also Negatives, das sein soll, zumindest aus einer umfassenden Perspektive. Das Negative, das nicht sein soll, ist ein Übel. »Das Übel ist nichts anderes als die Unangemessenheit des Seins zu dem Sollen.« 1 Genau diese Einsicht in die Differenz von Sein und Sollen ist der Ausgangspunkt der modernen Metaphysik, so wie wir sie oben (I.3.) bestimmt haben. Mit ihrer Frage nach dem Sinn der Übel tritt sie das Erbe der Theodizee an. Die These, dass die Sinnfrage die »säkularisierte Version der Theodizee-Frage« sei, findet sich zum ersten Mal bei Günther Anders. 2 Allerdings möchte der Anti-Metaphysiker Anders die

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Hegel, Werke X: Enzyklopädie, § 472 A. Anders, Die Antiquiertheit des »Sinnes« (1972), 386.

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Frage nach dem Sinn des Lebens als theologisches Erbe entlarven und damit überwinden. Hingegen soll hier positiv an die Theodizeeproblematik angeknüpft werden. Die leitende Überzeugung dieses Kapitels ist, dass wichtige Teilfragen der alten Theodizee in der modernen Metaphysik neu gestellt werden können. Zu diesem Zwecke sei zunächst erläutert, was im christlichen Abendland unter Theodizee verstanden wurde. Dann werde ich die These aufstellen, dass nicht nur die christliche Lösung, sondern alle optimalen Lösungsstrategien für das Theodizeeproblem in der Moderne entwertet sind. Schließlich lässt sich aber aus der klassischen Theodizeediskussion eine Typologie von Übeln gewinnen. (a) Das klassische Theodizeeproblem Der Ausdruck wurde bekanntlich von Leibniz geprägt und heißt wörtlich »Rechtfertigung Gottes«. 1710 erschien sein Hauptwerk, »Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels«. Kant gibt folgende Definition: »Unter einer Theodizee versteht man die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt.« (XI: 105) In der Theodizeedebatte wird also Gott von der menschlichen Vernunft zur Rechenschaft gezogen angesichts der Existenz der Übel in dieser Welt. Die Fragestellung, um die es geht, lässt sich als Dilemma rekonstruieren, als Widerstreit zwischen zwei Aussagen: (1) Es gibt EINEN Gott. Dieser Gott ist (a) allmächtig (was einschließt, dass er auch allwissend ist) und (b) allgütig (was einschließt, das er nichts Schlechtes bzw. Böses tut oder auch nur zulässt). (2) Es gibt in der Welt Übel. Dass diese beiden Aussagen nicht miteinander vereinbar sind, hat, wie wir aus »De ira dei«, einem Spätwerk des Kirchenvaters Laktanz (gest. 325/330) wissen, offensichtlich bereits Epikur mit großer Scharfsinnigkeit herausgearbeitet. Im folgenden Zitat sind nur der Übersichtlichkeit halber die verschiedenen Diskussionspunkte durch Buchstaben gekennzeichnet: »[a] Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, [b] oder er kann es und will es nicht, A

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Metaphysik der letzten Fragen: Die Hauptprobleme

[c] oder er kann es nicht und will es nicht, [d] oder er kann es und will es. [zu a] Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. [zu b] Wenn er kann und nicht will, dann ist er mißgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. [zu c] Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. [zu d] Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?« 3

Diese Fragen haben über mehrere Jahrhunderte, vor allem in der frühen Neuzeit, die Philosophiegeschichte geprägt, oft auch in indirekter Form. 4 Und es gibt unzählige Versuche, mit dem klassischen Theodizeeproblem fertig zu werden. Eine erste Fraktion versucht die Vereinbarkeit der beiden Hörner des Dilemmas nachzuweisen. Diese Bestrebungen überwiegen in der gegenwärtigen analytischen Philosophie, etwa bei Alvin Plantinga. Eine zweite Fraktion revidiert das Ausgangsdilemma. Dabei unterscheiden sich ältere und neuere Versuche auf charakteristische Weise. Denn die älteren Ansätze bestritten in der Regel die Aussage (2), also die Existenz des Leides bzw. dessen Ausmaß; eine prominente Rolle spielte in diesem Zusammenhang die These, dass alles Negative in dieser Welt nur ein Mangel an Positivem sei (privatio boni). Im Koran wird behauptet, dass die Welt nicht nur ursprünglich, sondern immer und überall gut sei, wenn wir nur in der Lage seien, dies wahrzunehmen. 5 In neueren Ansätzen wird hingegen eher die Prämisse (1a) fallengelassen, so dass Epikurs Variante [a] herauskommt: Im Evangelischen Erwachsenenkatechismus liest man, dass Gott nicht als Prinzip, sondern als Kraft zu denken sei. 6 Die einen spekulieren, dass Gott nicht mehr die Geschicke der Welt lenke, weil er sich in sie ›entäußert‹ und uns Menschen die Verantwortung übertragen habe. 7 Wieder andere betonen, dass wir Gott nicht als gerechten Herrscher, sondern als liebenden Vater beAus: Lucius Caecilius Firmianus Lactantius, De ira dei; zit. nach: Epikur, Von der Überwindung der Furcht, 136. 4 Darauf hat vor allem Odo Marquard mehrfach hingewiesen; vgl. ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, 52–65; ders., Abschied vom Prinzipiellen, 39–66; ders., Apologie des Zufälligen, 14 ff. u. ö. Die Aktualität der Theodizee-Problematik für die Gegenwart wird vor allem von Johann Baptist Metz hervorgehoben. 5 Kermani, Der Schrecken Gottes, 25 ff. unter Berufung auf Sure 67, 3 f. sowie Sure 18. 6 Evangelischer Erwachsenenkatechismus, 72. 7 Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz; ders., Materie, Geist und Schöpfung, 56 ff. 3

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greifen sollten, dessen weitsichtige Liebe wir als seine Kinder nicht begreifen können; in diese Richtung argumentiert etwa Kierkegaard. 8 So erklärten sich Verhaltensweisen Gottes, die aus unserer begrenzten menschlichen Sicht als ungerecht erscheinen müssten, vor allem als Ungleichbehandlung. 9 Dritte sehen in Jesus von Nazareth am Kreuz und seinem Schreien das Symbol dafür, dass Gott selbst das Leiden aller Kreaturen auf sich genommen hat. Bereits Schelling hatte geschrieben: »Ohne den Begriff eines menschlich leidenden Gottes … bleibt die ganze Geschichte unbegreiflich« 10 . Der späte Schelling hat aber auch deutlich gemacht, dass es sich dabei nicht mehr um rationale Argumente handelt, sondern um Mythen mit anthropomorphen Bildern. Eine dritte Fraktion schließlich weist die gesamte Fragestellung zurück. Fromme Christen erheben den Vorwurf der Hybris und der Blasphemie: Wie kann der Mensch es wagen, Gott vor Gericht zu bringen? Einige Theologen sehen in der philosophischen Theodizeedebatte eine intellektuelle Spielerei ohne existenziellen Wert. 11 Für Lübbe ist das oben dargestellte Dilemma bloß ein philosophisches Pseudoproblem; neuere Lösungsversuche wie der von Hans Jonas seien nichts anderes als eine »seminaristische Kopfgeburt«. 12 Die christliche Religion lebe gerade davon, dass die Frage nicht beantwortet werden könne; Gott sei eben der unausweisbare Trost und die unbegreifliche Verheißung, dass doch noch alles gut wird. Schließlich gibt es als vierte Fraktion noch diejenigen, die Gott nicht trotz, sondern wegen des Leidens als gerechtfertigt ansehen: In unserer Qual bräuchten wir jemanden, den wir verantwortlich machen, anklagen und beschimpfen können. Kurz vor seinem Tod, am 3. Februar 1856, nach Jahren voller Schmerzen, beschloss Heinrich Heine in einer seiner letzten Notizen »den lieben Gott, der so grausam an mir handelt, bey der Thierquälergesellschaft (zu) verklagen«. 13 Nach der Ansicht des sterben-

Vgl. Kierkegaard, GW 17: Reflexionen über Christentum und Naturwissenschaft, 124 f. (SV VII A: 181). 9 Siehe das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (NT, Matth. 20: 1–16), auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn (NT, Luk. 15: 11–32). 10 Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit …, 95. Vgl. Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie (1972). 11 Kessler, Gott und das Leid seiner Schöpfung, 16 f., 20 f., 40, 125 ff. u. ö. 12 Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 198. 13 Vgl. Kermani 38 u. 260–264, Zitat dort 264. 8

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den Fritz Zorn müsste man Gott erfinden, »bloß um ihm eins in die Fresse zu hauen«. 14 Eine Stellungnahme zum klassischen Theodizeeproblem können wir uns ersparen. Denn die Grundlage dieser Studie ist die Widerlegung der Gottesbeweise durch Hume und Kant. Wenn schon die Existenz des einen allmächtigen und allgütigen Gottes nicht nachgewiesen werden kann, ja, die stärkeren Argumente gegen seine Existenz sprechen, dann brauchen wir auch nicht mehr nach den Gründen zu forschen, die ER für die Existenz der Übel in der Welt haben mag. Auf der Grundlage eines methodischen Atheismus ist somit das klassische Theodizeeproblem hinfällig. Nietzsches Lieblingswitz, »die einzige Entschuldigung Gottes ist, dass er nicht existirt«, ist die Geschäftsgrundlage dieser Arbeit. 15 (b) Die allgemeine Theodizeefrage und einige optimale Antworten Die Frage selbst ist allerdings nicht an das Christentum oder eine andere monotheistische Religion gebunden, sondern viel älter und weltweit verbreitet. Der weite Begriff der Theodizee bezieht sich allgemein auf die Frage, welchen Sinn die Übel in der Welt haben. Nach der Auffassung von Max Weber, die ansatzweise schon Nietzsche vertreten hat 16 , wurden alle Religionen durch diese Theodizeefrage geprägt; am wichtigsten war dabei immer das Pathodizeeproblem, also der Frage nach dem Sinn des Leidens. 17 Erinnert sei hier nur an das Buch Hiob im Alten Testament. Der Islam kennt eine umfangreiche Literatur des Haderns mit Gott wegen der Übel der Welt. 18 Für Max Scheler bildet die Frage nach dem Sinn des Leides sogar ein »Kernstück« aller großen Denksysteme und geistigen Bemühungen der Menschheit, nicht nur der religiösen. 19 Tatsächlich findet sich die Zorn, Mars, 174, vgl. ebd. 218. Nietzsche, Ecce Homo, »Warum ich so klug bin« 3 (KSA VI: 286 = S II: 1088); Nietzsche nennt Stendhal als Erfinder dieses Bonmots. 16 Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II 7 (KSA V: 304 = SII: 809) u. ebd. III 28 (KSA V: 411 = S II: 899). 17 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 315. 18 Vgl. das großartige Buch von Kermani, Der Schrecken Gottes, in dessen Mittelpunkt das Werk von Faridoddin Attar (ca. 1145 bis ca. 1220) steht, vor allem »Das Buch des Leidens«. 19 Scheler, GW VI: Vom Sinn des Leides, 36. 14 15

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Frage nach dem Sinn des Todes schon im babylonischen GilgameschEpos und in der alten ägyptischen Literatur; um den Sinn des Leidens kreisen die großen Tragödien der klassischen griechischen Kultur des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Die Universalität der allgemeinen Theodizeefrage legt eine anthropologische Erklärung nahe. Der Mensch ist erstens ein rationales Wesen, animal rationale, das nach Ursachen und Gründen fragen kann sowie nach Ordnung und Vollkommenheit strebt. Der Mensch ist zweitens ein leidensfähiges Wesen, homo patiens; deshalb fragt er nach dem Grund bzw. dem Sinn des Leidens und der Unvollkommenheit. Weil er zudem ein soziales Wesen ist, ein animal sociale, ist er sensibel für das Leiden anderer und lässt sich auch dadurch zu metaphysischen Fragen inspirieren. Eine solche anthropologische Erklärung, die hier nur angedeutet werden kann, muss selbstverständlich sozialhistorisch differenziert werden. So tritt die Theodizeefrage zurück, wenn das Leiden zu stark und zu unmittelbar ist, aber auch wenn es ganz aus unserem Bewusstsein verschwindet, wie etwa in den demokratischen Wohlstandsgesellschaften. Das goldene Zeitalter der Theodizee ist wohl die europäische Neuzeit. Max Weber hat sogar zwischen verschiedenen sozialen Schichten unterschieden: Intellektuelle stellen die Theodizeefrage eher als Handwerker und diese eher als Bauern. 20 Aber wie dem auch sei, im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende haben Menschen eine Fülle von Lösungsstrategien für die allgemeine Theodizeefrage entwickelt. Diese beruhen auf sehr unterschiedlichen ontologischen, erkenntnistheoretischen und ethischen Voraussetzungen; aus internen und externen Gründen ist den Ansätzen ein unterschiedlicher Erfolg beschieden gewesen. Mit der idealtypischen Methode seiner vergleichenden Religionssoziologie hat Max Weber mehrere optimale Antwortversuche herausgearbeitet, die wir problemlos auf die metaphysische Sinnfrage übertragen können. 21 Die erste optimale Lösung ist der Dualismus. Er kann in zwei Varianten vertreten werden, einer starken und einer schwachen. Der Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 308 u. 703. Weber, Zwischenbetrachtung. Stufen und Richtungen der religiösen Weltablehnung, 570 ff.; ders., Wirtschaft und Gesellschaft, Kap. V, § 8: »Das Problem der Theodizee«. Ohne Weber zu erwähnen, folgt ihm Jaspers, Philosophie, III: 76 ff. (Karmanlehre, Dualismus und Prädestinationslehre als optimale Lösungen). Anknüpfend an Weber auch Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, 3. Kap.

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starke Dualismus geht von zwei gleichursprünglichen Prinzipien aus; der schwache Dualismus postuliert, dass das zweite Prinzip aus dem ersten hervorgegangen ist, sich aber von ihm emanzipierte. 22 Letztlich aber ist die grundlegende Annahme in beiden Varianten, dass es nicht eine Gottheit gibt, sondern derer zwei, die einander feindlich gegenüber stehen wie Licht und Finsternis, wie Gut und Böse. Die Welt ist eine Mischung dieser Urprinzipien; nur der Mensch ist frei und kann zu einer Entscheidung im Kampf der beiden Mächte beitragen. Dieser Ansatz ermöglicht eine einfache und dennoch intellektuell befriedigende Antwort auf die Theodizeefrage: Alle Übel kommen von dem Prinzip des Bösen. Der Ahnherr dieser Lösungsstrategie ist Zarathustra (griech. Zoroaster, pers. Zarduscht), dessen Lehren das Mitte des sechsten Jahrhunderts entstehende persische Weltreich prägten. Dualistisch ist aber auch ein großer Teil der griechischen Philosophie. Der Gegensatz wird aber dort nicht moralisch, sondern ontologisch begründet: Nicht Gut und Böse stehen sich gegenüber, sondern ›Geist‹ und ›Materie‹. Diese beiden Strömungen verbinden sich in den ersten Jahrhunderten nach unserer Zeitrechnung, zunächst in der Gnosis. 23 Marcion (2. Jh.) entdeckte den Gegensatz der beiden Gottheiten in der Bibel: Dem bösen Schöpfergott des Alten Testaments steht der gute Erlösergott des Neuen Testaments gegenüber. Mani (3. Jh.) vereinigte Gedanken von Zarathustra, Buddha, Jesus und der Gnosis zu einer neuen synkretistischen Religion, dem nach ihm benannten Manichäismus, der im dritten und vierten Jahrhundert im Abendland sehr einflussreich wurde. Bei seiner Zurückdrängung spielte Augustinus, der selbst zeitweise mit dieser Konzeption sympathisierte, eine wichtige geistesgeschichtliche Rolle. 24 Dennoch finden sich dualistische Gedanken auch im vulgär-christlichen Glauben; man denke etwa an die Rolle des Teufels, einer Figur, die den Juden vor der babylonischen Gefangenschaft noch unbekannt war. Ein ganz anderes Beispiel für dualistische Erklärungen mit großer Anziehungskraft auf viele Menschen sind die modernen Weltanschauungen; auch sie beruhen auf der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, auch sie führen alle Übel auf das böse Prinzip zurück. Das beste Beispiel ist der Vgl. Kreiner, Gott im Leid, 81 f. Vgl. Jonas, Die Gnosis – ein mythologisch-dualistisches Moment des europäischen Welt- und Selbstverständnisses, 29–48; ausführlich ders., Gnosis und spätantiker Geist. 24 Vgl. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, 147–159. 22 23

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Nationalsozialismus, der in den Juden, wie Himmler es 1938 ausdrückte, den »Urstoff alles Negativen« sah. 25 Auch die wechselseitigen Feindbilderklärungen zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen USA und Islam folgen diesem Muster. Der Sinn des Lebens bestehe demnach im Kampf gegen das Böse, das ausgerottet werden muss. Die zweite optimale Antwort hält Weber für noch überzeugender: Die Übel sind als gerechte Strafe zu begreifen. Nach Ansicht Kants handelt es sich um eine anthropologisch tief verankerte Sichtweise (RGV VIII: 728 Fn). Die enge Verbindung von Leiden und Strafe wird sogar wortgeschichtlich festgehalten: Das alte deutsche Wort für Schmerz, Pein, ist mit dem lateinischen Wort für Strafe, poena, verwandt. Dieser Theodizeeversuch spielt vor allem in der indischen Seelenwanderungslehre eine zentrale Rolle. Ansätze finden sich aber schon in den animistischen Vorstellungen vom Übergang der Totengeister in Naturobjekte. Die ganze Welt, so Webers Interpretation, sei demnach »ein lückenloser Kosmos ethischer Vergeltung«. 26 Gottheiten sind überflüssig. Alles geschieht nach der moralischen Ordnung des Kosmos, nichts gerät in Vergessenheit. Das Negative, das uns in diesem Leben widerfährt, sei die gerechte Strafe für das, was wir uns in einer früheren Existenzform haben zuschulden kommen lassen. Die hier vorliegende Justifizierung der Übel findet sich auch im alten Judentum. Es gibt, so die Annahme, einen »Bund« zwischen Gott und seinem Volk. Dieser Gott ist nicht frei von Eifersucht und Zorn, hat aber versprochen, sein Volk zu erhöhen bzw. zu erlösen. Die Leiden, die er seinen Geschöpfen auferlegt, lassen sich auf deren Unbotmäßigkeiten zurückführen; dabei muss die Strafe gar nicht den Missetäter selbst treffen, sondern kann auch über seine Nachkommen verhängt werden. Dieser Gedanke wird seit Augustin im Christentum weiter verallgemeinert, nämlich zu einer universellen Vergeltungslogik: Alle Übel lassen sich auf die ursprüngliche Verfehlung des Menschen zurückführen, auf die Erbsünde; sogar der Tod wird als der Sünde Sold verstanden. 27 Auch hier sind also alle Übel sinnvoll, nämlich als gerechte Strafe zu verstehen. Zit. nach Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, 482. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 318. 27 NT, Paulus, Brief an die Römer 5: 12 u. 6: 23; vgl. AT, Genesis 2: 17 u. 3: 19; auch AT, 1. Samuel 12: 15. Zu einem ähnlichen Gedanken vgl. Platon, Nomoi, 854b. 25 26

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Die beiden letzten Lösungen werden von Weber miteinander verbunden, wir können sie aber aus philosophischer Sicht unterscheiden. Da wäre zunächst der metaphysische Voluntarismus, der sich ansatzweise bereits bei Heraklit findet: »Bei Gott ist alles schön und gut und gerecht; die Menschen halten einiges für gerecht, anderes für ungerecht.« 28 Das ist so zu verstehen: Die göttlichen Maßstäbe sind andere als unsere; wir sind nicht in der Lage, die Werte und Kriterien, nach denen Gott die Welt regiert, zu verstehen. Im Rahmen des Christentums ist dieser Ansatz vor allem im Voluntarismus des späten Mittelalters entwickelt worden: Gottes Wille ist höher als alle Vernunft; deshalb entzieht er sich auch unseren moralischen Prädikaten. Dem folgt Luther, der sogar zwischen drei Sichtweisen unterscheidet: Dem lumen naturae (dem natürlichen Licht, also unserer menschlichen Vernunft) erscheint unsere Welt als ungerecht; das lumen gratiae (das Licht der Gnade) verheißt uns eine Antwort, die wir aber noch nicht kennen; dies geschieht erst im Lichte der Herrlichkeit (lumen gloriae). 29 Für uns hier auf Erden mit unserer Vernunft bleibt das Absolute unbegreiflich, Gott unergründlich (deus absconditus) und ein Geheimnis. 30 Der Voluntarismus ist auch eine der Lösungen des Theodizeeproblems im Islam: Alles geschieht nach Gottes Willen, wir können uns nur unserem Schicksal (kismet) fügen. 31 Mit anderen Worten: Alles hat einen Sinn, aber wir können ihn nicht immer sofort verstehen. Die vierte optimale Lösung ist die Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits. Der Ursprung dieser Vorstellung liegt in der Entwicklung eines Seelenglaubens. Es gäbe, so der grundlegende Gedanke, eine unzerstörbare, aber unsichtbare Substanz in unserem Inneren, die nach dem Tod des Körpers diesen verlassen und an einen anderen Ort gehen kann. Dabei dachte man zunächst an geographisch entlegene Regionen (entfernte Inseln, unterirdische Höhlen o. ä.), später an eine andere Sphäre, ein Jenseits dieser Welt. Im alten Heraklit, Fr. 102 (ed. Mansfeld). Vgl. Gollwitzer, Krummes Holz – aufrechter Gang, 381, mit Bezug auf das Ende von Luthers »De servo arbitrio«. 30 Dieser Gedanke stand im Mittelpunkt der Theologie von Karl Rahner, vgl. Kreiner, Gott im Leid, 49. Vgl. zwei neuere philosophische Ansätze in dieser Richtung Puster, Das sogenannte Theodizee-Problem (2000), und Illies, Theodizee der Theodizeelosigkeit (2000). 31 Miehl, Islam, 92 ff.; zu anderen Lösungen im Islam vgl. Kermani, Der Schrecken Gottes, 26 ff. 28 29

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Judentum spielten solche Vorstellungen noch keine Rolle; hingegen kennt schon Platon den Mythos eines Totengerichts, vielleicht inspiriert durch die Orphik oder die eleusinischen Mysterienkulte. Dominant wird diese Lösungsstrategie vor allem im Christentum. Alles das, was an Negativem in dieser Welt passiert, wird auf gerechte Weise im Jenseits kompensiert: die Toten werden zu einem ewigen Leben auferstehen, die Guten und die Bösen werden ihre gerechten Belohnungen bzw. Strafen erhalten, Leiden wird es nicht mehr geben. Das irdische Leben, so kann man diese eschatologische Sichtweise zusammenfassen, hat keinen Sinn, es ist nur das kurze und schreckliche Vorspiel für etwas anderes. Diese vier optimalen Lösungsstrategien können im Rahmen einer modernen Metaphysik nicht mehr überzeugen. Dafür sprechen zunächst erkenntnistheoretische Argumente: Über einen transzendenten Gott, eine kontinuierliche Identität unseres Selbst über Geburt und Tod hinweg sowie über ein Jenseits dieser Welt können wir keine Aussagen machen, weil unsere Erfahrung nicht so weit reicht. Für die dualistische These, dass sich die Wirklichkeit auf zwei absolute und wertmäßig konträre Instanzen, zwei Grundsubstanzen, zurückführen lässt, haben wir keinerlei empirisch-wissenschaftliche Indizien. Bereits Kant hat herausgestellt, dass es sich bei der Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits um eine willkürliche Annahme handelt, die keinen anderen Zwecken dient (also eine ad-hocHypothese). Zudem, so Kant weiter, können alle Annahmen, die wir über den künftigen Lauf der Dinge, also auch unser Schicksal in einer anderen Welt, machen, nur Extrapolationen unserer hiesigen Erfahrungen sein: Diese aber sprechen dafür, dass es uns in Zukunft nicht prinzipiell besser ergehen wird als jetzt (XI: 113 f.). Auf derselben Linie liegt das berühmte Bild Russells: Wenn in einer Kiste Orangen die obere Lage verfault ist, spricht alles dafür, dass es sich ebenso mit der gesamten Ladung verhält. 32 Darüber hinaus sind gegen mehrere der optimalen Lösungsstrategien normativ-praktische Argumente vorzubringen: Die moralisch aufgeladene Seelenwanderungslehre und auch die alt-jüdische Ansicht von Strafen bis ins dritte oder vierte Glied widerspricht unserem normativen Begriff der Person: Strafen dürfen nur auf den Täter selbst bezogen sein, nicht auf dessen Nachkommen oder Individuen späterer Zeiten. Zu der Ansicht, »daß die göttliche [Weisheit] nach 32

Russell, Warum ich kein Christ bin, 25 f. A

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ganz andern uns unbegreiflichen Regeln beurteile« und »daß die Wege des Höchsten nicht unsre Wege« sein würden, äußert sich Kant außergewöhnlich polemisch: »Diese Apologie … bedarf keiner Widerlegung; und kann sicher der Abscheuung jedes Menschen, der das mindeste Gefühl für Sittlichkeit hat, frei überlassen werden.« (XI: 108 f.) 33 Niemals dürfe man sich einem Wesen unterwerfen, sei es Mensch oder Gott, dessen moralische Begriffe uns unverständlich und dessen moralische Begründungen uns unbekannt sind, zumal wenn sich in seiner Verantwortung so viel Negatives ereignet. Zu einem solchen Wesen kann man erst recht keine vertrauensvolle Beziehung aufbauen. Der Voluntarismus hat sogar a-moralische Konsequenzen: Wenn wir ohnehin nicht begreifen, wie Gott uns für unsere Taten belohnen wird, ist es gleichgültig wie wir uns in Konfliktsituationen entscheiden; wir bräuchten uns auch nicht mehr an unseren menschlichen Moralbegriffen zu orientieren. 34 Teilweise lassen sich die genannten Ansätze herrschaftssoziologisch gut erklären: Die indische Seelenwanderungslehre legitimiert das hierarchische Kastensystem, die Aussicht auf einen Ausgleich im Jenseits vertröstet die Unterdrückten und Ausgebeuteten. Auch tiefenpsychologische Erklärungen liegen nahe: Die Justifizierung der Übel kommt einem gegen die eigene Person gewendeten Strafbedürfnis entgegen; dem Voluntarismus liegt der Abwehrmechanismus einer Identifikation mit dem Angreifer zugrunde; der Dualismus beruht auf dem, was Melanie Klein als Objektspaltung bezeichnete und nach ihrer Ansicht schon in der Beziehung des Kleinkinds zu seinen primären Bezugspersonen eine Rolle spielt. 35 (c) Eine Typologie von Übeln Wenn das klassische Theodizeeproblem unlösbar und die optimalen Lösungsstrategien hinfällig sind, ist damit die Theodizeefrage erledigt? Nein, keineswegs. Wenn die Antworten nicht mehr überzeugen, ist dadurch ja nicht die Frage beseitigt. Und davon, dass die Übel, die ehemals Gottes Macht und grenzenlose Güte in Frage stellten, verschwunden sind, kann keine Rede sein. 33 34 35

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Vgl. auch Leibniz, Theodizee, Einl. § 37. Vgl. Streminger, Gottes Güte und die Übel der Welt, 295 f. Laplanche/Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, 346 f.

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Theodizee nach dem Tode Gottes

Philosophiegeschichtlich wechselte zunächst nur die Instanz, nach deren Rechtfertigung gefragt wird. An die Stelle Gottes tritt bereits im Aufklärungszeitalter die Natur (Physiodizee): Sie wird gegen den Vorwurf verteidigt, grausam und ungerecht zu sein, etwa in Rousseaus Erwiderung auf Voltaires Lissabon-Schrift. Bei Hegel verschiebt sich die Theodizeefrage, soweit er sie explizit behandelt, ganz in die Geschichtsphilosophie (Historiodizee). Humanisten, die an das Gute im Menschen glauben, müssen dieses angesichts der Übel in der Welt genauso rechtfertigen wie früher die Theologen die Güte Gottes (Anthropodizee). Nietzsche prägt den Begriff einer »Kosmodicee« 36 , mit Bezug auf Heidegger könnte man von »Ontodizee« sprechen. 37 Diese Formulierungen sind aber alle noch zu stark dem klassischen Modell verhaftet. Die moderne Metaphysik kann nichts mehr rechtfertigen, sondern nur noch über Sinnfragen reflektieren. Vor allem aber geht es (um die juristische Sprache beizubehalten) gar nicht mehr um die Instanz, die sich rechtfertigen muss; die Schuldfrage können wir ausklammern. Im Mittelpunkt der metaphysischen Sinnfragen stehen vielmehr bestimmte Tatbestände (das Negative), die zu klären sind, um anschließend deren Rechtswidrigkeit zu erörtern, also nach ihrem Sinn zu fragen. Diese Tatbestände lassen sich in einer anderen Begrifflichkeit als »Grenzsituationen« bezeichnen; in ihnen wird uns »gleichsam der Boden unter den Füßen weggezogen« und die »Fragwürdigkeit« unseres Lebens tritt auf. 38 Um die endlose Zahl einzelner Übel, denen wir in dieser Welt begegnen, zu sortieren, kann man sehr gut an die klassische Theodizeedebatte anknüpfen. Die Scholastik unterschied zwischen zwei Formen von Übeln, den physischen und den moralischen. Das eine Übel, das malum physicum, hat seine Ursachen in der Natur, vor allem im Wesen aller empfindungsfähigen Wesen; es besteht in den Krankheiten und Schmerzen, die Tiere und insbesondere wir Menschen immer wieder erleiden müssen. Das andere Übel, das malum morale, kommt erst durch uns Menschen in die Welt; gemeint sind die schlechten und bösen Handlungen, die wir überall finden, all der Hass und Neid, die Aggression und Rücksichtslosigkeit unter den Menschen. Seit Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen I, 7 (KSA I: 197 = S I: 170). Helmut Kuhn zit. in Lütkehaus, Nichts, 115. 38 Jaspers, Philosophie II: 204 ff., 249. Eine andere Sprache verwendet Wittgenstein, Vortrag über Ethik, 14 ff., der drei metaphysische »Erlebnisse« nennt: das Staunen darüber, dass überhaupt etwas existiert; das »Erlebnis der absoluten Sicherheit«, obwohl wir jeden Moment sterben könnten; das Gefühl, schuldig geworden zu sein. 36 37

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Boethius wird gefragt: Wie kommt das Böse in die Welt? 39 Leibniz fügte eine weitere Form des Übels hinzu: die Unvollkommenheit des Seienden. Er spricht vom malum metaphysicum 40 ; in meiner Terminologie ist der Begriff malum ontologicum treffender. Ein Beispiel dafür sind die vielfältigen Begrenztheiten alles Seienden, die Knauserigkeit, mit der Mutter Natur oder der Herrgott seine Geschöpfe ausgestattet hat, die Mangelhaftigkeit unserer natürlichen Ausstattung. 41 Die Endlichkeit des menschlichen Daseins kommt vor allem in der Tatsache des Todes zum Ausdruck. Schließlich ergänzt Kant in seinem Theodizee-Aufsatz eine vierte Form des Übels (XI: 107): Diese entspringt aus der Verbindung der beiden erstgenannten, der Schmerzen und des Bösen. Alle Erfahrung zeigt uns nämlich, dass zwischen diesen beiden in dieser Welt ein Missverhältnis besteht: Den Bösen geht es oft gut und die moralischen Menschen müssen leiden. Dieses Missverhältnis von Moral und Glück haben wir oben (III.3.) als das Problem der metaphysischen Gerechtigkeit bezeichnet. Ich werde im Folgenden das Problem des Bösen ausklammern. 42 Denn wenn die Prämisse des allmächtigen und allgütigen Gottes wegfällt, ist die Frage, wo das Böse herkommt, weniger irritierend. Vielleicht sollte man sie vor dem Hintergrund einer Naturgeschichte, in der offensichtlich weitgehend das Recht des Stärkeren gilt, sogar durch die Frage, woher das Gute komme, ersetzen. Die andere Teilfrage, warum es den Bösen gut und den Guten schlecht ergeht, fällt mit dem Problem der metaphysischen Gerechtigkeit zusammen. Somit lässt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens in drei Teilfragen zerlegen, die sich, wie man unschwer erkennen kann, auf die drei wesentlichen Eigenschaften des Lebens beziehen, die bereits oben herausgearbeitet wurden (II.1.): (1) Der Einwurf gegen Gott, dass seine Schöpfung so viele Unzulänglichkeiten aufweise, wird zur Frage nach der Unvollkommenheit, die uns absolut betrifft, nämlich als zeitliche Endlichkeit unseres Daseins: die Frage nach dem Sinn des Todes. (2) Der Einwurf gegen Gott aufgrund der Schmerzen seiner empfindungsfähigen Geschöpfe wird zur Frage nach dem Sinn des Leidens. (3) Der Einwurf gegen Gott, dass es in dieser Welt eine himmelschreiende Diskrepanz zwischen Moral und Glück gebe, wird zur 39 40 41 42

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Boethius, Trost der Philosophie, 1. Buch, 32/33. Leibniz, Theodizee, § 21. Vgl. Hume, Dialoge über natürliche Religion, 112–115. Siehe aber: Thies, Einführung in die philosophische Anthropologie, Kap. 3.2.

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Der Sinn des Todes

Frage nach einer möglichen metaphysischen Gerechtigkeit. Worum es also geht, ist (1) eine Thanatodizee, (2) eine Pathodizee und (3) eine Ethikodizee. Bei der Behandlung dieser Themen wird sich zeigen, dass viele Argumente der klassischen Theodizee-Debatte auch heute noch aktuell sind; deshalb sollten sich die Leser(innen) nicht wundern, wenn ich im Folgenden immer wieder Autoren zitiere, die vom Tod Gottes noch nichts erfahren haben.

2.

Der Sinn des Todes

Die erste Teilfrage richtet sich auf das Problem des Todes. Der Tod steht exemplarisch für das ontologische Übel, das malum ontologicum, die Begrenztheit und Endlichkeit des menschlichen Lebens. Die Frage nach dem Sinn des Todes ist in dieser Studie schon seit dem ersten Kapitel das herausragende Beispiel für eine Frage, die uns alle absolut betrifft: Alle Menschen müssen sterben, meine Freunde und Feinde, meine Eltern und meine Kinder, ich selbst. »Der Tod … ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert.« 43 Hat der Tod trotzdem einen metaphysischen Sinn? Wenn das der Fall wäre, könnte man von einer Thanatodizee sprechen. Auch wenn man nach dem Sinn des Todes fragt, sind zunächst die verwendeten Begriffe zu klären. Ich beginne also mit der Frage nach der Bedeutung des Begriffs »Tod«. 44 Eine solche Vorklärung erlaubt mir die Differenzierung und Einengung meiner Fragestellung. Dann formuliere ich mehrere Thesen zum Sinn des Todes, die größtenteils auf kategorialen Unterscheidungen und Einsichten vorangegangener Kapitel beruhen. Wie im Kapitel über das Leiden gilt auch hier, dass die Reflexionen nicht zu verwertbarem Wissen führen können, dass man von Allgemeingültigkeit der Resultate nur in einem eingeschränkten Sinn sprechen kann. Denn tatsächlich stirbt jeder seinen eigenen Tod – und deshalb ist eine individuelle Lösung erforderlich: »O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod,/das Sterben, das aus jenem Leben geht,/darin er Liebe hatte, Sinn und Not.« (Rainer Maria Rilke) Hegel, Werke III: Phänomenologie des Geistes, 36. Gegen Macho, für den der Tod kein Begriff, sondern eine absolute Metapher ist, vgl. ders., Wir erfahren Tote, keinen Tod, 294.

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(a) Ontologische und begriffliche Vorklärungen Dass unsere individuelle Existenz mit dem Tod endet, ist eine menschheitsgeschichtlich späte Einsicht, die mit den frühen Hochkulturen einsetzt. In den meisten archaischen Gesellschaften gilt der Tod als Übergang in eine andere, oft bessere Existenzform. Deshalb finden sich in diesem Zusammenhang immer wieder Metaphern wie Wanderung, Reise, Umwandlung, langer Schlaf usw. Außerdem war die Auffassung verbreitet, dass es sich bei dem Dahinscheiden einer Person um ein von außen verursachtes Ereignis handele; die Suche nach Schuldigen war die Folge. 45 Die Einsicht in die Endgültigkeit des Todes und die Klage über diese finden sich erstmals im Gilgamesch-Epos (erste Fassung 1800 v. u. Z.), in dem der Held über das plötzliche Dahinscheiden seines Freundes verzweifelt ist und nach einem Mittel für die Unsterblichkeit sucht. In den Hochkulturen kristallisieren sich drei Deutungen (mit sehr unterschiedlichen Varianten und Mischformen) heraus. Diese lassen sich auf den einfachen Gegensatz von Materialismus und Spiritualismus zurückführen; die dritte Deutung ist deren dialektische Verbindung. Aus (proto-)materialistischer Sicht ist das Leben mit dem Tod zu Ende. Die griechische, römische und germanische Mythologie kennt das Bild von dem Abschneiden des Fadens durch die drei Schicksalsgöttinnen (Moiren, Parzen oder Nornen). Früh taucht auch das Bild vom Leben als einer Reise auf; der Tod ist das Ende des Weges. Im Konfuzianismus spielt die Idee einer persönlichen Unsterblichkeit keine Rolle; an deren Stelle tritt die Ahnenverehrung, durch unsere guten Taten können wir in der Erinnerung der Nachkommen weiterleben. Wegweisend für den wissenschaftlichen Materialismus wird der Gedanke, dass der Tod die Auflösung einer Verbindung sei; diese Vorstellung findet sich in der Elementenlehre des Empedokles und in der Atomlehre des Demokrit. Mit dem Tod löst sich der Organismus in seine Bestandteile auf; auch die Seele, wenn es sie denn überhaupt gibt, ist ein Stoff, der diesem Prozess unterliegt. Diese Auffassung wird vom Empirismus weiterentwickelt. Dem Materialismus steht der Spiritualismus gegenüber, für den der Tod nicht das Ende ist. Diese Vorstellung dominiert in der indischen Geisteswelt. Ein extremer Spiritualismus kann bis zur Ansicht gehen, das Leben sei nur ein (schlechter) Traum, so dass es wün45

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Gehlen, Der Mensch (1940), 3.2: 648 u. 731.

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schenswert sei, aus diesem erweckt zu werden. Im antiken Griechenland entwickelt sich im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die dualistische Unterscheidung zweier Substanzen (Leib und Seele), von denen eine, die Seele, das Ende des Leibes überdauere. Diese Auffassung kann verbunden sein mit dem Glauben an eine Reinkarnation (Wiederverkörperung), wie in der Orphik sowie bei Pythagoras und Platon. Die christliche Vorstellung hält an der Idee der Unsterblichkeit der Seele fest, verzichtet aber auf den Glauben an eine Reinkarnation und erhöht so den Wert des leiblichen Individuums als der einzigen Gestalt der Verkörperung der Seele. Von der Unsterblichkeitslehre zu unterscheiden ist die frühchristliche Vorstellung der Auferstehung des Leibes, die vor allem Karl Barth im 20. Jahrhundert in der protestantischen Theologie wieder zur Geltung gebracht hat, so dass man heute wieder sagen kann: »nur Heiden glauben an ihre Unsterblichkeit; Christen glauben an die Auferstehung und damit an den Tod.« 46 Keinen Dualismus wie im Platonismus und Christentum, sondern einen Trialismus finden wir in der aristotelischen Tradition, etwa bei Ibn Rusˇd und seinen christlichen Anhängern, den Averroisten: Leib-Seele-Geist. 47 Die Seele ist das Lebensprinzip, das in allen organischen Wesen wirkt; wenn der Leib seine natürliche Wärme verliert und sich in seine Bestandteile auflöst, kann auch die Seele nicht weiterexistieren. Es gibt keine individuelle Unsterblichkeit, aber der immaterielle Geist, an dem wir alle partizipieren, ist ewig. Jonas meint, der Materialismus könne das Leben nicht begreifen, der Spiritualismus nicht den Tod. 48 Die komplementären Defizite möchte die dialektische Verknüpfung beider Auffassungen aufheben. Aus dem Kreis der Vorsokratiker wäre vor allem Heraklit zu nennen, für den Leben und Tod im Grunde identisch sind. 49 Leben und Tod seien zwei Seiten einer Medaille, wie Tag und Nacht. Schon das Leben ist ein ständiges Sterben, aber auch ein fortdauerndes Geborenwerden. Der Kreislauf der Natur, vor allem der Wechsel der Tages- und Jahreszeiten, ist das Bild für die ständige Verwandlung des Lebendigen in das Tote, des Toten in das Lebendige auf der Theunissen, Die Gegenwart des Todes im Leben, 198. Vgl. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, 282–290, 355–362, 510–513 u. ö. 48 Jonas, Das Prinzip Leben, 25–31. 49 Heraklit B 21, 26, 36, 62, 88 u. ö. (ed. Mansfeld). 46 47

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Grundlage eines übergreifenden Lebensprinzips. Der chinesische Daoismus, vor allem bei Zhuangzi, empfiehlt die Einfügung in diese große Kette von Transformationen. »Leben und Tod bilden als yang und yin zusammen den Lauf (dao) des Lebens.« 50 In der Natur leben wir weiter. Spätestens seit Hume und Kant sind die meisten Philosophen der Ansicht, dass wir über die Fortexistenz der Seele oder der Person nach unserem Tod nichts mehr mit Wahrheitsanspruch aussagen können. Deshalb gibt es im 20. Jahrhundert nur noch wenige Denker, die über unser Fortleben nach dem Tod spekulieren. 51 Man muss wohl sogar noch einen Schritt weitergehen: Wenn das, was wir über den Tod sagen, in einem kohärenten Zusammenhang mit all dem stehen soll, was wir über alles andere wissen, dann müssen wir davon ausgehen, dass der Tod nicht nur das Ende unserer leiblichen Existenz, sondern überhaupt das Ende unseres Lebens ist. Gegenüber der spiritualistischen Auffassung, dass es neben der körperlichen Welt noch eine geistige gibt, in die unsere Seele nach dem Tod eingeht, und gegenüber der dialektischen Auffassung, dass Leben und Tod zwei Seiten einer Medaille sind, halte ich mich also an die materialistische Auffassung, dass unser Leben mit dem Tod an eine absolute Grenze gelangt. Das menschliche Leben ist definitiv endlich, der Tod ist nicht überwindbar. Nicht cogito sum (so Heidegger), sondern sum moribundus sei die unerschütterliche Gewissheit, auf der unsere Existenz beruht. 52 Seitdem sich diese Auffassung durchzusetzen begann, also seit dem Beginn der Moderne, stellt sich überhaupt erst die Frage nach dem metaphysischen Sinn des Todes. Wer ist das Referenzsubjekt des Todes? Nur in einem übertragenen Sinne kann man vom psychischen Tod in Reifungskrisen oder vom sozialen Tod bei Einsamkeit, von toten Dingen oder totem Wissen sprechen. Erst recht als schlechte Metaphorik abzulehnen ist die Rede vom Tod einer biologischen Art oder einer sozialen Gemeinschaft. Der Tod betrifft immer nur organische Individuen, sogar nur solche ab einer bestimmten Komplexitätsstufe. Wie weit der Tod in die Natur zurückreicht, muss hier nicht interessieren, weil es mir nur Wohlfart, Zhuangzi (Dschuang Dsi), 60; siehe Zhuangzi, Kap. XVIII: 2, VI: 1 u. 3, II: 2 u. ö.; vgl. Bauer, China und die Hoffnung auf Glück, 72. 51 Zwei bemerkenswerte Ausnahmen: Scheler, GW X: Tod und Fortleben (geschrieben zwischen 1911 und 1916), 9–64; Bobbio, Vom Alter – De senectute, 46–54. 52 Heidegger, GA 20: 437 (1925); ders., Sein und Zeit, 256. 50

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um uns Menschen geht. Referenzsubjekt des Todes ist also im Folgenden immer ein menschliches Individuum als Ganzes, eine leiblich-seelische Einheit. Auszuklammern ist auch das Problem, ob schon ein Fötus oder ein Embryo ein menschliches Individuum sind, von dessen Tod gesprochen werden kann, etwa im Falle einer Abtreibung; das ist eine wichtige Frage der Angewandten Ethik, aber nicht im Blickfeld meiner Fragestellung. Was ist der Tod? Wir sollten den Tod nicht als einen Zustand bezeichnen. Wenn wir dies nämlich tun, müssten wir fragen, welche Substanz sich denn in einem solchen befindet. Man kann nicht sagen, dass wir ein kurzes Leben haben und nachher lange Zeit nicht sind. Die Person existiert nicht mehr und von einer Leiche kann man nicht sagen, dass sie tot sei. Wir neigen dazu, den Tod als Ereignis zu betrachten, mit Datum sowie Stunden- und Minutenangabe, ein mathematischer Punkt, eine exakte Grenze. Aber auch das ist nicht korrekt. Ähnlich wie eine Geburt ist auch der Tod ein kontinuierlicher Prozess, auch wenn dieser nur wenige Minuten dauern sollte. Mediziner und Juristen nehmen innerhalb eines vorgegebenen biologischen Rahmens eine exakte Festlegung vor und machen dadurch den Tod zu einer institutionellen Tatsache. Die Differenz zwischen Prozess und Ereignis führt zu den heute diskutierten unterschiedlichen Todeskriterien: Teilhirntod, Hirntod, Herztod. Der Tod ist also kein Zustand, sondern ein natürlicher Prozess, den wir zu einem kulturellen Ereignis machen. Der Prozess des Todes ist analytisch vom Prozess des Sterbens zu unterscheiden. Typologisch kann man differenzieren zwischen verschiedenen Phasen des Sterbens. Im weitesten Sinne sterben wir seit unser Geburt: Zellen sterben ab, durch bestimmte Entscheidungen werden andere Lebenswege ausgeschlossen, wir lassen unsere Vergangenheit hinter uns usw. Als soziales Sterben im metaphorischen Sinn kann man die Lebensphase des Alters bezeichnen, die in modernen Gesellschaften mit dem Ausschluss aus der Öffentlichkeit, oft sogar aus dem Familienkreis verbunden ist. In einem engeren Sinne sprechen Mediziner von zwei Phasen des Sterbens 53 : Die erste ist reversibel; der Sterbeprozess kann durch medizinische Hilfe aufgehalten oder rückgängig gemacht werden, in den letzten Jahrzehnten mit zunehmendem Erfolg. Die zweite Phase ist irreversibel; es ist die Letalphase, die unmittelbar dem Tod vorausgeht bzw. in den Pro53

Vgl. Baust, Sterben und Tod. Medizinische Aspekte, 64, 77, 200 ff. u. ö. A

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zess des Todes übergeht; bezüglich dieser benutzt man zu Recht den Ausdruck »im Sterben liegen«. In der Letalphase sind Sterben und Tod also untrennbar miteinander verbunden. Aus der Innenperspektive sollte man von Sterben nur sprechen, wenn man sich der objektiven Bedrohung durch den Tod bewusst ist. Kübler-Ross unterscheidet in einem eher normativen Modell fünf Phasen: Nichtwahrhabenwollen und Isolierung – Zorn – Verhandeln – Depression – Zustimmung. 54 Montaigne hatte behauptet, dass wir niemals Angst vor dem Tod hätten, sondern immer nur Angst (besser: Furcht) vor dem Sterben, nämlich den damit verbundenen Leiden. 55 Tatsächlich haben wir beides. Aus analytischen Gründen klammere ich aber in diesem Kapitel den Prozess des Sterbens aus. Deshalb ist all das Negative, das mit unserer letzten Lebensphase verbunden ist, die Schmerzen, die Einsamkeit, die Ängste, der Verlust der Weltbezüge usw., hier nicht mein Thema. Da aber das Sterben zum Leiden gehört, das wir erdulden müssen, wird es im nächsten Abschnitt behandelt. Idealtypisch kann man zwischen unterschiedlichen Todesarten unterscheiden, und zwar nach den inneren und äußeren Ursachen, die unserem Leben ein Ende setzen. Der Standardfall ist der natürliche Tod; seine Ursache ist die fortschreitende altersbedingte Funktionseinschränkung mehrerer lebenswichtiger Organe, vor allem des Gehirns und des Herzkreislaufsystems. Diese natürliche Sterblichkeit ist eine Tatsache, die außerhalb unseres Wirkungsbereichs liegt, bisher jedenfalls. Man vermutet, dass genetische Programme dafür ausschlaggebend sind. Allerdings ist der Zeitpunkt, zu dem der Tod durch Sterblichkeit eintritt, gesellschaftlich bedingt. Das wird belegt durch die weltweit im letzten Jahrhundert enorm gestiegene Lebenserwartung; Ernährung, medizinische Versorgung, Lebensstil usw. spielen dabei eine Rolle. Seit einigen Jahren wird sogar intensiv darüber diskutiert, ob nicht viele Menschen zu lange leben, gleichsam der richtige Zeitpunkt für den Tod überschritten wurde. Auf zweierlei Weise kann es jedoch passieren, dass wir nicht eines natürlichen Todes sterben. 56 Die eine ist der Tod durch kontingente natürliche Faktoren, ob innere oder äußere: eine Infektionskrankheit, eine Vergiftung, ein Erdbeben, ein Blitzschlag usw. Ein solcher Tod, so möchte ich sagen, beruht auf der Zerbrechlichkeit des Menschen. 54 55 56

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Kübler-Ross, Interviews mit Sterbenden, Kap. III bis VII. Montaigne, Essais, II: 13. Diese sich daraus ergebende Dreiteilung zuerst bei Platon, Timaios, 81e.

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Die Möglichkeit der anderen Abweichung vom Standardfall beruht auf der Tötbarkeit des Menschen. Die Ursachen liegen im kulturellen Bereich im weitesten Sinne, es können intentionale und nicht-intentionale Faktoren eine Rolle spielen: der Tod im Krieg, Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung, dann Verkehrs- und Betriebsunfälle mit tödlichem Ausgang, aber auch der Tod durch Verarmung und Ausgrenzung, also infolge von struktureller Gewalt. In Deutschland beruhen ungefähr 5 % aller Todesfälle im Jahr auf Unfällen und Gewalteinwirkungen. Zerbrechlichkeit und Tötbarkeit sind Dispositionen des Menschen, von denen wir hoffen, dass sie nie aktualisiert werden; hingegen ist die Sterblichkeit eine Disposition, die in jedem Fall, bei 100 % aller Menschen, aktualisiert wird, und zwar ein einziges Mal und zu einem ungewissen Zeitpunkt. Der Tod ist gewiss, die Todesstunde nicht: mors certa, hora incerta. Zwischen Zerbrechlichkeit und Tötbarkeit auf der einen und Sterblichkeit auf der anderen Seite gibt es einen wesentlichen Unterschied. Diese Differenz übersehen diejenigen, die behaupten, dass es egal sei, ob unser Leben früher oder später ende, sterben müssten wir ohnehin. In beiden Fällen, so wird gesagt, habe unser Leben gleich viel oder wenig Sinn. Diese Ansicht äußert (in anderer Terminologie) Lukrez. 57 Dafür hat er zwei Gründe: Erstens können wir, wenn wir tot sind, unseren Zustand nicht als schlecht empfinden; insofern sei es egal, ob man jetzt oder später stirbt. Dieses Argument stützt sich auf das bekannte Diktum Epikurs: »Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr. Er geht also weder die Lebenden an noch die Toten«. 58 Zweitens ist die Zeitspanne unseres Erdendaseins ohnehin verschwindend klein gegenüber den Milliarden von Jahren, die das Universum existiert. Dagegen ist Folgendes vorzubringen. Das erste Argument beruht auf einem empiristischen Begriff des Individuums: Ein Mensch sei die Summe seiner momentanen Eigenschaften. Es wird ignoriert, dass jeder Mensch Absichten und Hoffnungen hat, die sich auf die Zukunft beziehen und deren Verwirklichung in der Regel durch einen frühen Tod abgeLukrez, De rerum natura III: 870–911, 1085–1094 (Ende des dritten Buches); dazu Williams, Die Sache Makropulos: Reflexionen über die Langeweile der Unsterblichkeit, 135 ff. 58 Epikur, Von der Überwindung der Furcht, 101; vgl. Lukrez, De rerum natura, III: 830 f. 57

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schnitten wird. Selbst wenn ein junger Mensch keine konkreten Pläne für sein Alter hat, besitzt er unbewusst doch Vorstellungen davon, wie ein gutes Leben für ihn in einigen Jahrzehnten aussehen könnte. Eine Person besteht nicht nur aus ihren gegenwärtigen Zuständen, sondern auch aus vergangenen und zukünftigen. Deshalb ist der totale Verlust des Gedächtnisses so schmerzlich, aber weniger schmerzlich als der Verlust des Weiterlebens. Denn der subjektive Zeitpfeil bzw. die intentionale Ausrichtung unseres Bewusstseins weist nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Das zweite Argument blendet die Innenperspektive völlig ab. Nur aus der Außenperspektive ist unser Leben kurz, ist es egal, ob wir dreißig oder siebzig Jahre alt werden – aus der Innenperspektive ist dies ein gewaltiger Unterschied. Wir können diesen Abschnitt mit folgender These abschließen: Jeder Tod, der auf Zerbrechlichkeit oder Tötbarkeit beruht, ist sinnlos. Beispiele dafür sind die unzähligen Kinder, die im Verlauf der Menschheitsgeschichte in den ersten Lebensmonaten und Lebensjahren starben. Beispiele sind die unzähligen Opfer aller Kriege, die an Seuchen und Unfällen Gestorbenen, die Verhungerten und durch Naturkatastrophen ums Leben Gekommenen usw. Erst in den demokratischen Wohlstandsgesellschaften der modernen Welt gibt es überhaupt eine Lebenssicherheit, die zwar die Sterblichkeit als solche nicht aufhebt, aber uns gegenüber den alten Geißeln Pest, Hunger und Krieg eine gewisse Sicherheit verschafft. Dadurch ist die radikale Kontingenz des Todes abgeschwächt: Er kann uns immer noch jeden Tag ereilen; aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir die gesellschaftlich durchschnittliche Lebenserwartung erreichen können, ist in den letzten Jahrzehnten sehr stark angewachsen. Gerade dadurch wird vielleicht die Frage, warum denn überhaupt noch ein Ende sein soll, umso dringlicher. Die metaphysische Sinnfrage muss sich also auf die allgemeine Tatsache der Sterblichkeit konzentrieren. Aus moralischer und politischer Sicht sind hingegen die anderen Todesarten wichtiger, weil es um deren Abschaffung geht; denn fast alle Menschen erachten es für erstrebenswert, eines natürlichen Todes zu sterben. Diese Bemerkung ist wichtig, weil ich von vornherein allen ideologiekritischen Einwänden gegen meine Überlegungen den Wind aus den Segeln nehmen möchte. Denn tatsächlich kann eine Metaphysik des Todes schnell zu einer Legitimation des Tötens und Sterbens werden. Dieser Vorwurf wurde etwa von Seiten der Frankfurter Schule gegen 248

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Heideggers Todesanalyse aus »Sein und Zeit« vorgebracht: Vom Krepieren sei bei ihm keine Rede; das Lob, Heidegger habe uns überhaupt erst mit dem Tod konfrontiert, soll Horkheimer mit dem Satz gekontert haben, dass dies Ludendorff viel besser gelungen sei. 59 Wenn wir aber Heideggers Überlegungen nicht auf den Prozess des Sterbens, nicht auf Zerbrechlichkeit und Tötbarkeit, sondern allein auf die natürliche Sterblichkeit jedes Einzelnen beziehen, entfallen die ideologiekritischen Bedenken. Ohnehin gibt es viel drastischere Beispiele einer Verklärung des Todes; immer schon wurde der Tod einer öffentlichen Sinngebung unterworfen, meist im Interesse vermeintlich höherer Instanzen, etwa des Vaterlandes. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es zumindest in Deutschland, wie sich an Denkmälern und Grabsteinen ablesen lässt, mit einer solchen offensichtlichen politischen Instrumentalisierung weitgehend vorbei. Jetzt wird der Tod »nur noch als sinnfordernd, nicht mehr als sinnstiftend« dargestellt. 60 Wenn das Dritte Reich den Tod verherrlichte, so verherrlichen die post-heroischen Gesellschaften das Leben; dadurch besteht allerdings die Gefahr, dass der Tod privatisiert, ja verdrängt wird. Auch dem kann die metaphysische Frage nach dem Sinn der Sterblichkeit entgegenwirken. (b) Der mehrfache Sinn des Todes Bei unserer Suche nach dem Sinn des Todes können wir uns an unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes »Sinn« orientieren. – Da wäre zunächst der teleologische Sinn des Todes. Ein solcher läge vor, wenn der Tod das Ergebnis einer bewusst intendierten Handlung ist. Zweck einer Handlung kann der Tod eines anderen oder mein eigener Tod sein. Der erste Fall ist moralisch verwerflich, auch im Fall der staatlich verfügten Todesstrafe. Dennoch kann es Fälle von Notwehr und Nothilfe, eines Tyrannenmordes oder eines gerechtfertigten Krieges (etwa einer humanitären Intervention) geben, die die Tötung eines anderen Menschen als legitim erscheinen lassen. Der zweite Fall ist der Suizid. Kant hält die »Selbstentleibung« generell für moralisch verwerflich, für eine Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst. Dieser Auffassung wird man sich heute nicht mehr ohne wei59 60

Vgl. Adorno, GS VI: Jargon der Eigentlichkeit (1964), 506. Koselleck, Das Kriegerdenkmal (1979), 229. A

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teres anschließen können; schon Kant ließ die kasuistischen Fragen nach einer Reihe möglicher Ausnahmen unbeantwortet (MdS-TL 2. Teil, § 6/VII: 554 ff., vgl. Anthr. § 77/XII: 589 ff.). Allerdings ist zwischen verschiedenen Arten des Suizids zu unterscheiden, nach Durkheims Typologie zwischen egoistischen, altruistischen und anomischen. 61 Nur der altruistische Selbstmord ist legitim, die anderen sind bestenfalls zu entschuldigen. Eine Zwischenstellung zwischen dem von anderen und dem von mir intendierten eigenen Tod nimmt das schwierige Problem der Sterbehilfe (Euthanasie) ein; auch hier ist zu differenzieren zwischen verschiedenen Typen, zunächst zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe. Eine ausführliche Analyse können wir an dieser Stelle nicht vornehmen, weil diese normativ-praktische Argumente verlangt, moralische, ethische, rechtliche und politische. Wir haben aber bereits den Wechsel vom moral point of view zum metaphysic point of view vollzogen. Der teleologische Sinn spielt also für die metaphysische Frage nach dem Sinn des Todes keine Rolle; der natürliche Tod ist niemals Zweck einer Handlung, sondern immer ein Widerfahrnis. 62 In der Regel wünschen wir uns einen natürlichen Tod, möglichst ohne Leiden; kaum jemand wird im Vorhinein wünschen, sein Leben durch eigene Hand, durch Suizid, zu beenden. Das ist ein Beleg dafür, dass wir den Widerfahrnischarakter des Lebens nicht durchgängig negativ bewerten; etwas ist nicht deshalb sinnlos, weil es ohne unser Zutun geschieht. Die zweite Möglichkeit ist der evolutionäre Sinn des Todes. Wir haben schon erörtert, dass sicherlich nicht alle natürlichen Phänomene eine Funktion im großen Prozess der Evolution besitzen (vgl. III.1.). Dem Tod jedoch muss man wohl eine biologische Zweckmäßigkeit zugestehen. Die Evolution hat ihn (wenn man diese intentionalistische Redeweise zugestehen mag) zu ihren Zwecken hervorgebracht. Das hat zuerst der sehr wichtige Biologe August Weismann herausgearbeitet. 63 In seiner Schrift »Über die Vererbung« gelang ihm 1883 der Nachweis, dass erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden können; damit widerlegte er den sog. Lamarckismus, dem noch Darwin selbst angehangen hatte. Grundlage dafür war die Entdeckung der Keimbahn bzw. die Unterscheidung von Körperzellen Durkheim, Der Selbstmord, Teil II, Kap. 2–5; vgl. zum gesamten Problematik die herausragende Studie von Wittwer, Selbsttötung als philosophisches Problem (2003). 62 Kamlah, Meditatio mortis, 5–14 (»Kann man den Tod ›verstehen‹ ?«). 63 Vgl. Mayr, … und Darwin hat doch recht, 145 ff. 61

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und Keimzellen. In seinem Essay »Über Leben und Tod. Eine biologische Untersuchung« (1884/2 1892) behauptete Weismann, dass Keimzellen potentiell unsterblich sind. Dennoch sei Sterblichkeit vorteilhaft für Anpassungsprozesse. Diese eher hypothetisch vorgetragenen Überlegungen haben sich, wie im Folgenden skizziert werden soll, inzwischen empirisch bestätigen lassen. 64 In den unteren Schichten der Natur gibt es Elemente, die zwar zerbrechlich und tötbar sind, aber nicht sterblich. Dawkins bezeichnet die sich endlos selbst reproduzierenden Elemente unserer Chromosomen, die Gene, mit ein wenig Übertreibung sogar als »unsterbliche Spiralen«. 65 Bei den Einzellern, die sich durch Zellteilung fortpflanzen, verschwindet bei diesem Akt zwar das Ursprungsindividuum, aber es bleibt keine Leiche zurück; niemand ist gestorben. Die heute lebenden Amöben sind in gewisser Weise die gleichen wie vor Millionen oder gar Milliarden von Jahren, allerdings aufgespalten in eine zahllose Nachkommenschaft. Sterblichkeit gibt es erst auf der Ebene der Zellverbände. Aber selbst bei Mehrzellern gibt es zunächst noch eine Form der potentiellen Unsterblichkeit: Wenn diese sich nämlich ungeschlechtlich fortpflanzen, bleibt das genetische Material, sofern keine störenden Einflüsse vorliegen, zu 100 % erhalten; der Genotyp wird als Ganzes von Generation zu Generation weitergegeben. (Einige Verrückte könnten sich durch das reproduktive Klonieren eine solche Art der Unsterblichkeit versprechen.) Bei Lebewesen hingegen, die sich geschlechtlich fortpflanzen, geht auch der Genotyp unter; alle Individuen, außer eineiigen Zwillingen, sind biochemisch einzigartig. Dennoch ist die sexuelle Reproduktion evolutionär vorteilhaft: Sie steigert die genetische Vielfalt der Nachkommen, aus denen durch den Selektionsprozess die leistungsfähigsten Individuen ausgewählt werden. Insbesondere bei Säugetieren reichen die Aufgaben der Elterngeneration über die Zeugung von Nachkommen hinaus; wenn es sich um Nesthocker oder Traglinge handelt, müssen diese noch über einen längeren Zeitraum behütet und aufgezogen werden. Spätestens mit der Geschlechtsreife der Jungen wird aber die Elterngeneration nutzlos, in sozialen Gemeinschaften Vgl. Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, 113 ff. u. ders., Die Geschichte der Natur, 93 f.; außerdem Jonas, Der Sinn des Todes: Last und Segen der Sterblichkeit (1992), 201–221; ders., Das Prinzip Leben, 373–397 (»Unsterblichkeit und heutige Existenz«, 1962); zu letzterem Text siehe den sehr aufschlussreichen Briefwechsel zwischen Jonas und Rudolf Bultmann in: Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, 63–72. 65 Dawkins, Das egoistische Gen, 71 ff. 64

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manchmal sogar hinderlich und kann daher sterben. Naturgeschichtlich relativ jung ist das Phänomen des Alterns, das uns Menschen so bedrückt: Noch bei Knochenfischen gibt es bloß äußere Todesursachen, einen internen organischen Verschleiß durch den Lebensprozess selbst eigentlich erst bei Warmblütern. 66 Sterbliche und alternde Lebewesen sind aber sehr viel leistungsfähiger als Einzeller, etwa im Hinblick auf Wachstum und Mobilität. Ihr Streben nach Selbsterhaltung ist jedoch nicht nur gegen die internen Zerfallsprozesse gerichtet, sondern auch gegen andere Lebewesen, mit denen sie um Nahrung und Lebensraum konkurrieren. Dies steigert sich, wenn Lebewesen sich von organischem Material, also anderen Lebewesen ernähren (Heterotrophie). Kurz gesagt: Der Tod ist die Kehrseite des Strebens nach Selbsterhaltung, der geschlechtlichen Fortpflanzung und der Generationenfolge. Diese drei Phänomene sind ›Erfindungen‹ der Evolution; die entsprechenden Organismen sind besonders leistungsfähige Vehikel der egoistischen Gene. Der Tod ist also ein Beitrag zur Steigerung der Fitness im permanenten Prozess der biologischen ›Aufrüstung‹ Deshalb ist es aus biologischer Sicht generell unangebracht, Leben und Tod in einen Gegensatz zu bringen (vgl. II.1.). Das biologische Gegensatzpaar ist Lebendiges und Nichtlebendiges, Organisches und Anorganisches. Bezogen auf die Gesamtheit des Lebendigen ist der Tod durchaus funktional. Man kann diese Zusammenhänge folgendermaßen deuten: Wenn ich nicht sterblich wäre, wäre ich auch kein nach Selbsterhaltung strebendes Individuum, gäbe es keine Sexualität, hätten wir keine Eltern und keine Kinder. Damit würde vor allem ein Phänomen verschwinden, das für uns das Leben erst lebenswert und sinnvoll macht: die Liebe. Es gäbe keine Selbstliebe und keine geschlechtliche Liebe, weder die Liebe der Eltern zu ihren Kindern noch die der Kinder zu ihren Eltern. Der tiefe Zusammenhang von Tod und Liebe ist immer schon geahnt und vor allem in der Kunst dargestellt worden, etwa in Richard Wagners »Tristan und Isolde«. Wie aber schon wiederholt dargestellt, ist der evolutionäre Sinn für uns nicht alles. Vor allem betreffen die funktionalistischen Überlegungen das organische Leben insgesamt, aber nicht das individuelle Leben aus der Innenperspektive, auf das sich die metaphysischen Fragen richten. Der evolutionäre Sinn des Todes bietet mir als sterblichem Individuum wenig Trost. 66

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Jonas, Der Sinn des Todes: Last und Segen der Sterblichkeit, 213.

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Drittens kann man von einem moralischen Sinn des Todes sprechen. Wenn der Tod nicht das definitive Ende des ganzen menschlichen Individuums wäre, würde unser Leben nicht den absoluten Wert haben, den wir ihm zuschreiben. Mit dem Leben ist es so wie mit Blumenvasen: Die zerbrechlichen Vasen sind besonders teuer, Vasen aus nahezu unzerstörbarem Kunststoff sind billig. Dem korrespondiert die oben erwähnte biologische Tatsache, dass in der Natur das Primitive unbegrenzt lebensfähig und das Komplexe sterblich ist. Weil wir unser Leben (und das unserer Mitmenschen) schützen und schonen müssen, sind wir uns seines Wertes bewusst; diese Einstellung zum Tod haben unbewusst schon Kinder. Eine vergleichende ideengeschichtliche Analyse könnte zeigen (so vermute ich), dass sich aus Weltbildern, die den Tod anders deuten, nicht das Prinzip eines absoluten individuellen Rechts auf Leben entwickelt hat. An dieser Stelle vermag ich nur wenige Schlaglichter auf einige religiöse Vorstellungen zu werfen. Ich denke dabei an den klassischen Hinduismus mit seiner Seelenwanderungslehre, das vormoderne Christentum mit seinem Leib-Seele-Dualismus und den volkstümlichen Islam mit seinen Jenseitsvorstellungen. Ein Beleg dafür scheint mir eine Schlüsselszene im indischen Epos »Bhagavadgita« zu sein. Der Held Ardschuna erkennt, als er in eine große Schlacht ziehen will, in den feindlichen Reihen viele seiner Verwandten. Daraufhin zweifelt er am Sinn des Kampfgeschehens und lässt den Bogen fallen. Doch sein Wagenlenker entpuppt sich als der Gott Krischna und spricht zu ihm: »Vergänglich sind die Leiber nur,/Der ew’ge Geist, der sie beseelt,/Ist ohne Ende, ohne Maß,/Drum kämpfe unverzagt als Held!« 67 Ardschuna lässt sich von Krischna überzeugen, dass die unsterblichen Seelen nicht getötet werden können und er also unbesorgt in den Kampf ziehen solle. Eine analoge Szene hat sich im europäischen Mittelalter zugetragen: Als im Jahr 1209 ein päpstliches Heer gegen die Stadt Béziers zog, eine Hochburg der ketzerischen Albigenser, und die Stadt im Sturm nahmen, fragte ein Heerführer den Abt, wie man denn die frommen Katholiken in der Stadt erkennen könne, antwortete dieser: »Schlachtet sie alle, denn der Herr kennet die Seinen!« 68 Mit anderen Worten: Weil unsere Seelen den Leib überleben und die Gottesfürchtigen ins Paradies einBhagavadgita, 2. Gesang, Strophe 18. Wollschläger, Die bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem. Geschichte der Kreuzzüge, 181; der Satz des Abtes nimmt Bezug auf NT, 2. Tim. 2: 19.

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treten, können sie auch jetzt schon getötet werden. Vielleicht ließe sich Ähnliches über die volkstümlichen Jenseitsvorstellungen des Islam (nicht über dessen rationale Theologie) sagen. Nach den Attentaten vom 11. September 2001 hat Gadamer in einem seiner letzten Interviews gesagt, dass er die Verständigung mit dem Islam deshalb für so außerordentlich schwierig oder sogar unmöglich halte, weil dort der Tod anders interpretiert werde. Eine gewisse Bestätigung für diese pessimistische Einschätzung ist das Bekennerschreiben nach den Anschlägen vom 11. März 2004 in Madrid: »Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.« Das sind sicherlich völlig unzureichende Hinweise; Hinduismus, mittelalterliches Christentum und Islam weisen zahllose andere Seiten auf. Aber vielleicht konnte doch deutlich werden, dass erst die Vorstellung vom Tod als definitivem Ende unserer Existenz das Leben absolut wertvoll macht. Insofern ist der Tod eine empirische Bedingung der Möglichkeit des universalen Menschenrechts auf Leben, selbstverständlich nur eine notwendige, keine hinreichende. Diese Überlegung gilt aber nur für die Zerbrechlichkeit und Tötbarkeit des Menschen, nicht die Sterblichkeit. Auch wenn Menschen endlos leben könnten, aber zerbrechlich und tötbar wären, wäre das menschliche Leben absolut wertvoll. Diesen Gedanken könnte man noch in eine andere Richtung ausziehen: Weil wir nicht unsterblich sind, besitzen wir etwas sehr Wertvolles, nämlich unser Leben. Diesen großen Besitz können wir einsetzen und opfern. »Wer prinzipiell nicht imstande wäre, für etwas, das außer ihm liegt, sein Leben zu opfern, wäre gravierend beeinträchtigt.« 69 Dieses Argument ist, wie wohl sofort zu erkennen, äußerst ideologieanfällig. Es käme also darauf an, genau zu prüfen und zu begründen, wofür man bereit ist, sein Leben einzusetzen. Das ist eine Frage der Moralphilosophie. Die philosophische Debatte hat sich meistens auf einen vierten Punkt konzentriert, den ethischen Sinn des Todes. Im alltäglichen Leben besteht die Gefahr, sich in der Überzahl der Optionen zu verlieren, sich unwesentlichen Dingen zuzuwenden, seine Zeit zu vertrödeln. Aber unsere Lebenszeit ist begrenzt. Auf diese Tatsachen reagiert der von Hippokrates stammende Spruch »Kurz ist das Leben, lang ist die Kunst«, dessen Wirkungsgeschichte sich durch die gesamte abendländische Literatur zieht. 70 Weil der Tod uns auf die Be69 70

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Nagel, Der Blick von nirgendwo, 397. Vgl. Weinrich, Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens (2004).

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grenztheit unseres Daseins aufmerksam macht, zwingt er uns dazu, uns über ein richtiges Leben Gedanken zu machen, zu fragen, was wirklich wertvoll ist und wahrhaft Glück bereitet. Ein ernsthaftes, bewusstes, intensives Leben ist nur möglich, wenn wir um seine Endlichkeit wissen. Dieser Gedanke gewinnt sein volles metaphysisches Gewicht erst dann, wenn die materialistische Auffassung des Todes sich durchgesetzt hat, wie es in der Moderne der Fall ist. Wegweisend für eine immanente Philosophie des Todes waren die Reflexionen von Georg Simmel. Bei ihm findet sich die These, dass allein der Tod es ist, der dem Leben eine Form gibt. 71 Der Philosoph, der diesen Gedanken wahrscheinlich am konsequentesten durchgeführt hat, ist Martin Heidegger in »Sein und Zeit«. 72 Der Tod löst in uns Angst aus. Gemeint ist nicht die konkrete Furcht vor dem Prozess des Sterbens; die Angst entsteht vielmehr aus der Konfrontation mit dem Nichts. Man kann auch differenzieren zwischen der tief verankerten Furcht vor dem konkreten Tod und der durch gedanklichen Vorgriff ausgelösten Angst vor dem abstrakten Tod, dem Tod überhaupt, dem Nicht-mehr-sein. 73 Die Todesfurcht ist ein biologisches Phänomen, das wir auch bei anderen Lebewesen finden und das einen evolutionären Sinn hat, den Schutz des Lebens; die Angst vor dem Tod ist hingegen spezifisch menschlich. Nur vermittelt über diese Angst gewinnen wir, so Heidegger, ein Verhältnis zu unserem Leben als ganzem; unsere individuelle Existenz wird uns fragwürdig und erst auf diese Weise bedeutsam. Der Gedanke an den Tod reißt uns aus unserer Indifferenz und Zerstreuung heraus; wir sind gezwungen, uns mit dem Wesentlichen zu beschäftigen, wesentlich zu werden, wie es bereits die Barock-Lyrik forderte. 74 Deshalb dürfen wir dem Tod nicht ausweichen, sondern müssen uns ihm stellen. Das geschieht, so Heidegger, nicht im »Grübeln«, sondern im »Vorlaufen«, die eine Simmel, Zur Metaphysik des Todes (1910), 83; ders., Lebensanschauung (1918), 299. Vgl. Schmid, Philosophie der Lebenskunst, 350: Der Tod ist es, »der dem ganzen Leben erst Form und Bedeutung gibt. Daraus, dass diese Grenze in jedem Fall gezogen wird …, bezieht das Subjekt der Lebenskunst … die entscheidende Motivation zur Gestaltung des Lebens.« 72 Allgemein zum Tod in der Existenzphilosophie die bisher unübertroffene Darstellung von Bollnow, Existenzphilosophie, 75–103 (Kap. IX bis XI). 73 Kolakowski, Die Weltanschauung und das tägliche Leben, 210 ff. 74 »Mensch werde wesentlich: denn wann die Welt vergeht/So fällt der Zufall weg/das wesen das besteht.« (Angelus Silesius), vgl. Jaspers, Philosophie II: 223. 71

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besondere Weise der Freiheit ist. Im negativen Sinne sind wir »befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten«. 75 Im positiven Sinne sind wir frei zum Tod: »Nur das Freisein für den Tod gibt dem Dasein das Ziel schlechthin«. 76 Durch den Tod erhält das Leben Sinn. Gegen Heideggers Todesanalyse sind mehrere Einwände vorgebracht worden. Erstens wird kritisiert, dass Heidegger nur den je eigenen Tod gelten lässt; der Tod anderer Personen oder Lebewesen spielt keine Rolle. Es gibt immer wieder Beispiele dafür, wie Menschen durch den Tod des ihnen nahe stehenden oder sogar eines fremden Menschen stark erschüttert werden. 77 Der Solipsismus, in den Heidegger hier verfällt, die Vernachlässigung der intersubjektiven Dimension, ist auch an anderen Aspekten von »Sein und Zeit« abzulesen, etwa an seiner Analyse des Gewissens. 78 Zweitens wird eine thanatologische Engführung kritisiert. 79 Warum besitzt allein der Tod diese existenzielle Bedeutung? An einigen wenigen Stellen scheint Heidegger die Geburt als gleichrangiges Phänomen zu betrachten. 80 Vor allem aber gibt es weitere Erfahrungen des Negativen, das Leiden und die metaphysische Ungerechtigkeit; Jaspers spricht allgemein von Grenzsituationen. Zudem haben andere Autoren der Existenzphilosophie negative Stimmungen geschildert, die uns ebenfalls mit der metaphysischen Sinnfrage konfrontieren: Langeweile, Schwermut und Verzweiflung, existenzieller Ekel und das Gefühl des Absurden. Aber ist dies nicht immer noch zu dramatisch gedacht, vor allem zu individualistisch? Im Hintergrund der Existenzphilosophie steht eine kulturkritische, elitäre Zeitdiagnose, die es nicht für möglich hält, dass die Individuen der modernen Welt ihr Leben aus freien Stücken in die Hand nehmen. Darüber hinaus wird vernachlässigt, dass auch positive Erfahrungen des Liebens und Geliebtwerdens, im Arbeiten und in der Geselligkeit uns

Heidegger, Sein und Zeit, 264. Heidegger, Sein und Zeit, 384. 77 Dieser Einwand findet sich schon bei Sternberger, Der verstandene Tod (1934), in jüngster Zeit vor allem bei Lévinas, etwa in ders., Gott, der Tod und die Zeit (1996). 78 Heidegger, Sein und Zeit, 188 u. 278. 79 Rentsch, »Sein und Zeit«. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit, 77. 80 Heidegger, Sein und Zeit, 373 f., 390 f. 75 76

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dazu anspornen können, das eigene Leben zu reflektieren und zu gestalten. 81 Drittens: Ist es zwingend, dass der Tod Angst auslöst? Müssen wir, wenn wir an den Tod denken, in jedem Falle Angst empfinden? Zumindest gibt es Unterschiede, wie bereits Kant notierte: »Den Tod fürchten die am wenigsten, deren Leben den meisten Wert hat.« 82 Wittgenstein schreibt am 8. Juli 1916 in sein Tagebuch: »Die Furcht vor dem Tode ist das beste Zeichen eines falschen, d. h. schlechten Lebens.« 83 Aus diesen Zitaten kann man also folgende These ableiten (die terminologische Differenz zwischen Furcht und Tod soll dabei keine Rolle spielen): Wenn wir ein glückliches, ein richtiges, ein sinnvolles Leben führen würden, hätten wir gar keine Angst mehr vor dem Nichtsein. Heideggers Argumentation wird gleichsam vom Kopf auf die Füße gestellt: Der Sinn des Lebens folgt nicht aus der Angst vor dem Tod, sondern die Angst vor dem Tod folgt aus dem Verlust eines Lebenssinns. »Die abstrakte Angst vor dem Tode ist ein sekundäres Phänomen, das Ergebnis des Gefühls der Sinnlosigkeit des Lebens«. 84 Wenn Heidegger die Angst der Menschen vor dem Tod beschreibt, hat er Recht; aber er sucht die Ursachen dafür an der falschen Stelle; an die Stelle der Metaphysik des Nichts hätte eine gesellschaftstheoretische Analyse der Entfremdung zu treten. Daraus folgt, dass ein Leben, in dem wir keine Angst vor dem Tod haben, durchaus möglich wäre. Viertens: Können wir in (post)modernen Gesellschaften überhaupt noch unser Leben als Ganzes in den Griff bekommen? Wir können unserem Leben überhaupt keine Form mehr geben, so sehr und so intensiv wir auch zum Tode vorlaufen mögen: Wir wissen nicht, ob wir in wenigen Jahren noch in dem Beruf arbeiten können, für den wir ausgebildet wurden; wir wissen nicht, ob wir noch mit demselben Partner zusammen sein werden; wir wissen nicht, ob wir So verstehe ich auch Plessners Bemerkungen zum Tod am Ende seines anthropologischen Hauptwerks: »der Tod, in dessen Angesicht der Mensch lebt, gibt ihm nicht den Blickpunkt für die Einzigartigkeit gerade seines Lebens.« Vielmehr entstehe dieser vor dem Hintergrund der menschlichen Welt, in der man auch ein anderer sein könnte und auch viele andere sind (Plessner, Die Stufen des Organischen …, 343). 82 Kant, Reflexionen zur Metaphysik, zit. Kraus (Hg.): Kant: Deines Lebens Sinn, 138. Vgl. Adorno, GS VI: Negative Dialektik, 363: »Je weniger die Subjekte mehr leben, desto jäher, schreckhafter der Tod.« 83 Wittgenstein, Werke I: 169. 84 Kolakowski, Die Weltanschauung und das tägliche Leben, 213. 81

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noch mit einer angemessenen Altersunterstützung rechnen können usw. Diese vier Einwände enthalten alle einen wahren Kern. Aber ich denke, dass man die These von der formenden Kraft des Todes in einer abgeschwächten Form aufrechterhalten kann. Sicherlich erschüttert uns auch der Tod anderer Menschen; sicherlich muss es nicht unbedingt der Tod sein, der uns zur Gestaltung unseres Lebens anspornt; sicherlich haben wir weniger Angst vor dem Tod, wenn es uns gelingt, einige unserer Projekte zu verwirklichen; sicherlich ist es äußerst schwer, sich überhaupt zum Ganzen des Lebens zu verhalten. Dennoch bleibt der Tod das wichtigste Merkmal unserer Endlichkeit, ein besonders krasser Beleg für die Zeitlichkeit überhaupt. Alles materiell Seiende ist endlich, alles ist vergänglich. Nicht nur unser Leben als Ganzes ist begrenzt, auch eine bestimmte Lebensphase (etwa die Jugend) währt nur eine bestimmte Zeit und lässt sich kaum verlängern oder wiederholen. Wie schnell fliegen oft die Tage vorbei, die Wochen. Deshalb bleibt es richtig, dass uns der Gedanke an den Tod ständig mahnt, mit der begrenzten Zeit unseres Lebens sinnvoll umzugehen, nach dem Motto »Lebe so, wie du am Ende deiner Tage wünschen wirst, gelebt zu haben«. Dieser Gedanke müsste weiterentwickelt werden zu einer Ethik des Umgangs mit der Zeit, zu Maximen dafür, wie man sich gegenwärtig zur begrenzten Dauer von Lebensphasen und des Lebens überhaupt verhalten sollte. Beispielsweise sollte man wegen der Kontingenz des Todes sein Leben nicht zu stark auf die Zukunft hin entwerfen. 85 Schließlich gibt es zum eben erörterten ethischen Sinn einen gegenläufigen trans-ethischen Sinn des Todes. Die kosmische Irrelevanz des menschlichen Lebens, von der oben bereits die Rede war, ist eine Tatsache. Der Tod, nämlich als Hinweis auf das Verschwinden meiner Existenz, ist der wichtigste Beleg dafür, wie verzichtbar jeder Einzelne in dieser Welt ist. Aus dieser Perspektive ist der Tod ein Anlass, uns weniger wichtig zu nehmen. Er lehrt uns, wie irrelevant in der Regel die alltäglichen Sorgen sind, denen wir immer wieder eine viel zu große Bedeutsamkeit einräumen. Diesen trans-ethischen Sinn des Todes hat Ernst Tugendhat dargestellt am Beispiel einer Episode aus Tolstois »Krieg und Frieden«. 86 Einer der Helden des Romans, der Fürst Andrei Bolkonski, wird in 85 86

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Krämer, Integrative Ethik, 299–318. Vgl. Tugendhat, Über den Tod, 84 ff.

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der Schlacht von Austerlitz schwer verwundet und stürzt zu Boden. Er möchte gern wissen, wie der Kampf weitergeht, aber er sieht nur noch den Himmel über sich. »Das hat so gar keine Ähnlichkeit mit unserm Laufen, Schreien und Kämpfen … Ja, alles ist nichtig, alles ist Irrtum und Lug, außer diesem unendlichen Himmel. Es gibt nichts, außer ihm. Aber auch er ist nicht vorhanden; es gibt nichts außer Stille und Ruhe.« Kurz darauf, nach gewonnener Schlacht, kommt Napoleon an dieser Stelle vorbei, der Kaiser Napoleon, der mächtigste Mann auf Erden, ein Mensch mit allergrößten Fähigkeiten und Talenten. Fürst Andrei hatte den Franzosen früher bewundert, aber »in diesem Augenblick erschien ihm Napoleon als ein so kleiner, nichtiger Mensch im Vergleich mit alledem, was jetzt zwischen seiner Seele und diesem hohen, unendlichen Himmel mit den darüber hinziehenden Wolken vorging.« 87 Der Tod relativiert alles; selbst Napoleons Eroberungen werden in Vergessenheit geraten, selbst der Himmel über Austerlitz wird vergehen. Durch den Tod können wir lernen, von uns zurückzutreten, die Welt aus der Außenperspektive zu betrachten. Auch andere Philosophen haben ein ähnliches Argument angedeutet: So hat beispielsweise Heidegger nach seiner ›Kehre‹ nicht mehr den ethischen Sinn des Todes betont, sondern vielmehr den Tod als Erfahrung der Unverfügbarkeit des Seins interpretiert. Adorno hat ausgeführt, dass der Tod uns davor bewahren könne, uns zu wichtig zu nehmen; er verhindere die Verdinglichung unseres Lebens, die selbst mit einer anspruchsvollen Ethik verbunden sein könnte. 88 Der mit dem trans-ethischen Sinn des Todes verbundene Dezentrierungsschritt wurde bereits am Ende des dritten Teils dieser Arbeit angesprochen, das Zurücktreten von unserer Egozentrizität, die Relativierung unseres Selbstbezugs. Die beiden letztgenannten Sichtweisen des Todes stehen konträr zueinander: Im Gegensatz zum ethischen Sinn des Todes, der uns lehrt, das Leben wichtig zu nehmen, uns aus der Zerstreuung wieder zu zentrieren, lehrt uns der die kosmische Irrelevanz des Lebens, dieses nicht wichtig zu nehmen, uns in dieser Welt zu dezentrieren. Ein radikal dezentriertes Leben ist aber nicht möglich. Wir können gar nicht anders, als uns immer wieder ins Zentrum zu stellen; das muss Tolstoi, Krieg und Frieden, 1. Buch, 3. Teil, Kap. XVI u. XIX. Adorno, GS VI: Jargon der Eigentlichkeit, 519, vgl. ders., GS XIII: 374 u. VI: Negative Dialektik, 363.

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nicht zu einem Egoismus führen, aber doch zu gesunder Selbstliebe und dem Respekt vor dem eigenen Ich. Die radikale Lebensverneinung ist ebenso falsch wie die sture Selbstbehauptung. Richtig wäre vielmehr die Balance zwischen Egozentrizität und Dezentrierung. 89 (c) Der Tod als Vernichter allen Sinns Ist das nicht alles zu positiv? Sicherlich wurde nur dem natürlichen Tod ein Sinn zugesprochen. Dennoch liegt der Verdacht nahe, hier werde zu viel bewiesen. Ist nicht doch jeder Tod, selbst der nach einem gelungenen Leben, ein Skandal? Die Apologeten des Todes verweisen in der Regel darauf, dass dessen Aufhebung, also die Unsterblichkeit des Menschen, noch schrecklicher wäre als unsere Endlichkeit. Unsterblichkeit würde dazu führen, dass uns nichts mehr wichtig wäre, dass wir uns zu nichts aufraffen würden (man könnte es ja verschieben), dass die Distanz zu den Jüngeren immer größer wird, dass eine unendliche Langeweile die Welt beherrscht. Sicherlich, die literarischen Gedankenexperimente mit unsterblichen Menschen, von den Struldbrugs bei Jonathan Swift (»Gullivers Reisen«, 1726) über Karel Cˇapeks »Die Sache Makropulos« (1922) bis zu Simone de Beauvoirs Fosca (»Alle Menschen sind sterblich«, 1946), sind wenig optimistisch. Allerdings sind dort die Rahmenbedingungen falsch: Wenn ich mir vorstellen kann, dass ich unsterblich bin, kann ich mir auch vorstellen, dass die lieben Menschen, mit denen ich zusammen sein möchte, ebenfalls unsterblich sind. Wenn ich mir vorstellen kann, dass ich den Tod überwinden kann, kann ich mir auch vorstellen, dass ich mich niemals langweilen werde und mir trotz meiner überwundenen Endlichkeit alles wichtig ist. Zwar ist dann die Zeit meines Lebens unendlich, aber auch der Raum ist endlos und ich kann mir vorstellen, zahllosen anderen intelligenten und interessanten Lebewesen zu begegnen. Das ist eben das Problem mit Gedankenexperimenten – sie sind nun einmal nicht die Realität. (Die gesamte Diskussion des Leib-Seele-Problems ist in der analytischen Philosophie durch den unkontrollierten Gebrauch von Gedankenexperimenten aus den Fugen geraten.) Das soll kein Plädoyer für die Abschaffung des Todes sein. Denn Wittgenstein

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Tugendhat, Über den Tod, 67–90 sowie ders., Egozentrizität und Mystik, Kap. 5.

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stellt zu Recht fest, dass uns unser Leben um keinen Deut sinnvoller erscheinen wird, wenn wir ewig in der Zeit fortdauern könnten. 90 Tatsächlich müssen wir die Frage nach dem Sinn des Todes noch einmal anders stellen. Die bisherigen Ausführungen richteten sich nämlich nicht auf die Tatsache des Todes selbst, sondern auf die Tatsache unserer Sterblichkeit und damit auf die Bedeutsamkeit des zukünftigen Todes für unser Leben, auf die Präsenz des Todes im gegenwärtigen Leben. Man kann das Problem noch einmal radikalisieren: Welchen Sinn wird mein Tod haben, und zwar für mich selbst, aus der Innenperspektive? Meine Antwort lautet: gar keinen. Mein Tod vernichtet sogar jeden möglichen Sinn, weil er gleichsam die Bühne zerstört, auf der überhaupt nur Sinn erscheinen kann. Denn Sinn ist aus der Innenperspektive an meine mentale Aktivität gebunden, die mit dem Tod endet. Diese Auffassung finden wir in aller Deutlichkeit bei Jean-Paul Sartre. In einem der letzten Kapitel von »Das Sein und das Nichts« kritisiert er die Autoren, für die der Tod nicht nur etwas ist, was zu unserem Dasein dazugehört, sondern sogar »der Sinn des Lebens«. 91 Seine Polemik richtet sich gegen Rilke und Malraux sowie gegen Heideggers Todesanalyse aus »Sein und Zeit«. Sartre kritisiert zunächst Heideggers These, dass mir keiner mein Sterben abnehmen könne. 92 Dagegen wendet Sartre zweierlei ein: Zum einen kann mir – aus der Innenperspektive gesprochen – ebenso kein anderer alle anderen Episoden meines Lebens abnehmen, meine Geburt, meinen ersten Schultag, meinen Zahnarztbesuch, meine große Liebe usw. Zum anderen kann mir alles von anderen abgenommen werden: Ob ich es bin, der stirbt oder ein anderer, ist – aus der Außenperspektive gesehen – ziemlich egal. Sodann wendet er sich gegen Heideggers Redeweise, der Tod sei meine »eigenste Möglichkeit«. 93 Für Sartre ist der Tod stattdessen die Vernichtung aller meiner Möglichkeiten. Der Tod ist nichts anderes als brutale Faktizität, absolute Kontingenz, die gegen all das steht, was ich bin, vor allem gegen Freiheit und Möglichkeit. Bis zum Tod habe ich alle Möglichkeiten, kann ich auch aus einem verkorksten Lebenslauf noch etwas herausholen. Für die Wittgenstein, TLP 6.4312. Sartre, Das Sein und das Nichts, 916. Ganz wie Sartre argumentiert Améry, Über das Altern, 141–155. 92 Heidegger, Sein und Zeit, 240. 93 Heidegger, Sein und Zeit, 263. 90 91

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Toten, so Sartre, ist das Spiel aus; sie können keinen Zug mehr machen, keine Karte mehr ausspielen. Deshalb versäumen sie, wann auch immer dies geschieht, die letzte Möglichkeit, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Stattdessen liegt ihr Schicksal nun ganz in der Hand der anderen. Schließlich, so Sartre, macht der Tod alles sinnlos; er vernichtet jeden Sinn. 94 Sinn kann nur durch mich, durch meine Subjektivität in die Welt kommen; so wie der Tod meine Subjektivität vernichtet, zerstört er auch jeden Sinn. An anderer Stelle schreibt Sartre: »das Leben hat a priori keinen Sinn. Bevor Sie leben, ist das Leben nichts, es ist an Ihnen, ihm einen Sinn zu geben«. 95 Ist Sartre also für Unsterblichkeit? Das ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil bekanntlich seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir ungefähr zur selben Zeit ihren berühmten, oben erwähnten Roman »Alle Menschen sind sterblich« schrieb. Nein, wir sollten unsere Endlichkeit bejahen. Aber die Endlichkeit zeigt sich nicht nur am Tod, sondern in jeder freien Wahl, die wir vornehmen. Denn mit jeder Entscheidung wählen wir eine Alternative und verwerfen eine andere. Jeder andere Mensch, dem ich begegne, ist ebenfalls »der versteckte Tod meiner Möglichkeiten«, denn er begrenzt meine Freiheit. 96 Nicht das Vorlaufen zum Tode gibt unserem Leben eine Form, sondern ich allein als freies Subjekt kann dies tun. Sartres These von der Sinnlosigkeit des Todes hängt an seinem Sinn-Begriff, der sich von dem Heideggers unterscheidet. Diese Differenz wird schon daran deutlich, dass Heidegger ausdrücklich bestreitet, in »Sein und Zeit« etwas zum Sinn des Todes sagen zu wollen. 97 Sartre hingegen verwendet den phänomenologischen Sinnbegriff; Husserl ist für ihn der Fortsetzer der cartesianischen Tradition. Das ist aber problematisch: Der Begriff eines vorsprachlichen Sinns, gebunden an das mentale Phänomen der Intentionalität, ist nicht ausreichend, um alle Bedeutungsschichten zu erfassen, die wir mit dem Begriff des metaphysischen Sinns verbinden. 98 Auch anthropologisch ist dieser Ansatz, wie bereits mehrfach erwähnt, nicht plausibel: Wir sind niemals so allein, abgekapselt, für uns seiend, wie es Sartre nahe legt (vgl. II.1. zur Kritik am »homo clausus«). Diese 94 95 96 97 98

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Sartre, Das Sein und das Nichts, 916. Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, 174. Sartre, Das Sein und das Nichts, 477. Heidegger, Sein und Zeit, 248. Vgl. Apel, Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung? (1978).

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Schwäche zeigt sich beim frühen Sartre etwa daran, dass für ihn menschliche Interaktion immer auf eine wechselseitige Verdinglichung hinausläuft; so entsteht ein Zerrbild von Liebe und Anerkennung.99 Dennoch hat Sartre hinsichtlich des je eigenen Todes Recht: Für uns als bewusstseinsfähige Lebewesen muss der Tod als Zerstörer erscheinen. Denn unsere mentalen Strukturen sind immer auf die Zukunft ausgerichtet, sie verlangen ständig nach Fortsetzung. Deshalb ist der totale Verlust des Bewusstseins aus dieser Perspektive genauso schlimm wie der Tod. Ja, man kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass man nicht mehr existiert. Jede Vorstellung setzt ein Subjekt voraus, dass sich etwas vorstellt. Das gilt für jeden mentalen Akt, für jeden Wunsch, auch für jeden Sprechakt. Man kann sich denken, dass man starke Schmerzen hat, dass man nicht mehr menschenähnliche Gestalt besitzt und vieles mehr; man kann sich sogar etwas denken, was man sich nicht vorstellen kann, etwa ein Rückwärtslaufen oder ein Stehenbleiben der Zeit. Aber der »Gedanke Ich bin nicht kann gar nicht existieren« (Anthr. § 27/XII: 465). Aus der Innenperspektive ist der Tod gleichsam ein blinder Fleck; man kann sich, wie Luhmann zu Recht feststellt, sogar eher das Ende des eigenen Lebens als das Ende des Bewusstseins vorstellen – daher rührt vielleicht der verbreitete Glauben an eine individuelle, körperlose Form der Unsterblichkeit. 100 Das Ich kann sich nicht als gestorben denken – und was nützt mir die Unsterblichkeit, wenn ich nicht dabei bin. Die dynamische Ausrichtung auf die Zukunft, die den Tod als Ärgernis empfinden muss, gilt nicht nur für meine mentalen Akte, sondern auch für mich als leibliches Wesen. Ich möchte leben und weiterleben und ich kann mir keinen Zeitpunkt vorstellen, zu dem das nicht mehr der Fall sein sollte; ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass ich jemals den Wunsch zweiter Ordnung haben sollte, nicht mehr weiterleben zu wollen. Nach Kants Überzeugung ist der Wunsch, lange zu leben, beim Menschen »unbedingt«; er findet sich selbst bei kranken, schwachen und alten Menschen (solange deren Leiden nicht ein bestimmtes Maß überschreiten): Immer wieder verlangen wir vom Tod, der doch auch als Befreier von unseren Leiden begrüßt werden könnte, eine kleine Frist (XI: 373). Leben strebt nach Weiterleben. Was das bewusste Leben will, ist die Fortsetzung seiner Daseins99 100

Vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung (1988), 73–83. Luhmann, Soziale Systeme, 374; vgl. Gehlen, Der Mensch, AG 3.1: 364. A

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weise, ist endlose Dauer. Deshalb ist der Tod für uns ein Desaster, der Vernichter des Sinns. Aber wir menschliche Wesen besitzen nicht nur dieses Streben nach endloser Dauer (perpetuitas), wir streben auch nach Ewigkeit (aeternitas). Die Ewigkeit ist nicht unendlich oder immerwährend (sempiternus), sondern zeitlos, jenseits der Zeit. Nicht nur die Lust, wie Nietzsche meinte, will Ewigkeit, auch die Liebe will es: Wer einen Menschen liebt, so heißt es bei Gabriel Marcel, sagt ihm: Du wirst nicht untergehen, du sollst den Tod überstehen. 101 Jedes Denken, jedes moralische Handeln, jede Erfahrung des Schönen ist mit Zeitlosigkeit verbunden, denn in ihnen setzen wir etwas voraus, das nicht an Zeit gebunden ist: ideale Entitäten wie logische Strukturen, mathematische Gestalten, transzendentale Kategorien, moralische und ästhetische Werte. Mit jedem Gedanken, der wahr sein soll, sträuben wir uns gegen die Vergänglichkeit; Vernunft will Ewigkeit und ihr größter Feind ist deshalb der Tod. Als Menschen sind wir nicht nur vergängliche Wesen der physischen Sphäre (Welt 1), wir sind auch Wesen der subjektiv-phänomenalen Sphäre (Welt 2), die ihr Nicht-mehr-sein nicht denken können, und wir partizipieren an der idealen Sphäre (Welt 3), die zeitlos ist. Dennoch können Welt 2 und Welt 3 für mich nur so lange existieren, wie mein Leben in Welt 1 dauert. 102 Dieses aber endet definitiv mit dem Tod. Deshalb ist der Tod für mich eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes – die dennoch eintreten wird.

3.

Der Sinn des Leidens

Neben dem Tod ist das Leiden das Paradebeispiel des Negativen in dieser Welt. Für die klassischen Theodizeeversuche war die Existenz des Schmerzes eine der größten Herausforderungen: »Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz … warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken es Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten.« 103 Das sagt die literarische Figur des Thomas Payne Zit. nach Scherer, Philosophische Anthropologie, 126. In Anlehnung an die Drei-Welten-Theorie von Popper, Objektive Erkenntnis, 75, 109 ff., 158 ff.; ders./Eccles, Das Ich und sein Gehirn, 61–77 u. ö.; ders., Reply to my Critics, 1050 ff. 103 Büchner, Werke und Briefe, 40 f. (»Dantons Tod« von 1835). Vgl. Adorno, GS VI: 101 102

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(nicht der historische Thomas Paine) im Kerker während der Jakobinerherrschaft. Einen »ungeheuern Riß« hatte die Welt auch für Büchners Lenz, der die Schmerzen der Geschöpfe nicht ertragen kann. 104 Das menschliche Leben bewegt sich offensichtlich zwischen Glück und Not, zwischen Lust und Leid. Aber die beiden Extreme dieses Spektrums sind nicht gleichwertig: Kein Mensch ist permanent fröhlich und Freuden lassen sich nicht grenzenlos steigern; dagegen gibt es sehr wohl chronische Schmerzen und ein Leiden kann immer heftiger werden, bis hin zu Höllenqualen. Das ist einer der Gründe, warum kaum nach dem Sinn des Glücks gefragt wird – wohl aber nach dem Sinn von Schmerz und Leid. Ich beginne dieses Kapitel mit einigen empirischen und begrifflichen Vorklärungen. Zentral ist meine Unterscheidung zwischen Schmerzen und Leiden (a). Denn die These dieses Kapitels lautet, dass einige Schmerzen einen Sinn haben können (b), dass aber Leiden fast immer sinnlos ist; die möglichen Pathodizee-Argumente sind nicht triftig (c). Dennoch müssen wir uns gegenüber dem Leiden verhalten; dazu sind in der Menschheitsgeschichte unterschiedliche Einstellungen entwickelt worden (d). (a) Empirische und begriffliche Vorklärungen Mit der Ontologie des Schmerzes, seiner Geschichte sowie damit verbundenen erkenntnistheoretischen Problemen müssen wir uns hier nicht lange aufhalten; einige wenige Bemerkungen sollen genügen. Es gibt viele interessante naturwissenschaftliche und phänomenologische Studien über Schmerzen; aber eine einheitliche und allgemein akzeptierte Theorie liegt nicht vor. 105 Zu komplex und zu unterschiedlich sind die so bezeichneten Phänomene: von Kopfschmerzen über Nierenkoliken bis zum gebrochenen Fuß. Zudem sprechen wir nicht nur von körperlichen, sondern auch von seelischen Schmerzen: Heimweh, Kränkung, Depression usw. Die das menschliche Leben Negative Dialektik, 203: »Die kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphilosophie Lügen.« 104 Büchner, Werke und Briefe, 81 u. 83 (»Lenz« von 1836); vgl. Lütkehaus, Nichts, 75– 86. 105 Der wohl am besten bewährte medizinische Ansatz ist die »gate-control-theory« von Robert Melzack (engl. 1973); zum phänomenologischen Ansatz vgl. neuerdings Grüny (2004); außerdem Kalb, Pathisches Sprechen. A

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prägenden Schmerzen werden am Anfang der Bibel genannt: die Beschwernisse der Schwangerschaft und die Quälerei des Gebärens sowie die Mühsal, der Natur erträgliche Lebensbedingungen abzutrotzen. 106 Aber zweifelsohne empfinden auch Tiere Schmerzen. Einund Mehrzeller haben keine Schmerzen, Lebewesen ohne zentrales Nervensystem empfinden sie nicht. Da körperliche Schmerzen häufig durch Gewebeschäden verursacht sind, lässt sich dieses Phänomen wohl naturgeschichtlich bis in die Anfänge organischen Lebens zurückverfolgen. Schmerzen zeigen sich nicht in Verhaltensweisen, wie der Behaviorismus meinte: Es gibt Superspartaner, die ihre Schmerzen total unter Kontrolle haben, und es gibt Schauspieler, die Schmerzen perfekt simulieren können. Auch fehlt eine eindeutige Relation von Reiz und Reaktion, von Verletzung und Schmerz: Einerseits gibt es Schmerzen, denen das korrespondierende Objekt fehlt; das ist der Fall bei den schon Descartes bekannten Phantomschmerzen. 107 (Das Gegenstück zu den Phantomschmerzen ist übrigens der Ausfall der Eigenwahrnehmung, der Propriozeption, die dazu führt, dass man nicht mehr, sondern weniger Organe spürt, als man besitzt; im Extremfall kann jedes Körperempfinden verloren gehen. 108 ) Andererseits gibt es Verwundungen, die überhaupt nicht wahrgenommen werden, weil unser Organismus in extremen Stress- und Schocksituationen opiatähnliche Stoffe produziert, die die Schmerzempfindung unterdrücken. Alle Arten des Schmerzes, sowohl physische als auch psychische, bedürfen einer neurologischen Grundlage; Schmerz findet immer im Kopf statt (nicht im Herzen, wie eine lange Tradition bis ins 19. Jahrhundert meinte). Auf spezifische Rezeptoren (Nozizeptoren), Leitungsbahnen und Hirnzentren ist der Schmerz aber offensichtlich nicht immer angewiesen. Die Schmerzforschung wurde lange Zeit durch die Kontroverse zwischen Empfindungs- und Gefühlstheoretikern bestimmt: Sind Schmerzen eine physiologisch erforschbare Empfindung oder sind sie ein emotionaler Prozess, der verschiedenste Empfindungen beAT, 1. Moses 3: 16 ff. Vgl. Descartes, Meditationen, VI: 7; zu Descartes’ Seilzug-Theorie des Schmerzes vgl. ebd. VI: 21. Phantomschmerzen sind aus erkenntnistheoretischer und phänomenologischer Perspektive philosophisch interessant, vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 100 ff. 108 Vgl. Sacks, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, 69 ff. (dort zu Phantomempfindungen 97–102). 106 107

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gleiten kann? Auf jeden Fall haben Schmerzen eine subjektive und eine objektive Seite. Man unterscheidet zwischen den objektiven Schmerzinformationen (sensory pain) und dem subjektiv-individuellen Schmerzerlebnis (suffering pain). Während die kritische Schwelle für jene bei allen Menschen ähnlich zu sein scheint, unterscheiden wir uns individuell und kulturell stark in dem, was wir als Schmerz interpretieren und wie wir diesen zum Ausdruck bringen. Die subjektive Seite kann sich steigern zum Leiden. Ein Leiden unterscheidet sich von einem Schmerz durch drei Aspekte (ohne dass in jedem Fall eine klare Grenzziehung möglich wäre): Erstens beruht ein Leiden auf andauernden, tiefen oder/und den ganzen Leib betreffenden Schmerzen. Wenn ich mich am Küchenmesser schneide, fühle ich vielleicht Schmerz; als Leiden würden wir eine solche Verletzung nicht bezeichnen. Die Schmerzen einer chronischen Krankheit kommen und gehen; sie können unterbrochen sein – das Leiden bleibt. Zweitens kann man gegen Schmerzen sehr viel mehr tun als gegen Leiden. Schmerzen kann man bekämpfen, lindern, verdrängen – Leiden sind weitgehend unserem Einfluss entzogen; Leiden ist ein Widerfahrnis. Die metaphysische Sinnfrage tritt deshalb nicht an die Stelle des Kampfes gegen das Leiden; sie wird gestellt, weil der Kampf gar nicht möglich oder gescheitert ist. 109 Drittens tritt im Leiden zur subjektiven Erlebnisseite das reflexive Bewusstsein des negativen Zustands hinzu. 110 Das Leiden widerfährt nicht meinem Leib, sondern mir; Schmerzen empfinde ich, von meinem Leiden weiß ich. Statt »Leiden« kann man in objektivierender Redeweise auch von »Leid« sprechen, obwohl diese beiden deutschen Wörter nicht etymologisch miteinander verwandt sind. Für eine Typologie der vielfältigen Formen von Schmerz und Leiden unterscheide ich diese nach ihrem Herkunftsbereich, nach der verantwortlichen Ursache. 111 Der erste Typ wird durch die Natur verursacht, also durch das, was ohne unser Zutun geschieht. Dem stelle ich die Sphäre der Kultur gegenüber, in der man differenzieren kann zwischen nicht-intentionalen, fremd-intentionalen und selbstintentionalen Ursachen. Nicht-intentionale kulturelle Ursachen Spaemann, Über den Sinn des Leidens, 116. Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts, 592 ff. 111 Eine alternative Einteilung der Quellen des Leidens stammt von Sigmund Freud (»Das Unbehagen in der Kultur«, Studienausgabe IX: 208 f.): Hinfälligkeit des eigenen Körpers, Übermacht der äußeren Natur und Unzulänglichkeiten unserer sozialen Beziehungen. Die dritte Quelle sei für uns Menschen am bedrückendsten. 109 110

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stammen aus dem Bereich der verselbständigten Sozialstrukturen, deren Folgen und Nebenwirkungen man keiner Person oder Personengruppe direkt zurechnen kann. Das ist bei den fremd-intentionalen Ursachen anders: Schmerzen und Leiden dieser Art werden von einer dritten Person beabsichtigt und mehr oder weniger direkt erzeugt. Darüber hinaus kann ich mir selbst intentional Schmerzen oder Leiden zufügen. Es gibt somit also vier Typen von Schmerz und Leiden, auf die gleich zurückzukommen sein wird. – Wir können uns jetzt der Frage zuwenden, welchen Sinn Schmerzen haben könnten. (b) Der Sinn der Schmerzen Erstens haben Schmerzen einen kognitiven Sinn; sie dienen als Warnschild oder als Wegweiser. Dass Schmerzen unsere Lehrmeister seien, ist wohl die älteste Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Leidens. Bereits in der Fabel »Der Hund und der Koch« des Äsop (um 600 v. u. Z.) steht der Satz »Leiden sind Lehren«. Dieselbe Weisheit findet sich an einer noch prominenteren Stelle, nämlich in dem vom Chor gesprochenen Zeus-Hymnos aus dem ersten Teil der Orest-Trilogie des Aischylos: »aus Leiden lernen«. 112 Kleine Kinder, die nicht wissen, dass Glühbirnen heiß sind, ziehen ihre Hand sofort zurück, wenn sie die Schmerzen spüren, die die Berührung auslöst; dadurch werden schwerere Verletzungen vermieden. Abgründe, in die man stürzen könnte, lösen ein Schwindelgefühl aus, das uns sofort zurücktreten lässt. Für den völlig überarbeiteten Lehrer kann der Herzinfarkt oder der Hörsturz das Warnsignal sein, seine Stundenzahl zu reduzieren oder sich sogar einen neuen Beruf zu suchen. Entsprechendes gilt für viele Krankheiten, vor allem psychische: Dass deren Symptome einen geheimen Sinn haben, der entschlüsselt werden muss, ist seit Freud eine der grundlegenden Überzeugungen der Tiefenpsychologie. 113 Der Schmerz gehört, mit Uexküll gesprochen, zur »Merkwelt«: Er lässt uns merken, wo Gefahr und Verletzung droht. Im Schmerz wird ein Urteil ausgesprochen: Das ist schädlich, das ist zu vermeiden. Durch Schmerzen werden wir auf uns selbst aufmerksam gemacht, durch physische Schmerzen auf unseren Leib, durch 112 Die entsprechende Weisheit des Kohelet »wer viel lernt, der muss viel leiden« (AT, Prediger 1: 18) wurde wahrscheinlich später niedergeschrieben. 113 Albrecht, Vom unbewußten Sinn der Krankheit, 25–38.

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psychische Schmerzen auf unsere Seele. Insofern können selbst starke Schmerzen ein heilsamer Schock sein. Aus der griechischen Medizin stammt das Bild vom Schmerz als dem bellenden Wachhund unserer Gesundheit. 114 Nietzsche bezeichnete den Schmerz darüber hinaus als »das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik«: Durch ihn wird etwas in unser Gehirn eingebrannt, was wir sonst schnell wieder vergessen hätten. 115 Bei vielen Autoren finden wir die Auffassung, dass mit dem Schmerz eine besondere Sensibilisierung und eine gesteigerte Reflexivität einhergeht. Es gebe »eine intime und tiefe Beziehung zwischen Intelligenz und Schmerz«. 116 Daraus kann man die Konsequenz ziehen, dass wir Menschen als die intelligentesten Lebewesen zugleich die schmerzempfindlichsten sind. 117 Zweitens gibt es einen motivationalen Sinn der Schmerzen. Wie Kant schreibt, sind sie der »Stachel der Tätigkeit« (Anthr. § 60 u. § 61). Allerdings verwendet er in diesem Zusammenhang nicht den auf moralische Handlungen bezogenen Begriff der Triebfeder; zu solchen werden wir nämlich durch Schmerzen nicht unbedingt bewegt. Immerhin lösen aber die Schmerzen anderer bei uns Mitleid aus. Weiter heißt es bei Kant: Absolute Zufriedenheit, also Schmerzfreiheit, ist unmöglich, aber auch nicht wünschenswert. Denn sie wäre gleichbedeutend mit einer »Abstumpfung der Empfindungen« und einer »tatlose(n) Ruhe«. »Eine solche kann aber eben so wenig mit dem intellektuellen Leben des Menschen zusammen bestehen, als der Stillstand des Herzens in einem tierischen Körper, auf den, wenn nicht (durch den Schmerz) ein neuer Anreiz ergeht, unvermeidlich der Tod folgt.« (Anthr. § 61/XII: 557) Unsere größten Anstrengungen dienen der Vermeidung oder zumindest der Verringerung von Schmerzen. Schmerzen können auch zur Leistungssteigerung notwendig sein; auch Pferde werden angetrieben, indem man ihnen die Sporen gibt. Diese Behauptung wird manchmal auf die soziale Ebene übertragen: Gesellschaften, denen es zu gut geht, die keine schmerz114 Zit. nach Sauerbruch/Wenke 1961: 130; vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, § 312: »Mein Hund« (KSA III: 547 f. = S II: 183). 115 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral II 3 (KSA V: 295 = S II: 802). 116 Gehlen, Der Mensch, AG 3.1: 75, vgl. ebd. 152, der sich dabei auf Maurice Pradines bezieht; vgl. Buytendijk, Über den Schmerz, 98–106. Heidegger entdeckt sogar eine etymologische Verwandtschaft zwischen »algos« (griech. Schmerz) und »logos« in ders., GA 9: Wegmarken, 232 (»Zur Seinsfrage«). 117 Schopenhauer ZA II: 388 (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Band, § 56) u. ZA IX, Parerga und Paralipomena, § 153.

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haften Herausforderungen mehr spüren, entwickeln sich nicht weiter. Eine solche Aussage kann man bloß metaphorisch verstehen und deshalb wohl kaum empirisch überprüfen: Wer davon spricht, dass soziale Gruppen oder Kollektive leiden, begeht einen Kategorienfehler, denn nur Organismen empfinden Schmerzen. Darüber hinaus gilt zumindest die Einschränkung, dass Gesellschaften, die zu starkem Druck ausgesetzt sind, ob durch ihre natürliche Umwelt, äußere Feinde oder innere Verwerfungen, sich ebenfalls nicht entwickeln können. Die beiden Argumente vom kognitiven und vom motivationalen Sinn der Schmerzen beziehen sich, wie unschwer zu erkennen ist, auf deren Funktion. Dabei ist es unerheblich, ob die Begründung eher biologisch oder eher soziologisch angelegt ist. Nach darwinistischer Sicht dient der Schmerz dem Überlebenskampf und der erfolgreichen Reproduktion; er gehört wie das Lustgefühl »zu den arterhaltenden Kräften ersten Ranges«. 118 Schmerzempfindliche Individuen können im Daseinskampf besser bestehen als andere; eine angeborene oder (etwa durch eine Hirnverletzung) erworbene Schmerzunempfindlichkeit (An-algesie) kann lebensgefährlich sein: Solche Menschen erleiden schon im Kindesalter schwere Verletzungen, etwa indem sie sich beim Kauen einen Teil der Zunge abbeißen; zum Tode kann führen, dass solche bedauernswerten Wesen beispielsweise einen Blinddarmdurchbruch, der normalerweise mit starken Schmerzen verbunden ist, gar nicht bemerken. Eine eher kulturalistische Erklärung würde darauf hinweisen, dass Schmerzen funktional der Abgrenzung und dem Aufbau eines Selbst dienen. Ohne Schmerzen wären wir uns unserer selbst weniger bewusst. 119 Dagegen sprechen aber eine Reihe von schlichten Überlegungen: Zunächst einmal lernen wir nicht nur aus Schmerzen; es sind sehr wohl funktionale Äquivalente vorstellbar. Sodann wäre es ausreichend, wenn wir zwar mehr oder weniger Lust, aber keinen Schmerz empfinden würden. 120 Denn der Schmerz ist nicht das Verschwinden der Lust, eine Unlust wie eine Trägheit, Empfindungs118 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, § 318: »Weisheit im Schmerz« (KSA III: 550 = S II: 459). 119 Vgl. Sauerbruch/Wenke, Wesen und Bedeutung des Schmerzes, 1936: 82 f. = 2 1961: 144 f., die diesen Gedanken auf Hermann Lotze zurückführen. Morris, Geschichte des Schmerzes (engl. 1991), 406 Anm., bezeichnet das Buch von Sauerbruch/Wenke als die »wertvollste Arbeit« zum Sinn der Schmerzen. 120 Vgl. Hume, Dialoge über natürliche Religion, 110 f.

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losigkeit oder Gefühlskälte, sondern deren Widerspiel. Lust und Schmerz verhalten sich nicht zueinander wie 1 und 0, sondern wie 1 und –1 (Anthr. § 60). Ferner kann der Schmerz bei Gefahren oder beginnenden Erkrankungen ganz ausbleiben; er kann aber auch übermäßig stark einsetzen. Ein besonders krasses Beispiel ist Krebs: Dieser beginnt ohne körperliche Warnsignale und endet, kurz vor dem Tod, meistens mit den allerheftigsten und nun funktionslosen Schmerzen. Auch Zahnschmerzen sind oft schlimmer als unter medizinischen Gesichtspunkten notwendig. Welche Funktion haben zudem schwere Behinderungen oder schwere seelische Erkrankungen wie Psychosen? Weitere Gegenbelege sind die Leiden bei unheilbaren Krankheiten und chronische Schmerzen, unter denen in der modernen Welt offensichtlich viel mehr Menschen leiden als in traditionalen Gesellschaften. 121 Was lehren sie uns, wozu motivieren sie uns? Allergien und Phobien sind falsche Warnsignale: Leib und Seele wehren sich gegen etwas, was gar nicht bedrohlich ist, seien dies herumfliegende Pollen oder harmlose Spinnen. Auf der anderen Seite gibt es Schädigungen, die sogar von Lustgefühlen begleitet sind. Das gilt für alle Drogen, die uns in langwierige und im Extremfall tödliche Abhängigkeiten bringen. Wir als menschliche Individuen sind nicht reduzierbar auf evolutionäre Maschinen oder psycho-soziale Funktionsbündel. Folglich haben viele Schmerzen keinen Sinn; es existiert keine prästabilierte Harmonie zwischen Schmerz und Selbsterhaltung. Wir sind bestenfalls auf bestimmte »arttypische« Schmerzen evolutionär eingestellt. Entsprechendes gilt sicherlich auch für die Schmerzen, unter denen Tiere leiden. Das dritte Argument betont einen ethischen Sinn der Schmerzen. Schmerzen dienen uns nicht nur zur Informationsgewinnung und als Antriebskraft; sie stärken, so wird behauptet, unser moralisches Bewusstsein und läutern unseren Charakter. Indem sie uns vereinzeln und auf uns selbst zurückwerfen, reißen sie uns aus schlechten Gewohnheiten und der Anonymität der Masse heraus. Nur durch große Schmerzen lernen wir gleichsam das Wesen des Lebens kennen. 122 Menschen, die Schmerzen erlitten haben, sind nicht Morris, Geschichte des Schmerzes, 381. Zu dieser Auffassung tendiert auch Viktor von Weizsäcker in seinem Spätwerk »Pathosophie«: Letztlich habe »jede Krankheit einen Sinn« (503). Aus der Einsicht, »daß die Struktur nicht nur des Menschen, sondern die der ganzen Welt die kreuzartige sei« (297), folgert er, nicht mehr eine medizinische Anthropologie, sondern eine Pathosophie zu entwickeln. Das ganze Leben sei Leiden und verweise auf den Tod; statt Pathosophie 121 122

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nur klüger und willensstärker, sondern sogar glücklicher; sie kennen andere und größere Freuden. Sinnlos ist nicht das Leben, zu dem Schmerzen gehören, sondern das, in dem nichts gewagt wurde und nur der Genuss das Ziel war. Dieses Argument gibt es in zwei Abstufungen. Für die starke Version ist der Schmerz nicht nur der Weg zu einem sinnvollen Leben, nicht nur eine Durchgangsphase. Er sollte vielmehr dauerhaft ein wesentliches Moment unseres Lebens sein, ein Ziel unseres Handelns. Ohne Schmerzen hätte unser Leben weniger oder gar keinen Sinn. Deshalb darf man sie auf keinen Fall abschaffen, man müsste sie eher vermehren. Der Schmerz ist unser Gegner, aber ein Gegner, dem man nicht ausweichen darf, den man sogar aufsuchen sollte, weil wir nur im Kampf mit ihm den Sinn unseres Lebens finden. Das ist der heroische Weg im Umgang mit den Schmerzen. Der wichtigste Vertreter dieser These ist Friedrich Nietzsche. Der »große Schmerz« sei nicht nur unser »Lehrmeister«, sondern führe auch zu einer ›Vertiefung‹ unseres Lebens und dem Gewinn eines »neues Glück(s)«. 123 Diese Sichtweise verbindet sich mit einer Kritik an der auf Sicherheit und Bequemlichkeit ausgerichteten hedonistischen Moderne, dem Streben des letzten Menschen nach einer erbärmlichen Behaglichkeit. »Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens – wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat?« Deshalb muss der Mensch »geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt, geglüht, geläutert werden« – er ist das Wesen, »was notwendig leiden muß und leiden soll«. 124 Zudem soll sich aus der Tiefe des jeweiligen Schmerzes eine Rangordnung unter den Menschen ergeben. Diese Ansichten Nietzsches haben eine ganze philosophische Richtung geprägt, den heroischen Realismus, der seine Blütezeit im Deutschland der Zwischenkriegszeit erlebte. Denker verschiedener Richtungen stimmen in dieser Hinsicht überein; man könnte sowohl

könne man deshalb auch von Thanatosophie sprechen (504). Umgekehrt verweise der Tod genauso auf das Leben: »Wenn der Sinn des Lebens der Tod ist, dann ist der Sinn des Todes das Leben.« (329) Eine solche dialektische Metaphysik überschreitet den Horizont dieses Kapitels. 123 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede 3 (1886) (KSA III: 351 = S II: 13), auch in ders., Nietzsche contra Wagner. Epilog 1 (KSA VI: 436 f. = S II: 1059). 124 Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, § 225 (KSA V: 161 = S II: 689 f.).

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auf Nicolai Hartmann wie auf Karl Jaspers verweisen. 125 Heidegger war aber nicht zu Unrecht der Auffassung, dass der bedeutendste Nietzscheaner kein Philosoph sei, sondern ein Schriftsteller, nämlich Ernst Jünger. 126 In dessen Buch »Der Arbeiter« ist von einem neuen Glück die Rede, das erreichbar sei durch Verzicht, Disziplin und Selbstopferung. 127 Noch aufschlussreicher für unsere Fragestellung ist Jüngers Essay »Über den Schmerz« von 1934. Der Text beginnt furios: »Es gibt einige große und unveränderliche Maße, an denen sich die Bedeutung des Menschen erweist. Zu ihnen gehört der Schmerz; er ist die stärkste Prüfung innerhalb jener Kette von Prüfungen, die man als das Leben zu bezeichnen pflegt.« 128 Es sei zwecklos, dem Schmerz entrinnen zu wollen; stattdessen sollten wir unser Schmerzorgan, den Körper, vergegenständlichen, ja instrumentalisieren. »Dieses Verfahren setzt freilich eine Kommandohöhe voraus, von der aus der Leib als ein Vorposten betrachtet wird, den der Mensch aus großer Entfernung im Kampf einzusetzen und aufzuopfern vermag.« 129 Der Fehler von Nietzsche und Jünger sei aber, so Heidegger, dass sie die Perspektive der Metaphysik des Willens zur Macht nicht überspringen könnten. Was sie für Wesensaussagen halten, sind subjektive Sinnzuschreibungen, die typisch seien für die Seinsverlassenheit der Gegenwart. Heidegger selbst schreibt an anderer Stelle: »Das Geheimnis des Schmerzes bleibt verhüllt.« 130 Was ist von der nietzscheanischen These vom Sinn der Schmerzen zu halten? Tatsächlich erscheinen uns aus dem Rückblick die Lebensphasen, in denen wir mehr Negatives erlebten als in anderen, manchmal als die interessanteren und spannenderen, ja sogar die glücklicheren (vgl. III.2.1.). Menschen, die kaum Probleme haben, jammern häufig mehr als diejenigen, die immer wieder unter Schmerzen leiden. Stärker wiegen aber die Gegenargumente. Zunächst gilt die These vom ethischen Sinn nur unter der Voraussetzung, dass die Schmerzen nicht eine bestimmte Toleranzgrenze überschreiten; ein

Vgl. Hartmann, Ethik, 348; Jaspers, Philosophie II: 231 ff. Heidegger GA 90 (»Zu Ernst Jünger«): 244, 253, 263–266, 436 ff. u. ö.; vgl. Lethen, Die Evidenz des Schmerzes, 491–503. 127 Jünger, Der Arbeiter, 69, 74, 307 u. ö.; vgl. Meyer, Ernst Jünger, 218–229 u. 409 ff. 128 Jünger, Über den Schmerz, 145. 129 Jünger, Über den Schmerz, 158. 130 Heidegger, GA 5: 274 (»Wozu Dichter?« von 1946): »Der Tod entzieht sich ins Rätselhafte. Das Geheimnis des Schmerzes bleibt verhüllt. Die Liebe ist nicht gelernt.« 125 126

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größeres Glück entspringt sicherlich nicht aus chronischen, sehr starken und mit Gewissheit zum Tode führenden. Aber selbst wenn wir an weniger heftige Schmerzen denken, die überstanden wurden – sind die Menschen, die viel Leid erfahren haben (am eigenen Leib und durch Mitleiden mit anderen), wirklich glücklicher? Kommt es nicht oft zu Verhärtungen, zu einer Verbitterung, die unfähig macht zu lieben und geliebt zu werden? Die Pechvögel des Lebens werden nicht immer zu Glückskindern; wer eine harte Kindheit erlebte, dem geht es als Erwachsenen oft auch nicht besser. Schwer leidgeprüfte Menschen sehen überall das Negative, in der Welt, in ihren Mitmenschen, sogar in sich selbst. Gleichen nicht die physiognomischen Reaktionen auf den Schmerz (gespannte Gesichtszüge, zusammengebissene Zähne, geballte Fäuste usw.) denen des Hasses? 131 Entgegen Nietzsches Vermutung wird der schmerzgequälte Mensch doch oft zu einem »Düsterling«. 132 Äußerlich hat man die Schmerzen besiegt, diese wurden aber nur abgedrängt in die Tiefen der Seele, was sich an »dem tieferen Leide der Herzenshärtung und der kalten Verbitterung« zeigt. 133 In diesem Zusammenhang hat Scheler den Anti-Hedonismus der gesamten deutsch-preußischen Tradition von Kant bis Nietzsche kritisiert. Die Lust darf nicht aufs Spiel gesetzt werden zugunsten eines falschen Glücksbegriffs. Der absolute Heros, so Scheler, ist entweder krank oder ein Narr. 134 Darüber hinaus sei die heroische Haltung ein »fast sportartiges Sichselbstermessen, das nur sekundär förderliche Folgen« für andere abwirft. 135 Sehr viel besser ist deshalb die schwache Version der These vom ethischen Sinn der Schmerzen, die vor allem Viktor E. Frankl entwickelt hat. Auch er plädiert nicht für weniger, sondern für mehr Leiden; ganz nach Nietzsche klingt sein Motto »Mut zum Leiden«: »pati aude – wage es zu leiden.« 136 Leiden führe zu einer größeren inneren Reife, ja sei der Weg zu einem sinnerfüllten Leben, allerdings ein Weg von dreien, die anderen beiden sind Arbeit und Liebe. Aufgabe der Psychotherapie sei es deshalb, den Menschen nicht nur Buytendijk, Über den Schmerz, 155 f. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede 3 (1886) (KSA III: 350 = S II: 13), auch in ders., Nietzsche contra Wagner, Epilog 1 (KSA VI: 437 = S II: 1059). 133 Scheler, GW VI: Vom Sinn des Leides, 66. 134 Scheler, GW VI: Vom Sinn des Leides, 52 f. 135 Scheler, GW VI: Vom Sinn des Leides, 66. 136 Frankl, Homo patiens, 209; vgl. die sehr gute Zusammenfassung von Frankls Ansichten bei Yalom, Existentielle Psychotherapie, 520–530. 131 132

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arbeits- und liebesfähig werden zu lassen, sondern auch »leidensfähig«. 137 Von Nietzsche unterscheidet Frankl, dass er Schmerzen keinen intrinsischen Wert zuschreibt; sie sind nicht um ihrer selbst willen sinnvoll. Zudem dürfe man sie nicht unmittelbar intendieren. Damit entwickelt Frankl die komplementäre Position zur aristotelischen Glückstheorie: Weder Lust noch Leiden sollten direkt erstrebt werden. Leiden stellt sich ein (wie auch Glück) bei der Verwirklichung höherer Werte; unter dieser Bedingung sollten wir bereit sein, Leiden auf uns zu nehmen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Schmerzen im Rahmen autonom gewählter und durchgeführter Projekte auftreten. Dem Negativen, das von außen auf uns zukommt, weichen wir aus; aber für das, was wir uns selbst auferlegen, sind wir bereit, einiges zu ertragen. Was ist die Quintessenz dieser Überlegungen? Angenommen, jemand hätte eine Pille entwickelt, die uns gegen alle Schmerzen, die körperlichen und die seelischen, immun macht – würden wir diese Pille schlucken oder sie unseren Kindern verabreichen? Sind wir nicht doch implizit der Auffassung, dass Schmerzen zu einem sinnvollen Leben dazu gehören und nicht gänzlich abgeschafft werden sollten? Eine völlig an-ästhetisierte Kultur, in der keiner mehr Schmerzen empfindet, erscheint uns nicht erstrebenswert. Hingegen wird kaum einer ein Heilmittel ablehnen, das sich gegen heftige Schmerzen richtet, deren Nutzen wir nicht einsehen. Wir sollten also unterscheiden zwischen notwendigen und überflüssigen Schmerzen. Überflüssig sind die Schmerzen, die keine Funktion haben oder/und angesichts dieser zu stark sind. Mackie spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von absorbierten und nicht absorbierten Übeln. 138 Wie diese Grenze jeweils zu ziehen ist, hängt offensichtlich von vielen natürlichen und soziokulturellen Bedingungen ab, die nur empirisch zu erforschen und praktisch zu erfahren sind. Außerdem ist die Grenze sicherlich individuell variabel. Wir können aber diese Differenzierung übertragen auf die oben entwickelte Typologie des Leidens nach ihren Ursachen. In jedem der vier Bereiche gibt es notwendige und überflüssige Schmerzen. 137 Frankl, Homo patiens, 168. Eine ähnliche Auffassung finden wir auch bei Mitscherlich, Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit, 128; ders., Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, 22–52; vgl. Habermas, Bemerkungen zu Alexander Mitscherlichs analytischer Sozialpsychologie, 356 f. 138 Mackie, Das Wunder des Theismus, 246 u. ö.

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Bei den Schmerzen, die auf natürliche Ursachen zurückzuführen sind, also dem malum physicum im eigentlichen Sinn, ist zu unterscheiden zwischen denen mit biologischer Funktion und denjenigen, deren biologische Funktion beim besten Willen nicht zu erkennen ist. Einige Schmerzen erfüllen eine kognitive, motivationale oder ethische Funktion, sind also sinnvoll; andere Schmerzen, etwa diejenigen, die durch Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüche und Erdbeben oder durch Seuchen ausgelöst werden, haben hingegen keinen solchen Sinn. Bei den Schmerzen, die auf gesellschaftliche Ursachen zurückzuführen sind, also dem malum sociale, ist zu unterscheiden zwischen unvermeidbaren und vermeidbaren. Erstere gehören, mit Marx gesprochen, ins »Reich der Notwendigkeit«. 139 Beispiele sind der »Stoffwechsel« der vergesellschafteten Menschen mit der Natur, aber auch die Zwänge der Sozialisation, unter denen jedes Individuum steht und denen es sich nicht entziehen kann, sowohl in Kindheit und Jugend als auch im Erwachsenenalter. So haben etwa kleine Kinder entweder unter den Borniertheiten des Einzelkinddaseins oder unter der Eifersucht auf das Geschwisterkind zu leiden. Vermeidbare soziale Leiden beruhen hingegen auf ineffizienter Technik oder strukturell bedingter sozialer Ungerechtigkeit. Die Grenze zwischen vermeidbaren und nicht vermeidbaren Schmerzen ist nicht starr; sie ändert sich im Lauf der Geschichte. Beispielsweise wird die mühselige Arbeit, die in früheren Zeiten überlebensnotwendig war, heute von Maschinen erledigt. Im Marxismus wurden die Entbehrungen, die man mit den neuesten Produktivkräften abschaffen könnte, aber aufgrund der Produktionsverhältnisse (und Herrschaftsformen) bestehen bleiben, als Surplus-Repression bezeichnet. 140 Schmerzen, die andere uns bewusst zufügen, unterstehen moralischer Beurteilung. Insofern handelt es sich hier um das malum morale im eigentlichen Sinne; hier kann man von legitimen und illegitimen Schmerzen sprechen. Fast alle Schmerzen, die Menschen anderen Menschen zufügen, sind illegitim. In diese Kategorien gehören Krieg und Verbrechen, Ausbeutung und Unterdrückung, Beleidigung und Diskriminierung. Das schrecklichste Beispiel ist die Folter,

139 140

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Marx, MEW 25: Das Kapital, Bd. 3: 828. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, 40, 79 f. u. ö.

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weil hier direkt die menschliche Schmerzempfindlichkeit ausgenutzt wird. In wenigen Fällen, die gut zu begründen sind, können intentional erzeugte Schmerzen einen sozialen, pädagogischen oder medizinischen Sinn haben. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Institution der Strafe im Rahmen von Erziehungsprozessen oder einer staatlichen Rechtsprechung. Jede Strafe fügt der betroffenen Person Schmerzen zu. Deshalb sind unbedingt normative Prinzipien wie die Würde jedes Menschen, die Gerechtigkeit der Strafen und die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten. Auf keinen Fall darf die Strafe Selbstzweck sein, hinter ihr darf kein Rachebedürfnis oder gar Sadismus stehen. Wenn dies alles beachtet wird, mag eine Freiheitsbegrenzung oder eine Zivilstrafe gerechtfertigt sein. Ein weiteres Beispiel, bei dem man sich an denselben normativen Prinzipien orientieren sollte, sind Grenzsetzungen in Erziehungsprozessen: Kindern und Jugendlichen kann zu ihrem Schutz und zum Schutz anderer nicht alles erlaubt sein; solche Beschränkungen sind legitim, auch wenn sie für die Betroffenen mit Schmerzen verbunden sein sollten. Manchmal wird sogar Zwang notwendig sein, um die besonderen Fähigkeiten der Kinder zu entwickeln. In diese Kategorie gehören auch medizinische Maßnahmen, die intentional Schmerzen erzeugen, aber den Zweck haben, das Leben selbst zu retten. Im Bereich der Schmerzen, die ich mir selbst zufüge, könnte man ebenfalls zwischen legitimen und illegitimen Schmerzen unterscheiden; dafür wäre es erforderlich, an der Idee der Pflichten gegen sich selbst festzuhalten. Wer das nicht möchte, kann unterscheiden zwischen Schmerzen, die als Mittel gerechtfertigt sind für einen selbst gewählten und sinnvollen Zweck, sowie solchen, bei denen das nicht der Fall ist. Ein Sonderfall sind die Schmerzen, die um ihrer selbst willen aufgesucht werden; manchmal mag dies einen ethischen Sinn haben, meistens ist es als Masochismus abzulehnen. Sinnvolle Schmerzen stehen häufig im Zeichen der Askese, der Selbstdisziplinierung für ein höheres individuelles oder soziales Ziel. Kein bedeutender Wissenschaftler, Künstler oder Politiker ist bisher ohne solche asketischen Leistungen ausgekommen. – Somit ergibt sich folgendes Diagramm:

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natu¨rliche Ursachen

nicht-intentionale soziale Ursachen

intentionale soziale Ursachen

von mir selbst verursacht

mit biologischer Funktion

unvermeidbar (Reich der Notwendigkeit)

legitim (Bsp. Strafe)

als Mittel für einen selbst gewählten Zweck (Askese)

ohne biologische vermeidbar illegitim Funktion (Surplus-Repression) (Bsp. Folter)

als Selbstzweck (Masochismus)

(c) Drei Pathodizee-Argumente Die Frage, ob Schmerzen einen Sinn haben, muss man also differenziert beantworten. Überflüssige (also funktionslose oder zu starke) Schmerzen sind Leiden, die man nicht positiv bewerten kann. Könnten diese dennoch einen Sinn haben? Dafür müssen wir das Blickfeld erweitern; wir müssen den subjektiven Standpunkt verlassen und das Ganze sehen. Dieses Argument findet sich bereits bei Augustinus: Man dürfe sich nicht so verhalten wie ein Mensch, der auf einem wunderbaren Mosaikfußboden steht, seinen Blick aber nicht abwenden kann von einem einzelnen, möglicherweise kaputten Steinchen. 141 Alle bisherigen Rechtfertigungsversuche bezogen sich auf das Individuum, das die entsprechenden Schmerzen hat. Jetzt betrachten wir den Sinn des Leidens im Hinblick auf das Ganze, zu dem das Individuum gehört: die Gemeinschaft, die Menschheit, der Kosmos. Es geht nicht mehr um die je-meinigen konkreten Schmerzen, sondern um das Leiden an sich. In diesem Abschnitt kann man direkt an die klassischen Theodizee-Bemühungen anknüpfen und drei Argumente entwickeln, die sich grob der Naturphilosophie, der Ästhetik und der Moralphilosophie zuordnen lassen. Als erstes wird eine systemische Notwendigkeit des Leidens behauptet. Mit dem System ist das Ganze der Naturgesetze gemeint, nach denen alle Prozesse im Universum ablaufen. Es kann nur dieses eine System geben, zu dem es keine Alternative gibt. Die Leiden sind die Folge dieses Systems und insofern unvermeidlich. Man spricht in 141 Augustinus, De ordine (386), I 2,3, zit. nach Kessler, Gott und das Leid seiner Schöpfung, 25.

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diesem Zusammenhang auch von einem Ordnungsargument. Dieses Argument wurde in der frühen Neuzeit vielfach verwendet, nachdem Newton sein elegantes System von Naturgesetzen aufgestellt hatte. In der Gegenwart liegt ein solches nicht vor, aber in diese Richtung tendieren die Bemühungen vieler Wissenschaftler; man denke an Einsteins Suche nach einer einheitlichen Feldtheorie, die gegenwärtig erstrebte Zusammenführung der physikalischen Wechselwirkungen sowie das Projekt einer integrativen Theorie dynamischer Systeme (vgl. III.1.3.). Es gibt, so wird behauptet, nur eine mögliche Ordnung des Universums, die überhaupt bewusstes Leben, also uns, hat hervorbringen können. Es ist dasselbe System von Gesetzen, das Sonnenschein und Wirbelstürme, weiße Strände und gewaltige Flutwellen hervorbringt, auch die menschlichen Anlagen zum Guten und zum Bösen. Wer das eine abschaffen möchte, beseitigt auch das andere. Eine Welt ohne Naturgesetze würde gar nicht existieren oder wäre zumindest das blanke Chaos, das keiner wollen kann; eine bessere Natur ist nicht möglich. 142 Insofern haben sowohl Leibniz als auch Schopenhauer Recht: Wir leben in der besten aller möglichen und in der schlechtesten aller möglichen Welten – weil wir in der einzig möglichen Welt leben. Diese Rechtfertigung muss zugestanden werden. Dennoch gibt es zwei gewichtige Einwände. Erstens beruht das Ordnungsargument auf der klassischen Konversionsontologie, dass das, was ist, auch gut sei (siehe I.3.). In der Moderne sehen wir darin einen Sein-SollensFehlschluss. Es mag sein, dass zum Kosmos notwendigerweise auch Supernovae, Meteoriteneinschläge, Erdbeben usw. gehören – wir lehnen es trotzdem ab, die Opfer deshalb als sinnvoll oder gerechtfertigt zu bezeichnen. Die Einsicht, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist, kann unsere Trauer und unsere Wut über das Leid in der Geschichte nicht besänftigen. Zudem bemühen wir uns selbstverständlich, die Folgen der unabänderlichen Naturgesetze weniger negativ zu gestalten, etwa durch den Bau von Dämmen gegen Sturmfluten und die Entwicklung von Medikamenten gegen Krankheiten; das belegt, dass wir die Natur nicht für die beste aller möglichen Welt halten. Zweitens gilt das vorgetragene Pathodizee-Argument nicht für die Leiden, die direkt oder indirekt von Menschen verursacht werden – denn deren Freiheit, sich anders zu verhalten, setzen wir in der 142 Vgl. Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, 158–168 (»Naturgesetz und Theodizee«, 1944).

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modernen Metaphysik in praktischer Absicht voraus. Mit der Auffassung, dass alles determiniert sei und keine Freiheitsspielräume existieren, würden wir in einen Naturalismus zurückfallen, der die metaphysische Sinnfrage als sinnlos ansieht. Zwar können wir Menschen uns nicht über die Naturgesetze hinwegsetzen, aber die Vermeidung des Zweiten Weltkrieges hätte diesen nicht widersprochen. Das zweite Pathodizee-Argument postuliert einen ästhetischen Sinn des Leidens; es wird deshalb auch als das Kunstwerk-Argument bezeichnet. Die These lautet, dass ohne das Negative, also auch ohne das Leiden, das Ganze weniger vollkommen wäre. Sie findet sich im Rahmen der Theodizee-Diskussion schon bei Augustinus und Leibniz, als Kosmodizee dann prominent bei Nietzsche: »nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt«. 143 Alles Negative, vor allem das Leiden, kann aufgefasst werden als notwendiges Moment in einem gewaltigen Gesamtkunstwerk, der Welt. Nietzsche bringt als Analogien die Dissonanzen in der Musik und die schrecklichen Geschehnisse einer Tragödie; ohne diese wären diese musikalischen Kompositionen und diese dramatischen Werke ästhetisch weniger wertvoll. 144 Ebenso sei es mit dem Leben überhaupt: Wie langweilig und uninteressant würde es ohne das Negative sein. Das Argument ist also nicht, dass das Leiden an sich schön ist; behauptet wird vielmehr, dass das Ganze ästhetisch nicht so vollkommen wäre, wenn es nicht auch Negatives geben würde. Als ästhetisches Kriterium darf dabei nicht nur das klassische Prädikat »schön« genommen werden, wichtiger sind ästhetische Prädikate wie »interessant« und »spannend«. Nietzsche fragt: Könnte es nicht sein, dass die Götter begeisterte Zuschauer des dramatischen Schauspiels der Menschheitsgeschichte sind? 145 Gegen das Kunstwerk-Argument lassen sich zunächst einige ästhetische Überlegungen vorbringen: Erstens fragt sich, ob der Kosmos durch das Stöhnen eines Schwerverletzten oder die Gebrechen 143 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872, KSA I: 47 = S I: 40); vgl. ebd., 24 (KSA I: 152 = S I: 131) u. Versuch einer Selbstkritik, 5 (KSA I: 17 = S I: 14, 1887). 144 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, KSA I: 152 (= S I: 131). 145 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II 7 (KSA V: 304 = S II: 810). Bei Schopenhauer heißt es, das Leben wäre ein Trauer- und Lustspiel, das der Wille auf eigene Kosten und für sich selbst aufführt (ZA II: 413 u. 446, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Bd., § 60 u. § 64). Das Bild von der Gottheit, die dem menschlichen Treiben zuschaut, findet sich auch schon bei Kant (XI: 166).

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eines Leprakranken wirklich ästhetisch wertvoller wird – nach meinem ästhetischen Dafürhalten ist dies nicht der Fall. Zweitens mag der Reichtum an Kontrasten ein ästhetisches Kriterium sein, denn die Vielfalt, die zu einer Einheit synthetisiert ist, war immer eine der Bestimmungen des Schönen. Aber es gibt sicherlich noch andere ästhetische Kriterien. Nicht immer sind Filme mit grellen Kontrasten, beispielsweise mit den größten Schurken oder den gewaltigsten Naturkatastrophen, die spannendsten oder gar die insgesamt ästhetisch vollkommensten. Drittens wissen wir aus der modernen Kosmologie, dass der weitaus größte Teil des Universums eine fast völlige Leere ist. 146 Das gilt nicht nur in der räumlichen, sondern auch in der zeitlichen Dimension: Die Zeiten des bewussten Lebens sind befristet und dauern im kosmischen Maßstab wahrscheinlich nur wenige Sekunden. Wer den gesamten Kosmos überblicken könnte, würde zwar in den ersten drei Minuten ein dramatisches Schauspiel erblicken, wäre aber anschließend Milliarden von Jahren total gelangweilt. Selbst wenn man eine Argumentation vorlegen würde, die diese ästhetischen Bedenken ausräumt, wäre eine solche Rechtfertigung des Leidens nicht zu akzeptieren. Ästhetische Argumente können die moralischen nicht aufheben, wohl aber umgekehrt. Die Erfüllung einer positiven Pflicht, etwa die Rettung eines Ertrinkenden, muss nicht elegant geschehen. Aber Filme, in denen gewalttätige Handlungen nicht bloß gespielt sind, sondern real von den Darstellern ausgeführt oder erlitten werden (sog. snuff movies), sind strengstens zu verbieten, auch wenn ihre ästhetische Wirkung (was ohnehin zweifelhaft ist) besonders hoch sein sollte. 147 Anders formuliert: Auch wenn es möglich wäre, gegenüber dem Leben eine ästhetische Einstellung einzunehmen, die das Leiden sinnvoll erscheinen lässt, wäre eine solche Einstellung aus normativ-praktischen Gründen abzulehnen. Wir Menschen können die Götter, die uns zu ihrer Ergötzung leiden lassen, nur als bösartige Zyniker und Sadisten ansehen. Die dritte Pathodizee-These postuliert einen moralischen Sinn des Leidens: Das Negative sei zwar keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung des Positiven, in diesem Fall moralischer Handlungen. Wer leidet, motiviert entweder andere zu guten Taten oder/

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Im Gegensatz zu der Auffassung von Leibniz, Theodizee, I § 19, S. 104. Hoerster, Die Frage nach Gott, 96 f. A

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und wird selbst später eher bereit sein, anderen in einer ähnlichen Situation zu helfen. Eine Naturkatastrophe erzeugt sicherlich viel Leid; aber als Reaktion ruft sie auch Mitleid, Spenden, Kooperation usw. hervor – Handlungsweisen von hohem moralischem Wert, die es sonst gar nicht geben würde. Ohne Leiden wäre unsere Welt also weniger wertvoll. Das Argument für den Sinn des Leidens lautet, »daß nur so die Realisierung von Werten höherer Ordnung möglich ist, d. h., daß verschiedene Übel die logisch notwendige Bedingung für einige besonders wertvolle Verhaltensweisen darstellen.« 148 Marquard nennt dies eine »bonum-durch-malum«-Denkfigur. 149 Sie findet sich vor allem in Leibniz’ »Theodizee« (1710) und gegenwärtig bei Lévinas. 150 Dieses Argument kann man auf zweierlei Weise vertreten. In einer statischen Variante wird behauptet, dass es ein solches Übergewicht des Positiven, das durch das Negative überhaupt erst hervorgerufen wird, immer schon gibt. Die Leiden erster Ordnung werden durch Werte zweiter Ordnung übertrumpft. Die dynamische Version lautet, dass das vorhandene Negative zum Sieg des Positiven führen wird; das Leiden gehört zu einer notwendigen Übergangsphase, in der es eventuell sogar zu einer Zuspitzung des Negativen kommen mag, die dessen Aufhebung vorausgeht. Damit gelangt man zu einer geschichtsphilosophischen Fassung des Theodizee-Arguments. Dieser Pathodizee-Versuch scheint die besten Karten zu haben. Beispielsweise haben sich die türkisch-griechischen Beziehungen nach den Erdbeben, die beide Länder 1999 heimsuchten, nicht zuletzt deshalb verbessert, weil Türken und Griechen sich gegenseitig großzügig geholfen haben. Die Französische Revolution hat sicherlich viel Leiden verursacht – aber zehren wir nicht immer noch von ihren politisch-rechtlichen Errungenschaften? Zu bedenken sind die folgenden Einwände. Erstens kann das Leiden der empfindungsfähigen Tiere auf diese Weise nicht gerechtfertigt werden. Ihre Schmerzen gibt es seit vielen Millionen von Jahren, ohne dass dadurch höhere Werte verwirklicht wurden. Der 148 Swinburne, Die Existenz Gottes, 293; vgl. ganz ähnlich Kreiner, Gott im Leid, 345 ff., zusammenfassend ebd. 362: »Der Sinn des Übels liegt nicht primär in den Leiderfahrungen, sondern in den Aktivitäten, durch die sie überwunden werden.« 149 Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, 45. 150 Vgl. Leibniz, Theodizee, I § 10. Lévinas formuliert sehr vorsichtig: »Für das reine, wesentlich sinnlose und eingeschlossene, ausweglose Leiden, gerade für dieses, zeichnet sich ein Darüberhinaus im Zwischenmenschlichen ab.« (Lévinas, Das sinnlose Leiden, 120)

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Cartesianismus war ein abwegiger Versuch, dieses Argument auszuhebeln – indem bestritten wurde, dass Tiere überhaupt Empfindungen besitzen; selbst Kant, der sonst nicht viel für Tiere übrig hat, wendet sich gegen eine solche Pathodizee bei Malebranche (vgl. Rel. VIII: 728 Fn.). Zweitens führt Leiden nicht immer nur zu positiven Werten zweiter Stufe, sondern oft auch zu negativen Werten zweiter Stufe. Die Opfer einer Naturkatastrophe erleben nicht nur Mitleid und Hilfsbereitschaft, sondern auch die Schadenfreude der Nichtbetroffenen und den Egoismus ihrer Feinde, die die Situation zu ihren Gunsten ausnutzen. Die Geschädigten selbst sind verzweifelt und ihre Verbitterung schlägt mancherorts in irrationalen Hass um. Leiden erzeugt neues Leiden, ein erstes Übel ruft ein zweites hervor usw. Es ist sehr zu bezweifeln, dass die großen Naturkatastrophen viel zur moralischen Besserung der Menschheit beigetragen haben; in den meisten Fällen gingen alle nach kurzer Erschütterung wieder zur Tagesordnung über. Wer aus schmerzlichen Situationen wie einer harten Kindheit oder extremer Armut herausgekommen ist, zeigt gegen Minderprivilegierten manchmal mehr soziale Härte als der in günstigeren Umständen Aufgewachsene; man hört dann bisweilen das (zynische) Argument: »Mir selber hat es, wie man sieht, nicht geschadet.« Drittens kann es keinen Zweifel geben, dass der Preis an menschlichen Opfern für manchen geschichtlichen Fortschritt auch hätte niedriger ausfallen können. Um beim Beispiel der Französischen Revolution zu bleiben: Am 26. August 1789 wurden die Menschenrechte verkündet; vielleicht wäre es ohne die Erstürmung der Bastille dazu nicht gekommen. Aber hätte diese am 14. Juli in der grausamen Massakrierung der Wachmannschaft enden müssen? Viertens legt die geschichtsphilosophische Variante dieser These einen schrecklichen Missbrauch nahe: Wenn die physischen Übel das Gute stärker hervortreten lassen – warum erzeugen wir nicht mehr Negatives, warum erhöhen wir nicht den Anteil des Leidens in der Welt? Wer die Armut abschafft, gibt den guten Menschen kein Betätigungsfeld mehr; wer hingegen die Armut steigert, lässt das Gute aufblühen. Das Leiden noch so vieler Menschen ist dann legitimiert durch den Fortschritt des Ganzen. Sowohl linke als auch rechte Revolutionäre aus den letzten beiden Jahrhunderten befürworteten soziale Katastrophen wie Kriege und Bürgerkriege, um dadurch das Tor zu einer besseren Welt aufzustoßen. Wahrhaft teuflisch ist Nietzsches Auffassung, dass es zwei Möglichkeiten gebe, die eigene Größe zu steigern, das Zuschauen beim Leiden anderer und vor allem das A

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»Leiden-machen«. 151 Im Leidenkönnen, so Nietzsche weiter, seien »schwache Frauen und selbst Sclaven« oft die größten Meister. »Aber nicht an innerer Noth und Unsicherheit zu Grunde gehn, wenn man grosses Leid zufügt und den Schrei dieses Leides hört – das ist gross, das gehört zur Grösse.« 152 An solchen Textstellen hört sich Nietzsche fast so an wie Himmler in seiner Posener Rede vom 4. 10. 1943. Die These vom moralischen Sinn des Leidens lässt sich nur durch zwei strenge Auflagen retten. Beide finden sich beispielsweise bei Max Horkheimer, der sich mit seinen Überlegungen gegen den Opferkult des heroischen Realismus der Zwischenkriegszeit richtet. 153 Erstens ist ein solches Pathodizee-Argument triftig nur für die Leiden, die ich mir selbst auferlege. Bestenfalls in einem der vier oben unterschiedenen Typen des Leidens kann man also einen Sinn finden. Es mag tragische Situationen geben, in denen ein Menschenleben geopfert werden muss. Gerechtfertigt ist aber nur das eigene, bewusst vollzogene Selbstopfer. Dieses darf zudem nicht unter Täuschung, Verblendung oder Zwang geschehen; es darf kein anderer Weg mehr offen stehen. Zweitens muss das, wofür man sich opfert, einen gut begründeten höheren Wert haben. Zu kritisieren ist auf jeden Fall das Opfer um des Opfers willen. Ganz falsch ist die Auffassung von Ernst Jünger, dass Opfer »um so höher geschätzt werden müssen, als sie am Rande der Sinnlosigkeit dargebracht worden sind«. 154 Eine solche Sichtweise öffnet vielmehr dem ideologischen Missbrauch des Opfers Tür und Tor – die Kriegspropaganda des Dritten Reiches konnte daran anknüpfen. Wenn die beiden genannten Voraussetzungen erfüllt sind, kann Leiden einen moralischen Sinn haben. Ein Beispiel ist das Opfer, das eine Person erbringt, um das Leben einer anderen oder gar vieler anderer zu retten. Beispiele aus dem Zweiten Weltkrieg sind moralische Helden wie Janusz Korczak, Maximilian Kolbe oder Etty Hillesum. 155 Es dürfte klar sein, dass solche Fälle eines moralisch legitimierten Leidens einen verschwindend kleinen Anteil an der Gesamtsumme des Leidens in der Welt darstellen. Das Leiden, das der moralische Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, II 6 (KSA V: 303 = S II: 808). Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, § 325: »Was zur Grösse gehört« (KSA III: 325 = S II: 188). 153 Horkheimer, Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie (1934), 44 ff. 154 Jünger, Der Arbeiter, 178, vgl. ebd. 74, 210 u. ö. 155 Vgl. Todorov, Angesichts des Äußersten, 26, 63, 240 ff. 151 152

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Mensch bewusst und gerechtfertigterweise für das Ganze auf sich nimmt, ist wie eine Träne im Ozean. Das Fazit also lautet: Wir können zwischen notwendigen und überflüssigen Schmerzen unterscheiden. Notwendige Schmerzen haben einen Sinn; überflüssige Schmerzen sind Leiden. Leiden jedoch, so wie wir es beschrieben haben, ist fast immer sinnlos. Jedes Leiden ist ein Übel; nur unter strengen Bedingungen kann Leiden sinnvoll sein. Die metaphysischen Konsequenzen dieser Konklusion sind verheerend. Denn wer will bestreiten, dass die gesamte Naturgeschichte voller Leiden ist, dass unzählige Menschen in der Gegenwart leiden und dass auch in Zukunft eine Abschaffung des Leidens unmöglich sein wird? Es gilt die einfache Wahrheit, dass Leiden zum Leben gehört, oft das Leben sogar beherrscht. Notwendige Schmerzen können eine Episode des Lebens sein, die dessen Sinn nicht gefährdet; das ist beim Leiden anders, es ist ein holistisch wesentlicher Aspekt des Lebens (vgl. II.2.). Es kann sein, dass mir selbst Leiden (bisher) erspart blieb; es mag eine große Zahl von Menschen geben, vor allem in den demokratischen Wohlstandsgesellschaften, die sich dem Leiden weitgehend entziehen können. Aber über den egozentrischen Standpunkt haben wir uns schon erhoben; es geht nicht um den Sinn meines Lebens, sondern den Sinn des Lebens überhaupt. Deshalb müssen wir feststellen, dass das Leben als Ganzes keinen Sinn hat. Metaphysischer Ernst gebietet uns sogar, die Auffassung, dass das Leben sinnvoll sei, solange abzulehnen, wie es noch einen Menschen, ja ein Lebewesen gibt, das sinnlos leidet. (d) Einstellungen zum Leiden Aus der Tatsache, dass die Welt voller Leiden und Leiden sinnlos ist, zogen viele Denker die Konsequenz, dass am besten wäre, gar nicht geboren zu sein. 156 (Aber, fragte Alfred Polgar, wem passiert das schon?) Am zweitbesten sei es, früh zu sterben. Auch Kant ist der Auffassung, dass angesichts der Leiden, die uns im Laufe der Zeit 156 Herodot, Historien I: 31; vgl. die Zusammenstellung von Zitaten aus antiken Klassikern (Theognis, Sophokles u. a.) bei Schopenhauer, ZA IV: 687 ff. (Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Bd., Kap. 46) sowie die christliche Fassung bei Calderon (»Das Leben ein Traum«, I 2): Die größte Schuld des Menschen sei es, dass er geboren ward, zit. bei Schopenhauer, ZA I: 319 u. IV: 706 (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Bd., § 51 u. 2. Bd., Kap. 48).

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zustoßen, kein Mensch bereit wäre, sein Leben noch einmal zu leben (Theodizee-Aufsatz/XI: 110). Im allerschlimmsten Fall, bei unerträglichen Leiden, ziehen manche Menschen die Konsequenz, ihr Leben aus eigener Kraft zu beenden. Dagegen ist an dieser Stelle nichts einzuwenden. In den meisten Fällen aber überwiegt die Liebe zum Leben das Leiden, so dass man sich dann auf irgendeine Weise zur Sinnlosigkeit des Leidens verhalten muss. In der Psychoanalyse spricht man von Abwehrmechanismen, in der modernen Psychologie generell von Bewältigungsstrategien (coping). Welche gewählt wird, hängt von vielen Faktoren ab, vor allem der konkreten Situation und den persönlichen Ressourcen. Dennoch ist eine Typologie verschiedener Einstellungen möglich, die uns Übersicht verschafft und dennoch nicht dazu zwingt, jede Reaktion vollständig einer Schublade zuzuordnen. 157 Die meisten Menschen werden eine Mischung verschiedener Haltungen versuchen. (Zwei Varianten, den heroischen Weg und die ästhetische Einstellung, habe ich bereits abgelehnt.) Eine erste Möglichkeit ist die Verdrängung. Dies kann wiederum auf verschiedene Weise geschehen. Erstens kann man das Leiden kognitiv verdrängen: Es wird zur Illusion erklärt. Geistesgeschichtlich sind Positionen bekannt, die diese Strategie so weit zuspitzen, dass das Phänomen des Leidens selbst geleugnet wird; ein Beispiel dafür ist die mittelalterliche Privationstheorie. Zwar mag es Phänomene geben, wo wir unsicher sind, ob sie positiv oder negativ zu bewerten sind. Es mag auch übellaunige und miesepetrige Personen geben, die viel zu schnell mit ihren negativen Urteilen bei der Hand sind. Sicherlich ist nicht alles, was auf den ersten Blick als Übel erscheint, auch ein solches. Beispielsweise können Landschaften, die sich uns als öde und hässlich darbieten, auf den zweiten Blick von hoher biologischer Vielfalt und ökologisch relevant sein. Dennoch ist die Auffassung, dass es überhaupt nichts Negatives geben würde, extrem kontra-intuitiv. (Entsprechendes gilt auch für die konträre Gegenposition, dass nichts Positives existiert.) Jeder Mensch kennt aus seiner Alltagserfahrung zumindest den Unterschied zwischen mehr oder weniger negativen bzw. positiven Phänomenen. Jeder sensible Mensch, zumal jeder moralisch sensible, wird das Negative nicht leugnen, sondern sogar genau erkennen wollen. Im Rahmen 157 In Anlehnung an Scheler, GW VI: Der Sinn des Leids, 53–72, und Jaspers, Philosophie II, 230–233; vgl. auch die unterschiedlichen Einstellungen zu einer tödlichen Krankheit bei Wilber, Mut und Gnade, 60 ff.

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Der Sinn des Leidens

einer coping-Strategie kann es jedoch förderlich sein, ein nicht abschaffbares Leiden kognitiv umzudeuten, beispielsweise als notwendiges Begleitphänomen eines legitimen Strebens zu deklarieren. Ein weiterer Weg bevorzugt die praktische Verdrängung der Leiden. Leidende werden in besondere Einrichtungen gebracht, damit das öffentliche Leben ungetrübt erscheint. Man vermeidet alle Gefahren und Risiken; man schraubt seine eigenen Erwartungen und Ansprüche herunter. Historisch finden wir diese Einstellung bei dem Epikureer, der sich in seinen Garten zurückzieht, auch bei den Aussteigern aller Epochen und Kulturen. Sehr viel verbreiteter, vor allem in der Moderne, ist der hedonistische Weg. Man will nicht dem Leiden ausweichen, sondern dessen Gegenpol, die Lust, so sehr verstärken, dass es nicht mehr zu spüren ist. Wenn man immer nur Situationen aufsucht oder schafft, die lustvoll sind, wird es nach dieser Kalkulation gar kein Leiden mehr geben. Für eine solche Anästhetisierung des Schmerzes braucht man viele, anhaltende und intensive Genussmittel, ja Drogen. Aber die vollständige Betäubung ist unmöglich, diese Form des Eskapismus muss scheitern – ebenso wie die Vermeidung jedes Schmerzes. Der Stoiker hingegen möchte dem Leiden nicht ausweichen, sondern es aushalten. Wie beim heroischen Weg soll man dem Schmerz mit einer Art Tapferkeit begegnen. Aber hier ist es keine aktive Tapferkeit, die den Schmerz bewusst sucht, sondern eine passive Tapferkeit, die den Schmerz, der uns begegnet, erträgt. Nicht die Überwindung des Schmerzes im heldenhaften Kampf, sondern das Verwinden des Schmerzes wird propagiert. Außer bei einem Stoiker wie Epiktet finden sich ähnliche Einstellungen zum Leiden auch im Christentum, vor allem in der russisch-orthodoxen Kirche; Tolstoi konnte daran anknüpfen mit seiner Forderung, die andere Wange hinzuhalten. Ein Stoiker ist vielleicht auch Hans-Georg Gadamer gewesen. Sein letzter öffentlicher Auftritt war ein Vortrag bei einem medizinischen Symposion über Schmerzen. In seiner improvisierten Rede sagte er u. a.: Der Schmerz ist »eine große Chance, vielleicht die größte Chance, endlich mit dem ›fertig zu werden‹, was uns aufgegeben ist.« Unser Ziel dürfe nicht sein, den Schmerz zu überwinden, sondern ihn dadurch zu meistern, dass wir ihn (wie er in Anlehnung an Heidegger sagt), »verwinden«. 158

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Scheler wendet sich sehr kritisch gegen einen solchen, wie er meint, passiven und duldenden Leidensheroismus. 159 Er sah darin die Einstellung einer Epoche und einer Klasse, die nicht viel gegen das Negative unternehmen konnte; während der heroische Weg in Anlehnung an Nietzsche der Herrenmoral zuzuordnen wäre, handelt es sich hier um die komplementären Haltung auf der Seite der Sklaven. Die Gefahr des Stoizismus ist, dass er alles so lässt, wie es ist, dass man vielleicht sogar gleichgültig wird für das Leiden des anderen und die Möglichkeiten einer Beseitigung von Schmerzen nicht wahrnimmt. Dass sich das Entscheidende im Inneren eines Menschen abspielt, ist auch die Prämisse des nächsten Weges. Für ihn gibt es Ansätze und sogar bewundernswerte Einzelbeispiele auf allen Kontinenten, auch im Abendland. Dennoch ist er vor allem in Asien ausgebildet dort, besonders in Indien und dort von den Buddhisten. Es ist unmöglich, hier ausführlich auf den Buddhismus einzugehen, der in mehrere, teilweise historisch aufeinander aufbauende Schulen zerfällt und sehr unterschiedlich interpretiert werden kann; auch seine ontologischen und erkenntnistheoretischen Prämissen stehen hier nicht zur Debatte. Man kann sich aber an den wohl wichtigsten Text des ursprünglichen Buddhismus halten, die sog. erste Predigt Buddhas im Tierpark von Benares. 160 Zunächst einmal betont Buddha, dass wir einen mittleren Weg wählen sollten zwischen den beiden Extremen des gewöhnlichen Hedonismus und der asketischen Selbstpeinigung. Letztere kennen wir von den Fakiren, die sich glühendheiße Klingen durch die Haut bohren oder rostige Nägel in den Hals hängen. Sodann verkündet Buddha, dass alles Leiden aus dem »Durst« entsteht, also aus der Bedürfnisstruktur des Menschen. Drei sehr unterschiedliche »Dürste« werden erwähnt: das normale Begehren (Defizitbedürfnisse), das Streben nach Werden (Wachstumsbedürfnisse) und das Verlangen nach Entwerden, also das Streben nach Erlösung. Schließlich schildert Buddha seinen mittleren Weg als einen achtstufigen Pfad. Wir können uns auf folgende Stufen beschränken: Askese (Selbstdisziplinierung) – moralisches Handeln – Versenkung (dhyana). Die Askese formt unser Selbst, die Moral distanziert uns von diesem und die meditative Versenkung hebt auch noch unser tiefer gelegenes Ich, den Kern unseres Personseins, auf. 159 160

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Scheler, GW VI: Der Sinn des Leids, 57. Reden des Buddha, 32 f. = Die vier edlen Wahrheiten, 242 f.

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Der Sinn des Leidens

Am Ende der Versenkung steht die Weisheit (pra-jna). Der buddhistische Weg soll zu einem Erlöschen führen, zum Verwehen, also zu dem, was als Nirwana (Nibbana) bezeichnet wird. Hier endet der Weg des ursprünglichen, des Hinayana-Buddhismus; spätere Strömungen des Buddhismus weichen davon ab. Buddha empfiehlt keine passive Duldung des Leidens, sondern einen aktiven inneren Kampf, den schwersten, den man sich vorstellen kann. Der späte Scheler war dafür voll des Lobes, aber kritisch spricht er von einer »Abstumpfungsaskese«, die im Falle ihres Erfolges (was höchst selten vorkommt) auch »die Wurzeln aller höheren und niederen Freuden mit aus der Seele« herausreißt. 161 Man könne nicht das Leid bekämpfen, ohne auch das Glück aufzuheben. Der zölibatär lebende Mönch kennt nicht das Leid der unerwiderten geschlechtlichen Liebe, aber auch nicht die Freuden einer erwiderten. Der buddhistischen Haltung steht der moderne Weg gegenüber. Nicht im Inneren, sondern im Äußeren soll der Schmerz überwunden werden, und zwar nicht direkt (im heroischen Kampf), sondern durch die Beseitigung seiner Ursachen und Bedingungen. 162 Das bezieht sich also nur auf das vermeidbare Leiden, wobei zu bedenken ist, dass das vermeidbare nicht in jedem Fall identisch ist mit dem überflüssigen. Auch Schmerzen, die durchaus ihre Funktion haben, können vermeidbar sein. Ein weiterer Unterschied zu den anderen Einstellungen ist, dass es sich um einen sozialen, einen kollektiven Kampf handelt: »Die Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist, steht nicht bei dem Einzelnen, der das Leid empfindet, sondern allein bei der Gattung«. 163 Während der Verdrängende, der Stoiker und der Hinayana-Buddhist nur an sich denken, soll hier das Leiden aller beseitigt oder zumindest gelindert werden. Sicherlich haben Menschen sich darum immer schon bemüht. Scheler, GW VI: Der Sinn des Leids, 66. Es ist eine großartige ironische Wendung in Thomas Manns »Der Zauberberg«, dass Settembrini einem »Internationalen Bund für Organisierung des Fortschritts« angehört, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, eine 20-bändige Enzyklopädie des Leidens zu erstellen – das ist der hilflose Humanismus, der kein Unheil verhindern kann. Hingegen hält Settembrinis Gegenspieler Naphta den Menschen grundsätzlich für krank; deshalb propagiert er Disziplin und Opfer. Vgl. Mann, Der Zauberberg, 259 ff., 422 u. 490fff. 163 Adorno, GS VI: Negative Dialektik, 203. 161 162

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Aber vorherrschend konnte dieser Weg erst werden, als für ihn die kognitiven, technischen und organisatorischen Mittel bereit standen. Das ist wohl in Westeuropa seit der frühen Neuzeit der Fall. Man kann folgende Phasen dieses Kampfes unterscheiden. Zuerst richtet man sich gegen die von der Natur hervorgerufenen Leiden: Das Ziel der neuen Wissenschaften, so formulierten es Philosophen wie Francis Bacon und René Descartes, solle es sein, die Menschen von schweren Krankheiten und harter Arbeit zu befreien. Diese Bemühungen werden ergänzt durch den Kampf gegen politische Unterdrückung, also fremd-intentional erzeugte soziale Leiden; dafür stehen unter anderem die großen politischen Revolutionen der Neuzeit. Im nächsten Schritt wird man sich bewusst, dass viele Leiden nicht-intentional durch gesellschaftliche Strukturen hervorgebracht werden; das war die wichtige Einsicht von Karl Marx. Schließlich kann man die Aufklärung über die Leiden, die sich Menschen unbewusst selbst zufügen, als eines der Hauptziele von Sigmund Freud und der gesamten klinischen Psychologie ansehen. Dass dieser Weg einer praktischen Metaphysik nicht so einfach und so schnell zum Erfolg führt, wie die Fortschrittstheoretiker der letzten beiden Jahrhunderte meinten, dürfte inzwischen klar sein. Der Kampf gegen die von der Natur hervorgerufenen Leiden erzeugt nicht nur dadurch neue Leiden, dass er die Natur zerstört, Pflanzenarten vernichtet und Tiere leiden lässt; die dabei verwendeten technischen Mittel lassen sich auch als Kriegswaffen einsetzen. Der Fortschritt der Medizin führt vielleicht nur zu einem Wechsel der vorherrschenden Krankheiten: Starben die Menschen früher nach kurzem Leiden an einer Infektionskrankheit, erliegen sie heute einem Herz-Kreislauf-Leiden oder siechen in Altersheimen dahin. Der Kampf gegen die fremd-intentionale und nicht-intentionale Mächte bedarf anderer Mächte, denen man sich ebenfalls unterwerfen muss; der Druck politischer Instanzen auf die Bürger ist im 20. Jahrhundert sehr viel stärker als im Absolutismus des 18. Jahrhunderts. Die Einsicht in unbewusste Ursachen des Leidens führt dazu, sich dieser erst bewusst zu werden. Zudem erhöht das moderne Fortschrittsdenken den Erwartungshorizont und lässt uns vieles als Leiden wahrnehmen, was früher nicht als solches galt. Schließlich bleibt eine prinzipielle Grenze dieser praktischen Metaphysik: Das vergangene Leiden kann niemals aufgehoben werden. Es gibt eine Dialektik des Fortschritts, die es fragwürdig werden lässt, ob man überhaupt von Fortschritt als Kollektivsingular sprechen soll290

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te. 164 Der moderne Weg hat die Frage nach dem Sinn des Leidens nicht beseitigen können; gerade weil wir in einer reif gewordenen Moderne auch deren Grenzen erkennen, wird Metaphysik wieder notwendig. Wenn die Schmerzen nicht zu beseitigen sind, wenn ein Mensch leidet, gibt es nicht für die betroffene Person, aber für die anderen eine weitere Möglichkeit: den Beistand. Auch wenn es manchmal Überwindung kostet, sind wir doch moralisch verpflichtet, vor allem gegenüber denen, die uns nahe stehen und denen wir etwas schulden; wir sollten bei ihnen sein im Leiden und im Sterben. Manchmal reicht es uns schon, die Hand zu halten. Palliativmedizin, Altenhilfe und Seelsorge sind sinnvoll, auch wenn sie Leiden nicht überwinden können. Sie können zwar, wie man sagt, dem Leben nicht mehr Tage, aber den Tagen mehr Leben geben. Schließlich ist eine letzte Antwort auf das Leiden zu erwähnen. Hierbei handelt es sich nicht um einen langfristig eingeschlagenen Weg und nicht um eine bewusste Einstellung, eher um den generellen Verzicht auf Vernunft und Praxis, vor allem das Aufgeben jeder Haltung. Ich meine das Weinen. Tiere weinen nicht, wir kennen bestenfalls Vorformen bei den großen Affen. Deshalb kann das Weinen auch als der allgemein-menschliche Weg bezeichnet werden. Mit ihm reagieren wir nicht auf die allgemeine Tatsache des Leidens, sondern in der Regel auf eine konkrete Situation des Leids. Jedoch ist auch zu dieser eine gewisse Distanz notwendig; die unmittelbare Reaktion auf Leiden ist eher der Schock, das lähmende Entsetzen. Wir weinen nicht nur, wenn wir selbst leiden, sondern auch wenn dies andere tun. Voraussetzung dafür ist allerdings die Fähigkeit der Empathie, im weitesten Sinne des sympathetischen Mitfühlens mit anderen, nicht nur mit Artgenossen. 165 Das Weinen ist wie sein Pendant, das Lachen, eine besondere Form des expressiven Verhaltens, ein eruptives Ausdrucksgeschehen, eher verwandt einem unartikulierten Schrei als der ausdifferenzierten Wortsprache. 166 Im Gegensatz zu anderen gestischen und mimischen Ausdrucksmitteln sowie zum Jammern und Klagen kann der Vgl. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 180–183. Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, IV: 693 f.; vgl. ebd. II: 466 f. 166 Vgl. Plessner, GS VII: Lachen und Weinen, 201–387. Für eine prägnante Kurzfassung vgl. ders., GS VII: Ausdruck und menschliche Existenz; VII: 435–445; außerdem ders., GS VIII: Die Frage nach der Conditio Humana, 205–209. 164 165

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Mensch es nur sehr begrenzt bewusst und willkürlich einsetzen; wir werden vielmehr unsererseits von dieser Ausdrucksform überwältigt. Anlass des Weinens können auch Freude oder Ergriffenheit sein, man weint auch aus Erleichterung oder vor Glück. Mit größerer Kraft ereignet sich aber der elementare Gefühlsausbruch, der hier gemeint ist, als die Reaktion auf Schmerzen und Leiden, auch auf das Leid anderer. Vom Schreiweinen kleiner Kinder, einer unmittelbaren Reaktion, unterscheidet es sich dadurch, dass zwischen Anlass und Ausbruch ein reflexives Moment liegt. Wir können das Weinen deshalb nicht nach dem Reiz-Reaktionsschema interpretieren, aber auch nicht als zweckrationale Verhaltensweise deuten. Das Ich ist an jedem Weinen beteiligt; weil ihnen dieses fehlt, weinen Tiere nicht. Bei notwendigen Schmerzen kann das Ich das Weinen unterdrücken, bei unerträglichen Leiden ist dies sehr viel schwerer, denn hier gelangen wir an eine Grenze, wir sind einer Macht konfrontiert, an der wir unsere Ohnmacht erfahren. Wir müssen kapitulieren; die ohnehin oft mühsam aufrecht erhaltene Einheit von Ich und Leib ist erschüttert. Das Ich lässt sich fallen; das Weinen ist ein Akt der Selbsthingabe. Als vernünftige Wesen, als Personen, können wir mit dem sinnlosen Leiden nicht fertig werden. Da wir keine Antwort wissen, überlassen wir diese unserem Leib. Was soll man angesichts des sinnlosen Leidens auch sagen? Das Weinen ist in den meisten Fällen die einzig angemessene Reaktion auf das sinnlose Leiden, das sich überall und zu allen Zeiten ereignet.

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Was darf ich hoffen?

Das dritte große Problem einer kritischen Metaphysik, das aus unseren Überlegungen in III.2.3. resultierte, ist die Frage nach dem Verhältnis von Glück und Moral. Darauf bezieht sich die dritte der drei Kantischen Fragen, an denen unsere Vernunft interessiert sei und die die Philosophie zu beantworten suche: 1. Was kann ich wissen?, 2. Was soll ich tun?, 3. Was darf ich hoffen? Es gibt mehrere Textstellen, an denen Kant diese Fragen aufzählt und kurz erläutert: Die erste findet sich am Ende der »Kritik der reinen Vernunft« (KrV B 833). Der zweite Fundort sind die »Logik«-Vorlesungen, die Kant regelmäßig gehalten hat und die 1800, also noch zu seinen Lebzeiten, einer seiner Schüler, der Königsberger Privatdozent Gottlob Benja292

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min Jäsche, herausgab (VI: 448). 167 Schließlich werden die Fragen aufgezählt in einem Brief vom 4. Mai 1793 an den Göttinger Theologie-Professor Carl Friedrich Stäudlin anlässlich der Übersendung der Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (AA XI: 429). An den letzten beiden Fundstellen nennt Kant als vierte, zusammenfassende Frage: »Was ist der Mensch?« Darauf kann ich hier gar nicht eingehen. Die erste und die zweite Frage lassen sich eindeutig der Erkenntnistheorie (»Kritik der reinen Vernunft«) und der Moralphilosophie (»Kritik der praktischen Vernunft«) zuordnen. Zur Beantwortung der dritten Frage, mit der aus meiner Sicht der Sinnzusammenhang des menschlichen Lebens gerettet werden soll, unternimmt Kant drei Anläufe: einen religionsphilosophischen (bzw. moraltheologischen), einen ästhetischen und einen geschichtsphilosophischen. Ich beginne mit einer Erläuterung der Frage selbst. 168 (a) Was heißt »Was darf ich hoffen?«? Kants Formulierung ist wohlüberlegt. Er fragt nicht: »Was hoffe ich?« Die Antwort wäre einfach: Wir hoffen, dass wir glücklich werden, wobei Kant seinen in III.2 erläuterten Begriff des Glücks voraussetzt. Er fragt auch nicht: »Was soll ich hoffen?« Das Hoffen ist keine Handlung, die man moralischen Normen unterwerfen könne, also einem Sollen untersteht. Wenn wir davon absehen, ließe sich wiederum eine einfache Antwort zurechtlegen: Wir sollen hoffen, dass alles in der Welt moralisch zugeht, dass sich die empirische Welt der idealen Sphäre des normativ Geforderten zumindest immer weiter annähert. Diese beiden Fragen sind also von Kant nicht gemeint und aus seiner Sicht auch ziemlich uninteressant. Wie die dritte Frage tatsächlich zu verstehen ist, wird bereits in der Methodenlehre der »Kritik der reinen Vernunft« klar herausgearbeitet. »Was darf ich hoffen?« heißt: Was darf ich berechtigterweise hoffen? Meine Hoffnungen richten sich immer, wie bereits festgestellt, auf das eigene Glück. Zu Hoffnungen berechtigt bin ich aber 167 Eine weitere Fundstelle mit den vier Fragen ist die Vorlesungsnachschrift AA XXVIII: 533 f. (Metaphysik L2 von Pölitz). 168 Vgl. Fischer, Moralität und Sinn, Kap. 8: Hoffnung und Trost (265–288), sowie die tief schürfende Darstellung von Neiman, Das Böse denken, 102–139.

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nur, wenn ich moralisch gehandelt habe, und zwar nicht bloß den legitimen Normen gemäß (Legalität), sondern auch aus Pflicht, also aus der Einstellung heraus, dass die entsprechende Handlung wirklich die normativ richtige ist (Moralität). Kant spitzt das Problem auf folgendes Begriffspaar zu: Werde ich dann, wenn ich mich als glückswürdig erwiesen habe, auch glückselig werden? Eine ausführliche Fassung der dritten Frage lautet demnach: Wenn ich immer so handele, wie ich soll, nämlich moralisch, darf ich dann hoffen, glücklich zu werden? Die Einheit von Glück und Moral bezeichnet Kant als das höchste Gut. Er gibt diesem Begriff der klassischen Philosophie (lat. summum bonum) eine gegenüber der Tradition präzisere Fassung. Das oberste Gut, an dem keine Abstriche zu machen sind und das keinem anderen untergeordnet werden darf, ist die Moral. Kant ist kein Dezisionist: Wir dürfen uns nicht zwischen Moral und Glück entscheiden, auch wenn dies faktisch immer wieder der Fall; der Moral sollte der Vorrang gebühren. 169 Kant ist gegen einen lauwarmen Kompromiss: Man darf die Einheit von Glück und Moral nicht auf halbem Wege herstellen. Ablehnen würde Kant etwa folgenden Vermittlungsvorschlag: Nur die negativen Pflichten, also dass wir beispielsweise niemandem schaden dürfen, gelten absolut; den positiven Pflichten, also Hilfsbereitschaft und Wohltätigkeit, könne man sich hingegen entziehen, wenn diese der Befriedigung unserer egoistischen Neigungen im Wege stehen. Nein, der kategorische Imperativ gebietet uneingeschränkt und unbedingt. Aber das oberste Gut ist, wie Kant schreibt, »nicht das ganze und vollendete Gut« (KpV VII: 238), weil es noch durch Glückseligkeit ergänzt werden könne. Eine Welt, in der die moralischen Menschen glücklich sind, wäre zweifellos besser als eine Welt, in der die moralischen Menschen unglücklich sind. Auf diese beste aller möglichen Welten richtet sich somit letztlich unser Hoffen. Dabei kann man noch einmal zwei Varianten des höchsten Gutes unterscheiden: In der ersten besteht die »unbedingte Totalität« (KpV VII: 235) aus der Einheit meiner Glückswürdigkeit mit meiner Glückseligkeit; in der zweiten ist das höchste Gut die Existenz einer moralischen Welt für alle, also das allgemeine Zusam169 Gegen Lübbe, Praxis der Philosophie, Praktische Philosophie, Geschichtstheorie, 71: »Die Zumutung, … moralisch handeln zu sollen, obwohl es keinerlei Garantie für ein unserer moralischen Würdigkeit entsprechendes gutes Leben gibt, läßt sich allein dezisionistisch begründen.«

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menfallen von Glück und Moral. Aber ist diese Hoffnung berechtigt? Oder leben wir, wie Camus später sagen wird, in einer Situation der Absurdität, hier verstanden als Auseinanderfallen von moralischem Subjekt und a-moralischer Welt? Ist der moralische Mensch vergleichbar mit Sisyphos, der den Stein immer wieder den Berg hochrollt und doch nicht erfolgreich ist? Diese Frage ist nicht bloß eine akademische; vielmehr ist sie ein ernstes und tiefgründiges Anliegen all der Menschen, die über den Sinn ihres Lebens nachdenken. Das Absurde, so Adorno, bestehe darin, »daß es zwar die Idee des Guten und die Verpflichtung, das Gute zu tun und das Gesetz zu erfüllen, gibt, daß aber gleichzeitig den Menschen die Möglichkeit, es zu erfüllen, etwa durch die Totalität des gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem sie eingespannt sind, verweigert ist.« 170 Weil Kant dies nicht ausreichend bedenke, wird ihm von Adorno ein naiver bürgerlicher Optimismus vorgeworfen. Das stimmt aber nicht; Kant hat sich intensiv, beharrlich und einfallsreich um eine Überwindung dieses grundlegenden Dualismus bemüht. Zunächst aber weist er, vor allem in seinem »Theodizee«-Aufsatz (1791), die Argumente zurück, die diese Kluft verschleiern wollen. So führen manche an, dass ein Verbrecher, selbst wenn er seiner gerechten Strafe entgeht, doch leiden müsse, nämlich Gewissensqualen; der Böse leide innerlich sogar mehr, als der Gute dies äußerlich tue. Dagegen setzt Kant, dass das einfach empirisch nicht stimmen würde – »und der Lasterhafte, wenn er nur der äußern Züchtigungen wegen seiner Freveltaten entschlüpfen kann, lacht über die Ängstlichkeit der Redlichen, sich mit selbsteigenen Verweisen innerlich zu plagen« (XI: 112). Das zweite Verschleierungsargument bestreitet nicht die Diskrepanz von Glück und Moral, führt aber an, dass das Leiden eben zur Tugend gehöre und der moralische Mensch sich dadurch innerlich noch mehr erheben könne. Dagegen setzt Kant, dass man das Leiden bestenfalls als vorangehendes oder begleitendes Mittel der Moral ansehen könne; wenn am Ende nicht doch das rechte Verhältnis von Glück und Moral wiederhergestellt werde, bleibe das Missverhältnis stehen. Unsere Erfahrung belege aber durch viele Beispiele, dass sich keineswegs immer ein ›Ende gut, alles gut‹ ergebe. Wer nun, so Kant weiter, behaupte, vielleicht sei unser Tod gar nicht das Ende, der berufe sich auf etwas, was er auf 170 Adorno, NS X: Probleme der Moralphilosophie (18. 6. 1963), 114; vgl. ders., GS VI: Negative Dialektik, 301.

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Grund unserer begrenzten kognitiven Fähigkeiten unmöglich begründen könne. Entsprechendes gilt für die Annahme einer über-irdischen Welt, in der alles seinen gerechten Ausgleich finde. Eines der wichtigsten Resultate der »Kritik der reinen Vernunft« war nämlich, dass unsere spekulative Vernunft notwendigerweise bestimmte Vorstellungen hervorbringt, vor allem die Idee eines unvergänglichen Kerns unserer Personhaftigkeit (Seele) sowie die Idee eines vollkommenen Wesens (Gott). Die Grenzen unserer Vernunft machen es jedoch unmöglich, die Existenz dieser Ideen aufzuzeigen; allerdings sei auch das Gegenteil, also der Nachweis ihrer Nichtexistenz, nicht zu erbringen. In dieser dritten Frage unserer Vernunft verbinden sich sogar die ersten beiden; in ihr geht es um die Einheit der Philosophie überhaupt. Die theoretische Philosophie, geleitet durch die Frage »Was kann ich wissen?«, sucht nach den Gesetzen der Natur, soweit diese uns als Erscheinung zugänglich ist. Die Frage, wie ich glücklich werden könne, fällt nach Kants Auffassung in diesen Bereich. Zwar gibt es individuell verschiedene Glücksvorstellungen und je nach Situation unterschiedliche Wege zum Ziel, aber prinzipiell ließen sich die Mittel, mit denen wir das jeweils gewünschte Glück am besten erreichen können, empirisch erforschen. Die pharmazeutische Industrie mit ihren Glückspillen ist dafür ein Beleg. Das Ergebnis dieser theoretischen Bemühungen sind hypothetische Imperative der folgenden Form: Wenn du glücklich sein willst (und das will jeder Mensch), dann solltest du unter den gegebenen Bedingungen x tun. Hingegen richtet sich die praktische Philosophie, geleitet durch die Frage »Was soll ich tun?«, nicht auf das, was ist (oder wie etwas erreicht werden kann), sondern auf das, was sein soll bzw. auf die Zwecke, die erreicht werden sollen. Eine solche Frage ist nach Kants Auffassung nicht empirisch, sondern nur apriorisch zu beantworten, und zwar durch die praktische Vernunft. Aus dieser entspringt der kategorische Imperativ, der von uns moralisches Handeln aus Pflicht fordert, ohne Wenn und Aber (vgl. III.2.). Für das menschliche Glück ist also eine pragmatisch orientierte theoretische Vernunft zuständig (Zweckrationalität), dagegen für Moral die normativ orientierte praktische Vernunft (Wertrationalität). Die Frage »Was darf ich hoffen?« verbindet diese Aspekte, unter Bewahrung des Primats der praktischen Philosophie. Denn eine vernünftige Hoffnung muss nach Kants Überzeugung zwei Bedingungen erfüllen: Sie muss erstens vernünftig sein im normativ-prakti296

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schen Sinne, d. h., sie muss sich an den unbedingten Forderungen der Moral orientieren. Sie muss zweitens vernünftig sein im empirischtheoretischen Sinne, d. h., sie muss den wirklichen Bedürfnissen des glücksuchenden Wesens entsprechen und darf sich nicht auf etwas richten, was faktisch unmöglich ist. »Hoffen« ist also für Kant ein Begriff der theoretischen und der praktischen Philosophie zugleich, ein metaphysischer Begriff. Das Prinzip Hoffnung, so kann man auch sagen, steht für Kant nicht am Anfang, sondern am Ende aller unserer philosophischen Bemühungen. (b) Der erste Antwortversuch: Die religionsphilosophische Postulatenlehre Die erste Antwort auf die dritte Frage steht am Ende der »Kritik der praktischen Vernunft«. In der Methodenlehre der »Kritik der Urteilskraft« (§§ 86 ff.) wird sie wieder aufgegriffen. Dieser Lösungsvorschlag bildet zugleich den Kern von Kants rationaler Moraltheologie. 171 Kant stellt die transzendentalphilosophische Frage: Unter welchen Bedingungen ist das höchste Gut überhaupt nur möglich? Es müssen, so meint er, zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens steht mir für meine moralische Vervollkommnung eine unendliche Zeit zur Verfügung; ein Erdenleben allein reicht nicht. Zweitens sorgt ein allwissendes, allmächtiges und heiliges Wesen für die Einheit von Glück und Moral; denn unsere eigenen Möglichkeiten werden durch diese Aufgabe überfordert. Dies betrifft nicht unsere praktischen Kräfte, also Willensstärke, Tatkraft usw.; es wäre unsinnig, etwas zu erstreben, was gar nicht erreichbar ist. Entscheidend ist ein kognitives Problem: Die Legalität (Normenkonformität) einer Handlung lässt sich relativ leicht beurteilen, jedoch ihre Moralität ist uns verborgen. Das gilt sogar für uns selbst; auch wir durchschauen uns nicht völlig und betrügen uns gern selbst (KrV B 579 Fn; MdS-TL Einl. VIII: 523, XI: 138). Deshalb können wir nie mit Gewissheit beurteilen, ob Glück und Moral ins rechte Verhältnis gebracht worden sind oder nicht. Wie man leicht sehen kann, werden hier die beiden Ideen, denen Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« ihre objektive Realität ab171 Eine abweichende Deutung gibt, ausgehend vom Opus postumum, Schwarz, Est Deus in nobis (2004).

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gesprochen hatte, nämlich Unsterblichkeit und Gott, im Kontext der Moralphilosophie wieder eingesetzt, als Postulate der praktischen Vernunft. Das erste Postulat ist die Voraussetzung des obersten Gutes, unserer vollkommenen Moralität; das zweite Postulat ist die Voraussetzung des höchsten Gutes, der Einheit von Glück und Moral. Die beiden Ideen, Unsterblichkeit und Gott, sind historisch nicht immer verknüpft. 172 Im alten indischen Brahmanismus glaubte man an die Unsterblichkeit der Seele, aber nicht an einen Gott; die jüdischen Sadduzäer glaubten an Gott, aber nicht an die Unsterblichkeit. Aus Sicht Kants stehen jedoch beide Ideen in einem argumentativen Zusammenhang: Die Existenz Gottes allein reicht nicht, weil wir selbst etwas für unsere Glückseligkeit tun müssen. Die Unsterblichkeit der Seele allein reicht nicht, weil wir allein zwar für unsere Moralität sorgen können, aber aus oben genannten Gründen die metaphysische Gerechtigkeit des Weltlaufs letztlich nicht beurteilen können. Zunächst zum ersten Postulat, der von der praktischen Vernunft geforderten Unsterblichkeit der Seele. 173 Interessant ist, dass Kant mit diesem Gedanken von traditionellen Vorstellungen abweicht. Denn sowohl aus platonischer wie aus christlicher Sicht endet die Zeit, in der wir uns um unsere Vervollkommnung bemühen sollten, mit dem Tod; für Kant geht der Kampf auch danach weiter. 174 Besser als der Ausdruck »Unsterblichkeit der Seele«, der Kant nur zur Illustration dient, ist deshalb die von ihm gewählte Formulierung »einer ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens« (KpV VII: 252). Aber was ist damit gemeint? Wer ist das Subjekt unserer moralischen Vervollkommnung? Unser Organismus kann es nicht sein, denn auch Kant bezweifelt nicht, dass dieser sich mit dem Tode auflöst. Eine nicht-empirische, also ideale oder noumenale Entität kann es aber auch nicht sein. Denn diese müsste sich erstens überhaupt nicht vervollkommnen, weil sie den Versuchungen empirischer Neigungen, die erst Pflichten erforderlich machen, gar nicht ausgesetzt ist; ideale Entitäten sind schon vollkommen. Zweitens könnte diese aber auch nicht das höchste Gut erlanVgl. Kolakowski, Falls es keinen Gott gibt, 145–148. Vgl. Wittwer, Einige Schwierigkeiten in Kants Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, 61 ff. 174 Eine ähnliche Auffassung findet sich bei Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, 124: »Lassen Sie mich mit einem Satz schließen, den ich nicht durch Denken rechtfertigen kann: Seligkeit ist nicht jenseits des Todes; dort ist Arbeit. Seligkeit ist auf dem Grunde der Wirklichkeit, die auch den Tod geschaffen hat.« 172 173

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gen, die Einheit von Glück und Moral. Denn die Kehrseite der Vollkommenheit idealer Entitäten ist, dass sie gar nicht glücksfähig sind; bei ihnen könnte man bestenfalls von Seligkeit sprechen, aber nicht von einem Glück, das immer an ein leiblich-sinnliches Wesen gebunden ist. Mit diesem Problem haben auch die (neo)platonischen und christlichen Seelenlehre zu kämpfen: Wenn Affekte und Leidensfähigkeit dem Körper zukommen, aber nur die Seele unsterblich ist, wie soll dann eine Bestrafung der schlechten Seele im Jenseits aussehen? Drittens würde eine Entität, die außerhalb der Erscheinungswelt steht, also Ding an sich ist, gar keinen zeitlichen Bestimmungen unterworfen sein. Deshalb könnte von einem Fortschreiten in der Zeit keine Rede mehr sein. Außerdem müsste man annehmen, dass die Seele dann nicht nur unsterblich, sondern sogar ewig wäre: nicht geschaffen, nicht vergänglich, ohne Anfang und Ende in der Zeit. Schließlich würde sich das Problem der Wechselwirkung stellen, an dem alle dualistischen Ontologien scheitern. Gibt es in Kants Welt Entitäten, die zwar keine noumenalen Entitäten sind, aber als Erscheinungen auch nicht auf Materie zurückführbar, mit anderen Worten: nicht-materielle phänomenale Entitäten? Diese allein könnten Bestimmungen der Zeit unterworfen sein, also sich in einem Prozess der Vervollkommnung befinden. Ja, das ist möglich, denn Kant unterscheidet (im Gegensatz etwa zu Schopenhauer) zwischen Substanz und Materie. Substanz selbst ist zwar eine Kategorie außerhalb der Zeit, aber ihre Schematisierung ist die »Beharrlichkeit des Realen in der Zeit« (KrV B 183). Auf dieser Ebene wäre demnach auch der Begriff der Person angesiedelt. Das erste moraltheologische Postulat läuft mithin darauf hinaus, uns nicht nur als Subjekt, sondern ebenso als Substanz zu denken, allerdings nur in praktischer Hinsicht. So wie die Kategorie der Substanz (bzw. die erste Analogie der Erfahrung, der Grundsatz von der Beharrlichkeit der Substanz) eine transzendentale Voraussetzung naturwissenschaftlichen Wissens ist, so ist der moralphilosophische Begriff der Persönlichkeit (bzw. das Postulat ihrer unendlichen Fortdauer) die transzendentale Voraussetzung des höchsten Gutes. Ontologisch folgt daraus gar nichts, denn es ist nur eine Präsupposition moralischen Handelns; deshalb kann der Paralogismus, der sich beim Schluss vom »ich denke« auf die Existenz der Seele ergab und den Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« kritisierte, vermieden werden. Während das Unsterblichkeitspostulat in der »Kritik der praktischen Vernunft« nur kurz erläutert wird und in der »Kritik der UrA

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teilskraft« kaum noch auftaucht, spielt das zweite Postulat für Kant offensichtlich eine sehr viel größere Rolle. Bezogen auf dieses lautet Kants erste Antwort auf die dritte Frage: Wenn ich ein moralischer Mensch bin, darf ich hoffen, dass es Gott als allmächtiges und allgütiges Wesen gibt, das die Verwirklichung des höchsten Gutes sichert. Das ist der so genannte moralische Gottesbeweis, über den sich bekanntlich schon Heinrich Heine lustig gemacht hat. 175 Tatsächlich scheint es so, als wenn Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« alle bisherigen Gottesbeweise zurückgewiesen hätte, nur um später selbst einen eigenen zu erfinden. Dieser Verdacht übersieht aber die folgenden zwei Einschränkungen, auf die Kant am Ende der dritten Kritik nachdrücklich hinweist: Erstens wird nicht, wie in den klassischen Gottesbeweisen, die Existenz Gottes objektiv bewiesen, nicht einmal intersubjektiv plausibel begründet. Wir wissen nach Kants Argumentation nicht, dass Gott existiert, sondern wir glauben es nur (vgl. KU § 90). Was heißt hier »glauben«? Kant unterscheidet zwischen Meinen, Glauben und Wissen (KrV B 848 ff.; KU § 91). Meinen ist ein subjektiv und objektiv unzureichendes Fürwahrhalten; Glauben ist subjektiv zureichend, aber nicht objektiv; Wissen ist subjektiv und objektiv zureichend. Etwas anders formuliert: Unter Glauben versteht Kant subjektive Gewissheiten, die sich intersubjektiv nicht überprüfen lassen (vgl. I.2.b). Kant meint also gezeigt zu haben, dass die Existenz Gottes für vernünftige Wesen subjektiv gewiss sei. Zweitens ist Gott nicht Gegenstand eines theoretischen, sondern eines praktischen Glaubens. Die subjektive Gewissheit ist also nicht im kognitiven Bereich angesiedelt, sondern gehört zu den Voraussetzungen unseres Handelns (vgl. KU § 88). Obwohl Kant dem Begriff »Gott« auch eine theoretische Funktion zuschreibt (vgl. KrV B 714 ff.), besitzt die Idee einer moralischen Weltregierung nur in praktischer Hinsicht Gültigkeit. Damit ist auch nicht gemeint, dass Gott existieren sollte. Eine solche Forderung wäre sinnlos, da Gott auch bei Kant als dasjenige gedacht wird, was uns an Macht und Wert übersteigt sowie unserer Verfügbarkeit entzogen ist; seine Existenz kann nicht Gegenstand eines Sollens sein. Kant meint vielmehr, dass moralisch handelnde Menschen notwendigerweise an Gott glauben werden. 175 Heine, Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 104 f. Ganz ähnlich ist Nietzsches Bild vom Fuchs, der sich nach seiner Befreiung zurückverirrt in den eigenen Käfig, vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, § 335 (KSA III: 562 = S II: 196).

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Trotz dieser Einschränkungen bleiben massive Zweifel an Kants Postulatenlehre; tatsächlich hat sie heute nur noch wenige Befürworter. 176 Einige der wichtigsten Einwände seien genannt. Der christliche Einwand ist, dass hier die Religion für andere Zwecke instrumentalisiert werde. Diese Kritik findet sich, ohne Kant namentlich zu erwähnen, bereits 1799 in Schleiermachers epochaler Publikation »Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern«. Es sei eine »Erniedrigung« und »Verachtung gegen die Religion«, sie auf diese Weise nach ihrem Nutzen zu beurteilen. 177 Im 20. Jahrhundert hat sich vor allem die dialektische Theologie gegen diese Art einer Funktionalisierung Gottes gewehrt. Der anti-christliche Einwand lautete schon immer, dass man auf die Religion in Sachen der Moral völlig verzichten könne. Der Glaube an Gott führe zu Dogmatismus, ja Fanatismus, mit den bekannten schrecklichen Konsequenzen von den Kreuzzügen über die Inquisition bis zum religiös motivierten Terrorismus. Im Anschluss an Schopenhauer und Nietzsche hat Nicolai Hartmann die konträre Gegenposition zu Kant entwickelt: einen postulatorischen Atheismus. Gott soll nicht sein, damit unser Leben sinnvoll werden kann. 178 Entscheidend ist aber der argumentationslogische Einwand. Kants moralischer Gottesbeweis lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: 1. Die praktische Vernunft fordert mit überzeugenden Gründen: Das höchste Gut soll verwirklicht werden. 2. Was normativ gefordert ist, muss möglich sein. 3. Dann müssen alle notwendigen Bedingungen vorhanden sein, damit es verwirklicht werden kann. 4. Zu diesen Bedingungen gehört Gott. ) Also gibt es Gott. Dieses Argument ist aber nicht triftig. Der entscheidende Schwachpunkt liegt im zweiten Satz, im Wörtchen »möglich«. 179 Sollen setzt Können voraus; das normativ Geforderte muss möglich sein (lat. ulEine Ausnahme: Hösle, Praktische Philosophie in der modernen Welt, 31. Schleiermacher, Über die Religion, 25 u. 23. 178 Schopenhauer, ZA IX, Parerga und Paralipomena, § 118: »Daher sind Theismus und moralische Verantwortlichkeit des Menschen unvereinbar …«; Nietzsche, Götzendämmerung, »Die vier grossen Irrthümer« 8 (KSA VI: 97 = S II 978); N. Hartmann, Ethik, 248 f.; ders., Sinngebung und Sinnerfüllung, 270 ff. 179 Mackie, Das Wunder des Theismus, 173 ff.; vgl. Tetens, Philosophisches Argumentieren, 249 ff. 176 177

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tra posse nemo obligatur). Aber was heißt hier »möglich«? Es kann bedeuten: (a) begrifflich möglich, (b) empirisch potentiell möglich, (c) empirisch aktual möglich. Sicherlich darf (a) nichts begrifflich Unmögliches gefordert werden, was bei Kants Vision einer Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit auch nicht der Fall ist. Dagegen wäre es beispielsweise widersprüchlich, die moralische Forderung aufzustellen, dass jeder Mensch alle anderen lieben solle, wenn man zugleich unter Liebe die bedingungslose Zuwendung zu einer bestimmten Person versteht. Den Unterschied zwischen (b) und (c) kann man in Anlehnung an den mathematischen Begriff der Unendlichkeit reformulieren: Bei (b) ist die Verwirklichung des höchstes Gutes prinzipiell möglich, aber nur als Ergebnis eines fortschreitenden Prozesses; bei (c) ist die Verwirklichung direkt möglich, sie ist als Tatsache gegeben. Nehmen wir als Beispiel die elementare moralische Forderung, dass kein Mensch hungern sollte: Dieses Gebot muss (b) empirisch potentiell zu verwirklichen sein; dafür erforderlich ist eine ausreichende Menge von Ressourcen (Lebensmitteln, Rohstoffen, Wasser u. a.) pro Kopf, was wohl der Fall ist. Eine apriorische Bedingung wie Gott ist nicht notwendig. Im Sinne von (c) müsste das Gebot der ausreichenden Ernährung aller Menschen durch meine Handlungen (oder die kollektiven Handlungen einer Institution) sofort zu verwirklichen sein; das ist sicherlich nicht der Fall. Nur an dieser Stelle wäre der Rückgriff auf eine transzendente Macht nötig, die Mithilfe eines »höhern moralischen Wesens« (RGV VIII: 757). Aber die Anforderung ist, wie leicht zu sehen, überflüssig. Es reicht aus, wenn man sich auf den Weg machen kann; es ist keineswegs notwendig, dass die empirische Verwirklichung gesichert ist oder sich sogar in meiner Lebenszeit ereignen wird. Beharrliches moralisches Handeln erfordert nicht die Möglichkeit der direkten Verwirklichung, sondern nur die der unmittelbaren Beförderung des höchsten Gutes. 180 Deshalb müssen auch nur die Bedingungen gegeben sein, das höchste Gut zu befördern. Zu diesen gehört aber nicht die Annahme der Existenz Gottes. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei noch einmal betont, dass diese Kritik an der Postulatenlehre die Begründung von Kants Moralphilosophie nicht in der geringsten Weise gefährdet. Der verpflichtende Charakter des kategorischen Imperativs bleibt erhalten, 180 Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, 11, 67, 74 ff., 89, 88, 195 f. u. ö.; dagegen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, 226 Fn.

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ob nun der moralische Gottesbeweis schlüssig ist oder nicht. Das macht Kant am Ende der Rechtslehre der »Metaphysik der Sitten« ganz klar, wenn er dort schreibt, es sei unsere Pflicht, nach einem »ewigen Frieden« zu streben, auch wenn wir uns dieser Idee nur annähern können (MdS-RL VIII: 474 u. 478). Es geht Kant darum, die motivationale Stärke des kategorischen Imperativs zu erhöhen. In den siebziger Jahren sah er das höchste Gut sogar als alleinigen Beweggrund moralischen Handelns an; seit ungefähr 1785 gilt das Gefühl der Achtung als Triebkraft der Moral. Der Glaube an die Voraussetzungen des höchsten Gutes dient jetzt unserer moralischen Motivation als Stütze. Als Beispiel nennt er »einen rechtschaffenen Mann (wie etwa den Spinoza)« (KdU § 87/X: 415): Dieser würde sein moralisches Streben aufgeben, er müsste gewissermaßen verzweifeln, wenn er nicht an die personale Fortdauer und eine göttliche Unterstützung der beschriebenen Art glauben würde. Man kann darin ein Überbleibsel von Kants früher eudämonistischer Ethik sehen: Wir streben immer nach Glück und werden davon nicht ablassen. Ein moralisch Handelnder, der nicht an die Realisierbarkeit der höchsten Gutes glaubt, sei sogar ein gutmütiger Trottel, der sein eigenes Glück opfert. 181 Jeder handelt eher aus Pflicht denn aus Neigung, wenn er weiß, dass sich auch für ihn alles zum Guten wenden wird. Man kann dies als anthropologischen Realismus bezeichnen, vielleicht sogar als Pessimismus, durch den sich Kant von den meisten Aufklärern unterscheidet. Beispielsweise schreibt Lessing: »sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist«. 182 Dessen ist sich Kant keineswegs gewiss. Er steht, wie Luther und Hobbes, viel stärker in der Tradition eines anthropologischen Pessimismus. Kann man Kants moralischen Gottesbeweis reduzieren auf die Tatsachenfeststellung, dass moralische Menschen an Gott glauben? Der folgende Einwand liegt auf der Hand: Nicht alle moralisch willensstarken Menschen sind Theisten und nicht alle Atheisten leiden unter Willensschwäche. Mir ist keine empirische Untersuchung bekannt, die überzeugend belegt, dass für moralisches Handeln irgend181 182

Schmitz, Was wollte Kant?, 81–99. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777), § 85. A

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eine Art von Religiosität notwendig wäre. 183 Festhalten kann man wohl nur die These, dass moralisches Handeln nicht ohne irgendwelche subjektiven Gewissheiten möglich ist. Wir müssen darauf vertrauen, dass die Welt nicht kurz vor dem Untergang steht, dass nicht alle Menschen unsere erbitterten Feinde sind, soziale Institutionen verlässlich sind usw., kurz: dass das Gute möglich ist. Eine solche Hoffnung auf einen Erfolg unserer moralischen Handlungen gehört wohl zu den Voraussetzungen dieser. Aber deren Berechtigung kann gerade nicht gezeigt werden, weder apriorisch noch empirisch, weder durch die theoretische noch die praktische Vernunft. Einen ähnlichen Stellenwert hat aus meiner Sicht das praktische Postulat von der Fortdauer der Persönlichkeit, für das keine transzendentale, sondern bestenfalls eine psychologische Notwendigkeit vorliegt. Das praktische Postulat liefe auf die Forderung hinaus, mir entgegen all meinem Wissen eine endlose Zeit für meine moralische Vervollkommnung zuzuschreiben bzw. (negativ formuliert) von meinem unvermeidlichen Tod abzusehen. (Ähnliches fordert auch das dritte Postulat: Denke dich selbst als freies Wesen, gegen alles Wissen von kausalgesetzlichen Zusammenhängen!) In den sehr kurzen Erläuterungen schreibt Kant, das Postulat der unendlichen Fortdauer der Persönlichkeit hätte den großen Vorteil, uns die moralische Vervollkommnung weder zu leicht noch zu schwer vorzustellen. Wer meine, Moralität sei im Leben erreichbar, neige dazu, die Anforderungen abzusenken; wer meine, Moralität sei ohnehin nie erreichbar, neige zu schwärmerischen Phantasien; in beiden Fällen würde man mit seinen Bemühungen nachlassen (KpV VII: 253). Kant plädiert also dafür, die moralischen Anforderungen weder zu niedrig noch zu hoch setzen, sich immer etwas mehr vorzunehmen, als man erreichen kann. Der Moral sei am besten gedient, wenn wir sie als unendliche, aber dennoch erfüllbare Aufgabe betrachten. Eine transzendentalphilosophische Begründung für diese Postulate kann ich jedoch nicht erkennen. Damit bekommen die beiden Vernunftideen den Stellenwert, den sie bei Adam Smith haben: Moralische Menschen hoffen, dass es ein künftiges Dasein und eine gerechte göttliche Instanz gibt. 184 Tatsächlich zeigten neuere empirischpsychologische Untersuchungen, dass moralisch-politisch engagierte 183 Dagegen Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 18, 99, 213, 218, der allerdings aus meiner Sicht unzureichende empirische Belege anführt. 184 Smith, Theorie der ethischen Gefühle, 256 ff.

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Menschen die starke Hoffnung auf die Möglichkeit einer gerechten Welt hegen. 185 Dadurch mag sich die moralische Motivation vergrößern, jedoch die Kluft zwischen Glück und Moral bleibt bestehen. (c) Der zweite Antwortversuch: Ästhetische Indizien Wenn die Postulatenlehre nicht überzeugend ist, lässt sich der sinngefährdende Dualismus auf andere Weise überwinden? Ich verstehe die materialen Überlegungen der »Kritik der Urteilskraft« zur Ästhetik und Naturphilosophie als einen erneuten Vermittlungsversuch. Gegenüber dem, was Kant in seiner Moraltheologie versuchte, werden jedoch Frage und Antwort abgeschwächt. Erstens will er keine zwingenden Gründe mehr liefern, sondern nur noch Hinweise auf einen übergreifenden Sinnzusammenhang geben bzw. dessen Spuren sichern. Man könnte in der von Kant bevorzugten Metaphorik des Gerichtsprozesses sagen: Es geht nicht um Beweise, bloß um Indizien. Zweitens tritt an die Stelle der Frage nach der Einheit von Glück und Moral das Problem der Vereinbarkeit von Natur und Freiheit. Denn als Naturwesen unterliege ich denselben kausalen Gesetzmäßigkeiten wie jeder andere Gegenstand im Universum; als moralisches Subjekt bin ich jedoch nach Kants Auffassung frei, ein sich selbst Gesetze gebendes (autonomes) Wesen. Welcher Seite gebührt der Vorrang? Eine Auflösung unter dem Primat der ersten Seite, also zugunsten eines naturalistischen Weltbildes, ist unmöglich (vgl. III.1.5.). Kant sucht nach einer Einheit unter dem Primat der Freiheit. Als Brücke dient die Sphäre der Zweckmäßigkeiten. Sie vermittelt zwischen der Welt, in der anscheinend alles zwecklos ist, und dem Reich, in dem alle Wesen als Zwecke betrachtet werden sollen. Den Begriff des Zwecks kennen wir, weil wir handelnde Wesen sind: Handlungen haben einen Zweck; wir verfolgen mit ihnen bestimmte Ziele, die in einer Rangordnung stehen. Der höchste Zweck aller unserer Handlungen, die aus Neigung geschehen, ist die Glückseligkeit. Aber es gibt auch Handlungen aus Pflicht, die auf Vernunftzwecke wie Gerechtigkeit und Solidarität gerichtet sind. Vor allem aber ist es moralisch gefordert (so die berühmte Formulierung des kategorischen Imperativs), alle anderen Menschen nicht bloß als Mittel, sondern auch als Zweck zu behandeln. Diese Sichtweise der praktischen 185

Montada/Lerner, Responses to Victimizations and Belief in a Just World (1998). A

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Vernunft findet aber in der theoretischen Philosophie kein Echo; im Gegenteil, Kant hatte in der »Kritik der reinen Vernunft« die universale Gültigkeit des Kausalprinzips aufgezeigt; in der Welt geschieht alles nach Wirk- und nicht nach Zweckursachen. Es gibt verschiedene Arten von Zweckmäßigkeit. Da wir Kants Reflexionen zur Teleologie schon behandelt haben (III.1.4.), können wir uns hier auf den ersten Teil der dritten Kritik, die Ästhetik, konzentrieren. 186 Die Gestalten des Schönen sind Zweckmäßigkeiten ohne Zweck, subjektiv-formale Zweckmäßigkeiten. Sie unterscheiden sich von Entitäten mit extrinsischem Wert, dem Angenehmen und dem Nützlichen. Nehmen wir als Beispiel einen natürlichen Gegenstand, etwa einen Baum. Aus unserer lebensweltlichen Umgangsweise kann sich eine objektivierende Einstellung entwickeln, für die der Baum zum Untersuchungsobjekt für wissenschaftliche Forschung wird. Als moralisches Subjekt, als zwecksetzendes Wesen vermögen wir ihn jedoch nicht wahrzunehmen. Aber wir können einen Baum auch als angenehm empfinden, etwa wenn er uns Schatten spendet oder wir seine Früchte genießen; für ein längerfristiges Denken kann sich ein Baum als nützlich erweisen, etwa als Rohmaterial. Beides kann prinzipiell natur- oder sozialwissenschaftlich erklärt werden. Dass wir aber einen Baum als schön beurteilen, ist nach Kants Auffassung nicht auf dieselbe Weise erklärbar. Kant deutet diese ästhetischen Erfahrungen so: Weder die Sinne allein noch der Verstand werden befriedigt, es kommt vielmehr zu einem freien Zusammenspiel dieser unserer Vermögen, das auf ein interesseloses Wohlgefallen an dem schönen Baum hinausläuft. Lust bereiten immer Phänomene, die einen Zweck erfüllen, die zweckmäßig sind. Dem paradoxen Fall eines interesselosen Wohlgefallens korrespondiert deshalb der paradoxe Fall einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Damit meint Kant, dass wir Phänomene als zweckmäßig deuten, von denen wir genau wissen, dass sie nicht Produkte zweckgerichteter Aktivitäten sein können. Denn als moderne Menschen sind wir uns darüber im Klaren, dass die gesamte Natur das Resultat einer endlosen Kette kausaler Prozesse ist. Dennoch erscheint uns die schöne Natur so, als ob sie für uns geschaffen wäre. Es gibt zwei Arten des Schönen, das Kunstschöne und das Naturschöne. Unser intellektuelles Interesse am Schönen richtet sich 186 Ausführlich dazu Thies, Beförderung des Moralischen durch das Ästhetische?, 630– 638.

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auf Letzteres, genauer: auf dessen schöne Formen; denn an den sinnlichen Reizen der Natur, also ihren Farben, Tönen usw., besteht bloß ein sinnliches oder, wie Kant sagt, empirisch-pathologisches Interesse (§ 42). Das intellektuelle Interesse am Schönen ist jedoch »Kennzeichen einer guten Seele« (§ 42/X: 231). Wie wird dieser Primat des Naturschönen vor dem Kunstschönen begründet? Kant selbst war genervt durch das Absingen geistlicher Lieder; viel höher schätzte er den Gesang der Nachtigall »in einsamen Gebüschen, an einem stillen Sommerabende, bei dem sanften Lichte des Mondes« (§ 42/X: 236). Er erzählt nun die Geschichte, dass ein Wirt auf dem Lande einen jungen Burschen damit beauftragte, sich im Gebüsch zu verstecken und diesen Gesang täuschend ähnlich nachzumachen; alle Gäste waren begeistert; sobald sie jedoch merkten, woher die Töne wirklich kamen, war die Enttäuschung groß und niemand mochte mehr »diesem vorher für so reizend gehaltenen Gesange zuzuhören« (ebd.). Was will uns diese Anekdote, die Hans Christian Andersens Märchen vom Kaiser und der Nachtigall vorwegnimmt, sagen? Wir lieben das Original, an der perfekten Imitation bewundern wir bloß das technische Können. Ästhetische Erfahrungen sind besonders intensiv, wenn sie sich auf ein Phänomen beziehen, das nicht intentional für uns geschaffen wurde. Kunstwerke gefallen uns zwar ebenfalls interesselos, aber sie wurden von Menschenhand produziert. Deshalb soll nach Kants Auffassung ein Kunstwerk so aussehen, als ob es von Natur wäre (§ 45). Kant fragt nun: Wie kommt es, dass uns die Natur diese »Gunst« erweist (§ 58/X: 293; § 5/X: 123)? Ist das nicht eine Art Wunder? Es scheint so, »als ob die Natur ganz eigentlich in dieser Absicht ihre herrliche Bühne aufgeschlagen und geschmückt habe« (§ 67/X: 330). Aus der wissenschaftlichen Perspektive des Verstandes ist die Natur einfach die Gesamtheit aller Erscheinungen, die nach den kausal-mechanischer Verknüpfung miteinander zusammenhängen. Nun scheint es, wenngleich nur aus der Perspektive der ästhetisch-reflektierenden Urteilskraft, dass die Natur mehr sei, zwar kein Reich der Zwecke wie die moralische Welt, aber doch eine Sphäre der Zweckmäßigkeit. Die ästhetische Erfahrung der schönen Natur gibt uns insofern einen »Wink« (§ 42/X. 234), dass eine untergründige Affinität zwischen uns und der Natur existiert. Kant sieht darin einen Grund für die Hoffnung, dass unsere (praktische) Vernunft nicht etwas ist, was in dieser Welt völlig exzentrisch und total fremd ist. Das hat er bereits 1771 in einer Reflexion festgestellt: »Die Schöne Dinge zeigen A

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an, daß der Mensch in die Welt passe …« (Refl. 1820a, AA XVI: 127) So soll die Kluft zwischen dem ›kalten‹ mechanischen Determinismus und unserem ›warmen‹ moralischen Selbstbild überbrückt werden. Für den ›kalten‹ Mechanismus ist das Universum ein große Maschine, die nach Kausalgesetzen funktioniert; wir selbst aber müssen uns als Wesen mit einem ›warmen‹ moralischen Kern betrachten. Die reflektierende Urteilskraft hat mittels des Prinzips der Zweckmäßigkeit zwischen Natur und Vernunft einen Zusammenhang hergestellt, der es erlaubt, beide in Kontinuität zu denken. 187 Das hat Auswirkungen auf unser moralisches Handeln. Kants Reflexionen zum Naturschönen tragen nichts bei zur Begründung normativ-praktischer Aussagen, nicht einmal für eine ökologische Ethik. Die ästhetische Erfahrung des Naturschönen motiviert uns auch nicht direkt zu moralischem Handeln, denn sie ist gerade ein Moment der Kontemplation, das uns vom Getriebe der Welt und den Notwendigkeiten der Praxis entlastet. Indirekt kann sie allerdings unseren Respekt vor der Natur erhöhen. Das gilt auch für die objektivierende Herangehensweise an die Natur unter der Präsumtion der Zweckmäßigkeit. An anderer Stelle erwägt Kant, ob die lange Beschäftigung mit natürlichen Dingen, die zunächst »anstößig« erscheinen, uns diese »lieb« gewinnen lassen; zur Veranschaulichung erzählt er die Geschichte von Leibniz, der ein Insekt, nachdem er es im Mikroskop untersucht hatte, »schonend … auf sein Blatt« zurückschob, »weil er sich durch seinen Anblick belehrt gefunden, und von ihm gleichsam eine Wohltat genossen hatte« (KpV VII: 298). Entscheidend ist aber die durch die ästhetische Erfahrung vermittelte Einsicht in die untergründige Affinität von Natur und Freiheit; Kant sieht darin ein Indiz für die Chance der Verwirklichung des Moralischen in der Welt. Denn jeden moralisch handelnden Menschen wird bisweilen die Sorge beschleichen, ob sich das Gute angesichts der Widerspenstigkeit der Welt überhaupt durchsetzen könne. Das könnte zu einem Nachlassen der moralischen Energie führen. Die ästhetische Erfahrung des Naturschönen führt aber zu der reflexiven Einsicht, dass die Natur (zu der wir als leibliche Wesen gehören) uns nicht feindlich entgegensteht, eventuell sogar zu bekämpfen ist, sondern uns entgegenkommt, mit uns gleichsam verwandt ist. Das reißt uns aus der moralischen Depression heraus, das stattet uns mit einer für moralisches Handeln nötigen Zuversicht aus. Das Naturschöne 187

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Vgl. Recki, Ästhetik der Sitten, 133 ff.

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ist gleichsam ein Äquivalent für die calvinistische Heilsgewissheit. Kants zweite Antwort lautet also: Ich darf hoffen, dass ich als rationales und freies Wesen in dieser Welt nicht völlig auf verlorenem Posten stehe. Die romantische Naturästhetik führt diesen Gedanken fort; ein spätes Beispiel dafür finden wir bei Adorno. Unsere Hoffnungen richten sich auf das höchste Gut. Zur Zeit der Französischen Revolution, so Adorno, mochten viele Menschen noch denken, »alles könne gut werden«, das höchste Gut sei erreichbar. 188 Die Musik des jungen Beethoven war Ausdruck dieser Stimmungslage. Heute werden wir in diese nur noch angesichts der schönen Natur hineinversetzt. Denn »keine Kritik der Naturteleologie kann fortschaffen, daß südliche Länder wolkenlose Tage kennen, die sind, als ob sie darauf warteten, wahrgenommen zu werden. Indem sie so strahlend unverstört zum Ende sich neigen, wie sie begannen, geht von ihnen aus, nicht sei alles verloren, alles könne gut werden.« 189 Aber Adorno weiß, dass eine solche Verherrlichung der schönen Natur ein Kompensationsphänomen ist zur Entzauberung der Welt und zur Verdinglichung des Lebens; vormoderne Menschen hatten einen anderen, nüchternen Blick auf die Natur. Dennoch finden wir in einer Zeit, in der alles funktional und verwertbar sein muss, am Naturschönen eine Spur dessen, was sich diesen Zwängen nicht unterwirft und ein Indiz für die Möglichkeit der Versöhnung ist. Gegen eine solche kantianische Reflexion lassen sich mehrere Argumente formulieren. 190 Der erste Vorbehalt betrifft die Korrespondenz zwischen dem Naturschönen und der Moral. Kant mag Recht haben: Die unerwartete Gunst der schönen Natur empfinden wir als Gefühl einer übergreifenden Harmonie; wir erfahren uns geborgen im Schoß der Mutter Natur. Aber in welcher Hinsicht passen wir in diese Welt? Vermitteln ästhetische Erfahrungen der schönen Natur statt einer Hoffnung auf eine mögliche moralische Weltordnung nicht eher den Ausblick auf ein irdisches Glück? Eine Landschaft, die von mir als schön erfahren wird, ist einfach der exemplarische Ort eines Augenblicks des Einklangs, des Aufatmens, des Sichselbstvergessens. Wenn man diese Korrektur akzeptiert, ist auch Adorno, GS VI: Negative Dialektik, 301. Adorno, GS VII: Ästhetische Theorie, 114. 190 Vgl. Seel, Kants Ethik der ästhetischen Natur, 181–208; vgl. ders., Eine Ästhetik der Natur, 89–134 (Kap. II). 188 189

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der Vorrang des Naturschönen vor dem Kunstschönen nicht mehr einzusehen. Adorno zitiert zu Recht den Ausspruch von Stendhal, dass die Kunst ein »Glücksversprechen« sei – wenn auch eines, das gebrochen wird, weil Glück dem Leben zukommt, nicht der Kunst. Stärkt also die ästhetische Erfahrung nicht eher unser Glücksstreben als unser moralisches Handeln? Der zweite Einwand richtet sich gegen die Verknüpfung von Schönheit und Zweckmäßigkeit. Diese gilt nur für einen klassizistischen Begriff des Schönen, in dem Statik und Harmonie wichtiger sind als Dynamik und Spannung. Erleben wir beispielsweise eine Landschaft wirklich nur dann als schön, wenn sie uns so erscheint, als ob sie zweckmäßig wäre? Können nicht auch Gefüge oder sogar Aggregate (vgl. III.1.1.), die nicht zweckmäßig sind, ästhetisch faszinierend sein? Damit verbunden ist ein weiterer Kritikpunkt: Wenn das Schöne das Zweckmäßige ist, kann es in Kants begrifflichem Rahmen nur durch Reflexion erfasst werden (§ 10/34). Dadurch wird unser ästhetischer Sinn unnötig intellektualisiert. Sicherlich spielen in jeder Erfahrung interpretative und diskursive Elemente eine Rolle; aber gerade die ästhetische Erfahrung des Naturschönen, die sich nicht von unseren Sinnen ablösen lässt, ist eher als Kultivierung unserer Wahrnehmung denn als besondere Form des Reflektierens zu begreifen. Wenn dies richtig sein sollte, bröckelt der Übergang von der ästhetischen Erfahrung zur praktischen Vernunft. Drittens sind Bedenken gegen die Objekt-Seite der ästhetischen Erfahrung vorzutragen. Die Natur erscheint uns offensichtlich nicht immer und nicht überall als schön. Die ästhetische Distanz ermöglicht uns zwar, auch im Wirbelsturm etwas Erhabenes und im Beute jagenden Tier etwas Dynamisch-Spannendes zu sehen. Aber aus ästhetischer Perspektive können wir natürliche Phänomene auch als langweilig und hässlich, als grausam und abstoßend wahrnehmen. Obgleich Weltraumreisende die Erde als einen schönen blauen Planeten beschrieben haben, so gilt dies sicherlich nicht für alle Lebewesen und Landschaften, für alle Mineralien und Wolken. Das bedeutet in Kantischen Begriffen, dass wir die Natur auch als zweckwidrig erfahren, als Zweckwidrigkeit ohne Zweck – als sinnlos. Damit bricht die zweite Brücke endgültig zusammen.

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(d) Der dritte Antwortversuch: der geschichtliche Fortschritt Schließlich wird in der »Kritik der Urteilskraft« noch eine dritte Antwort angedeutet und vorbereitet. Diese beruht auf der Möglichkeit, nicht nur Naturphänomene, sondern auch die Menschheitsgeschichte teleologisch zu beschreiben. 191 Bereits in einigen Veröffentlichungen vor 1790, etwa in der »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784), hatte Kant mit teleologischen Begriffen gearbeitet. Wir können die Menschheitsgeschichte so deuten, als ob sie darauf angelegt sei, die menschlichen Fähigkeiten zu entwickeln, allerdings nicht beim Einzelnen, sondern in der Gattung insgesamt. Dies könne aber nur geschehen, wenn es für unser Zusammenleben innere und äußere Formen gibt, die diese Entwicklung ermöglichen: eine republikanische Staatsverfassung und einen rechtlich abgesicherten Friedenszustand zwischen den Staaten. Kant spricht von einem »Leitfaden« (XI: 34), der uns erlaubt, die Naturgeschichte teleologisch zu rekonstruieren; denselben Begriff wird später Marx für seine geschichtsphilosophischen Reflexionen verwenden. 192 Die methodologische Begründung für eine solche teleologische Sichtweise wird in der dritten Kritik nachgeliefert. Ausgangspunkt ist jetzt nicht die innere Zweckmäßigkeit von Organismen, sondern die äußere Zweckmäßigkeit, die wir aus der Perspektive der reflektierenden Urteilskraft etwa in ökologische Zusammenhänge hineinlesen können. Alles in der Natur ist Mittel für etwas anderes; jeder Zweck ist erneut Mittel; einen letzten Zweck gibt es nicht. Aber wir als moralische Wesen, so hatte Kant schon in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« festgestellt, können uns selbst nur als Zweck betrachten (GzMdS VII: 59 f. = 428). Sofern wir uns als Produkt der Natur ansehen, denken wir uns deshalb notwendigerweise als letzten Zweck der Natur. In § 83 fragt Kant: Was ist denn der (unterstellte) Zweck, den die Natur mit dem Menschen verbindet? Es kann nicht das sein, was wir uns von unserem Leben erhoffen, die Glückseligkeit. Die äußere und die innere Natur widerstreiten dieser zu oft (vgl. III.2.1.). Als einzige Alternative sieht Kant die Möglichkeit bzw. »Tauglichkeit«, sich selbst Zwecke zu setzen. Man kann auch sagen: 191 Vgl. Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, 240–294 (Kap. 5: »Was darf ich hoffen? Der Sinn als Träger der Kultur«). 192 Marx, MEW 13: 8 (Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, 1859).

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Der letzte Zweck der Natur ist die Freiheit des Menschen. Diese natürliche Voraussetzung der Freiheit nennt Kant Kultur. Damit gelingt es Kant, zwischen den konträren Positionen von Voltaire und Rousseau zu vermitteln: Man darf Natur und Kultur nicht so gegeneinander ausspielen, wie es bei diesen beiden Exponenten der Aufklärung geschah. In der »Kritik der Urteilskraft« unterscheidet Kant zwei Begriffe einer freiheitsermöglichenden Kultur. Zum einen gibt es die Kultur der Geschicklichkeit; diese entwickelt sich durch Antagonismen, die sich im Rahmen einer bürgerlichen Gesellschaft und eines weltbürgerlichen Ganzen abspielen sollten. In der »Kritik der Urteilskraft« wird auch der Krieg noch als ein Mittel gerechtfertigt, »alle Talente, die zur Kultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln« (KdU § 83/X: 391 f.; ebenso § 28/X: 187). Wenige Jahre später, wahrscheinlich nach den Erfahrungen des ersten Koalitionskriegs gegen Frankreich ab 1792, hat Kant seine Auffassung in dieser Hinsicht geändert. Zum anderen gibt es die »Kultur der Zucht (Disziplin)« (KdU § 83/X: 390), durch die sich der Mensch von seinen Begierden befreien kann; in diesem Zusammenhang werden die schönen Künste und die Wissenschaften gelobt, die »den Menschen nicht sittlich besser, doch gesittet machen« (ebd., X: 392). In anderen Texten, etwa in seinen Vorlesungen »Über Pädagogik« (IX: 440, 449 f. u. a.), hat Kant diese Begriffe weiter ausgearbeitet. Man kann aus seinen Überlegungen einen Stufenplan zur Entwicklung des Menschengeschlechts rekonstruieren. Den ersten Schritt bildet die Behütung der kleinen Menschenkinder, die deren natürliche Mängel kompensiert; das muss in allen menschlichen Gesellschaften der Fall sein. Der zweite Schritt ist die Disziplinierung, also die Kultur der Zucht, die unsere destruktiven Triebe zügelt und anspruchsvollen Bedürfnissen Raum gibt. Der dritte Schritt ist die Kultivierung, durch die der Mensch Fertigkeiten erwirbt, die er zu beliebigen Zwecken nutzen kann, also die Kultur der Geschicklichkeit in der Entwicklung von Technik und Wissenschaft. Der vierte Schritt ist die Zivilisierung, die den Menschen mit den Umgangsformen ausstattet, die für ein »bürgerliches« (ziviles) Leben notwendig sind; das ist der positive Begriff, den Kant von der bürgerlichen Gesellschaft, überhaupt von einem öffentlichen Leben hat. Es folgt der fünfte Schritt, die Moralisierung, die nicht die Mittel und Umgangsformen betrifft, sondern die von uns gewählten Zwecke. Allerdings wird diese zunächst nur in der Dimension der Legalität festzustellen sein, 312

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also darin, dass Handlungen den legitimen Normen äußerlich entsprechen, mithin pflichtgemäß sind. Der sechste Schritt ist dann die innere und (viel schwerer noch) die äußere Institutionalisierung der Legalität in einer Verfassung und einem internationalen Friedenszustand. Schließlich kann es erst im letzten Schritt zu Fortschritten an Moralität, also der Innenseite moralischen Handelns kommen, dem moralischen Handeln aus Pflicht. Im ersten Zusatz zum »Ewigen Frieden« stellt Kant ausdrücklich fest: Erst wenn es eine »gute Staatsverfassung« geben wird, ist »die gute moralische Bildung eines Volks zu erwarten« (XI: 224). Dieser Entwurf einer Geschichtsphilosophie kann auf die dritte Kantische Frage bezogen werden, die damit folgendermaßen beantwortet wird: Wir dürfen hoffen, dass die Menschheit sich in moralischer Hinsicht in einem Fortschritt zum Besseren befindet. Dieser Fortschritt hat mindestens zwei Dimensionen: Zum einen verbessern sich die äußeren Umstände für moralisches Handeln. Zum anderen aber ändern sich auch die Menschen selbst; sie entwickeln Neigungen, Bedürfnisse und Interessen, die nicht von vornherein im Gegensatz zu den Anforderungen des moralischen Sollens stehen. Moralisches Handeln führt, da ist sich Kant sicher, zu Seelenruhe und Zufriedenheit (MdS-TL Vorr. VIII: 505). Dem stehen allerdings unsere Neigungen entgegen, die auf Lust zielen, eventuell sogar auf Freude an Destruktion und Gewalt. Aber wir Menschen sind keine instinktgebundenen Tiere, sondern fähig zur Vervollkommnung und moralischen Selbsterziehung. 193 Im Unterschied zu den transzendentalen Bedingungen des höchsten Gutes, von denen im ersten Antwortversuch die Rede war, sowie den reflexiv gewonnenen Indizien für eine Konvergenz von Natur und Freiheit des zweiten Antwortversuchs geht es Kant hier um empirische Bedingungen. Zudem wendet er die Frage ins Praktische: Wir müssen die (gesellschaftlichpolitischen) Bedingungen herstellen für die Konvergenz von Glück und Moral. Verfassungsstaat und Weltfrieden sind gleichsam weitere Postulate der praktischen Vernunft. Wer moralisch sein will, muss also eine Gesellschaft wollen, in der man moralisch sein kann. Diese These führt von der Moralphilosophie in die politische Philosophie. Einen solchen Übergang finden wir bei vielen Philosophen: Für Platon und Aristoteles ist die Einheit 193 Vgl. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, 37 ff.; Sommerfeld-Lethen, Wie moralisch werden?, bes. Kap. 4.2.

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von Glück und Moral nur in der vollkommenen (utopischen oder weniger utopischen) Polis möglich. Hegels »Rechtsphilosophie« stellt einen Dreischritt dar, vom abstrakten Recht über die individuell-subjektive Moralität zu den Institutionen der Sittlichkeit, zuletzt zur Verwirklichung des freien Willens im Staat. Marx kokettiert sogar mit dem politisch verhängnisvollen Gedanken, dass Moral und Menschenrechte gar nichts wert seien ohne die Herstellung humaner gesellschaftlicher Verhältnisse. Eine schöne Version der Idee, die Einheit von Glück und Moral politisch herzustellen, vertritt Bertolt Brecht. 194 In verschiedenen Dramen hat er die Unzulänglichkeiten individueller Moralität dargestellt: So thematisiert »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« das Problem, dass unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise moralisches Handeln politisch auf fatale Weise ausgenutzt werde. In anderen Stücken, etwa »Der Herr Puntila und sein Knecht Matti«, behandelt Brecht die innere Zerrissenheit der Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft. Direkt wird die Frage nach der Einheit von Glück und Moral in dem Parabelstück »Der gute Mensch von Sezuan« gestellt (Uraufführung 1943). Wir leben in einer Gesellschaft, so will Brecht wohl sagen, in der wir nur die Wahl zwischen Moral und Glück haben. Wer die Gebote der Nächstenliebe befolgt, der muss scheitern; vergeblich suchen die Götter gute Menschen, die auch glücklich sind. In seinen Aufzeichnungen hat sich Brecht ausdrücklich zu Kants kategorischem Imperativ geäußert. »Denn der Satz ›Handle so, daß dein Handeln die Maxime für das Handeln jedes sein kann‹ muß erweitert werden in den Satz ›Schaff einen Zustand, wo dein Handeln die Maxime für das Handeln jedermanns sein kann‹, und das ist etwas anderes«. 195 In einem solchen Zustand wäre Moral letztlich sogar überflüssig. An anderer Stelle schreibt Brecht: »Sind die Institutionen gut, muß der Mensch nicht besonders gut sein. Freilich ist ihm dann die Möglichkeit gegeben, es sein zu können. Er kann frei, gerecht und tapfer sein, ohne daß er oder andere zu leiden haben.« 196 Diese Brechtsche Forderung widerspricht aber nicht Kants Mo194 Vgl. Fahrenbach, Brecht zur Einführung, 80–91; vgl. auch Adorno, NS X: Probleme der Moralphilosophie, 212. 195 Brecht, Werke, Bd. XXII/1, 279. Vgl. auch das Gedicht »Was nützt die Güte?« (1935), wo es u. a. heißt: »Anstatt nur gütig zu sein, bemüht euch/Einen Zustand zu schaffen der die Güte ermöglicht, und besser: Sie überflüssig macht!« 196 Brecht, Werke, Bd. XVIII, 150 (»Buch der Wendungen«).

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Was darf ich hoffen?

ralphilosophie, nicht einmal dem kategorischen Imperativ. Brecht zitiert nämlich nur dessen erste Formulierung. In der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« endet Kants Argumentation aber nicht an diesem Punkt. Vielmehr folgen transzendentalphilosophische Überlegungen, die nach den Bedingungen der Möglichkeit von Moral fragen. 197 Dadurch gelangt er zu zwei inhaltlich sehr viel reicheren Formulierungen des kategorischen Imperativs, die (wohl entgegen Kants eigener Auffassung) nicht mit der ersten Formulierung deckungsgleich sind, sondern inhaltliche Erweiterungen darstellen. Die erste Reflexion fragt nach den individuellen Bedingungen der Möglichkeit des kategorischen Imperativs und gelangt zu der berühmten Zweck-Formel. Die zweite Reflexion, für die wir uns hier interessieren, fragt nach den gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit des kategorischen Imperativs. Der entscheidende Gedanke ist der, nicht nur jeden anderen auch als Zweck zu behandeln, sondern darüber hinaus die Welt jederzeit auch von dem Standpunkt jeder anderen Person zu betrachten. In unserem moralischen Denken setzen wir damit die Möglichkeit eines Reichs der Zwecke voraus (GMS VII: 66 = 433, VII: 72 = 438). Damit Moral sich nicht selbst zerstört, ergibt sich die Forderung, eine solche moralische Welt herzustellen (vgl. KrV B 836). Mit dem Ideal eines solchen moralischen Gemeinwesens holt Kant die Vorstellung vom Reich Gottes gleichsam vom Himmel auf die Erde herab. Im Reich der Zwecke sind Glück und Moral versöhnt. Ein Individuum allein kann eine soziale Ordnung dieser Art niemals errichten. Bereits 1784 schreibt Kant in seinem kleinen geschichtsphilosophischen Thesenpapier, dass die Aufgaben der Vernunft nur auf lange Sicht durch die menschliche Gattung zu verwirklichen sind. Aber erst die religionsphilosophische Schrift von 1793 hebt deutlich hervor, dass die Pflicht zur Beförderung des höchsten Gutes keine individuelle, sondern eine gemeinschaftliche Aufgabe ist: »Die Herrschaft des guten Prinzips … ist … nicht anders erreichbar als durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen« (RGV VIII: 752). Trotzdem, so Kant, müsse der einzelne »so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme« (ebd. 760). Ist die geschichtsphilosophische Antwort, bis hin zu ihrer marxistischen Konkretisierung bei Brecht, der Weisheit letzter Schluss? In diesem Rahmen kann ich auf die Frage nach dem Sinn der Ge197

Vgl. Hösle, Moral und Politik, 156. A

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schichte nicht ausführlich eingehen. Es seien nur kurz drei Einwände gegen das Projekt einer Geschichtsphilosophie als Metaphysik genannt. Ein erstes Gegenargument liegt auf der Hand: Hier geht es um die Konvergenz von Glück und Moral in the long run für die Menschheit insgesamt – das nützt mir als Individuum gar nichts, zumal ich mir des Fortschritts nicht einmal gewiss sein kann. Im Gegenteil, für mich, der ich mein Glück eventuell für künftige Generationen opfere, verschärft sich die Divergenz von Glück und Moral sogar. Immerhin kann ich im moralischen Handeln für eine bessere Welt einen Sinn im Leben finden. Ein zweiter Kritikpunkt bleibt bestehen, selbst wenn die geschichtsphilosophischen Hoffnungen sich erfüllen sollten. Auch wenn irgendwann Glück und Moral konvergieren sollten, bliebe das vergangene Leiden unversöhnt. Es war vor allem Walter Benjamin, der deshalb Marxismus mit Theologie verknüpfen wollte; nur dann könne man auch die unschuldigen Opfer früherer Generationen erlösen. 198 Aber – so wandte schon Max Horkheimer ein – die Toten sind wirklich tot, die Schreie der Gefolterten finden kein Gehör und vergangene Ungerechtigkeiten können nicht korrigiert werden; niemand wischt die Tränen ab. 199 Der historische Zeitpfeil setzt allen metaphysischen Hoffnungen eine unüberwindbare Schranke. Das einzige, was bleibt, ist unser Gedenken an die Erschlagenen, Gemarterten und Verfolgten der Vergangenheit. Dadurch tut sich erneut die Kluft zwischen Glück und Moral auf: Die Erinnerung an das Unrecht vergangener Zeit trübt selbst das Leben einer befreiten Menschheit; diese Last abzuschütteln, nur um ein unbeschwertes Dasein genießen zu können, wäre verabscheuungswürdig. Drittens zehrt die geschichtsphilosophische Antwort von einem Fortschrittsglauben, den Kant im Medium der reflektierenden Urteilskraft meint rechtfertigen zu können. Die Idee des Fortschritts ist für die sittliche Welt das, was das Prinzip der Zweckmäßigkeit für die organische Natur ist – eine notwendige Präsumtion. Wie das Prinzip der Zweckmäßigkeit kann allerdings auch die Idee des Fortschritts widerlegt werden. Solche Widerlegungen erleben wir jeden Tag. Wir würden gern hoffen, dass es einen allgemeinen Fortschritt gibt, aber viele Argumente sprechen nicht für einen solchen. So scheitert auch der geschichtsphilosophische Versuch, den zerrissenen Sinnzusammenhang unseres Lebens zu heilen. 198 199

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Vgl. Benjamin, Illuminationen, 251–261 (»Über den Begriff der Geschichte«, 1940). Vgl. Horkheimer, Zu Theodor Haecker, 381.

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Alle Menschen streben nach Wissen. Wir wollen verstehen. Wie unser Atmen und Hoffen können wir unser Denken nicht einstellen. Unsere symbolisch verfasste Vernunft zielt auf vollkommene Verständlichkeit, einen umfassenden Sinnzusammenhang und unbedingte Bedeutsamkeit, letztlich nach dem Absoluten. 1 Wer konsequent weiterfragt, stößt auf die großen letzten Probleme. Ein gebildeter Mensch, so kann man deshalb zu Recht feststellen, sollte eine »Wachheit für letzte Fragen« besitzen. 2 Das richtet sich gegen die allzu selbstsichere Ablehnung der Metaphysik in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Ein Privileg der Gebildeten sind die letzten Fragen nämlich keineswegs; prinzipiell kann jeder Mensch durch sie verunsichert werden. Wer aber rückhaltlos nachdenkt, wird keine Antworten finden, zumindest keine, die intersubjektiv überzeugend begründet sind. Die Menschheit steht also nicht nur, wie Marx meinte, vor Aufgaben, die sie lösen kann. 3 Das ist einer der Gründe für die Melancholie, die aus jedem radikalen Denken entspringt. 4 Die Teildisziplin der Philosophie, die sich mit diesen Themen beschäftigt, habe ich als Metaphysik bezeichnet. Allerdings unterscheidet sich eine moderne Metaphysik dieser Art grundsätzlich von ihren antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorgängern: Sie ist weder Onto-Theologie noch Prinzipienwissenschaft, überhaupt nicht ›erste Philosophie‹. Vielmehr behandelt sie ›letzte FraBei Cioran, Geschichte und Utopie, 32 heißt es: »Alles läßt sich beim Menschen ausrotten, nur nicht das Bedürfnis nach dem Absoluten; es würde auch noch die Zerstörung der Tempel überleben, sogar das Verschwinden der Religion auf der Erde.« 2 Hentig, Bildung, 94. Hentig, ebd., 54 f. behauptet sogar: »Wer keine Beunruhigung durch letzte Dinge zeigt, bleibt ein unzuverlässiger, weil unkritischer, und geistig armer, weil geistig oberflächlicher Mensch.« 3 Marx, MEW 13: 9 (Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, 1859). 4 G. Steiner, Warum Denken traurig macht, bes. 97 ff. 1

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gen‹ und steht am Ende des philosophischen Diskurses. Beweise, Deduktionen oder Rechtfertigungen kann es in der modernen Metaphysik nicht geben. Der Status ihrer Aussagen ist nicht mit dem empirisch bewährter Erkenntnisse oder intersubjektiv begründeter normativer Aussagen vergleichbar, allerdings bilden diese die Grundlage metaphysischer Reflexionen. Das inhaltliche Ergebnis (wenn man denn bei einem prinzipiell unabschließbaren Gedankenprozess überhaupt von »Ergebnissen« sprechen darf) ist eine negative Metaphysik. Was ist damit gemeint? Eine vorschnelle Identifikation mit der Tradition der negativen Theologie ist zu vermeiden. Vielmehr ist »negativ« im dreifachen Sinne zu verstehen. Erstens bilden die großen Erfahrungen des Negativen und die dadurch ausgelösten Sinnfragen ihren Ausgangspunkt. Bekanntlich sind Wissenschaftler in ihrer Themenwahl frei; man kann sich an Universitäten und in Akademien mit fast allen Phänomenen der Welt beschäftigen. Leider führt dies auch in der Philosophie zu übertriebener Spezialisierung, zum Kampf um freie Reviere und zur Konjunktur von Modethemen. Zeitweise waren, wie im ersten Teil dargestellt, die letzten Fragen, weil sie angeblich nicht wissenschaftlich behandelbar seien, sogar ganz aus der Philosophie verdrängt. Die moderne Metaphysik wendet sich diesen Problemen wieder zu; aus ihren Texten sind wieder die Nöte und Leiden der realen Menschen herauszuhören. Darüber hinaus kann man sogar zeigen, dass die großen Sinnfragen aus der Struktur der menschlichen Vernunft entspringen, aus der Totalisierung unserer Verstehensbemühungen (II.6.a). Zweitens ist eine negative Metaphysik zu einem großen Teil Metaphysikkritik. Ohne sprach-, erkenntnis- und ideologiekritische Erwägungen würde auch eine moderne Metaphysik zurückfallen in die Fehler der klassischen Metaphysik, eventuell sogar zur Weltanschauung und Ideologie degenerieren. Das gilt sowohl gegenüber Nihilismus und Skeptizismus, die schon den Sinn der Sinnfrage selbst in Frage stellen, wie gegenüber Dogmatismus und Fundamentalismus, die es sich mit den Antworten zu leicht machen. Es ist jedoch zuzugestehen, dass nicht alle anderen Zugänge definitiv widerlegt werden können; selbst innerhalb der Philosophie stehen verschiedene Paradigmen nebeneinander. Allerdings ist ein vernünftiges Gespräch zwischen diesen Ansätzen, in dem Vorzüge und Nachteile abgewogen werden, prinzipiell möglich. Kritisch verhält sich die negative Metaphysik auch gegenüber den Ersatzmetaphysiken, die sich der Wissenschaft und der Ethik bedienen. 318

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Damit sind wir schon beim dritten Punkt: Die negative Metaphysik muss gestehen, dass keine positiven Antworten möglich sind. Sowohl aus naturwissenschaftlichem Wissen wie aus ethischen Überlegungen lassen sich keine überzeugenden Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gewinnen. Im Gegenteil, beide Ansätze tragen dazu bei, dass der Sinnzusammenhang unseres Lebens zerreißt. Den objektivierenden Blick der Wissenschaften, der sich nicht nur als nützlich, sondern auch als ›wahrheitsfördernd‹ erweist, können wir nicht vollständig auf zwischenmenschliche Interaktionszusammenhänge und schon gar nicht auf uns selbst übertragen; Außen- und Innenperspektive stehen sich unvereinbar gegenüber (III.1.). Gravierender ist aber die Dissonanz zwischen zwei grundlegenden praktischen Prinzipien, zwischen einer wohlverstandenen Glücksorientierung und den Anforderungen einer universalistisch begründeten Moral. Diesem Dilemma kann man nur unter günstigen Umständen entkommen (III.2.). Im Weltlauf, so lehrt uns immer wieder die Erfahrung und so hat es Kant auf den Begriff gebracht, klaffen Glückseligkeit und Glückswürdigkeit auseinander. Kants eigene Vermittlungsversuche, seine Moraltheologie, die naturphilosophischen und die ästhetischen Reflexionen der »Kritik der Urteilskraft« sowie insbesondere seine Geschichtsphilosophie, halte ich für gescheitert (IV.4.). Wir haben keine guten Gründe, mit einem starken Fortschrittsbegriff auf die Aufhebung der metaphysischen Ungerechtigkeit des Weltlaufs zu hoffen. Hinzu kommen die beiden negativen Erfahrungen, die seit Urzeiten viele Menschen auf Sinnsuche gehen ließen: der Tod und das Leid. Zwar sind in demokratischen Wohlstandsgesellschaften Zerbrechlichkeit und Tötbarkeit nicht (mehr) die wichtigsten Todesarten; die meisten Menschen sterben eines natürlichen Todes. Auch die Beseitigung und Bekämpfung von Schmerzen ist weit vorangeschritten. Aber selbst dann noch bleiben Sterblichkeit und Leidensfähigkeit das malum ontologicum und das malum physicum, das sie schon in der klassischen Theodizee waren. Es lassen sich einige Argumente anführen, mit denen der Sinn des Todes und der Sinn des Leidens begründet werden soll. Aber ich glaube, gezeigt zu haben (IV.2. und IV.3.), dass diese Reflexionen letztlich unzureichend sind. Nicht nur angesichts der metaphysischen Ungerechtigkeit, auch angesichts von Tod und Leid bleiben wir Menschen weitgehend trostlos. Es gibt zwar Sinn im Leben (das hatten wir schon lange zugestanden, vgl. II.2 u. III.2.), aber keinen Sinn des Lebens, weder des A

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individuellen Lebens (Existenz) noch des menschlichen Zusammenlebens (der Lebenswelt). Deshalb ist das Leben nicht insgesamt unsinnig (absurd), aber doch leider widersinnig (paradox). Die Paradoxie des Lebens zeigt sich beispielsweise in den dialektischen Zusammenhängen von Liebe und Tod, beim Ineinander von Leidvermeidung und Leiderzeugung, dem Dualismus unserer Selbstbetrachtungen aus der Außen- und der Innenperspektive sowie beim Auseinanderfallen von Glück und Moral. Faktisch gibt es selbstverständlich mehrere Auswege aus dieser Situation. Menschen bedienen sich ihrer seit Jahrhunderten; ich erinnere nur an die klassischen Lösungsversuche des allgemeinen Theodizeeproblems (IV.1.), an die unterschiedlichen Einstellungen zum Leiden (IV.3.d), an die Rückkehr zum Mythos sowie an verschiedene psychologische Mechanismen (Verdrängung, DissonanzReduktion usw.). Aber auch philosophisch gebildete klinische Psychologen müssen ehrlich eingestehen, dass sie ihren Patienten, die unter der unbeantworteten Frage nach dem Sinn des Lebens leiden, keine überzeugende Antwort anbieten können. 5 Sicherlich gelingt es vielen, wenn günstige Umstände vorherrschen, in ihrem Leben einen Sinn zu sehen bzw. diesem einen zu geben. Der »kleine Sinn« des privaten Glücks ist nicht verwerflich. Dennoch ist gegen subjektivindividuelle Lösungen noch einmal einzuwenden, dass diese unsere Existenz als soziale Wesen und unsere moralischen Verpflichtungen überspringen, insbesondere die notwendige Sensibilität für das Leid der Anderen vermissen lassen (III.3.). Ein »Heilsindividualismus« 6 ist nicht nur aus religiösen, sondern vor allem aus normativ-praktischen Gründen zurückzuweisen. An dieser Stelle muss noch einmal das Verhältnis der Religion, vor allem der christlichen Religion, zur Frage nach dem Sinn des Lebens angesprochen werden. Sicherlich haben Religionen immer besonders wirkungsmächtige Antworten angeboten, etwa das Christentum mit der Trias »Glaube, Liebe, Hoffnung«. Wer glaubt und liebt und hofft, für den sind Tod und Leid und Ungerechtigkeit nicht das letzte Wort; wenn Gott die Einheit von Allmacht und grenzenloser Güte ist, hat das Ganze einen Sinn, einen Sinn, den wir mit unseren normalen intellektuellen Mitteln nicht begreifen können. Dann ist im Grunde doch alles gut. Aber angesichts der gescheiterten Gottes5 6

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Yalom, Existentielle Psychotherapie, 568. Ratzinger, Enzyklika ›Spe salvi‹, Abs. 28.

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beweise und des ungelösten Theodizeeproblems sind zumindest die monotheistischen Religionen aus philosophischer Sicht unzureichend. Das gilt erst recht für ein »credo quia absurdum« oder eine naive Frömmigkeit. Ein methodischer Atheismus ist eine Sache der intellektuellen Redlichkeit. 7 Wir müssen ohne Gott denken und begreifen dann, wie viel wir verloren haben. Dennoch führt dies nicht zu einer radikalen Religionskritik. Man kann vielmehr anerkennen, dass es gerade die großen Religionen sind, die immer noch die besten Formen für einen humanen Umgang mit Kontingenzerfahrungen anbieten. Zudem ist zuzugestehen, dass alle Religionen Fragen aufgreifen, die wahrhaft tief in der menschlichen Lebensform verankert sind und die nicht verdrängt werden sollten. Eines der Ziele dieser Arbeit war es, diese Themen in den philosophischen Diskurs zurückzuholen und damit einer wissenschaftlichen Behandlung zugänglich zu machen. Es existiert ein Weg zwischen der Wiederkehr des Heiligen und dem Neuen Atheismus – nämlich eine moderne Metaphysik der letzten Fragen. Darüber hinaus gibt es, wie Kant schreibt, drei Trostmittel »gegen die vielen Mühseligkeiten des Lebens«: die Hoffnung, den Schlaf und das Lachen (KdU § 54). Wir hoffen immer, auch wider alle Hoffnung und für die, die ihre Hoffnung längst verloren haben – allerdings sind die Grenzen begründeten Hoffens enger gezogen, als Kant meinte (vgl. IV.4). Ein gesunder Schlaf ist gewiss immer nützlich; bisweilen wird uns dieser aber geraubt. Wie schließlich angesichts des Leidens oft das Weinen der letzte Ausweg ist (IV.3.d), so ist in metaphysischen Angelegenheiten manchmal das Lachen für den Menschen »die letzte Karte, die er ausspielt« 8 . Wenn die diskursiven Mittel nicht mehr ausreichen, so überlassen wir die Antwort auf die Sinnfragen unserem Leib. Gott und die Tiere lachen nicht, nur der Mensch tut dies, weil nur er sich in exzentrischer Positionalität befindet. Nun gibt es sicherlich unterschiedliche Arten des Lachen: das aggressive Auslachen des Schwachen, das freundliche Anlachen des Anderen, das verlegene Lachen angesichts ambivalenter Emotionen, das befreiende Lachen als Spannungsabbau. 9 Kant hat als Erster daVgl. Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, 85–113. Plessner, Lachen und Weinen, 364. 9 Vgl. allgemein Fröhlich, Lachen und Humor, 142 ff.; Seibt, Der Einspruch des Körpers, 751–762; Hösle, Woody Allen. Versuch über das Komische, 16 ff. 7 8

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rauf aufmerksam gemacht, dass wir immer über etwas Widersinniges lachen, über eine Diskrepanz (KdU § 54, vgl. Anthr. §§ 76, 79, 88). Dem entspricht auch Plessners Analyse: Wir weinen, wenn wir übermächtigen negativen Situationen ausgeliefert sind; aber wir lachen, wenn Situationen eine »unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungsmöglichkeiten« enthalten. 10 Schopenhauer hat diesen Ansatz am besten entwickelt: Komisch ist die »Inkongruenz« zwischen einem Begriff und den entsprechenden Objekten, die unzulässige Subsumtion des einen unter das andere. Beim Witz gibt es zuerst die Objekte, dann die falsche Unterordnung unter einen Begriff; bei der Narrheit steht am Anfang der Begriff, dem die falschen Objekte zugeordnet werden. Zwei besondere Arten des Lachens entstehen aus Ironie und Humor. In beiden Fällen handelt es sich, wie Schopenhauer erkannt hat, um Vermittlungsformen von Scherz und Ernst. 11 Die Ironie ist der hinter dem Ernst versteckte Scherz; der Humor ist der hinter dem Scherz versteckte Ernst. Die Ironie beginnt ernsthaft und endet im Lachen; der Humor beginnt scherzend und endet ernsthaft. Der frühe Kierkegaard hat Ironie und Humor einen systematischen Platz in seiner Theorie der Lebensstadien gegeben. 12 Beide, Ironie und Humor, seien Reaktionen auf die Unangemessenheit des Endlichen zum Unendlichen; mit ihnen reflektiere der nachdenkliche Mensch die Unvollkommenheit der Welt. Die Ironie steht zwischen der ästhetischen und der ethischen Existenzform; das beste Beispiel ist Sokrates, der durch seine Ironie die Bürger Athens und die Sophisten auf den Weg der Moral bringen wollte. Der sokratischen Ironie entspricht der methodische Zweifel des Descartes; beide sind negativ, sie zerstören das Bestehende und öffnen den Weg zu einem Neuen, einem Besseren. Deshalb hat Kierkegaard (wie auch Hegel) die größten Bedenken gegen die Generalisierung der Ironie bei den deutschen Romantikern; die Ironie kann mit ihrer Negativität alles zugrunde richten. Sie ist bloß der Weg, nicht das Ziel. 13 (Christus hingegen sei beides, der Weg und das Ziel.) Für die Vermittlung zwiPlessner, Lachen und Weinen, 366 u. ö. Schopenhauer, ZA III: 119 (Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Kap. 8). 12 Kierkegaard, GW 16: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift II: 211 ff. (SV VII: 436 ff.). Anders in »Furcht und Zittern«: dort vermittelt das Interessante zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen sowie das Dämonische zwischen dem Ethischen und dem Religiösen. – Beim späten Kierkegaard steht ganz der Ernst im Vordergrund. 13 Kierkegaard, GW 31: Über den Begriff der Ironie, 261 f. (SV XIII: 331 f.), 332–335 (SV XIII: 391 ff.). 10 11

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schen der zweiten und dritten Stufe, zwischen der ethischen und der religiösen Existenzform, ist der Humor zuständig. Die Ironie bezieht sich immer auf den Anderen, sie ist eine Form der Kritik. Der Humor hingegen ist reflexiv; er beruht eigentlich auf einer ernsten, ja erhabenen Stimmung, die weiß, dass sie in einer unaufhebbaren Diskrepanz zur Welt steht, dies aber mit innerer Gelassenheit erträgt. Ein Mensch mit Humor, so Kierkegaard, kennt das Negative, vor allem das Leiden. Auch der Humor ist für Kierkegaard nicht das Ziel, sondern nur der Weg. Denn der Mensch mit Humor weiß zwar von der Bedeutung des Leidens für uns, aber er kennt nicht den Sinn des Leidens. Gerade an dem Punkt, an dem man von der Metaphysik des Leidens zum Absoluten (bei Kierkegaard: zu Gott) übergehen müsste, macht der Humorist einen Scherz. 14 Leider kennen wir nach unserer Analyse (siehe IV.3.) den Sinn des Leidens ebenfalls nicht; die religiöse Existenzform ist uns versperrt – deshalb wird der Humor zum höchsten Stadium der menschlichen Entwicklung, zumindest zu einer möglichen Reaktion auf die »Unausdenkbarkeit des Schrecklichen«. 15 Worüber lacht also ein Mensch mit metaphysischem Humor? Über sich selbst und seine Unangemessenheit zum Ganzen. 16 Das metaphysisch Komische ist die Diskrepanz zwischen mir und dem Kosmos. Selbstverständlich kann man angesichts des Grauens und beim Nachdenken über dieses nicht lachen; das wäre sogar verwerflich. Aber darüber, dass ein einzelner Mensch, ein Staubkorn in den unendlichen Weiten des Kosmos, dessen Leben im Vergleich zur Geschichte des Universums nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde ausmacht – dass ein solches Wesen darüber nachsinnt, welche Bedeutung sein Leben mit seinen kleinen Irrungen und Wirrungen hat – das ist (auch) komisch.

Kierkegaard, GW 16: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift II: 155 ff. (SV VII: 388 ff.). 15 Seel, Humor als Laster und als Tugend, 744. 16 Vgl. Ritter, Über das Lachen, 87 (mit Bezug auf Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, § 33). 14

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Literaturverzeichnis

Klassiker werden in der Regel nach den geläufigen Werkausgaben zitiert, und zwar möglichst mit lateinischer Bandnummer und arabischer Seitenzahl. In den Fußnoten finden sich in der Regel weitere Hinweise zum Auffinden der Textstellen auch in anderen Ausgaben, etwa der Titel der Schrift sowie das entsprechende Kapitel. Einzelne Aufsätze aus Sammelbänden werden nicht gesondert aufgeführt. Alle Kant-Verweise werden im laufenden Text belegt, bei wörtlichen Zitaten mit modernisierter Orthographie. Dabei stütze ich mich möglichst auf folgende Ausgabe: • Kant, Immanuel: Werkausgabe in zwölf Bänden. Hg. von W. Weischedel. Frankfurt a. M. 1977. Dies geschieht in der Regel mit lateinischer Band- und arabischer Seitenzahl. Darüber hinaus habe ich verwendet: • Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe). Berlin 1900 ff., zitiert AA mit lateinischer Band- und arabischer Seitenzahl. Sofern die herangezogenen Stellen aus den Hauptwerken stammen, zitiere ich mit leicht erkennbaren Siglen und nenne möglichst die entsprechenden Paragraphen. Zusätzlich zur Weischedel-Ausgabe habe ich die Einzelausgaben des Meiner-Verlags Hamburg benutzt. Weitere Besonderheiten meiner Zitierweise lassen sich der folgenden Auflistung entnehmen: • »Kritik der reinen Vernunft« (KrV), wie üblich zitiert in der Regel nach der zweiten Auflage (B) und der Seitenzahl der Originalausgabe von 1787, ansonsten nach der ersten Auflage (A) und den Seitenzahlen der Originalausgabe von 1781, vgl. die Ausgabe Hamburg 1976, hg. von R. Schmidt. • »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können« (Prol.), 1783 (V: 109–264), vgl. die Ausgabe Hamburg 1976, hg. von K. Vorländer. • »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (GzMdS), 1785 (VII: 7–102), mit den Seitenzahlen der ersten beiden Ausgaben, vgl. die Ausgabe Hamburg 1965, hg. von K. Vorländer. • »Kritik der praktischen Vernunft« (KpV), 1788 (VII: 103–302), mit den Seitenzahlen der Originalausgabe, vgl. die Ausgabe Hamburg 1967, hg. von K. Vorländer. • »Kritik der Urteilskraft« (KdU), 1790 (X: 69–456), möglichst mit Angabe des Paragraphen und nach dem Schrägstrich der Seitenzahl der zweiten Auflage 1793, vgl. die Ausgabe Hamburg 1974, hg. von K. Vorländer. • »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (RGV), 1793 (VIII: 645– 879), vgl. die Ausgabe Hamburg 1990, hg. von K. Vorländer.

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Literaturverzeichnis • »Metaphysik der Sitten«, 1797, 1. Teil: Rechtslehre (MdS/R, VIII: 303–499), 2. Teil: Tugendlehre (MdS/T, VIII: 501–634), mit Angabe des jeweiligen Paragraphen, vgl. die Ausgabe Hamburg 1966, hg. von K. Vorländer. • »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (Anthr.), 1798 (XII: 395–690), möglichst mit Angabe des Paragraphen, aber nicht nach der Weischedel-Ausgabe, sondern nach der Ausgabe Hamburg 1980, hg. von K. Vorländer.

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Der Sinn der Sinnfrage

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Register

Adler, A. 81 Adorno 28, 55, 68, 187, 202, 249, 257, 259, 264, 289, 295, 309–310, 314 Aischylos 268 Albrecht 268 Alexander 85, 191 Alfons der Weise 137 Allen 29, 321 Améry 261 Anders 228 Andersen 307 Antonovsky 100 Apel 41, 45, 262 Archimedes 45, 124 Arendt 98, 189, 198 Aristoteles 16, 42–43, 89, 97-98, 133– 135, 161, 175, 189–190, 192–193, 195, 217, 220, 223, 243, 275, 313 Äsop 268 Attar 232 Augustinus 102, 199, 234–235, 278, 280 Bacon 43–44, 136, 290 Baggini 202 Barrow 146 Barth, K. 243 Barth, U. 25 Bartuschat 49 Bauer 34, 244 Baumeister 100 Baumgardt 217 Baust 245 Beauvoir 260, 262 Beckett 29 Beethoven 29, 309 Bénard 148, 150, 156 Benjamin 28, 316

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Berger 233 Bergman 29 Bergson 82, 161 Berkeley 38, 46 Bertalanffy 148 Beuys 29 Birnbacher 41, 198, 201, 212 Bischof 164, 172, 174 Blumenbach 160–161 Blumenberg 22, 141–142, 176, 234 Bobbio 244 Boethius 218, 240 Bohm 161 Bohr 118, 147, 179–180 Bollnow 86, 255 Bonhoeffer 25–26 Borges 29 Born 163 Brandom 41, 119 Brecht 66, 101, 314–315 Broglie 180 Brouwer 40 Büchner, G. 264–265 Büchner, L. 31, 75 Buddha, Buddhismus 16, 35, 80, 187, 234, 288–289 Buffon 138, 160–161 Bultmann 251 Bürgel 81 Burkamp 82 Busch 98 Buytendijk 269, 274 Caesar 85, 191 Calderon 285 Calvinismus 65, 67, 309 Camus 83, 295

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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Register Cˇapek 260 Carlyle 105 Carter 145 Cassirer 21, 106 Caysa 206 Chirico, G. de 29 Cicero 135 Cioran 317 Clausius 140 Comte 31 Coupland 67

Epikur 81, 162, 217–218, 229–230, 247, 287 Esfeld 147, 151 Eucken 81, 108

Danton 264 Daoismus 16, 94, 161, 244 Darwin, Darwinismus 78, 103, 131, 138–139, 141–142, 149–150, 154, 162, 164, 166, 175, 250, 270 Davidson 41, 127–128 Dawkins 138, 166, 251 Demokrit 37, 146, 162, 166, 242 Dennett 41, 103, 150, 171 Derham 135 Derrida 28 Descartes 39, 44–46, 124, 136, 262, 266, 290, 322 Dewey 28, 98 Dilthey 31, 36, 39, 55, 81, 86, 108, 115, 117–118, 121, 123–124, 216 Ditfurth 131 Dobzhansky 103, 105, 138 Dostojewski 29, 76, 78, 80 Driesch 138 Droysen 115 Duhem 148 Duns Scotus 43 Durkheim 222, 250 Düsing 55 Eagleton 202 Eccles 264 Eigen 149, 152 Einstein 147, 159, 163 Eliade 21 Elias 87 Empedokles 242 Engels 77, 138 Epiktet 287

Fahrenbach 314 Fehige 69, 105 Fenner 83 Ferber 127 Fetscher 196 Feuerbach 76 Feyerabend 152 Fichte 16, 39, 71–72, 74–75, 124, 208 Fischer, P. 293 Flasch 243 Foucault 219–220 Frank 156–157, 161 Frankfurt, H. 195 Frankl 274–275 Franzen 67 Frazer 22 Frege 40, 106, 119 Freud 22, 141, 200, 267–268, 290 Friedrich, C.D. 29 Fröhlich 321 Fromm 189 Gadamer 28, 39, 115, 121, 123–124, 127– 128, 254, 287 Galilei 102 Gandhi 207 Gehlen 242, 263, 269 George, H. 32 Gerhardt 69, 71, 82, 96, 311 Gewirth 41 Giddens 116 Gilgamesch 233, 242 Goethe 29, 72–73, 96 Gogol 80 Goldhagen 235 Gollwitzer 25, 236 Gould 154, 162, 175 Griffin 91 Grimm 93 Grondin 195 Grüny 265

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Der Sinn der Sinnfrage

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Register Habermas 39, 41, 65–66, 83, 116, 189– 190, 194, 275, 291, 302 Haken 152, 164–165 Hamann 70, 74 Hamsun 198 Hartmann 41, 89, 170, 177, 182, 193, 203, 211–213, 273, 301 Hastedt 13 Hauser 223 Hausmann, R. 30 Hawking 145, 163 Hegel 20, 40, 55, 59, 74–76, 92, 156, 191, 194, 200, 208–211, 215–216, 228, 239, 241, 314, 322 Heidegger 27–28, 43, 82–83, 88, 95, 112, 115, 122–124, 205, 225, 239, 244, 249, 255–257, 259, 261–262, 269, 273, 287 Heimsoeth 43 Heine 231, 300 Heinemann, F. 82 Heisenberg 118, 147, 158–159, 168 Heller, B. 146, 201 Heller, M. 25 Helmholtz 141 Henrich 20, 49, 83, 88, 113 Hentig 317 Heraklit 236, 243 Herder 176 Herodot 285 Herz, M. 44 Heyde 97 Hilbert 40 Hillesum 284 Himmler 235, 284 Hiob 218, 232 Hippokrates 254 Hirsch 25 Hirschman 218 Hitler 235 Hobbes 37, 136, 303 Hoerster 41, 281 Höffe 41, 168 Hofmann 82 Hölderlin 27, 74 Homer 133 Honnefelder 16 Honneth 263 Horkheimer 68, 249, 284, 316

348

Hösle 13, 36, 41, 127, 131, 154, 301, 315, 321 Houellebecq 67 Humboldt, W. von 120 Hume 24, 37–38, 45–48, 62, 131, 168– 169, 199, 232, 240, 244, 270 Husserl 39, 45, 124, 262 Huxley, J. 138 Ibn Rusˇd 43, 243 Illies, C. 131, 154, 175, 236 Inglehart 66 Jacobi 74–75 Jaeger 31 James 82 Jantsch 152–155, 158 Jäsche 293 Jaspers 216, 224, 233, 239, 255–256, 273, 286 Jean Paul 74, 323 Jens 29 Jesus 19, 26, 207, 231, 234 Jonas 41, 136, 230–231, 234, 243, 251– 252 Jünger 273, 284 Kafka 101, 122 Kalb 265 Kamlah 63, 225, 250 Kanitscheider 145 Kant 12, 15, 17, 24, 33, 36–64, 71, 75, 82, 84, 89, 102, 114, 120, 124–125, 131– 133, 137, 151–153, 155–157, 159–164, 166–169, 171–176, 179, 181–182, 184, 188–191, 194, 196, 199–201, 203–208, 211–219, 223, 226, 229, 232, 235, 237– 238, 240, 244, 249–250, 257, 263, 269, 274, 280, 283, 285, 292–316, 319, 321 Keil 181 Kermani 230–232, 236 Kessler 231, 278 Kierkegaard 77–78, 219, 231, 322–323 Kim 46 King, M. L. 207 Klages 27, 81 Klein 238 Kleist 74

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Christian Thies

https://doi.org/10.5771/9783495998441 .

Register Koestler 90 Kohelet 218, 268 Kolakowski 21, 255, 257, 298 Kolbe 284 Kondylis 44, 48, 218–219 Konfuzianismus 242 Kopernikus 141, 145, 166 Korczak 284 Koselleck 249 Krämer 258 Kraus, W. 10, 257 Kreiner 234, 236, 282 Kübler-Ross 246 Kuhlen 16 Kuhn, H. 239 Künne 101 Kurzweil 68 La Mettrie 219 Laktanz 229–230 Lamarck 138, 250 Lambert 44 Langer 101, 106 Laplanche/Pontalis 238 Lask 82 Lassalle 138 Laszlo 153, 161 Lauth 93 Leibniz 62, 72, 137, 146, 158, 165, 229, 238, 240, 279–282, 308 Lenin 209 Lenz, S. 203 Lenzen, W. 183 Lerner 220, 305 Leslie 161 Lessing 303 Lethen 273 Lévi-Strauss 22, 134 Lévinas 256, 282 Linné 138 Locke 46, 131 Lorenz 165 Lorenzen 40, 63 Lotze 74, 270 Lovejoy 133–134 Löw 136 Löwith 86, 105 Lübbe 41, 99, 231, 294, 304

Ludendorff 249 Luhmann 263 Lukrez 162, 247 Lüth 142 Luther 65, 236, 303 Lütkehaus 48, 239, 265 Lyotard 28, 51 Macho 241 Machovec 25 Mackie 41, 160, 275, 301 Mahadevan 34 Maharshi 34 Mahler 29 Makkreel 51, 55 Malebranche 283 Malraux 261 Mandeville 218 Mani 137, 234 Mann, Th. 289 Mansfeld 166, 236, 243 Marc 29 Marc-Wogau 170 Marcel 264 Marcion 234 Marcuse, H. 276 Marquard 36, 55, 81, 105, 162, 201, 208, 225, 230, 282 Marx 41, 50, 68, 76–78, 87, 138, 195– 196, 276, 290, 311, 314–317 Marxismus-Leninismus 31–32 Maslow 66 Maturana 151–152 Maupertuis 137 Mayr 138, 147, 154, 162, 250 McDowell 41 Meggle 69, 83, 105 Melzack 265 Mendel 138–139 Menke 216 Merleau-Ponty 95, 266 Messiaen 29 Messner 206 Metz 230 Meyer, M. 273 Meyer-Abich 180 Miehl 236 Mitscherlich 275

A

Der Sinn der Sinnfrage

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Register Mohammed 85 Molière 80 Moltmann 231 Monod 142–143, 153 Montada 305 Montaigne 246 Moravec 68 Morris 270–271 Müller-Lyer 81

Pope 133, 137 Popper 39–40, 125, 264 Poser 150, 155 Pradines 269 Prigogine 148, 152 Probst 133 Puschkin 80 Puster 236 Putnam 41, 120 Pythagoras 146, 243

Nagel 83, 254 Napoleon 70, 191, 259 Natorp 82 Neiman 293 Newman, B. 29 Newton 137, 163–164, 279 Nietzsche 27–29, 41, 82, 88, 115, 167, 187, 205–208, 216, 219, 223, 232, 239, 264, 269–270, 272–275, 280, 283–284, 288, 300–301 Nikolaus von Cues 15 Novalis 71–72, 74 Nozick 83, 105, 108 Ockham 43 Oppermann 32 Ostwald 31 Paine 265 Paley 135, 138 Pascal 135, 181 Pauli 118 Paulus 135, 235 Peirce 168 Perlet 77 Pindar 26–27 Pinker 150 Planck 137, 197 Plantinga 230 Platon 16, 27, 40, 115, 133, 142, 156, 158, 195, 206, 217–220, 235, 237, 243, 246, 298–299, 313 Plessner 95, 141, 180, 257, 291, 321–322 Plotin 187 Podolsky 147 Pöhlmann 25 Polgar 285 Pölitz 293

350

Quine 22, 41, 62, 128, 148, 180 Rahner 236 Ratzinger 25–26, 195, 320 Rawls 41, 190, 201 Recki 308 Rees 154, 166 Reiner 83 Reininger 82 Rembrandt 25 Rensch 138, 149 Rentsch 256 Rickert 82 Ricoeur 126 Rilke 101, 241, 261 Rinser 29 Ritter 323 Robespierre 209 Robinet 161 Rorty 28, 41, 162 Rosen 147 Rousseau 137, 239, 312 Rüsen 105 Russell 37, 82, 191, 237 Sacks 266 Sade 219 Safranski 31 Saint-Just 202 Sartre 83, 87, 261–263, 267 Sauerbruch 269–270 Sauter 25 Savonarola 209 Schaeffler 224 Schaeppi 100, 107, 188, 225 Schäfer 148, 158 Scheibe 147

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Christian Thies

https://doi.org/10.5771/9783495998441 .

Register Scheler 41, 64, 189, 211–213, 232, 244, 274, 286, 288–289 Schelling 27–28, 40, 59, 156–158, 231 Scherer 224, 264 Schiller 29, 49, 96, 196 Schingnitz 31 Schiwy 143 Schlegel, A.W. 70 Schlegel, F. 72–73, 195, 210 Schleiermacher 24, 39, 73–74, 115, 123, 301 Schlick 197 Schmid 206, 255 Schmitz 303 Schnädelbach 13, 100, 120, 213 Scholz 57 Schondorff 31 Schopenhauer 16, 28–29, 62, 76, 78, 80, 82, 127, 157, 193, 200, 219, 223, 227, 269, 279–280, 285, 291, 299, 301, 322 Schröder, R. 25, 202 Schrödinger 147, 159, 164 Schwarz 297 Schweitzer 203 Seel 51, 120, 192–193, 223, 309, 323 Seibt 321 Shakespeare 69–70, 80 Sheldrake 161 Sidgwick 188 Siegel 29 Silesius 255 Simmel 25, 82, 87, 223, 255 Singer 41, 203 Smith 218, 304 Soboul 202 Söderbaum, K. 32 Sokrates 33, 80, 135, 207, 217, 322 Sommerfeld-Lethen 313 Sophokles 215, 285 Spaemann 41, 48, 136, 179, 267 Spinoza 16, 40, 46, 75, 136, 146, 163, 303 Spitzer 150 Stace 135 Stäudlin 293 Stegmüller 83, 116, 122, 143, 146, 161 Steiner, G. 317 Steiner, R. 31, 81

Steinvorth 145 Stendhal 232, 310 Stephan 164 Sternberger 256 Strauss, J. 98 Strawson 46–47 Streminger 238 Stückrath 75 Suzuki 35 Swift 260 Swinburne 160, 282 Sylvan 91 Tarkowski 29 Teilhard de Chardin 142–143 Teller 118 Tetens 301 Thales 27, 161 Theognis 285 Theunissen 26, 243 Thies 137, 141, 240, 306 Tieck, D. 70 Tieck, L. 70 Tillich 19, 25, 65 Tipler 68, 146 Todorov 284 Tolstoi 29, 69, 78–81, 192, 258–259, 287 Topitsch 22 Trendelenburg 36, 55 Tugendhat 83, 226, 258, 260, 321 Turgenjew 75–76 Uexküll 161, 268 Vaihinger 60 Varela 151–152 Varro 199 Vico 182 Vischer 215 Voltaire 72, 175, 218, 239, 312 Wackenroder 74 Wagner 29, 252 Watt 164 Weber 55, 65, 67–68, 97, 116, 167, 232– 233, 235–236 Weil 49 Weinberg 167

A

Der Sinn der Sinnfrage

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Register Weinrich 254 Weismann 250–251 Weizsäcker, C.F. v. 34–35, 118, 137, 146– 148, 158, 209, 251, 279, 298 Weizsäcker, V. v. 271 Wenke 269–270 Wessels 69, 105 Wetz 201 Wheeler 145–146 Whitehead 40, 158 Wieland 70 Wilber 90, 122, 153, 286 Wilhelm, R. 94 Wille 81 Williams 247 Wimmer 302, 313 Wittgenstein 22, 26, 55, 93, 114, 119, 125, 208, 239, 257, 260–261

352

Wittwer 250, 298 Wohlfart 244 Wolff 43 Wollschläger 253 Xenophon 135 Yalom 274, 320 Zanetti 161 Zarathustra 234 Zhuangzi (Dschuang Dsi) 244 Ziegelmann 163 Zimmer 34–35 Zorn 232 Zuckmayer 30

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Christian Thies

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