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German Pages 266 Year 2014
Jürgen Straub (Hg.) Der sich selbst verwirklichende Mensch
Band 12
Editorial Globalisierung erfordert neue kulturelle Orientierungen. Unterschiedliche Traditionen und Lebensformen ringen weltweit um Anerkennung und müssen sich den Erfordernissen einer universellen Geltung von Normen und Werten stellen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der menschlichen Welt- und Selbstdeutung müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer neuen Besinnung auf das Menschsein des Menschen: in seiner anthropologischen Universalität, aber auch in seiner Verschiedenheit und Wandelbarkeit. Die Reihe Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung ist einem neuen Humanismus verpflichtet, der Menschlichkeit in seiner kulturellen Vielfalt in sich aufnimmt und als transkulturell gültigen Gesichtspunkt im Umgang der Menschen miteinander in den Lebensformen ihrer Kulturen zur Geltung bringt. Die Reihe wird herausgegeben von Jörn Rüsen (Essen), Chun-chieh Huang (Taipeh), Oliver Kozlarek (Mexico City) und Jürgen Straub (Bochum), Assistenz: Henner Laass (Essen). Wissenschaftlicher Beirat: Peter Burke (Cambridge), Chen Qineng (Peking), Georg Essen (Nijmegen), Ming-huei Lee (Taipeh), Erhard Reckwitz (Essen), Masayuki Sato (Yamanashi), Helwig Schmidt-Glintzer (Wolfenbüttel), Zhang Longxi (Hongkong)
Jürgen Straub (Hg.)
Der sich selbst verwirklichende Mensch Über den Humanismus der Humanistischen Psychologie
In Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, dem Institute for Advanced Studies in Humanities and Social Sciences, National Taiwan University, und der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen.
Humanismus in der Epoche der Globalisierung – Ein interkultureller Dialog über Menschheit, Kultur und Werte gefördert von der Stiftung Mercator
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Jürgen Straub Satz: Jessica Niestegge Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1699-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Humanistische Psychologie als wissenschaftliche Macht zur Optimierung des Menschen. Ein Vorwort Jürgen Straub | 7 Wissenschaftliche Psychologie als Humanismus? Rekonstruktion eines hybriden Programms zur Errettung der modernen Seele Jürgen Straub | 15 Humanistische Psychologie: Über einige ihrer expliziten und impliziten Annahmen über den Menschen und die Wissenschaft vom Menschen Alexander Kochinka | 69 Individualismus und soziale Verantwortung: Kontroverse Tendenzen in der Humanistischen Psychologie Helmut Johach | 85 Von der Fragmentierung zum kreativen Feld: Die humanistische Vision als Gegenentwurf zur Kultur des Neuen Kapitalismus Olaf-Axel Burow | 121 Humanismus als Kritik: Erich Fromms „homo negans“ und die schöpferische Liebe in der humanistischen Psychoanalyse Oliver Kozlarek | 153 Ist die Humanistische Psychologie ein Existentialismus? Eine exemplarische Abgrenzung Jürgen Straub | 179
Neuer Biss. Mundpflege für die Humanistische Psychologie des 21. Jahrhunderts Jürg G. Kollbrunner | 199 Der Humanismus im Zeitalter seiner Widerlegung durch die Weltlage. Konturen einer post-humanistischen Psychologie Thomas Slunecko | 233 Autorenverzeichnis | 261
Humanistische Psychologie als wissenschaftliche Macht zur Optimierung des Menschen Ein Vorwort J ÜRGEN S TRAUB In geringerer Zeit, als es ihn gekostet hätte, alle Auktionshäuser der Welt nach einem Lieblingsspielzeug seiner Kindheit zu durchkämmen, stößt er auf die Bewegung für Positive Psychologie. Noch eine Massenbewegung, von der er nie etwas gehört hat. Eine empirische Wissenschaft vom Glück – warum nicht? Und ein internationales Phänomen – aber was ist das heutzutage nicht? Nachdem man Jahrhunderte untersucht hat, was in unseren Köpfen alles falsch laufen kann, beschäftigt sich die Psychologie endlich damit, wie es richtig laufen könnte. RICHARD POWERS 2009
Die zeitgenössische Psychologie gehört zu jenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, welche das praktische Selbst- und Weltverhältnis einer rapide wachsenden Anzahl von Menschen zutiefst geprägt haben und weiterhin bestimmen. Es ist den Angehörigen moderner Gesellschaften heute kaum mehr möglich, ein Bild ihrer
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selbst zu zeichnen, das gänzlich ohne die Sprache der Psychologie auskommt. Wir alle verständigen und verstehen uns, ob wir dies nun wissen und wollen oder nicht, mehr oder weniger mit psychologischen Mitteln und Methoden. Zumindest irgendwelche ‚Fetzen‘ aus dem weitläufigen Vokabular der Psychologie sind allgemein verfügbar. Psychoanalytische Termini wie „Verdrängung“ oder „Projektion“, „Identifikation“ oder „Identität“ führen längst ein Eigenleben in den Alltags- und Bildungssprachen der Welt – auch wenn die allermeisten wohl nicht so ganz genau wissen dürften, was sie denn eigentlich meinen, wenn sie diese theoretischen Begriffe im Munde führen oder einen „Freudschen Versprecher“ diagnostizieren. Solche Beispiele gibt es zuhauf. Auch die allseits bekannte Beschwörung von Werten wie „Authentizität“ oder Zielen wie „Selbstverwirklichung“ gehört in diesen Zusammenhang. Ohne die zeitgenössische Psychologie wären auch solche ‚klingenden Wörter‘ heutzutage nicht recht verständlich. Selbstverständlich ist die wissenschaftliche Psychologie in der Öffentlichkeit und der alltäglichen Praxis der ‚psychologisierten‘ und ‚psychologisierenden Laien‘ nicht in Gestalt stringenter Theorien, kohärenter Terminologien, präziser Methoden und klar geregelter Techniken präsent. Wie andere Wissenschaften kursiert auch die Psychologie in zahllosen popularisierten Versatzstücken und trivialisierten Formen. Die Massenmedien haben ihre Verbreitung seit den 1960er Jahren enorm beschleunigt und befördert. Auf einschlägige Schlagwörter trifft man beinahe an jeder Ecke. Sogar psychologisch angeleitete ‚Selbstthematisierungen‘ in beliebiger Ausführlichkeit sind heute gängige Angebote in den Massenmedien. Meist werden sie in den dramatisierten, emotionalisierten und das Publikum affizierenden Varianten der theatralischen Selbstinszenierung und narzisstischen Nabelschau, der hemmungslosen Selbstentblößung oder gnadenlosen Selbstanklage dargeboten. Auch psychologisch beobachtete und begleitete Beziehungs- und Gruppenkonflikte aller Art flimmern längst über die Bildschirme und Leinwände. Ihr großer Wiedererkennungsund Unterhaltungswert sichert hohe Einschaltquoten. Was gesehen und gehört wird, bestätigt und bekräftigt die ohnehin schon allgegenwärtige psychologische Perspektive. Bis auf weiteres wird man sagen dürfen: ad infinitum. Der psychologische Blick auf das eigene Selbst und seine Beziehungen zu anderen scheint mittlerweile unausweichlich. Niemand vermag sich ihm ganz zu entziehen, und kaum jemand betrachtet sich
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und die anderen gänzlich abseits von popularisierten psychologischen Diskursen. Das gilt jedenfalls für die große Mehrheit in den modernen Gesellschaften der sogenannten westlichen Welt – was nicht erstaunt, ist die Psychologie, von der hier die Rede ist, doch im Wesentlichen eine Errungenschaft Europas und Nordamerikas. Einflüsse aus anderen Weltengegenden und vermehrter kultureller Austausch, zunehmende interkulturelle Kommunikation und Kooperation auch in diesem Feld ändern daran einstweilen nur wenig. Wir alle verständigen und verstehen uns, ob wir dies nun wissen und wollen oder nicht, mehr oder weniger mit psychologischen Mitteln und Methoden. Wir reden über uns und unsere Beziehungen in der globalisierten Sprache einer vielgliedrigen Psychologie, die vor gut einhundert Jahren mit einem höchst ambitionierten, sich kontinuierlich ausdifferenzierenden und machtvoll ausweitenden Programm zur „Errettung der modernen Seele“ (Illouz 2009) angetreten ist. Der Siegeszug dieser Wissenschaft ist verblüffend. Man mag ihn begrüßen, verdammen oder gleichgültig hinnehmen. Er ist jedenfalls eine Tatsache.1 Die Humanistische Psychologie trug maßgeblich, zeitweise entscheidend zum Siegeszug dieser Wissenschaft bei, die stets auch
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Just um die Erklärung dieser Tatsache bemüht sich die zitierte kultursoziologische Studie von Eva Illouz (2009). Die Autorin ist dabei bemüht, ihre komplexe, faszinierende Erklärung möglichst wertfrei anzulegen. Sie versucht also, auf gesellschafts- und kulturkritische Interventionen und Invektiven zu verzichten und die Warte vindizierter Überlegenheit, wie sie für die selbsternannten Aufklärer aus Philosophie und Humanwissenschaften durchaus typisch ist, zu meiden – so gut es eben geht. Das gelingt ihr allerdings nicht immer ganz, was jedoch keineswegs zum Schaden der Sache ist. Man merkt schon hie und da (insbesondere im letzten Drittel des Buches), dass der Autorin die im eigenen Interesse operierende Psychologie und die omnipräsente Psychologisierung des menschlichen Lebens ein wenig gegen den Strich geht. Sie zeigt zwar keine Alternative zu der (in den komplexen, dynamisierten und individualisierten Gesellschaften des flexibilisierten Kapitalismus wohl funktionalen, vielleicht sogar notwendigen) „Errettung der modernen Seele“ auf. Illouz streut aber schon ihre Zweifel an diesem eigenartigen Projekt und seinen ambivalenten Erfolgen (die von den Anfängen der Psychoanalyse und anderen Psychologien und Psychotherapien über den Psychoboom bis hin zum PsychoPop unserer Tage reichen).
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anderes im Sinn hatte als hehre Erkenntnisse. Sie hatte sich von Anfang an und ganz besonders auch als Humanistische Psychologie einem praktischen Programm verschrieben, das entschieden und voller Optimismus auf die Optimierung des Menschen setzte.2 Dabei stützte und bezog sie sich, wie ihr Name schon sagt, auf die schillernde Tradition des Humanismus. Darum geht es im vorliegenden Band. Die Beiträge versuchen sich – aus ganz verschiedenen Perspektiven – an einer Rekonstruktion der seit zwei, drei Jahrzehnten in den Hintergrund und bereits ein wenig in Vergessenheit geratenen Humanistischen Psychologie. Sie erinnern daran, dass es in der Psychologie des 20. Jahrhundert eine einst durchaus machtvolle humanistische Bewegung gegeben hat, die in der Wissenschaft und – vor allem – in der beruflichen und privaten Praxis zahlloser Menschen deutliche Spuren hinterlassen hat. Sie zeichnen ein facettenreiches Panorama der Humanistischen Psychologie einst und heute und fragen nach ihrem Humanismus – mitunter genauer und beharrlicher, als es berühmte und weniger bekannte Vertreterinnen und Vertreter dieser psychologischen Strömung jemals taten. Sie verhalten sich teils affirmativ und apologetisch, teils skeptisch und kritisch gegenüber der Humanistischen Psychologie. Manchmal verbinden und integrieren sie diese Einstellungen. Die Beiträge beleben und bereichern unsere Erinnerung an diese sogenannte „dritte Kraft“ in der modernen Psychologie (die vor gut einem halben Jahrhundert von ihren Erfinderinnen und Erfindern strategisch gegen die Psychoanalyse und den Behaviorismus in Stellung gebracht wurde). Sie fragen teilweise auch nach unabgegoltenen Potentialen der Humanistischen Psychologie (oder einer näher zu bestimmenden humanistischen Orientierung in der heutigen Psychologie). Dabei ist klar, dass solche Potentiale nicht einfach brach liegen und umstandslos mobilisiert werden können, indem man dem kollektiven Gedächtnis auf die Sprünge hilft. Die Humanistische Psychologie war und ist eine vielfältige und durchaus zwiespältige An-
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Zu diesem machtvollen Programm, das heute neben der Psychologie vor allem von den biologisch fundierten Lebenswissenschaften reformuliert, radikalisiert und sukzessive verwirklicht wird, vgl. den von Anna Sieben, Katja Sabisch-Fechtelpeter und Jürgen Straub (2012) in derselben Buchreihe herausgegebenen Band „Menschen machen. Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme“.
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gelegenheit. Für sie gilt, was auch auf ‚den‘ Humanismus im Allgemeinen zutrifft: Nicht alles, was in seinem Namen ausgedacht und vollbracht worden ist, verbuchen wir heute einfach als Gewinn und Bereicherung. Wer sich seiner verzweigten Tradition erinnern möchte und aus ihr lernen will, kommt um Revisionen und Reinventionen nicht herum. Bevor derartige Erneuerungen versucht werden können, bedarf es verlässlicher, tragfähiger Rekonstruktionen der Geschichte und Gegenwart. Was die Humanistische Psychologie angeht, soll der vorliegende Band dazu beitragen. Das Buch ist ein Teilergebnis eines breit angelegten Forschungsprojektes mit dem Titel Der Humanismus in der Epoche der Globalisierung – Ein interkultureller Dialog über Kultur, Menschheit und Werte. Das von Jörn Rüsen initiierte, im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen angesiedelte und von der Stiftung Mercator großzügig geförderte Unternehmen bearbeitete ganz unterschiedliche Themen. Bislang kamen psychologische Fragen und die Psychologie als eine vielfältig institutionalisierte Wissenschaft und professionelle Praxis allenfalls ganz am Rande vor. Das ändert sich mit einem Buch, das sich einer psychologischen Strömung oder ‚Schule‘ widmet, die den Prädikator „humanistisch“ in programmatischer Absicht in den Eigennamen aufgenommen hat. Diese Psychologie wollte die wissenschaftliche Erfahrungs- und Erkenntnisbildung von vorneherein nicht als praktisch folgenlose l’art pour l’art begreifen und betreiben, ganz im Gegenteil. Sie startete mit einem heute doch etwas grandios erscheinenden Programm. Sie wollte nichts weniger, als der Menschheit einen Weg aus der Misere weisen. Sie trat mit einem wahrlich verheißungsvollen Versprechen auf die Bühne einer von Konflikten und Krisen geplagten Welt. Sie kündigte an, ganz im Sinne der oben erwähnten Optimierung des Menschen, nichts weniger als einen neuen Menschen zu formen. Dies sollte auf dem fruchtbaren Boden einer neuen Psychologie gelingen, die als eine dezidiert „positiv“ eingestellte Unternehmung konzipiert war. Als solche wollte die Humanistische Psychologie – anders als die um Defizite, Störungen oder Krankheiten besorgte Psychologie vorangegangener Zeiten – an den faszinierenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, insbesondere an den kreativen Potentialen und keineswegs schon ausgeschöpften Möglichkeiten des Menschen ansetzen. Anders, als es im Roman von Richard Powers (2009) steht, ist diese „positiv“ eingestellte Psychologie nicht erst um das Jahr 2000 herum auf-
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getaucht (wie aus dem Nichts). Sie hat ihre Wurzeln in der Humanistischen Psychologie (wenngleich deren Intentionen von der exzessiv kommerzialisierten, propagandistisch vermarkteten „Positiven Psychologie“ der jüngsten Zeit doch ein gutes Stück weit entfernt waren und sind). Das vorliegende Buch entstand auf der Grundlage eines intensiven Austauschs im Rahmen eines interdisziplinären Symposiums zum Thema „Der Humanismus der Humanistischen Psychologie. Wurzeln, Wesen und Wirkungen der ‚Third Force‘ in der internationalen wissenschaftlichen Psychologie des 20. Jahrhunderts“. Ich danke allen, die an dieser Veranstaltung im Haus Villigst in Schwerte (Tagungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft) vom 9. bis zum 11. Juni 2008 teilgenommen haben. Mein Dank gilt auch jenen Autorinnen und Autoren, die sich im Nachhinein an die Arbeit machten und Beiträge zu einer Publikation beigesteuert haben, die dem im Anfangsstadium befindlichen Forschungsprogramm zum Thema „Optimierungen und Normierungen des modernen Menschen“ an der RuhrUniversität Bochum auf die Sprünge helfen soll.3 Jessica Niestegge und dem von ihr mit Bravour koordinierten Redaktionsteam (Clemens Bien, Monique Kaulertz, Anna-Eva Nebowsky und Pascal Schien) bin ich für die Zuverlässigkeit und unermüdliche Einsatzbereitschaft sehr verbunden. Mein besonderer Dank gilt Frau Birgit Klöpfer vom transcript Verlag, die uns durch ihre professionelle Kompetenz und einen ganz außergewöhnlichen persönlichen Einsatz dabei unterstützt hat, binnen einer Woche mehrere Bände druckfertig zu machen. Dass dies möglich war, verdanken wir nicht zuletzt dem Verlag selbst, der auf meine Verzögerungen flexibel und generös reagierte. Bochum und Pisa, immer wieder seit 2008 Der Herausgeber
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Dieses Forschungsprogramm ist in einer im Aufbau befindlichen, interdisziplinären „Expanding Profile Area“ zum Thema „Anthropological Knowledge“ platziert; siehe hierzu die Website des „CAS – Center for Anthropoetic Studies“ der Ruhr-Universität Bochum: http://staff.germa nistik.rub.de/cas/.
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L ITERATUR Illouz, Eva (2009): Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (amerikanisches Original: Saving the Modern Soul. Therapy, Emotions and the Culture of Self-Help, Berkeley, Los Angeles/ CA: University of California Press 2008). Powers, Richard (2009): Das größere Glück, Frankfurt a.M.: Fischer (amerikanisches Original: Generosity. An Enhancement, New York: Farrar, Straus and Giroux 2009). Sieben, Anna/Sabisch-Fechtelpeter, Katja/Straub, Jürgen (Hg.) (2012): Menschen machen. Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme, Bielefeld: transcript.
Wissenschaftliche Psychologie als Humanismus? Rekonstruktion eines hybriden Programms zur Errettung der modernen Seele J ÜRGEN S TRAUB Eigentlich müsste es am College Seelenklempner geben oder wie auch immer der neueste Euphemismus für diesen Beruf lautet. Er findet sie mühelos: Zentrum für psychologische Dienste. Auf dem Bildschirm wirkt es wie eine Genossenschaftsbank. Jeder Berater hat eine eigene Seite, die potentielle Klienten anschauen können. RICHARD POWERS 2009: 98
D IE A USGANGSFRAGE IM D ICKICHT VERSCHLUNGENER T RADITIONSLINIEN : D IE EIGENTÜMLICHE V ORGESCHICHTE DER H UMANISTISCHEN P SYCHOLOGIE Wer nach dem Humanismus der Humanistischen Psychologie fragt, wird keine schnelle und einfache Antwort erhalten. Er (oder sie) potenziert vielmehr die Komplikationen, die der Begriff des „Humanismus“ ohnehin mit sich führt (vgl. Cancik 1993, 2003, 2009). Die nach dem Selbstverständnis ihrer Vertreter als „dritte Kraft“ oder „dritter Weg“ vor gut einem halben Jahrhundert in Konkurrenz zur Psycho-
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analyse und zum Behaviorismus getretene Strömung in der modernen Psychologie macht einem die geistes- und ideengeschichtliche, speziell die wissenschaftshistorische Verortung nicht eben leicht. In den Schriften prominenter Begründer1 dieser bis heute noch präsenten,
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In der Literatur fallen teilweise verschiedene Namen, wenn es darum geht, die wichtigsten Gründerfiguren und bedeutendsten RepräsentantInnen der Humanistischen Psychologie zu nennen. Als wichtiger Denker im unmittelbaren Vorfeld und noch in den ersten Jahren der Humanistischen Psychologie gilt manchen Kurt Goldstein (1878-1965), der im Feld der Biologie, Psychosomatik, Neuropsychologie und Gestaltpsychologie (in enger Kooperation insb. mit Adhémar Gelb) bzw. der Gestalttheorie arbeitete und der auch zum ersten Editorial Board des 1961 erstmals erschienenen „Journals of Humanistic Psychology“ (JHP) zählte (u.a. neben Andras Angyal, Erich Fromm, Rollo May, Clark Moustakas und Lewis Mumford). Die offizielle Website der „Association of Humanistic Psychology“ (AHP) führt heute folgende Personen als Early Innovators an (in dieser Reihenfolge, ergänzt um ausgewählte Arbeitsschwerpunkte): Abraham Maslow (1908-1970; Motivationspsychologie/Psychologie des Selbst, Transpersonale Psychologie), Carl Rogers (1902-1987; Personenzentrierte
Psychologie,
Gesprächspsychotherapie,
Psychotherapiefor-
schung u.a.), Virginia Satir (1916-1988; Familientherapie), Friedrich Salomon „Fritz“ Perls (1893-1970; Gestalttherapie), Irvin Yalom (*1931; Existenzielle Psychotherapie, Gruppenpsychotherapie), Charlotte Bühler (1893-1974; Entwicklungspsychologie, Lebenslauf-/Biographieforschung), Rollo May (1909-1994; Existenzielle Psychologie/Psychotherapie), James Frederick Taylor Bugental (1915-2008; Theorie der Humanistischen Psychologie, Existenziell-humanistische Psychotherapie), Eleanor Criswell Hanna (ohne Geburtsdatum; Psycho-/Somatik, Biofeedback, Yoga), Victor Frankl (1905-1997; Existenzanalyse, Logotherapie). Diese Liste, in der kein Unterschied zwischen Humanistischer Psychologie und Existenzpsychologie gemacht wird, ist keineswegs allgemein üblich. Manche der angeführten Namen (z.B. Eleanor Criswell Hanna, Viktor Frankl) fallen anderswo kaum; andere ansonsten oft genannte Repräsentanten der Humanistischen Psychologie sucht man hier vergeblich (z.B. Ruth Cohn, die Begründerin der Themenzentrierten Interaktion, oder Laura Perls, die mit ihrem Mann und anderen Männern der ersten Stunde eng zusammenarbeitete, aber auch einige etwas ‚entferntere‘ Verwandte der Humanistischen Psychologie wie etwa Erich Fromm oder Karen Horney werden
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wenngleich ein wenig verblassten und verwelkten Spielart der Psychologie des 20. Jahrhunderts finden sich zwar zahlreiche Hinweise auf ihre vermuteten Wurzeln, ihre bedeutenden Vorläufer und inspirierenden Wegbereiter. Es mangelt aber durchweg an systematischen Analysen, die tatsächlich um den sorgfältigen Nachweis genealogischer und sachlicher Beziehungen zwischen den jeweils angeführten Vorläufern und angeblichen Verwandten auf der einen, der Humanistischen Psychologie auf der anderen Seite bemüht wären.2 Das ist angesichts ihrer zeitweise durchaus beachtlichen Präsenz in der akademischen (vor allem nordamerikanischen) Psychologie sowie ihres enormen praktischen Einflusses in Gesellschaften, in denen ein erweiterter und geschärfter, alles durchdringender psychologischer Blick auf die Individuen und ihre sozialen Beziehungen zum wesentlichen Bestandteil eines umfassenden kulturellen Programms zur „Errettung der modernen Seele“ (Illouz 2009) wurde, bemerkenswert, ja erstaunlich. Wenn man wissen möchte, aus welchen ‚humanistischen‘ Quellen die Humanistische Psychologie schöpft, sieht man sich unversehens in allerlei Aufzählungen von Personen, Positionen oder Schu-
nicht erwähnt; zu Fromm siehe den Beitrag von Oliver Kozlarek, in diesem Band); vgl. z.B. DeCarvalho (1991), Quitmann (1985). Die vielen Namen von Personen und speziellen Ansätzen zeigen im Übrigen bereits an, dass es ‚die‘ Humanistische Psychologie als eine homogene Einheit mit einem allgemein anerkannten und klaren (thematischen, meta-/theoretischen, methodischen) Profil nicht gibt. 2
Dies gilt für alle mir bekannten Studien, auch für differenziert angelegte, umfangreiche und hohe Ansprüche stellende Arbeiten wie diejenige von Quitmann (1985) oder DeCarvalho (1991); vgl. weiterhin etwa: Bühler/ Allen (1987), Schaffer (1978), Misiak/Sexton (1973), Moss (1999), Völker (1980), Welch/Tate/Richards (1978); auf das voluminöse Standardwerk „The Handbook of Humanistic Psychology“ (Schneider/Bugental/Pierson: 2001) komme ich noch eigens zu sprechen. – Erst recht trifft der formulierte Befund auf (manchmal ziemlich hagiographisch wirkende) Publikationen zu, in denen prominente Figuren der Humanistischen Psychologie, ihre Leben und Werke gewürdigt werden. Freilich nehmen solche Schriften, die mitunter auch nicht in Fachverlagen erschienen und an ein Fachpublikum adressiert sind, wissenschaftliche Ansprüche manchmal ganz bewusst gar nicht so ernst. Das ist für populärwissenschaftliche Literatur selbstverständlich legitim.
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len verheddert. Die Phänomenologie und der Existentialismus3 werden besonders gerne genannt (meistens ohne nähere Begründung und sachdienliche Erläuterung), aber auch alle möglichen anderen Referenzen sind anzutreffen. So sieht z.B. Siegfried Preiser (1982: 44) in einem auf die Rolle der experimentellen Methodik fokussierten Beitrag zu Kindlers enzyklopädischer „Psychologie des 20. Jahrhunderts“ die Humanistische Psychologie zunächst einmal als Nachfolger der „geisteswissenschaftlichen“ oder „verstehenden Psychologie“ (eines Willhelm Dilthey, Eduard Spranger u.a.). Sodann rückt er sie noch in eine wahrlich vielfältige Tradition, in der sich neben der etwas verrufenen deutschen Charakterologie (eines Phillip Lersch oder Albert Wellek etwa, die beide in das nationalsozialistische System verstrickt waren) auch die philosophische und psychologische Phänomenologie findet.4
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Zum Verhältnis zwischen Humanistischer Psychologie und Existentialismus siehe meinen zweiten Beitrag in diesem Band („Ist die Humanistische Psychologie ein Existentialismus?“).
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Für den zuletzt genannten Ansatz stand in der deutschen Psychologie lange Zeit der Name Carl Friedrich Graumann Pate (vgl. Graumann/Métraux 1977); zum Überblick über den damaligen Stand der Diskussion nennt Preiser die Bücher von Spiegelberg (1960) und Strasser (1964); vorbereitet hätten diese Strömung, so Preiser, Franz Brentano und sogar William James, womit auch noch der amerikanische Pragmatismus mit von der Partie ist! Neuere Bestandsaufnahmen und Ansätze finden sich bei: Giorgi (2009), Langdridge (2006); informativ sind – nicht zuletzt im Hinblick auf die erheblichen Differenzen zwischen Phänomenologischer und Humanistischer Psychologie – die Beiträge im 1970 gegründeten „Journal of Phenomenological Psychology“ (JPP). Wie weit die Humanistische Psychologie auch von den (ihrerseits heterogenen) Ansätzen der traditionellen geisteswissenschaftlichen Psychologie entfernt ist, zeigt bereits die im gleichen Band wie Preisers Beitrag abgedruckte Abhandlung Graumanns (1982) zum Begriff des Verstehens. Mit verstehenden oder interpretativen Konzeptionen psychologischer Forschung, wie sie in der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgearbeitet wurden (nicht zuletzt unter dem Einfluss neuerer Entwicklungen in der Soziologie, Sozial- und Kulturanthropologie; ein Ende ist nicht in Sicht), hatte und hat die Humanistische Psychologie wohl noch weniger gemeinsam. Alexander Kochinka (in diesem Band) ist verständlicherweise darüber irritiert, dass sich die Humanistische Psychologie keineswegs zu einem innovativen Vorreiter
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Die kompakte Zusammenstellung angeblicher Vorkämpfer, Vordenker und Geistesverwandter der Humanistischen Psychologie hat auch bei Preiser lediglich einen vagen und schwachen gemeinsamen Nenner: Neben der scharfen Kritik und womöglich der Ablehnung der experimentellen Methode sowie der komplementären Berufung auf „Verstehen, Einfühlung und Intuition“ (Preiser 1982: 44; was immer das genau sein möge) ist das im Wesentlichen ein anti-objektivistisches, nicht zuletzt normatives Plädoyer für die „Sinnhaftigkeit“ des menschlichen Lebens sowie die „Aufrechterhaltung von Wert und Würde des Menschen“ (womit die wichtigsten Stichworte für eine gerade auch moralische Diskreditierung der Opponenten der Humanistischen Psychologie genannt wären; ich komme darauf zurück).5
bei der Entwicklung qualitativer (interpretativer, rekonstruktiver, verstehender) Methoden hat aufschwingen können (oder wollen). Das ist bis heute so. Die „dritte Kraft“ ist übrigens nicht nur in methodischer Hinsicht oft meilenweit von ihren angeblichen Vorläufern und Verwandten, Wegbereitern und Wegbegleitern entfernt, sondern auch (meta-)theoretisch. 5
Die ethisch-moralische und im weitesten Sinne politische Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Kontrahenten war in den 1960er Jahren keineswegs eine bloße Nebensächlichkeit. Das galt schon in der Zeit davor, in der gerade auch in der nordamerikanischen Psychologie – die nicht zuletzt von europäischen Immigranten mit vorangetrieben wurde – die Erinnerung an totalitäre Systeme und exzessive kollektive Gewalt, vor allem an den Nationalsozialismus und die Shoah, sehr wichtig für die Auswahl und Bearbeitung ‚gesellschaftlich relevanter‘ Forschungsthemen waren. Man denke nur an die berühmten Studien zu Autoritarismus, Gehorsam oder Konformität, allen voran an die bahnbrechenden Untersuchungen eines Stanley Milgram. Die Humanistische Psychologie attackierte die wissenschaftlichen Gegner auch in einem Kampf um weltanschauliche Standpunkte und ein nach ihrer Auffassung allgemein konsensfähiges, zukunftsweisendes Menschenbild. Der Lieblingsgegner war natürlich der Behaviorismus und sein „Ratte in King Size“-Modell des „Konditionierungsobjekts Mensch“. Henrich Balmer (1982: 98) hat sicherlich Recht, wenn er Bugentals (1967: 6) polemische Auslassungen über eine Masse träger und tröger Menschen, die von einer auserlesenen (und natürlich selbsternannten) Schar „oligarchisch“ operierender Wissenschaftler ins gruselig-utopische Paradies einer technokratisch organisierten Gesellschaft behavioristischer Provenienz versetzt werden, als Kritik der
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In der Regel sind die Verweise, die den Hintergrund und Horizont der Humanistischen Psychologie beleuchten sollen, noch vielfältiger und wachsen sich dann schnell zu regelrechten Sammelsurien aus. Solche Ansammlungen illustrer Namen muten fast immer wie subjektive Assoziationsketten an, deren Autoren einige Sternstunden der (vor allem) europäischen Geistesgeschichte Revue passieren lassen. Auf Resultate eingehender Analysen geistes-, ideen- oder wissenschaftsgeschichtlicher Zusammenhänge trifft man dagegen in den seltensten Fällen. Ein Beispiel6 bietet die folgende Ahnenreihe, die Mihaly Csikszentmihaly (2001) zusammengestellt hat, um an wichtige Geistesverwandte der Humanistischen Psychologie zu erinnern.7 Dieser (durchaus kritische) Wegbegleiter schreibt in seinem Vorwort zum renommierten „Handbook of Humanistic Psychology“, die third force habe Einsichten von Friedrich Nietzsche, William James, Søren Kierkegaard, Albert Camus, Lev Semënoviþ Vigotsky und zu guter Letzt sogar von Federico Fellini verarbeitet und ins eigene System
totalitären Phantasien eines Burrhus Frederic Skinner liest. Barmer pflichtet dieser „humanistischen“ Attacke auf den behavioristischen Antihumanismus par excellence bei und bezieht dabei gleich noch Watsons (1930: 295) frühzeitigen Spott über die „Verfechter der freien Rede“ und sonstige Kuriositäten aus dem idealistischen Kabinett des antiquierten Humanismus mit ein. Zum Antihumanismus des amerikanischen Behaviorismus, der in diesem Punkt durchaus Nietzscheanischen Geist atmete und außerdem ein grandioser Vorläufer sowie wirklich enger Verwandter des französischen (Post-)Strukturalismus war (was gerne und geflissentlich übersehen wird; vgl. Straub 2010). 6
Weitere Exempel finden sich sehr leicht im World Wide Web auf fast allen Internetseiten der einschlägigen Gesellschaften, Verbände oder sonstigen Organisationen für Humanistische Psychologie.
7
Csikszentmihaly war seinerzeit Senator im Bundestaat Kalifornien – und er stand dereinst wie viele prominente Leute (nicht zuletzt aus Politik und Wirtschaft) unter dem ganz offen bekannten Einfluss charismatischer und schon berühmter humanistischer Psychologen (viel seltener von Psychologinnen). Auch Csikszentmihaly lernte von ihnen nach eigener Aussage so manches. Er erwarb neben wissenschaftlichem Wissen auch eine psychologisch fundierte Weltanschauung, die man zuallererst für sich und die Formung des eigenen sozialen Lebens unmittelbar nutzbar machen konnte.
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integriert. Wie und wo genau das geschehen sei – vielleicht sogar systematisch – und woran sich die Spuren dieser keineswegs rundum ‚kompatiblen‘ Denker erkennen lassen, erfährt man indes nicht. Das ist kein Einzelfall. Es ist typisch und symptomatisch. Diese Tatsache hat über Jahrzehnte hinweg nichts daran geändert, dass humanistische Psychologinnen und Psychologen eisern daran festhalten, ihr Denken stehe in dieser oder jener geistes-, ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Tradition und setze sie in produktiver Weise fort. Diese Berufung auf scheinbar klar identifizierte Traditionen und Positionen bleibt selbst dann erstaunlich, wenn man anerkennt, dass das Überkommene und Übernommene im Prozess des Austauschs und der Aneignung niemals nur fortgeschrieben werden kann, sondern stets in (mehr oder weniger) kreativer und origineller Weise ‚umgeschrieben‘, in der einen oder anderen Weise also verändert werden muss. Tradierungen sind immer an komplexe Übersetzungsleistungen gekoppelte Transformationen und Transitionen. Wie sprachpragmatische Theorien der (Kultur-)Übersetzung nahelegen, sind Überlieferungen stets auch Übergänge vom Alten zum Neuen. Eine als bloße Bewahrung und Reproduktion des Bestehenden verlaufende Tradierung gibt es nicht (vgl. Auerochs 2004; Renn/ Straub/Shimada 2002). Im Fall jener Traditionen jedoch, in deren Strom sich die Humanistische Psychologie selbst stellt, sind die Unterschiede und Widersprüche häufig so groß (und so evident), die Gemeinsamkeiten dagegen so klein (und so vage), dass die Rede von Vorläufern und Wegbereitern oder Wurzeln und Quellen der „dritten Kraft“ in der modernen Psychologie des 20. Jahrhunderts oftmals reichlich nebulös bleibt. Manches erscheint sogar an den Haaren herbeigezogen (wie etwa Federico Fellini, der als Ahnherr und Inspirationsquelle ‚der‘ – meistens ohnehin ungebührlich homogenisierten – Humanistischen Psychologie wahrlich nicht so recht taugt). Dies gilt für viele psychologische ebenso wie für weitere wissenschaftliche Traditionen, für philosophische oder weltanschauliche Strömungen (europäische und außereuropäische bzw. ‚nicht-westliche‘, auf die ich im Folgenden nicht näher eingehe). Die gestellte Diagnose mag für manche Varianten der Humanistischen Psychologie mehr, für andere weniger zutreffen. Die „dritte Kraft“ ist auch in dieser Hinsicht keineswegs eine homogene Einheit (Taylor/Martin 2001). In so gut wie allen Fällen ist jedoch, dabei kann man bleiben, die diagnostizierte Lücke erheblich. Wer wissen möchte, woher der
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Humanismus der Humanistischen Psychologie denn eigentlich kommt und worin er besteht, wird schnell ratlos. Bisweilen sind die gängigen Referenzen so zahlreich, dass die Humanistische Psychologie, diese zur Mitte des 20. Jahrhunderts auftauchende „positive“ Psychologie (s.u.), am Ende einfach nur noch als eine von weit herkommende Hervorbringung der europäischen Geistes-, Ideen- und Kulturgeschichte erscheint, mit Nordamerika als einem jüngeren Ausläufer dieser Geschichte. Weitere treffliche Beispiele, die wiederum pars pro toto stehen dürfen, bietet das bereits erwähnte Standardwerk „The Handbook of Humanistic Psychology“. Dort findet sich, auf knapp 700 Seiten, eine dem Anspruch der Herausgeber nach umfassende Bestandsaufnahme aus dem Jahr 2001 (Schneider/Bugental/Pierson 2001). Prominente Autorinnen und Autoren schreiben in diesem Werk über Leading Edges in Theory, Research, and Practice, und selbstverständlich findet sich auch eine Historical Overview genannte Rubrik.8 Donald Moss weist die Psychoanalyse und den Behaviorismus dort wegen ihres zwar sehr unterschiedlichen, aber gleichermaßen einseitigen („passivistischen“ oder „mechanistischen“), angeblich durch und durch „negativen“ Menschenbildes, wegen ihrer jeweiligen Absolutheitsansprüche und verschiedener (theoretischer, methodischer) Reduktionismen in die Schranken. Er wendet den Blick sodann von den patho-
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Wie viele andere psychologische Handbücher und Lehrbücher aus den Vereinigten Staaten von Amerika (und mittlerweile auch aus Europa und anderswo) stellen sich zwei Beiträge in dieser Rubrik der ‚politisch korrekten‘ Aufgabe, Geschichte und Gegenwart der Humanistischen Psychologie unter den dereinst ignorierten, bestenfalls marginalisierten Gesichtspunkten „Geschlecht“ und „Kultur“ zu bilanzieren (und nötigenfalls zu relativieren). Welche Rolle, so fragen Ilene Serlin und Eleanor Criswell, spielten die Frauen und die Geschlechterverhältnisse in dieser psychologischen Strömung, die sich die Menschen und die Menschheit, das Humane und die Humanitas auf die Fahnen geschrieben hat? Und was hat die „dritte Kraft“, möchte Adelbert H. Jenkins wissen, in einer Zeit der Globalisierung oder Glokalisierung, in der der (innergesellschaftliche und transnationale) Multikulturalismus zum allgemeinen Signum unseres Lebens geworden ist, zum Faktum kultureller Differenz zu sagen? Für die mich interessierende Frage noch aufschlussreicher sind einige weitere Beiträge, vor allem die Ausführungen von Donald Moss (2001).
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logischen Fällen im Sprechzimmer des Analytikers sowie den Ratten im Labor des behavioristischen Experimentators ab und dem ‚gewöhnlichen‘ Menschen mit all seinen Möglichkeiten und Potentialen zu, um anschließend eine ziemlich weit ausgreifende Vorgeschichte der Humanistischen Psychologie zu erzählen (der schließlich eine kurze Geschichte der Humanistischen Psychologie im engeren Sinne folgt). Zum maßgeblichen Auswahlkriterium dieser Versenkung in die tiefe Vergangenheit humanistischen Denkens und Strebens, Handelns und Lebens wird die denkbar allgemeine, ein wenig schillernde Frage, ob denn das Tun und Lassen der Alten die kreative Entfaltung, merkliche Bereicherung und beglückende Erfüllung des menschlichen Lebens in möglichst allen seinen Facetten habe befördern können oder aber behindert, gar vereitelt habe. Während viele Bilder vom Menschen, Theorien und dazu gehörige Praxen dieses so faszinierende, schöpferische Lebewesen auf ein unnötig niedriges Niveau der Selbstaktualisierung und Selbstverwirklichung festgelegt hätten (und noch dabei seien, just dies zu tun), gäbe es seit jeher auch zahlreiche ‚positive‘ Beispiele für (meta-)theoretische Bestimmungen und praktische Behandlungen des Menschen ganz im Sinne der Humanistischen Psychologie. Diese zielten stets auf eine Art Wachstum und Entwicklung des „ganzen Menschen“, eine möglichst ungehinderte und unbegrenzte Entfaltung seiner kreativen Möglichkeiten. In der (laut Autor durch und durch europäischen) Vorgeschichte der Humanistischen Psychologie, die bis ins späte 19. Jahrhundert hinein führt, gehören dazu so verschiedenartige Errungenschaften wie Homers Werke, namentlich seine Odyssee, die großen griechischen Tragödien, die Philosophie von Sokrates, Platon und Aristoteles; die Stoa und der Stoizismus; ein in Athen praktizierter „humanistic way of life“, der der Steigerung menschlicher Handlungspotentiale in vielen Bereichen des Lebens verschrieben war (von der Philosophie über die Literatur und andere Künste bis hin zur Politik und zum Sport, was Moss schließlich sagen lässt, die Olympischen Spiele seien das Sinnbild des Athener Lebensstils schlechthin); • frühchristliche Ideen und Leitbilder, aber durchaus auch die christliche Religion überhaupt, wenn man sie nur am Leitfaden der für die Humanistische Psychologie relevanten Ziele und Kriterien rezipiere • • • • •
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und rezitiere; so macht Moss z.B. einen an der Figur Jesu geschulten „Christian way of life“ aus, von dem er sagt: „This image of loving, communally oriented humans converges well with the communitarian movements in humanistic psychology“ (ebd.: 8); all das wiederum schließt es nicht aus, dass Moss auch der atheistischen und speziell der anti-christlichen Kritik eines Friedrich Nietzsche oder Karl Marx gedenkt; auch diese seien der Humanistischen Psychologie des 20. und 21. Jahrhunderts keineswegs fremd (obschon diese psychologische Bewegung, teilweise jedenfalls, zur allgemeinen Aufwertung spiritueller Erlebnisse und zur Mobilisierung religiöser Orientierungen erheblich beigetragen hat, was wohl weder Marx noch Nietzsche gefallen hätte); die so vielfältige Renaissance, die Moss gleich als ganze Epoche anführt, um sodann einige herausragende Leistungen aus humanistisch-psychologischer Sicht besonders zu würdigen (von der Portraitmalerei über die Kirchenarchitektur bis hin zur Wiederbelebung antiker Ideale und Vorbilder in den Schriften von Marsilio Ficino, namentlich in „De Amore“, wo die Liebe als sinnliches Streben nach Schönheit und Wahrheit gefeiert wird, im Gegensatz zur altruistischen Nächstenliebe des Christentums); die Aufwertung des freien Menschen in den Texten des Desiderius Erasmus; das Denken Søren Kierkegaards (skizziert unter dem Label The Dawning of Existentialism); die bereits erwähnten Einsichten Friedrich Nietzsches (erinnert unter dem Banner Existentialism and the Superman).
Im Hinblick auf das 20. Jahrhundert, in dem die unmittelbaren Grundlagen der Humanistischen Psychologie geschaffen wurden, ‚referiert‘ Moss wiederum in aller Kürze ausgewählte Aspekte • der Phänomenologie Edmund Husserls, Martin Heideggers und
Maurice Merleau-Pontys; • phänomenologischer Ansätze in der Psychiatrie, z.B. eines Ludwig Binswanger, Medard Boss, sodann auch von Erwin Straus, Viktor Frankl, Jan van den Berg und Ronald Laing; • der dialogischen Philosophie von Martin Buber; • der Psychoanalyse Sigmund Freuds, die als Naturalistic Humanism präsentiert wird;
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• der verschiedenartigen Ansätze von Freuds abtrünnigen Schülern
und Schülerinnen, die bereits wichtige Schritte auf dem Weg zur Humanistischen Psychologie gegangen seien, so dass Moss eine postfreudianische „gifted cacophony of quasi-humanistic approaches“ (ebd.: 13) registriert, unter Mitwirkung von Alfred Adler (mit seinem besonderen Blick auf das Individuum), Carl Gustav Jung (der als Vorläufer der transpersonalen Psychologie vorgestellt wird), Otto Rank (mit seiner Fokussierung des Willens) und Wilhelm Reich (der der Charakteranalyse einen neuen Körper-Bezug verlieh).9
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Vgl. hierzu die sorgfältige, ebenso detaillierte wie innovative Untersuchung von Helmut Johach (2009), die überzeugend nachweist, dass die aus der orthodoxen Psychoanalyse Sigmund Freuds (mehr oder weniger) ausscherenden SchülerInnen in der Tat als Wegbereiter (mancher Ansätze in) der Humanistischen Psychologie gelten dürfen, weil sie dieses oder jenes Element aus dem außerordentlich eklektizistisch wirkenden Theorie- und Methodenbaukasten dieser primär praktisch ambitionierten Psychologie und Psychotherapie vorwegnahmen und bereits erprobten (insbesondere im Rahmen der Behandlungspraxis, in der z.B. das für Freud geradezu ‚heilige‘ Abstinenzgebot von einigen schon bald nicht mehr beachtet wurde. Auch die reine talking cure weit hinter sich lassende, körperbezogene Techniken waren frühzeitig Bestandteil einer unorthodoxen Psychoanalyse kreativer Abtrünniger). Johach zeigt also nicht nur, wie sich ein paar eigensinnige Persönlichkeiten gegen den ‚Übervater‘ Freud auflehnten und überaus wichtige, einflussreiche Schritte in Richtung einer Differenzierung, Diversifizierung und Pluralisierung psychotherapeutischer Praktiken, Methoden und Techniken unternahmen, sondern auch, wie sehr die Humanistische Psychologie diesen Pionieren verpflichtet war und ist. Sieht man, wie Johach es tut und empfiehlt, genau hin, verringert sich die vermeintliche, faktisch nie dagewesene Radikalität und überragende Innovationskraft dieser psychologischen Bewegung merklich. Das muss ihren Wert freilich nicht unbedingt schmälern und bedeutet auch nicht, die Vertreter der Humanistischen Psychologie hätten gar nichts „Neues unter der Sonne“ mehr entdeckt. Auch das wird in Johachs Buch deutlich, nachdem er sich mit den produktiven psychoanalytischen Querköpfen Lou Andreas-Salome, Sándor Ferenczi, Georg Groddeck und Wilhelm Reich befasst hat, um sodann auf den (unter anderem) psychoanalytischmarxistisch inspirierten Humanismus Erich Fromms und schließlich auf
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Seine lange Liste ergänzt Moss zu guter Letzt noch durch eine Darstellung wichtiger Stationen und Positionen der eigentlichen Geschichte jenes „humanistisch-existentiellen Ansatzes in der Psychologie“, welcher bereits in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts erste Konturen annahm, bald schon institutionelle Formen besaß und in der Zeit von 1954 bis 1973 seine „goldenen Jahre“ erlebte. Einige besonders wichtige, hier lediglich zu exemplarischen Zwecken ausgewählte Stationen sollen im nächsten Abschnitt in aller Kürze markiert werden.10 Dabei werden auch weitere programmatische – thematische, theoretische und methodische – Aspekte der Humanistischen Psychologie deutlich. Nachdem ein einigermaßen kompaktes und dennoch differenziertes Bild dieser wichtigen psychologischen Strömung gezeichnet ist, stelle ich zunächst noch einmal die wichtigsten (meta-)theoretischen Prinzipien und methodischen Orientierungen der Humanistischen Psychologie zusammen, um abschließend noch einmal auf die Frage nach dem Humanismus der Humanistischen Psychologie zurückzukommen. In diesem Zusammenhang werde ich mich auch an einer Art ‚Gesamtdeutung‘ dieses vielschichtigen Phänomens versuchen.
die Humanistische Psychologie von Fritz und Laura Perls sowie von Ruth C. Cohn zu sprechen zu kommen. 10 Vgl. dazu wiederum Quitmann (1985) oder DeCarvalho (1991) sowie andere Darstellungen dieser Geschichte, etwa die konzisen Bemerkungen von Taylor und Martin (2001) im zitierten „Handbook“ oder Kollbrunner (in diesem Band). Eine ebenfalls informative Skizze findet sich in einem Artikel, der auch auf der Website der Society for Humanistic Psychology verlinkt sowie auf der Website der APA publiziert ist. Demgemäß liegt der Schwerpunkt dieser kurzen Geschichte der Humanistischen Psychologie auf der institutionellen Seite, speziell auf der Entwicklung der 32. Division for Humanistic Psychology in der APA (Aanstoos/Serlin/Greening 2000; zit. nach www.apadivisions.org/division-32/about/history.pdf).
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A UFSTIEG UND P ROGRAMM EINES THEORETISCH UND PRAKTISCH AMBITIONIERTEN U NTERNEHMENS CALLED H UMANISTIC P SYCHOLOGY 1954 schrieb Abraham H. Maslow (1908-1970) in Kooperation mit Anthony J. Sutich (1907-1976) potentiell Interessierte an und brachte sie ins Gespräch miteinander. Dem gingen bereits in den 1940er Jahren einige informelle Treffen und der Austausch engagierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler voraus, die mit dem etablierten mainstream einer verhaltenswissenschaftlich dominierten Psychologie mehr und mehr unzufrieden waren (vgl. hierzu die in Fußnote 1 genannten Gründerpersönlichkeiten). Die Lebensferne einer fragmentierten, zunehmend auf methodische, insbesondere statistische Verfahren und die Mathematisierung auch des theoretischen Wissens kaprizierten experimentellen Psychologie weckte wachsenden Unmut. Maslow zum Beispiel arbeitete dereinst bei einem der Gründerväter des Behaviorismus, nämlich bei Edward Lee Thorndike (1874-1949). Er brach jedoch mit dem Behaviorismus radikal und wurde als einer seiner scharfen Kritiker zu einem der zweifellos wichtigsten Initiatoren der Humanistischen Psychologie. 1962 betrat unter seinem Vorsitz die Association for Humanistic Psychology (AHP) (2001) die Bühne akademischer Institutionen. Maslow konnte wesentlich mit zur Verbreitung der neuen Psychologie beitragen, zunächst und vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika (selbst wenn der wissenschaftliche Einfluss dieser Bewegung auch dort klar begrenzt bleiben sollte; s.u.). Nachdem Maslow 1968 zum Präsidenten der American Psychological Association (APA) gewählt wurde, wirkte er von einer der sicherlich mächtigsten Positionen in der akademischen Psychologie aus (Carl Rogers hatte diese Stellung bereits 1947 inne gehabt). Viele trugen, häufig in enger Zusammenarbeit, das Ihre zum Gelingen des Unternehmens bei.11
11 Maslow und Sutich blieben einander übrigens noch Jahrzehnte verbunden und entwickelten ihre psychologischen Ansätze in fortwährendem Austausch weiter. 1969 rief Sutich, gemeinsam mit Maslow und Stanislav Grof, die erste Ausgabe der Zeitschrift „Journal of Transpersonal Psychology“ ins Leben und gründete kurz darauf das Transpersonal Institute. Auch an der im Jahr 1972 erfolgten Gründung der Association for Transpersonal Psychology (ATP) wirkten die einstigen Initiatoren der Huma-
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1971 genehmigte die APA auf Betreiben von Don Gibbons die 32. Division for Humanistic Psychology, sodass die Humanistische Psychologie fortan auch im größten offiziellen Verband ihren festen Platz hatte. Ein Meilenstein: 1975 zählte die 32. Division ihr Maximum von 1150 Mitgliedern, zunehmend aus aller Welt (Venezuela, Japan, Indien, Großbritannien, Kanada, Puerto Rico, usw. usf.).12 Das bekenntnisartige Programm der Division klang in diesen Tagen natürlich bereits bestens vertraut: „Humanistic psychology aims to be faithful to the full range of human experience. Its foundations include philosophical humanism, existentialism, and phenomenology. In the science and profession of psychology, humanistic psychology seeks to develop systematic and rigorous methods of studying human beings, and to heal the fragmentary character of contemporary psychology through an ever more comprehensive and integrative approach. Humanistic
nistischen Psychologie maßgeblich mit. Die humanistischen Psychologen arbeiteten durchaus frühzeitig an den Ausläufern, Seitenzweigen und Nachfolgern der „third force“ (und natürlich war dann irgendwann von einer „fourth force“ in Gestalt der Transpersonalen Psychologie die Rede, was offensichtlich weniger sinnvoll ist). 12 Diese weltweite Verbreitung verdankte sich zahlreichen kontinuierlichen Anstrengungen einzelner Mitglieder der Division. Aanstoos, Serlin und Greening (2000: 20) fassen zusammen: „Beyond convention programming, several members of the Division 32 executive board, particularly Carmi Harari, were instrumental in London, Würzburg, Amsterdam, Paris, and Tokyo, and even an around-the-world Humanistic Psychology Study Tour with stops in France, Iran, Soviet Union, India, Nepal, Thailand, Hong Kong, Japan, and Hawaii (for the APA meeting there). Harari and Krippner were particularly central to these early activities, which were also sponsored by AHP. Graham joined Harari in a number of subsequent efforts, and Arons, Jourard, Gottsegen and others also became active.“ In dem zitierten Beitrag ist auch nachzulesen, dass all das selbstverständlich nicht ganz ohne Querelen abging. Nicht zuletzt die beabsichtigte Integration von Wissenschaft und Praxis blieb eine andauernde Herausforderung – auch weil (Teilen) der Humanistischen Psychologie zunehmend nachgesagt wurde, der ‚eigentlichen‘ wissenschaftlichen Forschung den Rücken gekehrt zu haben und zunehmend zu einer Art esoterisierter Pop-Psychologie zu mutieren.
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psychologists are particularly sensitive to uniquely human dimensions, such as experiences of creativity and transcendence, and to the quality of human welfare. Accordingly, humanistic psychology aims especially at contributing to psychotherapy, education theory, philosophy of psychology, research methodology, organization and management and social responsibility and change“ (zit. nach Aanstoos/Serlin/Greening 2000: 14).
Die Normalisierung der Humanistischen Psychologie war eine übliche Begleiterscheinung ihrer zu diesem Zeitpunkt bereits erreichten Institutionalisierung und Internationalisierung. Bereits zuvor gab es freilich eine ganze Reihe von Initiativen und Ereignissen, die für den Aufstieg der Humanistischen Psychologie und verwandter Richtungen entscheidend waren. All das lag in den Händen einer stetig größer werdenden Gruppe. Maslow war mit seinen Anliegen und Ambitionen bekanntlich nicht allein.13 Er war von Anfang an mit einer ganzen
13 Zu Maslows Leben und Werk gibt es eine ganze Reihe (mitunter etwas hagiographischer) wissenschaftlicher Publikationen. Informativ ist die Studie von DeCarvalho (1991), bei dem auch Portraits anderer berühmter Repräsentanten der Humanistischen Psychologie nachzulesen sind; vgl. weiterhin Goble (1970), Hoffman (1988) sowie zahllose Kurzdarstellungen im World Wide Web, wo sich stets Ausführungen über die in jener berühmten „Bedürfnispyramide“ gipfelnde Motivationspsychologie finden, welche dem Begriff der „Selbstverwirklichung“ einen fortan kaum mehr zu überbietenden Bekanntheitsgrad verschafft hat. Da nicht nur Maslows Leben und Werk, sondern auch das von anderen prominenten humanistischen Psychologen und Psychologinnen in zahllosen Publikationen leicht zugänglich ist, verzichte ich auf platzraubende Literaturangaben und beschränke mich auch im Folgenden auf das Nötigste. Selbst bei Wikipedia finden sich auf einen Knopfdruck die wichtigsten Schriften, sowohl Originalarbeiten als auch Sekundärliteratur, Biographien und historische Darstellungen der Humanistischen Psychologie als einer sozialen Bewegung, die in der wissenschaftlichen Psychologie ihre Ausgangsbasis besaß, bald aber die praktische bzw. angewandte Psychologie massiv beeinflusste (insb. die Klinische Psychologie und Psychotherapie, Bereiche wie Beratung, Training, Coaching, Mediation in Wirtschaft/ Management, Bildung und anderen Feldern) und schließlich das Alltagsleben im Zuge eines internationalen Psychobooms umkrempelte – mit unabgeschlossenen Folgen für das Selbst- und Weltverständnis der Mitglieder zahlreicher spät-
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Reihe entschlossener Mitstreiter verbündet. Der bereits erwähnte Sutich entwickelte mit ihm schon seit 1958 die Konzeption des „Journal of Humanistic Psychology“ (JHP), dessen erstes Heft 1961 erschien. Die Fachzeitschrift, für deren erste Nummer neben Sutich und Maslow auch Charlotte Bühler, Clark Moustakas, Henry Winthrop, Stephen A. Cohen, Franklin J. Shaw, Gene F. Nameche, David Smillie, Adrian van Kaam, Horace B. English und Ernest G. Schachtel Beiträge zu noch immer charakteristischen Themen schrieben,14 besteht bis heute fort (und erscheint an prominenter Stelle bei Sage).15 Andere wichtige Journals wie etwa „The Humanistic Psychologist“
oder postmoderner Gesellschaften (siehe Illouz 2009, wo sich weitere Literaturangaben zu diesem Thema finden). 14 In der Reihenfolge der genannten AutorInnen lauten die Titel ihrer Beiträge wie folgt: „Introduction“, „Health as Transcendence of Environment“, „The Goal Structure of Human Life“, „The Sense of Self“, „Can We Educate for a Sense of Value?“, „A Growth Theory of Neurotic Resistance to Therapy“, „The Problem of Acting and the Problem of Becoming“, „Two Pictures of Man“, „The Roots of Personal Existence“, „Humanistic Psychology and Culture“, „Education of the Emotions“, „On Alienated Concepts of Identity“. Rezensiert wurde dann noch Gordon W. Allports zum Klassiker gewordenes Buch „Becoming. Basic Considerations for a Psychology of Personality“, so dass bereits die erste Ausgabe der neuen Zeitschrift wahrlich als ein erster Höhepunkt gelten durfte und aus leicht nachvollziehbaren Gründen Aufmerksamkeit auf sich zog. 15 Wie es sich heute gehört, verzeichnet der renommierte Verlag dort auch den Impact Factor von 0.488 und das offizielle Ranking: „95 out of 120 in Psychology, Multidisciplinary“. Das ist nach über 50 Jahren ununterbrochenen Erscheinens (trotz Einbrüchen der Abonnements und verminderter Leserschaft) ebenso bemerkenswert wie die im Kern unveränderte Programmatik, zu der es auf der Verlagswebsite heißt: „The ‚Journal of Humanistic Psychology‘ (JHP) is an interdisciplinary forum for contributions, controversies and diverse statements pertaining to humanistic psychology. It addresses personal growth, interpersonal encounters, social problems and philosophical issues. An international journal of human potential, self-actualization, the search for meaning and social change, JHP was founded by Abraham Maslow and Anthony Sutich in 1961“ (http://jhp.sagepub.com).
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folgten und existieren ebenfalls noch immer (verlegt bei Routledge bzw. Taylor & Francis, aktuell hrsg. von Scott D. Churchill).16 Aus den ersten informellen Treffen einiger Eingeschworener wurden ziemlich schnell öffentliche Symposien und Konferenzen, die auch international ausgerichtet wurden. Wegweisende Aktivitäten entfaltete die Association for Humanistic Psychology. So richtete sie 1963 in Philadelphia eine attraktive Tagung aus. Dem Kreis der 75 Teilnehmer gehörten einige der schon bekannten, in manchen Fällen bereits zu Berühmtheit gelangten WissenschaftlerInnen an. Gordon Allport und andere angesehene Persönlichkeiten unterstützten die Sache nach Kräften (vgl. DeCarvahlo 1991: 10f.). Im September 1964 waren auf der Konferenz in Los Angeles bereits 200 Tagungsteilnehmer zugegen. Dazu zählten neben den WissenschaftlerInnen immer mehr Personen, die therapeutisch tätig, sozial oder politisch engagiert waren oder einfach zu der Avantgarde jener Leute gehörten, die sich dem psychologischen Weg einer bis dahin beispiellosen Selbstverwirklichung und der ‚postmaterialistischen‘ ‚Suche nach Sinn‘ verschrieben hatten. Aufmerksamkeit erregte auch The Old Saybrook Conference, die ebenfalls 1964 in Connecticut an der Wesleyan University abgehalten wurde (ebenfalls von der AHP ausgerichtet). Die
16 Das Selbstverständnis dieser Zeitschrift artikuliert wiederum eine ungebrochene Tradition und zugleich charakteristische, zeitgemäße Erweiterungen des thematischen und theoretischen Horizonts. Auf der Website des Verlags ist zu lesen: „This long-established journal, now in its third decade of publication, is devoted to reflective inquiry into humanistic psychologies, broadly defined. ‚The Humanistic Psychologist‘ (THP) publishes papers on qualitative research; humanistic, existential, and constructivist psychotherapies; transpersonal/spiritual psychology and psychotherapy; as well as phenomenological, feminist, and multicultural perspectives. In the spirit of a forward moving field, its editorial board welcomes submissions representing both modern conceptions and postmodern critiques of humanistic psychologies“ (http://www.tandfonline.com/action/aboutThisJournal? show=aimsScope&journalCode=hthp20). Über weitere wichtige Publikationen – auch auf dem Zeitschriftenmarkt, z.B. über „The Bulletin: Division of Humanistic Psychology“, das Alvin Manaster ab 1973 für die 32. Division der APA editierte, oder das seit 1970 von Fred Massarik herausgegebene Journal „Interpersonal Development“ – informieren u.a. wiederum Aanstoos, Serlin und Greening (2000: 19ff.).
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illustren Namen prominenter Figuren in der nordamerikanischen Psychologie häuften sich: „Leading figures in the psychology of personality and in the humanistic disciplines participated: Gordon Allport, George Kelly, Clark Moustakas, Gardner Murphy, Henry Murray, and Robert White of the founding generation; Charlotte Bühler, representing a European tradition of research labeled ‚life-span development‘, Jacques Barzun and Rene Dubos as humanists from literature and biological science, and James Bugental, Abraham Maslow, Rollo May, and Carl Rogers, who became the intellectual leaders of the movement“ (Aanstoos/ Serlin/Greening 2000: 8).17
Natürlich wuchs auch die Anzahl einflussreicher Publikationen rapide (innerhalb und außerhalb der genannten Fachzeitschriften). Es kursierten allseits zur Kenntnis genommene programmatische Schriften (z.B. von Bugental 1963, 1964) sowie Monographien, die schon bald die Aura von Klassikern und Standardwerken ausstrahlten (und teilweise Bestseller mit extrem hohen Auflagen wurden; man denke etwa an Bücher von Maslow, May, Rogers oder Perls, aber auch an die ‚Kultbücher‘ von eigenständigen Sympathisanten der Bewegung wie Fromm).18 Nicht zuletzt Sammelbände zum State of the Art und
17 Aufschlussreich sind auch einige Titel der gehaltenen Vorträge, die sich offenbar kritisch gegen den mainstream der wissenschaftlichen Psychologie wandten und nach Alternativen Ausschau hielten. Aanstoos, Serlin und Greening (2000: 8) nennen folgende Beispiele: Carl Rogers präsentierte „Some Thoughts Regarding the Current Philosophy of the Behavioral Sciences“, Rollo May (1959) sprach über „Intentionality, the Heart of Human Will“, Edward Joseph Shoben behandelte das Thema „Psychology: Natural Science or Humanistic Discipline?“ und Abraham Maslow schlug eine Brücke zwischen „Humanistic Science and Transcendent Experiences“. 18 Aanstoos, Serlin und Greening (2000: 5) erinnern auch daran: „Meanwhile, from the academic side a rising tide of theory and research focused attention on this nonreductive, holistic view of the person. As the 1960s unfolded, new books by Rogers (1961, 1969), Maslow (1964, 1965, 1966), and May (1967, 1969) were enormously influential in this more receptive era.“ Diese und andere Personen hatten freilich schon in den beiden Jahrzehnten zuvor einflussreiche Schriften verfasst (z.B. Rogers: 1942, 1951).
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kontrovers diskutierte Fragen machten die Runde (Bugental 1967). Zu den wichtigsten Fachzeitschriften wurde das Nötige bereits gesagt. Die Humanistische Psychologie war auch als Wissenschaft durchaus erfolgreich (wenngleich Skinner sie neben der kognitiven Psychologie und der Psychotherapie dafür verantwortlich machte, dass aus der Psychologie im 20. Jahrhundert leider keine ‚wirkliche‘, strenge Wissenschaft hat werden können). Richtig durchschlagend war dieser Erfolg jedoch nicht. Insgesamt muss man nämlich gerade dann, wenn es um die Ambitionen als Wissenschaft geht, eine eher nüchterne Bilanz ziehen. Es ist nicht zu übersehen, dass die kämpferisch auftretende, nicht selten regelrecht exaltiert und missionarisch wirkende Humanistische Psychologie in der wissenschaftlichen Psychologie stets auf Skepsis stieß und oft in ihre Schranken verwiesen wurde. Insbesondere die sich als ‚strenge NaturwissenschaftlerInnen‘ gerierenden Opponenten rümpften bestenfalls die Nase und setzten alles daran, den Einfluss des rapide gewachsenen Sprösslings als wilde Phase eines Schmuddelkindes abzutun und einzudämmen. Diese machtvolle Gegenwehr zeitigte letzten Endes Erfolg, so dass trotz des pluralistischen Selbstverständnisses der nordamerikanischen Psychologie die humanistische Bewegung innerhalb der wissenschaftlichen Einrichtungen in klaren Grenzen verlief. Ihr Einfluss in der (zunehmend massenmedial organisierten) Öffentlichkeit, ihre Effekte auf das allgemeine Bewusstsein in Gestalt des Zeitgeistes und das immer stärker ‚psychologisierte‘ Selbst- und Weltverständnis ‚des‘ modernen Menschen und seine Alltagspraxis in allen möglichen privaten und beruflichen Handlungsfeldern waren nicht zu stoppen. Ich halte zunächst noch einmal fest (und präzisiere): Ihre Macht in wissenschaftlichen Institutionen konnte eingehegt und marginalisiert werden. Was das Ringen in der Alma mater und sonstigen führenden Forschungsinstitutionen und Einrichtungen der höheren Bildung anbelangte, kam die Humanistische Psychologie niemals auch nur in die Nähe einer Vorherrschaft. Die in theoretischer und vor allem in methodischer Hinsicht möglichst naturwissenschaftlich ausgerichtete ‚objektive‘ Psychologie behielt in Nordamerika klar die Oberhand. In Europa waren die Verhältnisse zwar etwas anders (und ohnehin national sehr verschieden), aber dennoch so, dass der hier ‚verspätet‘ eintreffenden Humanistischen Psychologie ebenfalls nur eine Nebenrolle zugestanden wurde (mit schwindender Bedeutung insbesondere seit den 1980er Jahren). Spätestens gegen Ende der
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1970er Jahre war die Humanistische Psychologie auf dem Rückzug, und schon bald suchte man völlig vergeblich nach irgendwelchen Vertretern in den Universitäten. Das ist bis heute so. Das war im Grunde genommen schon Mitte der 1970er Jahre klar. Heinrich Balmers 1976 erstmals publizierter Bericht über die Kontroverse zwischen ‚objektiver‘ und ‚verstehender‘ Psychologie schließt mit einer vielsagenden Bilanz. Die informativen Ausführungen münden in eine abschließende Skizze von „Zukunftsperspektiven“. Der verhalten hoffnungsvolle – mit der Humanistischen Psychologie durchaus sympathisierende – Autor ist sich seiner Sache jedoch alles andere als gewiss: Nachdem er sich etwas resigniert über die „Amerikanisierung“ der internationalen Psychologie im Geiste einer globalisierten (Neo-)„Behavioristik“ bzw. eines Neopositivismus der ‚objektiven‘ Psychologie ausgelassen hat, stellt er fest, dass es Anzeichen einer Wende gäbe – jenseits des großen Kanals! Während nämlich in Deutschland (und anderen europäischen Ländern) alles daran gesetzt werde, in der langen ‚Nachkriegszeit‘ die ‚Amerikanisierung‘ der eigenen Psychologie vehement voranzutreiben, entstand dort die besagte „‚Third force‘, die ohne die Spätwirkung der deutschen Emigration schwerlich denkbar wäre“ (Balmer 1982: 119). Die phänomenologische, die existentialistische und humanistische Bewegung bildeten eben jene „dritte Kraft“, welche in den wehmütigen Augen des europäischen Beobachters in den USA schon jenen „Umbruch“ eingeleitet habe, auf welchen man in Europa und speziell in Deutschland wohl noch eine Weile warten müsse. Allerdings sei auch in Nordamerika dieser Umbruch allenfalls im Schwange und keinesfalls schon vollendet. Im Übrigen sei es auch gar nicht gewährleistet, dass die begonnene Abkehr von der dogmatischen ‚objektiven‘ Psychologie wirklich erfolgreich vollzogen und ihre Ergebnisse dann stabilisiert und in nachhaltiger Weise in institutionelle Bahnen gelenkt werden könnten. Ein wichtiger Grund für diese Ungewissheit läge just darin, dass gerade die Humanistische Psychologie „ein Konglomerat von in sich völlig widersprüchlichen und in jeder Hinsicht uneinheitlichen Ansätzen“ sei (ebd.: 199), mühsam zusammengehalten durch die Abwehrhaltung gegenüber der Psychoanalyse und dem Behaviorismus sowie ein unausgegorenes und vages, normativ überhöhtes Programm: „Die humanistische Psychologie kämpft noch um ihre theoretische Fundierung. Sie leidet unter dem Handicap, daß sie an den amerika-
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nischen Hochschulen noch schwach vertreten ist“, so Balmers (1982: 122), der dann den schon seinerzeit ziemlich realistischen und dennoch Mut machenden Bugental (1967: 10) zu Wort kommen lässt: „Dies ist sicher ein Nachteil bei der Gewinnung wissenschaftlichen Nachwuchses. [...] Auch ist es unangenehm, daß Forschungsunterstützungen und Erleichterungen für humanistische Psychologen schwieriger zu erreichen sind. Auf lange Sicht aber könnten sich diese scheinbaren Probleme günstig auswirken. Die günstige Aufnahme durch bestehende Institutionen und die Genauigkeit haben nicht notwendigerweise Kreativität und persönlichen Einsatz zur Folge. Der humanistische Psychologe ist aber gerade zu einer solchen Haltung befähigt, vor allem durch ein starkes persönliches Engagement. Seine Forschungen und seine Veröffentlichungen beruhen auf einem echten Interesse; neue Anhänger der humanistischen Richtung werden entweder jene unerschütterlichen jüngeren Berufskollegen sein, die an ihren Überzeugungen trotz gegnerischen Drucks festhalten, oder dann jene reifen Psychologen, die sich vom wohlbehüteten Betrieb des Behaviorismus abgewendet haben und die Auseinandersetzung mit der Psychologie des lebenden Menschen suchen (wie Maslow seine eigenen Erfahrungen beschreibt). In beiden Fällen kann die Qualität des wissenschaftlichen Nachwuchses sehr hoch sein. Wir werden aber auch mehr als unseren Anteil abbekommen an verschrobenen Leuten, Exzentrikern, schlicht Verrückten, Nonkonformisten usw. Aber auch das kann auf lange Sicht gut sein. Neue schöpferische Gedanken sind nicht immer in akademische Roben gekleidet und passen sich nicht immer nahtlos bereits anerkannten Verfahrensweisen und Rollen an.“ (Ebd.)
Das sei, so Balmers, viel Programmatik, aber es gebe ja auch empirische Forschungen wie diejenigen von Charlotte Bühler. Im Übrigen referiert Balmer (etwas schmunzelnd und herablassend) die im August 1970 von „Psychology Today“ kolportierte Einschätzung, die Humanistische Psychologie sei „ein kühnes Unterfangen, das sich wie eine Religion über die USA ausbreitet und Europa kolonialisiert.“ Balmer mokiert sich, weil er in solchen Beobachtungen die europäischen Wurzeln ignoriert sieht – und verkennt doch, wie zutreffend die Feststellung des populären Magazins war.19 Es spielte für den lebensprak-
19 Nicht zuletzt der Vergleich „wie eine Religion“ war durchaus treffend. Die Humanistische Psychologie besaß von Anfang an nicht nur selbst Züge eines Religionsersatzes oder sogar quasi-religiöse Züge, sondern brachte
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tischen Erfolg der humanistischen Bewegung in der Psychologie keine Rolle, dass in diesem Feld eher wenig theoretische Köpfe und methodisch kreative WissenschaftlerInnen zu finden waren, dafür aber umso mehr Leute, die die Psychologisierung des praktischen Welt- und Selbstverhältnisses der viele moderne Gesellschaften bevölkernden Massen mit voller Überzeugung, großem Erfindungsreichtum und ungebremstem Tatendrang betrieben – in den Universitäten, wenn sie dort Gelegenheit hatten, aber vor allem auch in Beratungs- und Therapiegruppen, in Selbsthilfe-, Selbsterfahrungs-, Sensitivity- und Encountergruppen und im aufhorchenden Management der Unternehmen des flexiblen Kapitalismus, nicht zuletzt an eigens eingerichteten Orten, die für esoterisiertes (quasi- oder ersatzreligiöses) Wissen offen waren, ja: wo ‚humanistisch psychologisierte‘ Sprachspiele und Lebensformen Wurzeln schlugen und Blüten trieben. Zahllose Anhänger der Humanistischen Psychologie und vom Psychoboom erfasste Individuen und Gruppen setzten ganz auf den Jargon der Selbstverwirklichung und gingen weitgehend ‚in ihm auf‘ (Illouz 2009).20
auch Spielarten und Nachfolgerinnen hervor, deren Nähe zum religiösen Feld unübersehbar ist. Man denke etwa an die bereits erwähnte Transpersonale Psychologie (Maslows und anderer) oder an die (heute insbesondere mit dem Namen Martin Seligman verknüpfte) so genannte Positive Psychologie, die ganz deutliche Merkmale einer ins religiöse Feld hineinreichenden Esoterisierung ‚wissenschaftlichen‘ Wissens aufweist (das obendrein exzessiv propagandiert und vermarktet wird, oft kaum mehr unterscheidbar von euphorischen Optimierungsprogrammen und sektiererischen Heilslehren). Am Rande sei angekündigt: Zu diesem Aspekt ist in Kooperation mit Eva Johach, Matthias Erdbeer, Adorf Hendrik, Andreas Kilcher, Nils Menzler und Stefan Rieger ein Projekt geplant, das in eine interdisziplinäre Forschergruppe integriert sein soll. Die Forschergruppe wird sich in einer allgemeinen Perspektive der Esoterisierung der modernen Wissenskultur als einem für die Moderne konstitutiven Strukturmerkmal zuwenden. Die (jeweils einen bezeichnenden Eigennamen tragende) Humanistische, die Transpersonale und die Positive Psychologie sind geradezu ideale Beispiele, an denen sich dieser unabgeschlossene Prozess analysieren lässt. 20 Vieles ist heute Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses und leicht nachzulesen. Von denen, die nicht selbst dabei waren, wird allerdings manches, was seinerzeit geradezu spektakulär war, weil es tiefgreifende Folgen für
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Balmers Bericht ist noch heute lesenswert und aufschlussreich. Das liegt nicht zuletzt an seiner ambivalenten Einstellung gegenüber der Humanistischen Psychologie und ihren Erfindern, Apologeten und Propagandisten (die in teilweise dürrem theoretischem und methodischem Korsett auftraten). Am Ende obsiegt in seiner Abhandlung eine Art Sympathie und Solidarität, die seine eigenen Hoffnungen nährt, „der öden Statistik und der Lebensferne der neopositivistischen Psychologie“ (ebd.: 125) zu entkommen – in eine Zukunft, in der der Geist eines wirklichen Pluralismus wehen möge. Dieser Geist hat sich bekanntlich nicht überall durchgesetzt, schon gar nicht in gleichem Maße (die deutsche Psychologie etwa scheint konformer denn je). Die Humanistische Psychologie spielt als Wissenschaft keine Rolle mehr. Das mag freilich auch daran liegen, dass sie diesem Ziel vielleicht nie den Vorrang zugedacht hat. Und wahrscheinlich hätte sie zu seiner Erreichung auch zu wenig geeignetes Personal in ihren Reihen gehabt. Halten wir am Ende dieses Abschnitts fest: Ungefähr um die Mitte der 1960er Jahre war die Humanistische Psychologie in US-amerikanische Universitäten eingezogen und dort durchaus präsent. Sie prägte Studiengänge und Studienprogramme sowie akademische Debatten. Vor allem aber wuchs ihr Einfluss außerhalb des engeren
das Selbstverständnis und die Lebenspraxis in spät- und postmodernen Gesellschaften zeitigte, vergessen, manchmal verschwiegen oder verdrängt (sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit). Dazu gehören Aufsehen erregende, mit ungeheuren Eschatologien psychosozialen Glücks aufgeladene soziale Experimente wie etwa die Gemeinschaft in Esalen (mit eigenem Institut, einer Zeitschrift usw.; vgl. dazu die interessanten, nicht zuletzt auf John Heiders buntes Treiben gerichteten Studien von Jeffrey Kripal 2007, 2008). Soweit ich sehe, stehen solche ‚revolutionären‘ Unternehmungen einer psycho-esoterisch-religiösen countercultural movement noch immer im weitgehend ungetrübten Glanz einer euphorisch proklamierten Emanzipation „gesunder Menschen“. Die Tatsache, dass an solchen Orten durchaus der autoritäre Geist charismatischer Führerpersönlichkeiten wehen konnte und auch Platz war für subtilen psychischen Druck und Gruppenzwänge, nicht zuletzt für (weitgehend tabuisierte) sexuelle Gewalt insbesondere gegenüber den weiblichen Mitgliedern der ‚eupsychischen Gemeinschaft‘, ist gerade in den noch bestehenden Ausläufern der Humanistischen Psychologie noch nicht hinreichend erforscht und erörtert worden.
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universitären Bereichs rapide an. Ihr Zenit – insbesondere als einer wissenschaftlich ambitionierten Bewegung – war bereits Mitte der 1970er Jahre überschritten. Im Übergang ins nächste Jahrzehnt ging es bergab (wichtige Gründe dafür erörtert Kollbrunner, in diesem Band). Bereits 1973 konstatierten Henryk Misiak und Virginia Staudt Sexton die Vollendung einer systematisch begründeten und wohl geordneten humanistischen Bewegung in der Psychologie. Das trifft zu, wenngleich man Zweifel daran hegen kann, was hier „Vollendung“ meint, und wenngleich es nach diesem erreichten Gipfel zügig abwärts ging. Allerdings wurden keineswegs gleich alle Ambitionen aufgegeben und Unternehmungen eingestellt (vgl. Burow, in diesem Band). Manches wird, wie dargestellt, bis heute fortgesetzt. Allerdings mit gebremster Kraft und weniger ‚Rückenwind‘: „However, the popularity of humanistic psychology began to wane as the 1970s turned into the 1980s. The Reagan years brought a new socio-cultural conservatism for which the very term ‚humanistic‘ meant something sinister. Usually dubbed ‚secular humanism‘ by conservative opponents, many strange bedfellows soon arose“ (Aanstoos/Serlin/Greening 2000: 22).
H UMANISTISCHE P SYCHOLOGIE ALS W ISSENSCHAFT : A NSPRÜCHE UND A NSATZPUNKT Die Initiativen und beharrlichen Aktivitäten des Kreises prominenter humanistischer Psychologinnen und Psychologen haben, wie gezeigt, einige bemerkenswerte, wenngleich nicht immer nachhaltige Folgen gezeitigt. Folgendes sei noch erwähnt, weil damit eine Brücke zur anstehenden Skizze der wesentlichen wissenschaftlichen Prinzipien und Orientierungen der Humanistischen Psychologie geschaffen wird: Neben allen möglichen internationalen und nationalen Vereinigungen in vielen Ländern setzt auch die 32. Divison for Humanistic Psychology in der APA ihr Engagement noch immer fort. Die Society for Humanistic Psychology gibt bis heute einen eigenen Newsletter heraus, organisiert weiterhin einschlägige Konferenzen und sonstige Veranstaltungen, bietet Dienstleistungen aller Art an, vernetzt Interessierte und vermittelt Anbieter und Klienten oder Kunden. Liest man das auf der offiziellen Website der Society for Humanistic Psychology artikulierte Selbstverständnis, wird sehr deutlich, wie treu sich die Humanistische Psychologie seit ihren durch Maslow und anderen ein-
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geläuteten Anfangstagen geblieben ist. Daran ändert die Tatsache nichts, dass die ohnehin schon immer recht breit angelegte und heterogen verfasste „dritte Kraft“ in der modernen Psychologie ihre Grenzen offenbar noch einmal ausgeweitet hat und zu einem noch größeren Auffangbecken, noch stärker schillernden Anziehungspunkt und mittlerweile wirklich extrem ‚integrationsfähigen‘ Identifikationsfeld für durchaus heterogene Ansätze geworden ist. Damit wird natürlich die alte Gefahr perpetuiert: Man wirft alles Mögliche kurzerhand in einen Topf, rührt das Ganze zu einem synkretischen, hybriden Konglomerat einer irgendwie ‚alternativen‘ Psychologie zusammen, deren ‚Humanismus‘ dann fast zwangsläufig jede präzise Kontur verliert (und auch die meta-)theoretischen, methodologischen und methodischen Gemeinsamkeiten verschwimmen noch mehr). Dennoch, der auch in dieser Hinsicht bleibende Kern dieser synkretischen, hybriden und pluralistischen Humanistischen Psychologie ist bezeichnend und aufschlussreich, weshalb ich die aktuelle Selbstdarstellung der erwähnten Gesellschaft hier noch in einem längeren Auszug wiedergebe: „The society represents a constellation of ‚humanistic psychologies‘ that includes the earlier Rogerian, transpersonal and existential orientations as well as the more recently developing perspectives of phenomenological, hermeneutic, constructivist, feminist and postmodern (social constructionist) psychologies. We seek to contribute to psychotherapy, education, theory, research, epistemological diversity, cultural diversity, organization, management, social responsibility and change. In particular, we have been at the forefront in the development of qualitative research methodologies. Our longstanding interest in the well-being of all persons, and in the importance of living life with purpose and meaning, places humanistic psychology in kindred and even foundational relationship with the more recent positive psychology movement. In expanding our self-conception we invite participation from APA members, associates and student affiliates who are open to the challenge of broadening the frontiers of psychology for the 21st Century. Humanistic psychology aims to be faithful to the full range of human experience. Its foundations include philosophical humanism, existentialism and phenomenology. In the science and profession of psychology, humanistic psychology seeks to develop systematic and rigorous methods of studying human beings, and to heal the fragmentary character of contemporary psychology through an ever more comprehensive and integrative approach. Humanistic psychologists are particularly sensitive to uniquely human dimensions, such as
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experiences of creativity and transcendence, and to the quality of human welfare. Accordingly, humanistic psychology aims especially at contributing to psychotherapy, education, theory, philosophy of psychology, research methodology, organization and management, and social responsibility and change.“ (http://www.apadivisions.org/division-32/about/index.aspx)
Das ist nach wie vor ein ambitioniertes Programm, dazu eines, das seit den Anfangstagen der Humanistischen Psychologie ziemlich ähnlich formuliert wurde. Auf welchen spezifisch wissenschaftlichen Grundlagen, auf Basis welcher (meta-)theoretischer Prinzipien und methodischer Orientierungen sollte und soll dieses Programm nun umgesetzt werden? Selbst wenn nicht alle Texte aus dem weiten Kreis der Humanistischen Psychologie hohe wissenschaftliche Standards erfüllen, so gibt es zweifellos eine ganze Reihe an Arbeiten, die die Rationalitätsansprüche der akademischen Psychologie erfüllt oder sogar gesteigert haben. So manche Stoßrichtung der „dritten Kraft“ war gut begründet und zeigte zweifellos Schwächen der konkurrierenden Ansätze auf. Das betrifft nicht zuletzt die metaphysischen und metatheoretischen Annahmen dieser Psychologien, also etwa ihr Menschenbild. Damit will ich mich nun noch etwas näher befassen und, soweit es opportun erscheint, auch wissenschaftstheoretische und methodologische Implikationen zumindest andeuten. Zu diesem Zweck halte ich mich der Einfachheit halber an eine Zusammenstellung von Quitmann (1985: 16f.) bzw. die von ihm dort referierten anthropologischen Grundannahmen, wissenschaftstheoretischen und methodologischen Prinzipien sowie methodischen Orientierungen, die Bugental (1964) in einem vielzitierten kleinen Aufsatz zusammengestellt hat. Diese – teilweise auslegungsbedürftigen – Annahmen, Prinzipien und Orientierungen finden in der Humanistischen Psychologie auch heute noch Anerkennung. Im Einzelnen handelt es sich um folgende: 1. Der Mensch ist mehr bzw. anderes als die Summe seiner einzelnen
Bestandteile. Die Herkunft dieser ersten grundlegenden Annahme ist offenkundig: In der Gestaltpsychologie sprach man vom Theorem der Übersummativität. Man widersetzte sich damit in verschiedenen Teilgebieten der Psychologie – z.B. in der Wahrnehmungs- oder Denkpsychologie – dem Standpunkt des Elementarismus, der u.a. den Behaviorismus kennzeichnete. (Man denke an das zentrale theoretische Prinzip der elementaristischen Zerlegung ‚psychischer‘
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Zusammenhänge in Reize und Reaktionen.) In der Humanistischen Psychologie wird die ganzheitliche oder holistische Auffassung auf den Menschen insgesamt, auf seinen Status als Person, bezogen. Der Mensch als Person erscheint damit als eine integrale Struktur oder, wie man heute eher sagen würde, als ein System, das zwar in (heterogene) Teilsysteme und diesen zugeordnete, spezifische Funktionen zergliedert werden kann. Jedoch bleibt diese analytische Perspektive notwendigerweise unvollständig und abstrakt, da sich eine konkrete Person niemals additiv aus ihren einzelnen Bestandteilen und deren Beziehungen zusammensetzen lässt. Die Ganzheit der individuellen Person ist eben mehr und anderes als die Summe ihrer Teile und ihrer Interrelationen. Das lässt sich unter anderem in Analogie zur Eigenartigkeit und Besonderheit einer Gruppe verstehen, die sich bekanntlich wiederum nicht auf eine bloße Ansammlung der Eigenheiten ihrer einzelnen Mitglieder reduzieren lässt. Die Gruppe als soziales Phänomen hat vielmehr einen eigenen Status und ihre eigene Dynamik. Genau dieser Blick wird in der Humanistischen Psychologie in einflussreicher Weise kultiviert und theoretisiert: Auch die Gruppe ist ein ganzheitliches Phänomen, das sich zwar in einzelne Elemente, ihre Beziehungen und Wechselwirkungen zerlegen und so untersuchen lässt, aber in dieser elementaristischen Perspektive keinesfalls hinreichend zu verstehen ist. Dasselbe gilt, wie gesagt, für den individuellen Menschen als Person. Eine Person lässt sich zwar als komplexes Ensemble aus Teilsystemen und Funktionen auffassen und analysieren, stellt als dieses Ensemble aber etwas gegenüber seinen Bestandteilen und seinem Zusammenspiel qualitativ Neues dar. Eine besondere Bedeutung hat dieser holistische Ansatz z.B. in der von Charlotte Bühler (1967) stark gemachten Entwicklungspsychologie der Lebensspanne und Biographieforschung, in der idealiter die Gesamtheit eines (symbolisch repräsentierten) Lebens als Bezugsrahmen für das psychologische Verstehen und Erklären einzelner Gedanken, Gefühle oder Handlungen dient. 2. Das Sein des Menschen, seine Existenz, vollzieht sich im Kontext sozialer Beziehungen. Der Mensch ist keine Monade, sondern charakterisiert durch eine Art primäre Sozialität und Kulturalität – ohne dass ihm dies den Status einer zugleich individuellen Person rauben würde.
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3. Der Mensch lebt bewusst, und diese Bewusstheit des Lebensvoll-
zugs ist das spezifische Charakteristikum einer Existenz, in der freilich auch das emotionale Erleben von herausragender Bedeutung ist. 4. Der Mensch kann, ja muss aus stets möglichen Alternativen auswählen, er kann und muss Entscheidungen treffen. Er kann seine Handlungs- und Lebenspraxis selbst gestalten und sich selbst bestimmen. Demzufolge muss er sein Tun und Lassen auch verantworten. Er kann dementsprechend zur Rechenschaft gezogen werden. 5. Das Handeln des Menschen besitzt eine intentionale Struktur, es ist zweckorientiert oder zielgerichtet und an Werten ausgerichtet, die die Grundlage der Identität einer Person, den Kern seines Selbst bilden. Aus all dem ergeben sich einige methodologische Prinzipien und Konsequenzen für die Methodik wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, ja: für den Status methodischen Denkens und Handelns und die damit verbundenen Rationalitätsansprüche überhaupt. Mitunter sind die folgenden Annahmen und Vornahmen auch nur vage und locker mit den anthropologischen Prämissen assoziiert: 1. Im Mittelpunkt der Humanistischen Psychologie steht der Mensch,
und zwar der ganze Mensch im Sinne des oben skizzierten anthropologischen Holismus einer in sozialen Kontexten existierenden leiblichen Person. Diese humanistische Perspektive hat eine eindeutig anti-objektivistische Stoßrichtung, die dem Anspruch auf die Neutralität rationaler Verfahren Grenzen setzt. Den „Menschen“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit und des Interesses zu rücken bedeutet hier nämlich nicht zuletzt, auch den forschenden Menschen zum Thema jedweder Forschung selbst zu machen. Die niemals hintergehbare oder vollständig kontrollierbare Subjektivität des Forschers (oder der Forscherin) wird damit nicht allein zu einer abstrakten Bedingung der Möglichkeit von wissenschaftlichem Wissen, sondern zu einem veritablen Faktor, der die konkrete Erfahrungs- und Erkenntnisbildung bestimmt und prägt. Dagegen helfen keine methodologischen Prinzipien und methodischen Regeln, und diese „Hilfe“ wird in der Humanistischen Psychologie auch gar nicht als erforderlich oder wünschenswert betrachtet.
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2. Die Humanistische Psychologie setzt sich vehement gegen den
durch die objektivistische Psychologie (vgl. Balmer 1982), insbesondere durch den Behaviorismus inthronisierten und dogmatisierten Primat der Methode zur Wehr. Methoden werden demgegenüber vergleichsweise nüchtern, einfach als Instrumente gesehen, deren Zweckdienlichkeit sich eben erweisen muss – und zwar im Zusammenhang der Bearbeitung von Fragestellungen und Themen, die an sich interessant sind, weil sie Bedeutung im menschlichen Leben besitzen (und nicht nur in einer im sprichwörtlichen „Elfenbeinturm“ betriebenen wissenschaftlichen Psychologie, die allein den internen Rationalitätsstandards, vor allem aber den Eitelkeiten und Lustbarkeiten sowie den Macht- und Karrieresystemen einer verschworenen Gemeinschaft verpflichtet ist). Die auch in der Humanistischen Psychologie durchaus anerkannte Notwendigkeit methodischen Denkens und Handelns wird also dem Interesse an der Handlungsund Lebenspraxis untergeordnet. Dabei spielt die theoretisch und methodisch so folgenreiche Einsicht in die Sinn- und Bedeutungsstruktur dieser Praxis eine entscheidende Rolle. Die methodischen Inventare der wissenschaftlichen Psychologie müssen es nämlich ermöglichen, diese Struktur zu erfassen (mithin zu verstehen). 3. Die Gültigkeit wissenschaftlicher Aussagen kann nicht allein im Rahmen formaler Verfahren beurteilt werden. Die Validierung wissenschaftlicher Theorien und Befunde stößt letztlich auf das Kriterium der menschlichen Erfahrung. Dieser Erfahrung müssen im Grunde genommen auch methodisch akkurate Experimente, Tests oder statistische Methoden Rechnung tragen und gerecht werden. Erfahrung bedeutet hier offensichtlich mehr als die strikt reglementierte Empirie von Wissenschaften, die methodisch am Ideal des möglichst unter Laborbedingungen kontrollierten Experiments orientiert sind. 4. Bei all dem sind wissenschaftliche Vorgehensweisen zwar besondere und besonders systematische, methodische und (deswegen) rationale Formen der Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, keineswegs aber die einzigen und einzig gültigen oder akzeptablen. Die Humanistische Psychologie widerstreitet nicht nur bestimmten Wissenschaftsauffassungen – der objektivistischen Psychologie oder einzelnen Schulen in dieser Disziplin –, sondern zehrt im Grunde genommen von einem alle (okzidentalen) wissenschaftlichen Bemühungen relativierenden Impetus und Impuls. Ein gewisser wissen-
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schaftskritischer Gestus und damit die Skepsis gegenüber einer bestimmten Form der Rationalität oder sogar der menschlichen Vernunft schlechthin kennzeichnen fast alle Schriften der Humanistischen Psychologie. Oft geht diese mal latente, mal manifeste, teils subtile, teils brachiale Abwertung der (okzidentalen) wissenschaftlichen Tradition und ihrer Verehrung der Vernunft mit einer Aufwertung des Gefühls (der Intuition, Spontaneität, Kreativität etc.) einher (manchmal auch mit der affirmativen Rezeption des Gedankenguts anderer, fremder Kulturen, insbesondere östlicher Traditionen – vom Zen-Buddhismus bis zum Yoga etwa. Was manchmal eine seltsame Opposition zwischen ‚vernunfthörigem Westen‘ und ‚vernunftkritischem Osten‘ suggeriert). Die Rehabilitierung des Gefühls – auch als eines Erkenntnisinstrumentes! – wird dem einengenden und sogar als Gefahr für die Menschheit, das menschliche Leben und das Leben schlechthin identifizierten Logozentrismus gegenübergestellt. Mit Gefühl kann dabei vielerlei gemeint sein – bis hin zum esoterischen und religiösen Erleben, spirituellen Empfinden und mystischen Zuständen oder anderen Grenzerfahrungen oder Ekstasen. Damit wird nicht nur die Trennlinie zwischen Wissenschaft und sonstigen Varianten des Wissens und der Wissensbildung verwischt, sondern mitunter auch eine tendenziell wissenschaftsfeindliche Zielsetzung bedient und verfolgt. 5. Die Humanistische Psychologie fühlt sich, heißt es, einer phänomenologischen Orientierung verpflichtet – und versteht darunter, meistens ziemlich simpel, eine Orientierung an der Fülle und Vielfalt lebens- oder alltagsweltlicher Erfahrungen, die in der Wissenschaft möglichst nicht-reduziert zur Geltung kommen sollen. Vor allem dürfen sie nicht wegen zum Selbstzweck gewordener methodischer Standards einfach ausgeschlossen werden. Was das genau mit Phänomenologie im engeren Sinne zu tun hat, bleibt oft im Dunkeln – jedenfalls wenn man bei diesem Namen an eine philosophische Strömung, an Edmund Husserl oder Martin Heidegger oder Maurice Merleau-Ponty denkt – oder auch nur an eine phänomenologische Psychologie, die sich um die Wahrung und Aufnahme dieser Tradition bemüht (Graumann/Metraux 1977). Die Zusammenstellung dieser für die Humanistische Psychologie zentralen Punkte soll genügen, um einige für die wissenschaftliche Praxis wichtige Prinzipien und Verfahren der Erfahrungs- und Erkenntnis-
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bildung in Erinnerung zu rufen. Sie sollte aber auch deutlich gemacht haben, dass auch diese Auskünfte nicht dazu geeignet sind, Interessierten eine hinreichend präzise und differenzierte Antwort auf die Frage zu geben, worin genau der Humanismus der Humanistischen Psychologie bestehe. Der emphatische Hinweis auf die notwendige Einbeziehung des „ganzen Menschen“ und seines sinnhaft strukturierten Lebens und Erlebens sowie einige Postulate, die es gestatten sollen, diesem komplexen ‚Grund-Satz‘ methodologisch und methodisch möglichst gerecht zu werden, reichen diesbezüglich offenbar nicht aus. Welche Antwort lässt sich nach dem erfolgten Streifzug durch die Geschichte der Humanistischen Psychologie und die kurze Erinnerung an ihre wichtigsten anthropologischen Grundannahmen, (meta-)theoretischen Prinzipien und methodischen Orientierungen auf diese Frage geben? Was macht die Humanistische Psychologie aus, was sind ihre wesentlichen Merkmale und Aufgaben, Wirkungen und Funktionen? Was war, was ist und bleibt sie künftig auch dann noch, wenn man sich darüber einig sein sollte, dass sie mit dem gegenwärtigen state of the art von theoretisch elaborierten, sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten, interpretativen Ansätzen in der Psychologie längst nicht mehr mithalten kann (und zu diesem state of the art auch relativ wenig beigetragen hat in den letzten Jahrzehnten).
U ND DER H UMANISMUS DER H UMANISTISCHEN P SYCHOLOGIE ? Er hatte eine SelbstverwirklichungsZeitschrift namens Das wahre Selbst gegründet.
Ernährung,
Workouts,
Lifestyle, Geld. Natürlich war sie nur eine von Tausenden. Doch Das wahre Selbst hatte eine Besonderheit: Die Abonnenten waren zugleich die Autoren. Und alle Abonnenten wurden mit den Produkten bezahlt, für die in der Zeitschrift geworben wurde. RICHARD POWERS 2009: 30
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Die oben skizzierte Vorgeschichte und Geschichte der Humanistischen Psychologie hat deutlich gemacht, dass die Humanistische Psychologie schwer in einer einigermaßen klar umrissenen humanistischen Tradition zu verorten ist. Insbesondere die wiedergegebene Liste von Donald Moss – von der ihr Autor übrigens sagt, sie sei allzu unvollständig –, zeigt schlagartig, dass der Humanistischen Psychologie kaum ein menschliches Denken fremd war und ist. Irgendwie scheint beinahe alles, jedenfalls alles Mögliche wichtig gewesen zu sein für die allmähliche Vorbereitung und Grundlegung dieser einflussreichen Spielart der modernen Psychologie – selbst wenn es sich um widersprüchliche Gedankengebäude und sich widerstreitende praktische Perspektiven handelt. Heterogene, partiell inkompatible und sogar inkommensurable Weltanschauungen, Menschenbilder und Überzeugungssysteme, wissenschaftliche Denkformen und Methoden gesellen sich hier zu einem fröhlichen Stelldichein, um am Ende irgendwie in die Geschichte und Gegenwart der Humanistischen Psychologie einzumünden. Diese scheint, wie dargelegt, beinahe alles absorbieren und ‚integrieren‘ zu können. Nach der Lektüre von Moss’ Vorgeschichte und Geschichte der Humanistischen Psychologie sowie weiterer einschlägiger Arbeiten weiß man also immer noch nicht, aus welchen wirklich zentralen Wurzeln und eher peripheren Quellen sich diese moderne Psychologie nun eigentlich tatsächlich speist. Die Tatsache, dass Menschen ‚immer schon‘ über den gerade erreichten Status quo hinaus gelangen wollten und nicht zuletzt ihre jeweils persönlichen Grenzen produktiv zu überschreiten und auszuweiten strebten, ist eine allzu triviale und abstrakte Einsicht, als dass sie dazu herhalten könnte, um Verwandte der Humanistischen Psychologie in der Antike, im Mittelalter und in der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hineinreichenden Neuzeit ausfindig zu machen. Sie ignoriert nicht zuletzt, dass es zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen keineswegs immer dasselbe bedeutete, sich selbst ‚entfalten‘ oder ‚entwickeln‘‚ ‚verwirklichen‘, ‚verbessern‘ oder ‚vollenden‘ zu wollen (Sieben/Sabisch-Fechtelpeter/Straub 2012). Ganz im Gegenteil: Die vielleicht erste dezidiert ‚positive‘ Psychologie hat gerade diesbezüglich entscheidende Neuerungen eingeführt. Das allerdings ist bemerkenswert und führt zum eigentlichen Kern der Sache (wenngleich zu einem vielleicht doch zwiespältigen, zwielichtigen ‚Humanismus‘).
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Wenn der Humanismus der Humanistischen Psychologie sich tatsächlich aus derartig vielen und verschiedenen Traditionen speisen würde, wie Moss und andere es nahe legen, verdiente es wohl so gut wie jede (westliche) Psychologie, „humanistisch“ genannt zu werden (außer den entschieden anti- oder posthumanistischen Bastionen wie dem Behaviorismus oder heutigen Neuro-Psychologie natürlich). Die Bezeichnung verlöre jede Unterscheidungskraft. Sie würde allenfalls noch als Name für ein mit eklektizistischer Verve zusammengemixtes Amalgam aus allem Möglichen dienen können. Vielleicht ist die Humanistische Psychologie ja in der Tat genau das: ein ziemlich wilder Hybrid, dem es auf die systematische Begründung und Integration seiner differenten Bestandteile ebenso wenig ankommt wie auf die Frage, ob denn alles Aufgelesene und ‚Integrierte‘ am Ende wirklich zusammenpasst, einigermaßen wenigstens. Vielleicht ist diese Psychologie, deren außereuropäische Inspirationsquellen öfters beiseitegelassen werden, tatsächlich ein synkretisches Geflecht aus verschiedenen Sprachen und Terminologien, zwischen denen man beinahe beliebig hin- und hergehen zu können meint. Womöglich also kommt sie wie keine andere Variante der modernen westlichen Psychologie dem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rapide wachsenden – zunächst in den wuchernden Sub- und Gegenkulturen einer aufbrechenden Jugend und ihrer Mentoren artikulierten – Bedürfnis entgegen, aus einem möglichst vollgefüllten Reservoir an Orientierungsangeboten sowie Selbst-Techniken flexibel auswählen zu können, um dem eigenen, aus traditionellen Festlegungen freigesetzten Dasein Sinn und Bedeutung zu verleihen – wie es gerade gefällt und nützt, ad infinitum. Allerlei Theorien, Methoden und Techniken könnten dann, ohne allzu große Rücksicht auf ihre Herkunft, ganz pragmatisch und instrumentell gebraucht werden, wenn sie in der gegebenen Situation nur dem übergeordneten, alles überwölbenden und beherrschenden Ziel und Zweck dienten, nämlich der psychologischen Optimierung oder Vervollkommnung des Menschen im Sinne einer sukzessiven, unendlichen ‚Humanisierung‘, die historisch, kulturell und gesellschaftlich noch nicht ausgeschöpfte Potentiale aufspürt und fördert, um die menschliche Kreativität und Produktivität, kurzum: allerlei Erlebnisund Handlungsmöglichkeiten zu steigern und zu erweitern (im Einklang mit weitgehend allgemeinen, ‚politisch korrekten‘ Werten und Normen, also ohne die z.B. natürlichen/ökologischen Bedingungen der
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Möglichkeit einer solchen endlosen Bereicherung des Selbst und der Welt zu gefährden). Der Humanismus der Humanistischen Psychologie wäre dann einmalig vage und maximal inklusiv. Er wäre eine Art Psycho-Pop als Mitmachangebot für alle. Das heißt keineswegs, daran sei nichts Gutes und Brauchbares. Es bedeutet vielmehr, dass viele der Humanistischen Psychologie ‚bedürfen‘ und es zeigt, wozu sie gut ist in der spät- oder postmodernen Kultur und Gesellschaft (auch noch) unserer Gegenwart. Das ist in der Tat die in diesem Beitrag vertretene Auffassung. Die bisherigen Ausführungen legen just diese Sichtweise nahe: In grandioser Unbestimmtheit absorbierte und amalgamierte die Humanistische Psychologie seit ihren spektakulären Anfängen einfach so gut wie alles, was irgendwie ins eigene, nur ungefähr bestimmte Konzept eines ‚neuen‘ bzw. sich neu erfindenden und erschaffenden Menschen zu passen schien (und zu passen scheint). Diese Strömung suchte (und fahndet noch immer) emsig nach allem, was fruchtbare Assoziationen zu wecken oder erhellende Analogien, Anschlussmöglichkeiten theoretischer oder praktischer Art auszulösen vermag. Zu diesem Zweck ‚räuberte‘ man von Beginn an in allen möglichen Feldern und brachte ‚Früchte‘ heim, die aus ihrem Kontext gerissen worden waren und dennoch ‚genießbar‘ bleiben sollten. Um im Bild zu bleiben: Sie wurden in neuartiger Weise arrangiert und kredenzt.21 Ihr Verzehr wurde insgesamt einem zentralen, nunmehr psychologisch konzeptualisierten Ziel zugeordnet: Selbstthematisierung, Selbstaktualisierung und Selbstverwirklichung hießen die neuen, zumindest einen wirklich neuen Sinn annehmenden Losungsworte. Nach den deprimierenden ‚Selbsterfahrungen‘ einer in exzessive kollektive Gewalt verstrickten Menschheit wirkte der unbändige Optimismus einer (angeblich) un-
21 Das müsste freilich in geeigneten Einzelstudien konkretisiert und untersucht werden. Besonders interessant scheint mir nicht zuletzt die auf globalisiertem kulturellem Austausch beruhende Rezeption, Translation und Integration ‚fremdkultureller‘ Elemente in Theorien und Praktiken der Humanistischen Psychologie (sowie ihrer Ausläufer und Nachfolger in Gestalt der Transpersonalen und der Positiven Psychologie). Man denke etwa an die Rolle von Yoga oder Meditation in allen möglichen ‚humanistischen‘ Psychozirkeln. Die Humanistische Psychologie war auch diesbezüglich ein avantgardistischer Vorreiter interkultureller Kommunikation, Kooperation und Koexistenz.
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gewöhnlich ‚positiv‘ eingestellten Psychologie aufmunternd und motivierend.22 Die Humanistische Psychologie hatte den Glauben an
22 Eine Anmerkung zur so genannten „Positiven Psychologie“, die ich bereits mehrfach als einen eigentümlichen Ausläufer oder Nachfahren der Humanistischen Psychologie bezeichnet habe. Der verlockende, verheißungsvolle Name wird (vor allem in Nordamerika) längst als Terminus technicus geführt. Er ist auch bei Wikipedia nachzuschlagen, wo es heißt: „Positive Psychologie ist die Selbstbezeichnung eines vom US-amerikanischen Psychologen Martin Seligman begründeten Forschungsprogramms. Dabei werden normativ positive Gegenstände der Psychologie wie Glück, Optimismus, Geborgenheit, Vertrauen, Verzeihen und Solidarität behandelt, welche laut Seligman in der anfänglich konflikt- und störungsorientierten Psychologie wenig beachtet wurden (2000). Inzwischen benennt der Begriff eine Strömung (möglicherweise eine Schule) innerhalb der Psychologie; sie wird auch als ‚neues Paradigma‘ bezeichnet“ (http://de.wiki pedia.org/wiki/Positive_Psychologie). Erst der (angebliche) Wechsel vom defizit- zum ressourcenorientierten Denken rückte die Frage ins Zentrum, was denn der Mensch – nicht zuletzt mit den Mitteln der modernen Psychologie – so alles aus sich machen kann. Das damit verwobene Programm einer entschiedenen und schrittweisen Optimierung des Menschen, das sich neben der Psychologie gegenwärtig vor allem auf die Biologie in Gestalt der höchst innovativen Genetik und der das Gehirn entschlüsselnden Neurowissenschaften stützt, fällt allerdings nicht wie aus dem Nichts hernieder. Dieses „ressourcenorientierte“ Denken, das ein ausgedehntes Forschungsprogramm mit einem ebenso beherzten wie lukrativen, profitträchtigen Menschenverbesserungsprogramm in praktischer Absicht verknüpft, entsprang nämlich dem noch fruchtbaren Schoß der Humanistischen Psychologie. In ihr liegen die Wurzeln einer optimistisch und manchmal regelrecht euphorisch auf Optimierung und Perfektionierung setzenden Programmatik der Veränderung von Menschen, die in ihren kreativen Potentialen allzu lange verkannt worden seien, heißt es. Es war eben die Humanistische Psychologie, die der sog. Positiven Psychologie den (weltanschaulich-ideologischen) Boden bereitete – selbst wenn sich zumindest manche der Väter und Mütter der humanistischen Richtung wohl im Grabe umdrehen würden, wenn sie sähen, wohin der empfohlene und eingeschlagene Weg mittlerweile (auch) geführt hat. Die an tatsächlicher oder strategisch inszenierter Naivität und an exzessiver Kommerzialisierung psychologischer Rezepte und Dienstleistungen nicht mehr zu
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den Menschen trotz allem nicht verloren. Sie zimmerte aus diesem Glauben eine dezidiert psychologische Weltanschauung.23
überbietenden Auswüchse waren wohl nicht ganz im Sinne der Erfinder – und vielleicht dennoch unvermeidlich, weil die Humanistische Psychologie selbst schon allzu beseelt das Geschäft einer weltanschaulich ambitionierten Selbstinszenierung betrieb und auf den Verkauf psychologischer Selbstverwirklichungshappen setzte. Von manchen Werbephrasen und Workshops der Humanistischen Psychologie war es nicht mehr allzu weit zum Einzug der Nachfahren in die psychologisierten Unternehmen des geschmeidigen Kapitalismus: „Seit der Begründung der Positiven Psychologie macht sich auch die Unternehmenspraxis deren Erkenntnisse zunutze. Nachdem sich das ‚Positive Leadership‘-Konzept im angelsächsischen Raum längst fest etabliert hat, setzt es sich auch in deutschsprachigen Ländern weiter durch. Vorreiter in Deutschland sind Handelsunternehmen wie die OBI Baumärkte und die Media-Markt und Saturn Holding. Als Grundlage für die Anwendung der Positiven Psychologie dienen Teamentwicklungsmodelle, die auf dem Clifton Strengths Finder Instrument des amerikanischen GALLUP Instituts aufbauen“ (http://de. wikipedia.org/wiki/Positive_Psychologie). 23 Damit war die Humanistische Psychologie, ganz im Widerspruch zur eigenen Propaganda, keineswegs allein. Der Behaviorismus stand diesem optimistischen Zugriff auf die Zukunft eines durch die moderne Psychologie erneuerten Menschen in nichts nach. (Nebenbei gesagt: Auch die heutige Bio-/Neuro-Psychologie bedient diese Option propagandistisch und übertrumpft dabei sogar ihre diesbezüglichen Vorgänger.) Watson und Skinner setzten so gut wie alles auf die szientistische Karte einer behavioristischen Psychologie, die die Menschheit verbessern, bereichern und beglücken sollte. Skinner malte das kommende Paradies nicht nur, wie oben erwähnt, in seiner teleologischen Utopie „Walden Two“ an den Horizont der künftigen, rundum vernunftgesteuerten Menschheit. Auch wissenschaftliche Publikationen, in denen der Autor die Befunde und Programme laborexperimenteller Forschungen innovativer Behavioristen in größere Zusammenhänge stellt, sprechen eine klare Sprache. „Beyond Freedom and Dignity“ etwa bietet eine noch heute schauerlich-faszinierende Lektüre, die tiefe Einblicke in den unbändigen Fortschrittsglauben und die Größenphantasien eines psychologischen MenschenMachers par excellence gewährt – eines ‚grandiosen‘ Psychologen im Übrigen, der seine Wissenschaft zur Weltanschauung erklärte und dem
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Wer sich in Zukunft an die Einsichten und Empfehlungen zu halten traue, hätte, so verkündete die Humanistische Psychologie nicht gerade bescheiden, nicht nur an einer kollektiv betriebenen „Errettung der modernen Seele“ teil, sondern auch an einer Errettung der von Selbstdestruktion bedrohten wissenschaftlich-technischen Welt insgesamt. Nicht allein das waren einigermaßen ‚neue‘ Töne, wohltuend nach den beiden Weltkriegen, ermutigend auch angesichts der globalen atomaren Bedrohung sowie der weltweit sichtbar werdenden ökologischen Katastrophen und anhaltenden Krisen. Neu war nicht die Diagnose, sondern vor allem das Rezept (erstmals ein echter Therapievorschlag im Sinne der modernen Psychologie): Im Kern sollte nämlich das Gute bewirkt werden – im Privatleben jedes und jeder einzelnen genauso wie in der Politik, der Wirtschaft, der Bildung, der Kunst usw. –, indem die Seele auf den Weg einer unvergleichlich tiefen und weit ausgreifenden Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung geschickt wurde. Auf diesem Weg einer unendlichen Suche nach dem ‚wahren‘, ‚authentischen‘ Selbst rückten die Gefühle des Menschen ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit und jener psychologischen Instruktionen, die immer weitere Bereiche der Lebenspraxis durchdrangen (Illouz 2009, insb. Kap. 3-6). Das ist ein häufig gerade dann nicht hinreichend gewürdigter Punkt, wenn es um Vorläufer und Wegbereiter sowie um direkte Verbündete und vor allem Gegenspieler der Humanistischen Psychologie geht. Die Zeit der späten 1940er und 1950er Jahre war (auch in den Vereinigten Staaten von Amerika) keineswegs mehr eine Zeit, in der man innerhalb der Psychologie lediglich gegen die Psychoanalyse und den Behaviorismus hätte antreten und erfolgreich sein müssen, um die Nase vorne zu haben. Just in dem Jahrzehnt, in dem die Humanistische Psychologie erste Konturen annahm und bald schon ihre Klauen wetzte, arbeiteten (z.B. in Harvard) in den Brutstätten informations-
noch dämmernden Strukturalismus und Poststrukturalismus (französischer Provenienz) weit voraus war mit der dezidiert antihumanistischen Forderung nach einer erlösenden Abschaffung des Menschen (die freilich ohnehin unvermeidlich sei, da der Tod des Menschen angesichts der unübersehbar negativen Auswirkungen des idealistischen Humanismus unabwendbar bevorstehe und eigentlich schon eingetreten sei, selbst wenn es die dahinsiechenden Menschen noch nicht gemerkt hätten; vgl. dazu Straub 2010, wo sich zahlreiche Literaturangaben finden).
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theoretisch und informationstechnologisch avancierter Wissenschaftler einige Leute das Programm einer Cognitive Revolution in der Psychologie aus. Diese kognitive Wende vollzog sich spätestens um 1960 herum tatsächlich, so dass man die Humanistische Psychologie zu Recht auch als einen Gegenspieler und Widerpart des keimenden Kognitivismus und der damit einhergehenden rationalistischen Überzeichnung des menschlichen Handelns und Lebens betrachten kann (und sollte). Das geschieht allerdings kaum einmal, obwohl James Bugental in einem seiner frühen, wegweisenden Texte das humanistischpsychologische Menschenbild auch vielsagend gegen die kognitionspsychologischen Modelle in Stellung brachte. Er polemisiert dort nämlich nicht nur gegen die Reduktion des Menschen auf eine „größere weiße Ratte“, sondern auch auf einen „langsamen Computer“ (1967: VII). Anders als der computationalistische Kognitivismus stelle die Humanistische Psychologie eben den ‚wirklichen‘ Menschen in seiner alltäglichen Lebenswelt und seine Gefühle in den Mittelpunkt.24
24 Die sog. kognitive Wende in der Psychologie war seinerzeit bereits vollzogen, mit eben jenen auch von Bugental monierten Folgen eines reduktionistischen Menschenbilds, das ganz den theoretischen Möglichkeiten des informationstheoretischen Computationalismus verhaftet war. Das kritisierte einige Zeit später einer der prominenten Wegbereiter der cognitive revolution als einen Abweg, auf den man nolens volens geraten sei. Jerome Bruner erinnert daran, dass die Initiatoren und Motoren der kognitiven Wende eine radikale Abkehr vom verstaubten Behaviorismus intendierten und deswegen zunächst einen Schritt rückwärts taten, indem sie mentale Begriffe wieder salonfähig machten. Allerdings war diese Wiederbesinnung auf den ‚Geist‘ und die damit unweigerlich verwobene Rehabilitierung des Subjekts an ein umfassendes Programm to bring man back in gekoppelt. Dieser ‚Mensch‘ sollte dabei weder subjektivistisch oder individualistisch noch kognitivistisch konzeptualisiert werden, sondern als ein animal symbolicum, eine sprach- und handlungsfähige Person mithin, die als historisch, kulturell und sozial konstituiertes Lebewesen aufzufassen und als solche zu erforschen sei. Das war nicht zuletzt als eine Abkehr von einer rein laborexperimentellen Forschung und als Hinwendung zu einer Psychologie der alltagsweltlichen Praxis konkreter Menschen gedacht (im Grunde genommen in diesem Punkt durchaus ähnlich wie in der Humanistischen Psychologie, wenngleich theoretisch anspruchsvoller angelegt). Dieses Ziel wurde jedoch weitgehend verfehlt,
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Eine Humanistische Psychologie der kreativen Selbstverwirklichung für Menschen, die sich vorrangig um ihre Gefühle und deren authentischen Ausdruck im Rahmen sozialer Beziehungen kümmern: Diese Psychologie stellt sich, wie dargelegt, in den extrem weitläufigen Strom einer Tradition, die alles enthält, was diesem ‚positiven‘ Ziel dient. Aus dem weitläufigen Spiel identitätsstiftender Bezugnahmen wären nach der vorgetragenen (üblichen) Lesart lediglich jene Denk- und Überzeugungssysteme ausgeschlossen, deren ‚negative‘ Schlagseite in einen unbelehrbaren und kontraproduktiven Pessimismus mündet oder deren destruktive Anlage und menschenfeindliche Ambition sogar noch offenkundiger sind. Moss‘ glimpses of the past vermitteln just diesen Eindruck. So gut wie alle anderen Autorinnen und Autoren, die sich mit der Geschichte und Gegenwart der Humanistischen Psychologie befassen, bestätigen und bestärken ihn.
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OPTIMISTISCHE UND AUF O PTIMIERUNG ZIELENDE W ELTANSCHAUUNG EINER UTOPISCHEN P SYCHOLOGIE ODER : D IE S ÄKULARISIERUNG AUSGEDIENTER H EILSIDEEN MODO PSYCHOLOGICO Fest steht: Der „Humanismus“ der Humanistischen Psychologie hat keine klaren Konturen. Diese – wie die Promotoren und Apologeten selbst gerne sagten – „dritte Kraft“ in der Psychologie des verganund zwar von avancierten Wissenschaftlern, die allzu sehr von den Möglichkeiten der informationstheoretischen und -technischen, speziell eben von der computationalen Modellierung des menschlichen Geistes fasziniert waren und sich bald schon in diesem allzu engen Rahmen eingerichtet hatten. Wohin es nach Jerome Bruner eigentlich schon seinerzeit hätte gehen sollen, lässt sich an der auch von diesem kreativen und innovativen grand old man der Psychologie des 20. und noch des 21. Jahrhunderts entwickelten, interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie erkennen (die nicht zuletzt als narrative Psychologie angelegt war; vgl. Bruner 1983, 1990; in vielerlei Hinsicht ähnliche Ansätze wurden frühzeitig, nämlich seit den 1950er Jahren, von Ernst Boesch (1991) oder später von Straub (1999) und einigen anderen vorgelegt (zum Überblick vgl. Boesch/Straub 2007); eine profunde Rekonstruktion und Kritik des Kognitivismus in der Psychologie bietet Barbara Zielke (2004).
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genen Saeculums setzte sich dezidiert und mit kaum unüberbietbarem Pathos von der Psychoanalyse und dem Behaviorismus ab, um sich in dieser polemischen Stellung einer doppelten Opposition in den Dienst der eigenen Sache, einer neuen Psychologie und zugleich eines künftigen Menschen zu begeben. Die bisherige Geschichte der Menschheit hatte, so viel es zu bestaunen und zu bewundern geben mag, allenfalls ein paar Spuren jenes schöpferischen Potentials ans Licht gebracht, das die Humanistische Psychologie nun freizulegen und mit unüberbietbarer Verve auch anzuregen gedachte. In Theorie und Praxis sollte ein Mensch auf die Bühne treten, dem weder die Psychoanalyse noch der Behaviorismus gerecht wurden. Ihre jeweiligen Reduktionismen verdeckten vielmehr, hieß es nun, den Blick auf jene erregenden und erhebenden Möglichkeiten, welche den Menschen doch erst als Menschen auszeichneten. Diese teils verborgenen, teils verschütteten und verhinderten Potentiale, seine schlummernden Fähigkeiten und Fertigkeiten höben ihn nicht allein aus der Naturgeschichte der Lebewesen heraus. Sie sollten, wären sie erst einmal entfesselt und entfaltet, den Menschen vielmehr über die Grenzen der noch unvollendeten Geschichte einer Menschheit hinausführen, deren Befreiung aus selbst eingerichteten Zwängen, selbst verschuldeter Unmündigkeit und eigenem Unglück sich die New Psychology nun angelegen sein ließ. Das war das Pogramm, ein kaum zu überbietender Anspruch. Die ‚wissenschaftliche‘ Psychologie wurde in den Dienst einer Menschheit im Aufbruch genommen. Sie legte alle Zurückhaltung und Neutralität ab, strebte zu neuen Ufern. Sie verfolgte das weltanschauliche Programm einer praktischen Psychologisierung des Menschen. Der Humanismus der Humanistischen Psychologie rückte nicht nur den Menschen ins Zentrum der Betrachtung. Er zielte, ohne falsche Bescheidenheit, auf eine psychologische Verwandlung und Erneuerung des Humanpotentials (human resources). In den Händen der innovativen, durchaus revolutionär sich gebärdenden Psychologie sollte der Mensch zur entscheidenden Ressource einer bald schon umgewälzten Welt werden. Die beabsichtigte Humanisierung war als umfassende Psychologisierung angelegt. Das war in der Tat ein geschichtliches Novum – zwar keineswegs ohne Vorläufer (vor allem im 19. Jahrhundert), aber doch ohne Vorbilder, von denen man die Konzepte und Rezepte einfach hätte abschauen können. Die Renaissance des Humanismus in der Psychologie war keine Wiedergeburt antiker Traditionen, sondern als Neugeburt des Menschen gedacht (bei der die
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bahnbrechende Psychoanalyse natürlich ein wenig mithelfen konnte, obwohl insbesondere Sigmund Freuds von Skepsis durchkreuzte Hoffnungen und Ambitionen sehr viel bescheidener waren. Die seelischen Leiden einer privilegierten ‚bürgerlichen‘ Schicht modo psychoanalytico etwas lindern und einhegen, das wäre seines Erachtens schon viel gewesen!). Die als Psychologisierung angelegte Humanisierung zielte auf eine private und öffentliche, (angeblich) wissenschaftlich begründete und professionell angeleitete, von Beratern und Therapeuten, Helfern und – wie sie sich bald nennen sollten – Facilitatoren betreute Selbstthematisierung, Selbstbeobachtung und Selbstveränderung des Menschen. All das stand im Zeichen einer unentwegten Selbstaktualisierung und Selbstverwirklichung. Das war ein gigantisches Programm – und zwar ein (in gewisser Hinsicht) ziemlich erfolgreiches, trotz erlittener Schlappen, und obwohl dieses Programm mittlerweile etwas erschlafft und vor allem in der Wissenschaft ganz aus der Mode gekommen ist. Die Humanistische Psychologie stand mit diesem Programm seinerzeit, wie gesagt, keineswegs ganz allein da – obschon sie einzigartig war auf ihre Weise. Sie war die „dritte“ in einer ganzen Reihe von Kräften, die sich diesem Programm verschrieben hatten seit dem späten 19. Jahrhundert. Die damals entstandenen Gedächtniswissenschaften, die die Erinnerung als Schlüssel zur menschlichen Seele betrachteten, sind ohne psychologische Beiträge nicht zu verstehen. Die Psychoanalyse verwandelte das menschliche Selbstverständnis tiefgreifend, indem sie den psychologischen Blick spezifizierte und verbreitete und dabei das Unbewusste ins Zentrum der Aufmerksamkeit, der Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit rückte. Der Behaviorismus hielt sich keineswegs zurück im Wettbewerb um die besten wissenschaftlichen Beiträge zur Umgestaltung der Welt des Menschen. Im Gegenteil, er war wohl das erste wirklich radikale, totale und an utopischen Energien geradezu überbordende Optimierungsprogramm. Dem Behaviorismus wird es, davon war Skinner überzeugt, auf der Basis der bereits verfügbaren und noch zu schaffenden Einsichten in die Natur des Verhaltens aller Lebewesen gelingen, den Menschen zu ihrem ersehnten Glück zu verhelfen, sie notfalls sogar dazu zu zwingen. Die neue Verhaltenswissenschaft zielte auf allgemein anwendbare Verhaltenstechniken, ein Verfügungswissen noch niemals da gewesener Art.
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Mit diesem behavioristischen Hang zur manipulativen Veränderung des Selbst und der Anderen mag die Humanistische Psychologie so ihre Probleme gehabt haben. Sie nahm Rücksicht auf das Subjekt, seine Gefühle und seine partielle Autonomie (meistens, anscheinend jedenfalls). Der Mensch sollte aus freien Stücken im gigantischen Projekt der psychologischen Befreiung aus überkommenen Zwängen, rigiden Schablonen und Masken sowie beklemmenden, einschränkenden (Selbst-)Verhältnissen mittun können. Das übergeordnete Ziel eines radikalen Umbaus des Menschen und seiner Welt durch die Psychologisierung seiner Praxis teilte die Humanistische Psychologie jedenfalls mit anderen Strömungen dieser – auch in diesem Sinn tatsächlich – modernen Disziplin. Hier wie dort ging es um nichts Geringeres als um einen neuen Menschen. Fast nirgends jedoch war das offensichtlicher als in der Humanistischen Psychologie. Hier tummelten sich immer zahlreicher werdende Apologeten einer emphatischen und empathischen säkularen Weltanschauung mit esoterischen und quasi-religiösen Zügen. (Wir erkennen darin heute das Paradox einer komplexen weltlichen Heilsidee schlechthin!) Nirgends sonst waren so viele Psychologinnen und Psychologen versammelt bzw. vernetzt, die ihren wissenschaftlichen Beruf mit einer praktischen Mission verbanden. Vielleicht war es so, dass diese Mission im 20. Jahrhundert nur möglich war und erfolgreich sein konnte, weil sie sich in das Gewand einer Autorität besitzenden Wissenschaft kleidete. Die Priester hatten zwar den Beruf gewechselt, ihre Theorien und Methoden erneuert oder erweitert, nicht aber von ihrer Aufgabe der vermeintlich beglückenden Bekehrung und Begleitung anderer abgelassen. Die anderen sollten neue Menschen werden. Dank der ‚Humanisierung‘ auf der Grundlage von Einsichten und Kenntnissen der Humanistischen Psychologie schien dieses Ziel ebenso aufregend wie aussichtsreich und greifbar nahe. Das alles klang nicht nur seinerzeit, also in den stürmischen 1960er Jahren des allgemeinen Aufbruchs vieler revolutionärer, revoltierender und reformerischer Geister in der westlichen Welt (und in ihrer ‚Peripherie‘), ziemlich utopisch, sondern ist es auch heute noch. Man tritt wohl niemandem mehr zu nahe, wenn man sich über den von Naivität bisweilen nur schwer zu unterscheidenden Optimismus und Überschwang wundert, der die Texte der Humanistischen Psychologie durchzieht. Es wäre zu einfach zu sagen, dies sei eben „amerikanisch“ – nicht nur weil viele prominente Vertreter dereinst aus Europa ins
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Land der unbegrenzten Möglichkeiten emigriert waren, einige von ihnen als Juden auf der Flucht vor den Nationalsozialisten.25 Schon deswegen wäre es zu simpel, diesen Leuten kurzerhand Blauäugigkeit unterzuschieben. Es waren vielfach nicht ‚irgendwelche‘ Europäer, sondern solche, deren Leben wenig Anlass geboten hatte, die Welt des Menschen durch eine rosa Brille zu betrachten und die eigene Spezies zu verklären. (Natürlich galt das nicht bloß für die Europäer.) Die Väter und Mütter der Humanistischen Psychologie hatten mit der „Anatomie menschlicher Destruktivität“ – um eines von Erich Fromms berühmt gewordenen Büchern zu zitieren – Bekanntschaft gemacht, bevor sie sich dem „neuen Menschen“ zuwandten. Ja, sie hatten Anteil an der Formierung einer Psychologie, deren Forschungsprogramme und -ergebnisse manchmal ohne den Nationalsozialismus, ohne den Faschismus und andere totalitäre Systeme gar nicht verständlich zu machen wären. Die Genese und innere Motivation dieser wissenschaftlichen Unternehmungen war zutiefst in die Opposition gegen jedwede Form des Totalitarismus eingebunden, der dem 20. Jahrhundert die Insignien eines Saeculums exzessiver Gewalt aufgeprägt hatte. Die Humanistische Psychologie wurde im Schatten der Verbrechen nicht nur gegen die Menschlichkeit, sondern, wie Hannah Arendt die gängige Redeweise korrigierte, gegen die Menschheit entworfen, also keineswegs im rosigen Licht weltfremder Traumtänzer, die bloß das naive Hohelied vom guten Menschen anstimmten, nachdem in Europa und den Einzugsgebieten der europäischen Genozide und Weltkriege gerade Millionen getötet wurden, auf Schlachtfeldern und in den industriellen Tötungsfabriken. Und dennoch gibt es verblüffende Töne in vielen Texten der Humanistischen Psychologie. Man kann heute kaum mehr nachvollziehen, wie sich Leute so äußern konnten – als erfolgreiche Wissenschaftler, Präsidenten nationaler psychologischer Vereinigungen sogar. Ebenso wenig ist es ohne weiteres nachvollziehbar, dass die Leserschaft oder Zuhörerschaft vielfach applaudierte und mitzog. Sehen wir uns ein paar Beispiele an! Quitmann sieht in der third force eine eigenwillige Allianz zwischen europäischer Phänomenologie und Existenzphilosophie einer-
25 Nur zwei der besonders prominenten Repräsentanten der Humanistischen Psychologie sind gebürtige US-Amerikaner, nämlich Abraham Maslow und Carl Rogers.
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seits, dem US-amerikanischen, optimistischen und zupackenden Geist des ökonomischen und politischen „New Deal“ andererseits. Sicher ist, dass die neue Psychologie sehr zügig die Gestalt einer intellektuellen und sozialen Bewegung angenommen hatte, die ihre wissenschaftlichen Ambitionen an nicht gerade bescheidene praktische Ziele koppelte. Man hatte nichts Geringeres als einen neuen Menschen im Visier und verstand die Humanistische Psychologie sehr häufig ganz offen als eine Heilslehre. Manchmal besaß diese Lehre eine ziemlich säkularisierte Gestalt, öfters war sie mit spirituellen Zügen versehen und als eine metaphysische Weltanschauung aufgefasst worden, kaum getrennt von esoterischen bzw. religiösen Sprachspielen und Lebensformen (traditioneller oder neuerer, hybrider Art). Man versprach sich von dieser Psychologie allerlei, nicht zuletzt eine Befreiung von Krieg und Gewalt sowie anderen vom Menschen geschaffenen Risiken und Gefahren, von den evidenten Bedrohungen durch die Technik zumal. Aggressivität und Destruktivität sollten der Liebe und Kreativität weichen. Die Humanistische Psychologie koppelte das psychologische Denken, ihren „Blick nach innen“ und auf die Beziehungen zwischen Menschen, an ein Umerziehungsprogramm im großen Stil. Die Arbeit an sich und den Beziehungen zu den Anderen sollte friedfertige und schöpferische Individuen hervorbringen, den Anderen Achtung und Anerkennung angedeihen lassen. Man wollte oder sollte sich gemeinsam auf den unendlichen Weg einer Selbstaktualisierung und Selbstverwirklichung begeben, auf dem sich niemand mit Verachtung und Hass begegnen muss.26 Das klingt alles ziemlich „überschwänglich-naiv“ (Quitmann 1985: 15) – und das war es auch (und ist es teilweise noch). Die hypertrophe Sozialromantik, die auf das Gute im Menschen setzte, sah eine wirklich schöne neue Welt zum Greifen nah
26 Es ist bezeichnend und auslegungsbedürftig zugleich, dass im interessierenden Zusammenhang immer wieder von „Arbeit“ gesprochen wird, von „Arbeit an sich“, „Arbeit am Selbst“, „Beziehungsarbeit“, „Gefühlsarbeit“ und dergleichen mehr. Das klingt ernst und in jedem Fall danach, dass es unendlich viel zu tun gibt und das anstehende Arbeitsprogramm ein möglichst planvolles Vorgehen erfordert, an dessen Umsetzung manche einiges verdienen können (auch Geld, aber das ist hier keineswegs die einzig wichtige ‚Kapitalsorte‘).
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– und zwar dank einer wissenschaftlichen Psychologie, die alles Dagewesene weit hinter sich lassen sollte. Man muss sich das vor Augen führen, um nachvollziehen zu können, was damals in den Köpfen und Herzen einiger Männer und Frauen mit unbremsbarem Tatendrang vor sich ging. Quitmann tut das gleich am Anfang seiner Studie. Er erinnert dort daran, dass Bugental (1964) in einem viel gelesenen Aufsatz im neuen „Journal of Humanistic Psychology“ den „Durchbruch“, zu dem die Humanistische Psychologie der ganzen Welt verhelfen werde, „mit geschichtlichen Ereignissen [vergleicht] wie dem Ende des Feudalismus, der Einführung der Elektrizität oder dem Beginn der Laborversuche in der experimentellen Psychologie. Er prophezeit, daß die Humanistische Psychologie ähnlich umwälzende Veränderungen für die Menschen bringen wird wie einstmals die Naturwissenschaften und daß sie ein wirksames Gegengewicht gegenüber der zunehmenden Bedrohung der Menschen durch eine atomare Katastrophe darstellt. In fast überschwänglicher Begeisterung vergleicht er die Entstehung der Humanistischen Psychologie mit der Entdeckung Amerikas: ‚it is […] as though a whole new hemisphere of our globe has been discovered by some new Columbus.‘“ (Quitmann 1985: 15)
Das war nicht „fast“, sondern mehr als überschwänglich, und auch von bloßer „Begeisterung“ kann man da wohl nicht mehr sprechen. Abgesehen von der aparten Reihung – Feudalismus, Elektrizität, Laborversuche der experimentellen Psychologie und schließlich die sog. Entdeckung eines ‚neuen‘ Kontinents – ist es schon verblüffend, wie sich hier leicht größenwahnsinnige Selbsteinschätzungen und fixe Ideen unkontrolliert Luft verschaffen durften. Carl Rogers (1963: 90) gesellt sich da nahtlos dazu, wenn er allen Ernstes mutmaßt, dass die Humanistische Psychologie „will lead to theoretical formulations that will be as shocking to conventional psychologists as theories of NonEuclidian space were for conventional physicists. […] It will carry within it a view of man as subjectively free, choosing, responsible architect of self.“ Schockierend? Allenfalls ein wenig ignorant und ziemlich unrealistisch mussten solche Verlautbarungen in informierten Kreisen schon seinerzeit erscheinen, ein gutes halbes Jahrhundert nach Nietzsche und Freud, Jahrzehnte nach Sartre und vielen anderen doch ein wenig radikaleren Denkern.
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Nichtsdestotrotz trifft man bis heute auf derartige Selbsteinschätzungen humanistischer Psychologen, und bisweilen werden sie von einflussreichen politischen Funktionsträgern oder anderen prominenten Persönlichkeiten skandiert und bestätigt. So bekennt sich z.B. der im Jahr 2001 amtierende California state senator John Vasconcellos in seinem Vorwort zum bereits zitierten „Handbook“ zur Humanistischen Psychologie und gibt kund, die Workshops von Sydney Jourard, Abraham Maslow, James Bugental, James Fadiman, Rollo May, John Heider und Carl Rogers hätten ihn begleitet und geleitet auf seiner Suche „for something to make sense of my life“ (ebd.: xiii). Und dann rückt er die Humanistische Psychologie und ihr Streben nach authentischen, freien, „transparent selves“ in eine Reihe mit jenen vielfach zitierten Revolutionen des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses, für welche die Namen Galileo Galilei und Nikolaus Kopernikus, Charles Darwin und schließlich Sigmund Freud stehen. Die „kopernikanische Wende“ unserer Tage gehe auf das Konto der Humanistischen Psychologie; die nämlich „amounts to a most profound shift in our view of our own selves, from a fundamentally negative view of human nature to a fundamentally positive one. In a break from the long traditions of original sin, where we needed to be tamed, we now sense ourselves alive with original grace, needing to be nurtured“ (ebd.). Diese „totale Revolution“ vollende alles Dagewesene, ja, sie sei nach der ersten American Revolution, die den Menschen die Selbstbestimmung gebracht habe, jene zweite Umwälzung, welche der Selbstaktualisierung und Selbstverwirklichung verschrieben sei: „Simply said, the humanistic view of self must become the organizing vision and ethic of our times and of our lives“ (ebd.: xiv). Unsere Zeit sei, wie das Handbuch zeige, endlich reif für die Humanistische Psychologie, mithin für eine „fully realized human nature in our new millenium“ (ebd.). Erstaunlich ist im Übrigen, wie in den Werbetexten der Humanistischen Psychologie – schon wieder, möchte man hinzufügen – Vorstellungen die Welt bewegen sollten, die klare Vorgaben in Form reiner, vielleicht allzu reiner Ideale machen. Die von Quitmann referierte Utopie von Maslow gehört hierher: Eupsychia gilt ihm als „ideale Gemeinschaft gesunder Menschen“, die fähig sind zu Spontanität und Kreativität, die kaum feindselige Gefühle gegenüber anderen und keine Furcht vor ihnen kennen, die voller Vertrauen in sich und ihre Mitmenschen leben, voller Neugier und mit neuen Ideen und Ver-
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änderungsbereitschaft – zukunftsorientiert, vorwärts drängend, ohne sich allzu sehr um die Vergangenheit zu bekümmern und an Überkommenem zu hängen: Pures Glück des neuen Menschen.27 Man kann kaum umhin festzustellen, dass die Humanistische Psychologie in solchen Pamphleten eher als Weltanschauung missionarisch handelnder Eiferer erscheint denn als Wissenschaft. Wie gesagt, dieser Schachzug war ungeheuer erfolgreich. Allerdings vereitelt er wohl endgültig klare Antworten auf die offensichtlich schwierige Frage, welcher Humanismus sich denn in der Humanistischen Psychologie verberge – und ob dieser Humanismus nach wie vor tragfähig und anschlussfähig sei im angebrochenen 21. Jahrhundert (eine abschlägige Antwort erteilt Thomas Slunecko, in diesem Band). Eines wird man am Ende dieser Abhandlung sagen können: Ohne kritische Auseinandersetzungen mit dem ‚Humanismus‘ der Humanistischen Psychologie, ohne einschneidende Revisionen und Reinventionen wird man das der „dritten Kraft“ implizite Welt- und Menschenbild und ihr gesamtes Programm nicht mehr tradieren mögen (vgl. Jürg Kollbrunner, in diesem Band, der just in diesem Geist Aufgaben absteckt und Aussichten eröffnet; Helmut Johach, in diesem Band, argumentiert ebenfalls in der Absicht, die Spreu vom Weizen zu trennen). Der exzessive Zugriff auf einen dem Imperativ der Selbstthematisierung und Selbstverwirklichung unterstellten Menschen stimmt heute nachdenklicher denn je. Es werden zunehmend Zweifel gestreut, ob das damit verwobene Programm einer Errettung der Seele des modernen Menschen tatsächlich rundum heilsam, bereichernd und beglückend ist. Ganz abgesehen davon wird man die Humanistische Psychologie kaum mehr als eine Wissenschaft weiterführen können, wie sie dereinst gedacht und lange Zeit propagiert und betrieben
27 Soll man diesen ganzen Überschwang, diesen Hang zum Großartigen noch als historische Kompensation eines erschütterten amerikanischen Selbstbewusstseins verstehen, das sich seit dem Börsencrash am „Schwarzen Freitag“ 1929 und dem nachfolgenden Heer an Arbeitslosen – ca. 15 Millionen im Jahr 1933 – nur langsam erholte? Oder soll man (noch einmal) darauf verweisen, dass die europäischen Totalitarismen, die Genozide und Weltkriege ihre Spuren hinterlassen hatten, nicht zuletzt bei den emigrierten Psychologinnen und Psychologen? Das kann man, wie geschehen; eine hinreichende Erklärung für die überschießenden Ziele und Hoffnungen der Humanistischen Psychologie ist das nicht.
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wurde. Auch diesbezüglich gibt es längst stärkere Alternativen (im Feld der Handlungs- und Kulturpsychologie, einer interdisziplinär angelegten qualitativen Subjektwissenschaft, Sozialforschung und Kulturanalyse etwa). All das ändert nicht das Mindeste daran, dass die Humanistische Psychologie ein erstaunliches Phänomen ist, das nach wie vor wissenschaftliche Auseinandersetzungen und nicht zuletzt weitere Analysen aus einer wissenschafts-, ideen- und sozialgeschichtlich informierten kulturpsychologischen Perspektive faszinierend und gewinnbringend erscheinen lässt.
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Humanistische Psychologie: Über einige ihrer expliziten und impliziten Annahmen über den Menschen und die Wissenschaft vom Menschen A LEXANDER K OCHINKA
Wer sich mit der Humanistischen Psychologie – und gerade auch mit den humanistischen Therapieverfahren – beschäftigt, der kann unter Umständen merkwürdige Irritationen erfahren. Im Folgenden sollen einige von ihnen zur Sprache gebracht werden. Irritierend ist zunächst, dass man sich von den Ideen der Humanistischen Psychologie gleichermaßen angezogen wie befremdet fühlen kann. Gründe für eine Anziehung sind nicht schwer zu finden, vor allem dann nicht, wenn man an die alternativen therapeutischen Verfahren erinnert, die in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts vorrangig zur Verfügung standen: Auch wenn sich die Verhaltenstherapie ganz allmählich vom Behaviorismus zu emanzipieren beginnt, behält sie doch eine allzu funktionalistische Auffassung vom Menschen bei. Manchem mag es „zu wenig“ erscheinen, sich selbst lediglich als das Resultat vorangegangener, konditionierungsförmiger Lernerfahrungen zu begreifen, mancher mag zwar Symptomfreiheit oder -linderung nach einer Therapie begrüßen, aber doch mehr über die Entstehung der Symptome und ihre Bedeutung wissen wollen und unzufrieden sein mit der verhaltenstherapeutischen Orientierung an der Gegenwart und der Abwendung von der eigenen Vergangenheit. Und auch wenn die Psychoanalyse ihr Augenmerk von jeher auf innere Zustände und Vorgänge gerichtet hat, so scheint das handelnde Subjekt doch mitunter
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merkwürdig abseits dieses inneren Geschehens zu stehen. Da heftet sich Libido an Objekte und löst sich wieder von ihnen, da wird – als unbewusste Leistung des Ichs – verdrängt, projiziert oder sonstwie abgewehrt, anscheinend ohne dass das Ich, bekanntlich nicht Herr im eigenen Hause, dabei „mitzureden“ hat. Vielmehr steht es den innerpsychischen Ereignissen machtlos und tatenlos gegenüber, nimmt bloß zur Kenntnis und rationalisiert bestenfalls im Nachhinein, was sich da alles ohne eigenes Zutun vollzieht. In beiden Fällen spielt das Selbst als Akteur eine eher untergeordnete Rolle, und das mag durchaus einer der Gründe dafür sein, dass ein psychologischer Ansatz, der das handelnde Selbst und seine Fähigkeiten und Bedürfnisse in den Fokus rückt, gute Bedingungen vorfindet, sich zu entwickeln und zu verbreiten. Betrachtet man die 1960er Jahre in den USA (und später auch in Deutschland) zudem als eine Zeit, in der eine ganze Gesellschaft besonders wandelbar und verbesserungsfähig erschien, dann wird die Entwicklung einer entsprechenden Auffassung des Menschen innerhalb der Psychologie noch notwendiger und folgerichtiger. Aber welche Gründe kann es geben, auf zentrale Ideen der Humanistischen Psychologie mit Befremdung zu reagieren? Da ist zunächst mal hier und da ein Zuviel, eine (bspw. bei Rogers) so umfassend und unverbrüchlich positive Auffassung von der Natur des (unbeschädigten) Menschen, dass man sich unwillkürlich fragt, wie optimistisch man diesbezüglich überhaupt sein kann, ohne naiv zu werden. Hinzu kommt das Gefühl, die Intuition, da stimme etwas nicht, da passten verschiedene Annahmen und Aussagen nicht recht zueinander. Vor allem dieser Intuition soll nun nachgegangen werden, und zwar folgendermaßen: Zunächst soll kurz an die bekannten Annahmen der Humanistischen Psychologie über den Menschen erinnert werden. Diese Annahmen finden sich inzwischen ja selbst in Lehrbüchern der Allgemeinen Psychologie – Abschnitt „Theoretische Richtungen“ oder Abschnitt „Geschichte der Psychologie“ –, wo sie die „dritte Kraft“ der Psychologie näher charakterisieren sollen. Anschließend werden diese Annahmen in einem zweiten Schritt am Beispiel der Gestalttherapie und ihrer Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit konkretisiert und mit den zunächst rekonstruierten Annahmen kontrastiert. Dabei zeigt sich m.E. durchaus Erstaunliches: nämlich dass beides nicht besonders gut zusammen passt. Einige Bemerkungen über „das Selbst“ in der Gesprächspsychotherapie in einem dritten Abschnitt sollen verdeutlichen, dass es möglicherweise weitere Fälle problema-
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tischer Begriffsverwendung und Modellbildung innerhalb der Humanistischen Psychologie gibt.
„D IE “ H UMANISTISCHE P SYCHOLOGIE : EXPLIZITE A NNAHMEN ÜBER DIE N ATUR DES M ENSCHEN SOWIE ÜBER DEN G EGENSTAND UND DIE A UFGABE VON W ISSENSCHAFT Der Mensch ist gut und autonom, das heißt: Er ist nicht nur bestrebt, sondern auch in der Lage dazu, die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, er will und er kann das eigene Leben bestimmen, ihm Sinn und Richtung verleihen. – So oder ähnlich lauten in der Regel sehr allgemeine Charakterisierungen des Menschenbildes der Humanistischen Psychologie. Natürlich soll hier nicht verschleiert werden, dass die einzelnen Ansätze innerhalb der Humanistischen Psychologie auch spezifische Annahmen treffen – doch daneben gibt es eben auch eine geteilte Grundlage. Diese geteilte Grundlage lässt sich zum Beispiel mit Verweis auf vier programmatische Thesen aus einer Broschüre der „Association for Humanistic Psychology“ konkretisieren, wiedergegeben von Charlotte Bühler und Melanie Allen in ihrer „Einführung in die Humanistische Psychologie“ (Bühler/Allen 1974): Die erste dieser Thesen lautet: „Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die erlebende Person. Damit rückt das Erleben als das primäre Phänomen beim Studium des Menschen in den Mittelpunkt. Sowohl theoretische Erklärungen wie auch sichtbares Verhalten werden im Hinblick auf das Erleben selbst und auf seine Bedeutung für den Menschen als zweitrangig betrachtet.“ (Ebd.: 7)
Denkt man an allgemeine Charakterisierungen der Psychologie insgesamt – als Wissenschaft vom Verhalten (bzw. Handeln), vom Denken und Erleben des Menschen –, dann mag man diese These zunächst zustimmend zur Kenntnis nehmen. Man würde sich vielleicht wünschen, dass die Humanistische Psychologie für alle Aspekte ihres Gegenstandes offen bliebe – also nicht in vergleichbarer Weise nun das Erleben als Forschungsgegenstand verabsolutieren würde, wie das zuvor der Behaviorismus mit dem beobachtbaren Verhalten getan hat
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–, aber als pointierte Abgrenzung einer noch jungen Bewegung vom Althergebrachten mag auch das akzeptabel erscheinen. Nicht ganz klar ist jedoch, was hier mit „theoretischen Erklärungen“ gemeint ist, die, wie es heißt, zweitrangig seien: Wenn damit die „quasi-theoretischen“ Erklärungen gemeint sind, die sich Menschen in ihrem Alltag bilden – also das Denken in der genannten Trias „Verhalten, Denken, Erleben“ –, dann gilt sinngemäß das eben Festgestellte. Wichtig wäre, dass auch das Denken des Menschen grundsätzlich Untersuchungsgegenstand der Humanistischen Psychologie sein könnte, das Setzen eines anderen Akzentes ist dabei jedoch zunächst einmal akzeptabel. Wenn mit der „Zweitrangigkeit“ theoretischer Erklärungen jedoch gemeint ist, dass bei der Untersuchung des Menschen und seines Erlebens selbst auf theoretische Erklärungen verzichtet werden kann (oder soll), würden wir wohl nicht mehr ohne weiteres zustimmen. Der Verzicht auf die Suche nach theoretischen Erklärungen (auch des Erlebens als Gegenstand) wäre schließlich der Verzicht auf das Treiben von Wissenschaft überhaupt. Eine weitere der vier Thesen lautet: „Die Auswahl der Fragestellungen und der Forschungsmethoden erfolgt nach Maßgabe der Sinnhaftigkeit – im Gegensatz zur Betonung der Objektivität auf Kosten des Sinns.“ (Ebd.)
Sehr interessant erscheint mir, dass diese These ganz explizit und notwendigerweise sinnverstehende, interpretative, letztlich hermeneutische Forschungsmethoden fordert. Etwas weniger laut, aber ebenso zwingend folgt das natürlich bereits aus der ersten These durch die in ihr enthaltene Gegenstandssetzung – menschliches Erleben, welches ja ein inneres, nicht direkt beobachtbares und dabei sinnstrukturiertes Geschehen ist. Es erstaunt ein wenig, dass auf eine derart klare programmatische Forderung hin – erhoben Ende der 1960er, Anfang der 70er Jahre – die Humanistische Psychologie sich nicht als Triebfeder des Aufschwungs qualitativer Forschungsmethoden etablieren konnte. Ganz im Gegenteil erscheint sie ja, wie man ohne großes Risiko behaupten könnte, über weite Strecken als ein geradezu empiriefreies Unternehmen. Und wo sich Untersuchungen finden – etwa bei Rogers zur Wirksamkeit der Gesprächstherapie –, sind sie eher konventionell angelegt und durchgeführt, erfolgt die Formulierung der Fragestellung und die Auswahl der Methoden eben doch
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weniger nach Maßgabe der Sinnhaftigkeit, als vielmehr durchaus traditionell.1
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Vgl. hierzu etwa die Ausführungen bei Rogers (1991: 223 ff. oder 1990: 191 ff. und 223 ff.). Die dort angesprochenen empirischen Arbeiten haben mit qualitativen Methoden nicht viel zu tun: Als Erhebungsmethoden finden vorwiegend Persönlichkeitsinventare, Beziehungsfragebögen u.ä. Verwendung, auch die Anlage der Studien ist durchaus konventionell. Neuere Übersichten zu empirischen Arbeiten im Bereich humanistischer Psychotherapie bestätigen den Eindruck insgesamt. Betrachtet man beispielhaft die Gestaltpsychologie und die bei Butollo und Maragkos (1999), Greenberg und Watson (1999) und Pauls und Reicherts (1999) behandelten eigenen und fremden Arbeiten, so sind diese nahezu ausnahmslos quantitativ angelegt. Die letztgenannten verwenden bspw. in einer Studie zur Wirksamkeit von Gestalttherapie unter anderem folgende Erhebungsverfahren bzw. Daten: biographische Daten, einen Explorationsleitfaden des SKID (Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-III-R), die diagnostische Einordnung nach ICD-10, Skalen zur Schwere der psychosozialen Belastungsfaktoren und zur globalen Beurteilung der Leistungsfähigkeit (aus DSM-III-R), eine Symptom-Checkliste (SCL-90-R), das revidierte Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R), einen Fragebogen zu Dimensionen der Offenheit emotionalen Erlebens (DOE), eine ZielerreichungsAnalyse (ZEA) und einen Fragebogen zur globalen Erfolgsbeurteilung der und Zufriedenheit mit der Behandlung (vgl. Pauls/Reicherts 1999: 1142 ff.). Einzig die am selben Ort – einem umfassenden Kompendium zu nahezu allen Aspekten der Gestalttherapie (Fuhr/Sreckovic/Gremmler-Fuhr 1999) – erschienene Studie von Teschke (1999) kann als (auch) qualitative Arbeit eingeordnet werden. Dabei geht es um „existentielle“, also subjektiv besonders bedeutsame Momente in den Therapiegesprächen, die mit Hilfe von Videoaufzeichnungen identifiziert und dann weiter beleuchtet werden, nicht zuletzt durch den erinnernden Nachvollzug durch Therapeut und Klient. Die sich ergebenden Beobachtungs- und Auswertungskriterien (u.a. Kontakt zum Selbst, zum Gegenüber, zum Umfeld, Dramaturgie der Sequenz oder Wirkung auf Außenstehende) entstammen der Analyse des Materials. Damit folgt die Arbeit Teschkes (zumindest in diesen Teilen) zentralen Prinzipien der qualitativen Forschung, etwa dem Verzicht auf „Hypothesenbildung ex ante“ (Hoffmann-Riem 1980, vgl. Appelsmeyer/ Kochinka/Straub 1997: 713 f.).
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Eine weitere der beiden verbleibenden Thesen der „Association for Humanistic Psychology“ lautet: „Der Akzent liegt auf spezifisch menschlichen Eigenschaften wie der Fähigkeit zu wählen, der Kreativität, Wertsetzung und Selbstverwirklichung – im Gegensatz zu einer mechanistischen und reduktionistischen Auffassung des Menschen.“ (Bühler/Allen 1974: 7)
Nun mag man vollständig einverstanden sein, wenn Kreativität, Selbstverwirklichung oder – vielleicht sogar als Bedingung dafür – die Fähigkeit zu wählen, sich frei zu entscheiden, als spezifisch menschliche Fähigkeiten bezeichnet werden. Aber natürlich wird man die Frage aufwerfen dürfen, ob damit das ganze Tableau spezifisch menschlicher Fähigkeiten gemalt ist: Spezifisch menschlich dürften auch weniger erfreuliche Fähigkeiten sein, etwa sich selbst oder andere zu hassen, herabzusetzen und zu demütigen, zu beschädigen oder gar zu vernichten – und das im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn. So lange solche Fähigkeiten bzw. ihre Auswirkungen empirisch beobachtbar sind – und das sind sie bekanntlich leider –, müssten sie auch legitimer Untersuchungsgegenstand einer Psychologie sein, jedenfalls dann, wenn diese ihr Objekt nicht nur in ausgewählten Ausschnitten in den Blick nehmen will. Allerdings gilt auch hier das oben zum Verhältnis von Erleben und Denken bzw. Handeln Gesagte: Als Akzentsetzung (auf menschliche Fähigkeiten wie die Freiheit zu wählen, Kreativität und Selbstverwirklichung) und in Abgrenzung zu bspw. manchen Teilen der Sozialpsychologie, in denen häufig vor allem gefährliche, destruktive, negative „Fähigkeiten“ (wie Gehorsamsbereitschaft, Urteilsverzerrungen in der Gruppe, Verantwortungsdiffusion u.a.m.) im Fokus zu stehen scheinen, mag durchaus angehen, was als Verabsolutierung seinerseits reduktionistisch wäre: die Beschränkung auf positive und wünschenswerte Facetten des Menschseins.
Es ist durchaus erstaunlich, wie wenig die angesprochene zentrale Forderung und programmatische These der Humanistischen Psychologie – „Auswahl der Fragestellungen und der Forschungsmethoden [...] nach Maßgabe der Sinnhaftigkeit – im Gegensatz zur Betonung der Objektivität auf Kosten des Sinns“ – sich in den zugehörigen empirischen Untersuchungen niedergeschlagen hat und niederschlägt. Diese Diskrepanz dürfte damit eine der Ursachen für Irritationen sein.
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Es sei auch daran erinnert, dass als Aufgabe jeder Wissenschaft zunächst die Beschreibung und Erklärung von Phänomenen gelten kann. Abhängig von den zur Verfügung stehenden Erklärungen und ihrer Form – ob es sich z.B. um kausale Erklärungen handelt oder „nur“ um intentionale oder narrative (vgl. Kochinka/Werbik 1997: 59 ff.) – kommt die Vorhersage solcher Phänomene als Aufgabe von Wissenschaft hinzu. Erst dann – also nach Deskription, Explanation und Prognose – und mit Argumenten, die nicht mehr im engeren Sinne wissenschaftsinhärent sind (also z.B. mit dem Verweis auf das berechtigte gesellschaftliche Interesse, im Gegenzug für die Finanzierung von Wissenschaft auch einen praktischen Nutzen zu erzielen), erst dann also wird die Intervention als weitere Aufgabe von Wissenschaft genannt, also der Eingriff in bestehende Verhältnisse und Praktiken, mit der Absicht, diese zu verbessern oder zu optimieren. Dass es der Humanistischen Psychologie vor allem um dieses letzte Ziel, also um Intervention ging und offenbar weniger darum, menschliches Denken, Handeln und Fühlen in allen Facetten und zunächst zum Zwecke der Beschreibung und Erklärung in den Blick zu nehmen, das zeigt auch die letzte These: „Ein zentrales Anliegen ist die Aufrechterhaltung von Wert und Würde des Menschen, und das Interesse gilt der Entwicklung der jedem Menschen innewohnenden Kräfte und Fähigkeiten. In dieser Sicht nimmt der Mensch in der Entdeckung seines Selbst, in seiner Beziehung zu anderen Menschen und zu sozialen Gruppen eine zentrale Stellung ein“ (Bühler/Allen 1974: 7).
Eine Intervention zielt also auf die Aufrechterhaltung von Menschenwert und Menschenwürde, die demnach offensichtlich bedroht sind, sowie auf die Entwicklung menschlicher Kräfte und Fähigkeiten. Darüber hinaus ist vom Menschen die Rede, der „sein Selbst entdeckt“. Eine solche Rede bzw. die zugrundeliegenden Vorstellungen sind jedoch höchst problematisch, und es ist keineswegs bloße semantische Spitzfindigkeit, wenn man sich fragt, wer hier eigentlich was entdeckt: Wenn der Mensch wirklich sein Selbst entdeckt – womit tut er das denn? Wer ist also der Entdecker? Und wenn der Mensch selbst der Entdecker ist – was kann er denn dann entdecken? – Ich komme später kurz darauf zurück.
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E XPLIZITE UND IMPLIZITE A NNAHMEN DER G ESTALTTHERAPIE : D IFFERENZ , S PANNUNG , W IDERSPRUCH ? Es sei in aller Knappheit daran erinnert, was aus der Perspektive der Gestalttherapie den gesunden Menschen kennzeichnet (vgl. Kochinka 2000: 242 f.): Ausgestattet mit entsprechendem Gewahrsein erkennt er jederzeit seine aktuellen Bedürfnisse. Unterstützt wird er dabei durch die „Weisheit des Organismus“ (Perls 1979: 26), die verlässlich dafür sorgt, dass diese Bedürfnisse qua Selbstregulation in eine je aktuelle Rangfolge gebracht, also wichtige von weniger wichtigen unterschieden werden. Unter dem Einfluss dieser Bedürfnisse und ihrer Rangfolge werden nun permanent Gestalten gebildet, die Welt – Objekte, Mitmenschen, das Selbst bzw. die eigene Psyche – in Figuren und Hintergründe zerlegt. Natürlich beschränkt sich diese Bildung von Gestalten nicht auf Phänomene der Wahrnehmung, sondern wird für schlechterdings jeden (psychischen) Prozess angenommen. Im so erst zustande kommenden Organismus-Umwelt-Feld durchläuft das Individuum nun beständig Kontaktzyklen – Kontakte mit anderen oder mit Objekten –, mit deren Hilfe er seine Bedürfnisse befriedigt. Neu aufkommende Bedürfnisse (das heißt durch Gewahrsein neu wahrgenommene) stören ebenso wie veränderte Umweltreize einen solchen Gleichgewichtszustand, es folgen neue Gestaltbildungen und Gestalten, ein verändertes Organismus-Umwelt-Feld sowie zur Wiederherstellung der Homöostase das Suchen neuer Kontakte und das Durchlaufen neuer Kontaktzyklen. Damit sind auch die Orte markiert, an denen nach gestalttherapeutischer Auffassung Krankheit auftreten kann: Mangelndes Gewahrsein etwa führt zu einem inadäquaten Abbild der Bedürfnislage, dieses wiederum zur Bildung ungeeigneter Gestalten, so dass es im Organismus-Umwelt-Feld nicht zu den relevanten Kontakten kommt. Eine andere Möglichkeit für Krankheit oder Störung besteht darin, dass es zwar zu den wichtigen (und richtigen) Kontakten kommt, diese aber aufgrund sogenannter Kontaktstörungen – die teilweise bis in die Benennung hinein an Abwehrmechanismen der Psychoanalyse angelehnt sind – nicht erfolgreich durchlaufen und beendet werden können. Hier ist nun die Erinnerung an die expliziten Annahmen der Humanistischen Psychologie über den Menschen erforderlich: Eine zentrale
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Rolle spielt dabei die Annahme, der Mensch wolle und könne das eigene Leben bestimmen, ihm Sinn und Richtung verleihen. Er habe, so die Formulierung in den behandelten Thesen, die „Fähigkeit zu wählen“, also Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Man zeige mir nun im rekonstruierten gestalttherapeutischen Modell vom Menschen, vom Gesunden und vom Kranken, den Ort, an dem diese Freiheit zu Hause ist! Die Bildung von Gestalten ist nämlich kein psychischer Prozess, auf den wir Einfluss nehmen können. Das lässt sich mit Hinweis auf die visuelle Wahrnehmung, wo solche Gestaltbildungen ja bestens untersucht sind, sehr leicht verdeutlichen. Man muss schon sehr spezielles Reizmaterial konstruieren – etwa die sogenannten Kippbilder, bspw. eine Rubinsche Vase –, um mit Hilfe der Aufmerksamkeit willlentlich entscheiden und dann auch ändern zu können, was Figur, was Hintergrund ist. Im Normalfall können wir die Wirkung von Gesetzen wie dem der Nähe, dem der guten Gestalt, dem der Ähnlichkeit usw. weder moderieren noch gar suspendieren. Wir sind der ständigen und unwillkürlichen, quasi in unsere Wahrnehmung „eingebauten“ Bildung von Gestalten unterworfen. Das Entstehen des Organismus-Umwelt-Feldes – das natürlich an Kurt Lewins Feldtheorie erinnert – nun ausgerechnet durch Gestaltbildungsprozesse zu modellieren, minimiert demzufolge die Bedeutung freier Entscheidungen, der Fähigkeit zu wählen, hierbei. (Anders übrigens als bei Lewin, wo bekanntlich der Begriff der Valenz eine zentrale Rolle für die Ausgestaltung des „Lebensraumes“ spielt, und in diese Valenzen immer schon kognitive Prozesse des Bewertens eingehen – und damit zumindest im Prinzip wahlfreie Prozesse.) Um die Dynamik sich ändernder Reize und Bedürfnisse, sich letztlich damit dann verändernder Organismus-Umwelt-Felder und wiederholter, wenn auch unterschiedlicher Kontakzyklen zu beschreiben, dient der Begriff der Homöostase. Damit macht man das Ganze allerdings nicht besser, eher im Gegenteil. Geprägt wurde der Begriff 1932 vom Physiologen Walter B. Cannon; er beschreibt einen Gleichgewichtszustand des Organismus, der durch Kreis- oder Regelprozesse aufrechterhalten wird. Wirklich homöostatisch sind jedoch einzig die Regelvorgänge, die unwillkürlich ablaufen, etwa die Regulierung der Körpertemperatur. Schon wenn es bspw. um Hunger geht, den wir uns bekanntlich auch „verkneifen“ können, haben wir kein wirklich homöostatisches System mehr vor uns, weil durch unsere freie Ent-
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scheidung der für solche Systeme erforderliche rigide Zusammenhang zwischen Meldung von Ist-Wert, Vergleich mit dem Soll-Wert und ggf. Rückmeldung an die Stellglieder manipuliert und aufgelöst wird. Um es drastisch zu sagen: Wer willentlich verhungert – und dazu sind Menschen fähig –, handelt nicht nur frei, sondern demonstriert auch nachdrücklich, dass homöostatische Regelkreise einerseits und freie Entscheidungen andererseits so ganz und gar nicht zusammenkommen können. Mit „Gestalt“ bzw. „Gestaltbildung“ und „Homöostase“ scheinen mir daher an zentraler Stelle Begriffe in das gestalttherapeutische Modell des Menschen eingelassen, deren Explikation mit Notwendigkeit zu Aussagen führt, die in Widerspruch zu übergeordneten Annahmen der Humanistischen Psychologie über den Menschen stehen, und zwar namentlich zur Annahme, der Mensch sei selbstbestimmt und frei zu wählen. Und ich habe überdies den Eindruck, dass es noch mehr solcher Widersprüche, Spannungen oder zumindest Unklarheiten geben könnte, und dass nicht zuletzt von ihnen die Irritationen ausgehen, von denen ich eingangs gesprochen habe.
D AS S ELBST DER G ESPRÄCHSPSYCHOTHERAPIE : DIE S UCHE NACH EINEM VERBORGENEN S CHATZ ? Ein weiteres Beispiel dafür scheint mir der Begriff des Selbst zu sein: In verschiedenen Ansätzen der Humanistischen Psychologie, besonders deutlich bspw. bei Carl Rogers, finden sich immer wieder Formulierungen, die eine Art inneren, unberührten Kern des Menschen implizieren. Solche Formulierungen finden sich bezogen auf das Selbst, aber auch bezogen auf Gefühle. Für das erstere haben wir bereits ein Beispiel in den oben behandelten Thesen der „Association of Humanistic Psychology“ gesehen, wo davon die Rede war, dass der Mensch in der Entdeckung seines Selbst eine zentrale Stellung für die Humanistische Psychologie einnehme. Ich zitiere weitere Beispiele: „Das Ziel, das der Einzelne am ehesten erreichen möchte, der Endzweck, den er wissentlich und unwissentlich verfolgt, scheint zu sein, sich zu finden, er selbst zu werden. [....] Meine Erfahrung besagt, daß er sie [eine von Rogers in der therapeutischen Situation geschaffene Atmosphäre der Freiheit, A.K.] dazu
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benutzt, um immer mehr er selbst zu werden. Er beginnt, die falschen Fassaden, die Masken oder die Rollen fallenzulassen, mit denen er bislang dem Leben begegnet war. Er versucht offensichtlich, etwas Grundlegenderes zu entdecken, etwas, was seinem Selbst eher entspricht.“ (Rogers 1991: 115)
Und: „Eine Maske abzulegen, von der man geglaubt hat, sie sei Teil des wirklichen Selbst, kann ein zutiefst beunruhigendes Erlebnis sein; doch wenn die Freiheit da ist, zu denken, zu fühlen und zu sein, dann bewegt sich der einzelne in diese Richtung. Einige Bemerkungen einer Frau, die eine Anzahl von psychotherapeutischen Gesprächen hinter sich hatte, mögen es verdeutlichen. Sie benutzt viele Metaphern, wenn sie erzählt, wie sie darum kämpfte, den Kern ihres Wesens zu erreichen.“ (Ebd.: 117)
Mir ist nun nie wirklich klar geworden, wie dieser „Kern des Wesens“, dieses „wirkliche Selbst“ gedacht wird – und nicht zuletzt, wie es sich ontogenetisch entwickeln könnte, sozusagen im Schatten der Masken und Rollen, die das „falsche“ Selbst ausmachen (oder ob es sogar – in metaphysischer Weise – immer schon da ist und sich daher nicht entwickeln muss). Entwicklungspsychologisch ist dergleichen jedenfalls wenig plausibel – vielmehr ist doch davon auszugehen, dass jede menschliche Entwicklung ihren Ausgang in sozialen Interaktionen hat, dass die Bildung von „Selbst“, „Ich“, „Individuum“, „Identität“ und was dergleichen Begriffe mehr sind stets der anderen als „Widerlager“ und zur Konturierung notwendig bedarf. Nichts anderes meint wohl Carl Friedrich Graumann, wenn er festhält: „Doch die ,menschliche Natur‘– und das ist meiner Ansicht nach der Kernpunkt der Begriffsverwirrung in der humanistischen Psychologie – verbirgt sich nicht im Inneren einer individualistisch begriffenen Persönlichkeit und wartet nur darauf, ,entwickelt‘ oder ,verwirklicht‘ zu werden. Diese Entwicklung und Verwirklichung muß in der dialektischen Interaktion zwischen dem Menschen und seiner konkreten sozialen Umgebung gesucht werden.“ (Graumann 1980: 49)
Es gibt kein monolithisches Selbst, verborgen im Inneren und geeignet als Vergleichsmaßstab, um das „falsche Selbst“ der Masken und
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Rollen zu enttarnen – oder wenn doch, dann müsste man dazu eine ganze Menge mehr sagen. Man müsste erläutern, wie man sich ein solches Selbst genauer vorzustellen hat und nicht zuletzt, wie es sich entwickeln und bilden könnte. Aber solange solche Erläuterung ausbleibt müssen wir davon ausgehen: Einen solchen „Kern des Wesens“ gibt es nicht – stattdessen gibt es, wie man pointiert sagen könnte, ausschließlich Masken und Rollen – also spezifische Positionierungen in sozialen Interaktionen –, von denen so manche eingehen in das, was allmählich ein Selbst wird.
Z USAMMENFASSENDE S CHLUSSBEMERKUNG Im vorliegenden Text geht es um Staunenswertes, teilweise auch Irritierendes und nicht richtig Zusammenpassendes. Für mich zumindest ist es erstaunlich, dass die Humanistische Psychologie einerseits die Bedeutung subjektiven Sinns betont und dies sogar bei der Auswahl von Fragestellungen und Forschungsmethoden berücksichtigt wissen will, andererseits aber in ihren empirischen Teilen über weite Strecken forschungslogisch ganz traditionell vorgeht, will heißen nomologisch und eher hypothesenprüfend als hypothesengenerierend. Eine deutliche und explizite Orientierung an qualitativer Forschung, wie es den programmatischen Setzungen entsprechen würde und müsste, sucht man vergebens. Für mich ist irritierend, dass einerseits die Wahlfreiheit des Individuums, seine Kreativität, seine Fähigkeit zur und sein Wunsch nach Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt gestellt werden und andererseits – etwa in der Gestalttherapie – psychische Prozesse und Abläufe ausgerechnet in enger Anlehnung an solche Prozesse modelliert werden, die keinen Platz für Freiheit lassen: in Anlehnung an nicht intentionale und unwillkürliche Vorgänge wie Gestaltbildungen oder in Anlehnung an kybernetische, in die Biologie übertragene, z. B. „homöostatische“ Prozesse. Es ist zudem unklar, was ein „wirkliches“ Selbst sein soll, oder – ganz entsprechend – „authentische“ Gefühle (wenn nicht irgendetwas Metaphysisches), und wie sich die Auffassung eines solchen Selbst und solcher Gefühle mit inzwischen breit zustimmungsfähigen entwicklungspsychologischen Vorstellungen von der allmählichen Bil-
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dung des Selbst und der emotionalen Entwicklung in Übereinstimmung bringen lassen. Aber all das bedeutet nun nicht, dass es überflüssig geworden ist, sich mit den zentralen Annahmen der Humanistischen Psychologie zu beschäftigen, oder dass eine solche Beschäftigung keine Anregungen mehr bereithält. Störungen und Irritationen können bekanntlich nicht nur Kristallisationskeime des Nachdenkens sein, ihre Bearbeitung ist auch Chance zur Weiterentwicklung. Ich kann mir vorstellen, dass humanistische Psychologen und Psychologinnen zumindest in diesem Punkt zustimmen würden.
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L ITERATUR Appelsmeyer, Heide/Kochinka, Alexander/Straub, Jürgen (1997): „Qualitative Methoden“, in: Jürgen Straub/Wilhelm Kempf/Hans Werbik (Hg.), Psychologie. Eine Einführung. Grundlagen, Methoden, Perspektiven, München: dtv, S. 709-742. Bühler, Charlotte/Allen, Melanie (1974): Einführung in die Humanistische Psychologie, Stuttgart: Klett-Cotta (Amerik. Orig. 1972 u.d.T. Introduction to Humanistic Psychology). Butollo, Willi/Maragkos, Markos (1999): „Gestalttherapie und empirische Forschung“, in: Reinhard Fuhr/Milan Sreckovic/Martina Gremmler-Fuhr (Hg.), Handbuch der Gestalttherapie, Göttingen u.a.: Hogrefe, S. 1091-1120. Fuhr, Reinhard/Sreckovic, Milan/Gremmler-Fuhr, Martina (Hg.) (1999): Handbuch der Gestalttherapie, Göttingen u.a.: Hogrefe. Graumann, Carl Friedrich (1980): „Psychologie – humanistisch oder human?“, in: Ulrich Völker (Hg.), Humanistische Psychologie. Ansätze einer lebensnahen Wissenschaft vom Menschen, Weinheim/Basel: Beltz, S. 39-51. Greenberg, Leslie C./Watson, Jeanne C. (1999): „Forschung zur gestalttherapeutischen Behandlung von Depression“, in: Reinhard Fuhr/Milan Sreckovic/Martina Gremmler-Fuhr (Hg.), Handbuch der Gestalttherapie, Göttingen u.a.: Hogrefe, S. 1121-1135. Hoffmann-Riem, Christa (1980): „Die Sozialforschung einer interpretativen Soziologie. Der Datengewinn“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32, S. 339-372. Kochinka, Alexander (2000): „Gestalttherapie“, in: Jürgen Straub/ Alexander Kochinka/Hans Werbik (Hg.), Psychologie in der Praxis. Anwendungs- und Berufsfelder einer modernen Wissenschaft, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 229-256. Kochinka, Alexander/Werbik, Hans (1997): „Logische Propädeutik und Wissenschaftstheorie“, in: Jürgen Straub/Wilhelm Kempf/ Hans Werbik (Hg.), Psychologie. Eine Einführung. Grundlagen, Methoden, Perspektiven, München: dtv, S. 42-67. Pauls, Helmut/Reicherts, Michael (1999): „Empirische Forschung in der Gestalttherapie am Beispiel eines praxisorientierten Forschungsprojekts“, in: Reinhard Fuhr/Milan Sreckovic/Martina Gremmler-Fuhr (Hg.), Handbuch der Gestalttherapie, Göttingen u.a.: Hogrefe, S. 1137-1160.
H UMANISTISCHE P SYCHOLOGIE : Ü BER
EINIGE IHRER
A NNAHMEN ...
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Individualismus und soziale Verantwortung Kontroverse Tendenzen in der Humanistischen Psychologie1 H ELMUT J OHACH
E INLEITUNG Seitdem sich die Humanistische Psychologie zu Beginn der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts, unterstützt durch Emigrantinnen und Emigranten, die während der Nazizeit aus Europa fliehen mussten, in den USA als „Dritte Kraft“ (Maslow 1985: 11) neben dem Behaviorismus und der Psychoanalyse etabliert hat, konnte diese psychologische Bewegung in den folgenden Jahrzehnten auch in den deutschsprachigen Ländern zahlreiche Anhänger gewinnen. Im Bereich von Psychotherapie und Beratung, in der Fortbildung für soziale Berufe und auf dem freien Markt der Psycho- und Gruppenszene haben seither etliche Verfahren und Methoden Fuß gefasst, die den Anspruch erheben, ihren Anhängern zu „Selbstverwirklichung, persönlichem Wachstum, Ganzheitlichkeit und unmittelbarem Erleben des Selbst im Hier und Jetzt“ (Zygowski 1987: 25, Hervorhebung H.J.) zu verhelfen. Damit sind
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In den folgenden Erörterungen werden einige Überlegungen aus meiner Untersuchung „Von Freud zur Humanistischen Psychologie“ (Johach 2009) aufgenommen und im Hinblick auf aktuelle sozialpsychologische Fragestellungen fortgeführt.
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bereits die wichtigsten Stichworte genannt, die seinerzeit als Beleg für das „Neuartige“ der Humanistischen Psychologie angeführt wurden, die aber auch heute noch bei Vertretern entsprechender Selbsterfahrungs- und Therapiemethoden eine Rolle spielen. Allerdings haben sich die hochgespannten Erwartungen, die zur Zeit des sogenannten „Psychobooms“ der 1970er und 80er Jahre auch hierzulande mit den aus den USA importierten „humanistischen“ Methoden verbunden waren, nur zum Teil erfüllt. In der akademischen Psychologie haben sich behavioristische Ansätze erhalten, auch wenn sich seit einigen Jahren der Einfluss kognitionspsychologischer und neurowissenschaftlicher Forschungen stärker bemerkbar macht, und für die medizinische Behandlung psychischer Erkrankungen gelten bislang nur die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie als „wissenschaftlich fundierte“ Therapieverfahren. Einige humanistische Methoden, wie z.B. die Klientenzentrierte Gesprächstherapie nach Carl Rogers, die Gestalttherapie nach Fritz und Laura Perls und die Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn, konnten zwar in der Ausund Fortbildung von Pädagogen, psychologischen Beratern und Therapeuten ihren Platz behaupten; der aus bescheidenen Anfängen in der Familientherapie entwickelte, mit der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie des Konstruktivismus assoziierte systemische Ansatz macht ihnen jedoch, bis hin zu „marktfernen Dienstleistungssystemen“ (v. Schlippe/Schweitzer 1998: 272), inzwischen heftige Konkurrenz. Vollends unübersichtlich ist die Lage auf dem „freien Markt“ der Psycho-Szene, der eine große Nähe zur Esoterik zeigt. Hier werden u.a. Meditationspraktiken mit unterschiedlichem weltanschaulichem Hintergrund, Verfahren der Transpersonalen Psychologie mit Einbezug von Astrologie und Reinkarnationslehre oder das Familien- und Systemaufstellen „nach Hellinger“ angeboten, das mit religiös-dogmatischen Setzungen arbeitet und starke „Affinität zu autoritären Denkmodellen“ (Goldner 2003: 67) aufweist. Angesichts des weltanschaulich-therapeutischen Supermarkts, der das weite Terrain der gegenwärtigen Psycho-Verfahren beherrscht, ist es sinnvoll und notwendig, zwischen einer lebenspraktischen Ausprägung der Humanistischen Psychologie, die sich auf intra- und interpersonelle Erfahrungen und gesellschaftliche Prozesse beschränkt, und einer auf „neue Spiritualität“ abzielenden „New-Age“-Variante (vgl. Kollbrunner 1987: 67ff.) zu unterscheiden. Im Folgenden geht es vor allem um die erste Version. Unter Humanistischer Psychologie soll ein
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wertbezogenes und zugleich konsensfähiges System von Aussagen über den Menschen verstanden werden, verbunden mit Einstellungen, Haltungen und Methoden, die den zwischenmenschlichen Umgang und dessen Einbettung in soziale Strukturen betreffen. Transpersonalistische und religiös-metaphysische Aussagen bleiben hier ausgeklammert. Die Humanistische Psychologie wird damit, auch wenn dies von ihren Protagonisten nur selten explizit so formuliert wird, in der Tradition eines „säkularen Humanismus“ (Schluchter 1991 Bd. II: 515) verortet, wie er vor allem durch Hellenismus, Renaissance und Aufklärung auf europäischem Boden geprägt worden ist. Außer der Abgrenzung von der klassischen Psychoanalyse und dem Behaviorismus, in der sich die Begründer der „Third-Force“Psychologie um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts einig waren, hat die Humanistische Psychologie zwar kein einheitliches sozialwissenschaftliches Programm hervorgebracht; eine gemeinsame Basis besteht jedoch in der Sensibilität für gesellschaftliche Entwicklungen, die als problematisch empfunden wurden bzw. immer noch werden. Dabei hat sicher eine Rolle gespielt, dass etliche Mitbegründer dieser psychologischen Strömung auf Grund ihrer jüdischen Herkunft während der Zeit der Nazibarbarei aus Europa flüchten mussten. Bei manchen Vertretern dieser Richtung, wie z.B. bei Erich Fromm und Ruth C. Cohn, findet sich eine ausgesprochen kritische Grundhaltung gegenüber autoritären und antidemokratischen Tendenzen in der Gesellschaft (vgl. Johach 2009: 212ff., 269f.). Sozialkritische Tendenzen und eine Offenheit für neue gesellschaftliche Entwicklungen finden sich aber auch bei anderen Autoren. Ohne die Hoffnung auf eine menschlichere Zukunft ist die Humanistische Psychologie schwerlich zu verstehen. Nachdem ihre öffentliche Wirksamkeit in den USA und Westeuropa den Zenit bereits überschritten hat, fragt sich allerdings, was aus dieser Hoffnung inzwischen geworden ist, wobei programmatische Aussagen ihrer Begründer und Protagonisten mit realen Auswirkungen der von ihnen verwendeten Methoden und späteren Versuchen gesellschaftlicher Vereinnahmung zu vergleichen sind. Im Folgenden geht es zum einen um Verflechtungen der Humanistischen Psychologie mit Entwicklungen in der Gesellschaft diesseits und jenseits des Atlantik, die einen deutlichen Trend zur Individualisierung erkennen lassen, andererseits um aktuelle Perspektiven, für die das Stichwort „Globalisierung“ einen möglichen Anhaltspunkt bieten kann. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Geschichte dieser Be-
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wegung keineswegs mit dem „Psycho-Boom“ der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu Ende gegangen ist, sondern dass ihr auch weiterhin tragfähige Perspektiven für die Zukunft abzugewinnen sind.
D AS „M ENSCHENBILD “ DER H UMANISTISCHEN P SYCHOLOGIE UND IMPLIZITE G ESELLSCHAFTSKRITIK
SEINE
Wie schon die Etymologie des Wortes „humanistisch“ nahe legt, geht es in der Humanistischen Psychologie um eine bestimmte Sichtweise des Menschen. Man beruft sich dabei – meist ohne dies explizit zu benennen – auf eine Tradition seit der Antike, die in der Renaissance wiederbelebt, in der Philosophie der Aufklärung erweitert und in der Existenzphilosophie im frühen 20. Jahrhundert nochmals aktualisiert wurde (vgl. Quitmann 1991: 40ff.). Zu dieser Tradition gehört die Idee der Selbstbestimmung des Menschen im Sinne eines autonomen, nicht von äußeren Einflüssen und Autoritäten abhängigen Subjekts ebenso wie der Gedanke der Entwicklung der Persönlichkeit zum voll entfalteten Individuum. So heißt es in einer programmatischen Broschüre der American Association for Humanistic Psychology aus den 60er Jahren unter anderem, im Zentrum der Aufmerksamkeit stehe die „erlebende Person“ mit ihren spezifisch menschlichen Eigenschaften wie der „Fähigkeit zu wählen, der Kreativität, Wertsetzung und Selbstverwirklichung“; es gehe um die „Entwicklung der jedem Menschen innewohnenden Kräfte und Fähigkeiten“ sowie um die „Aufrechterhaltung von Wert und Würde des Menschen“ (Bühler/Allen 1974: 7). Die Idee der Selbstbestimmung impliziert Wahl- und Entscheidungsfreiheit. Damit wendet sich die Humanistische Psychologie gegen die behavioristische Vorstellung, alles Verhalten sei von außen gesteuert und konditionierbar, ebenso wie gegen die psychoanalytische Annahme einer „inneren“ Determination durch die Physiologie des neurologischen „Triebapparats“ oder die moderne Variante eines hirnphysiologischen Determinismus. Auch wenn davon auszugehen ist, dass jeder psychischen Aktivität ein somatisches Korrelat entspricht, das nur teilweise bewusst wird, sieht die Humanistische Psychologie im Erleben des Ich als eigenständiges Handlungszentrum ihren zentralen Bezugspunkt. Dabei wird nicht verleugnet, dass dieses „Ich“,
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das sich als selbständig entscheidend und handelnd erlebt, schon rein sprachlich auf ein „Du“ und ein „Wir“ angewiesen ist und realiter in vielfältigen Abhängigkeiten sozialer Art steckt. Die Humanistische Psychologie nimmt solche Abhängigkeiten durchaus ernst. So ist in der Themenzentrierten Interaktion in Verbindung mit der Betonung der Autonomie des Einzelnen auch von einer gleichermaßen zu berücksichtigenden Interdependenz die Rede (vgl. Cohn 1975: 120; Schneider-Landolf/Spielmann/Zitterbarth 2009: 80ff.). Autonomie und Interdependenz werden zueinander in der Weise in Beziehung gesetzt, dass mit dem Bewusstsein der Interdependenz auch die Chance für Autonomie wächst. Das bedeutet, vereinfachend gesprochen, dass es eher möglich ist, eine selbständige Entscheidung zu treffen, wenn man sich über den jeweiligen sozialen Kontext mit seinen Zwängen und Abhängigkeiten im Klaren ist, als wenn man diesen Zwängen unbesehen folgt. Das Schlagwort von der „Globalisierung“ war den Begründern der Humanistischen Psychologie noch fremd; gleichwohl gingen sie davon aus, dass wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verflechtungen rund um den Globus schon damals bestanden und in Zukunft weiter zunehmen würden. Trotz wachsender Interdependenzen wird jedoch in der Humanistischen Psychologie an der Vorstellung eines autonomen, frei entscheidenden Subjekts festgehalten. Dies setzt voraus, dass die Bedingungen, unter denen wir leben, zwar Grenzen setzen, dass letztere jedoch nicht starr sind: „Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingender innerer und äußerer Grenzen. Erweiterung dieser Grenzen ist möglich.“ (Cohn 1975: 120) Das „autonome“ Subjekt der Humanistischen Psychologie wird nicht wie bei Kant als transzendentale Voraussetzung für sittliches Handeln betrachtet, sondern stellt eine Zielprojektion dar: Der Mensch wird in Bedingungen hineingeboren, von denen er sich unter Umständen ein Stück weit emanzipieren kann, um sein „wahres Selbst“ (Maslow 1985: 123) zu verwirklichen. Wie Ruth Cohn feststellt, ist das Maß an Freiheit, wenn wir „gesund, intelligent, materiell gesichert und geistig gereift“ sind, größer, als wenn wir „krank, beschränkt oder arm sind und unter Gewalt und mangelnder Reife leiden“ (Cohn 1975: 120). Diese Aussage entfaltet ihren humanistischen Sinn freilich erst dann, wenn man den normativen Beiklang mithört. Armut ist kein Naturschicksal, Gewaltausübung soll nach Möglichkeit verhindert, mangelnde geistige Reife kann durch Weckung von Interesse behoben
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werden. Und es sind noch weitere Implikationen enthalten: Wenn das Maß der Freiheit von der materiellen Sicherheit abhängt, dann ist die Frage, wodurch diese Sicherheit gewonnen werden kann. Evident ist, dass der Einzelne aus eigener Kraft eine Sicherheit und Freiheit verbürgende soziale Umwelt nicht schaffen kann. Die humanistische Zielvorstellung des „autonomen“ Individuums impliziert mithin eine Auffassung von Gesellschaft, die eine Entwicklung zur Autonomie zulässt bzw. grundlegend ermöglicht. Einer solchen Gesellschaft entspricht weder ein autoritär-faschistisches System, wie es die jüdischen Mitbegründer der Humanistischen Psychologie bei ihrer Flucht vor dem Nationalsozialismus hinter sich ließen, noch ein nach neoliberalen Prinzipien umgestaltetes Wirtschafts- und Sozialsystem, wie es in der Gegenwart propagiert wird, in dem die Freiheit der ökonomisch Stärkeren sich auf Kosten der Sicherheit und freien Entfaltung der Vielen durchsetzt. Zu den bekanntesten Multiplikatoren von Ideen der Humanistischen Psychologie gehört Erich Fromm; er blieb allerdings in stärkerem Maße der Freudschen Tradition verpflichtet, indem er von „humanistischer Psychoanalyse“ (Fromm 1955: 5) sprach. Als analytischer Sozialpsychologe hat Fromm sehr bewusst auf die soziale Prägung des Individuums hingewiesen: „Die einzelnen Gesellschaften unterscheiden sich nicht nur durch die Verschiedenheit in der Produktionsweise und ihrer sozialen und politischen Organisation, sondern auch dadurch, dass ihre Menschen bei allen individuellen Unterschieden eine typische Charakterstruktur aufweisen. Wir wollen diese den ‚sozial typischen Charakter‘ nennen.“ (Fromm 1937: 163)
Der „sozial typische“ Charakter oder kurz „Gesellschafts-Charakter“ (Fromm 1941: 379) ist jener Teil der menschlichen Psyche, in dem sich die in der Gesellschaft vorherrschenden Produktionsweisen und Denkmuster reproduzieren; intrapsychische Faktoren tragen somit zur Aufrechterhaltung des bestehenden Sozial- und Wirtschaftssystems bei. Zum Beispiel kommt in einer Gesellschaft, die höchsten Wert auf akkumuliertem Besitz legt – Fromm hat hier das Bürgertum des 19. Jahrhunderts vor Augen – dem Horten und Sparen hohe Bedeutung zu. Freuds „analer Charakter“ hat deshalb nach Fromm weniger mit dem Festhaltenwollen bei der frühkindlichen Stuhlentleerung als mit der gesellschaftlichen Prämierung von Besitzstreben und ordentlicher
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Buchführung zu tun. In einer weiter fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft dagegen, die auf Pump lebt, in der man pausenlos zum Kaufen und Konsumieren animiert wird und in der es mehr auf die Verpackung als den Inhalt ankommt, werden auch die Menschen entsprechende Charakterzüge entwickeln, um sich auf dem „Personalmarkt“ (Fromm 1947: 48) möglichst gut „verkaufen“ zu können. In einer Gesellschaft wie der heutigen schließlich, in der das „Gemachte“ und „Inszenierte“ (Funk 2005: 111) in Form von virtueller Realität eine immer größere Rolle spielt, greift eine Charakter-Orientierung um sich, der entsprechend man meint, die Wirklichkeit und sich selbst immer neu „erfinden“ zu müssen. Die Menschen machen sich abhängig von Erlebniswelten und „gemachtem“ Vermögen. Unverstellter zwischenmenschlicher Kontakt und das Gespür für die Realität können durch diese Entwicklung leicht ins Hintertreffen geraten. Fromms Sozialpsychologie, die sich auf Marx und Freud beruft, registriert in den Veränderungen des Gesellschafts-Charakters ein hohes Maß an Entfremdung. Gegen die „Entpersönlichung, die Leere, die Bedeutungslosigkeit des Lebens, die Automatisierung des Individuums“ (Fromm 1947: 55) setzt er das tief im Menschen verwurzelte Ideal der „Produktivität“ (a.a.O.: 61). Wer produktiv ist, verwirklicht seine eigenen Kräfte und Fähigkeiten, indem er sich zur Natur und zu den Mitmenschen in Beziehung setzt. Fromms Begriff der Produktivität ist auf den Menschen bezogen; er hat nichts zu tun mit maximalem Warenausstoß unter günstigster Kosten-Nutzen-Relation. Ein „produktiver Charakter“ findet sich kaum in Reinkultur; jedoch können „produktive Orientierungen“ (a.a.O.: 56ff.) eine Verbindung mit dem jeweils vorherrschenden Individual- und Sozialcharakter eingehen. Trotz aller psychischen Deformationen, die das herrschende Wirtschafts- und Sozialsystem mit sich bringt, kann sich doch wenigstens ein Teil der Betroffenen nach Fromms Vorstellung dem produktiven Ideal annähern. Eine kritische Beurteilung der Einschränkungen und Behinderungen, die die Gesellschaft dem Individuum auferlegt, findet sich auch in der Gestalttherapie, speziell in den Teilen des Grundlagenwerks von 1951, die Paul Goodman geschrieben hat. Fritz Perls sieht in der Gestalttherapie „eine der rebellischen, humanistischen, existentiellen Kräfte in der Psychologie, die gegen die Lawine von selbstverhindernden, selbst-zerstörerischen Kräften ankämpfen wollen, von denen viele Angehörige unserer Gesellschaft beherrscht werden.“
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(Perls 1980: 149) Ähnlich wie bei Fromm, wird auch von ihm und Goodman eine „Pathologie der Normalität“ (Fromm 1955: 13) diagnostiziert: Nicht der sozial Unangepasste ist krank, sondern der sozial Angepasste, der nicht bemerkt, dass er in einem System lebt, das krank ist und krank macht. Daraus ergeben sich radikale Konsequenzen: „Es gibt nichts mehr, was die Menschen selber tun oder lassen, es sei denn symbolisch. Das Angebot an Sexualität ist reichlich, die Unempfindlichkeit extrem. Früher herrschte das Gefühl vor, Wissenschaft, Technik und neue Sitten würden ein glückseliges Zeitalter hereinbrechen lassen. Diese Hoffnung ist enttäuscht worden. [...] Schon oberflächlich gesehen gibt es also Grund, die Dinge kurz und klein zu schlagen, nicht diesen oder jenen Teil des Systems (z.B. die herrschende Klasse), sondern das Ganze en bloc, denn es verspricht nichts mehr, es hat sich in seiner bestehenden Form als unassimilierbar erwiesen.“ (Perls/Hefferline/ Goodman 1981: 135)
Die hier von Goodman formulierte Kritik, die er als Anarchist und Pazifist vor allem gegen den Krieg als „Massenselbstmord ohne Schuldgefühl“ (a.a.O.: 134) richtet, ist trotz des verbalen Radikalismus nicht als Aufruf zur Gewalt, sondern zur Verweigerung, zum NichtMitmachen zu verstehen, und sie beschränkt sich auch nicht auf die bloße Negation. Vielmehr geht es darum, dass der bisher „normal“ Angepasste, der bemerkt, dass mit ihm etwas „nicht stimmt“, sein eigenes Leben bewusster in die Hand nimmt und Alternativen für sich entdeckt. Das erfordert den Mut, sich der eigenen Gefühle bewusst zu werden und etwas Neues auszuprobieren. Dass sich die Klientel der Therapie verändert hat, ist für Goodman und Perls ein Zeichen der Hoffnung, denn es gibt immer mehr Patienten, die überhaupt nicht „krank“ sind, sondern nur „hinlänglich angepasst“ (a.a.O.: 95). Sie kommen, weil sie „etwas mehr vom Leben und von sich selber verlangen und glauben, Psychotherapie könne ihnen helfen“ (ebd.). Es sind diese Patienten, die als „Normalneurotiker“ zur Zeit des Psychobooms in den USA in die „Human Growth“- und „Encounter“Gruppen strömten, um sich von Konventionen zu befreien, einfach nur „menschlich“ miteinander umzugehen und ihr kreatives Potential zu entdecken. Martin Shepard, der Chronist von Fritz Perls aus dessen Zeit am Esalen-Institute an der Westküste der USA, hat darauf hingewiesen,
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dass dies die Erwachsenen-Variante der Hippie-Bewegung war, die mit Drogen, Sex und Beatmusik den Ausstieg aus der Gesellschaft zu praktizieren versuchte (vgl. Shepard 1975: 117). Ein Teil dieser Jugendlichen verband sich mit der politischen Protestbewegung, die schließlich den Rückzug der amerikanischen Truppen aus Vietnam erzwang, ein weiterer Teil versuchte sich in alternativen Wohn- und Lebensformen wie den Landkommunen und ein kleiner Teil versackte im Drogensumpf. Für das Gros der damaligen Jugendlichen, wie auch für ihr erwachsenes Pendant in Esalen und anderswo, blieb der zeitweilige „Ausstieg“ aus der Gesellschaft jedoch nicht mehr als eine Episode vor der Rückkehr in ein bürgerliches Leben – was nicht heißt, dass diese Zeit in den einzelnen Biographien keine Spuren hinterlassen hätte.
S ELBSTVERWIRKLICHUNG UND DIE „M OBILISIERUNG DER S UBJEKTE “
ÖKONOMISCHE
Während der Hochblüte der Humanistischen Psychologie war viel von „Selbst-Verwirklichung“ (Perls 1980: 150) die Rede; man kann die Vorstellung eines nicht nur sich selbst bestimmenden, sondern auch die eigenen Potentiale entfaltenden Individuums zu den zentralen Konzepten der Humanistischen Psychologie rechnen. Von starkem Einfluss war dabei Abraham Maslows Buch „Motivation and Personality“ (engl. 1954, dt. 1977) mit der Unterscheidung von „grundlegenden“ und „höheren“ Bedürfnissen. Der Schwerpunkt seiner Untersuchung lag bei den „höheren“ Bedürfnissen, zu denen er das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung zählte, und speziell bei der Frage, wodurch sich „selbstverwirklichende“ Menschen von anderen unterscheiden. Dazu gehören Fähigkeiten wie z.B. eine bessere Wahrnehmung der Realität, Kreativität und Liebesfähigkeit sowie relative Unabhängigkeit von der eigenen Kultur und Umgebung (vgl. Maslow 1981: 179ff.). Carl Rogers beschrieb den „selbstverwirklichenden“ bzw. „selbstaktualisierenden“ Menschen im Sinne einer Weg-von-hinzu-Bewegung: weg von den „Fassaden“ und den Rollenerwartungen der anderen, hin zu mehr Selbstbestimmung, Selbstvertrauen und „Erfahrungsoffenheit“ (Rogers 1973: 168ff.). In der „Human Growth“- und „Encounter“-Bewegung in den USA und den gruppendynamischen Trainings und Selbsterfahrungsgruppen
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der Anfangszeit in Europa spielte das Thema „Selbstverwirklichung“ eine große Rolle. Bei Fritz Perls und Paul Goodman, die z.T. an eine anarchistische Tradition anknüpften, geriet es allerdings in die Nähe eines extremen Individualismus, was bei den übrigen Vertretern der Humanistischen Psychologie weniger der Fall war. Vor allem in der Kontroverse um das sogenannte „Gestalt-Gebet“ zeigten sich gravierende Differenzen. Da diese Kontroverse exemplarischen Charakter hat, soll näher darauf eingegangen werden. Fritz Perls hat das „Gestalt-Gebet“ einem seiner Bücher aus der Zeit am Esalen-Institute, die größtenteils aus Therapieprotokollen bestehen, als Motto vorangestellt: „Ich tu, was ich tu; und du tust, was du tust. Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben. Und du bist nicht auf dieser Welt, um nach den meinen zu leben. Du bist du, und ich bin ich. Und wenn wir uns zufällig finden – wunderbar. Wenn nicht, kann man auch nichts machen.“ (Perls 1974: 13)
Diese gebetsartig rezitierte und massenhaft in Posterform verbreitete Spruchweisheit wurde zu Recht als Proklamation einer Ego-TripEinstellung interpretiert. Ruth Cohn hat das „Gestalt-Gebet“ deshalb heftig kritisiert (vgl. Cohn 1975: 101f.). Sie sieht insbesondere in der letzten Zeile („I am I and you are you and if by chance we find each other, it’s beautiful, if not, it can’t be helped“) eine „Ermunterung zum Scheuklappen-Egoismus“ (ebd.: 102) und bezweifelt, dass das resigniert-unpersönliche „it can’t be helped“ von Perls stammt, da es seiner sonstigen Einstellung zuwiderläuft. Zu den Grundprinzipien der Gestalttherapie, wie auch der von Ruth Cohn begründeten Themenzentrierten Interaktion, gehört vielmehr, sich im Kontakt zu anderen der eigenen Handlungsmöglichkeiten bewusst zu werden und Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Bei Ruth Cohn kommt eine ausgesprochen soziale Komponente durch das „Wir“ hinzu, das im sog. „Vier-Faktoren-Modell“ der Themenzentrierten Interaktion (vgl. Cohn 1975: 113f.) an zentraler Stelle steht. Aus mehreren „Ichs“ soll in sachgerichtetem, zugleich aber auch das Emotionale berücksichtigendem Zusammenwirken ein „Wir“ werden, bei dem jeder der Beteiligten seine spezifischen Fähigkeiten einbringen und entfalten
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kann. Zugleich ist das aus Ich, Wir und Es (Thema) bestehende Dreieck eingebettet in den „Globe“. Ruth Cohn unterscheidet zwischen einer „individualistischen“ und einer „humanistischen“ Auffassung von Selbstverwirklichung und macht für letztere auch die gegenseitige Rücksichtnahme und „Förderung der Selbstverwirklichung anderer“ zur Bedingung (vgl. Farau/Cohn 1984: 435f., Hervorhebung H.J.). Ihre Kritik am „Gestalt-Gebet“ läuft auf eine abgewandelte Version hinaus: „Ich kümmere mich um meine Angelegenheit, ich bin ich. Du kümmerst dich um deine, du bist du. Die Welt ist unsere Aufgabe; Sie entspricht nicht unseren Erwartungen. Doch wenn wir uns um sie kümmern, wird sie sehr schön sein; Wenn nicht, wird sie nicht sein.“ (Cohn 1975: 101)
Damit wird nicht nur ein soziales Miteinander in einem Prozess, der zu einem Wir führt, sondern auch die gemeinsame Verantwortung für den „Globe“ betont – die letzte Zeile in der Version von Ruth Cohn kann man als Anspielung auf das in der Zeit des Kalten Krieges herrschende Wettrüsten zwischen den Supermächten und die sich damals ebenfalls schon abzeichnenden ökologischen Probleme verstehen. Einem Streben nach Selbstverwirklichung auf Kosten von Mit- und Umwelt wird bei ihr eine klare Absage erteilt. Zugleich spricht sich in ihren Worten ein ungebrochenes Zutrauen in die Möglichkeit aus, die uns umgebenden Verhältnisse in positivem Sinne beeinflussen und verändern zu können. Nicht zuletzt auf Grund der von verschiedenen Seiten geäußerten Kritik hat Fritz Perls kurz vor seinem Tod eine abweichende Schlussversion des „Gestalt-Prayer“ propagiert: „Erst muss ich mich finden, um Dir begegnen zu können. Ich und Du, das sind die Grundlagen zum Wir, und nur gemeinsam können wir das Leben in der Welt menschlicher machen.“ (Perls 1980: 11)
Es mag zwar sein, dass Fritz Perls in seinem letzten Lebensjahr, nach der Gründung des Gestalt-Kibbuz am Lake Cowichan in Kanada, zu einer anderen Auffassung gekommen ist, die mehr die soziale Ver-
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antwortung in den Vordergrund stellt. Größere Breitenwirkung entfaltete jedoch die ursprüngliche Fassung, in der das „Wir“ und die gemeinsame Verantwortung für den „Globe“ keine Rolle spielten. Diese individualistische Auslegung kann jedoch nicht als repräsentativ für die gesamte Humanistische Psychologie und auch nicht für die Gestalttherapie gelten. Sie entspricht z.B. nicht dem, was Laura Perls unter „Commitment“ versteht (vgl. L. Perls 2005: 115ff.), einem tragenden Grundbegriff in ihrer Version von Gestalttherapie, mit dem sie wesentlich stärker als Fritz Perls das Sich-Einlassen auf den jeweils Anderen und die wechselseitige Verantwortung betont. Wenn wir fragen, wieweit der Streit um die damaligen Parolen auf einen konkreten gesellschaftlichen Hintergrund verweist, so stoßen wir auf die Individualisierungsdynamik, die Ulrich Beck in den Mittelpunkt seines modernen Klassikers über die „Risikogesellschaft“ (Beck 1986: 113ff., vgl. Junge 2002: 50ff.) gestellt hat. Es ist sogar wahrscheinlich, dass Beck das „Gestalt-Gebet“ zitiert, ohne die Quelle zu nennen, denn der inhaltlich tautologische, gleichwohl mit Emphase geäußerte Satz „Ich bin ich“ kommt bei ihm mehrfach vor (vgl. Beck 1986: 161, 175). Dieser Satz klingt bei ihm allerdings weniger selbstbewusst als bei denen, die ihn einst in den Selbsterfahrungsgruppen benutzten, denn er formuliert jetzt die Erkenntnis, dass der Einzelne bei der Erstellung seines Lebens-„Designs“ auf sich allein zurückgeworfen ist. Daran werden laut Beck die „ins Persönliche gewendeten Widersprüche einer Industriegesellschaft“ (a.a.O.: 175) deutlich, die die Menschen aus der Sicherheit eines lebenslang garantierten Arbeitsplatzes, aus vorgegebenen Rollen und Beziehungsmustern in Familie und Beruf herauskatapultiert haben und ihnen zumuten, die unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungen, die an sie herangetragen werden, allein zu bewältigen und mit ihren persönlichen Vorstellungen und Wünschen in Einklang zu bringen. Dabei ist ebenso gut die Möglichkeit eines Scheiterns wie die eines Gelingens vorprogrammiert. Unter dem Vorzeichen des Neoliberalismus hat diese Dynamik zusätzlichen Schub erhalten. Kennzeichen des Neoliberalismus ist die Ausdehnung des Marktes auf alle Lebensbereiche, wobei die Veränderung der Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt auch Familie, Kindererziehung, Freizeitmöglichkeiten und Konsumgewohnheiten betrifft. Von „Selbstverwirklichung“ im früheren Sinn kann in heutigen „prekarisierten“, d.h. befristeten bzw. jederzeit kündbaren und
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dazu schlecht bezahlten (Leih-)Arbeitsverhältnissen oder bei Werkverträgen kaum noch die Rede sein. Gleichwohl wird mit Schlagworten wie „Arbeitszeitsouveränität“ für flexible Arbeitszeiten in den Betrieben oder „Kreativität“ und „Selbstbestimmung“ bei hochqualifizierten Beschäftigten vor allem in der IT-Branche, für die die Trennung zwischen Arbeit und Privatleben nicht mehr gilt, weil sie zu Hause und auf Reisen mit dem Laptop arbeiten, der Anschein erweckt, als ob die Chancen für „Selbstverwirklichung“ damit zugenommen hätten (vgl. Kaindl 2007a: 22f.). Da mit der Verlagerung von Arbeitsprozessen ins Privatleben und der damit verbundenen individualisierten Zeitdisposition aber auch Leistungsdruck und Arbeitsintensität zugenommen haben, bleibt die „moderne“ Art zu arbeiten höchst zwiespältig. Man kann darin auch eine raffinierte Art der Ausbeutung von Arbeitskraft sehen, die auf Selbstausbeutung beruht. Hinzu kommt, dass der Bereich der Gefühle, dem in der Humanistischen Psychologie unter dem Aspekt von Echtheit und Authentischsein ein hoher Stellenwert zukommt, im Neoliberalismus zunehmend kommerzialisiert wird. Dies gilt nicht nur für moderne Dienstleistungsberufe wie z.B. den der Stewardess, bei dem die zur Berufsrolle gehörende „Gefühlsarbeit“ erstmals systematisch untersucht wurde (vgl. Hochschild 2006: 30ff.). Es gilt im Prinzip heute für alle Formen von individualisierter, nicht mehr tarifvertraglich gebundener Berufsarbeit, bei denen ein „Zwang zur permanenten Selbstvermarktung“ (Candeias 2007: 53) besteht. Zur Selbstvermarktung gehört, dass man z.B. bei Bewerbungs- und Kundengesprächen einen „guten Eindruck“ macht. Man muss vor allem „gut rüberkommen“; Echtheit und „Authentischsein“ sind gefragt, auch wenn es sich um schlecht bezahlte Arbeit in einem Call-Center handelt. „Emotion wird zum Kapital“ (Kaindl 2007b: 157). Als eine geeignete Technik, um den eigenen Gefühlshaushalt zu manipulieren und das gewünschte positive „Feeling“ bei sich selbst hervorzurufen, das nach außen hin ausstrahlen soll, wird das Neurolinguistische Programmieren (NLP) empfohlen (vgl. Kaindl, ebd.). Derartige Selbstmanipulation im Dienst des Marktes kann jedoch auf keinen Fall als „humanistisch“ gelten. Gleichwohl scheint gerade die neoliberale Phase der Wirtschaftsund Sozialentwicklung, deren Ende trotz Finanz- und Wirtschaftskrise nicht abzusehen ist, mit der „Mobilisierung der Subjekte“ – eine Formulierung von Peter Hartz (vgl. Kaindl 2007b: 152) – auch die Einlösung von Versprechen mit sich zu bringen, für die die Huma-
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nistische Psychologie einst angetreten ist. Schlagworte wie „mehr Eigenverantwortung“, mit denen in der „Agenda 2010“ der Abbau sozialstaatlicher Leistungen gerechtfertigt wurde, sollen derartige Maßnahmen in positivem Licht erscheinen lassen. Doch hier gilt es genauer zu differenzieren: Eigenverantwortung im Hinblick auf die Daseinsvorsorge setzt handlungsfähige Subjekte voraus, die in ökonomischer Hinsicht über genügend eigene Ressourcen verfügen. Wer diese nicht hat – und das ist in den westlichen Demokratien immer noch die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung – bleibt auf die Leistungen gut funktionierender Solidarsysteme angewiesen. Was die Begründerinnen und Begründer der Humanistischen Psychologie auf keinen Fall intendierten, war die Vereinzelung der Menschen und ihre Auslieferung an „anonyme“ Mächte des Marktes. Bei den aus Deutschland geflüchteten Jüdinnen und Juden ist schon auf Grund ihrer Sympathien für den Sozialismus nicht gut vorstellbar, dass sie sich zu Befürwortern heutiger neoliberaler „Reformen“ hätten machen lassen.2
G ESCHLECHTERVERHÄLTNIS , „P SYCHOBOOM “ UND A RBEITSWELT Seit den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat ein Wandel in der Beziehung der Geschlechter stattgefunden. Das Schlagwort von der „Selbstverwirklichung“ wurde vor allem von Frauen aus der bildungsbürgerlichen Mittelschicht aufgegriffen: Es sollte nicht länger das Vorrecht der Männer sein, über Beruf und eigenes Einkommen zu verfügen, die Frauen verlangten Gleiches für sich. Neue und effektivere Methoden der Empfängnisverhütung ermöglichten ihnen zudem in sexueller Hinsicht mehr Selbstbestimmung. Die in der Humanis-
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Von Fritz und Laura Perls ist bekannt, dass sich beide am Ende der Weimarer Republik in der „Antifaschistischen Aktion“ aus Anhängern und Sympathisanten von SPD und KPD engagierten, die 1932 in Berlin einen „Antifaschistischen Einheitskongreß“ veranstaltete. Ruth Cohn hat in einem Interview erwähnt, sie sei damals Sympathisantin der Kommunisten gewesen und habe in ihrer Jugend „begeistert Marx“ gelesen. Erich Fromm trat auch noch in den USA für einen „humanistischen Sozialismus“ ein (vgl. Johach 2007: 38ff.; 2009: 237, 268).
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tischen Psychologie verbreiteten Vorstellungen von „Liebe“, „Glück“ und „Erfüllung der innersten Bedürfnisse“ (Bühler/Allen 1974: 69) haben zwar viel mit dem Wunsch nach sexueller Partnerschaft zu tun, allerdings auch mit einem Protest gegen die engen Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft und die „Unterdrückung“ der Frau in der Kleinfamilie. Gleichzeitig konnten Männer mit den Gefühlen auch ihre „weibliche Seite“ entdecken. Die Dauerbindung an einen Partner und die lange vorherrschende Rollenverteilung – der Mann sucht seine Selbstverwirklichung im Beruf, die Frau ist zuständig für den Haushalt und die Aufzucht der Kinder – wurden und werden in Frage gestellt. Die Humanistische Psychologie geht von der Verschiedenheit und Gleichwertigkeit der Geschlechter aus. Wenn es auch übertrieben sein mag, die Veränderungen in der Beziehungen der Geschlechter primär auf die Psychologie zurückzuführen, so haben doch zweifellos die während des „Psychobooms“ verbreiteten, auf verschiedene „humanistische“ Methoden gestützten Selbsterfahrungsgruppen, in denen sich häufig Frauen in der Überzahl befanden, zu einer in diesem Sinne verstandenen Emanzipation beigetragen. Als Basis einer geglückten Partnerbeziehung gilt noch immer die Liebe, auch und gerade nachdem die Sexualität enttabuisiert worden ist und heutzutage viel freier als noch in den 1950er Jahren gelebt werden kann, d.h. nicht mehr „offiziell“ an Ehe und Familie gebunden ist. Hier wäre das Verhältnis von Liebe und Sexualität zu erörtern, aber die Feststellung mag genügen, dass das Eingehen einer sexuellen Beziehung häufig durch „Liebe“ – oder was man dafür hält – motiviert ist. Die Emanzipation der Frauen hat auch in dieser Hinsicht zu größerer Entscheidungsfreiheit geführt. Erich Fromm hat von „Fürsorge, Achtung, Verantwortungsgefühl und ‚Erkenntnis‘ als Merkmale „echter“ Liebe gesprochen und diese definiert als ein „tätiges Bestreben, das Wachstum und das Glück der geliebten Person zu fördern“ (Fromm 1956: 475). Liebe in diesem Sinn kann und soll sich zwar auch auf die eigene Person richten, hat ihren hauptsächlichen Focus jedoch im Wohlergehen des Anderen. Fromm hat im gleichen Zusammenhang allerdings schon in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts vom „Verfall der Liebe“ in den westlichen Gesellschaften gesprochen und die Ursache dafür in der „entfremdeten MarketingPersönlichkeit“ (a.a.O.: 495) gesehen. Die Vorstellung von der Liebe als „gegenseitige sexuelle Befriedigung“ und einem „Teamwork“, bei dem die Partner ihre beiderseitigen Interessen „in einen Topf werfen“
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und jeder zusieht, dass für ihn bzw. sie möglichst viel dabei herauskommt, wird von ihm als „égoisme à deux“ (ebd.) kritisiert. Seine humanistische Kritik richtet sich vor allem gegen das Eindringen von Vertragskategorien in die persönliche Liebesbeziehung. Paradoxerweise hat jedoch gerade die durch Freisetzung von Traditionsvorgaben ermöglichte größere Selbstbestimmung dazu geführt, dass in den realen Beziehungen zwischen Männern und Frauen immer mehr ein quasi-geschäftsmäßiges Aushandeln von Verträgen erforderlich wird. Dies gilt vor allem, wenn man beschließt, zusammenzuziehen und einen gemeinsamen Haushalt zu führen, und insbesondere dann, wenn beide berufstätig und dazu noch Kinder zu versorgen sind. Elisabeth Beck-Gernsheim hat beschrieben, wie im Gefolge der in diesem Fall nötigen „Beziehungsarbeit“ leicht die Liebe auf der Strecke bleibt: „Jetzt bedarf es eines ständigen Dialogs, um die gemeinsame Sache herzustellen und zu erhalten, sprich: den Freiraum der Privatheit mit übereinstimmenden Definitionen von Liebe, Ehe, Partnerschaft zu füllen. Das kostet endlose Anstrengungen, viel Zeit, Nerven, Geduld, kurzum das, was in der neueren Diskussion unter dem Stichwort ‚Beziehungsarbeit‘ bekannt ist. [...] Unter diesen Bedingungen ist es sicher nicht zufällig, dass Psychoanalyse, Psychologie, Therapie seit den sechziger Jahren enormen Zulauf verzeichnen, sich dabei immer mehr auch der Dynamik von Paarbeziehungen zuwenden. Die Gebote, die sie vielfach verkünden, heißen ‚Offenheit‘ und ‚Aufrichtigkeit‘. Die Partner sollen Gefühle zugeben, die eigene Person zeigen, sich nicht hinter Ängsten, Tabus, Konventionen verstecken. [...] Mit der Beziehungsarbeit im Dauerdialog droht derart die Tyrannei der Authentizität. Man vergisst, dass die menschliche Seele viele Nischen, Windungen, Wirrungen hat, die man vielleicht nicht alle funktional bearbeiten kann.“ (Beck/Beck-Gernsheim 1990: 122f.)
Was hier noch in psychologischen Kategorien des Darüber-Redens und Aushandelns in „Offenheit“ beschrieben wird, ist unter den Bedingungen neoliberaler Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik inzwischen harter Auseinandersetzung gewichen. Geographische Mobilität war lange Zeit ein Erfordernis subjektiver Art, wenn man auf der Karriereleiter aufsteigen wollte. Meist war das steigende Einkommen des Mannes bei diesbezüglichen Paar-Entscheidungen das ausschlaggebende Kriterium; die Frauen nahmen entsprechende Nachteile bei
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einem Stellenwechsel des Mannes häufig in Kauf. Unter den Bedingungen hoher Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung ist jedoch persönliche Entscheidungsfreiheit bei Paaren heutzutage kaum noch gegeben. Bei den Arbeitsagenturen wird inzwischen von jedem, der vermittelbar erscheint, hohe geographische Mobilität verlangt. Wer diesem Erfordernis nicht nachkommt, wird mit Sanktionen (Kürzung des Arbeitslosengeldes etc.) belegt. Auf Familie und private Bindungen wird dabei keine Rücksicht genommen. Manchmal muss auch ein Zweitjob angenommen werden, weil das mit der „normalen“ Arbeit erzielbare Einkommen nicht reicht. Unter diesen Bedingungen wird es immer schwieriger, Arbeit und Partnerbeziehung unter einen Hut zu bringen und dazu womöglich noch Kinder großzuziehen. Viele Beziehungen scheitern nicht an überzogenen Ansprüchen oder an der Unfähigkeit, miteinander zu reden, sondern am Gegensatz zwischen einer Arbeitswelt, die „in Hochgeschwindigkeit funktioniert“ (Nowak 2007: 66) und die Menschen auslaugt, und den persönlichen Anforderungen an Partnerschaft, Haushalt und Kindererziehung, für die häufig nicht genügend innerer und äußerer Freiraum bleibt. Es reicht nicht aus, Männer und Frauen zu „hochkommunikativen und sehr konfliktfähigen Individuen“ zu bilden, damit sie die „notwendigen flexiblen Lösungen“ (ebd.: 67) finden. Auch individuelles „Gefühlsmanagement“ (Hochschild 2006: 218), kann bestenfalls nur eine Teillösung sein; es verlagert ja „technische“ Lösungsstrategien weiter ins Subjekt. Gefordert sind vielmehr sozial-strukturelle Maßnahmen, wie z.B. gesetzliche Mindestlöhne, Ausweitung der Elternzeit und eine ausreichende Zahl von Kindergartenplätzen, um Ehepaare und Familien mit kleinen Kindern zu entlasten und für sie Freiräume zur persönlichen Gestaltung zu schaffen. Trotz einigen in den letzten Jahren unternommenen Bemühungen hat die deutsche Bundesrepublik auf diesem Gebiet bisher nur geringe Fortschritte zu verzeichnen, wie ein Vergleich mit europäischen Nachbarländern (z.B. Frankreich) zeigt. Die Humanistische Psychologie hat als Medium und Katalysator von Rollenreflexion in persönlichen Entwicklungsprozessen, zum Teil auch bei der Lösung von Konflikten, die sich im veränderten Zusammenleben der Geschlechter ergeben, eine wichtige Funktion übernommen. In der „Entwicklungshilfe“ für individuelle Lebensgestaltung und der Unterstützung bei der Suche nach Lösungen für Beziehungskonflikte liegt vielleicht ihre bisher am stärksten ausgeprägte
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gesellschaftliche Relevanz. Es ist jedoch kein Zufall, dass ihre Massenwirksamkeit im sog. „Psychoboom“ der 1970er und 80er Jahre, der nicht nur die helfenden Berufe, sondern auch einen großen Teil der bildungsbürgerlichen Mittelschicht erfasst hat, seither keine adäquate Fortsetzung mehr gefunden hat. Die Bewusstwerdungsprozesse, die – wenigstens in der Theorie – zur Veränderung der Rolle der Frau geführt haben, können inzwischen als weitgehend abgeschlossen gelten, die Konflikte zwischen einer durchrationalisierten, unter dem Diktat neoliberaler Ökonomie stehenden Arbeitswelt und dem Privatleben haben sich hingegen verschärft. Die seinerzeit von Jürgen Habermas in ihren negativen Auswirkungen antizipierte „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas 1981 Bd. II: 476) durch die spezifische Rationalität der funktionalen Systeme in Wirtschaft und Verwaltung ist weiter fortgeschritten. Heutzutage müssen beträchtliche, vor allem aus kulturellen Traditionen, die noch nicht von diesem Sog erfasst sind, herzuleitende Gegenkräfte aufgeboten werden, um den Erosionsprozess, der die sozialen Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung und des zwischenmenschlichen Umgangs erfasst hat, zu stoppen.
S PRACHE , HUMANISTISCHER D IALOG UND MEDIENVERMITTELTE K OMMUNIKATION Ruth Cohn hat in ihrer „Gelebten Geschichte der Psychotherapie“ eindrucksvoll beschrieben, in welchem Maß Anfang der 1960er Jahre belebende Impulse davon ausgingen, dass bei den Treffen der American Academy of Psychotherapists (AAP) progressive Therapeuten, von denen etliche später Kultstatus erlangten, zusammenkamen, um ihre jeweiligen Methoden nicht nur miteinander zu diskutieren, sondern sie in ihren Workshops auch zu praktizieren (vgl. Farau/Cohn 1984: 271ff.). Bei einem dieser Treffen lernte sie Fritz Perls näher kennen, mit dem sie anschließend eine Zeit lang zusammenarbeitete. Beide kamen aus der Tradition der Psychoanalyse, beide waren jedoch unzufrieden mit der Orientierung an der Vergangenheit und der durch die Abstinenz des Analytikers eingeschränkten Art des Kontakts. Die Einbeziehung der Körpersprache in eine „ganzheitliche“ Sichtweise, authentische Ich-Aussagen des Therapeuten anstelle von Interpretationen und erlebnisaktivierende Methoden sollten eine direktere Art der Kommunikation ermöglichen. Durch eine Reihe weiterer Veränderungen
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gegenüber herkömmlichen Therapieverfahren – u.a. Betonung des „Hier und Jetzt“, Abbau des hierarchischen Gefälles von Seiten des Therapeuten sowie Fokussierung auf die Wachstumsmöglichkeiten anstelle der Defizite beim Klienten – sollten sich die humanistischen Methoden von den bis dahin maßgebenden Verfahren der klassischen Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie unterscheiden. Ziel war, anstelle psychologischer Diagnostik und „Behandlung“ dem „Dialogischen“ zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. Friedman 1987: 23). Da es sich hier um wichtige Veränderungen handelt, seien die entscheidenden Kriterien für einen humanistischen Dialog noch etwas näher ausgeführt: • Zwischenmenschlicher Dialog auf humanistischer Basis ist eine
Subjekt-Subjekt-Beziehung, d.h. nicht nur der Handelnde selbst, auch sein Gegenüber wird als autonomes, sich selbst bestimmendes und für sein Handeln verantwortliches Subjekt wahrgenommen und respektiert. Damit werden psychologische Modelle ausgeschlossen, die sich an der Subjekt-Objekt-Spaltung der Naturwissenschaften orientieren. Ein humanistischer Psychologe macht andere Menschen nicht zu Objekten, die datenmäßig „erfasst“ und entsprechend seinen eigenen Zwecken bzw. denen seines Auftraggebers „behandelt“ und manipuliert werden können; er respektiert vielmehr ihr Eigensein und ihr subjektives Erleben und tritt als Person ohne strategische Absichten mit dem Anderen in Kontakt. • Vom humanistischen Standpunkt sind die Interaktionspartner als prinzipiell gleichberechtigt zu betrachten. Die Humanistische Psychologie wendet sich gegen hierarchische Verhältnisse, auch wenn sie nicht leugnet, dass die Gesellschaft de facto von Ungleichheit, Macht, Konkurrenz und Bedürfnis nach Kontrolle durchzogen ist. Sie sucht einen „herrschaftsfreien“ Dialog durch „effektive Gleichheit der Chancen bei der Wahrnehmung von Dialogrollen“ (Habermas 1971: 137) zu ermöglichen, auch wenn dies manchmal nur ansatzweise gelingt. Für den therapeutischen Dialog bedeutet dies, dass keiner der Dialogpartner Deutungsmacht über den anderen beanspruchen, sondern nur aus eigenem Erleben und eigener Erfahrung sprechen kann. • Bevorzugtes Medium des Kontakts ist die Sprache. Gegenüber dem reduzierten sprachlichen Kontakt in der klassischen Psychoanalyse, in der Blickkontakt und Körperhaltung weitgehend ausgeblendet
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bleiben, wird im „ganzheitlichen“ Ansatz der Humanistischen Psychologie der somatischen Seite des Menschen größere Aufmerksamkeit gewidmet. Der Mensch gilt als „psycho-biologische Einheit“ (Cohn 1975: 120), der Leib – d.h. der beseelte Körper – als Garant unverwechselbarer Individualität. Durch Arbeit am und mit dem Körper kann das seelische Befinden verbessert werden. Körperliche Reaktionen gehen als nonverbale Kommunikation in die zwischenmenschliche Beziehung ein, sie bedürfen jedoch der Interpretation und „Übersetzung“ in Sprache. Rein somatische Behandlung ohne sprachlichen Kontakt zum Patienten übergeht dessen Bedürfnis nach Introspektion, verbaler Selbstexplikation und dialogischer Klärung. • Die Humanistische Psychologie bevorzugt die „Wachstums-“ gegenüber der „Defizit-Motivation“ (Maslow 1985: 37), d.h. sie rückt anstelle der kranken die gesunden und entwicklungsfähigen Persönlichkeitsanteile und Potenzen in den Vordergrund. Ihr Ziel ist es, die „volle Anwendung und Nutzung der Talente, Kapazitäten und Fähigkeiten“ (Maslow 1981: 180) des Einzelnen zu fördern, und zwar nicht, damit jemand anders einen Nutzen davon hat, sondern um des Betreffenden selbst willen. Dabei wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch nach „Wachstum“ strebt und entwicklungsfähige Anlagen hat, die nicht in vorgefertigte Nutzungsschablonen zu pressen sind. Diese am therapeutischen Dialog gewonnenen Idealforderungen sind mit den Bedingungen zu vergleichen, unter denen heutzutage Massenund Individualkommunikation stattfindet. Anders als beim Realkontakt zwischen einzelnen Menschen, der raumzeitlich begrenzt und aufwändig ist, bieten das Fernsehen und die „neuen“ elektronischen Medien eine unbegrenzte Menge von Erlebens- und Kontaktmöglichkeiten, denen eines gemeinsam ist: sie sind ohne das Medium nicht denkbar. Durch ihre jederzeitige Präsenz und Verfügbarkeit haben Internet, Handy und PC im Alltagsleben der Menschen in postindustriellen Gesellschaften enorme Macht gewonnen, während ihre Nutzer sich souverän wähnen. Im Bruchteil einer Sekunde können Verbindungen rund um den Globus hergestellt werden, in den Chatrooms kann man leicht Tausende von „friends“ gewinnen. Aber die so entstehenden Beziehungen sind virtuell, flüchtig und emotional ausgedünnt, sie unterscheiden sich erheblich von menschlicher Begegnung, realem Dialog und „ganzheitlichem“ Kontakt. Sozusagen als
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Kompensation für fehlende menschliche Nähe bieten sie jedoch eine enorm gesteigerte Fülle an Eindrücken und Informationen und künstlich stimulierten Erlebnismöglichkeiten. Mit einem Mausklick können massenhaft Informationen verschickt und empfangen werden, die von den Empfängern nur zum Teil verarbeitet werden. Ohne entsprechende Filter wäre es gar nicht möglich, Wichtiges von Unwichtigem oder Lästigem zu unterscheiden. Die jederzeitige Erreichbarkeit und Verfügbarkeit durch die elektronischen Medien kreiert neue Zwänge und Abhängigkeiten – fürs zeitweilige Abschalten muss man sich fast schon entschuldigen. Der Dialog am PC schrumpft nicht selten zum bloßen Informationsaustausch. Wer per Mail zu kommunizieren gewohnt ist, gewöhnt sich das Telefonieren leicht ab – es geht schneller und „belastet“ den Sender nicht mit Ungeplantem und den Stimmungen, die die Stimme des anderen transportiert. Und wer beim Reisen mit der Bahn ungewollt mitzuhören gezwungen ist, wie per Handy Belanglosigkeiten mit weit entfernten Menschen ausgetauscht werden, während ein Gespräch mit dem Sitznachbarn unter allen Umständen vermieden wird, wird den Eindruck nicht los, dass die neuen Medien eher die Vereinzelung und Dialogunfähigkeit verstärken, als dass sie menschliche Begegnung und psychisches Wachstum fördern – ganz abgesehen von veralteten „Tugenden“ wie Rücksichtnahme und Höflichkeit. Wer stundenlang allein vor dem Computer sitzt, kann trotzdem mit anderen in Verbindung sein und etwas Aufregendes erleben. In den Cyber-Welten kann man leicht für Stunden in eine andere Identität schlüpfen, in der man sich gegenüber der Alltagsrealität aufgewertet fühlt. Dabei gilt, was Rainer Funk schreibt: „Die Attraktivität von simulierten und virtuellen Welten hat, so paradox dies klingen mag, tatsächlich damit zu tun, dass man in ihnen mit anderen verbunden sein, in eine Interaktion treten kann, ohne eine sichtbare, hautnahe, von Nähewünschen oder Näheängsten bestimmte reale Beziehung eingehen zu müssen.“ (Funk 2005: 41)
Warum wird das hier erwähnt? Um zu zeigen, dass der durch die elektronischen Medien und neuen Kommunikationstechnologien verstärkte Trend in eine andere Richtung weist, als von der Humanistischen Psychologie anvisiert. Auch im Gesundheitswesen und in der medizinischen Forschung spielt das Gespräch angesichts technisch
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„verbesserter“ Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten eine immer geringere Rolle. Dank bildgebender Verfahren kann man inzwischen genau erforschen, in welcher Region des Gehirns Gefühle entstehen, wie sie die kognitiven Leistungen beeinflussen und wie das Gehirn auf Stress reagiert. Mit Humanismus in den zwischenmenschlichen Beziehungen hat das wenig zu tun, eher – so steht zu befürchten – mit wissenschaftlichen Zubringerdiensten für eine expandierende Pharmaindustrie, durch die wir in die Lage versetzt werden sollen, die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern und Gefühle je nach Bedarf zu evozieren bzw. unter Kontrolle zu halten. Eine dialogische Psychologie, die nach humanistischen Prinzipien verfährt, würde in einer pharmakologisch gelenkten Gesellschaft, wie sie in Huxleys „Brave New World“ vorweggenommen wird, nicht benötigt, sie wäre eher ein Hindernis. (Dem entsprechend gehören ja auch Shakespeares Dramen in Huxleys Anti-Utopie in den Giftschrank, weil in ihnen authentische Gefühle eine Rolle spielen.) Zum Glück ist jedoch noch nicht entschieden, ob die Techniken der Bewusstseinsmanipulation so weit gehen werden, dass unsere Zukunft mit der von zufrieden gestellten „Soma“-Konsumenten gleichzustellen ist, denn noch hat es der Einzelne selbst in der Hand, ob er sein Hirn von anderen erforschen lässt, Leistungsdrogen oder Tranquilizer benutzt und wie viel Raum er den Medien gibt, d.h. ob er sie entsprechend den eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen selbstverantwortlich einsetzt oder sich ihrer Fremdbestimmung unterwirft.
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Aus dem Bisherigen dürfte deutlich geworden sein, dass die Zeit für humanistische Ansätze in der Psychologie keineswegs vorbei ist, dass diese vielmehr umso dringlicher erscheinen, je mehr der allgemeine Trend gegenwärtig in eine andere Richtung zu weisen scheint. Dies gilt auch und gerade angesichts der Globalisierung, d.h. angesichts des weltweiten Austauschs von Gütern und Dienstleistungen und der Expansion der elektronischen Medien, die den weltweiten Warentausch begleiten bzw. ihn allererst ermöglicht haben. Es wäre deshalb zu eng gesehen, wenn man die Humanistische Psychologie nur auf die Zeit des „Human Potential Movement“ in den USA oder des „Psycho-
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booms“ in der Bundesrepublik der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts beschränken wollte. Auch der für die deutschsprachigen Länder geltende Hinweis, dass die Humanistische Psychologie kaum an den Universitäten vertreten ist, sondern sich derzeit fast ausschließlich auf den Fortbildungssektor für soziale Berufe beschränkt, greift zu kurz. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Humanistischen Psychologie angesichts globaler Herausforderungen, die gewohnte Sichtweisen in Frage stellen, neue Aufgaben zugewachsen sind. Gerade das auf eine ehrwürdige Tradition zurückgehende Attribut „humanistisch“ kann, auch wenn es im „postmodernen“ Zeitalter als etwas antiquiert erscheinen mag, als Garant dafür angesehen werden, dass die Frage nach dem, was Menschsein in einer globalisierten Welt besagt, offen bleibt oder besser: immer wieder neu gestellt werden muss. Angesichts der in den letzten Jahrzehnten rasant fortgeschrittenen Globalisierung und der gesteigerten Erfahrung von Andersartigkeit ist zu fragen, ob nicht gerade die „humanistische“ Perspektive in der Psychologie wichtige Gesichtspunkte und spezifische Chancen für interkulturelle Begegnung mit sich bringt. Damit ist nicht die faktisch bereits vollzogene Vernetzung durch weltumspannende Kommunikationssysteme, einschließlich der dominierenden internationalen Geschäftssprache Englisch, gemeint. Gegenüber vereinheitlichenden Tendenzen in den Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, die von Finanzinteressen gesteuert sind, muss vielmehr nach dem Umgang mit kultureller Verschiedenheit gefragt werden, die sich z.B. in unterschiedlichen Sitten, Gebräuchen und Rechtsauffassungen, in der Sprache und den mit ihr verbundenen Denk- und Empfindungsweisen, in Musik und Literatur sowie in philosophischen und religiösen Traditionen, d.h. letztlich in unterschiedlichen kollektiven Identitäten (zur Diskussion dieses Konzepts vgl. Niethammer 2000: 9ff.) zeigt. Da der Humanistischen Psychologie ein Wertsystem zu Grunde liegt, das nicht nur für die Begegnung zwischen einzelnen Personen Gültigkeit besitzt, kann versucht werden, von hier aus einige Grundlinien für den interkulturellen Dialog aufzuzeigen. Ehe darauf näher eingegangen wird, ist eine Zwischenbemerkung erforderlich. Die bereits in den 1990er Jahren konzipierte, nach den Anschlägen des 11. Septembers zu enormem Einfluss in der amerikanischen Politik gekommene Untersuchung von Samuel P. Huntington über den „Kampf der Kulturen“ („Clash of Civilizations“) geht zwar
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von jeweils identitätsstiftenden kulturellen Werten aus, sie siedelt den Begriff der Kultur jedoch von vornherein im Bereich von Macht und Auseinandersetzung an. Dies führt zu der These, die „hartnäckigsten, wichtigsten und gefährlichsten Konflikte“ würden künftig nicht zwischen sozialen Klassen, zwischen Reichen und Armen oder anderen ökonomisch definierten Gruppen stattfinden, sondern zwischen Völkern, die „unterschiedlichen kulturellen Einheiten angehören“ (Huntington 1997: 24, Hervorhebung H.J.). Huntington sucht seine These zwar mit einigen Beispielen zu belegen (z.B. mit den ethnischkulturell bedingten Kriegen auf dem Balkan nach dem Auseinanderbrechen der politischen Einheit Jugoslawiens), seine Definition des Politischen erinnert jedoch mehr an Carl Schmitts Freund-Feind-Verhältnis als an die durch den säkularen Humanismus mitbegründete westliche Demokratietradition mit universellen Menschenrechten und Toleranzprinzip. Die Erkenntnis, dass Politik primär auf Ausgleich und Verständigung zwischen unterschiedlichen Kulturen und Interessen abzielen könnte und sollte, ist dieser Auffassung gründlich abhanden gekommen. Der kurze Exkurs mag verdeutlichen, dass die Bereiche von Kultur, Psychologie und Politik eng aneinander grenzen bzw. sich teilweise überschneiden. Die Politik wird z.B. häufig von irrationalen Überlegungen und Erwägungen bestimmt. Erich Fromm ist das lebendige Beispiel eines „humanistischen“ Psychologen und Psychotherapeuten, der sich vor der Einmischung ins politische Geschäft nicht gescheut hat. Durch seine Veröffentlichungen und seine damaligen Beziehungen zu Senatoren der demokratischen Partei der USA suchte er z.B. seine psychoanalytischen Erkenntnisse über wechselseitige Feindbild-Projektionen zur Zeit des Kalten Krieges einzusetzen, um das Wettrüsten zu stoppen (vgl. Johach 2000: 75ff.). Auch Ruth Cohn, die ursprünglich vorhatte, ihre Aufsatzsammlung unter dem Titel „Die Couch war zu klein“ zu veröffentlichen, war bestrebt, die von ihr begründete Gruppenmethode im Sinne einer „humanistischen Gesellschaftstherapie“ (Farau/Cohn 1984: 334) wirksam werden zu lassen; allerdings bewegte sich dies in etwas kleinerem Rahmen.3
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Einer der ersten Workshops, den Ruth Cohn zusammen mit anderen Mitgliedern des 1966 gegründeten WILL-Instituts in New York durchführte, befasste sich mit „Trennung – Verbindung – Koexistenz – Integration“ von
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Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Humanistische Psychologie im interkulturellen Dialog hilfreich sein kann, da sie für Verstehen und Verständigung auf der Basis wechselseitiger Anerkennung eintritt. Wie in der Therapie des Einzelnen der Therapeut zu einem „einfühlenden nicht-wertenden Verstehen der inneren Welt des anderen“ (Tausch/Tausch 1979: 32) bereit und in der Lage sein sollte, so setzt auch der interkulturelle Dialog ein Bemühen voraus, Angehörigen fremder Kulturen zuzuhören, sich in ihre Lage zu versetzen und das, was sie sagen, nicht von vornherein abzuwerten. Strategische Absichten, die nur eigene Interessen verfolgen, und vorgefasste Meinungen und Vorurteile stehen dabei im Wege. Neben der Bereitschaft zum Kennenlernen des Fremden, das möglichst vorurteilsfrei erfolgen sollte, gehört dazu aber auch die Bereitschaft, aus der Sicht des Anderen die Voreingenommenheiten zugunsten der eigenen Kultur in Frage stellen zu lassen – also der Versuch, sich selbst mit den Augen des Anderen zu sehen. Die eigene Identität gibt man damit nicht auf, sondern festigt sie, indem man in der Auseinandersetzung klarer sehen lernt, was unverzichtbarer Bestand der eigenen Kultur ist und was mit Recht problematisiert werden kann. Aus historischen, aber auch aktuellen Gründen ist heutzutage ein Dialog mit der islamischen Kultur von besonderer Dringlichkeit. Eine entsprechende Veranstaltung, die dem interkulturellen Dialog diente, wurde nach längerer Vorarbeit im Frühjahr 2007 von der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft durchgeführt.4 Auf dieser Veranstaltung setzte sich u.a. Mohamed Sabila, Präsident der Philosophischen Gesellschaft in Marokko, mit den westlichen Vorurteilen gegenüber der islamischen Welt auseinander. So gibt es eine Jahrhunderte lange Tradition des Vorurteils, der Islam sei von „Schicksalsgläubigkeit, Gewalttätigkeit und Fanatismus“ geprägt, während die
Schwarzen und Weißen; in einem anderen Workshop ging es um mehr Mitbestimmungsrechte der Eltern an den Schulen in einem armen, größtenteils von Farbigen bewohnten Stadtteil von New York. 4
Die erwähnte Veranstaltung fand am 2. und 3. April 2007 unter dem Motto „Erich Fromm und der Dialog der Kulturen“ in Fes/Marokko statt. Die bei dieser Gelegenheit gehaltenen Vorträge – überwiegend von islamisch geprägten Gelehrten – sind in einem Sonderheft des von der Fromm-Gesellschaft herausgegebenen „Fromm Forum“ (2007) und im Internet zugänglich.
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christliche Kultur sich angeblich durch ihre „Moral, Friedfertigkeit und Toleranz“ auszeichnet (vgl. Sabila 2007: 20) Die Geschichte der Kreuzzüge im „christlichen“ Abendland und die vergleichsweise tolerante Herrschaft des Islam in Spanien belegen zwar, dass es sich eher umgekehrt verhält, aber in der öffentlichen Meinung hält sich das Vorurteil hartnäckig, zumal wenn der Islam unbesehen mit fundamentalistischem Islamismus gleichgesetzt wird (vgl. Zimmer 2005: 173ff.). Ein ernsthafter Dialog setzt voraus, dass man entsprechende Differenzierungen zur Kenntnis nimmt und die Fakten nicht verleugnet. Stereotype Zuschreibungen sollten dagegen vermieden werden. Erich Fromm hat die humanistische Psychologie und Ethik auf vier Prinzipien zurückgeführt, die auch für den interkulturellen Dialog eine Leitlinie abgeben können: „Sie [die Auffassung von ‚Humanismus‘] ist erstens gekennzeichnet durch den Glauben an die Einheit der Menschheit, durch den Glauben, dass es nichts Menschliches gibt, das nicht in jedem von uns zu finden wäre; zweitens durch die Betonung der Würde des Menschen; drittens durch die Betonung der Fähigkeit des Menschen, sich weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen; schließlich durch die Betonung von Vernunft, Objektivität und Frieden.“ (Fromm 1966: 19, Hervorhebung H.J.).
Der Glaube an die Einheit der Menschheit besagt, dass trotz aller Verschiedenheit das Gemeinsame und Verbindende gesehen werden kann und soll. Obwohl mit der Individualität Verschiedenheit verbunden ist, zieht die Humanistische Psychologie daraus nicht den Schluss, prinzipielle Vorzüge oder Vorrechte der einen Gruppe von Menschen gegenüber anderen abzuleiten. Im Gegenteil: Sie wendet sich nachdrücklich gegen jede Form von Diskriminierung auf Grund von Rasse, Sprache, sozialer Herkunft oder Geschlecht. Damit steht sie in der Tradition humanistischen Denkens seit der Aufklärung, das – nach der Katastrophe zweier Weltkriege und dem biologisch begründeten Rassenwahn, der in der Nazizeit zum staatlich geplanten Genozid führte – 1945 die Gründung der UNO mit veranlasste und 1948 zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte führte. Im berühmten Artikel 1 der Erklärung der Menschenrechte („Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“) sowie in etlichen Verfassungen, auch im deutschen Grundgesetz, findet sich die Betonung der
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Würde des Menschen. Bis heute bildet dieser Artikel ein juristisches Bollwerk gegen Versuche von staatlicher Seite, die Grundrechte weiter auszuhöhlen. Es ist wichtig, auf diese historischen und politischen Zusammenhänge hinzuweisen, da die Humanistische Psychologie, vor allem bei den jüdischen Emigranten, ihren weltanschaulichen Hintergrund der universalistischen Tradition der Aufklärung und nicht einem völkischen, nationalistischen, spiritistischen oder anderweitigen Irrationalismus verdankt. Erich Fromm findet scharfe Worte gegen „Nationalismus und Stammesdenken“, die für ihn das „genaue Gegenteil von Humanismus“ (Fromm 1962: 566) sind, da sie dazu führen, sich selbst für die Verkörperung des Guten zu halten, den Fremden dagegen zu verteufeln und zu bekriegen. Auch Ruth Cohn bezieht sich in poetischpsychologischer Formulierung auf den Hintergrund der Menschenrechtserklärung, wenn sie schreibt: „Humanismus ist das Fundament [...]: zu wissen, dass ich zähle, zu wissen, dass du zählst. Zu wissen, dass jeder Mensch zählt, ob schwarz, weiß, rot, gelb oder braun. Die Erde zählt. Das Universum zählt. Mein Leid zählt. Dein Leid zählt. (Wenn du dich nicht um mein Leid scherst und mir dein Kummer gleichgültig ist, werden wir beide durch Hunger, Krankheit und Massenmord ausgelöscht werden.). Achtung vor dem Leben ist wichtig. Fähigkeiten und Wissen sind wichtig. Wissen ohne Achtung vor den Menschen baut Gaskammern und Napalmfabriken. Menschlichkeit ohne Wissen kann kein Brot backen, keine Häuser, Spitäler oder Schulen bauen und keine gebrochenen Knochen oder Seelen heilen.“ (Farau/Cohn 1984: 435)
Hier ist deutlich ausgesprochen, dass die Humanistische Psychologie ohne fachlich-technisches Wissen nicht auskommt, dass zu ihr aber auch ein in der Achtung vor dem Leben wurzelnder sozialer Auftrag gehört. Jeder einzelne Mensch zählt; Unterschiede der Hautfarbe dürfen keine Rolle spielen. Gefordert ist vor allem die Bereitschaft, sich vom Leid des anderen berühren zu lassen – ein Anklang an die in der westlichen Tradition der Neuzeit eher skeptisch beurteilte Mitleidsethik (vgl. Johach 1993: 98ff.). Aus humanistischer Perspektive ergibt sich, dass lebensförderndes, leidverringerndes Handeln den Vorrang haben muss vor technischem Wissen, das unterschiedlichen Zwecksetzungen unterworfen sein kann. So kann technisches Knowhow einerseits für Projekte und Maßnahmen herangezogen werden, die
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für die Allgemeinheit von hohem Nutzen sind, es kann aber auch zur Produktion von Waffen und anderen „Exportgütern“ eingesetzt werden, die der Zerstörung dienen. Nötig ist die Einheit von Herz, Kopf und Hand, um gemeinsam die Aufgabe anzupacken, die Welt menschlicher zu machen. Eine Einstellung, die nur die eigenen Interessen und das persönliche Wohlergehen von Angehörigen der eigenen Kultur im Blick hat, ohne das Lebensrecht anderer zu berücksichtigen, wäre dagegen nicht humanistisch, sondern egoistisch. In Indien, wo seit einigen Jahren eine „Filiale“ des von Ruth Cohn begründeten Instituts für Themenzentrierte Interaktion existiert, wurde der Versuch unternommen, mit einem interkulturellen, aus Indern und Europäern bestehenden Team an einer Universität im Bundesstaat Kerala eine einjährige TZI-Grundausbildung durchzuführen.5 Dabei traten einige charakteristische Unterschiede zutage, die sowohl das Verständnis des grundlegenden theoretischen Vier-Faktoren-Modells (Ich-Wir-Thema und Globe) mit der anzustrebenden „dynamischen Balance“ (vgl. Schneider-Landolf/Spielmann/Zitterbarth 2009: 141ff.), als auch das Verhalten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den Lerngruppen betrafen. Grundsätzlich herrschte ein größeres Harmoniebedürfnis, das die Frauen und Männer in den Gruppen bewog, ihr „Ich“ weniger stark zu betonen, als dies in der Regel bei Amerikanern und Westeuropäern der Fall ist. Sie waren es z.B. nicht gewohnt, sich von Auffassungen und Verhaltensweisen anderer Teilnehmer verbal zu distanzieren; „Höflichkeit“ spielte eine große Rolle und es fiel ihnen schwer, das Postulat „Störungen haben Vorrang“ (vgl. a.a.O.: 101ff.) zu praktizieren. Während der Kurseinheiten entfernten sich manche Teilnehmer aus der Gruppe mit der beiläufig gegenüber anderen Teilnehmern geäußerten Bemerkung, sie müssten dringend zu ihrer Familie, nach einem kranken Kind schauen o.Ä. – dieses Verhalten war für sie so selbstverständlich, dass es dafür aus ihrer Sicht keiner „Entschuldigung“ bei den Kursleitern bedurfte. Auch konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich erst nach längerer Anlaufzeit und in der schützenden Atmosphäre einer Kleingruppe über ihre Lebens-
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Darstellungen und Reflexionen zu diesem Ausbildungsprojekt sind in einem Heft der Zeitschrift „Themenzentrierte Interaktion – Theme-centered Interaction“ mit dem Schwerpunkt TZI in der globalisierten Welt (Heft 1/2006) zusammengefasst. Vgl. dazu auch die Beiträge von Fritzsche/ Fischer-Siregar (2003) und Pöpel (2007).
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geschichte und ihre Herkunft äußern; Kritik an der eigenen Familie gab es dabei so gut wie nicht. Das sog. „Chairperson-Postulat“, man solle sich selbstverantwortlich verhalten mit entsprechender Wahrnehmung nach innen und außen, d.h. als „in sich geschlossene Einheit und als Teil universeller Gemeinschaft“ (Cohn 1975: 151), wurde von den indischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern hingegen als ausgesprochen hilfreich empfunden. In einem erhellenden Beitrag zur „Adaption“ des TZI-Systems an die indische Denkweise, die die universelle Gemeinschaft betont, schlägt der indische Leiter des Projekts vor, den göttlichen „Strom des Lebens“ im „weiten Ozean der Menschheit“ und in der Natur an die Spitze des TZI-Symbols zu setzen und so das „Dreieck in der Kugel“ zur Pyramide zu erweitern (vgl. Abraham 2006: 55). Auch wenn es nicht möglich ist, allen hier anklingenden Themen gerecht zu werden, so zeigt dieses Beispiel doch zumindest, dass der Stellenwert des „Ich“ in der indischen Kultur – und man darf vielleicht verallgemeinern: in den asiatischen Kulturen insgesamt – anders gesehen wird als im okzidentalen Bereich. Das Spirituelle spielt auch im modernen Alltag eine größere Rolle und man könnte vielleicht sogar behaupten, dass die „uns geläufige Vorstellung eines Individuums der indischen Kultur streng genommen unbekannt ist“ (Pöpel 2007: 30). Der Einzelne erlebt sich prinzipiell als Teil und in Verbindung mit einem größeren Ganzen – mit der Familie und den sozialen Einheiten, in die man hineingeboren ist, mit der Natur und dem Kosmos. Für das Verständnis von „Humanismus“ ergeben sich daraus weitreichende Konsequenzen hinsichtlich der Relation von Individualität, Sozialität und Zugehörigkeit zur Natur. Zumindest wird im interkulturellen Dialog erkennbar, dass das Modell des ganz auf sich selbst gestellten Individuums, das im Westen unter dem Diktat wirtschaftlich bestimmter Individualisierung alle „ganzheitlichen“ Bezogenheitsaspekte zu verlieren scheint, nicht das einzige und dem Menschen gemäßeste ist.
R ESÜMEE
UND
A USBLICK
Zunächst sollen rückblickend einige Ergebnisse aus den hier vorgelegten Beobachtungen und Erörterungen vergegenwärtigt werden.
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Im Zentrum stand bzw. steht die Idee der Humanistischen Psychologie vom autonomen, „voll sich entfaltenden“ Individuum (vgl. Rogers 1973: 183), verbunden mit dem Konzept der „Selbstverwirklichung“ (vgl. Maslow 1985: 189ff.). Anhand der Kontroverse um das sogenannte „Gestalt-Prayer“, die sich innerhalb der Humanistischen Psychologie (hauptsächlich zwischen Ruth Cohn und Fritz Perls) abgespielt hat, wurde gezeigt, dass das Konzept der Selbstverwirklichung, grob gesehen, zwei mögliche Auslegungen zulässt: einmal eine Version, bei der man die eigenen Fähigkeiten und Interessen zu entfalten sucht, ohne sich um die Bedürfnisse anderer und um überindividuelle Belange zu kümmern; zum andern eine Auffassung, nach der Selbstverwirklichung an interpersonelle Beziehungen und gemeinsame Projekte gebunden bleibt. Erstere könnte man als individualistische, letztere als sozial eingebundene und verantwortliche Konzeption von Selbstverwirklichung bezeichnen. (Streng logisch genommen, wäre als Gegenbegriff zum „individualistischen“ ein „kollektivistisches“ Persönlichkeitsideal anzusetzen, aber das wird in der Humanistischen Psychologie nirgends verfochten – es würde auch von „Individualität“ nicht viel übrig lassen). In einem weiteren Schritt wurde versucht, die Humanistische Psychologie historisch einzuordnen und zu soziologisch feststellbaren Prozessen innerhalb der westlichen Gesellschaften in Beziehung zu setzen. Auch wenn die Ideengeschichte des Humanismus sich über einen wesentlich längeren Zeitraum erstreckt, so ist doch kaum zu bezweifeln, dass die Geschichte der Humanistischen Psychologie ihren Höhepunkt in den letzten Dezennien des 20. Jahrhunderts erreicht hat, in denen ihre Ideen größere gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten konnten. Dies war in der westlichen Hemisphäre eine Phase gesellschaftlicher Entwicklung, die unter dem Aspekt der „‚Individualisierung‘ von Lebenslagen und Biographiemustern“ (Beck 1986: 205ff.) zutreffend beschrieben werden kann. Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem modernen – und „postmodern“ fortgesetzten – Individualisierungsprozess schon bei den soziologischen Klassikern (Tönnies, Durkheim, Simmel, Weber) beginnt (vgl. Junge 2002: 10f.), so ist doch zu konstatieren, dass sich dieser Prozess seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts besonders zugespitzt hat. Die Humanistische Psychologie hat – so die hier vertretene These – mit dem Propagieren der individuellen Selbstfindung die Loslösung aus vorgegebenen Rollen befördert, allerdings auch Sicherheiten aufge-
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geben, die in der Vergangenheit vor allem mit der einmal gewonnenen beruflichen Identität verbunden waren. Ihre positive Sicht auf Kreativität, Flexibilität und experimentierenden Umgang mit den persönlichen Ressourcen konnte in einer Zeit neoliberaler Umgestaltungsprogramme ideologisch missbraucht werden, um die negativen Seiten dieser Entwicklung zu übertünchen. Offen bleibt dabei vor allem die Frage, welche Solidaritätspotentiale gegen den Trend zu immer weiter fortschreitender Individualisierung aufgeboten werden können, zumal auch die Entwicklung der Medien trotz sich steigernder Informationsdichte keineswegs einen stärkeren Zusammenhalt der Gesellschaft garantiert. Der energische Protest gegen die Ausblendung sozialer Verpflichtungen, der sich neben der Betonung individuellen „Wachstums“ in relevanten Teilen der Humanistischen Psychologie findet, ist in dieser Situation ein Zeichen der Ermutigung. Vom Verdacht, ideologisch missbrauchbar zu sein, relativ unberührt bleibt in den vorliegenden Erörterungen die Idee des humanistischen Dialogs. Ursprünglich im therapeutischen Kontext entwickelt, gewinnt dieser Dialog im Zeitalter der Globalisierung neue Bedeutung für die interkulturelle Begegnung. Angesichts der weltweit sich stellenden Herausforderungen kommt der Humanistischen Psychologie heute insofern eine besondere Aktualität zu, als sie nicht nur eine an den Kriterien von Vorurteils- und Herrschaftsfreiheit orientierte, auf gegenseitige Förderung statt Militanz und Unterdrückung abzielende Dialogkultur ermöglicht, sondern auch die ethische Frage nach dem adäquaten „Menschenbild“ und dem „guten Leben“ aufwirft. Es unterliegt keinem Zweifel, dass das der westlichen Technologie- und Wachstumsbesessenheit zu Grunde liegende Leitbild des aus allen Bindungen herausgelösten, nur auf Steigerung des persönlichen Nutzens bedachte Individuum längst an seine Grenzen gestoßen ist. Zur Korrektur dieses einseitigen, mit dem wirtschaftlich-politischen Liberalismus eng verbundenen Menschenbildes stellt die Humanistische Psychologie selbst Mittel bereit, indem sie die „Körper-GeistSeele-Einheit in Sozialität“ (Fritzsche/Fischer-Siregar 2003: 27, Hervorhebung H.J.) betont. Es scheint jedoch nicht abwegig, auch vom in anderen Kulturen verbreiteten „communitarian way of life“ (a.a.O.: 36) einiges lernen zu können. Die spannende Frage wird sein, wieweit die Menschen der westlich-kapitalistisch geprägten Zivilisation auf mittlere Sicht bereit sind, zu einem einfacheren, weniger verschwenderischen und mehr das Soziale betonenden Lebensstil zurückzu-
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finden, und wieweit andere – z.B. islamische oder asiatische – Kulturen in der Lage sind, die rasanten Veränderungen, die die Globalisierung mit sich bringt, zu verarbeiten, ohne ihre eigene Identität zu verlieren.
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Von der Fragmentierung zum kreativen Feld: Die humanistische Vision als Gegenentwurf zur Kultur des neuen Kapitalismus O LAF -A XEL B UROW
F RAGMENTIERUNG ALS K ENNZEICHEN GLOBALISIERTEN M ARKTWIRTSCHAFT
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Getrieben von den Anforderungen einer globalisierten Marktgesellschaft, deren weltweiter Siegeszug sich fast ausschließlich an ökonomischen Kennziffern orientiert, erleben wir derzeit einen radikalen Umbau gesellschaftlicher Strukturen, der auf eine Verabschiedung des humanistischen Menschenbildes hinausläuft und damit zugleich den Kern demokratischer Gesellschaften in Frage stellt. Wer die massenmedial verbreiteten Botschaften neoliberaler Marktfundamentalisten analysiert, wie dies Richard Sennett in seinen Essays „Der flexible Mensch“ (1998) und „Die Kultur des Neuen Kapitalismus“ (2005) unternommen hat, der stellt eine übergreifende Tendenz zur Fragmentierung fest, die als Nebenfolge der Zerschlagung von tradierten Lebenszusammenhängen und Organisationen bzw. Institutionen immer mehr Menschen verunsichert. Die Kultur des „neuen Kapitalismus“ ordnet fast alles dem ökonomischen Wachstum unter, wobei, so Sennett, wachsende ökonomische Ungleichheit und zunehmende soziale Instabilität in Kauf ge-
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nommen werden. Dieser Neue Kapitalismus braucht „neue Menschen“, die Sennett zufolge drei Herausforderungen meistern müssen: 1. Ein veränderter Umgang mit Zeit: Der an die schnell sich
wandelnden Marktbedingungen angepasste Mensch muss flexibel soziale und örtliche Beziehungen sowie seine Werteinstellungen verändern können, um den Preis einer permanenten Improvisation der eigenen Biographie – möglicherweise bis hin zum Verlust eines konstanten Ich-Gefühls. 2. Ein veränderter Umgang mit Qualifikationen: Da sich der Wandel in der Wirtschaft permanent beschleunigt, verliert die handwerkliche Einstellung an Wert. Die moderne Kultur orientiert sich – so Sennett – an der Idee einer Meritokratie, die nicht auf vergangene Leistungen, sondern auf potenzielle Fähigkeiten blickt. 3. Die Bereitschaft, Gewohnheiten aufzugeben: Wer an bewährten Werten, Fähigkeiten, Haltungen etc. festhält, ist zu wenig flexibel, gilt schnell als zu langsam, als veraltet und wird aussortiert. Die Bewertung dieses Sozialisationstypus des neuen Kapitalismus, die Sennett vornimmt, fällt eindeutig aus. Er schreibt: „Ein kurzfristig orientiertes, auf mögliche Fähigkeiten konzentriertes Ich, das vergangene Erfahrungen bereitwillig aufgibt, ist – freundlich ausgedrückt – eine ungewöhnliche Sorte Mensch. Die meisten Menschen sind nicht von dieser Art. Sie brauchen eine durchgängige Biographie, sind stolz darauf, bestimmte Dinge gut zu können, und legen Wert auf Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht haben. Das von den neuen Institutionen erhobene Ideal verletzt viele der in ihnen lebenden Menschen.“ (Sennett 2005: 10)
Diese kritische Sicht kann ein begeisterter Befürworter der Globalisierung, Thomas Friedmann, überhaupt nicht teilen. Ganz im Gegenteil: In seinem Bestseller „Die Welt ist flach“ (2006) liest er dem alten Europa gehörig die Leviten und stellt uns als Vorbild einen Prototyp des neuen Menschen in Gestalt der allein erziehenden Mutter (sic!) Marcia Loughry vor. Die 48-jährige hat früh erkannt, dass es für sie keine Aussicht auf lebenslange Beschäftigung mehr gibt. Ihre einzige Chance besteht darin, durch unablässige Arbeit an der Erhaltung ihrer „employability“ zur neuen Kaste der „Unantastbaren“ aufzusteigen, jener beneidenswerten Elite, die aufgrund ihrer unablässig erweiterten
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Qualifikationen zu den Gewinnern der Restrukturierungsprozesse gehört. Friedmann schreibt: „[S]ie verkörpert für mich auch idealtypisch einen Menschen, der es geschafft hat, sich durch Anpassung und Flexibilität einen Platz in der neuen Mitte zu erobern, der ihr ein gehöriges Maß an Unantastbarkeit sichert. Wie hat sie das gemacht? Indem sie der Automatisierung und der Auslagerung stets einen Schritt voraus war.“ (Friedmann 2006: 355)
In entwaffnender Offenheit und mit pädagogischem Impetus führt uns Friedmann den idealen Karriereweg des neuen Menschen vor, der die entfesselte Marktgesellschaft nicht als Bedrohung, sondern als Chance sieht. Loughry hat ihre Chance genutzt – trotz ungünstiger Startbedingungen und eines von Brüchen durchzogenen Bildungs- und Karrierewegs. So bricht sie ihr Studium ab, besucht eine Abendschule, lernt Maschinenschreiben und Kurzschrift. Sie erhält eine Stelle in der Textverarbeitung des EDS-Konzerns; einer Firma die ihr weiteres Leben bestimmen wird. Mit dem Einzug des PCs muss sie lernen, Texte zu formatieren und für die elektronische Publikation vorzubereiten. Sie entwickelt ein Verfahren, diesen Prozess zu automatisieren, so dass ihre Tätigkeit überflüssig wird, und wechselt – flexibel wie sie ist – in ein Call-Center der Firma. Dabei erkennt sie, dass sie dem Kunden besser nützen kann, wenn sie Kenntnisse über Netzwerkadministration erwirbt. Friedman schreibt: „In dieser Phase ihrer Karriere wurde Loughry klar, dass sie sich weiterbilden musste, dass sie etwas für ihre Karriere tun musste und dass sie dabei unweigerlich mit Kollegen in Konkurrenz treten würde. ‚Es gab viele Firmen, die sich mit Technologie auskannten. Ich fragte mich, wodurch ich mich von ihnen unterscheiden konnte. Was kann ich tun, um für einen neu eingerichteten Job ausgewählt zu werden? Ich kam zu dem Schluss, dass ich ständig weiterlernen und auf Draht bleiben musste – es gab immer wieder irgendwas Neues, wovon noch keiner was wusste. Und dann begriff ich, dass ich sozusagen meine eigene Firma war‘.“ (Ebd.)
Mit der Formulierung „Ich bin meine eigene Firma“ bringt Friedman eine Quintessenz des Leitbildes des neuen Kapitalismus auf den Begriff: Die Ich-AG.
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Bei näherer Betrachtung erweist sich dieses Bild „Ich bin meine eigene Firma“ allerdings als Verklärung, denn Friedman erwähnt nur die Sonnenseiten dieser Selbstdefinition: Loughry macht eine steile Karriere. Über die persönlichen Kosten dieser stromlinienförmigen Unterwerfung unter die Bedürfnisse der Firma bzw. des Marktes erfahren wir nichts. Auch bleibt unsere Heldin von Fragen nach dem Sinn ihres Tuns verschont. Kein Wunder – hat sie doch bei ihrem Lauf im Hamsterrad genug damit zu tun, den neuen Anforderungen sowie der jeweiligen Temposteigerung zu genügen. Und sie bewältigt beides mit Bravour, während die Langsameren und Unflexiblen abgeschlagen zurückbleiben und schließlich ausgestoßen werden. So what: Das sind nun mal die Regeln des Beschleunigungs- und Steigerungsspiels. Wer als Erster am Ziel sein will, darf nicht zurückschauen. Auf eigene Initiative belegt Loughry nun Weiterbildungskurse und verbringt selbst noch die Wochenenden in der Firma, wenn die Belegschaft nicht anwesend ist und Netzwerktechniker die Ruhezeit nutzen, um das Betriebssystem zu erneuern. Der Erfolg ihres überdurchschnittlichen Einsatzes bleibt nicht aus: Ein Manager ruft sie an und bietet ihr eine gehobene Position im „Systems Management Center“. Sie hilft beim Aufbau eines Teams, setzt sich auf eigene Initiative mit Systemarchitektur auseinander und verfasst „nebenbei“ ein Einführungsbuch „Active Directory for Dummies“ (sic!). Ihr Ziel ist es nach eigener Auskunft, ihr Profil zu schärfen und sich von ihren Kollegen abzusetzen. Der Erfolg lässt erneut nicht lange auf sich warten und sie erringt schon bald als „Enterprise Architect“ die zweithöchste technische Position bei EDS. Eine beachtliche Karriere, die umso erstaunlicher erscheint, wenn man weiß, dass sie während dieses rasanten Karriereparcours auch noch allein erziehende Mutter ist und einen Sohn hat, der vor kurzem als Soldat im Irak war. Wahrlich, geradezu eine Traumpersönlichkeit, gemessen an den Anforderungen des neuen Kapitalismus. Mutter und Sohn erfolgreich tätig an den Brennpunkten der Globalisierung! Doch Zweifel an dieser Erfolgsgeschichte bleiben. So fragen wir uns zum Beispiel: Wie schafft es diese Inkarnation des flexiblen Menschen, angesichts ihres kunden- und firmenzentrierten Lebens auch noch die Entwicklung ihres Sohnes zu begleiten: „Ich rede viel mit ihm“, erklärt Loughry, „aber ich weiß nicht, ob er mir wirklich zuhört“. Sie ist laut Friedman „ganz die besorgte Mutter“ (ebd.: 357).
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Aber nur kurz, denn sofort widmet sie sich wieder dem sie bedrängenden Überlebensthema: „Gute Kenntnisse in Mathematik und Naturwissenschaften helfen einem, einen Fuß in die Tür zu bekommen, aber sie reichen nicht aus, um sich im Job zu behaupten oder besonders erfolgreich zu werden. Die Kernkompetenzen sind lediglich Einstiegsvoraussetzungen. Wenn man sie halten will, muss man einen Geschäftsvorstand schulen, seine Perspektive erweitern. Die Welt wird flacher, Unternehmen werden flacher und man muss imstande sein, die Dinge aus der Perspektive der Firma, der Kunden und des Marktes zu betrachten. Es reicht nicht aus, sich in seine Spezialität zu vergraben.“ (Ebd.)
Jeder Job, den sie in der Vergangenheit gemacht habe, sei entweder automatisiert worden oder werde heute in Indien erledigt. Nebenbei belegt die 48-jährige Geographiekurse, um noch einen Bachelor zu machen. Sie ahnt, dass Enterprise Architecture leicht auch anderswo ausgeführt werden könnte, und deshalb steht sie schon wieder in den Startlöchern zu einer weiteren Runde im neuerlich beschleunigten Rattenrad: „Ich bin noch nicht am Ende des Anpassungsprozesses, noch lange nicht“, erklärt sie ganz ungebrochen und offenbar einverständig mit dieser schönen Welt des neuen Kapitalismus, der ganz im Schumpeterschen Sinne den Prozess der kreativen Zerstörung unaufhaltsam und immer schneller vorantreibt. Wir, die wir diesen knappen Ausschnitt aus dem Leben einer optimal angepassten Bewohnerin der neuen Weltkultur mitverfolgen durften, bleiben ratlos zurück: Wer hat denn nun Recht? Friedman mit seiner Begeisterung für die sagenhaften Chancen, die sich dem flexiblen Individuum bieten, oder Sennett, der die Flexibilisierung des Menschen für ein Verhängnis hält und der guten alten Zeit nachzutrauern scheint, wie sich auch an seinem neuesten Essay mit dem programmatischen Titel „Handwerk“ ablesen lässt? Müssen wir nicht mit Friedman den rasanten Wandel vorbehaltlos bejahen, bietet er doch denen, die sich wie Loughry beherzt auf den Weg machen, unbegrenzte Chancen? Und repräsentiert Sennett nicht nur das überholte Denken eines alten Herrn, der nicht in der Lage ist, sich auf die neuen Herausforderungen einzustellen? Schließlich gelten die Chancen, die die Anpassung an die Globalisierung bietet, nicht nur für einzelne Individuen, sondern auch für ganze Staaten – wie der fulminante Aufstieg etwa Chinas oder Indiens beweist. Und haben aus
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dieser Perspektive nicht unsere Politiker recht, die, mit internationalen Vergleichsstudien der Bildungssysteme im Rücken, die unflexiblen und langsamen Lehrer und insbesondere Hochschullehrer dazu auffordern, sich von ihren intellektuellen Spielwiesen zu verabschieden, um endlich zur Ausbildung des neuen Menschen beizutragen? Mit Bachelor und Master, Modularisierung und Credit Point System sind wir ja auf dem besten Weg, ein flexibles, permanent evaluiertes System der effizienten Steuerung von Bildungskarrieren zu entwickeln. Aber reicht das wirklich? Muss nicht die Heranbildung des neuen, an den globalen Kapitalismus angepassten Menschen viel früher beginnen? Auch hier weist uns Friedman den Weg. Begeistert stellt er den Alltag chinesischer Grundschüler vor, die von 8 bis 16 Uhr die Schulbank drücken, um, nach kurzer Rast zu Hause, bis abends um 22 Uhr weitere Kurse zu besuchen. In einer flachen Welt müssten wir uns alle mehr anstrengen, sonst würden wir schon bald abgehängt, so seine bedrohliche Botschaft. Amerikas Schüler und Studentinnen mit ihrer verwöhnten Anspruchshaltung und ihrer gering ausgeprägten Anstrengungsbereitschaft müssten sich gewaltig umstellen, von den eher chancenlosen Europäern mit ihren Versorgungsstaatsillusionen gar nicht erst zu sprechen. Damit wir diesem Druck standhalten könnten, sollten wir alle Möglichkeiten, insbesondere auch die der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien nutzen. Als nachahmenswertes Beispiel zitiert er einen Artikel der amerikanischen Lehrerzeitung „Education Week“, in der am 30.11.2005 Folgendes zu lesen war: „In einer der unzähligen Nachhilfeschulen in Chennai (Indien) drängen sich rund 100 Zwölftklässler in einem rotgestrichenen Raum, der ungefähr neun Meter lang und siebeneinhalb Meter breit ist. Obwohl an der Decke unablässig Ventilatoren laufen, liegt die Temperatur bei schweißtreibenden 40 Grad. Auf einem hölzernen Podest zeichnet Mathukrishnan Arulshelvan ein Dreieck auf eine Tafel, markiert darin den Winkel und erläutert über sein Mikrophon eine bestimmte geometrische Formel. Die Schüler hören gebannt zu, obwohl es schon fast 22 Uhr ist. Als Mister Arulshelvan eine Frage stellt, antworten die Schüler wie aus der Pistole geschossen – im Chor. Als er ihnen eine Aufgabe stellt, senken sie die Köpfe über ihre Hefte, kauen an Bleistiften herum und bemühen sich, schneller fertig zu sein als der Nachbar. Dieser intensive Unterricht an sieben Tagen pro Woche ist ganz normaler Alltag für diese indischen Schüler, die darauf hoffen, an einem der Colleges in Chennai einen Studien-
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platz in den Ingenieurwissenschaften zu ergattern. […] Wenn sie nach Hause kommen, werden die meisten von ihnen eine Tasse starken, süßen Kaffee hinunterstürzen, um dann noch ein paar Stunden länger zu lernen. […] Viele dieser neuen globalen Akteure haben einen solchen Hunger danach, vorwärtszukommen und ihre Konkurrenten zu überflügeln, dass sie die Herausforderung alles andere als gemächlich angehen.“ (Ebd.: 265)
Friedman versteht es, sich mit solch dramatisch zugespitzten Szenen als Kenner der Realitäten vor Ort auszuweisen. Träfe er auf Sennett, dann könnte seine Rede wie folgt lauten: Verehrter Professor Sennett, so beachtenswert viele Ihrer Überlegungen sind, so leiden sie doch darunter, dass sie aus dem Elfenbeinturm einer staatlich finanzierten Universität stammen – also abseits der gesellschaftlichen Alltagswirklichkeit liegen. Ich dagegen bin als Journalist täglich vor Ort und deshalb fühle ich mich berechtigt, Ihnen einen Rat zu geben: Hören Sie um Gottes Willen schleunigst damit auf, den Leuten liberalen Sand in die Augen zu streuen, denn sie haben übersehen, das Sie als priviligierter amerikanischer Oberschichtbürger in einem komfortablen Wolkenkuckucksheim leben, in dem die Anforderungen des Marktes eine untergeordnete Rolle spielen! Nur deshalb können Sie sich den Luxus des Beharrens, aber auch des Querdenkens leisten. Wir Übrigen aber, die wir in der harten Wirklichkeit leben, sollten uns sputen – auch angesichts der nahenden Altersarmut – flexibel zu werden, um unsere „employability“ bis ins hohe Alter zu sichern! Und das Wichtigste: Wir sollten unsere Kinder schon früh fit machen für den unausweichlichen Überlebenskampf in einer Welt wachsender Bevölkerungszahlen und schwindender Ressourcen. Und da ist nichts wichtiger als die Fähigkeit zu flexibler, beschleunigter Anpassung!
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HUMANISTISCHE V ISION ALS G EGENENTWURF ZUR K ULTUR DES NEUEN K APITALISMUS
In ihren Beschreibungen der neuen Arbeitswelt stimmen Sennett und Friedman weitgehend überein. So betonen beide die Notwendigkeit eines veränderten Umgangs mit Zeit, mit Qualifikationen und Gewohnheiten. Doch während Friedman begeistert von den Entwicklungschancen schwärmt, die daraus für den Einzelnen erwachsen, meint Sennett, der Preis für das Überleben im neuen Kapitalismus be-
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stehe darin, dass wir unsere individuelle Identität verlören. Die Schlüsselfrage lautet: Besteht der Preis des Überlebens wirklich in einer Anpassung an die Bedingungen des globalisierten Marktes, oder handelt es sich bei dieser These um eine von durchsichtigen Interessen gesteuerten Drohkulisse? Falls dies zuträfe, wo gibt es dann realistische Alternativen? Wenn wir z.B. den Bildungsbereich betrachten, dann können wir in der Tat feststellen, dass sich Bildung immer häufiger auf Ausbildung reduziert und Lebensziele sich auf eine Orientierung an Markterfordernissen verengen. Dieser Wandel der Prioritäten betrifft nicht nur die flexibilisierten Individuen, sondern bestimmt auch zunehmend die mentale Ausrichtung und die Kultur noch demokratischer Gesellschaften. Marktfundamentalistisches und neoliberales Denken, vorangetrieben durch mächtige Oligopole – insbesondere das internationale Finanzkapital –, haben den Gestaltungsspielraum nationaler, demokratisch gewählter Regierungen dramatisch schrumpfen lassen und bestimmen darüber hinaus die Inhalte des öffentlichen Diskurses, den sie zu einer Art neoliberaler Gehirnwäsche nutzen. Im Bildungsbereich zielt der ökonomische Durchgriff darauf ab, Widerstandspotenziale zu brechen, intellektuellen Freiräumen und Spielwiesen den Garaus zu machen und einer auf prinzipienlose Anpassung und inhaltsneutrale Effizienzorientierung ausgerichteten Marktlogik Geltung zu verschaffen. Der Siegeszug fragmentierten Denkens betrifft Schulen und Hochschulen gleichermaßen, wobei letztere – durch vorauseilenden Gehorsam und unkritische Anpassung – ihre Autorität als Stätte kritischen Denkens zunehmend opfern, etwa indem sie ihre Anstrengungen auf das eindimensionale Ziel der Erreichung von Spitzenplätzen bei fragwürdigen Rankings fokussieren und dabei umfassendere gesellschaftliche Zielstellungen aus den Augen verlieren. Die Gesellschaft wird auf diese Weise immer mehr in Form von Gewinner-Verlierer-Spielen organisiert, was sich zum Beispiel derzeit am ökonomischen Absturz der Unter- und Mittelschichten ablesen lässt, die – wie selbst Untersuchungen des Deutschen Institut der Wirtschaft belegen – nur gering oder gar nicht am ökonomischen Aufschwung partizipieren, während die Einkommen aus Vermögen und Firmenbeteiligung sich vervielfachen. Laut neuestem Armutsbericht der Bundesregierung ist jeder vierte Deutsche arm oder wird nur durch staatliche Leistungen davor bewahrt. Noch bedrohlicher ist der folg-
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ende Trend: Nicht genug, dass die Mittelschicht dramatisch schrumpft, es sinken darüber hinaus auch noch die Chancen auf sozialen Aufstieg für die Mehrheit der Bevölkerung. Die Gesellschaft mutiert zur Klassengesellschaft. Politik erweist sich nicht nur als weitgehend unfähig, diesem Prozess der Entsolidarisierung entgegenzusteuern, sondern beteiligt sich ganz im Gegenteil aktiv am Abbau von Chancengleichheit und der Ausbreitung von Bildungsarmut. So ist unter rot-grün – die als „Reformprojekt“ antraten – der Anteil der in Armut lebenden Kinder dramatisch gewachsen, sind keine Fortschritte erzielt worden, die skandalöse Chancenungleichheit im Bildungssystem zu reduzieren und sind keine wirksamen Maßnahmen eingeleitet worden, der wachsenden Schere der Einkommensentwicklung entgegenzuwirken. Der am Bologna-Prozess orientierte Umbau der Universitäten etwa zielt nicht auf die Ermöglichung einer breiten Bildungsbeteiligung ab, sondern dient in erster Linie einer Anpassung an die ökonomische Logik der globalisierten Marktgesellschaft, wobei sie Studierende und Lehrende – etwa mit Modularisierung und einer Vervielfachung der Kontroll- und Prüfungsleistungen – in ein enges Korsett gleichgeschalteten, fachlich verengten und spezialisierten Effizienzdenkens zwängt. In Zeiten, in denen sich „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“ (Leggewie/Welzer 2009) abzeichnet, käme es darauf an, gesellschaftskritische Kompetenzen zum vernetzten Denken zu fördern, die der Tendenz zum fragmentierten Denken, wie wir es zuletzt bei der Finanzkrise, aber auch beim Scheitern in der Klimafrage erlebt haben, entgegenzuwirken. In weiten Bereichen zielt die „Ausbildung“ aber eher auf optimierte Anpassung an die Logik eines Wirtschaftssystems, das weder den Bedürfnissen einer Mehrzahl noch den ökologischen Zukunftsherausforderungen gerecht wird. Der Marktlogik folgend ermöglichen die gestuften Studiengänge zwar flexiblere Berufslaufbahnen, erleichtern aber zugleich eine Absenkung von Einkommensmöglichkeiten und eine Begrenzung des Zugangs zu höheren Bildungsabschlüssen. Internationale Schulvergleichsuntersuchungen zielen darauf ab, Schulen und Schüler für den Konkurrenzkampf im globalisierten Steigerungsspiel fit zu machen. Die Elite der Flexiblen löst das Problem verschärfter Konkurrenz auf ihre Weise: Immer mehr schicken ihre Kinder auf exklusive Privatschulen und Privatuniversitäten. Der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann hat in einer Reihe von Studien den „Mythos von der Leistungselite“ entzaubert und nach-
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gewiesen, dass von Chancengleichheit keine Rede sein kann. In weiten Bereichen angeblich demokratischer Gesellschaften rekrutieren sich die Eliten in Wirtschaft, Politik und Verwaltung aus sich selbst heraus. Neben den optimal vorbereiteten Kindern der Elite, die auch den größten Teil der neue Elite bilden werden, wächst die Zahl der „Ausgeschlossenen“ – so der Titel der gerade erschienenen Untersuchung meines Kasseler Kollegen Heinz Bude, die er mit dem Untertitel versieht: „Das Ende des Traums von der gerechten Gesellschaft.“ Der Erziehungswissenschaftler und Schulreformer, Hartmut von Hentig, hat darauf hingewiesen, dass die verwendete Sprache der „Reformer“ ihren geistigen Hintergrund verrät: „durch Output-Orientierung, durch die Umwandlung der Lehrpläne in Listen von Leitgedanken und Kataloge von Basiskompetenzen, Reime auf ‚literacy‘, durch Monotoring des Schulalltags. Im Grunde hat sich die Bildungspolitik für einen Schulauftrag entschieden, der zum marktwirtschaftlichen Denken der Zeit passt und sich der herrschenden Erkenntnismethode, dem messenden Vergleich unterwirft. Die einst Bildung genannte Bemühung ist eine Verlegenheit, wird nur noch in dem sinnentleerten Wort mitgeführt; die Erziehung, als Notwendigkeit wieder entdeckt, wird alsbald den Überwachungsdiensten, der ‚Rauslese‘ und – über die Wiedereinführung der Kopfnoten – den Eltern zugeschoben.“ (Von Hentig 2005: 17)
Die desaströse Bankenkrise, die fortschreitende Zerstörung unserer natürlichen Umwelt oder die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich; all diese Entwicklungen stützen meine These: Kennzeichen der globalisierten Marktgesellschaft ist die Fragmentierung fast aller Lebensbereiche. Doch diese Tendenz zu fragmentiertem Denken, Fühlen und Handeln scheint an ihre Grenzen zu kommen, hat sie doch ein fatales Paradox zur Folge: Während es vielen Subsystemen innerhalb der Marktwirtschaft gelingt, ihren jeweiligen Bereich zu höchster Effizienz und Profitabilität zu entwickeln, werden immer weniger die Erfordernisse und Bedürfnisse des Gesamtsystems berücksichtigt. So produziert eine der reichsten Gesellschaften dieser Welt z.B. immer mehr Kinderarmut und kann sich weder eine angemessene Frühförderung sozial benachteiligter Kinder noch die Bereitstellung umfassender Betreuung leisten. Während die Ölreserven knapper werden und der Lebensraum des Golfs von Mexiko den Interessen der Öl-
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industrie geopfert wird, fahren allein in Nordrhein-Westfalen mehr Pkws auf den überfüllten Straßen wie auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Wachsender Nachfrage erfreuen sich ausgerechnet SUVs, spritfressende Geländefahrzeuge und PS-starke Limousinen, die den Konzernen hohe Gewinne bieten, die aber die Umwelt massiv belasten. Erschreckender Ausdruck dieser Ausbreitung des fragmentierten Denkens ist die Mitteilung der amerikanischen Regierung kurz nach der erfolgten Schließung des defekten Bohrlochs, dass bereits zwei Drittel des ausgeflossenen Öls auf natürlichem Wege verschwunden seien (sic!), während gleichzeitig die deutsche Wirtschaftspresse über die sagenhaften Gewinne der Autokonzerne jubelt, die Mitte 2010 schon wieder Milliardengewinne einfahren: Nicht etwa durch den Verkauf spritsparender Fahrzeuge, sondern durch spritfressende Großraumlimousinen. Allen Lobreden auf die Wohlstand schaffenden Selbstregulationsund Selbstheilungskräfte des Marktes zum Trotz verschärfen wir in rasantem Tempo die Allmende-Klemme, die darin besteht, dass das unbegrenzte Entfaltungs- und Gewinnstreben des Einzelnen auf Kosten des Gesamtsystems geht. Wenn inzwischen selbst der Chef der Deutschen Bank nach Eingriffen des Staates ruft, dann zeigt sich, dass das System insgesamt in einer tiefen Krise ist. Doch die rettenden Gegenbewegungen kommen – wie dieser Hilferuf anzeigt – nicht von den Eliten, die Teil des Problems sind, sondern eher von vielfältigen gegenkulturellen Bewegungen, die auf der Suche sind nach einer Alternative zum reduzierten Bild des flexiblen Menschen. So unterschiedliche Erscheinungsformen wie die „Learning Communities“ (vgl. Schachtner/Höber 2008), die das Internet als neuen Lern- und Wissensraum erobern, oder die „LOHAS“ (Gamper 2007), Unternehmer, die mit ihren Produkten einen „Lifestyle of Health and Sustainability“ anstreben, sind Anzeichen einer Erneuerung der Gesellschaft von der Basis her. Richard Florida (2004) behauptet gar, dass sich eine neue Führungsklasse entwickelt, die „Creative Class“, die auf einem „ganzheitlichen Menschenbild“ fußt und sich anschickt, marktradikale Positionen durch kreative Innovationen zu überwinden. Die sich zuspitzenden Widersprüche des neuen Kapitalismus fördern unbeabsichtigt die Suche nach Alternativen und Auswegen aus der Sackgasse des Steigerungsspiels – ein treffender Begriff, den der Bamberger Soziologen Gerhard Schulze geprägt hat. Dabei müssen die
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Sucher nicht bei Null beginnen, denn die Alternative zum neoliberalen Gesellschaftsmodell – so meine zweite These – ist bereits in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt worden und sie basiert auf einer breiten Tradition Humanistischen Denkens. Protagonisten wie z.B. Günther Anders, David Bohm, Martin Buber, Ruth Cohn, Erich Fromm, Paulo Freire, Paul Goodman, Robert Jungk, Fritz Perls, Carl Rogers, Frederic Vester, um nur einige der herausragenden Vertreter/innen zu nennen, eint – obwohl sie aus unterschiedlichen Quellen schöpfen – die Orientierung an einem „ganzheitlichen“ Menschenbild, hinter dem etwas steht, was ich 1997 mit Bezug auf Ansätze der Humanistischen Psychologie (Quitmann 1996) als die „Humanistische Vision“ bezeichnet habe. Deren Kern hat Erich Fromm (1985) wie folgt beschrieben: „Man kann die Humanistische Weltanschauung folgendermaßen charakterisieren: Sie ist erstens gekennzeichnet durch den Glauben an die Einheit des Menschen, durch den Glauben, dass es nichts Menschliches gibt, das nicht in jedem von uns zu finden wäre; zweitens durch die Betonung der Würde des Menschen; drittens durch die Betonung der Fähigkeit des Menschen sich weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen; schließlich viertens durch die Betonung von Vernunft, Objektivität und Frieden.“ (Fromm 1985: 57)
Zentral für diese Auffassung des Humanismus ist meines Erachtens das Prinzip der Integration und die Betonung der untrennbaren Verbundenheit des Menschen mit allem Lebendigen. Die Erkenntnis, dass es nichts Menschliches gibt, was nicht in jedem von uns zu finden wäre, stellt eine wichtige Gegenposition gegen Prozesse der Ausgrenzung dar. Zugleich macht sie deutlich, dass Ausgrenzung immer auch bedeutet, dass wir Teile von uns selbst ausgrenzen bzw. abspalten. Die Tendenz, mit uns selbst desintegrativ, abspaltend umzugehen, setzt sich fort im Umgang mit anderen, im Umgang mit unserer belebten und unbelebten Mitwelt. Alles, was wir uns antun, tun wir somit auch unserer Mitwelt an. Hier deutet sich eine Erweiterung der humanistischen Vision über den Horizont menschlicher Bedürfnisse hinaus auf die Beachtung der Bedürfnisse unserer Mitwelt an. Der amerikanische Historiker Theodore Rozak hat bereits 1986 in seinem „Manifest der Person“, einer spannenden Untersuchung zur Frage der Überlebensmöglichkeiten der Gattung Mensch, die These vertreten, dass die konsequente Erforschung und Berücksichtigung der
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Rechte und Bedürfnisse der Person zugleich die Entwicklung einer Mitwelt-verträglichen Lebensweise befördert. So behauptet er: „Mein Argument ist – so bündig ausgedrückt wie möglich – dass die Bedürfnisse des Planeten die Bedürfnisse der Person sind. Und deshalb sind die Rechte der Person die Rechte des Planeten. Wenn Achtung vor der Unverletzlichkeit der Erde und der Verschiedenartigkeit ihrer Bewohner das Geheimnis des Friedens und des Überlebens ist, dann steht uns mit dem Abenteuer der Selbstentdeckung eine lustvolle Erfahrung von sehr praktischem Wert bevor.“ (Rozak 1986: 20)
Die Denk- und Entwicklungslinien von Humanistischer Psychologie und Humanistischer Pädagogik – so meine These – haben ein Fundament gelegt, auf dem ein Gegenentwurf zur Kultur des neuen Kapitalismus fußen kann. Wenn wir etwa die Entwicklung der Vorstellungen von Humanistischer Psychologie und Pädagogik, beginnend in den sechziger Jahren bis in die neunziger Jahre verfolgen (vgl. Burow 1993), so können wir eine interessante Akzentverschiebung feststellen: Ist der Hauptfokus in der Rezeption „humanistischer Verfahren“ zunächst auf die Entwicklung der individuellen Person und auf das Hier-und-Jetzt gerichtet, so erleben wir seit Mitte der achtziger Jahre eine stärkere Beachtung komplexer Einflussfaktoren des umgebenden Feldes und der Zukunftsperspektive. Angesichts der Zunahme unseres Wissens über systemische Zusammenhänge und vielfältig vernetzte Strukturen, sowie unserer extrem gesteigerten und beschleunigten Eingriffsmöglichkeiten in öko-soziale Systeme macht das Sinn: Wir erkennen, dass unser lokales Handeln globale Auswirkungen haben kann und über das Hier-und-Jetzt hinaus immer häufiger auch unsere Zukunftsperspektiven beeinflusst. Wenn wir diese Überlegungen ernst nehmen, dann verliert persönliches Handeln in der Risikogesellschaft seine Unschuld und muss vor dem Hintergrund komplexer Reflexionszusammenhänge gesehen werden. Humanistische Psychologie und Pädagogik haben hier schon lange zukunftsweisende Akzentsetzungen vorgenommen. Mein Überblick, von dem ich die wichtigsten Teile bereits 1997 publiziert habe, ist nach wie vor aktuell. Er benennt folgende Kernpunkte:
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Tabelle 1: Überblick über Kernpunkte der „humanistischen Vision“ Überblick über Kernpunkte der „humanistischen Vision“ Praxis der Risikogesellschaft „humanistische Vision“ SEIN-ORIENTIERUNG HABEN-ORIENTIERUNG x „Biophilie“ x „Nekrophilie“ x Konzentration auf x Konzentration auf „Totes“ „Lebendiges“ Stichworte: Stichworte: Wirtschaftliches, Persönliches, „qualitatives“, „quantitatives“ Wachstum, „nachhaltiges“ Wachstum; Beherrschung der Mitwelt; Dialog mit der Mitwelt; Mensch als Beherrscher, Mensch als „Synergiepartner“; „organisierte Verantwortlich„selbstgesteuerte Verantwortkeit“; Mensch stellt sich lichkeit“; Mensch sieht sich als außerhalb des „Ganzen“; Teil des „Ganzen“; tendenzielle Vernichtung tendenzielle Bewahrung und unserer Lebensgrundlagen; Erweiterung unserer Lebensextensive Mitweltgrundlagen; „nachhaltige EntAusbeutung wicklung“ PERSONENZENTRIERUNG TECHNIKZENTRIERUNG x Faszination am Leben x Technikfaszination x Interesse an der Vielfalt und x Interesse an perfekten, vorder Unplanbarkeit von hersagbaren, geregelten, lebendigen Prozessen programmierbaren Abläufen x Betonung der Einzigartigkeit x Übertragung des Maschinendes Menschen denkens auf den Menschen DIALOGISCHE BEZIEHUNG OBJEKT-BEZIEHUNG x Systemisches, vernetztes, x Eingeschränkte Sicht der ganzheitliches Denken, Fühlen Wirklichkeit unter beund Handeln schränkten Interessengesichtspunkten AUSGRENZUNG UND AB- INTEGRATION SPALTUNG
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MACHT-ÜBERKONZEPTION x Omnipotenzwahn, Größenphantasien, Verleugnung der eigenen Ohnmacht x Probleme sind durch neue Techniken und wirtschaftliches Wachstum lösbar x Verleugnung von Wahrnehmungsblockaden/ Kontaktunterbrechungen AUSSENWELTORIENTIERUNG x Erweiterung unserer Fähigkeiten zum „Denken“ und „Machen“ NACH-MIR-DIE-SINTFLUT x Verdrängung gesellschaftlicher Zukunft
FÖRDERUNG TECHNISCHER INNOVATIONEN PROFIT-ZENTRIERTE VISION x „Energie“ zur Durchsetzung egozentrischer Ziele auf Kosten der Mitwelt x Gewinner-Verlierer-Spiele WANDEL DURCH VERORDNUNG x Top-down-Modell
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MACHT-MIT-KONZEPTION x Realistisches Bewusstsein der eigenen Grenzen, der eigenen Ohnmacht, Fähigkeit zu Demut und Empathie x Probleme sind durch persönliches Wachstum lösbar (Selbstreflexion) x Förderung von Offensein/ InKontakt-Sein mit „Stärken“ und „Schwächen“ INNENWELTORIENTIERUNG x Erweiterung unserer „Gefühlsund Erfahrungsfähigkeiten“ EINGREIFENDE ZUKUNFTSGESTALTUNG x Gemeinsame Zukunftsvision x „Das ganze System in einen Raum“ FÖRDERUNG SOZIALER INNOVATIONEN
MITWELT-ZENTRIERTE VISION x „Synergie“ zur Durchsetzung mitweltorientierter Ziele x Gewinner-Gewinner-Spiele WANDEL DURCH SELBSTORGANISATION x Bottom-up-Modelle
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HIERARCHISCH ORGANISIERTES EXPERTENWISSEN x Experte als Belehrer, Trainer, Manager x Trennung von Erkenntnis und Anwendung x „Fremderforschung“
ROLLE DER PÄDAGOGEN x Vermittler gültiger Normen und gültigen Wissens LEHR- UND LERNSTIL x Kognitiv-rationale Zentrierung, Tendenz zur Abspaltung des Körpers, der Gefühle, des Handelns x Lernen für ein abstraktes Dort-und-Dann x Planmäßig, kontrolliert x Konkurrenzorientiert FÜHRUNGSSTIL x Managermäßig, technokratisch x Qualitätskontrolle bezogen auf formale und messbare Leistungen x Führungstechniken ENTREPRENEURSHIP
Quelle: Burow
DIALOGISCHES GESTALTUNGSWISSEN x Experte als gleichberechtigter Dialogpartner x Gemeinsamer Forschungsprozess x „Weisheit der Vielen“/ Partizipation x Erkenntnisprozess als integrierter Gestaltungsprozess x Gemeinsame „Selbsterforschung“ ROLLE DER PÄDAGOGEN x Facilitator x Co-Lerner und kritischer Begleiter LEHR UND LERNSTIL x Tendenz zur Integration von Denken, Fühlen und Handeln x Lernen im und für das Hierund-Jetzt, Versuch eingreifender Zukunftsgestaltung x Offen, prozessorientiert x Synergieorientiert FÜHRUNGSSTIL x Beziehungsorientiert, demokratisch x Qualitätskontrolle bezogen auf die Entwicklung von Person, Gruppe und Feld x Führungshaltung „Presencing“ SOCIAL ENTREPRENEURSHIP x LOHAS-„Sozialunternehmen“
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Diese (unvollständige) Gegenüberstellung vereinfacht die Komplexität der realen Verhältnisse und scheint die Konsequenz nahezulegen, sich ausschließlich an der rechten Seite der Tabelle zu orientieren. Dies wäre ein verhängnisvoller Fehlschluss und eine weitere Spielart fragmentierten Denkens, denn ohne Zweifel gilt, dass wir angesichts von Klimawandel, Bevölkerungswachstum und Ressourcenverknappung z.B. mehr denn je auf eine Synthese von sozialen und technischen Innovationen angewiesen sind. Die vereinfachende Polarisierung soll vielmehr die Extrempunkte des Feldes umreißen und den Weg weisen zu neuen Formen integrierenden und transformativen Denkens.
V ON DER F RAGMENTIERUNG ZUM KREATIVEN F ELD : D IE KREATIVE K LASSE DER E RNEURER DEMOKRATISCHER G ESELLSCHAFTEN Das Unbehagen, das Sennett in seinen Analysen gegenüber der Kultur des neuen Kapitalismus artikuliert, richtet sich vor allem gegen eine fragmentierte Sicht von Mensch und Gesellschaft. Die zentrale Frage, mit der ich mich in den letzten Jahrzehnten auseinandergesetzt habe, lautet denn auch: Können wir der Tendenz zur Fragmentierung entgegenwirken? Und wenn ja, auf welche Weise und mit Hilfe welcher Verfahren? Wie wir gesehen haben, bieten die Ansätze von Humanistischer Psychologie und Pädagogik nicht nur grundlegende Orientierungen zur Überwindung fragmentierender Menschen- und Gesellschaftsbilder, sondern auch konkrete Umsetzungsverfahren. Doch ungeachtet des ganzheitlichen, humanistischen Menschenbildes, transportieren viele dieser Verfahren, insbesondere im Bereich der verschiedenen Therapien, selbst eine fragmentierte Sicht, etwa wenn Sie der Illusion einer Selbstveränderung ohne Bezug zur Veränderung sozialer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen erliegen. Dieses Defizit hat Russel Jacoby schon 1978 erkannt und in seiner gleichnamigen Schrift der Humanistischen Psychologie „soziale Amnesie“ vorgeworfen. Sie betreibe eine Kampagne der Selbstmanipulation in Zeiten der Massenmanipulation. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen mit der Praxis humanistischer Verfahren, insbesondere der Gestalttherapie und Gestaltpädagogik, habe ich 1993 – abgesichert durch eine qualitative Längs-
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schnittstudie (Burow 1993) – eine stärkere Berücksichtigung der Wirkungen sozialer Felder angemahnt. Ein Ergebnis meiner Untersuchung einer dreijährigen berufsbegleitenden Ausbildung in Gestaltpädagogik war die ernüchternde Einsicht, dass auch eine intensive Arbeit an der eigenen Person keinen Ausweg aus belastenden Berufssituationen und einengenden Rahmenbedingungen bietet, wenn nicht zugleich auch auf eine Veränderung des Arbeitsplatzes bzw. der Organisation hingewirkt wird. Diese Erkenntnis regte mich zu einer Auseinandersetzung mit Lewins Feldtheorie (Lück 1996) an und mündete in die Formulierung meiner Theorie des Kreativen Feldes (Burow 1999). Kernthese dieser Theorie ist es, dass die optimale Entfaltung individueller Potenziale an unterstützende Feldkonstellationen gebunden ist: Kreativität und persönliche Entwicklung sind demnach weniger Ausdruck überragend begabter Genies, sondern sehr viel häufiger Ergebnis günstiger sozialer Konstellationen, die ich als „kreative Felder“ definiert habe. Meine These lautet: Kreativität gibt es nur im Plural und mehr noch: Fragmentierung kann durch die gezielte Schaffung kreativer Felder überwunden werden. Ich knüpfe hier an die Untersuchungen der Kreativitätsforscher Howard Gardner (1996) und Milhalyi Csikszentmilhalyi (1992) an, die den Ort der Kreativität untersucht haben. Sie sehen ihn in einer günstigen Passung von individuellem Talent, der Wahl einer geeigneten Domäne/Disziplin sowie der Anerkennung durch die jeweiligen Autoritäten. Wenngleich sie damit das Bild des von seinen konkreten Umfeldbedingungen losgelösten Genies erweitern, indem sie einige Aspekte seiner sozialen Basis beschreiben, bleiben sie letztlich doch einem fragmentierten Menschenbild verhaftet. Kreativität wird immer noch als Ausdruck einer überragend begabten Persönlichkeit gesehen. Da ich, wie die meisten von uns, kein Genie bin, aber durchaus das Bedürfnis habe, schöpferisch tätig zu sein, habe ich nach Modellen gesucht, die über den seltenen Spezialfall der Geniekreativität hinausweisen. Und ich bin fündig geworden. So habe ich anhand einer Analyse überragender kreativer Leistungen, nämlich der Entwicklung der Musik der Comedian Harmonists sowie der Beatles, aber auch anhand der Entstehungsgeschichte des Apple-Personalcomputers gezeigt, dass Kreativität oft Ergebnis spezifischer sozialer Konstellationen ist, deren Charakter ich im nachfolgenden Schaubild verdeutlicht habe (Burow 1999: 144).
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Abbildung 1: Kreativität der Person im sozialen Feld Individuelles Talent Wo liegen meine Defizite?
Wo liegen meine Talente?
SynergiePartner? Wer oder was unterstützt mich? Feld (Kritiker/Institutionen) Wer oder was behindert mich?
Welche Domäne/ Disziplin liegt mir? Domäne/ Disziplin Welche Domäne/Disziplin liegt mir gar nicht?
Quelle: Burow
Entscheidend für meine Auffassung sozialer Kreativität ist die Synergieperspektive: Um kreativ zu sein, muss ich keineswegs über geniale Eigenschaften verfügen. Viel wichtiger ist meine soziale Kompetenz, hier verstanden als die Fähigkeit, Räume zu finden oder zu gestalten, in denen ich mit meinen begrenzten Fähigkeiten durch die Ergänzung geeigneter anderer Synergiepartner über mich hinauswachsen kann, so dass wir gemeinsam ein kreatives Feld bilden und neue Formen kollektiver Kreativität verwirklichen können. In einer detaillierten Nachzeichnung kreativer Schöpfungen hat Keith Sawyer (2007) meine These acht Jahre später bestätigt. Mit der Bezeichnung „group genius“ beschreibt er das Phänomen kreativer Kraft durch Kollaboration. In meiner Schrift „Individualisierungsfalle. Kreativität gibt es nur im Plural“ (Burow 1999) habe ich zur Verdeutlichung folgendes Beispiel gegeben: Steve Jobs, einer der beiden Entwickler des AppleComputers, verfügte zunächst nur über geringe technische Kenntnisse. Viel wichtiger war seine Fähigkeit, Visionen zu formulieren und andere dafür zu begeistern. Im Technikfreak Steven Woszniak fand er
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einen kongenialen Partner, der in der Lage war, aus den Visionen seines Partners ein technisches Produkt zu machen. Ohne Jobs wäre Woszniak ein skurriler Bastler in seiner Garage im Silicon Valley geblieben. Und ohne Woszniak hätte Jobs nie Apple Computers gründen können. Kreativität und die Fähigkeit zur Problemlösung sind hier Ausdruck einer besonderen Mischung von Persönlichkeiten, die sich durch ihre Unterschiede gegenseitig herausfordern und ergänzen. Es wäre ein verhängnisvoller Irrweg gewesen, hätte Jobs versucht, seine Defizite durch ein Technikstudium auszugleichen. Er wäre bestenfalls ein mittelmäßiger Techniker geworden. Ganz im Gegenteil: Seine Defizite erwiesen sich als wichtige Anknüpfungspunkte zur Bildung eines gemeinsamen kreativen Feldes. Synergiekreativität entsteht dann, wenn ich mich von der Illusion verabschiede, allein alles können zu müssen. Stattdessen sollte ich mir ein Feld suchen oder eines konstruieren, in dem ich durch Synergiepartner über meine begrenzten Fähigkeiten hinauswachse. Kreative Felder leisten so einen Beitrag zur Überwindung von Fragmentierung und ermöglichen die Erfahrung von Sinn und Kohärenz. Meine Untersuchungen von erfolgreichen Synergiepaaren bzw. Synergieteams mündete in folgende Definition des kreativen Feldes: „Ein Kreatives Feld wäre demnach eine in sozialer und materieller Hinsicht spezifisch konstruierte Umgebung, die einen besonderen Aufforderungscharakter für die synergetische Entfaltung des kreativen Potentials der zueinander in Beziehung stehenden Personen ausübt. So zeichnet sich ein Kreatives Feld durch den Zusammenschluss von zwei oder mehr Personen mit stark ausgeprägten unterschiedlichen Fähigkeiten aus, die versuchen, in dialogischer Weise ihren gemeinsamen Grund sowie ihre Unterschiede zu erforschen, mit dem Ziel, in einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Lernprozess ihr kreatives Potential gegenseitig hervorzulocken, zu erweitern und zu entfalten.“ (Burow 1999: 123 ff.)
Die wesentlichen Elemente des kreativen Schaffens, nämlich die begabte Persönlichkeit, ein kreativer Schaffensprozess und das Produkt werden durch die Struktur des Felds in besonderer Weise organisiert. Kreative Felder sind durch eine dialogische Beziehungsstruktur (Dialog), durch ein gemeinsames Interesse (Produktorientierung bzw. gemeinsame Vision), durch eine Vielfalt unterschiedlicher Fähigkeitsprofile (Vielfalt und Personenzentrierung), durch eine Konzentration
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auf die Entfaltung der gemeinsamen Kreativität (Synergieprozess), durch eine gleichberechtigte Teilhabe ohne Bevormundung durch „Experten“ (Partizipation) sowie durch ein kreativitätsförderndes soziales und ökologisches Umfeld (Nachhaltigkeit) charakterisiert. Mit diesen Begriffen sind zentrale Schlüsselkonzepte benannt, die zur Ausbildung eines kreativen Feldes beitragen:
Tabelle 2: Schlüsselkonzepte zur Schaffung eines kreativen Feldes Schlüsselkonzepte zur Schaffung eines kreativen Feldes 1. Dialog 2. Vision und Produktorientierung 3. Vielfalt 4. Personenzentrierung 5. Synergieprozess 6. Partizipation 7. Nachhaltigkeit Quelle: Burow 1999
Die Frage, die sich mir danach stellte, war, wie man aus der Perspektive dieser Theorie im Rahmen von Maßnahmen der Personal- bzw. Organisationsentwicklung, aber auch in Bereichen wie z.B. der Stadtentwicklung, der Bürgerbeteiligung etc. zum Entstehen kreativer Felder beitragen kann. Getragen vom humanistischen Menschenbild bzw. der oben skizzierten humanistischen Vision, war ich zu der Überzeugung gekommen, dass zukunftsfähige und nachhaltig wirksame Entwicklung einer Freisetzung der „Weisheit der Vielen“ (Surowiecki 2006) bedarf. In „Ich bin gut – wir sind besser“ (Burow 2000) habe ich – anknüpfend an unsere langjährigen Erfahrungen – in unterschiedlichen Kontexten Zukunftswerkstatt, Zukunftskonferenz, Open Space Technology, Dialogverfahren und Erfolgsteamkonzept als erprobte Verfahren vorgestellt, die es ermöglichen, auf der Ebene von Gruppen und Organisationen zur Schaffung von kreativen Feldern beizutragen. Inzwischen haben wir mit weiteren Verfahren wie z.B. Appreciative Inquiry Summits (Cooperrider/Whitney/Stavors 2004),World Cafe (Brown/Isaacs 2007) sowie Open Art Space (OASE Burow/Schmieling-Burow 2006) und EPOS: Evolutionärer Personal- und Organisationsentwicklung (Burow/Hinz 2005) Mut machende Erfahrungen gesammelt.
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Dass die Idee, Kreativität sei Ausdruck spezifischer Milieus nicht neu ist, zeigt eine gerade erschienene Untersuchung von Heßler und Zimmermann (2008), die sich mit „Creative Urban Milieus“ auseinandergesetzt haben. Verschiedene Autoren zeigen hier in historischer Perspektive, wie zu bestimmten Zeiten Städte wie Venedig oder Paris zu kreativen Feldern wurden, also zu Orten, die sich durch ein offenes, tolerantes Klima sowie die kreative Mischung und Verdichtung unterschiedlichster Persönlichkeiten auszeichneten. Ihre Erkenntnisse werden bestätigt durch die wegweisenden Forschungen von Christakis und Fowler (2010) zur Wirkung sozialer Netzwerke: Unser Denken, Fühlen und Handeln wird demnach sehr viel stärker als gemeinhin angenommen durch die sozialen Umgebungen bestimmt, in denen wir uns bewegen. Mit der Entwicklung des Internet entstehen völlig neue Möglichkeiten, die Ideale der humanistischen Vision auch praktisch umzusetzen. Wie Keith Sawyer (2007) in seiner Untersuchung „Group Genius“ gezeigt hat, entstehen hier völlig neue Möglichkeiten der kreativen Kollaboration. Anhand von Beispielen wie der Entwicklung des Fernsehens oder der E-Mail zeigt er, meine Theorie des kreativen Feldes und Christakis Theorie der Wirkungen sozialer Netzwerke bestätigend, dass bahnbrechende Innovationen immer Ergebnis eines längerfristigen Prozesses kreativer Kollaboration einer Vielzahl mehr oder minder vernetzter Individuen sind. Diese Zusammenarbeit ist aber nur möglich vor dem Hintergrund eines entsprechenden Menschenbildes. Mit dem Internet und der open source bzw. open innovation Bewegung sind hier völlig neue Formen demokratischer Beteiligung möglich – vorausgesetzt der Politik gelingt es, den Dominanzinteressen multinationaler Konzerne entgegenzuwirken und für ein freies Netz zu sorgen. Nicholas Carr (2009) zufolge stehen wir mit der Vernetzung der Welt vor einem „Big Switch“: Was Edison mit der Elektrizität anfing, führt Google mit der Vernetzung der Informationen fort. Was haben diese Einsichten mit meinem Thema, der Bedeutung der humanistischen Vision zu tun? Das Menschenbild der humanistischen Vision sowie ihre zentralen Zielrichtungen, wie ich sie in der rechten Spalte meiner Übersicht oben aufgelistet habe, sind zugleich Orientierungen für neue Formen der kooperativen Bewältigung unserer drängenden Zukunftsherausforderungen. Wenn wir in Wirtschaft, Bildung und Politik Umgebungen schaffen, in denen die zentralen Dimensionen der humanistischen Vision gelebt werden und erfahrbar sind, dann leisten wir zu-
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gleich einen Beitrag für den anstehenden Gesellschaftsumbau zu einer gerechten und zukunftsfähigen Weltgesellschaft. Die Chancen dafür könnten besser stehen, als es manch alarmistische Weltuntergangsszenarien nahelegen. So arbeitet Richard Florida (2002) in seiner programmatischen Untersuchung „The Creative Class“ heraus, dass sich in Zeiten der Globalisierung eine neue, international vernetzte Führungsschicht – jenseits der traditionellen Organisationen und Verbände herausbildet, eben die „kreative Klasse“. Diese Kreativen konzentrieren sich in spezifischen Regionen, die drei Kernanforderungen genügen müssen: Erstens eine besondere Ballung von Personen mit Talent; zweitens eine Umgebung, in der Hochtechnologie angesiedelt ist; sowie drittens ein gesellschaftliches Klima der Toleranz. Die Kreative Klasse besteht aus Schöpfern und Anwendern. Dem Supercreative Core gehören diejenigen an, deren Profession und Hauptaufgabe es ist, etwas zu erschaffen und Neues zu produzieren. Diese Innovationen manifestieren sich z.B. in neuen Produkten, optimierten Prozessen oder neuem Gedankengut. Mitglieder des Supercreative Cores arbeiten in wissensintensiven Bereichen, z.B. Wissenschaftler, Künstler, Professoren, Lehrende, Designer und auch Unternehmer. Die zweite Gruppe sind Creative Professionals, welche sich auch hauptsächlich mit wissensintensiver Arbeit beschäftigen. Es ist nicht die Hauptaufgabe ihrer Beschäftigung etwas Neues zu erschaffen, jedoch erfordert ihre Profession eigenständiges Denken und kreative Problemlösungen. Mitglieder dieser Gruppe sind u.a. Anwälte, Manager, Facharbeiter oder Ärzte. Das Aufkommen dieser neuen Klasse führt Florida zufolge zu regionalen Wanderungsbewegungen, denn Firmen wählen ihren Standort immer häufiger nicht mehr nach traditionellen Standortfaktoren, wie etwa niedrige Steuersätze oder günstige Immobilienpreise, sondern nach kreativen Köpfen. Standorte mit kulturellen Möglichkeiten gewinnen deshalb durch ihre große Anziehungskraft auf kreative Menschen an Bedeutung. Darauf aufbauend sind Milieu und Kultur also für wirtschaftliches Wachstum entscheidend. Inzwischen hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zusammen mit Roland Berger (2/2008) einen entsprechenden Kreativitätsindex für deutsche Großstädte entwickelt, der anzeigt, dass München, Stuttgart, Hamburg, Frankfurt und Berlin in besonderer Weise die kreative Klasse anziehen.
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Floridas Untersuchungen zeigen, was Humanistische Psychologen und Pädagogen schon immer behauptet haben, dass es nämlich nicht die Technologie ist, die Wachstum und Innovation forciert, sondern die Menschen und ihre mentalen Modelle. Die entscheidende Frage, die Ökonomen bislang nur unzureichend beantwortet haben, lautet denn auch: Welche sozialen und kulturellen Faktoren bringen diese Talente hervor? Und wie müssen Bildungssysteme aufgebaut sein, damit sie die Entwicklung solcher Talente fördern? Mit dieser Frage kehre ich zu meinem Ausgangspunkt zurück: Ist Friedmanns Vorzeigekarrierefrau, Loughry, der neue Sozialisationstyp, den die globalen Herausforderungen erfordern oder hat Sennett mit seiner Kritik des flexiblen Menschen doch Recht, denn sie läuft ja auf widerständige und eigensinnige Individuen heraus, die sich gemäß des Menschenbilds der Humanistischen Psychologie eben gerade nicht den schnell sich wandelnden Anforderungen anpassen? Aus Sicht der humanistischen Vision und meiner Theorie des kreativen Feldes – das sollte klar geworden sein – geht es bei der Entwicklung herausragender schöpferischer Leistungen, die wir zur Lösung der Zukunftsherausforderungen dringend benötigen, weniger um flexible Anpassung, sondern eher um eigensinniges Beharren auf den eigenen, unverwechselbaren Qualitäten. Roszaks optimistischer These zufolge mündet ja eine so verstandene Beachtung der Rechte der Person zugleich auch in eine Beachtung der „Rechte des Planeten“. In dieser Perspektive sind große Teile der Probleme unserer Mensch und Natur schädigenden Wachstumsgesellschaft Konsequenz der Durchsetzung eines fragmentierten Menschenbildes. Bildungssysteme, die ihre Schüler und Studierenden an vergleichbaren Maßstäben messen, die durch Modularisierung und Normierung der Inhalte vermeintlich die Effizienz zu steigern suchen, vernichten dringend benötigte Vielfalt. Entscheidend für die Entwicklung unserer individuellen Potenziale, aber auch für eine zukunftsfähige Gesellschaft, ist die Förderung von Vielfalt. Das Menschenbild der Humanistischen Psychologie und die von mir beschriebenen Kernpunkte der humanistischen Vision geben wichtige Orientierungspunkte nicht nur für die Verwandlung von Organisationen und Regionen in kreative Felder, sondern auch für den Aufbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft, die die Orientierung an der „Biophilie“ ins Zentrum ihres Strebens setzt. Anstatt profillose, stets anpassungsbereite, konkurrenzzentrierte Egomanen heranzubilden, die alles tun, um zu Friedmanns neuer Kaste der
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Unantastbaren zu gehören, sollten wir alles daran setzen, zur Förderung von unverwechselbaren Persönlichkeiten beizutragen, die sich ihrer Begrenzungen bewusst sind und um die Chancen synergetischer Bereicherung wissen. In diesem Sinne könnte die kreative Klasse, die genau diese Fähigkeiten braucht, Träger einer dringend benötigten Erneuerung stagnierender demokratischer Gesellschaften sein. Die humanistische Vision liefert uns dazu zukunftsweisende Orientierungen.
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Yunus, Muhammad (2008): Die Armut besiegen, München: Hanser.
Humanismus als Kritik Erich Fromms „homo negans“ und die schöpferische Liebe in der humanistischen Psychoanalyse O LIVER K OZLAREK
Erich Fromm gehörte zur Gründergeneration jener Gruppe von Forschern, die heute unter dem Namen „Frankfurter Schule“ bekannt ist. Nachdem ein Kern der Gruppe um Max Horkheimer, zu dem auch Fromm gehörte, vor dem Nationalsozialismus flüchtend in die USA emigrierte, war Fromm einer derjenigen, die sich früh vom Kreis der Deutschen zu lösen begann. Horkheimer bemerkte bereits 1934 in einem Brief an Friedrich Pollock, dass Fromm seiner Meinung nach mit zu vielen Leuten gut auskommen wolle (vgl. Wiggershaus 1997: 298). Dieses von Missgunst getrübte Urteil speiste sich sicherlich aus der Beobachtung, dass Fromm in den Vereinigten Staaten schnell Kontakte außerhalb des „Instituts“ suchte und auch fand. Schon Mitte der 30er Jahre gehörte Fromm zu einer Gruppe, zu der außer der ebenfalls aus Deutschland stammenden Psychoanalytikerin Karen Horney und dem US-amerikanischen Psychoanalytiker Harry Stack Sullivan auch die Ethnologen Edward Sapir und Ruth Benedict zählten (vgl. ebd.: 301-302). Im Vergleich zu den meisten seiner Frankfurter Kollegen schien Fromm die Integration im Gastland bestens gelungen zu sein. Ein anderer Vorwurf, der Fromm von Horkheimer, aber auch von Adorno gemacht wurde, betraf sein theoretisches Selbstverständnis. Ihnen schien, wie Rolf Wiggershaus es in seiner Geschichte der „Frankfurter Schule“ ausdrückt, dass Fromm „der von Haß geprägte
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Blick auf das Bestehende“ (ebd.: 298) gefehlt habe. Suchte man nach einem philosophischen Ausdruck dieser Einstellung, würde man ihn vielleicht in Adornos „negativer Dialektik“ finden. Wenn aber richtig sein sollte, dass hinter dieser philosophischen Position das Gefühl des „Hasses“ steht, oder neutraler gesagt: eine Einstellung, die sich mit der grundsätzlichen Ablehnung der faktischen Bedingungen in der gegebenen Welt identifiziert, dann lässt sich in der Tat behaupten, dass Fromms Haltung eine radikal andere war. Ihn verband mit der Welt und den Menschen, die sie bewohnten, eine Einstellung, die beherrscht wurde von Verantwortung, Mitgefühl und Liebe. „Affektive Eigenschaften“, also, in denen Fromm den wahrhaften Unterschied zwischen Menschen und nichtmenschlichen Lebensformen vermutete (Fromm 1999e: 316). Falsch wäre aber auch, Fromms Haltung mit naiver Konformität zu verwechseln. Fromm war Zeit seines Lebens von der Notwendigkeit der Kritik überzeugt. Dies schon deshalb, weil Kritik ein ganz wichtiger Bestandteil seiner Konzeption des Menschen war. Der Mensch ist nicht nur homo faber, homo sapiens oder homo ludens, sondern ebenfalls homo negans, „der Mensch der ‚nein‘ sagen kann“ (ebd.: 303). Fromm wusste aber auch, dass die Fähigkeit des Neinsagens, so wichtig sie auch sein mag, nicht ausreiche, um den Menschen zu definieren. Dem Menschen, der nur „nein“ sagen könne, fehle die ebenso wichtige Fähigkeit zu hoffen. „Wenn der Mensch alle Hoffnung aufgegeben hat, ist er durch die Tore der Hölle geschritten, ob er es weiß oder nicht, und hat sein eigenes Menschsein hinter sich gelassen.“ (Ebd.) Steckt in all dem, so könnten wir nun fragen, noch ein Funke dessen, was wir kritische Theorie nennen können? Hatte Horkheimer nicht recht, wenn er vermutete, dass Fromm den Kurs der von ihm ins Leben gerufenen „Kritischen Theorie“ verlassen hatte? Ich glaube nicht. Im Gegenteil, ich finde in Fromms Werk Ansätze für eine kritische Theorie der aktuellen Moderne, die in entscheidender Weise die Zentralität der Menschen als normativen Maßstab wieder ganz eindeutig in den Vordergrund stellen will. Im folgenden möchte ich zunächst zeigen, dass dies heute nicht mehr so selbstverständlich zu sein scheint und, dass gerade dieser humanistische Anspruch der Kritik längst aufgegeben worden ist. Danach möchte ich zeigen, wie Fromms Kritik der Moderne unbeirrt am humanistischen Legat festhält, das er vor allem aus der Psycho-
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analyse und Marxschen Theorie schöpft. Zum Schluss möchte ich dieses Projekt mit der Kritik der Moderne vergleichen, die der mexikanische Dichter und Essayist Octavio Paz artikuliert hat. Dabei wird es weniger darum gehen, auf Mängel im Frommschen Denken hinzuweisen, als vielmehr auf die Möglichkeit der Ergänzung von Psychoanalyse, Marxismus und Kulturkritik.
H UMANISMUS ODER K RITIK ? Im Jahre 1931 schrieb Max Horkheimer noch in seiner berühmten Rede „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgabe eines Instituts für Sozialforschung“ über die Sozialphilosophie: „Als ihr letztes Ziel gilt die philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, insofern, als sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind. Sie hat sich daher vor allem um solche Phänomene zu bekümmern, die nur im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden können: um Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die gesamte materielle und geistige Kultur der Menschheit überhaupt.“ (Horkheimer 1988: 20; kursiv: O.K.)
Horkheimer ging es also in erster Linie um den Menschen. Erst danach interessiert er sich für „Individuen“, „Gemeinschaft“, „Staat“, „Recht“, „Wirtschaft“ und „Religion“, all das also, was in der aktuellen Sozialforschung immer wieder im Vordergrund steht. Und zum Schluss macht Horkheimer noch einmal klar, dass all dies nur deshalb wichtig ist, weil es sich eben um Schöpfungen der „Menschheit“ handelt. Wenn wir den Menschen begreifen wollen, ist es notwendig, seine Schöpfungen zu betrachten. Aber gleichzeitig gilt es auch, gegen die Verselbstständigung unserer Interessen an den einzelnen Schöpfungen zu erinnern, dass sie alle erst im Menschen wieder ihren einheitsstiftenden Sinn finden. So selbstverständlich für Horkheimer die Zentralität des Menschen noch gewesen sein mag, so deutlich ist auch, dass sich die Stimmungslage nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltig änderte. Vermutlich ist Michel Foucault einer derjenigen, die dies am besten erfasst und sich zu eigen gemacht haben: „In unserer heutigen Zeit kann man nur noch
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in der Leere des verschwundenen Menschen denken.“ (Foucault 1971: 412) Er erklärt: „Die Anthropologie bildet vielleicht die grundlegende Position, die das philosophische Denken von Kant bis zu uns bestimmt und geleitet hat. [...] Aber sie ist im Begriff, sich unter unseren Augen aufzulösen [...] Allen, die noch vom Menschen, von seiner Herrschaft oder von seiner Befreiung sprechen wollen, all jenen, die noch fragen nach dem Menschen in seiner Essenz, jenen, die von ihm ausgehen wollen, um zur Wahrheit zu gelangen, jenen umgekehrt, die alle Erkenntnis auf die Wahrheiten des Menschen selbst zurückführen, allen, die nicht formalisieren wollen, ohne zu anthropologisieren, die nicht mythologisieren wollen, ohne zu demystifizieren, die nicht denken wollen, ohne sogleich zu denken, daß es der Mensch ist, der denkt, all diesen Formen linker und linkischer Reflexion kann man nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen - das heißt: ein zum Teil schweigendes Lachen.“ (Ebd.)
In einem seiner letzten Texte aus dem Jahre 1984 erklärt Foucault schließlich, dass ihn am Humanismus gestört habe, dass er eigentlich der Aufklärung, so wie er sie verstand, widersprach. Ganz im Sinne Kants begriff Foucault die Aufklärung als permanenten „Ausgang“, das heißt, als permanente Kritik: „Die Kritik ist gewissermaßen das Logbuch der in der Aufklärung mündig gewordenen Vernunft, und umgekehrt ist die Aufklärung das Zeitalter der Kritik.“ (Foucault 2005: 694) Aber genau von diesem Programm der Aufklärung als Kritik wollte er den Humanismus unterschieden wissen: „Der Humanismus ist etwas ganz anderes: Er ist ein Thema oder eher eine Gesamtheit von Themen, die mehrfach im Laufe der Zeit in den europäischen Gesellschaften wieder hervorgetreten sind; diese stets mit Werturteilen verbundenen Themen haben in ihrem Inhalt sowie in den Werten, an denen sie festgehalten haben, offensichtlich stets sehr variiert.“ (Ebd.: 700)
Sind Kritik und Humanismus aber wirklich so unvereinbar wie Foucault glaubte?
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Anders gefragt: welche Konsequenzen hat ein Denken, hat eine Sprache, wenn aus ihnen der Bezug zum Menschen herausgekürzt wird? Dieser Frage ist bereits Leo Löwenthal nachgegangen. Er zitierte Norman E. Nelson: „Vielleicht sind Soziologen nicht die Ungeheuer, die Humanisten aus ihnen machen, aber sie sind im Begriff, ein Ungeheuer zu schaffen, das noch die Wasserstoffbombe in den Schatten stellt. Sie schaffen eine unpersönliche Maschinerie zum Zwecke der Zerlegung des Menschen in normierte, auswechselbare Teile, um sie in Schubfächer zu sortieren und dann auf Bestellung wieder zusammensetzen zu können.“ (Zit. in: Löwenthal 1980a: 353)
Vor diesem Hintergrund machte sich Löwenthal – der bekanntlich ebenfalls ein Gründungsmitglied der „Frankfurter Schule“ war – für eine „wahrhaftig humanistische Kritik“ stark, die sich dem „instrumentalistischen Gebrauch der Sprache“ widersetzte (Löwenthal 1980b: 379). Kritik, so könnten wir auch sagen, war für Löwenthal selbstverständlich immer auch Sprachkritik. Auch der Soziologe Friedrich Tenbruck erkannte, dass die „Abschaffung des Menschen“ (Tenbruck 1984) in den Sprachen der Sozialwissenschaften in engem Zusammenhang mit dem „Weltbild der Soziologie“ steht, wonach „der Mensch, anstatt selbst zu handeln, nur gesellschaftliche Rollen ausführt“. Und für Tenbruck schien die Verabschiedung des Menschen aus den Sprachen der Sozialwissenschaften vor allem zu bedeuten, dass sie kritische Kompetenz verlieren. „Die für den Menschen so schwer faßliche, aber stets zentrale Lebensfrage, wie er sein will oder vielleicht sein soll, ist ersatzlos gestrichen zugunsten der einzigen Frage, wie er sich befindet. Alle kulturellen, geistigen, sittlichen und geistlichen Gehalte sinken zum Beiwerk der Gesellschaft herab; jede menschliche Gemeinschaft soll nichts mehr bedeuten als ihre äußere Einrichtung; alle geschichtlichen Daseinsformen – Reiche, Völker, Nationen, Kulturgemeinschaften – werden ihrer Eigenart beraubt, um auf das Normal-Null von Gesellschaftsstrukturen heruntergeschleust werden zu können; die Gesellschaft selbst wird zu einem Dauerprozeß der sozialen Differenzierung denaturiert, dessen geheimes Versprechen einer fortlaufenden Verbesserung der äußeren Daseins-
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umstände auf die Dauer nicht die sinnlose Leere dieses Vorgangs verbergen kann.“ (Ebd.: 50)
Kritik – und zwar sowohl in negativer Form als Kritik an den bestehenden Verhältnissen, wie auch in positiver Form als Orientierung an der Imago einer „besseren Welt“ – ist, meine ich, ohne die von Tenbruck in den Mittelpunkt gestellte Frage, wie die Menschen sein wollen oder anders gesagt: ohne eine Vorstellung davon, was es bedeutet, ein menschenwürdiges Leben zu führen, kaum denkbar. Ich möchte nun zeigen, dass dies auch die unhintergehbare Einsicht Erich Fromms gewesen ist, die in seiner humanistischen Psychologie ihren entscheidenden Ausdruck fand.
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Fromms zentrale Intuition besteht darin, die Reflexionen über den Menschen von der begrifflichen Spekulation – und das bedeutet: vom Reich der Philosophie – in die Psychologie zu verlagern. Humanismus und Psychologie bilden für ihn einen engen Zusammenhang. In einem kurzen Text von 1963 (Fromm 1999a) versucht er, diesen Zusammenhang zu erklären. Darin definiert er „Humanismus“ als den „Glauben an den Menschen und dessen Fähigkeit, sich zu immer höheren Stufen weiterzuentwickeln, durch den Glauben an die Einheit der menschlichen Rassen, durch den Glauben an Toleranz und Frieden sowie an Vernunft und Liebe als jenen Kräften, die den Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu verwirklichen und das zu werden, was er sein kann.“ (Ebd.: 3)
Fromm orientiert sich hier zunächst am europäischen Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts, dann aber vor allem am Humanismus des 18. Jahrhunderts, der nach Fromm die Aufklärung wesentlich geprägt habe. Besonders die durch Kant berühmt gewordene Idee, dass der Mensch immer nur ein Zweck in und an sich selbst sei und nie nur ein Mittel, um andere Zwecke zu erreichen, versteht Fromm als eine wesentliche Erkenntnis dieser humanistischen Tradition der Aufklärung, die er sich selbst zu eigen machte.
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Fromm will aber den Humanismus nicht allein in positiver Weise definieren. Vielmehr besteht er darauf, dass jeder Humanismus immer bereits ein Alarmsignal darstellt: „Es sei wenigstens darauf hingewiesen, daß der Humanismus schon immer eine Reaktion auf die Gefahr der Dehumanisierung, auf die Bedrohung der menschlichen Rasse war. Im sechzehnten Jahrhundert war der Humanismus die Reaktion auf die durch den Fanatismus und die Zerstörung der Religionskriege verursachte Bedrohung. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert war er die Reaktion auf die Bedrohung durch die nationalen Kriege und die Verwandlung der Menschen in ein Produktionsmittel.“ (Ebd.: 5)
Diese Art des Verständnisses ist nicht nur im tiefsten Sinne historisch, sondern auch dialektisch. Es ist der Mangel an Humanität, der humanistische Reaktionen auf den Plan ruft. Auch Fromms konsequente Anknüpfung an die diversen Traditionen des Humanismus will sich in deutlicher Weise historisch situiert wissen. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, als Fromm seinen Aufsatz verfasste, sah er die größte Bedrohung für die Menschheit in den Arsenalen menschheitsvernichtender Atomwaffen und der „totalen Bürokratisierung des Menschen“ (ebd.). Psychologie oder genauer noch: Psychoanalyse, die an Freud anschließt (und ihm dennoch auch kritisch begegnet), steht für Fromm in der Gefolgschaft des europäischen Humanismus. Ihr Anliegen lässt sich seiner Meinung nach nicht darauf reduzieren, Neurosen zu heilen, sondern sie stellt vor allem auch eine „Theorie vom Menschen“ dar (ebd.: 7). Darüber hinaus steht sie in der Tradition der Aufklärung, deren Errungenschaft Fromm, wie bereits gesehen, darin sah, den Menschen unmissverständlich auf den Weg der Bewusstwerdung seiner selbst gebracht zu haben. Gerade in dieser Hinsicht habe die Psychoanalyse enorm viel beigetragen, denn ihr Ziel sei es, das Unbewusste aufzudecken. Die Bewusstmachung des Unbewussten stellt für Fromm einen wichtigen Schritt auf dem Weg hin zum Verständnis menschlichen Handelns dar. Freud habe erkannt, dass das, was wir intentional tun, weil wir es tun wollen, oft in Wirklichkeit einer Art der Selbsttäuschung, der „Illusion“ entspringt und eigentlich das ist, was die „Gesellschaft“ will. Um aber das, was die Gesellschaft in unsere Intentionen hineinlegt, als unsere eigenen Intentionen anzuerkennen und
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folglich danach zu handeln, ist es ebenso notwendig, dass wir unsere ureigensten Wünsche verdrängen. Indem die Psychoanalyse den Zugang zum Unbewussten ermöglicht, bringt sie uns nicht nur unsere verdrängten Wünsche und Hoffnungen zurück, sondern erschließt auch jene Dimension unserer menschlichen Existenz, die wir mit allen anderen Menschen teilen. Fromm schreibt: „Es wird dann durch die Bewußtmachung des Unbewußten die bloße Idee der Universalität des Menschen in die lebendige Erfahrung seiner Universalität verwandelt, so daß es um die erlebte Verwirklichung der humanitas geht. Wer Unbewußtes erlebt, erkennt sich selbst als menschliches Wesen; er weiß, daß er alles Menschliche in sich trägt, so daß ihm nichts Menschliches mehr Fremd ist. Er kennt den Fremden und liebt ihn, weil er sich selbst kein Fremder mehr ist.“ (Ebd.: 10)
Vor diesem Hintergrund ließe sich die Aufgabe der Psychologie und vor allem der Psychoanalyse kaum überbewerten. Um ihrer humanistischen Verpflichtung nachzukommen, verlangte Fromm aber eine Entgrenzung seiner Disziplin. Indem sie sich zunehmend als „Wissenschaft“ in einem positivistischen Sinne verstehen wollte, zu der eine wissenschaftliche Methode gehöre, befasste sie sich vorwiegend mit „Mechanismen, Reaktionsbildungen, Trieben, jedoch nicht mit den ganz spezifisch menschlichen Phänomenen: mit der Liebe, der Vernunft, dem Gewissen und den Werten.“ (Fromm 1999c: 233) Die Psychologie habe dadurch ihre Aufgabe, am „Seelenheil“ der Menschen zu arbeiten, aufgegeben. Das, so erinnert Fromm, sei noch ganz anders gewesen, als sich die großen griechischen Philosophen – allen voran Sokrates, Plato und Aristoteles – als „Seelenärzte“ verstanden, die sich mit dem Menschen als einem „Selbstzweck“ beschäftigten und ihm „zum Glück und zur Entfaltung seiner Seele“ verhelfen wollten (ebd.: 232). Unter der Führung einer Humanistischen Psychologie, die sich weniger in den Dienst der Psyche, als in den des Menschen stelle, glaubte Fromm auch einige der wichtigsten philosophischen Aufgaben lösen zu können. In seinem Buch „Man for Himself“ machte er es sich zur Aufgabe, eine „Psychologie der Ethik“1 zu entwerfen. Bezüglich
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Der Untertitel des zuerst auf Englisch veröffentlichten Buches lautet: „An Inquiry into the Psychology of Ethics“.
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der Frage nach einer „humanistischen Ethik“ ging Fromm davon aus, dass die Ethik vor allem unter der Führung einer Humanistischen Psychologie von ihren metaphysischen Fesseln befreit werden könne. Dabei wollte Fromm mit seiner Suche nach einer universalen Ethik dem Relativismus trotzen: „Man behauptet, Werturteile und ethische Normen seien ausschließlich Angelegenheiten des Geschmacks oder willkürliche Bevorzugungen, und deshalb könne man keine objektiv gültigen Aussagen machen“. Dagegen regt er an, zur „großen Tradition der humanistischen Ethik“ zurückzukehren, die den „Menschen in seiner physisch-geistigen Totalität“ betrachtet habe und nach der die Bestimmung des Menschen vor allem darin liege, „er selbst zu sein“ (vgl. Fromm 1999b: 9). Eben in diesem Zusammenhang schreibt er der Psychologie eine zentrale Aufgabe zu. Denn zum Problem werden die „ethischen Normen“, die ihre Quelle im Menschen selbst haben, erst dann, wenn ihnen nicht gefolgt werde, was „psychische und emotionale Desintegration zur Folge“ habe (ebd.). „Die große Tradition des humanistischen ethischen Denkens hat die Grundlage für Wertsysteme geschaffen, die auf der menschlichen Autonomie und Vernunft beruhen. Alle diese Systeme gingen von der Voraussetzung aus, man müsse die Natur des Menschen kennen, um zu wissen, was für ihn gut oder schlecht sei. Sie waren deshalb grundsätzlich auch psychologische Untersuchungen.“ (Ebd.: 8)
Die Funktion der Psychologie, nicht nur für die humanistische Ethik, sondern für den Frommschen Humanismus insgesamt, besteht nun darin, dass sie Richtlinien für ein richtiges Leben vorzugeben vermag. „Der archimedische Punkt der spezifisch menschlichen Dynamik liegt in dieser Einzigartigkeit der menschlichen Situation. Das Verständnis der menschlichen Psyche muß sich auf die Analyse jener Bedürfnisse des Menschen gründen, die aus den Bedingungen seiner Existenz stammen.“ (Fromm 1999d: 22) Von diesem Gerüst aus baut Fromm an seiner Kritik der modernen Gesellschaft.
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„G ESELLSCHAFTS -C HARAKTER “ UND DAS „ GESELLSCHAFTLICHE U NBEWUSSTE “ Aus heutiger Sicht scheint es so, dass Jacques Lacans sich seinen Einfluss auf die akademische Nachkriegswelt sicherte, Fromm seine Leserschaft hingegen eher aus populärwissenschaftlichen Kreisen rekrutierte. Bestseller wie „Die Kunst des Liebens“ (1956) oder „Haben oder Sein“ (1967) trugen zu dieser populärwissenschaftlichen Reputation Fromms bei. Dies war allerdings nicht immer so. In den 1940er und 50er Jahren waren Fromms Arbeiten auch akademisch sehr einflussreich. Ein Bespiel dafür ist das Buch von David Riesman und seinen Mitarbeitern: „The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character“ (1950). Auch wenn das Buch und sein Autor heute kaum mehr zitiert werden, ist doch genauso richtig, dass „The Lonely Crowd“ nicht nur eines der meist verkauften Soziologiebücher seiner Zeit war, sondern gleichzeitig als Kritik der US-amerikanischen Gegenwartsgesellschaft durchaus in die Rubrik der kritischen Soziologie gehörte. Riesman orientiert sich in seiner Studie an einem Begriff, der von Erich Fromm stammt: dem Begriff des „Gesellschafts-Charakters“ (Riesman 1967: xxi). Riesman erklärt: „[To] speak of character in these terms is to speak of character as a ‚social character‘, the character that is clearly generalized in a society. […] The assumption that a social character exists has always been a more or less invisible premise in ordinary parlance; and it is becoming a more or less visible premise in the social sciences.“ (Ebd.: 4f.)
Für Fromm stellt dieser Begriff ein ganz zentrales Element seiner psycholanalytisch informierten Gesellschaftskritik dar. Der „Gesellschafts-Charakter“ stellt den bewussten Teil des Charakters eines Individuums dar, der allerdings – darin liegt Fromms Pointe – durch die gesellschaftlichen Umstände determiniert wird. Fromm erklärt: „Der Mensch lebt stets in einer spezifischen Art von Gesellschaft. Dabei kann es sich um eine Gesellschaft von Kopfjägern und aggressiven Kriegern, von friedlichen, zusammenarbeitenden Ackerbauern, von feudalen Leibeigenen und Handwerkern oder von modernen Industriearbeitern und Angestellten handeln. Er muß in einer Gesellschaft leben, wenn er überhaupt leben will, und eine jede
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Gesellschaft muß die Energien der Menschen so formen und prägen, daß sie tun wollen, was sie tun müssen. So werden die Bedürfnisse der Gesellschaft in persönliche Bedürfnisse verwandelt; sie werden zum ‚Gesellschafts-Charakter‘.“ (Fromm 1999a: 9)
Um nun den kritisch-analytischen Anspruch dieses Begriffs ermessen zu können, ist es notwendig, an das, was im vorangegangenen Absatz gesagt wurde, zu erinnern. Wenn der „Gesellschafts-Charakter“ das von der Gesellschaft in das Individuum ‚hineingelegte‘ Bewusstsein darstellt, lässt sich bereits vermuten, dass Fromm dieses Bewusstsein als etwas gesehen haben musste, was sich mit den wirklichen, menschlichen Bedürfnissen und Wünschen nicht unbedingt deckt. Die vom gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängten Bedürfnisse und Wünsche des Menschen vermutete er im Unbewussten. Psychoanalyse, so haben wir bisher gesehen, schafft einen Zugang zum Arsenal des Unbewussten. Sie öffnet dem Individuum also eine Pforte zu den universellen Bedingungen, denen alle Menschen in gleicher Weise ausgesetzt sind. Entsprechend dieser individualpsychologischen Methode, die auf Freud zurückgeht, orientiert sich Fromm allerdings gesellschaftskritisch eher an Marx. Auch Marx erkannte, dass das, was wir als bewusst voraussetzen, nur ein Teil der Wirklichkeit ist, die unserer Tun und Denken bestimmt. Und auch Marx ging es darum, die illusorische Qualität des Bewusstseins als „falsches Bewusstsein“ (Ideologie) zu enttarnen (vgl. Fromm 1981: 9ff.). Anders als Freud erkannte Marx aber, dass das ins Unbewusste „verdrängte“ nicht nur Ausdruck des universal Menschlichen ist, sondern, menschlicher Bedürfnisse und Wünsche, die in einer bestimmten Gesellschaft „verdrängt“ werden. Die Freilegung des Unbewussten verspricht daher nicht nur einen Blick auf das, was allen Menschen gemein ist, sondern vor allem auch auf das, was eine bestimmte Gesellschaft nicht zulässt. Das Bewusstmachen des „gesellschaftlichen Unbewussten“ stellt vor diesem Hintergrund eine Kritik an den jeweiligen dehumanisierenden Bedingungen der Gesellschaft dar. Und noch etwas ist Fromm in diesem Zusammenhang wichtig: „Marx […] hat als erster Denker erkannt, daß die Verwirklichung des universalen vollerwachten Menschen nur im Rahmen gesellschaftlicher Veränderungen möglich ist, die zu einer neuen, wahrhaft humanen ökonomischen und gesellschaftlichen Organisiation der Menschheit führen.“ (Ebd.: 103)
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Die Begriffe des Gesellschafts-Charakters und des gesellschaftlichen Unbewussten stellen also begriffliche Schlüssel für eine kritische Gesellschaftstheorie dar, die sich letztendlich an einem Humanismus orientiert, der sich nicht auf abstrakte und metaphysische Spekulationen über die conditio humana stützt, sondern der die „menschliche Situation“ (Fromm) aus dem Prozess der Kritik der gesellschaftlichen Umstände selbst extrahiert. Oder anders gesagt: Es ist der Prozess der Gesellschaftskritik, der überhaupt erst einen nichtmetaphysichen Humanismus denkbar werden lässt. Humanismus und Kritik sind also keine sich widersprechenden intellektuellen Aktivitäten, sondern sie bedingen sich in Fromms Sicht gegenseitig.
E NTFREMDUNG UND D EHUMANISIERUNG IN DER MODERNEN G ESELLSCHAFT Anders als Freud glaubte Fromm nicht, dass das Problem des Menschen die Gesellschaft oder Kultur per se seien. Seine Kritik galt vor allem der modernen Gesellschaft. Wie sehr sich Fromm selbst fremd in ihr fühlte, macht folgendes Zitat deutlich: „Das moderne Leben war für mich in Wirklichkeit nie ganz verständlich. Ich begriff nicht, warum die Menschen so lebten. Und sie taten mir leid. Meine geistige Heimat war gleichsam eine mittelalterliche Atmosphäre. In dieser orientierte sich alles am traditionellen Lernen, an der Vervollkommnung des Menschen, an spirituellen Werten. Und obwohl ich in eine deutsche Schule ging und wie jeder andere in Deutschland lebende Junge oder Student an der deutschen Kultur teilhatte, fühlte ich mich, zwar nicht völlig, aber doch ganz eindeutig als Fremder – und bedauerte dies sogar nie.“ (Zit. in: Funk 1992: 6)
Diese Offenbarung verrät keinen konservativen Geist, der von vormodernen Zeiten träumte. Im Gegenteil, die Erfahrung, sich fremd zu fühlen, ist eine durch und durch moderne Erfahrung, die Fromm unter dem Begriff der Entfremdung zusammenfasst: „Unter Entfremdung ist eine Art Erfahrung zu verstehen, bei welcher der Betreffende sich selbst als einen Fremden erlebt. Er ist sozusagen sich selbst entfremdet.“ (Fromm 1999d: 88) Was diese Entfremdung von sich selbst ausmacht, beschrieb Fromm als eine Art der Verdinglichung. Der entfremdete Mensch „erlebt sich und die anderen so, wie man Dinge
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erlebt – mit den Sinnen und dem gesunden Menschenverstand, aber ohne mit ihnen und der Außenwelt in eine produktive Beziehung zu treten.“ (Ebd.) Und etwas weiter im selben Text schreibt Fromm: „Die Entfremdung in unserer modernen Gesellschaft ist fast total. Sie kennzeichnet die Beziehung des Menschen zu seiner Arbeit, zu den Dingen, die er konsumiert, zum Staat, zu seinen Mitmenschen und zu sich selbst.“ (Ebd.: 90) Als besonders problematisch betrachtete Fromm die Erfahrung der Entfremdung im Umgang mit anderen Menschen. Vor dem Hintergrund dieser Problematik macht Fromm immer wieder deutlich, wie weit die Entfremdung in modernen Gesellschaften fortgeschritten ist. Einzelne Menschen erscheinen nur noch als Abstraktionen, die bestimmte Funktionen und Zwecke für andere erfüllen (vgl. ebd.: 100). Selbst ‚Liebesbeziehungen‘ haben diesen durch und durch utilitaristischen Charakter angenommen. Der Andere erfüllt den Zweck, die sexuelle Lust zu befriedigen, oder man bildet mit ihm eine „kleine Interessengemeinschaft“, in der jeder sich selbst der Nächste ist (ebd.: 101). Eine Konsequenz dieser vornehmlich utilitaristischen Beziehungslogik ist, dass anderen Menschen nicht getraut wird. Die Auswirkungen, die diese condition moderne auf das soziale Leben hat, macht Fromm, indem er an Ferdinand Tönnies erinnert, mit dem Verweis auf die Auflösung gemeinschaftlicher Bindungskräfte deutlich. Wichtiger als die vormoderne Gemeinschaft ist es Fromm aber, darauf hinzuweisen, dass der Einzelne „von seinen egoistischen Interessen motiviert“ wird, „und nicht von seiner Solidarität mit den Mitmenschen und der Liebe zu ihnen.“ (Ebd.) Es geht Fromm also weniger um Sozialontologie, als darum, wie Menschen grundsätzlich mit anderen Menschen in Beziehung treten und welche Einstellungen sie den jeweils Anderen gegenüber haben. Entfremdung stellt also für Fromm einen Prozess der Dehumanisierung dar. Der Mensch wird im Prozess der Entfremdung entmenschlicht. Darin sieht Fromm eine schwere Pathologie, die sich nur „heilen“ lässt, wenn sich der Mensch seine Menschlichkeit sowie diejenige seiner Mitmenschen bewusst macht. Diese leitet er aus der mit Hilfe eines dialektischen Verfahrens aus der Negation zentraler Aspekte der Entfremdung ab und gelangt dadurch zu folgender „positiver“ Bestimmung:
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„Der seelisch gesunde Mensch ist der produktive und nicht entfremdete Mensch; es ist der Mensch, der liebend zur Welt in Beziehung tritt und seine Vernunft dazu benutzt, die Realität objektiv zu erfassen; es ist der Mensch, der sich selbst als eine einzigartige individuelle Größe erlebt und sich gleichzeitig mit seinen Mitmenschen eins fühlt, der sich keiner irrationalen Autorität unterwirft und freiwillig die rationale Autorität seines Gewissens und seiner Vernunft anerkennt, der sich sein ganzes Leben lang im Prozeß des Geborenwerdens befindet und der das Geschenk seines Lebens als kostbarste Chance ansieht, die er besitzt.“ (Ebd.: 192f.)
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Im selben Jahr, in dem in den Vereinigten Staaten Riesmans Buch „The Lonely Crowd“ erschien, veröffentlichte der mexikanische Dichter und Essayist Octavio Paz in seinem Land „Das Labyrinth der Einsamkeit“. Darin erklärt er, dass Einsamkeit kein exklusiv mexikanisches Problem darstellt und ebenso wenig nur zu einer bestimmten Epoche gehöre. Vielmehr besteht Paz darauf: „Alle Menschen fühlen sich irgendwann einsam; alle Menschen sind irgendwann einsam. Leben heißt sich trennen von dem, was wir waren, um uns in das zu verwandeln, was wir in einer unbekannten Zukunft einmal sein werden, und die Einsamkeit ist der tiefste Grund der Conditio humana.“ (Paz 1998: 189) Aber Paz wusste auch, dass sich die conditio humana nicht auf die Erfahrung der Einsamkeit reduziert. Vielmehr resultiert daraus der permanente Wunsch sich mit anderen Menschen zu vereinen. „Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich einsam weiß, das einzige, das nach dem ‚anderen‘ sucht. […] So ist der Mensch Sehnsucht und Suche nach Kommunion.“ (Ebd.) „Kommunion“ mag ein Wort mit religiöser Bedeutung sein. Wichtiger war Paz aber die soziale Bedeutung, die in ihm enthalten ist. Das Gefühl der Einsamkeit, so ließe sich nun sagen, erklärt die Tatsache, dass der Mensch immer wieder versucht, sich mit anderen Menschen zu vereinen. Dabei entstehen all jene Konstellationen menschlicher Sozialität, die wir heute mit Worten wie „Gesellschaft“, „Gemeinschaft“, „Zivilisation“, aber auch „Kultur“ beschreiben. Auch in Fromms Kritik der modernen Gesellschaft und Kultur spielt die Erfahrung der Einsamkeit eine ganz zentrale Rolle. Dies wird vor allem in seinem opus magnum, nämlich in „Escape from
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Freedom“ deutlich. Darin interessierte sich Fromm besonders für die Konsequenzen des Individualisierungsprozesses: „It is the thesis of this book that modern man, freed from the bonds of preindividualistic society, which simultaneously gave him security and limited him, has not gained freedom in a positive sense of the realization of his individual self; that is, the expression of his intellectual, emotional and sensuous potentialities. Freedom, though it has brought him independence and rationality, has made him isolated and thereby anxious and powerless.“ (Fromm 2001: IX)2
Diese Beobachtung beunruhigte Fromm nicht so sehr, weil er ein Freiheitsdogmatiker war, sondern weil er einen Zusammenhang zwischen der „Angst vor der Freiheit“ und der Bereitschaft diese aufzugeben vermutete. Um diese Bereitschaft, die nach Fromm für den Totalitarismus verantwortlich war, erklären zu können, rekurrierte er auf eine anthropologische Theorie menschlicher Soziabilität einerseits und auf eine soziokulturelle Kritik der Moderne andererseits. Seine Theorie menschlicher Sozialität entfaltet Fromm, indem er sich von Freud absetzte. Zwar glaubte er, dass sich die Bereitschaft, Freiheit aufzugeben in psychologischen Kategorien erklären lässt, dazu müsse aber das Zusammenwirken der psychologischen Konstitution von Individuen und ihr Eingebundensein in soziale Beziehungen richtig verstanden werden. Dazu sei Freud nicht in der Lage gewesen, weil für ihn Individuum und Gesellschaft zwei ontologisch unabhängige Dimensionen darstellten. „Freud accepted the traditional believe in a basic dichotomy between men and society, as well as the traditional doctrine of the evilness of human nature. Man, to him, is fundamentally anti-social. Society must domesticate him, must allow some direct satisfaction of biological – and hence ineradicable – drives; but for the most part society must refine and adroitly check man’s basic impulses. In consequence of this suppression of natural impulses by society something miraculous happens: the suppressed drives turn into strivings that are culturally valuable and thus become the human basis for culture. Freud
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Ich zitiere hier aus der britischen Ausgabe des Buches, welche zuerst 1942 unter dem „Titel The Fear of Freedom“ erschienen ist (der der deutschen Ausgabe „Die Furcht vor der Freiheit“ entspricht).
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chose the strange word sublimation for this strange tranformation of suppression into civilized behavior.“ (Ebd.: 7)
Was Fromm an der Freudschen Konzeption vor allem störte war der Umstand, dass er den Menschen qua Individuum als eine biologisch determinierte und relativ statische Einheit betrachtete. Die Beziehungen der Individuen zur „Welt“ – und zwar sowohl zur „natürlichen“ wie auch zur mitmenschlichen – scheinen vor diesem Hintergrund immer nur von einer rein utilitaristischen Mittel-Zweck-Logik bestimmt zu sein. Darin sah Fromm eine ideologische Schwäche in Freuds Denken: er wiederholte, ja bestätigte die „instrumentelle Vernunft“ der kapitalistischen Gesellschaft. Eine Kritik daran müsse mit einem neuen normativen Verständnis der zwischenmenschlichen Beziehungen beginnen. Und genau in diesem Zusammenhang entwickelt Fromm einen Gedanken, der an Paz erinnert. „The physiologically conditioned needs are not the only imperative part of man’s nature. There is another part just as compelling, one which is not rooted in bodily processes but in the very essence of the human mode and practice of life: the need to be related to the world outside oneself, the need to avoid alonenesss.“ (Ebd.: 15; kursiv O.K.)
Bedeutet dies, so ließe sich nun fragen, dass die moderne Vorstellung von Freiheit als gescheitert betrachtet werden muss, weil sie der menschlichen Natur widerspricht? Für Fromm wäre ein solcher Schluss voreilig. Seiner Meinung nach sei es vielmehr notwendig, die Qualität der Beziehung freier Menschen zu ihren Mitmenschen und der „natürlichen“ Welt neu zu definieren. „The other way, the only one which is productive and does not end in an insoluble conflict, is that of spontaneous relationship to man and nature [...] This kind of relationship – the foremost expressions of which are love and productive work – are rooted in the integration and strength of the total personality [...].“ (Ebd.: 25)
Einsamkeit ist für Fromm nicht die letzte Bestimmung des Menschen, es handelt sich nicht um ein unabwendbares Schicksal. Für Fromm nimmt die Erfahrung der Einsamkeit mit zunehmender Entwicklung
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der menschlichen Zivilisation zwar grundsätzlich zu. Kritisch wird diese Situation aber erst dann, wenn die Menschen einer Gesellschaft mit dieser Situation nicht umzugehen verstehen und die befreienden Kräfte gegen neue irrationale Bindungen eintauschen. Fromm und Paz teilen also die Sorge um die zwischenmenschlichen Beziehungen. Im Folgenden möchte ich jedoch zeigen, dass ein wesentlicher Unterschied in der Art und Weise liegt, wie beide die soziokulturelle Entwicklung der Moderne verstanden.
G ESCHICHTSPHILOSOPHIE
ODER
K ULTURKRITIK ?
Fromm und die Metanarrative der Moderne Fromm war zwar Marxist, aber keineswegs blind für die kulturellen Weichenstellungen, die die moderne Welt prägten. Den größten Teil seines Buches von 1941 widmet er der Rekonstruktion kulturhistorischer Entwicklungen in Europa. Gleichzeitig suchte er aber auch nach psychologischen Faktoren, die seiner Meinung nach das Schicksal der westlichen Welt besiegelten. Zunehmende Individualisierung und Rationalisierung stärkten in der westlichen Zivilisation den Wunsch, sich wieder unter das Joch autoritärer, ja sogar totalitärer Macht zu stellen, wie es die jüngste Geschichte des 20. Jahrhunderts offenbarte, deren Zeitzeuge Fromm war. Um dies erklären zu können, verweist Fromm auf die Reformation als kulturelle Bewegung sowie auf die psychologischen Konditionen der Protagonisten dieser Bewegung, Luther und Calvin. Beiden unterstellt er, die Chancen, die die Entdeckung der Freiheit der frühen Neuzeit boten, nicht nur für sich selbst, sondern durch ihre enorm wichtige Rolle als kulturelle Multiplikatoren auch für ihre und folgende Generationen verspielt zu haben. Er kommt zu dem Schluss: „Thus Luther and Calvin psychologically prepared man for the role which he had to assume in modern society: of feeling his one self to be insignificant and of being ready to subordinate his life exclusively for purposes which were not his own. Once man was ready to become nothing but the means for the glory of a God who represented neither justice nor love, he was sufficiently prepared to accept the role of a servant to the economic machine – and eventually a ‚Führer‘.“ (Fromm 2001: 96)
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Aber vielleicht liegt gerade in der selbstverständlichen Fokussierung auf die europäische Aufklärung einer der Gründe für die Grenzen seiner Kritik. Genauso wie nämlich die europäische Aufklärung als Ausdruck einer universellen Geschichte der menschlichen Zivilisation verstanden wird, werden die Pathologien, die der Prozess der Individualisierung provoziert und die Reaktionen, die er hervorruft, ebenfalls als universell verstanden. Dies wird deutlich, wenn Fromm sich mit der nicht-europäischen Wirklichkeit auseinandersetzt, wie er sie in den USA erfuhr, wo er seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts lebte. Die Realität der US-amerikanischen Gesellschaft und Kultur scheinen eine Kulmination von Entwicklungen darzustellen, die bereits in Europa begannen: „Vastness of cities in which the individual is lost, buildings that are as high as mountains, constant acoustic bombardment by the radio, big headlines changing three times a day and leaving one no choice to decide what is important, shows in which one hundred girls demonstrate their ability with clocklike precision to eliminate the individual and act like a powerful though smooth machine, the beating rhythm of jazz – these and many other details are expressions of a constellation in which the individual is confronted by uncontrollable dimensions in comparison to which he is a small particle.“ (Ebd.: 113)
Es wäre sicherlich nicht fair, Fromm hier europäische Arroganz vorzuwerfen.3 Aber es wird doch deutlich, dass seine Kritik der Moderne zwischen Europa und Nordamerika kaum unterscheidet. In beiden Fällen gelten dieselben kulturhistorischen Voraussetzungen, und in beiden Fällen beobachtet Fromm ähnliche dehumanisierende Tendenzen in der Gegenwart. Die moderne Gesellschaft existiert für Fromm im Singular. Richtungsweisend und kritikwürdig sind die
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Selbstverständlich kannte Fromm Adornos und Horkheimers Kritik der US-amerikanischen Kultur und es ist kaum zu übersehen, dass er teilweise damit einverstanden war. Vielleicht noch wichtigere Einflüsse scheinen auf Fromm aber US-amerikanische Autoren gehabt zu haben. Hier muss vor allem Lewis Mumford genannt werden, den Fromm bereits in seinem Buch von 1941 zitiert und dessen Vergleich der modernen Gesellschaft mit einer Maschine sich Fromm angeeignet hat. Auf die Übereinstimmung zwischen Fromm und Mumford macht Manuel Peris Vidal aufmerksam (Peris Vidal 2007: 54).
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Entwicklungen in Nordamerika und Europa. In seiner Kritik reproduziert Fromm die Metanarrative der Moderne. Fromm in Mexiko: Eine verpasste Begegnungen mit einer anderen Moderne? Durch das Prisma dieses konventionellen Verständnisses der Moderne blickte Fromm auch auf die Wirklichkeit Mexikos, jenem Land in dem er sich 1950 niederließ und an dessen größter Universität, der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM), er bis 1965 lehrte. Ganz typisch für seine Generation schien Fromm in Mexiko vor allem das Land antiker Zivilisationen gesehen zu haben. Auf sie bezog er sich seit seiner Übersiedlung immer wieder. Mit der Gegenwart Mexikos setzte sich Fromm nur in der gemeinsam mit Michael Maccoby 1970 veröffentlichten Studie „Social Character in a Mexican Village“ (vgl. Fromm/Maccoby 1996) auseinander (vgl. auch Peris Vidal 2007: 58). Wie der Titel bereits andeutet, beschäftigte sie sich mit dem ländlichen Teil der Bevölkerung des Landes, der noch heute – und erst recht in jenen Jahren, in denen Fromm und Maccoby in Mexiko forschten – das modernisierungstheoretische Vorurteil zu bestätigen schien, dass Mexiko eine durch und durch vormoderne Gesellschaft sein müsse.4 Ob Fromm mexikanische oder lateinamerikanische Autoren las, ist nicht sicher. Zwar veröffentlichte er gemeinsam mit dem Philosophen Ramón Xirau eine Anthologie mit dem Titel „The Nature of Man“ (1968), aber in diesem Buch geht es nicht um mexikanische Themen. Interessanter Weise wird in der gemeinsam verfassten Einleitung aber Octavio Paz’ „Das Labyrinth der Einsamkeit“ erwähnt: „Der Mensch ist ein Wesen, in dessen Natur wir einen Drang zum Transzendieren finden, einen Drang, in der Beziehung zu anderen er selbst zu sein.“ (Vgl. die vorzügliche Erörterung dieses Problems bei O. Paz 1962) (Fromm/Xirau 1999: 388) Der Herausgeber der Fromm-Gesamtausgabe, Rainer Funk, besteht in einer Note darauf: die Einleitung „trägt ganz die Handschrift Fromms“ (vgl. Funk 1999: 534). Ich glaube aber, dass zumindest der Hinweis auf Paz eher von Xirau stammt, den Paz’
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Im gemeinsamen Vorwort von 1970 erwähnen Fromm und Maccoby, dass eine ähnliche Studie über die Situation städtischer Arbeiter geplant war, die aber nicht zustande kam (vgl. 1996: xxxvi).
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Gedanken sehr stark beeindruckt haben.5 Es bleibt daher unklar, ob Fromm selbst Paz’ Denken kannte. Diese biographischen und philologischen Einzelheiten sind mir deshalb wichtig, weil ich glaube, dass sie den Verdacht erhärten, dass Fromms Wahrnehmung Mexikos ganz im Zeichen seiner konventionellen Vorstellung von der Moderne gestanden hat. Danach wurde Mexiko eher als „traditionale Gesellschaft“ verstanden, der die Modernisierung noch bevorsteht. Manuel Peris Vidal vermutet sogar, dass Fromm nach Mexiko gekommen sei, um kritische Distanz zur „nordamerikanischen Gesellschaft“, der „Industriekultur“, dem „American Way of Life“, kurz: zur modernen Welt zu schaffen (vgl. Peris Vidal 2007: 45). Dabei hätte er sich in den lateinamerikanischen Debatten schon der 30er und 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, für die Mexiko ein ganz wichtiges Zentrum darstellte, davon überzeugen können, dass die eine Moderne, von der heute alle Menschen der Erde in der einen oder anderen Weise affiziert sind, doch ganz unterschiedliche Erfahrungen provoziert, die in einer Kritik der Moderne nicht unterschlagen werden dürfen. Ich sehe vor allem in Octavio Paz einen derjenigen, die diese lateinamerikanische Tradition der Kritik der Moderne, in der sich auf sehr komplexe Weise ein ausgeprägtes Differenzbewusstsein mit der gleichzeitigen Einsicht der Globalität der Moderne paart, in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gerettet hat. Paz’ Modernitätskritik als Kulturkritik Worin besteht nun aber die Besonderheit der Paz’schen Modernitätskritik? Zunächst sei noch einmal daran erinnert, dass Paz davon überzeugt war, dass die Erfahrung der Einsamkeit das Grundproblem des Menschen darstellt. Anders als Fromm erklärt Paz dieses nicht evolutionstheoretisch, sondern „phänomenologisch“. Das heißt, ihn interessiert weniger der Ursprung dieses Gefühls, als vielmehr die schlichte Tatsache, dass alle Menschen dieses Gefühl zu kennen scheinen. Der Verzicht auf eine evolutionstheoretische Erklärung geht
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Einige Texte in denen Xiraus Hochachtung für Paz besonders deutlich wird sind: Xirau 2009 [1974] und 1989. In beiden Texten wird deutlich, dass Xirau besonders am Thema der Dialektik von Einsamkeit und Kommunion interessiert war.
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einher mit dem Verzicht auf geschichtsphilosophische Prämissen jeder Art. Wenn das Gefühl der Einsamkeit nicht das Resultat einer durch die Evolution gesteuerten Trennung von Mensch und Welt ist, sondern einfach eine Eigenschaft menschlicher Existenz allgemein darstellt, dann macht es auch keinen Sinn, dieses Problem durch eine in die Vergangenheit gerichtete Bewegung zurück zu jenen Momenten, in denen Menschen noch nicht frei und einsam waren, lösen zu wollen. Ist erst einmal die Vorstellung von der „besseren“ Vergangenheit aufgegeben, fällt es auch leichter, die Fixierung auf eine vermeintlich bessere Zukunft aufzubrechen. Kurz, eine phänomenologische, nicht geschichtsphilosophisch und evolutionstheoretisch vorbelastete Anthropologie, wie sie Paz vorschlägt, bemüht sich, den Menschen so zu sehen wie er ist, und fragt dann danach, wie er die spezifischen Probleme, die ihm seine Existenz stellt, unter bestimmten historischen und kulturellen Bedingungen zu lösen versucht. Geschichte wird also nicht als eine durch eine bestimmte Logik diktierte Entwicklung verstanden, sondern als eine Konstellation von Momenten, in denen Menschen ganz spezifisch menschliche Probleme zu lösen versuchen. Paz selbst drückt dies in folgenden Worten aus: „Damit will ich sagen, daß historische Tatsachen keineswegs bloße Tatsachen, sondern mit Menschlichkeit, das heißt mit Problematik getränkte Fakten sind. Sie sind auch nicht nur Folgen anderer Tatsachen, sondern eines schwer verständlichen Willens, der, innerhalb gewisser Grenzen, ihre Schicksalshaftigkeit zu beeinflussen vermag.“ (Paz 1998: 76)
Diese Kritik an der modernen Geschichtsphilosophie erlaubt einen anderen Blick auf die menschliche Wirklichkeit. Anstatt in ihr evolutive Phasen oder Schübe zu unterscheiden, ist Paz vor allem an der Gegenwart interessiert. Die entscheidende Frage ist: Welche Modelle, mit der menschlichen Problematik umzugehen, lassen sich heute beobachten? Nicht Geschichtsphilosophie, sondern vergleichende Kulturwissenschaften stellen die methodologischen Werkzeuge dar, die ihn durch das „Labyrinth der Einsamkeit“ aller Menschen führen. Schon in seinem Buch von 1950 vergleicht er die Moderne Mexikos mit der Nordamerikas. „Das Labyrinth der Einsamkeit“ ist auch, was häufig übersehen wird, eine kulturvergleichende Studie. All dies bedeutet nicht, dass Paz für historische Entwicklungen blind gewesen sei. Die gegenwärtige Weltsituation verlange danach,
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die „nationale Einsamkeit“, in der so viele Länder verweilten, zu überwinden. Genau vor dieser Aufgabe gelte es, an das Gemeinsame im Menschen zu erinnern. Die Frage, die die „Weltgegenwart“ der Menschheit stellt, lautet daher: „Wie sollen wir eine Gesellschaft, eine Kultur schaffen, die unsere eigene Humanität nicht verleugnet, sie aber auch nicht in eine leere Abstraktion verwandelt?“ (Ebd. 188) Wir leben in einer Zeit, in der wir „zum ersten Mal in unserer Geschichte [...] Zeitgenossen aller Menschen“ sind (ebd.). In dieser Einsicht treffen sich Fromm und Paz wieder. Auch Fromm wusste, „daß die Idee von der Einheit der menschlichen Rasse und der Eroberung der Natur im Dienste der Menschen nicht mehr länger ein Traum, sondern reale Möglichkeit ist.“ (Fromm 1999b: 7) Während Fromm allerdings eher an den Übereinstimmungen interessiert war, ging es Paz zunächst um die Unterschiede trotz aller Affinitäten. So fragte er: „Wenn wir uns ‚anders‘ fühlen, was macht uns dann so ‚anders‘, und worin besteht der eigentliche Unterschied?“ Er wusste, dass man trotz der sich verdichtenden planetarischen Beziehungen – trotz der Tatsache, dass heute kein Volk mehr wirklich „allein“ ist – die kulturellen Unterschiede zwischen den Völkern nicht übersehen darf. Es ist schließlich immer eine bestimmte Kultur, in der sich Menschen in der Welt einrichten, sich dadurch ihre eigene Welt schaffen, die sie mit anderen teilen oder aus der sie die anderen verbannen. Die Frage nach der gemeinsamen Welt impliziert die Frage nach dem Gemeinsamen im Menschen. Aber sie darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Gemeinsamkeiten immer auch durch die Unterschiede der Kulturen vermitteln und nicht, wie Fromm glaubte, im Unbewussten schlummern. „Kultur“ ist aber noch in einem anderen Zusammenhang von Bedeutung. Sie ist nicht bloß kontingenter „Überbau“ der ebenso kontingenten institutionellen Faktizität der Gesellschaft, sondern immer auch ein Prozess subversiver Kreativität, die sich an Problemen abarbeitet, die allen Menschen gemein sind. Die Beschäftigung mit anderen Kulturen könnte also auch Lösungen von gemeinsamen Problemen offenbaren, die die eigene Kultur nicht zu entwickeln vermag (vgl. Paz 1996a). Es wäre allerdings unfair, Fromm und Paz auf diese Weise gegeneinander ausspielen zu wollen. Beide folgten sehr ähnlichen Intuitionen. Aber sie gingen dabei unterschiedliche Wege. Oder besser: sie taten dies, indem sie sich unterschiedlicher Sprachen bedienten. Wäh-
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rend Fromm auf Psychoanalyse und die Theorie von Marx setzte, wanderte Paz im „Labyrinth“ vieler verschiedener Sprachen, auf der Suche nach Möglichkeiten, die Beziehung des Menschen zum „Anderen“ zu verstehen und vor allem zu begreifen, wodurch diese in der Gegenwart gestört wird. Falsch wäre ein gegenseitiges Ausspielen der beiden Denker aber auch deshalb, weil zumindest Paz in Fromm einen Verbündeten gesehen haben musste. Er erkannte Fromms Bemühen an, die konkreten Probleme der aktuellen Gesellschaften zu erforschen (vgl. Paz 1996b: 52-53). Beiden ging es um Kritik, die dieser mit Mitteln der Psychoanalyse artikulierte, und die Paz im Sinne einer weiten Kulturkritik verstand. Zusammengehalten werden diese unterschiedlichen Formen der Kritik aber durch die Einsicht, dass sie nur sinnvoll sein kann, wenn Kritik ihre Normativität aus der Frage extrahiert, wie Menschen menschenwürdig mit ihresgleichen umgehen sollen.
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L ITERATUR Foucault, Michel (1971): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2005): „Was ist Aufklärung?“, in: Michel Foucault (2005), Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band IV 19801988, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 687-707. Fromm, Erich (1981): Jenseits der Illusionen. Die Bedeutung von Marx und Freud, Hamburg: Rowohlt. Fromm, Erich (1999a): „Humanismus und Psychoanalyse“, in: Erich Fromm, Gesamtausgabe, Bd. IX: Sozialistischer Humanismus und humanistische Ethik, München: DTV, S. 3-11. Fromm, Erich (1999b): „Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie“, in: Erich Fromm, Gesamtausgabe, Bd. II: Analytische Charaktertheorie, München: DTV, S. 1157. Fromm, Erich (1999c): „Psychoanalyse und Religion“, in: Erich Fromm, Gesamtausgabe, Bd. VI: Religion, München: DTV, S. 227-292. Fromm, Erich (1999d): „Wege aus einer kranken Gesellschaft“, in: Erich Fromm, Gesamtausgabe, Bd. IV: Gesellschaftstheorie, München: DTV, S. 1-254. Fromm, Erich (1999e): „Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik“, in: Erich Fromm, Gesamtausgabe, Bd. IV: Gesellschaftstheorie, München: DTV, S. 255-329. Fromm, Erich (2001): The Fear of Freedom, London: Routledge. Fromm, Erich/Maccoby, Michael (1996): Social Character in a Mexican Village, New Brunswick, N.J.: Transaction Publishers. Fromm, Erich/ Xirau, Ramón (1999): „Einleitung zu E. Fromm und R. Xirau The ‚Nature of Man‘“ in: Erich Fromm; Gesamtausgabe, Bd. IX: Sozialistischer Humanismus und humanistische Ethik, München: DTV, S. 376-391. Funk, Rainer (1992): Der Humanismus im Leben und Werk von Erich Fromm. Laudatio zum 90. Geburtstag. Download unter. http:// www.erichfromm.de/e/index.htm, letzter Zugriff: 25.01.2011. Funk, Rainer (1999): „Anmerkungen des Herausgebers“, in: Erich Fromm, Gesamtausgabe, Bd. IX: Sozialistischer Humanismus und humanistische Ethik, München: DTV, S. 521-540.
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Ist die Humanistische Psychologie ein Existentialismus? Eine exemplarische Abgrenzung J ÜRGEN S TRAUB Der Mensch ist zuerst ein Entwurf, der sich subjektiv lebt, anstatt nur ein Schaum zu sein oder eine Fäulnis oder ein Blumenkohl; nichts existiert diesem Entwurf vorweg, nichts ist im Himmel.1 JEAN-PAUL SARTRE 1977A: 11 Viele werden sich wohl wundern, daß man hier von einem Humanismus spricht.“ JEAN-PAUL SARTRE 1977A: 8
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Der hier im Deutschen zitierte, berühmte Text „L’existencialisme est un humanisme“ wurde erstmals 1946 publiziert. Er gehört zu den besonders umstrittenen Texten Sartres, auch zu jenen, von welchen sich der Autor später selbst distanzierte. Voraus ging ihm unter anderem das bereits 1943 erschienene philosophische Hauptwerk „L’ Être et le néant“ (dt.: Das Sein und das Nichts, Sartre 1993).
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D ENKEN , MORALISCHES E NGAGEMENT UND POLITISCHE A MBITION : J EAN -P AUL S ARTRE UND DER WELTANSCHAULICHE A NTI -E XISTENTIALISMUS DER H UMANISTISCHEN P SYCHOLOGIE Der die oben zitierten Worte verfasst und im Jahr 1946 vor einem ehrwürdigen Auditorium im Pariser Club Maintenant verlesen hat, war der engagierte Intellektuelle des 20. Jahrhunderts schlechthin. Wie kaum ein zweiter hat er die kulturelle Figur des öffentlich präsenten und politisch intervenierenden Denkers geprägt. Sein zweifellos imposantes Oeuvre enthält dunkle philosophische und schwierige wissenschaftliche Texte, nicht zuletzt jene literarischen Schriften, welche bald schon in die Theater der Welt Einzug halten und von den Dramen des Menschen Zeugnis ablegen sollten. Der umworbene linke Intellektuelle bediente sich im Übrigen nicht bloß der Schrift, um seine Gedanken publik zu machen, seine Anliegen zur Geltung zu bringen und sie in langwierigen sozialen Kämpfen möglichst auch durchzusetzen. Jean-Paul Sartre erhob beinahe unentwegt seine Stimme, er trat auf, setzte sich in Szene und ins Bild und wandte sich einem Publikum zu, das ihn lange Zeit mit Aufmerksamkeit verwöhnte – egal, ob es um seine Person oder das sagenumwobene Paar ging, das er mit Simon de Beauvoir bildete, oder aber um die Gesellschaft und die Welt und die Politik, die ohnehin vom Privatleben dieser prominenten Intellektuellen nicht zu trennen waren. Sartre hatte, kein Zweifel, etwas zu sagen – nicht zuletzt zu jenen aktuellen Fragen, welche alle angingen und umtrieben, in Frankreich, in Europa und rund um den Globus. Sartre redete in aller Öffentlichkeit und zu dieser, oft lautstark und im selbstbewussten Ton eines unbeirrbaren Wortführers auch in politischen Angelegenheiten. Diese Rolle maßte sich der flugs berühmt gewordene Literat und Philosoph der résistance kurzerhand an. Dieser zupackende und kämpferische ‚Egozentrismus‘ brachte ihm bei den Distanzierten und Skeptikern freilich schnell den Ruf eines Autorität beanspruchenden und Überlegenheit vindizierenden ‚Besserwissers‘ ein. Daran änderte die Tatsache, dass es dem öffentlichen Intellektuellen im Grunde genommen nicht um sich und eine narzisstische Nabelschau, sondern um eine universalistische Moral und humanistische Politik für die Menschheit ging, nur wenig. Sartre, so wurde ihm alsbald vorgehalten, gebärde sich als allgegenwärtiger und omnipotenter Wortführer, der nicht nur die persönliche Aura und
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wachsende Prominenz, sondern auch die Philosophie, Wissenschaft und Kunst nach Kräften instrumentalisiere und dabei ein wenig missbrauche. Der ‚Meisterdenker‘, der sich der Idee des Sozialismus und Kommunismus verschrieben hatte, galt so manchem Zeitgenossen als ideologisch borniert. Das tat seiner Ausstrahlung und bis in die 1960er Jahre hinein reichenden Dominanz unter den französischen Intellektuellen freilich keinen Abbruch. Sartre überzeugte viele, und er betörte und bekehrte kaum weniger. Er fand Gefolgschaft – die ihm in der akademischen Welt in den 1970er Jahren deutlich vernehmbar aufgekündigt wurde (nachdem der Stern schon etwas früher zu sinken begann). Damals wandten sich immer breitere Strömungen in der Philosophie sowie den Sozial- und Kulturwissenschaften in Frankreich dezidiert gegen Sartres Existentialismus und neuen Humanismus (man denke an Ferdinand de Saussure, Claude Lévi-Strauss, Louis Althusser, Nico Poulantzas, Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Lacan oder auch Pierre Bourdieu, Jean François-Lyotard sowie Jacques Derrida). Man dekonstruierte, demontierte und destruierte Sartres Inthronisierung des seiner Existenz zwar gewissermaßen ausgelieferten, dabei aber radikal freien und verantwortlichen Subjekts. Martin Heideggers einflussreiche Analyse der „Geworfenheit des Daseins“ verband der französische Intellektuelle bekanntlich mit einem theoretischen Subjektivismus, der bereits dem „Fundamentalontologen“ – von allen anderen Gegensätzen einmal abgesehen – zutiefst verdächtig und einfach unzeitgemäß erscheinen musste. Der (Post-)Strukturalismus wartete sodann mit einer regelrechten Verachtung des übersteigerten Subjektivismus in Sartres Existentialismus auf. Er konterte, jedenfalls im ersten Überschwang, mit einem ebenso überspannten Objektivismus2 und der Verkündung, dass nach dem bereits verdauten Ableben Gottes nun auch das Subjekt aus der Menschenwelt vertrieben werden müsse (einschließlich des Autors). Sartres Denken wurde als später Ausläufer der metaphysischen Tradition der abendländischen Philosophie entlarvt und entsorgt, obendrein als zutiefst vom Cartesianismus geprägt, gebrandmarkt. Die Stunde
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In dieser erfolgreich nach zwei Extremen ausschlagenden Pendelbewegung sehen manche geradezu ein treibendes Prinzip der Entwicklung der Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften in Frankreich, so etwa Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron (1981).
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des Strukturalismus und Neo-/Poststrukturalismus war ebenso gekommen wie die eines bewussten und polemischen, mitunter fröhlichen Anti-Humanismus (Ferry/Renaut 1984; Frank 1984). Die bei Sartre zentrale begriffliche Vorstellung eines zur Freiheit verurteilten Subjekts, das in unausweichlichen Situationen der Entscheidung wählen muss und deswegen mit der Bürde der Verantwortung nicht nur für sich selbst und das eigene Leben, sondern für die Anderen und deren Möglichkeiten befrachtet ist, galt kurzerhand als Relikt eines veralteten Denkens. Die Ideen der relativen Autonomie und des individuellen Handlungspotentials wurden bekanntlich ebenso entsorgt wie das normative Anliegen einer stetig steigerbaren, stets prekären und gefährdeten ‚Selbstverwirklichung‘. Alle diese kritischen Impulse wurden weit über die Grenzen Frankreichs hinaus vernommen und aufgenommen (und sie waren natürlich auch schon anderswo lebendig geworden3). Wir Heutigen denken und leben wohl noch immer auch im Zwiespalt dieser konkurrierenden, antagonistischen Strömungen. Dazu kann man sich bekanntlich verschieden verhalten. Die von der Humanistischen Psychologie im Lauf der 1950er Jahre ergriffene Option war und ist klar.4 Gewiss, die Vertreter der ‚neuen‘
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Das gilt – trotz aller sonstigen, offensichtlich gravierenden Differenzen – zum Beispiel für den bereits Jahrzehnte zuvor präsenten Behaviorismus eines John B. Watson und Burrhus Frederic Skinner (vgl. Straub 2010). Die nordamerikanische Psychologie teilte bezüglich ihres fundamentalen, antihumanistischen Menschenbildes so manchen Gedanken mit dem (Post-) Strukturalismus. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Rezeptionsgeschichte, dass dies kaum eingehend erörtert wird, sondern der Bogen gerne von Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger zum Poststrukturalismus geschlagen wird. Während insbesondere der Poststrukturalismus lange Zeit viele Intellektuelle weltweit in den Bann zog, kann man das dem (häufig als szientistisch, mechanistisch, autoritär, totalitär usw. gescholtenen) Behaviorismus bekanntlich nicht gerade nachsagen (obwohl er in der insbesondere nordamerikanischen, aber auch europäischen Psychologie, in geringem Maße in anderen Sozialwissenschaften, bald nach seinen ersten Manifestationen um das Jahre 1912 herum erheblichen Einfluss ausübte).
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Ich verzichte hier auf allgemeine Kennzeichnungen dieser psychologischen Strömung oder ‚Schule‘, weil sie in anderen Beiträgen des vorliegenden Bandes ausführlich charakterisiert wird (insbesondere auch in meiner
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Psychologie verorteten die von ihnen selbst so genannte „dritte Kraft“ in der Psychologie des 20. Jahrhunderts keineswegs in dem durch Sartres humanistischen Existentialismus und die wachsende Schar seiner strukturalistisch orientierten Opponenten markierten Feld. Sie setzten sich vielmehr – jedenfalls vor allem – gegen die anderen beiden ‚starken Kräfte‘ in der modernen Psychologie ab, nämlich gegen die Psychoanalyse und den Behaviorismus. Die als third force angetretene Humanistische Psychologie beruft sich auf ein Menschenbild, das den (teilweise impliziten) anthropologischen Grundannahmen sowohl der Psychoanalyse als auch des Behaviorismus widerspricht. Dagegen sei dieses Menschenbild, so ist mitunter zu lesen, mit wichtigen Aspekten von Sartres Auffassung des Menschen verwandt. Der Existentialismus im Allgemeinen und speziell Sartres Ansatz zähle demgemäß zu den Vorläufern und Wegbereitern nicht zuletzt der Humanistischen Psychologie. Während die überlieferten psychologischen Ansätze (Psychoanalyse und Behaviorismus) den Menschen und sein Handeln einem Spiel undurchschaubarer Zwänge und heteronomer Kräfte ausgesetzt sahen, setzte die Humanistische Psychologie auf das freie und verantwortliche Subjekt und das unendlich kreative Potential einer erlebnisund handlungsfähigen Person, in deren Leben sich so gut wie alles um Selbstaktualisierung und Selbstverwirklichung drehe. Darin schlummerten das Versprechen und die Chance, ein gelingendes, glückliches Dasein zu erlangen. In diesem Streben, das man allen Menschen als fundamentales und zugleich höchstes Motiv zuschrieb, wollte die Humanistische Psychologie die Willigen und Bedürftigen unterstützen und anleiten. Das ist bis heute ein wichtiger Grundsatz geblieben. Zunächst jedoch noch einmal zu Sartre: Das in seinem Fall im Marxismus verwurzelte Bemühen, „marginalisierten Anderen“ die eigene Stimme zu leihen, mit und zu ihnen und doch stets auch an ihrer Stelle und für sie zu sprechen, lief seinerzeit dieselbe Gefahr wie es noch heute alle gut gemeinten und zweifellos ehrenwerten Versuche des voicing tun. Der französische Starintellektuelle, der, wie beabsichtigt, unter ständiger Beobachtung der Medien stand, engagierte
eigenen Abhandlung „Wissenschaftliche Psychologie als Humanismus?“). Ich setzte die Kenntnis der Grundannahmen der Humanistischen Psychologie im Folgenden voraus und komme lediglich auf solche Merkmale zu sprechen, die sie vom Existentialismus (Sartres) zu unterscheiden gebieten.
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sich, wie es die „politische Ökonomie“ des Marxismus nahe legte, für die in kapitalistischen Gesellschaften beherrschten, unterdrückten und ausgebeuteten Klassen – und erhoffte sich davon einen Beitrag zur Verwirklichung einer klassenlosen Welt, einer Welt ohne Subalterne. Zeitweise verband er das mit der Mitgliedschaft in einer stalinistischen Kaderpartei, deren Programm nicht gerade bestens zu einer Philosophie passte, für die Sartres Name stand wie kaum ein anderer. Die oben zitierten, dem Beitrag vorangestellten Worte entstammen einem Vortrag Sartres, in dem er eine Antwort auf die Frage suchte, ob der von ihm vertretene, atheistische Existentialismus ein Humanismus sei. Seine ausführlich begründete, auf Einwände sowohl von Christen als auch von Marxisten reagierende Antwort lautete ganz entschieden „ja!“. Ich möchte nun nicht untersuchen, ob diese Antwort überzeugt oder wie sie im Einzelnen begründet wird. Erst recht geht es hier nicht um eine philosophisch ambitionierte und philologisch akribische Exegese von Sartres (Subjekt-)Philosophie. Der Anspruch ist sehr viel bescheidener. Er verfolgt ein anderes Ziel, nämlich eine begründete Abgrenzung der Humanistischen Psychologie vom Existentialismus (Sartres). Dabei stütze ich mich lediglich auf den berühmten Text des marxistischen Existentialisten und eigenwilligen Humanisten. Trotz dieser Selektivität lässt sich an diesem Beispiel etwas Allgemeineres aufweisen. Die gängige Bezugnahme vieler humanistischer Psychologinnen und Psychologen auf den Existentialismus hat einen Haken: Von einem engen Verwandten im Geiste kann nämlich kaum die Rede sein, nicht einmal im Hinblick auf Grundzüge des Menschenbildes dieser einst so einflussreichen Philosophie.5 Vertreter der Humanistischen Psychologie sehen das anders. Die Rezeptionsgeschichte bestätigt in aller Regel deren Selbstverständnis. Diese verbreitete und hartnäckig wiederholte Diagnose einer Geistesverwandtschaft mit dem Existentialismus (speziell seinem Menschenbild) wirkt, genauer besehen, ziemlich überstürzt, allzu oberflächlich und insgesamt verfehlt, macht aber dennoch auf gewisse allgemeine Erfahrungsgrundlagen und anthropologische Prämissen dieser Spielart der modernen Psychologie aufmerksam, die gerade auch die existen-
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Das gilt analog für einige andere philosophische Strömungen und wissenschaftliche Ansätze, auf die die Humanistische Psychologie so gerne Bezug nimmt (etwa die Phänomenologie). Das bleibt hier natürlich außen vor.
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tialistische Philosophie und Literatur markant, suggestiv und enorm wirkungsvoll artikuliert haben. Führt man sich dies vor Augen, wird erkennbar, dass und warum zwar Sartres Existentialismus ein Humanismus (spezifischer Art) genannt werden mag, die Humanistische Psychologie aber gewiss kein Existentialismus in einem einigermaßen präzisen, tieferen Sinn ist. Sie steht ihm in vielerlei Hinsicht nicht besonders nahe. Sie trennt vielmehr vieles von ihm. Diese Unterschiede sind vielleicht wichtiger und aussagekräftiger als manche allenfalls oberflächliche ‚Gemeinsamkeit‘. Die Humanistische Psychologie erweist sich dem heutigen Beobachter – das ist die These, die ich im Folgenden zu begründen suche – als eine Art Entschärfung und Besänftigung der existentialistischen Anamnese des psychosozialen Profils des modernen Menschen. Sie glättet die Wogen, die namentlich auch Sartres Existentialismus in Bewegung gesetzt hat, sie vertreibt die existentialistische Angst, indem sie den Menschen ihre Furcht vor der Freiheit zu nehmen und ihnen zu einer ‚positiven‘ Sicht ihrer kreativen Möglichkeiten zu verhelfen trachtet. Obendrein entpolitisieren zumindest die meisten Spielarten der Humanistischen Psychologie Sartres existentialistische Begriffe der Freiheit und Verantwortung. Hand in Hand damit individualisieren sie das Ziel des kontinuierlichen Wachstums einer Person, die zeitlebens nach einer Steigerung ihres Erlebnis- und Handlungspotentials und nach unendlicher Selbstverwirklichung trachtet. Mit anderen Worten: Die Humanistische Psychologie ist die Beruhigungspille, die man zum Zweck einer Heilung, zumindest einer Linderung des Schocks und der langfristigen Beunruhigung, die die vom Existentialismus wortreich artikulierten Erfahrungen unweigerlich zeitigten, verabreichte. Von welchen Erfahrungen ist hier die Rede? Es geht um einige uns Heutigen vollends vertraute, längst verinnerlichte und verkörperlichte Erfahrungen, die wir nicht mehr loswerden, so sehr wir sie auch bewusst übersehen und absichtlich ignorieren oder unbewusst verdrängen, von unserem Leib abschütteln, aus unserer Seele vertreiben und am liebsten für immer loswerden mögen. In Sartres Charakterisierung des Existentialismus – seines atheistischen Existentialismus – steht eine von weit her kommende, sich seit Mitte des 19. Jahrhundert verschärfende und intensivierende Konvergenz des modernen Denkens im Hintergrund. Der Existentialismus vollende nämlich, so der noch junge Autor, das Gefühl des Mangels und der Unzulänglichkeit des Menschen in einem aus den Fugen ge-
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ratenen Kosmos, in dem sich ‚der Mensch‘ zunehmend verliere und zerstreue. Schon nach wenigen Zeilen in Sartres Manuskript ist klar, dass dieser Existentialismus den von Friedrich Nietzsche in so einflussreicher Weise hinausposaunten Geist des Nihilismus atmet – ohne allein dabei zu verweilen oder gar ihn völlig anzunehmen, sich mit ihm einfach abzufinden im Sinne der Selbstaufgabe des heimatlos und sich selbst unheimlich gewordenen Subjekts. (Wozu ja auch Nietzsche bekanntlich nicht gewillt war.) Was Sartre und einige andere in den 1930er und 1940er Jahren in die Form einer regelrechten Bewegung brachten,6 wäre ohne die bereits von Nietzsche zu Gehör gebrachte Zeit kaum verständlich. Walter Schmiele bilanziert in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe des „Humanismus-Vortrags“ von Sartre treffend: „Philosophen, Dichter, Schriftsteller, wo sie überhaupt von den Fundamenten sprechen, sprechen seitdem von nichts anderem als von diesem Zentralgefühl einer ungeheuren Veränderung. Sie umkreisen die Symptome der Langeweile, der Sinnzersetzung, der Nichtigkeit, der Angst, des hoffnungslosen Alleinseins in einem gleichgültigen Universum und schließlich das Abbruchgefühl, alles sei absurd und weiterzuleben ebenso sinnlos wie sich umzubringen.“ (Schmiele 1977: 192)
Nun, das ist ein konzises Resümee einer zur philosophischen Weltanschauung erhobenen Erfahrung, in der „Gott tot ist“ (oder jedenfalls,
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Sartre wurde 1939 zum ‚Militärdienst‘ eingezogen, ohne dass dies seiner literarischen und philosophischen Produktion gänzlich Abbruch getan hätte; der Soldat schrieb unter anderem an „Das Sein und das Nichts“. Natürlich steht nicht nur Nietzsche im Hintergrund des Denkens (auch) von Sartre, sondern, viel unmittelbarer, Martin Heidegger, der philosophische Verwandte und bewunderte Vordenker, der politisch und persönlich – nicht nur an der Freiburger Universität im nationalsozialistischen Deutschland – meilenweit entfernt war vom engagierten Intellektuellen in Paris. – Zu Sartres umfangreichem Werk gibt es längst eine nicht mehr überschaubare Sekundärliteratur. Pars pro toto verweise ich lediglich auf eines der noch immer lesenswerten Bücher eines scharfsinnigen Interpreten, der seiner Bewunderung für die Person und das Schaffen Sartres Ausdruck verleiht, ohne dass ihm dies den Blick trübte (vgl. Danto 1986).
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nicht ganz zutreffend, totgesagt wurde; von Nietzsche), in der folgerichtig die Religion als „Opium fürs Volk“ herhalten muss und zur bloßen Ideologie verkommen ist (behaupteten Feuerbach und Marx) oder als infantile Illusion zutiefst verdächtig ist (meinte Freud) und schließlich der Mensch bloß noch als „eine gemeine Marmelade“ erscheint (so Sartre). Des Menschen traditionell so hoch angesehene „Essenz“ bestehe fortan lediglich noch in seiner „Existenz“, in nichts tiefer oder zugrunde Liegendem mehr, schrieb Sartre, und zahllose andere wiederholten es oder dachten ähnlich. Ganz auf sich selbst gestellt, liegt es nach dieser existentialistischen Auffassung am Menschen und nur an ihm, was er aus sich mache. Verbindliche Vorgaben, die von anderswo her kommen, gibt es nicht mehr. Die „Natur“ und „Gott“ schweigen in dieser immanenten Welt des Menschen und lassen ihn mit sich allein, überantworten ihn seinem eigenen Denken und Handeln, Wünschen und Wollen, bürden ihm alle Last der Verantwortung auf. Was zu tun sei, bleibt fortan offen. Was auch immer getan wird, sei, so führt der Existentialismus das romantische Pathos kreativer Leidenschaft und die Feier des sich selbst schaffenden Individuums fort,7 sei entschieden und hingabevoll, in uneingeschränkt bejahter Freiheit zu tun. Der Existentialismus ist ein Humanismus ganz in diesem Sinn, ein neuer Humanismus des radikal auf sich selbst verwiesenen, freien und verantwortlichen Subjekts (das in seine Entscheidung allerdings, so jedenfalls Sartre angesichts der vielfach vorgetragenen Einwände gegen den angeblich subjektiven Immoralismus der existentialistischen Weltanschauung, die gesamte Menschheit einbeziehe). Die Existenz geht der Essenz voran (Sartre 1977a: 9), und das heißt, „daß man von der Ichheit ausgehen muß“ (ebd.), von einer Subjektivität, die sich handelnd in die Zukunft hinein entwirft, und zwar lange bevor es einen Begriff von ihr und dem sich selbst entwerfenden und schaffenden Menschen gibt. Dieser entsteht allenfalls im Nach-
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Vgl. dazu das schöne Buch von Isaiah Berlin (2004), eine Niederschrift eines Rundfunkvortrags des passionierten Gelehrten, der sein der Epoche der Romantik gewidmetes Projekt nicht zu Ende brachte. Was ihm jedoch gewiss erschien, war die enorme Wirkungskraft der romantischen Bewegung und ihrer zentralen Ideen. Der Existentialismus bestätigt das zweifellos, wäre er ohne seine romantischen Wurzeln wohl nicht einmal ansatzweise verstehbar.
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hinein. Die vorgängige Existenz ist ein Wagnis, das von der Kreativität menschlichen Handelns zeugt. Der Existentialismus gehört zu jenen kraftvollen Strömungen modernen Denkens, die der Idee der Vorstellbarkeit und Planbarkeit einer unweigerlich kontingenten Zukunft eine unerbittliche Absage erteilen. Menschen sind nicht Demiurgen der Zukunft, gerade so, wie man sich dereinst Gott als Schöpfer des Menschen und der Welt gedacht hat. Das bedeutet auch, dass es keine allgemeine menschliche Natur gibt, die vor aller Geschichte, in der sich Menschen handelnd verwirklichen, begriffen und beschrieben werden könnte. Es gibt keine Essenz des Menschen, die seine Existenz bestimmte. Definiert wird stets, was war. „Der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht“ (Sartre 1977a: 11), und dieses Machen folgt keinem vorhersehenden Verstand und unabhängig vom Vollzug des Handelns bestehenden Plan und Willen – diese (Wille und Plan) sind dem Handeln vielmehr implizit, verwirklichen sich in seinem Vollzug, gehen ihm, genau besehen, nicht voraus. Wie Sartre auch sagt: „Es gibt Wirklichkeit nur in der Tat […]. Der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße, in welchem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben.“ (Ebd.: 22). Damit polemisiert Sartre auch gegen jene, die sich in Ausreden flüchten. Ein nicht geglücktes Leben ist eben ein nicht geglücktes Leben. Sartre weigert sich, den Menschen „als enttäuschten Traum, fehlgeschlagene Hoffnungen, unerfüllte Erwartungen zu bestimmen“ (ebd.: 23). Das nennt er optimistische Härte – und glorifiziert dabei, ziemlich reduktionistisch, den schöpferischen Tatmenschen, dessen Leben ‚wirkliche‘ Ergebnisse und Folgen zeitigt, keine bloßen Luftschlösser und Sehnsüchte. Sartres Existentialismus ist „eine Moral des Handelns und des Sichbindens“ (ebd.: 25). Mit der vielfältigen Tradition des abendländischen Humanismus hat dieser existentialistische Entwurf des verlassenen und vereinsamten, sich entwerfenden und transzendierenden Subjekts und einer nur sich selbst verpflichteten „menschlichen Ichheit“ nichts mehr gemeinsam, wie Sartre selbst betonte.8 Allerdings verteidigte der
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„Scholastik, Renaissancemenschentum, Deutscher Idealismus, Auguste Comte und seine Vorstellung einer Menschheitsreligion, deren krönendes Gottwesen die Menschheit selbst sein sollte – alle diese humanistischen Systeme sind geschlossene, das Sein verschließende Weltanschauungs-
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französische Intellektuelle den von Søren Kierkegaard herkommenden Entwurf des modernen Subjekts gegen allerlei Einwände, die die neue humanistische Philosophie völlig von allen traditionellen Banden, auch den vernünftig erscheinenden Ansichten und Orientierungen aus der Schatzkammer der Überlieferung, abgekoppelt sahen. Das muss uns hier freilich nicht weiter interessieren. Festgehalten sei jedoch, dass Sartres Schutzvorkehrungen gegen subjektive Amoral und Antimoral durchaus einen Anknüpfungspunkt nicht zuletzt für eine Humanistische Psychologie liefern. Diese nutzt nämlich den im atheistischen Existentialismus offen gelassenen Seitenweg als einen erlösenden Ausweg aus einer beklemmenden Situation. Allerdings geht es dabei eben nicht mehr (primär) um kategorische Imperative, die die Menschheit einbeziehen und eine Art kosmopolitisches Gewissen des politisch handelnden Subjekts artikulieren – obwohl diese universalistischen Ansprüche einer umfassenden Weltverbesserung in einigen Varianten der Humanistischen Psychologie präsent blieben. Entscheidend war und ist vielmehr: Die Humanistische Psychologie verinnerlicht moralische Anstrengungen und bündelt die verfügbaren Energien im Zentrum eines auf seine Erlebnisse und Gefühle horchenden, ganz auf sie konzentrierten und fokussierten Ich. Es gibt zwar auch eine sozial eingestellte und politisch engagierte Fraktion der Humanistischen Psychologie (vgl. die Beträge von Johach oder Kozlarek, in diesem Band). Über weite Strecken besinnt sich diese Strömung aber auf das Selbsterleben eines gefühlten, sich erfühlenden Ich, das in der Bemühung um Authentizität, in der permanenten Selbstthematisierung, Selbstaktualisierung und Selbstverwirklichung die via regia, den tiefsten und nachhaltigsten Weg zur Verbesserung und Vervollkommnung der menschlichen Welt erkennt. Das ist nicht zuletzt meilenweit entfernt von Sartres Konzept der „Transzendenz“ (vgl. auch Slunecko, in diesem Band), von der er sagt:
gebilde und als solche dem Humanismus der Existenz nicht annehmbar“, resümiert Schmiele treffend (ebd.: 196f.). Den logischen und psychologischen Fluchtpunkt dieser geschlossenen Systeme wittert Sartre im Faschismus, mit dem er bekanntlich nichts zu schaffen haben wollte – wissen wollte er freilich lange Zeit leider auch gar nichts von anderen Totalitarismen wie dem Menschheitskultus des Kommunismus, den der sonst so scharfsinnige Philosoph und Psychologe bekanntlich über viele Jahre hinweg verklärte und verteidigte.
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„Diese Verbindung der Transzendenz als den Menschen konstituierend […] und der Ichheit, in dem Sinne, wie der Mensch nicht in sich selber eingeschlossen ist, sondern dauernd gegenwärtig in einem menschlichen All – das ist es, was wir den existentialistischen Humanismus nennen. Humanismus, weil wir den Menschen daran erinnern, daß es außer ihm keinen anderen Gesetzgeber gibt und daß er in seiner Verlassenheit über sich selber entscheidet; und weil wir zeigen, daß nicht durch Rückwendung auf sich selber, sondern immer durch Suche nach einem Ziel außerhalb seiner, welches diese oder jene Befreiung, diese oder jene besondere Verwirklichung ist – daß 9
dadurch der Mensch sich als humanes Wesen verwirklichen wird“ (Ebd.: 35).
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Man sieht auch an dieser Stelle sehr deutlich: Das Subjekt Sartres ist kein bloßer „Platzhalter des Nichts“, erst recht kein schlichter Libertinage, den die Welt und die Anderen aus überzogener Egomanie oder unbegrenzter Vergnügungssucht nicht mehr interessieren. Die eigene Freiheit kann im Grunde nur leben, wer auch die Freiheit der Anderen will. Schließlich koppelt Sartre seinen radikalen Existentialismus, wie angedeutet, an eine mit dem Sozialismus und Kommunismus solidarische Theorie politischen Handelns, in der der revolutionäre Akt – etwas ziemlich Konkretes und genau Bestimmtes also – als Akt der Freiheit par excellence erscheint (vgl. hierzu Sartre 1977b sowie den darauf bezogenen Teil des in diesem Punkt zu Recht sehr kritischen Nachworts von Schmiele 1977: 200ff.). Es ist evident, dass die ‚existentialistische‘ Rechtfertigung der sozialistischkommunistischen Revolution eine Fortschrittsideologie stützt, die mit der Idee der Kontingenz einer zutiefst sinnlosen, absurden Welt nicht mehr allzu viel gemein hat. Die existentialistische Idee der Freiheit wird stark angekratzt, sobald sie in den Dienst eines politischen Programms gestellt wird. Die zugemutete Selbstgesetzgebung des radikal auf sich selbst gestellten Subjekts wird nun einem politischen Manifest einverleibt, das die geschichtliche Richtung der Freiheit zu kennen vorgibt und Handlungsanweisungen für den linken Revolutionär liefert. Von Bodenlosigkeit und Nihilismus ist da plötzlich keine Spur mehr zu vernehmen. Revolte (Camus) und Revolution (Sartre) gingen entsprechend getrennte Wege, der französische Existentialismus hatte sein Schisma. – Ich lasse die überraschende Selbstbegrenzung des Subjekts, das Sartre in seinem berühmten Aufsatz am Ende doch noch in den Dienst einer versöhnlichen Moral und damit der Menschheit stellt (und dafür erhebliche Widersprüche in Kauf nimmt), hier ebenso beiseite wie die auf einem Auge blinde Liaison mit
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Ich erinnere noch einmal daran und betone: Stets setzt die Humanistische Psychologie am einzelnen Menschen, seinem individuellen Erleben, Bewusstsein und Handlungspotential an (auch wenn sie – mal mehr, mal weniger – der Sozialität des Menschen durchaus Beachtung schenkte und auch für soziale Belange und politische Angelegenheiten aufgeschlossen war). Sie verwirft nicht zuletzt die Idee einer objektiven Struktur, die alles menschliche Tun und Lassen mit der Unausweichlichkeit eines allgemeinen Gesetzes bestimmen sollte. Sie entsagt diesem großen Gesetz und verweigert sich vermeintlich unerbittlichen Zwängen, denen der Mensch nun eben einmal unterworfen sei – ob er das nun weiß und wissen mag oder nicht. Sie hält am Menschen fest in einer Zuversicht und Hoffnung mobilisierenden, den Großteil der Kräfte auf das sich aktualisierende, sich verwirklichende Selbst lenkenden Weise. Nimmt man die gegebene Kurzcharakterisierung ernst und konzediert noch einmal, dass die maßgeblichen Stich- und Schlagworte – in der Philosophie also die Angst, die Verzweiflung und das Nichts10 – beredte Auslegungen von tatsächlich existentieller Tragweite erfuhren, dann fragt man sich schon, was denn die Humanistische Psychologie mit all dem noch zu schaffen hat – selbst wenn und gerade weil sie manche dieser Stich- und Schlagworte aufgreift, über kurz oder lang aber doch unabweislich als eine Art unverbesserlicher Mutmacher im düsteren Tal der „nichtenden“ Verzweiflung und jede Orientierung und Hoffnung kühl verweigernden Absurdität erscheint. (Auch Sartres Selbstwidersprüche schaffender Konzeption einer revolutionären Politik ist dem psychologischen Humanismus völlig fremd.) Was ist in den Händen der Humanistischen Psychologie aus dem existentialistischen Blick auf einen Menschen geworden, der, gemessen an seiner einstigen Verfasstheit, unwiederbringlich entfremdet erscheint, fernab von der Erfüllung der ihm von der Metaphysik zugewiesenen Aufgaben. Was widerfuhr dem unerhört Neuen in der Auffassung des
dem revolutionären Sozialismus und Kommunismus (den er als metaphysische Lehre in Gestalt des Materialismus freilich verwirft). 10 Diese Wörter herauszugreifen, ist eine brachiale Vereinfachung, die der Existenzphilosophie kaum gerecht wird – und schon gar nicht der philosophischen Reflexion von Wissenschaft und Technik sowie dem darauf aufbauenden, auf Verfügung und Beherrschung zielenden Zugriff auf die Welt und den Menschen.
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Menschen, der im Existentialismus nicht mehr als von Vernunft durchdrungenes Bewusstsein zelebriert und bedacht wurde: „Nicht in der Helligkeit des Geistes, sondern in unseren Befindlichkeiten, in den Zuständen der Angst, der Langeweile, des Missmuts, der Triebbesessenheit, des Schuldigseins machen wir unmittelbare Erfahrungen des Seins“ (Schmiele 1977: 193). Was also wurde aus dieser Anschauung, die kaum Platz lässt für unmittelbar Behagliches, ungetrübte Selbstverwirklichung und vollkommene Gesundheit sogar, sondern den vereinzelten Menschen ‚unbarmherzig‘ nötigt, sich auf dem Grund seiner verborgenen Angst (in und vor der kontingenten, grundlosen Welt und dem In-der-Welt-sein, nicht vor dieser oder jener identifizierbaren Entität, vor der man sich gemeinhin aus gutem Grund fürchtet) in eher unwirtlichen Gefilden einzurichten, möglichst illusionslos (und möglichst auch ohne den billigen Triumph, den manche der selbst ernannten Existentialisten mit den oft einfach übernommenen, von anderen abgekupferten Entlarvungsgesten verbanden). Gewiss, die Humanistische Psychologie betont mitunter auch die „negativen“ Seiten der irdischen Existenz von Menschen, deren stets mögliche Aggressivität und Destruktivität ja keines Beweises mehr bedarf. Sie warnt davor, die Augen vor dem ‚Bösen‘ zu verschließen und den Kopf in den Sand zu stecken, sobald die Wirklichkeit mit Unansehnlichem aufwartet. Und dennoch war ihr schon das Menschenbild der Psychoanalyse allzu einseitig, zu negativ und pessimistisch und deswegen korrekturbedürftig! Einhellig haderte man nicht nur mit dem menschlichen Hang zum Bösen, sondern auch – und dafür gab und gibt es ja auch starke Gründe – mit dessen Naturalisierung und Festschreibung, sogar schon mit dessen einseitiger Hervorhebung. Demgegenüber rückte man – auch dafür ließen und lassen sich gewichtige Argumente geltend machen – die geschichtlichen und gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen ins Blickfeld, die nicht allein die konkreten Manifestationen dieses Potentials hervorbrächten, sondern auch die (scheinbare) ‚Notwendigkeit‘ zum aggressiven und destruktiven Handeln überhaupt. Wichtig ist: Die humanistischen Psychologinnen und Psychologen glaubten trotz allem an den Menschen und das Gute in ihm. In dieser Hinsicht erwiesen sie sich als wahre Romantiker. Sie neigten über kurz oder lang dann doch sogar zu einer harmonistischen Verklärung des Menschen. Sie waren jedenfalls der Überzeugung, dass es auf der Grundlage der ‚revolutionären‘ Einsichten und mit den Mitteln bzw. Methoden der neuen Psychologie ge-
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lingen könne, aus dem Menschen ein gesundes und glückliches, friedfertiges Wesen zu machen. Ihre Psychologie übernahm insbesondere die Erbschaft JeanJacques Rousseaus, insofern auch dieser den Menschen von Natur aus als gut und allenfalls die Kultur und Gesellschaft, seine eigene zumal, als verderbt und verderblich betrachtete. Der im Grunde gute Mensch mit neuen Aussichten auf eine wie auch immer unvollständige SelfActualization: ein solches Bild des Humanen korrigiert und kompensiert eher ein Denken des Nichts, das in der Angst eine Art emotionales Korrelat mit sich führt, als dass es daran anschließt und ihm Ausdruck verleiht, es fortsetzt und entwickelt. Sieht man genauer hin, so bleibt von einer im philosophischen Denken des Existentialismus wurzelnden Befindlichkeit und andauernden Gestimmtheit der Angst und Verzweiflung nicht allzu viel übrig in der Humanistischen Psychologie. Diese Strömung der Psychologie sucht vielmehr fertig zu werden mit der Unwirtlichkeit der modernen Welt und dem alles zersetzenden Unbehagen, und nicht nur mit diesen Störenfrieden.
V ERHEISSUNGSVOLLES G LÜCK , ERFÜLLTES L EBEN : V ERSPRECHEN UND A UFTRAG DER H UMANISTISCHEN P SYCHOLOGIE Die Humanistische Psychologie bereitet den Glücksversprechen einer schnelllebigen Zeit nolens volens den Boden – gerade weil sie, der Absicht nach jedenfalls, allzu oberflächliche Attraktionen und Avancen verabscheut und einem bloßen „Haben“ das erfüllte, jedenfalls um Erfüllung bemühte und als unausschöpfliches Werden gedachte „Sein“ entgegensetzte. Dieses Sein war gleichwohl nicht mehr das der existentialistischen Philosophie. Man erinnere sich, dass sich dort folgende Einsicht ausgebreitet und festgesetzt hatte: „Dahin sind die festen Werte, dahin die ewigen Wahrheiten, dahin die ethischen Normen und Kriterien für das, was recht und unrecht ist“, schreibt Schmiele (ebd.: 195), bevor er noch einmal Heidegger zu Wort kommen lässt: „Das Denken in Werten ist hier und sonst die größte Blasphemie, die sich dem Sein gegenüber denken lässt“. Nun, daraus kann man den Titanismus eines nur noch vor und für sich selbst verantwortlichen Übermenschen zimmern, der die Angst zum Tode verwunden hat und „entschlossen“ ein Leben führt, in dem er nicht mehr Sinn sucht, sondern
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Sinn setzt, etc. Oder man kann Heideggers Denken fortführen, das Sein vollends entzaubern und dem Menschen, wie Sartre, eine Freiheit zumuten, zu der er „verurteilt“ ist, eine Freiheit, die eine umfassende und radikale Verantwortung einschließt und den Menschen allein auf sich stellt und zugleich ins Zentrum des Geschehens und seiner Reflexion rückt, also ganz in diesem Sinn dem „Humanismus“ eine neue, in neuer Weise anthropozentrische Bedeutung abringt. Oder aber man kann, wie die Humanistische Psychologie, aus der Misere eine einigermaßen erträgliche und von allen Gutwilligen bewältigbare Herausforderung machen – gesetzt, die psychologischen Helfer, die zunächst als Therapeuten, dann bloß noch als Facilitatoren in einem als immerwährende Geburt konzipierten Leben galten, sind zur Stelle und optimieren das erforderliche Wissen und Können eines um seine Verwirklichung bemühten, authentischen Selbst (das viele humanistische Psychologinnen und Psychologen als eine Essenz auffassen, als zwar verborgenen inneren Kern eines Menschen, der aber entdeckt und befreit werden kann. Genau diese Selbstsuche betrachteten sie zudem als einen fundamentalen Wert, dem sie andere zur Seite stellten). Die Humanistische Psychologie verfocht diesen „Glauben aus Trotz“ im 20. Jahrhundert, ohne völlig unrealistisch oder irrational, naiv und illusionär gar, sein zu wollen. Vergegenwärtigt man sich die Weltanschauung und das Menschenbild des Existentialismus, wird man dennoch sagen dürfen, dass in den Händen der Humanistischen Psychologie ziemlich schnell alles etwas abgemildert wird auf ein handhabbares, erträgliches Maß. Wo die Schriftsteller ihre Figuren umherirren und gleichgültig verzagen oder weitermachen ließen, wird ihnen von der humanistischen Psychologie ein erfüllbares Bedürfnis nach Orientierung und Sinn zugeschrieben. Wo der schwarze Blick der Literaten das Humane unumkehrbar in die Entfremdung, Einsamkeit und Leere zwingt, winkt der neue Humanismus der Psychologie mit authentischen Erlebnissen, kontinuierlicher Selbsterfahrung und lebenslanger Selbstverwirklichung. Die Botschaft der Psychologie wirkt wie ein tröstendes Versprechen auf Glück vor dem Hintergrund unheilbarer Verzweiflung, der man allenfalls noch mit einer zur Gleichgültigkeit gesteigerten Gelassenheit begegnen konnte. Freilich kommt dieses Glück nicht von allein. Es will und soll errungen werden durch beständige Arbeit an sich selbst. Dabei wollte die Humanistische Psychologie den Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt unterstützen. Sie war überzeugt, just dafür ein exklusives Wissen und
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Können geschaffen zu haben (über das freilich nur die Eingeweihten, Geschulten und Trainierten verfügen). Sie empfahl sich als mäeutischen Begleiter auf dem Weg zu neuen Ufern – als sei das Ruder noch einmal herumzureißen, als sei der moderne Mensch aus dem Schwund- und Schwebezustand einer nervösen Spannung und neurotischen Verunsicherung, die zu depressiver Verstimmung und nihilistischer Selbstauflösung neigt, herauszuführen. Die „dritte Kraft“ empfahl sich ganz entschieden als Wegbegleiter auf dem verheißungsvollen Pfad einer säkularisierten und individualisierten Heilsgeschichte. An deren Ausgang wartete die mit seinem authentischen Selbst identische fully functioning person (Carl Rogers) in eupsychia (Abrahamn Maslow, der mit diesem Namen eine heile Welt gesunder Menschen utopisch vorwegnahm). Diese Idee war vielleicht doch ein wenig ‚angepasster‘ (‚affirmativer‘), als es die vielfach ‚gesellschaftskritischen‘ humanistischen Psychologinnen und Psychologen erkennen und dulden wollten. Der seine wahren Möglichkeiten voll ausschöpfende Mensch hatte gleichwohl das Glück einer Selbstverwirklichung am Schopf gepackt, die zwar mühsam errungen, aber aus psychologischer Einsicht und eigener Erfahrung, mithin aus freien Stücken angestrebt worden war. Die Humanistische Psychologie war bekanntlich keineswegs nur eine weltanschauliche Bewegung, sondern auch ein leidenschaftlicher Versuch einer Neubestimmung der wissenschaftlichen Psychologie. Zumindest einige Vertreter setzten sich mit aller Kraft dafür ein, dass die neue Psychologie als Wissenschaft Anerkennung finden sollte – und nicht nur als Weltanschauung und professionell angeleitete Psychopraktik, die den Menschen schon gut tun und über kurz oder lang der sozialen Welt wahrlich menschliche Züge verleihen werde (und so auch die Natur vor der Zerstörung bewahre). Es ging einigen schon auch um ein an Prinzipien methodischer Vernunft orientiertes Denken und Forschen. Die Humanistische Psychologie als eine systematisch begründete Erfahrungswissenschaft wollte die teilweise fragwürdig gewordenen Pfade der naturwissenschaftlich-experimentellen, nomologischen Psychologie nicht mehr beschreiten – ohne deswegen „unwissenschaftlich“ zu werden und methodischer Rationalität eine Absage zu erteilen. Es ging vielmehr um eine begründete Erweiterung des Begriffs „Wissenschaft“ und ihrer methodisch kontrollierten Praxis der Erfahrungs- und Erkenntnisbildung – jedenfalls dem Anspruch nach. Viel stärker als dieses (oft nicht konsequent verfolgte) Anliegen tritt in
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der Humanistischen Psychologie jedoch ihr Welt- und Menschenbild hervor. Das weist, wie gezeigt, teilweise regelrecht anti-existentialistische Züge auf. Die Humanistische Psychologie ist kein Existentialismus, und selbst eine Verwandte im Geiste kann sie kaum genannt werden. Das sieht nur so lange so aus, wie man sich an erste Anmutungen hält und naiv darauf vertraut, dass das Auftauchen von ein paar gemeinsam gebrauchten Wörtern auch tiefere Gemeinsamkeiten im Denken verbürgt. Wer dieses Vertrauen nicht aufbringt und genauer hinschaut, wird der gängigen Diagnose einer Verwandtschaft zwischen Existentialismus und Humanistischer Psychologie eine deutliche Absage erteilen. Dazu ist es noch nicht einmal erforderlich, dass viele Repräsentantinnen und Verteidiger der Humanistischen Psychologie mit Sartres radikalem Atheismus so rein gar nichts hätten anfangen können (und heute anzufangen wissen). Es ist nicht nebensächlich, dass diese Psychologinnen und Psychologen durchaus persönliche Affinitäten zum Bereich des Religiösen pflegten – was sogar in manchen theoretischen Ansätzen, etwa in der Transpersonalen Psychologie eines Abraham Maslow, deutlich wird. Sartre würde sich wohl, könnte man ihn heute noch zur Kenntnisnahme solcher psychologischer Theorien und ihrer anthropologischen Grundannahmen bewegen, im Grabe umdrehen. Diese Vermutung sei hier wiederum nicht als eine Stellungnahme für oder gegen Sartres existentialistischen Humanismus oder die Humanistische Psychologie verstanden. Ein entschiedenes Plädoyer für die Unterscheidung des zutiefst Verschiedenen enthält sie allerdings schon. Wie anders ließen sich nicht zuletzt folgende Äußerungen Sartres verstehen, mit denen ich diese kleine Abhandlung beschließen möchte: „Der Existentialismus ist nichts anderes als eine Bemühung, alle Folgerungen aus einer zusammenhängenden atheistischen Einstellung zu ziehen.“ (Ebd.: 35)
Und weiter schreibt Sartre: „der Mensch muß sich selber wieder finden und sich überzeugen, daß ihn nichts vor ihm selber retten kann, wäre es auch ein gültiger Beweis der Existenz Gottes.“ (Ebd.: 38).
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Neuer Biss Mundpflege für die Humanistische Psychologie des 21. Jahrhunderts J ÜRG G. K OLLBRUNNER
Die Humanistische Psychologie ist keine wohldefinierte psychologische Disziplin, sondern eine Bewegung innerhalb und außerhalb der akademischen Psychologie, deren Entwicklung mehr chaotisch als diszipliniert verlief. Sie befindet sich heute, ein halbes Jahrhundert nach ihrer Begründung, in einer schwer zu beschreibenden Verfassung, scheint aber einer eher grauen Zukunft entgegen zu dämmern. Der vorliegende Beitrag soll zu Gedanken anregen, wie die außerordentlich wertvollen zentralen Denk- und Handlungsansätze der Humanistischen Psychologie neu belebt werden könnten.
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Als Reaktion auf die Traumen der beiden Weltkriege und enttäuscht darüber, dass die damals existierenden Formen der Psychologie kaum etwas zur Verhinderung oder Begrenzung dieser Katastrophen beigetragen hatten, haben Abraham Maslow und Clark Moustakas 1957 und 1958 zu zwei psychologischen Meetings in Detroit eingeladen, um mit Gleichgesinnten einen „dritten Weg“ zwischen der positivistischen, reduktionistischen Mainstream-Psychologie des Behaviorismus und der deterministischen, triebtheoretisch fundierten klassischen Psychoanalyse zu entwerfen. Mit der Gründung der „Association of Humanis-
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tic Psychology“ (AHP) 1961 und der ersten AHP-Konferenz 1964 in Old Saybrook, an welcher auch Gordon Allport, James Bugental, Charlotte Bühler, Rollo May und Carl Rogers teilnahmen, entstand eine hoffnungsvolle, konstruktive Sicht auf die Menschen und deren grundsätzliche Fähigkeit zur Selbstverwirklichung, die schnell begeisterte Anhänger fand, auch weil sie in der damals aufkeimenden Abbildung 1: Flower-Power
Hippie-Bewegung, der Frauenbefreiungs-Bewegung, der „Gay-Liberation“ und im „Human Potential Movement“ ideale Synergien fand (Serlin/Criswell 2001). Im ganzen Land entstanden Encounter- und Selbsterfahrungszentren. Erstaunlich schnell wurde die neue Psychologie auch an den Universitäten anerkannt, so dass zum Beispiel in Kalifornien in den 70er Jahren ein Ph. D. des Humanistischen Instituts gleich viel galt wie ein behavioristischer Ph. D. der Universität Los Angeles. Sogar Gesetze wurden in kurzer Zeit verändert, damit PsychologInnen, SozialarbeiterInnen oder FamilienberaterInnen Psychotherapie selbständig ausüben durften (O‘Hara 1995). Mit wenig Zeitverzögerung schwappte dann die Encounter- und Selbsterfahrungswelle auf Europa über.
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D IE K RISE Obschon die Angebote humanistisch-psychologischer Dienstleistungen für alle offen waren, zeigte sich bald, dass die meisten Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus der reichen, gebildeten, weißen Mittelschicht Nordamerikas stammten (Geiser 1999). Auch in Europa konnten sich nur wenige Menschen aus tieferen sozialen Schichten die Exklusivität der organisierten Selbstentfaltung leisten oder kamen auf Grund geringer Bildung gar nicht auf die Idee, eine solche anzustreben. Besonders viele Frauen des Mittelstandes fühlten sich von der neuen Bewegung angezogen (und nicht wenig Männer durch die vielen Frauen). Feministinnen kritisierten jedoch, die Humanistische Psychologie propagiere eine einzelgängerische und heldenhafte Selbstentdeckung: Die Natur soll gebändigt, die Materie bezwungen, der Körper transzendiert werden; Individuation, Differenzierung und Abstraktion werde gefördert (Serlin/Criswell 2001). Tatsächlich ist die große Mehrheit des in der Humanistischen Psychologie schriftlich Theoretisierten von Männern geschrieben worden, welche das Gender-Thema häufig ignorierten (Alfandary 1993). Dementsprechend hatten in den ersten 15 Jahren des Bestehens der AHP neben elf Männern nur drei Frauen das Präsidium geleitet (ebd.). Ein weiteres Problem entstand aus der immer stärkeren Vermischung der Humanistischen Psychologie mit der asiatisch und esoterisch gefärbten New-Age-Bewegung sowie ihrer Erweiterung um den Zweig der „Transpersonellen Psychologie“ (meditative, spirituelle, schamanische Techniken), so dass aus der Bewegung ein riesiger Markt wurde, dessen Angebot von ernsthafter Selbsterfahrung bis zu krimineller Scharlatanerie reichte (Geiser 1999). Neben selbsterklärten „Gurus“ begannen auch einige anfänglich seriös arbeitende humanistische Psychologen einen autoritären Therapiestil mit einer implizit besserwisserischen Moral zu entwickeln (Wiltschko 1998) und waren gleichzeitig wenig bereit, die Verantwortung für ihre dadurch unvermeidliche Machtstellung zu übernehmen (Alfandary 1993). Joyce Milton, eine amerikanische Bestseller-Autorin, hat nach dem Tod ihres Lebenspartners, der in seinen letzten Lebensjahren schrecklich gelitten hatte, ihre Wut über den Verlust in einer Hasstirade über die verweichlichte Selbstfindungsbewegung, welche keine Ahnung von den wirklich lebenswichtigen Problemen habe, ausgedrückt (Milton 2002). Diese Eruption ist zwar überspitzt, beschreibt aber doch trefflich die
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Vorwürfe, die dem zunehmend diffuser werdenden Gemisch von Humanistischer Psychologie und New Age mit teilweise propagiertem freiem Sex und Drogengebrauch entgegenbrandete (s. Seamans 2003): Abbildung 2: Encounter in Poona
Ruth Benedikt sei eine heimliche Lesbe gewesen, Margaret Mead habe schlampig geforscht, Betty Friedan habe ihre radikale Vergangenheit verschwiegen, Carl Rogers habe es geschafft, eine ganze religiöse Gemeinschaft zu zerstören (vgl. unten), Chuck Dederich habe keinen Widerspruch ertragen (und sei vermutlich nicht sehr intelligent gewesen), Fritz Perls habe ein riesiges Ego gehabt und sei ständig hinter den Frauen her gewesen, Timothy Leary sei ein drogenbesessener Schwindler gewesen, Alfred Kinsey habe ins Spital eingeliefert werden müssen, nachdem er sich im Büro selbst am Hodensack aufgehängt hatte, Alan Watts habe im Herumsitzen literweise Gin gesoffen und Abraham Maslow, der oberste Lehrer der Selbstverwirklichung, habe oft an Depressionen gelitten. Insgesamt seien die humanistischen Psychologen statt ins Paradies der vollen Selbstverwirklichung zu schweben in einer Kultur des Narzissmus gestrandet, die sie sich mit viel Psychogeschwätz selbst gebaut hätten. Auch die weltpolitische Entwicklung war der Humanistischen Psychologie nicht förderlich: In den 1970er und 80er Jahren kamen die ökonomischen Krisen (erste Ölkrise und hohe Staatsverschuldung wegen des Vietnamkriegs; zweite Ölkrise während des Golfkriegs zwi-
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schen Irak und Iran) und die Rückschritte durch einen politischen Konservativismus, der viele progressive Bewegungen bremste (Alfandary 1993). Der Humanistischen Psychologie wurde verstärkt vorgeworfen, die von ihr abgeleiteten Behandlungsformen zeigten keine wissenschaftlich validen Erfolge. Versicherungen begannen nur noch die Kosten für jene Therapien zu übernehmen, die gemäß „Evidenz basierter Medizin“ (EbM) innerhalb kurzer Zeit eine ICD- oder DSMDiagnose (beides sind rein deskriptive Kategorisierungssysteme für gesundheitliche Störungen) auflösen konnten (O‘Hara 1995), was fast nur über verhaltenstherapeutische Symptomkorrektur zu erreichen war und ist. Unter diesen Bedingungen wurde die Humanistische Psychologie mehr und mehr aus den Universitäten ausgeschlossen. Von den Kritikern wurde festgestellt, sie habe es verpasst, ihre zentralen Begriffe gesellschaftlich zu reflektieren, eine explizite erkenntnistheoretische Position einzunehmen und insgesamt eine kohäsive, einheitliche Theorie zu entwickeln (Seidel 2004: 95). Doch die Stärke der Humanistischen Psychologie liegt gerade in ihrer Fähigkeit, aus verschiedenen Disziplinen zu schöpfen, um den Eklektizismus und „das Chaos, welches im Kern der menschlichen Erfahrung liegt, zu reflektieren“ (Alfandary 1993: 7), so dass es unwahrscheinlich ist, dass sie je eine einheitliche Theorie der menschlichen Entwicklung formulieren wird. Sie ist also auf gewisse Weise grundsätzlich zum Eklektizismus verurteilt. Und dies schwächt sie schwer. In einem Wissensbereich, in welchem keine verbindlichen Leittheorien existieren, geht die Falsifizierbarkeit von Aussagen bald verloren: Fast alles darf behauptet und nichts kann mehr überprüft, falsifiziert oder verifiziert werden. Die Humanistische Psychologie wurde dadurch selbstabdichtend und für Kritik von außen wie von innen nur noch schwer erreichbar. Zusätzlich, aber nicht überraschend, wurde sie schon bald von Vertretern anderer selbstabdichtender Wissens- oder Glaubenssysteme attackiert. Evangelikale Christen sahen in ihr eine Ansammlung von Psychotechniken, mit welchen der Mensch nur manipuliert werde: „Humanistisch“ bedeute, „die Menschen von den gesellschaftlichen Werten zu befreien“, diese Werte „skrupellos zu brechen, Leistungsverweigerung, Drogenkonsum und sexuelle Freizügigkeit zu propagieren“ (Barben 2005: 4). Das Welt- und Menschenbild der Humanistischen Psychologie stehe zur Lehre der Bibel in einem unvereinbaren Widerspruch. Diese Behauptung war schon in der Gründungszeit der Bewegung laut geworden: Ab 1967 hatte Carl Rogers mit den Nonnen
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des römisch-katholischen Ordens „Marias unbeflecktes Herz“ (der in Kalifornien ein College, acht High-Schools und 50 Grundschulen betrieb) eine Serie von Encountergruppen durchgeführt. 1970 verließen 300 Nonnen den Orden, so dass sich dieser auflösen musste. Die meisten Nonnen schlossen sich aber sogleich zu einer Laienorganisation zusammen, die unter ähnlichem Namen bis heute ihre Bildungsinstitutionen weiter betreibt. War die Humanistische Psychologie Schuld an diesen Austritten? Ja, das kann man so vermuten. Aber man kann es auch anders sehen: Der Grund, welcher die Nonnen zur Idee der Encounter-Unternehmung geführt hatte, war ein lange zuvor entstandener Konflikt vieler Nonnen des Ordens mit dem konservativen Kardinal McIntyre von Los Angeles (Kugelmann 2005). So scheint es eher so zu sein, dass die Humanistische Psychologie mit dazu beigetragen hat, den unter einem patriarchalischen Herrscher leidenden Ordensfrauen zu ermöglichen, ihre Arbeitsbedingungen so zu verändern, dass sie ihre Religiosität kreativ entfalten und ihrer christlichen Mission effektiver dienen konnten. Die Ängste, welche fundamentalistisch Gläubige gegenüber der Humanistischen Psychologie empfinden können, haben aber vielfältige Anschuldigungen und Abwehrbewegungen hervorgebracht, bis hin zu Verhaltensanweisungen für den Fall, dass man unfreiwillig Teilnehmer einer ihrer Sitzungen würde: „Denken Sie gute Gedanken und hören Sie nicht zu, was in diesen Sitzungen besprochen wird, weil das, was gesagt wird, Ihren Widerstand allmählich brechen wird.“ (Coulson, zit. J. Barben 2005: 9).
Dazu gehöre, selbst zu lächeln und zu nicken, aber mit den Gedanken woanders zu sein. Eine so radikale Abwehr des Gedankenguts der Humanistischen Psychologie ist aber nur die Spitze eines Eisbergs. Denn wir alle empfinden Angst, wenn wir auf der Suche nach unserem Inneren und im Wagnis konfrontativer Begegnungen mit anderen – wie sie durch die Humanistische Psychologie angeregt werden – neben sanften und euphorischen Stimmungen auch wilden Gefühlen und bösen Gedanken begegnen. Vielleicht sind diese Ängste – ähnlich wie bei der Rezeption der Psychoanalyse – die stärkste Kraft, welche der weiteren Entwicklung und Verbreitung der Humanistischen Psychologie im Wege standen.
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Die Mitgliederzahlen ihrer Organisationen schwanden und an den Universitäten war die Lehre kaum mehr repräsentiert (Cain 2003). Selbst alte Pioniere der Bewegung meinten: Die Humanistische Psychologie ist in Gefahr, einfach zu verschwinden (Martin 2002).
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Maureen O‘Hara, ehemalige Präsidentin der AHP, hatte 1995 einen einzigartigen „Weckruf“ erschallen lassen: Die humanistische Bewegung in der Psychologie habe als eine Art Kulturkrieg begonnen, sei aber jetzt in Gefahr, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Die Gemeinschaft der humanistischen Psychologen habe deshalb keine Wahl. Sie müsse sich erneut im Kampf engagieren, aus dem sie 1960 geboren worden sei: Abbildung 3: Dentagard Biber
„Ob es uns passt oder nicht, wenn die humanistisch-psychologische Praxis überleben soll, müssen wir uns ein weiteres Mal in die Paradigmen-Kriege, die unsere Disziplin prägten, hineinwagen und die Fragen unserer Weltsichten, Methoden, ethischen Grundsätze und höchsten Ziele wieder aufgreifen.“ (O’Hara 1995: 2)
Die humanistisch-psychologische Weltsicht müsse wieder artikuliert werden und das „Human Potential Movement“ müsse neu erfunden werden. Gehandelt werden müsse jetzt, und Kompromisse sollten
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keine eingegangen werden (ebd.: 3). Rony Alfandary (1993) schrieb ähnlich kämpferisch, dass die Humanistische Psychologie aufhören solle, eine „akzeptable“ und „respektable“ Disziplin in den Augen der Etablierten zu werden. Sie solle sich nicht länger als empirizistische Wissenschaft verkleiden, sondern neue Grundregeln setzen, ihre Augen für mehr – nicht weniger – Einflüsse öffnen und unterschiedliche kulturelle Perspektiven einnehmen. Ähnlich sprach Brian Thorne im Juli 1997 auf dem Kongress der klientenzentrierten PsychotherapeutInnen in Lissabon (zit. n. Geiser 1999): Wir müssen unsere Integrität sichern und sollten aufhören, die Akzeptanz derjenigen zu erlangen, die die finanziellen Mittel in der Hand haben und die Macht ausüben. Der emeritierte Chicagoer Psychologieprofessor Mihaly Csikszentmihalyi stieß ins gleiche Horn: Die Psychologie habe ihre Entwicklung so sehr der Neurologie und den kognitiven Wissenschaften untergeordnet, dass es jetzt für die Humanistische Psychologie Zeit sei, die Kompetenz für ihre Themen zurückzufordern. Viel Arbeit sei notwendig, wenn der Einfluss der humanistischen Perspektive mit jenem der reduktionistischen ebenbürtig werden soll: „Die Kampflinien sind gezogen. [...] Wird der Wettkampf damit enden, dass der Mensch nichts anderes ist als ein Platzhalter für die komplexen Impulse, die im Gehirn programmiert sind? Oder werden wir ein anderes Bild zur Verfügung stellen können, das dem Individuum eine einzigartige Identität und Macht verleihen wird?“ (Csikszentmihalyi 2001: XVII).
Der Autor meint optimistisch, es gebe Zeichen dafür, dass der Zauber der mechanistischen Ansätze langsam zerbreche, und der kalifornische Senator John Vasconscellos schrieb im Vorwort des 2001 herausgegebenen neuen Handbuchs der Humanistischen Psychologie: „Dieses Buch zeigt, dass unsere Zeit für die Humanistische Psychologie gekommen ist“ (Vasconsellos 2001: XIV).
H EUTIGER S TAND : N AHEZU R ESIGNATION Die internationale Web-basierte Vereinigung der Humanistischen Psychologie mit Sitz in Michigan, USA, unterhält eine Internetplattform fürs Networking Humanistischer PsychologInnen rund um die Welt. Aber diese ist fast leer; die meisten Seiten stehen noch „under
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development“ (IHPA 2010). Die amerikanische AHP ist immer noch aktiv als Herausgeberin des „Journal of Humanistic Psychology“ und als Vermittlerin von akademischen Ausbildungen, in welchen noch heute ein M.A. oder Ph.D. in Humanistischer Psychologie erworben werden kann (AHP 2010). Die „American Psychological Association“ (APA) unterstützt in der „Division 32“ weiter die „Society for Humanistic Psychology“ und gibt die Zeitschrift „The Humanistic Psychologist“ heraus. In Großbritannien sind die „Association for Humanistic Psychology in Britain“ (AHPB) als Herausgeberin der Zeitschrift „Self & Society“ und die „Association of Humanistic Psychology Practitioners“ (AHPP) aktiv. Abbildung 4: Hoffnungslosigkeit
Aber große Auswirkungen auf Forschung, Lehre, und Praxis scheinen diese angloamerikanischen Institutionen nicht mehr zu haben. Eine Online-Suche auf der internationalen PsycInfo-Datenbank im August 2010 ergab zum Stichwort „Humanistic Psychology“ im Titel von wissenschaftlichen Publikationen (Zeitschriften, Bücher, Rezensionen) nur 69 Einträge für die vergangenen zehn Jahre. In Deutschland sind das privatwirtschaftliche „Institut für Humanistische Psychologie“ (IHP) und der „Verlag für Literatur zur Humanistischen Psychologie“ (u.a. als Herausgeber der Zeitschrift „Gestalttherapie“) noch aktiv. Die „Deutsche Gesellschaft für Psychologie“ (DGP) führt unter ihren 15 Fachgruppen keine zur Humanistischen Psychologie, hingegen existiert in der Sektion „Differenzielle Erziehungs- und Bildungsforschung“ der „Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“ (DGFE) eine Kommission „Pädagogik und
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Humanistische Psychologie“. In der Schweiz ist eine „Einführung in die Humanistische Psychologie im Rahmen der Workshops für spirituelles Heilen der „Schweizerischen Vereinigung für Parapsychologie“ (SVPP) zu finden – geleitet von einer Tierärztin. Zentrale Impulse der frühen Humanistischen Psychologie sind zwar in vielerlei Formen weitergetragen worden und kommen heute in humanistisch-psychologischen Therapien (Klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie, Gestalttherapie, Bioenergetik, verschiedene Formen der Körper-, Familien- und systemischen Therapie), in der Pädagogik – z. B. als Themenzentrierte Interaktion (TZI) –, in der Organisationsentwicklung und in politischen Bewegungen (Grüne, Friedens-, Feminismus-, Schwulen- und Lesben-Bewegung) weiterhin zum Ausdruck. Aber als eigenständige Basisbewegung innerhalb der Psychologie scheint sich die Humanistische Psychologie weiter in Auflösung zu befinden, tragischer Weise nicht nur mit stillschweigendem, sondern sogar artikuliertem Einverständnis vieler humanistischer PsychologInnen. Anders kann die Erklärung der AHP auf ihrer Homepage (2010: 5) nicht verstanden werden. Dort heißt es, dass die Humanistische Psychologie nicht mehr die „Humanistische Psychologie“ sei, weil sie die Mission, für die sie gegründet worden sei, bereits erfüllt habe.
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Vielen Menschen geht es heute nicht gut. Den Armen der Entwicklungs- und Schwellenländer geht es aus politischen Gründen grundsätzlich schlecht und jene der ersten Welt – die eigentlich alles haben – scheinen sich eher kränker als gesünder zu fühlen. Gefühle der Unwirklichkeit, Entpersonalisierung und Einsamkeit nehmen zu (Zur 2006) und psychosomatische Erkrankungen entwickeln sich immer häufiger bis zur Chronifizierung. Eigentlich wäre die Humanistische Psychologie eine ideale theoretische Referenz für die Psychosomatik gewesen. Da aber diese auch in eine schwere Krise geraten ist (vgl. Kollbrunner 2010), konnten sich auch hier keine Synergien entwickeln. Aber die Humanistische Psychologie hätte ja auch der Motivator für gesundheitspolitische Innovationen werden können. Sie hätte aufzeigen können, unter welchen ökologischen, ökonomischen und
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gesellschaftspolitischen Bedingungen Gesundheit ermöglicht, ja geschaffen werden kann. Warum ist ihr das nicht gelungen? Naheliegende Antworten auf diese Frage sind: • Die Humanistische Psychologie hat es nicht geschafft, den ihr be-
sonders nahe stehenden „idiographischen (qualitativen, geisteswissenschaftlichen) Ansatz zum Erkenntnisgewinn“, in welchem dem Erleben des untersuchten Subjekts und der Subjektivität des Forschers hohe Aufmerksamkeit gewidmet werden (Jaeggi 2002), dem nomothetischen (quantitativen, naturwissenschaftlichen) als gleichwertig gegenüberzustellen. Sie hat sich nie ganz von den Methoden und Strategien der naturwissenschaftlich konzipierten Psychologie befreit (Giorgi 2005). • Der Neobehaviorismus geht heute zwar von der Relevanz innerer (nicht-beobachtbarer) Prozesse aus, hat aber dennoch als sein dominantes Forschungsparadigma die Ableitbarkeit innerer Prozesse von beobachtbaren Daten beibehalten. Der Kognitivismus betont seit je die Dominanz kognitiver Prozesse und versteht Denken und Sprechen als Formen der Informationsverarbeitung analog dem Computermodell (Jaeggi 2002). Zusammen zeigen die beiden in der „Kognitiven Verhaltenstherapie“ (KVT) relativ schnell erreichbare Symptomkorrekturen, nicht aber kausale und nachhaltige therapeutische Effekte. Der Nachweis der Effizienz evidenzbasierter Kurztherapien der KVT ist – entgegen vielen Behauptungen – nie gelungen (Elkins 2009). Die Humanistische Psychologie hat es verpasst, diese Tatsachen gebührend herauszustellen. • Die Humanistische Psychologie hätte mit Vehemenz auf die Nachteile der von der evidenzbasierten Medizin geforderten MultizenterRCTs („Random Controlled Trials“) als optimalen Nachweis der Effizienz von Therapien hinweisen müssen. Und sie hätte sich effektiver gegen die selbstverständliche Verwendung von DSM („Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“) und ICD („International Statistical Classification of Diseases“) als alleinige Maßstäbe für Therapieerfolg sowie gegen die Tendenz, psychologische Therapien vorwiegend nach standardisierten Manualen durchzuführen, wehren müssen (Leitner 2003). • Die Humanistische Psychologie hätte sich deshalb auch entschiedener gegen die stark anwachsende Tendenz, Gesundheit und Krankheit nach Managed-Care-Modellen zu verwalten, wehren müs-
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sen. Die „Managed-Care-Gesellschaft“ entspricht einer Industrialisierung der Medizin (O‘Hara 1995), in der humanistisch-psychologische Therapieformen keinen Platz mehr finden, weil sie länger dauern und deshalb teurer sind und weil ihre Erfolge schlecht gemessen werden können. Dafür wandern die von der Schulmedizin Enttäuschten schneller in quasi-therapeutische Gegenkulturen und die Esoterik ab (Geiser 1999). Tiefgründigere Antworten sind: • Die holistischen und qualitativen Ansätze zum Erkenntnisgewinn,
die die Humanistische Psychologie vermutlich mehr als jede andere Theorie vertritt, verlangen vom Forscher, von der Therapeutin und auch der Leserschaft viel. Sie konfrontieren mit der je eigenen subjektiven Wirklichkeit und fordern dazu auf, neue Vorstellungen von Reliabilität, Validität und Generalisierbarkeit zu entwickeln (Leitner 2009). • Die Humanistische Psychologie hat sich auf eine zu enge Definition der menschlichen Erfahrung beschränkt (Kuhn 2001). Sie tendierte zur Verherrlichung des Selbst und zur Vernachlässigung der gesellschaftlichen und ökologischen Bedingungen, in welchen das Selbst wachsen kann. Es fehlte von Beginn an ein „Referenz-Punkt außerhalb des Selbst“ (Garrison 2001). Die Humanistische Psychologie ist zu wenig relational und soziozentrisch (Geiser 1999), denn sie kann sich nur dann vorwärtsbewegen, wenn sie die Realität der menschlichen Erfahrung als verkörperte, soziale und geistige Partizipation an einem großen Ganzen anerkennt. Die Sicht auf die Menschen als Individuen und Angehörige von Kleingruppen muss nicht nur auf Großgruppen und Staatsbürger, sondern auf WeltbewohnerInnen ausgeweitet werden. • Das zu exklusive Bemühen um Selbstverwirklichung hat die Humanistische Psychologie in eine Degradierung der Umwelt zu einem günstigen oder ungünstigen Nährboden für die Entwicklung der Einzelperson geführt (Geiser 1999). Es ist an der Zeit, unsere psychologische Beziehung zur gesamten Umwelt, die nur in einer neuen Form von Empathie verstehen gelernt werden kann, neu zu gestalten. Die Humanistische Psychologie muss zu einer „ökologischhumanistischen Psychologie“ werden (Kuhn 2001).
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• Viel zu lange wurden „die wichtigsten psychologischen, sozialen,
ökologischen, ökonomischen und politischen Themen nicht mehr richtig aufgegriffen“ (Goldberg 2000). Die krankmachenden Gefühle von Machtlosigkeit und Bedeutungslosigkeit müssen in einer globalisierten Welt neu verstanden (Martin 2002), die Gesetze des Cyberspace und die Wirkungsweisen der modernen Medien gründlich analysiert werden (Criswell 2003). Der Technologisierung der Kultur und den vielfältigen Formen von Machtmissbrauch muss getrotzt, die weltweite Armut muss bekämpft (Diaz-Laplante 2007) und die Werte vom Teilen und Kooperieren sollten effektiver betont werden (Goldberg 2000). Die vielleicht tiefgründigste Antwort auf die Frage, warum die Humanistische Psychologie heute fast zur Bedeutungslosigkeit verblasst ist, kann in der Feststellung gefunden werden, dass sie das wichtigste Problem, das der Menschheit je begegnet ist, aus den Augen verloren hat: Das Böse und dessen verheerende Auswirkungen (Goldberg 2000). Zwar gibt es ‚Das Böse‘ als Objekt nicht, aber wir alle haben die Potenz in uns, ‚böse‘ zu handeln, das heißt, durch ein Streben nach einem nicht lebensnotwendigen Vorteil die Schädigung eines anderen hinzunehmen. Die mit dem Bösen verbundenen Gefühle und Einstellungen – Hass, Intoleranz, Vorurteile – durchdringen alle ernsten sozialen Probleme (ebd.) und müssen deshalb unter globalisierten Bedingungen neu analysiert werden. Insbesondere muss „die tragische ‚Fähigkeit‘, Empathie für andere zurückzuziehen, so dass diese nicht mehr als menschliche Wesen betrachtet werden und deren Zerstörung tolerierbar erscheint“ (Pilisuk 2007: XI), dringend besser verstanden werden. Die Humanistische Psychologie, welche – im Unterschied zu vielen anderen Psychologien – schon von Anfang an nicht nur die Suche nach Beschwerdefreiheit und hoher Lebensqualität, sondern auch die Erforschung der dunklen Seite der menschlichen Erfahrung im Visier hatte (z.B. May 1974), wäre für diese Aufgabe besonders geeignet.
E INE
VERBLASSTE
K ONFRONTATION
Gewalttätige Handlungen von Erwachsenen und Jugendlichen scheinen seit einigen Jahrzehnten zuzunehmen; nicht unbedingt die Anzahl
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der Fälle, wohl aber ihr Ausmaß, ihre Brutalität: Auf ein bereits wehrlos am Boden liegendes Opfer wird weiter eingeschlagen, eingetreten, und Amokläufer töten wahllos Unbeteiligte. Wir leben in einer Zeit, in der Gewalt besonders gut gedeihen kann. Eine Vielzahl von Kriegen und Bürgerkriegen wurde und wird in der Gegenwart mit exzessiver Gewalt geführt, und zwar nicht nur in Entwicklungsländern (z.B. in Sierra Leone, Ruanda, Uganda oder dem Sudan), sondern auch unter Beteiligung angeblich so kultivierter Länder wie den USA (in Afghanistan und Irak), Russland (in Tschetschenien) und Israel (in Palästina). Abbildung 5: Krieg
Im Irak sind in einem Krieg, für dessen Legitimation Gefälligkeitsgutachten von Geheimdiensten herhalten mussten, innerhalb von fünf Jahren über 650.000 Menschen, davon 200.000 Zivilisten, ums Leben gekommen. Auch über 4.000 alliierte Soldaten sind gestorben. Eine Million amerikanische Kinder haben Eltern, die im Irak oder in Afghanistan im Einsatz waren. 18.000 kamen schwer verwundet zurück; 3040% der Kriegsheimkehrer leiden unter gravierenden psychischen Schäden. Zur materiellen Seite dieses Krieges schrieb Marc Pilisuk, der Autor des Buches „Who benefits from global violence and war?“: „Die Kosten für fünf Jahre Krieg im Irak betragen mehr als eine Billion [1000 Milliarden] Dollar. Dies ist ein Betrag, den ich mir nicht vorstellen kann. Ich weiß aber, dass das gleiche Geld zur Lösung schwerster Probleme gedient hätte: den Welt-Hunger, die AIDS-Epidemie, Unterkunft für Obdachlose, Bildung und Gesundheitswesen für jedermann, Erforschung alternativer Energien um die globale Erwärmung zu bekämpfen, Säuberung der Umwelt von karzinogenen Stoffen, Warnungs- und Reaktionssysteme für Naturkatastrophen
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wie Hurrikane, Überschwemmungen und Erdbeben, Garantien sozialer Sicherheit“ (Pilisuk 2007: X).
Kriege und die meisten anderen Formen von Gewalt sind keine Unfälle. Es sind Produkte der von Menschen erschaffenen sozialen Ordnungen, die bewusst oder zumindest „ahnungsbewusst“ geplant, ausgeführt und dann – mit Hilfe von Medien, die unter dem Einfluss mächtiger Interessengruppen stehen – als normal, natürlich und unvermeidlich dargestellt werden. Unter den vielen Formen von Gewalt (militärische oder ökonomische, direkte oder strukturelle, physische oder psychische) ist die militärische die tiefgreifendste, gleichzeitig aber nicht mal die gefährlichste: „Wir konsumieren und beuten unsere Umwelt auf eine Art aus, welche Menschen, besonders Kinder, tötet. Dieses Muster von Investition und Ausbeutung hat schon zu mehr Verlusten an menschlichem Leben geführt als alle Kriege“ (Pilisuk 2007: X).
Die enge Verknüpfung von Gewalt, ökologischer Ausbeutung und ökonomischer Rücksichtslosigkeit hat Naomi Klein in ihrem Bestseller „Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus“ (2009) fast unerträglich deutlich beschrieben: Sie schildert darin, wie die „Chicago Boys“, Schüler des radikal neoliberalen Ökonomen Milton Friedman, in Chile und Argentinien die Machtergreifung durch Diktatoren unterstützten, und zeigt dann auf, wie sich marktradikale Wirtschaftssysteme weltweit – auch mit Unterstützung von Weltbank und Internationalem Währungsfond (IWF) – über politisch herbeigeführte Katastrophen oder Naturkatastrophen auf völlig undemokratischen Wegen ausbreiten konnten: in Großbritannien unter Margaret Thatcher nach dem Falklandkrieg, in der Sowjetunion unter Boris Jelzin nach dem Augustputsch, in China unter Deng Xiaoping nach dem Tian‘anmen-Massaker, aber auch in Sri Lanka nach dem Tsunami und in den USA nach dem Hurrikan Katarina. Zurzeit bewegen sich die meisten ökonomisch einflussreichen Menschen zwar (noch) in Demokratien, also in Gebieten mit einer Staatsform, welche auch den weniger Reichen, wenig Gebildeten eine Mitsprache und Gestaltungsfreiheit erlaubt. Aber die westlichen Demokratien werden heute vorwiegend als „liberale“ Demokratien verstanden, was bedeutet, dass Lobbyisten große Spielräume gewährt,
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den Vertretern des Staates hingegen kaum Eingriffe in die kapitalistische Ökonomie zugestanden werden. Für die wirkliche, umfassende Beteiligung der Bürger und die Rolle von Organisationen außerhalb des Wirtschaftssektors interessieren sich die Befürworter dieses Modells allenfalls am Rande. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch (2008) beurteilt diese Entwicklung als direkten Weg zur „Postdemokratie“, zu einem Gemeinwesen, in dem zwar weiterhin Wahlen abgehalten werden, letztlich aber nur zum Schein: Die öffentlichen Debatten während der Wahlkämpfe werden so stark von konkurrierenden Teams professioneller PR-Experten kontrolliert, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommen. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht, und zwar von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der liberalen Marktwirtschaft vertreten. Postdemokratien sind erkrankte Demokratien mit vielerlei Widersprüchen, Ungerechtigkeiten, Machtmissbräuchen und einer furchtbaren immanenten Logik: Zur Stabilisierung und zum weiteren Ausbau eines kranken wirtschaftlich-politischen Systems braucht es eine gewisse Anzahl Führer, die selbst ,genügend‘ erkrankt sind. Nur solche sind fähig, die Widersprüche, Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten des erkrankten Systems so weit zu ertragen, dass sie ihren Wählern versprechen können, deren Besitzstand unter allen Umständen unangetastet zu lassen. Nur sie können deren Ängste vor einer Veränderung ihres fixierten Identitätsgefühls beschwichtigen, denn nur sie sind fähig, keine „Experimente“ zuzulassen, die zu einer gerechteren und mitmenschlicheren Welt führen könnten. Narzisstisch gestörte Menschen fühlen sich zu solchen Führungspositionen besonders hingezogen. Die überdurchschnittliche Portion an Narzissmus, die jeder Mensch benötigt, der zu einer öffentlichen Person werden will, erscheint bei diesen pathologisch übersteigert, wie Hans-Jürgen Wirth in seinem Buch „Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik“ (2002) eindrücklich dargelegt hat. Robins und Post (2002) beschreiben die Nähe des politischen Wahns machtbesessener Politiker zur Paranoia, da er sich klinisch auch durch Größenwahn, Verfolgungswahn, Eifersucht und eine Kränkbarkeit auszeichne, die sofortige Aggression und skrupellose Bekämpfung von Feinden auslöst. In der Welt narzisstisch-paranoider Politiker existieren keine Schattierungen mehr. Ungewissheit und Mehrdeutigkeit werden nicht mehr toleriert; alles wird in Entweder-Oder-Kategorien ge-
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steckt, in gut oder böse, Freund oder Feind. Besonders tragisch, aber leider in Autokratien und erstarrten Demokratien fast zwingend erforderlich, sind spaltende Regierungschefs. Dazu gehören Adolf Hitler und Josef Stalin (beide sind von gewalttätigen Vätern brutal misshandelt worden), Slobodan Milosevic und Ariel Sharon (beide sind in einem extrem gewalttätigen Milieu aufgewachsen), Vladimir Putin und Silvio Berlusconi (beide haben in ihrer emotional verwirrenden Kindheit nicht nur tiefes Misstrauen gegenüber Mitmenschen, sondern auch den Zwang, alles kontrollieren zu müssen, erfahren und verinnerlicht). Das plakativste Beispiel für die unselige Verknüpfung von Staatsführerschaft und narzisstisch-paranoider Selbstentfremdung ist jenes von Georg W. Bush (vgl. Frank 2004), der nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 auf die New Yorker Twin Towers dem globalen Terrorismus den Krieg erklärt und nichts Geringeres gefordert hat als die Ausrottung des Bösen. Bewerkstelligen wollte er dies mit hundertausenden von Toten in den unseligen Kriegsgängen in Afghanistan und Irak. Dass Terrorismus auch etwas mit der Armut in Staaten des nahen und fernen Ostens – wo zum Beispiel Koranschulen die noch am besten funktionierenden Institutionen sind – , mit Blutdiamanten und der Sucht nach Sicherung von Bodenschätzen in zuvor ‚kolonialisierten‘ Staaten des Südens oder mit den unersättlichen ‚Bedürfnissen‘ der einheimischen Waffenlobby zu tun haben könnte, hatte Bush scheinbar völlig ausgeblendet. Die Macht narzisstisch-spaltender Politiker und der sie stützenden Strukturen – für die in der Demokratie auch alle Wähler und Stimmbürger mitverantwortlich sind – macht aus unserer Welt eine solche von Angst – Angst davor, unser Leben und jenes unserer Lieben nicht beschützen zu können (Pilisuk 2007: X).
S CHWERPUNKTE
EINER
E RNEUERUNG
Gerade wegen dieser misslichen globalen Situation meinen verschiedene Forscher, Theoretiker und Praktiker, die Notwendigkeit einer Erneuerung der Humanistischen Psychologie sei heute größer denn je (Criswell 2003), und es sei genau die holistische Vision dieses Ansatzes, die es brauche, um die brennendsten Probleme der nächsten Generation bezüglich Globalisierung, Gesundheit, Ökologie und Spiritualität zu lösen (Aanstoos 2003). Zu diesem Zweck muss unbedingt
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der Bezug zur politischen Wurzel der Humanistischen Psychologie wieder aufgenommen werden. Erich Fromm, der in Berlin zu den marxistischen Psychoanalytikern um Wilhelm Reich und Otto Fenichel gehörte, hat nach seiner Emigration in die USA die Abhängigkeit seelisch-körperlicher Gesundheit von sozialen und politischen Lebensumständen auf meisterhafte Art aufgedeckt (vgl. den Beitrag von Kozlarek, in diesem Band). Seine Bücher „Die Kunst des Liebens“, „Die Revolution der Hoffnung“, „Die Furcht vor der Freiheit“ sowie „Haben und Sein“ sind Weltbestseller geworden. Fromm gehörte zwar nicht zu den Gründervätern, sein Wirken wurde aber schon früh als der Humanistischen Psychologie zugehörig betrachtet. Allerdings ist seine gesellschaftskritische Analyse wie jene anderer politisch engagierter humanistischer Psychologen zu sehr auf das Individuum zentriert geblieben (Kempf 1991). Eine dringend notwendige Erweiterung der Humanistischen Psychologie zu einer „Politischen Psychologie“ – die selbstverständlich stets ihre Erkenntnisinteressen offenlegt (Moser 1979: 49) – darf deshalb nicht nur analysieren, wie soziale Probleme aus psychischen Prozessen entstehen, sondern muss auch zeigen, welche politischen Praktiken menschliches Wachstum fördern (Woolpert 1988). Eine erneute Politisierung der humanistischen Psychologie könnte an der Kritischen Psychologie Holzkamps orientiert und als „Kritische Psychologie im Neoliberalismus“ (Kaindl 2008) bezeichnet werden. Ihr Studienobjekt wären zum Beispiel vom ökonomischen System ‚ausgespuckte‘ Manager, denen beigebracht wurde, ihren Misserfolg vorwiegend als Problem ihrer mangelhaften Erfolgs-Ausstrahlung zu verstehen, die dann mit Coaches zu lernen versuchen, in den richtigen Momenten die richtigen Gefühle zu spielen und – wenn alle Selbstmobilisierung nicht reicht – sich im dann folgenden Burnout zwischen endgültigem Versager und einer Maschine, die lediglich aufgetankt werden müsste, fühlen. Ein übergeordnetes Ziel einer um den „kritischen-psychologischen“ Aspekt bereicherten Humanistischen Psychologie „wäre die Entwicklung von Perspektiven für „solidarische kollektive Formen der Selbstbestimmung“ (ebd.: 10). Zusammen mit dem Anspruch, auch eine „ökologische Psychologie“ zu werden (Kuhn 2001), die den Menschen manchmal dem Ganzen der „Um“-Welt unterordnet, könnte die Humanistische Psychologie sogar zu einer moralischen Instanz werden; „zum Wächter einer rechtschaffenen Gesellschaft“, meinte der Psychoanalytiker Carl Goldberg (2000) in seinem Beitrag „A Humanistic Psychology for the New Millennium“.
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Zweifellos müsste eine erneuerte Humanistische Psychologie der Förderung der Fähigkeit zur Empathie, zum Mitschwingen mit dem anderen, Priorität einräumen, vielleicht über die therapeutisch aktuell verstärkt beachtete ursprünglich buddhistische Haltung der „Achtsamkeit“ (Wiltschko 1998). Unterstützung fände eine solche Entwicklung durch eine dezidierte Förderung „weiblicher Strategien zum Erkenntnisgewinn“ (Serlin/Criswell 2001): Frauen stehen der qualitativen Forschung näher, weil sie nicht primär nach Kontrolle und Prädiktion, sondern nach Erfahrungs- und Beziehungsmustern suchen. Hirnphysiologisch gesehen lateralisieren Frauen weniger, weil ihr Corpus callosum, das die beiden Hirnhälften verbindet, breiter ist. Deshalb scheinen sie Denken und Fühlen stärker als Männer als untrennbar zu erleben. Serlin und Criswell (2001) meinen: „Feministische Werte können die Humanistische Psychologie wieder auf die Erde bringen, mit Fleisch am Knochen, in Verbindung mit anderen Menschen, anderen Lebewesen und der Natur.“ (Ebd.: 39)
Die unbedingt notwendige Weiterentwicklung der „nicht-reduktionistischen sozialwissenschaftlichen Methoden“, um Menschen auf bedeutungsvolle Weise zu erforschen (Giorgi 2005), wird wohl am ehesten durch eine optimale Verbindung von femininer mit maskuliner Kreativität erreicht. Doch: Wie könnte eine Erneuerung der Humanistischen Psychologie praktisch angepackt werden? Viele Handlungen werden nonverbal ausgeführt und reichen von zärtlichen Berührungen über anpackendes Mitarbeiten oder einsames Schaffen bis zum Abwenden, zu wortloser Gewalt oder sinnlosem Zerstören. Obschon in diesem schweigenden Handeln humanistische Werte oft deutlich vermittelt oder verletzt werden, verläuft in der Beeinflussung von Menschen sehr vieles über die Sprache. Deshalb sind die Aufmerksamkeit für unsere Gewohnheiten bei der Verwendung von Sprache und der kluge Einsatz der bewussten Steuerung unseres Sprachverhaltens besonders wichtige Mittel zur Vermittlung humanistisch-psychologischer Werte und zur Realisierung entsprechender Ziele.
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M UNDPFLEGE Der Mund, der uns – neben dem zur Erzeugung der Stimme notwendigen Kehlkopf – ermöglicht, verbal zu kommunizieren, ist ein faszinierend komplexes Organ, dessen Eigenschaften erahnen lassen, dass das, was wir verbal von uns geben – wann und wie wir es tun oder nicht tun – nicht nur von zentralnervösen Impulsen abhängig ist. Zum Mund gehören Ober-, Unterkiefer, Zähne und eine Vielfalt teils kräftiger Muskeln (Beißkraft 100 kp). Dazwischen befindet sich die mit Schleimhaut ausgekleidete und von den Wangen und Lippen umschlossene Mundhöhle mit dem Gaumen, dem Mundboden und der Zunge. Sie ist ein kleines Biotop, denn in jedem Kubikmilliliter Speichel sind 100 Millionen Viren, Pilze und Bakterien enthalten, und zwar etwa 600 verschiedene Arten, von denen erst etwa die Hälfte genau identifiziert werden konnte. Abbildung 6: Mundpflege
Der Mund bildet den ersten Teil unseres Verdauungstraktes und hat in dieser Funktion die Aufgabe, die Nahrung durch Kauen zu portionieren, gustatorisch zu prüfen, auszuspucken oder chemisch aufzuspalten und weiter zu transportieren. Zudem dient er der Atmung (z. B. bei Überforderung der Nasenatmung) und eben der Artikulation von Sprache. Ähnlich komplex ist des Mundes psychologische Bedeutung. Wohlschmeckende Speisen erhöhen die Lebensqualität beträchtlich, und sich berührende Lippen zweier Menschen oder gar ein Zungenkuss können euphorisch stimmen. Ein plötzlich trockener Mund ist ein
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Alarmsignal (für was?), ein Mensch mit chronisch verkniffenem Mund alarmiert andere (wegen was?), und einem Menschen mit „lockerem Mundwerk“ begegnet man mit Vorsicht. Georg Groddeck hat in einem Aufsatz mit dem schönen Titel „Vom Mund und dessen Seele“ (1966: 387) beschrieben, wie der Mund nicht nur als Werkzeug, sondern auch als Schutzwehr betrachtet werden muss: „Die Verteidigungswerke des Mundes und der Mundteile werden nach beiden Seiten hin gebraucht. Sie prüfen, was von außen in das Innere des Menschen hineingeht und was von innen nach außen drängt, und sind nach beiden Seiten hin fähig, den Durchgang zu verwehren oder wenigstens zu erschweren. Zusammenpressen der Lippen oder der Zähne tritt schon im frühesten Kindesalter ein, wenn die Nahrungsaufnahme verweigert wird, ebenso bekannt ist es aber, dass es Empfindungsäußerungen, vor allem solche der Wut, verhindern soll.“ (Ebd.)
Im Folgenden werden einige Elemente der für eine moderne Förderung der Humanistischen Psychologie hilfreichen psychologischen Mundpflege dargestellt: • Selektive Authentizität und das Lügen: Echtheit, Kongruenz oder
Authentizität sind Begriffe, die seit Carl Rogers Entwurf der klientenzentrierten Gesprächstherapie eine Grundhaltung der humanistischen PsychologInnen im Kontakt mit Menschen beschreiben. Doch damit ist nicht eine grenzenlose Offenheit gemeint, die den sich Öffnenden und den Überschütteten überfordern könnte. Es ist eine „selektive Authentizität“ gemeint, und eine solche bedeutet: „Alles, was ich von mir zeige, soll echt sein, aber nicht alles Echte, was ich von mir zeigen könnte, soll ich zeigen.“ Es besteht kein Zweifel, dass eine solche Haltung – die manchmal schwer einzuhalten ist – andere soziale Werthaltungen der Humanistischen Psychologie, insbesondere die Empathie, die Einfühlung in den anderen und dessen Wertschätzung, fördern. Doch zu selten wurde hinterfragt, nach welchen bewussten oder unbewussten Regeln die Selektion in der selektiven Authentizität erfolgt. Ist es nicht so, dass das Verschweigen einer Information, die für den anderen von großer Bedeutung wäre, dem Lügen gleichkommt? Und ist Lügen nicht auch für humanistische PsychologInnen eine Sünde? Für Immanuel Kant war das Lügen völlig unakzeptabel, und auch Arno Plack hat in
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seinem Aufruf „Ohne Lüge leben“ (1976) die Lüge – sogar die unbewusste – als äußerst verwerflich verurteilt, weil sie all unsere sozialen Beziehungen vergifte. Doch schon wenn man an den kleinen Jungen denkt, der sagt, er sei es nicht gewesen, wenn er genau weiß, dass er sonst geschlagen oder zwei Tage lang nicht mehr beachtet wird, erkennt man: Nicht alle Lügen sind Ausdruck von Missachtung und Egoismus (Dietz 2003: 150). Unsere Fähigkeit zu Lug und Trug entspringt keineswegs einer Neigung zum Bösen. Erst mit dem Christentum wurden der Lügner zum Bösewicht und die Lüge zur Sünde. Nüchtern betrachtet können viele Kategorien der Lüge mit unterschiedlichem ethischem Gehalt differenziert werden (Mayer 2007: 24); die egoistische Lüge zum Sichern von Vorteilen oder zum Vermeiden von Nachteilen (speziell Schamgefühle oder Angst vor Bestrafung), die altruistische Lüge (um den anderen vor seelischer Verletzung zu schützen – allerdings wird dieses Motiv oft nur als Ausrede verwendet), die psychosoziale Lüge (in Kontaktaufnahmen: „Wie geht’s? – Es geht mir sehr gut!“), die Lüge aus Lust (mit Unterhaltungswert) und die Selbsttäuschung. In den Grauzonen der Lüge, dort wo jeder weiß, dass es nicht primär um Ehrlichkeit, sondern um eine Form des Werbens geht (beim Flirt, in sozialen Ritualen, im Geschäftsleben), wird erkennbar, dass der Reiz der Verführung lebensfreundlich sein kann und nur die Exzesse zu sozialen Bedrohungen werden. Richtet man den Blick auf verschiedene soziale Schichten, auf verschiedene Länder und schließlich auf verschiedene Kulturen, wird deutlich, wie vorsichtig man mit dem Verurteilen von Aussagen werden muss, die nicht ganz der (eigenen) Wirklichkeit entsprechen: In englischen und nordamerikanischen Schulen gilt „Cheating“ als schweres Vergehen, das mit Schulausschluss geahndet werden kann; in Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien gelten Schummeln und Spicken als Kavaliersdelikt. Bei den alten Griechen galten Schwindeleien, Listenreichtum und geschickte Täuschung als Zeichen eines überlegenen Geistes, und in China, ja sogar in ganz Asien ist die Lüge aus Höflichkeit oder um eine Konfrontation zu vermeiden auch heute allgegenwärtig, denn Lügen ist dort dem Gesichtsverlust (dem eigenen oder dem des anderen) meist vorzuziehen (Mayer 2007: 85ff.). Das humanistisch-psychologische Ziel der Authentizität im sprachlichen Ausdruck und die damit verbundene Aufforderung, zwischenmenschliche Konflikte direkt anzusprechen, sind in unserer
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Kultur immer noch weitgehend tauglich, dürfen aber nicht absolutes Maß für den zwischenmenschlichen Austausch bleiben, wenn die Humanistische Psychologie eine glaubwürdige Kraft in der globalisierten Welt werden will. Die Bedeutung des individualistischen Werts der Authentizität muss sogar grundsätzlich relativiert werden, wenn die Humanistische Psychologie auch für Menschen, die in kollektivistischen Kulturen leben, hilfreich werden soll (vgl. Straub/ Chakkarath 2010). • Wertschätzung konnotativer Kommunikation: Sprachliches Verstehen wird möglich, wenn für einen bestimmten kommunikativen Kontext ein spezifischer konsensueller Bereich existiert, in dem den kommunikativen Signalen durch individuelle Gehirne dieselbe oder zumindest eine ähnliche Bedeutung zugeordnet wird (Roth 1997: 335). Die Bedeutung von Signalen hängt also weniger von ihrer Beschaffenheit ab als von den Bedingungen, unter denen sie beim Empfänger aufgenommen werden. Erst dieser konstruiert in seinem Hirn die Bedeutungen gemäß seinem Erfahrungshintergrund. Denotationen (lat. denotare: bezeichnen) weisen einem Zeichen oder Wort eine Bedeutung zu, die für eine große Gemeinschaft, oft für alle Angehörigen einer Sprachkultur, identisch ist. So bedeutet „Tisch“ für die Angehörigen des deutschen Sprachraumes ein Möbelstück mit großer Abstellfläche und meist vier Beinen. Konnotative Bedeutungen (lat. connotare: Vorstellungen wecken) sind jedoch interindividuell höchst unterschiedlich, denn in ihnen sind alle Erfahrungen, die ein Individuum mit einem Zeichen gemacht hat und der Inhalt, für das es steht, kondensiert. Sie umfassen ganze Bedeutungsräume in Form von Assoziationen, Gedanken, erinnerten Bildern, Klängen, Geräuschen, Gerüchen, Tastempfindungen oder umfassende Erinnerungen an ganze Szenarien, die für ein Individuum mit dem betreffenden Zeichen oder Wort verbunden sind. Da bestimmte Folgen von Worten und deren Qualitäten (Tempo, Rhythmik, Frequenzmodulation) – z.B. ein Satz, der genau so konstruiert ist, wie ihn mein Vater, meine Mutter oder mein früherer Chef ihn ausgesprochen haben könnten – die individuellen Konnotationsräume noch beträchtlich erweitern, wird deutlich, wie wichtig es ist, unsere Aufmerksamkeit auf diese zu richten. Nur wenn wir uns dafür interessieren, aus welcher Situation heraus, mit welchen persönlichen Erfahrungen, mit welchen Bedürfnissen, Wünschen, Zielen ein Mensch eine Zeichenfolge verwendet, haben wir die
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Chance, ihn so zu verstehen, wie er verstanden werden möchte. Als Zuhörer (der Worte des anderen, aber auch unserer eigenen Worte) müssen wir bereit sein, vermeintlich verstandene Zeichen wieder umzudeuten, sobald neue Zeichen signalisieren, dass der Zeichengeber etwas anderes mitteilen wollte. Dieser Prozess – auch „Empathie“ genannt – braucht ein Sich-Öffnen, d.h. ein Fließenlassen von Zeichen und ein Offensein, d.h. ein Wirkenlassen von Zeichen. Kindern zu gestatten, Worte frei fließen zu lassen, ist eine der wichtigsten Erziehungsaufgaben. Zwar drücken Worte nicht nur Zartes und Liebliches, sondern auch Derbes, Grobes und Aggressives aus. Sexualverse und unanständige Kinderreime erlauben den Kindern aber nicht nur, sich mit den befreienden, manchmal jedoch beklemmenden und ängstigenden Erfahrungen von Nahrungsaufnahme, Ausscheidung und Sexualität auseinanderzusetzen, sondern laden die Kinder insgesamt zu verbaler Kreativität ein. Eltern, die unanständige Worte ihrer Kinder gut ertragen, vielleicht darüber schmunzeln oder sogar mithelfen können, anal-sexuelle Verse zu ‚brünzeln‘ und bei unflätigen Beschimpfungen durch ihre Kinder nicht sofort ausrasten, sind Gold wert. Aggressive Ausdrücke wie „dumme Kuh“, „Arschloch“ oder „ich hasse Dich!“ hört zwar niemand gern, sodass es gut verständlich ist, wenn Eltern versuchen, dem Kind zu verbieten, solche Worte zu verwenden. Im Moment danach wäre es aber wichtig, den Konnotationsraum verstehen zu lernen, aus dem heraus die Wut des Kindes entstanden ist. Wenn Eltern aus ihrer Kränkung heraus mit Worten wie: „Das darfst du nie mehr sagen. Hörst du? Nie mehr!“, oder gar: „Das macht mich sehr traurig, wenn du so böse zu mir bist“ versuchen, den kindlichen Gefühlsausdruck zu verbieten, entfremden sie ihr Kind von seiner Ausdruckskraft. Das Kind benötigt die Erfahrung, dass es seine Eltern oder andere nahe Bezugspersonen „sicher hassen“ kann (Blum 1997). Auch Erwachsene, die in Auseinandersetzungen unter sich die Worte auf die Goldwaage legen (konnotative Bedeutungen in die Tüte des Denotativen zu pressen versuchen), blockieren sich gegenseitig. Die Humanistische Psychologie hat mit dem Entwickeln neuer körperzentrierter Therapieformen Wertvolles zur direkten und emotionsnahen Kommunikation beigetragen. Trotzdem ist sie – auch wegen ihrer Abstammung aus dem gebildeten Mittelstand – zu intellektuell-analytisch geblieben. Sie hat das Narrative erst noch zu entdecken.
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• Enttabuisierung von Schuld und Pseudounschuld: Schuldgefühle
sind unangenehme Gefühle, die in unterschiedlichster Intensität erlebt werden können, von leicht störend bis unerträglich quälend. Auch ihre Dauer kann stark variieren, von einigen Sekunden bis zu Stunden; wenn man ihr oft periodisches Wiederauftreten hinzurechnet, können sie sogar Jahre oder ein ganzes Leben lang andauern. So ist es nicht erstaunlich, dass wir Menschen das Auftreten von Schuldgefühlen selten begrüßen, und eher meinen, wir sollten uns von auftauchenden Schuldgefühlen möglichst schnell befreien, ja sogar manchmal glauben oder anderen Menschen einreden, ‚man‘ sollte sich – außer bei schwerer Schuld – möglichst gar keine Schuldgefühle ‚machen‘. Doch Schuldgefühle entstehen ungefragt und lassen sich kaum durch Willensanstrengung vertreiben. Und das ist im Prinzip auch gut so, denn Schuldgefühle haben Sinn, ähnlich wie die ebenso unangenehmen Gefühle der Angst, die uns vor Gefahren warnen, oder der Wut, die uns notwendige Abgrenzungen erleichtern. Schuldgefühle sind Zeichen dafür, dass wir uns in unserem selbstverantwortlichen Handeln auf irgendeine Art aus dem Gleichgewicht – zu uns oder zu unserer Umwelt – gebracht haben. Therapeutisch hilfreich ist es aber, nicht alle Schuldgefühle in einen Topf zu werfen, sondern mindestens zwei Arten von Schuldgefühlen zu unterscheiden. Die eine Art sind sozial gelernte Schuldgefühle: Wenn uns jemand in unserer Kindheit eingeredet hat, wir sollten uns in einer bestimmten Situation (nach einer bestimmten Handlung) stets schuldig fühlen, obwohl es bei genauerer Prüfung offensichtlich würde, dass wir in diesem Moment nichts Schuldhaftes getan haben (z.B. wenn wir nur einen besonderen Wunsch geäußert oder Ärger direkt gezeigt haben), dann können auch im Erwachsenenleben in einer ähnlichen Situation Schuldgefühle auftauchen, unabhängig von den eigenen Meinungen zu Schuld und Unschuld. Diese sozusagen ‚falschen‘ Schuldgefühle sind lediglich Ausdruck der Angst vor Liebesverlust, gewissermaßen das Ergebnis einer Dressur. Erkennt man sozial vermittelte Schuldgefühle, realisiert man, dass sie im Erwachsenenleben eigentlich nicht mehr von Nutzen sind und es wird allmählich möglich, sie zu entlassen. „‚Echte‘ Schuldgefühle“ sind hingegen die emotionale Reaktion auf eigene Schuld, die als bewusstes Handeln gegen das eigene Wohl oder gegen das Wohl anderer Menschen und Lebewesen verstanden werden kann, sozusagen als Erfahrung von Leben, das gegen sich
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selbst gerichtet ist (Stein 1978: 17). Schuldgefühle, die aus echter Schuld entstehen, sind oft quälend, bieten aber eine einzigartige Chance: Wenn wir die hinter ihnen stehende Schuld verstehen lernen, können wir eigenes schuldhaftes Verhalten in der Zukunft vermehrt vermeiden. Die Wege, echte Schuld zu verdrängen, sind allerdings vielfältig. Der bedeutendste ist die Haltung der Pseudounschuld (May 1974), die Erklärung oder häufiger noch die wortlose Demonstration, dass man unschuldig oder naturgemäß ‚eigentlich‘ machtlos sei. Wer keine Macht hat, kann sich nicht schuldig machen, meinen wir. Macht kommt von „können“, „vermögen“ (englisch: „might“); sie ist die Möglichkeit und Kraft, etwas zu bewirken. Macht macht auch schuldig, weil es nicht möglich ist, zu leben, ohne sich zu verschulden. Wir alle machen Fehler, erkennen negative Auswirkungen manchmal zu spät und enttäuschen Mitmenschen. Der Wunsch, die eigene natürliche Mächtigkeit zu leben, ohne sich je schuldig zu machen, ist eine Illusion. Wer nicht lernt, diese Tatsache zu akzeptieren, läuft Gefahr, zum Pseudounschuldigen zu werden, zum Menschen, der die Machtlosigkeit zur Tugend erklärt, sich selbst für machtlos hält und sich so von jeder Schuld freisprechen kann. Das effektivste Hilfsmittel der Pseudounschuld ist die „Verleugnung des Ahnungsbewusstseins“. Unser Bewusstsein ist ein Kontinuum mit unendlich vielen Abstufungen zwischen den Polen „bewusst“ und „unbewusst“. Deneke (2001: XI) nennt den Mittelbereich dieser Spannweite „Ahnungsbewusstsein“. Dessen Inhalte entsprechen unfertigen, schemenhaften Wirklichkeitsentwürfen, die aber dennoch unser Erleben und das daraus resultierende Verhalten nachhaltig beeinflussen. Wir nehmen etwas wahr, denken oder fühlen etwas, das aber in seiner Gestalt nicht eindeutig bestimmbar ist, obwohl es ‚da‘ ist. Wenn wir nun in einer Konfliktsituation ahnungsbewusste Wahrnehmungen machen, verlangt verantwortungsbewusstes Handeln, diese „Ahnungen“ – wir können sie auch „Intuitionen“ nennen – in die Überlegungen einzubeziehen, die wir unseren Handlungsentscheiden zugrunde legen. Wenn wir das nicht tun – unser Ahnungsbewusstsein also verleugnen – machen wir uns schuldig, weil wir nicht nur für das verantwortlich sind, was wir tun, sondern auch für das, was wir unterlassen. Wir ahnen – das ist eine bewusste Wahrnehmung –, dass unser Verhalten in einem bestimmten Moment auch andere (vielleicht sogar wichtigere) Grün-
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de hat, als die, die wir vorgeben, aber wir schieben diese Ahnung beiseite. Wie die anderen psychologischen Schulen und auch die Psychosomatik hat es die Humanistische Psychologie verpasst, der Schuldthematik hohe Aufmerksamkeit zu widmen, obschon sie aus ihrer frühen existenzialistischen Wurzel geradezu prädestiniert dafür gewesen wäre. Der Grund für diese (oft ahnungsbewusste) Unterlassung ist wahrscheinlich die in ätiologischen Diskussionen immer wieder spürbare Angst davor, bei der Thematisierung von Schuld oder Schuldgefühlen automatisch beschuldigend zu wirken. • Aufruf zur Politisierung: Mit der Globalisierung, also der zunehmenden internationalen Verflechtung von Kommunikation, Wirtschaft und Politik hat sich die Schere zwischen Armen und Reichen seit etwa 20 Jahren in dramatischem Ausmaß geöffnet. Und dies nicht nur zwischen der Ersten und der Dritten Welt, sondern auch innerhalb der wohlhabenden Länder. Der Neoliberalismus hat den Shareholder-Value, die Rentabilität wirtschaftlicher Investitionen, zur obersten Maxime werden lassen. Dieses Schwinden menschlicher Solidarität sowie das Erkennen der zur Neige gehenden fossilen Energiereserven und der Bedrohung der Umwelt durch ein Übermaß an freigesetzten Schadstoffen schüren existenzielle Ängste, die umso verbissener an den durch offene und strukturelle Gewalt erzeugten Sicherheiten festhalten lassen. Unter solchen Bedingungen verschwindet die Menschlichkeit (Bauer 2006: 201ff.) und immer mehr Menschen erkranken, zuerst an zerfallenden Beziehungen, dann an immer diffuser und komplexer scheinenden körperlichen und seelischen Erkrankungen und schließlich am Verlust von Beziehungsfähigkeit. Der Psychosomatiker Pierre Loeb klagte kürzlich: „Wie so oft wird die Medizin zum Auffangbecken multifaktorieller politischer, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Verfehlungen, indem die Folgen dieser Verletzungen sich im Körper des Individuums (psychisch und/oder somatisch) eingravieren.“ (Loeb 2008: 340)
In der Humanistischen Psychologie sollte diese Klage in die Einsicht umgewandelt werden, als Wissenschaftler und Therapeutin politisch aktiver werden zu müssen. Therapeuten müssen lernen, die Grenzen traditioneller therapeutischer Haltungen in eine Richtung auszu-
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weiten, die schon Alfred Adler mit seiner Betonung der Bedeutung des „Gemeinschaftsgefühls“ angedeutet hatte und die der Gestalttherapeut Erving Polster in seinem neuen Buch „Zugehörigkeit. Eine Vision für die Psychotherapie“ (2009) vorzeichnet: In Fortführung der Erweiterung der Psychotherapie durch die Gruppentherapie in den 1950er Jahren und die Encountergruppen in den 1970er Jahren schweben ihm „Life Focus Communities“ vor, Gemeinschaften, die „sich in der Bewältigung des täglichen Lebens an Prinzipien und Prozessen orientieren, die den Erkenntnissen der Psychotherapie entsprangen“ (ebd.: 18f.). Solche Veränderungen sind nur durch sozialpolitisches Engagement von Therapeuten zu erreichen. Das bedeutet nun nicht, dass jede Therapeutin gleich Politikerin werden müsste. Aber es bedeutet, dass Therapeuten die Leiden ihrer Patienten nicht nur vor dem politischen Hintergrund ihrer Lebenssituation verstehen lernen, sondern dass sie ihre Patienten als Teil ihrer therapeutischen Bemühungen dazu einladen, sich politisch zu engagieren, also in kleinstem, kleinem oder größerem Rahmen politisch tätig zu werden – genauso, wie sie bisher ihre Patienten in deren individueller Selbstentfaltung unterstützt haben. Im „kleinsten Rahmen“ könnte heißen, sich politisch zu informieren, im „kleinen Rahmen“ würde bedeuten, an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen, und im „größeren Rahmen“ würde die aktive Mitarbeit in einer politischen Interessengruppe oder die Übernahme eines politischen Mandats bedeuten. • Beeinflussung der Medien: In einer globalisierten marktwirtschaftlichen Welt engen große Medienkonzerne, deren Eigentümer nicht selten in politischen Entscheidungsgremien sitzen, die journalistische Freiheit so weit ein, dass man sich fragen muss, ob die edle Aufgabe, die „vierte Gewalt“ im demokratischen Staat zu sein, nicht schon längst vom Journalismus zu anderen Gewalten übergegangen ist – an die Verwaltungsräte der Medienkonzerne von Berlusconi, Burda, Kirch, Murdoch und Springer oder an die Lobbyisten aus Wirtschaft und Gewerkschaft. Beides wäre aus demokratischer Sicht fatal, denn eine vierte Kraft, die nicht unter voller demokratischer Kontrolle steht, wirkt unrechtmäßig. Oder sind die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) die neue vierte Gewalt, vielleicht zusammen mit den mächtigen Instrumenten des Internets, den Blogs und der Internetforen? Doch Journalisten, also jene Menschen, die ihr berufliches Leben der Informationsvermittlung verschrieben haben, blei-
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ben Hoffnungsträger der Demokratie. Deshalb sind sie besonders stark aufgerufen, nicht nur den kommunizierten Inhalten, sondern auch dem Kommunikationsstil von Politikern und Wirtschaftsführern vollste Aufmerksamkeit zu widmen. Politiker müssen von Journalisten verstärkt als „persönlich verstandene Menschen“ und nicht mehr vorwiegend nur als Funktionsträger von Parteien, Institutionen und Vollstrecker von Sachzwängen dargestellt werden (Wirth 2002: 12). Sie müssen aufgefordert werden, öffentlich über ihre Biografie zu sprechen, über ihre Kindheit, persönlichen Konflikte, Hoffnungen und Bedürfnisse, sodass es für die Bürger möglich wird, genauer abzuschätzen, was deren Worte tatsächlich bedeuten. Und Journalisten müssen es wagen, stets auch von ihrer eigenen Wahrnehmung und Einschätzung der politisch handelnden Menschen zu berichten. Natürlich sollen sie möglichst objektiv über Sachverhalte berichten. Aber sie müssten ihren Auftrag unbedingt auch so verstehen, dass sie Ungeheuerliches – offensichtliche Lügen, inhumane Taten, sinnentleerte Worte (Worthülsen) und Worte, die ihrem ursprünglichen Symbolgehalt widersprechen – nicht nur scheinbar wertfrei wiedergeben, sondern thematisieren und kommentieren. Zwar sollen Bericht und Kommentar erkennbar voneinander getrennt sein, aber der Kommentar (bestehe er auch nur aus einem halben Satz) dürfte in kritischen Aussagen nie fehlen. Wenn Journalisten Ungeheuerliches unkommentiert verbreiten, werden sie unvermeidbar zu Komplizen der ungeheuerlichen Täter. Und ihre Wirkung über Radio, Fernsehen, Printmedien und die elektronischen Medien ist breitflächig, pointiert und subkutan. Die Humanistische Psychologie muss Möglichkeiten finden, die medialen Produkte zu überwachen, um bei Bedarf auf offensichtlich oder unterschwellig diskriminierende, fundamentalistische, faschistische Inhalte unverzüglich mit Gegendarstellungen reagieren zu können. Da die Humanistische Psychologie naturgemäß nie zentralistisch organisiert sein kann, wird dies keine leichte Aufgabe sein. Sie muss aber angepackt werden, mit weiblicher und männlicher Kreativität.
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Der Humanismus im Zeitalter seiner Widerlegung durch die Weltlage Konturen einer post-humanistischen Psychologie T HOMAS S LUNECKO
In diesem Beitrag wird als Gegentenor zu Autoren, die – auch in diesem Band – die Humanistische Psychologie wiederbeleben bzw. erneuern möchten, ohne zu sehr von ihrer Tradition und den geistigen Wurzeln abzuweichen, ein Widerspruch zu Protokoll gegeben: Dem Humanismus – und damit ist die Humanistische Psychologie mit gemeint – wird im Kern vorgehalten, dass er ein Subjekt-Modell impliziert und weiterträgt, welches der Grammatik und den Herausforderungen der Weltlage nicht mehr entspricht. Zwar prozessiert sich im Humanismus eine Überlieferungsmasse, ohne deren Kenntnis die (euroamerikanische) Mentalitätsgeschichte nicht verständlich wäre. Ein ungebrochen affirmativer Zugriff auf Humanismus, d.h. einer, der diesen nicht als historisch kontingente Formation betrachtet, sondern als anthropologische Konstante oder Desiderat, ihn also (voraus-)setzt statt versteht, unterbietet die nötige kulturpsychologische Reflexionshöhe. Es handelt sich also um eine Art Zeitdiagnose auf großem Tableau; um sie gleich mit dem Autor zusammenzufassen, an dem ich mich hier vor allem orientiere: „Die Vertreibung aus den Gewöhnungen des humanistischen Scheins ist das logische Hauptereignis der Gegenwart, dem man sich nicht durch Flucht in den guten Willen entzieht.“ (Sloterdijk 2001a: 212) Diese These will entwickelt werden; ich werde das aus einer system- und medientheoretisch inspirierten Perspektive
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tun, die ich bereits ausführlicher dargestellt habe (Slunecko 2008). Zur logischen Ordnung des Arguments ist festzuhalten: Humanismus und Systemtheorie sind im Folgenden nicht gleichberechtigte Spieler, sondern explanandum und explanans. Ich werde mit systemtheoretischen Mitteln Humanismus zu verstehen versuchen und nicht umgekehrt.
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Um symbolische Formen und ihren Wandel systemtheoretisch zu verstehen, muss man jenseits eines streng dichotomen Denkens (‚hier Natur – da Kultur‘) operieren, das die symbolischen Formen (z.B. den Humanismus) auf der Seite des Kulturell-Geistigen anschreibt, ohne angeben zu können, wie sie dorthin gekommen sind. Systemtheoretisches Verständnis symbolischer Formen ist funktionalistisch und evolutionär. Evolutionär deswegen, weil es die vom Menschen hervorgebrachte Symbolwelt nicht als von seiner ‚naturgeschichtlichen‘ Entwicklung getrennt, sondern im Sinn von Ko-Emergenz aufs engste mit dieser verbunden sieht: Die essentiellen bio-ontologischen Parameter des Menschen – seine frühe Geburt, sein ‚extrauterines Frühjahr‘, seine weitgehende Prägbarkeit, Anpassungsfähigkeit, Weltoffenheit und Entspezialisierung – können wir nicht anders denn als Resultat einer evolutionären Entwicklung denken, bei der eine in die Savanne zunächst noch ganz eingefügte Affenlinie infolge ihres zunehmend eigentümlichen Umgangs mit Werkzeugen, aber auch mit ihren eigenen Lautäußerungen in eine unerhörte Steigerungsdynamik gerät, die sie zunehmend aus ihrem tierhaften Eingespanntsein in die Umwelt entsichert. Sie emanzipiert sich immer mehr von der Natur und beginnt sich in einem endogenen, d.h. selbst geschaffenen Treibhaus selbst zubebrüten (vgl. Sloterdijk 2004: Kap. 1-C). Dieses Treibhaus bleibt noch die längste Zeit über unsichtbar, es hat Wände aus Distanz (dafür sind materielle Medien, z.B. Wurfwaffen, zuständig) und Dächer aus Solidarität (diese werden aus bedeutsamen Lauten, d.h. aus symbolischen Medien errichtet). Erst in diesem Verwöhnungsraum kann homo sapiens zu jener „natürliche Gegennatürlichkeit“ (Plessner 1928) luxurieren, in der wir ihn heute vorfinden. Denn seine Evolutionsprämien werden nun relativ zu den Gesetzen dieses Treibhauses, dieser neuen
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‚Umwelt evolutionärer Angepasstheit‘ (Bowlby 1975 [1969]) vergeben und nicht mehr bezogen auf eine Abarbeitung an den Härten der ‚ersten‘ Natur. Als zunehmend fragiles Geschöpf seines eigenen Treibhauses ist der Mensch nicht nur am Beginn seines Lebens auf unbedingten Schutz und Ergänzung angewiesen; auch als Erwachsener bleibt er ein Wesen, das aus dem selbstverständlichen, nicht reflexionsbedürftigen Eingespanntsein in die Umwelt herausgefallen ist; ein Wesen, dem allein meist etwas fehlt, das vor allem die Todeserfahrung symbolisch integrieren muss; ein Wesen, das immer eine Ausrichtung braucht, einen Überschuss von Welt-Ausgesetztsein einholen will. Doch das Wohin und Wozu seiner Ausrichtung bleibt flexibel, das ErgänztWerden ist von den primären Bezugspersonen auf spätere signifikante Andere und weiter auf symbolische Formen übertragbar, welche die Wieder-Beherbergung übernehmen, das entsicherte Wesen neu versichern, mit der Welt befreunden, ja überhaupt zur Teilnahme an kollektiver Welt verführen. Soviel zu der dem Individuum zugewandten Funktionalität symbolischer Formen. Auf das Kollektiv hin aber lassen sich symbolische Formen als soziale Synchronisatoren verstehen, mit deren Hilfe immer größere Menschengruppen ihre Sicherheits-, Bergungs- und Ausrichtungsbedürfnisse unter einem gemeinsamen Dach versammeln, sich infolge dieser Synchronisation als zusammenhängende Kollektive über die Zeit erhalten, ‚in Form‘ bleiben und orientieren können. Symbolische Formen sind unsichtbare Behälter, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, größere Zahlen von Menschen, Agglomerationen einander zunehmend Unbekannter, in gemeinsame Sinn-, Motiv- und Affektsphären hineinzuholen, sie füreinander überhaupt affizierbar zu machen. Daher sind symbolische Formen für die ‚Weltnahme‘ von Gruppen jeglicher Größenordnung funktional und müssen sich ständig an neue Verhältnisse bei dieser Weltnahme adaptieren: Gesellschaften dehnen sich nicht nur auf Grund von Straßen und Schrift zu Reichsgröße, sondern es ‚bedarf‘ zu bzw. in dieser Dehnung auch symbolischer Adaptierungen. Symbolische Formen ‚steigern‘ Gesellschaften, ermöglichen z.B. das Zusammenleben in stratifizierteren und vor allem immer größer werdenden Gruppen, in denen zu leben wir kraft unserer technischen Möglichkeiten gezwungen sind, auf deren Organisation und Synchronisation wir jedoch evolutionär nicht vorbereitet, d.h. ursprünglich dazu nicht motiviert und nicht direkt motivierbar sind.
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Symbolische Formen entwickeln und stabilisieren also die Unwahrscheinlichkeit, die jede Kulturform verkörpert, indem sie Relevanzstrukturen, Motive, Affekte und Rhythmen synchronisieren und damit soziale Synthesis befördern. Dieser Wert für das Leben, nicht die illusionäre bzw. kollusive Natur der symbolischen Formen, ist ausschlaggebend. Kulturen sind Lebewesen, die symbolische Formen aussondern müssen, um am Leben zu bleiben und ihr Leben zu steigern. Dass dies im Sinne ‚falscher‘ Gegenstände geschieht, d.h. dass die menschliche Urheberschaft an den symbolischen Formen vergessen oder überhöht (in Foucaultschen Worten: dass die Praxis ihrer Hervorbringung verdeckt) ist, macht einen Teil ihrer Wirkung aus.1 Die symbolischen Formen zur Neuversicherung des Einzelnen in einer entsicherten Welt und zur Versammlung der Vielen unter einem gemeinsamen Dach werden laufend ‚verhandelt‘. Diese Verhandlung kennt weder Stundenpläne noch Verhandlungsräume, sie macht keine Pausen und auch keine Sprünge – cultura non facit saltus –, ist kein bewusst geplanter Prozess oder Akt, vielmehr ein ununterbrochenes, selbstläufiges Dauergeschehen, das immer von den jeweiligen medialen, technologischen, ökologischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen ‚informiert‘ ist (Slunecko/Hengl 2008): aus allen Ecken der sozio-ökologisch-medialen Matrix kommen ständig Anstöße und Anregungen an das Feld des Symbolischen heran (ein Umstand, der von humanistischen Geistern, die den Formenwandel auf dem Gebiet des Symbolischen gerne dem Geistigen – und am liebsten dem Genie einzelner Kulturheroen – überlassen, chronisch unterschätzt wird). Symbolische Formen stehen daher weder beliebig zur Disposition noch ist – allein wegen der Komplexität und Eigendynamik des Symbolsystems – genau vorhersehbar, wie ökologische oder mediale Veränderungen auf sie durchschlagen.2 Es lässt sich lediglich sagen, dass
1
Auch Berger/Luckmann (1997: 109) wissen: „Die symbolische Sinnwelt schützt den Menschen vor dem absoluten Grauen, indem sie den schützenden Strukturen der institutionalen Ordnung die absolute Legitimation verleiht.“
2
Wenn meine Ausführungen hier so klingen, als wäre das Reale oder das Medium in Führung und würde das Symbolische nach sich ziehen, so ist das ein Artefakt der knappen Darstellung bzw. eine Reaktion auf die ‚Geistlastigkeit‘ herkömmlicher – vom Humanismus mit präformierter – Rede über das Symbolische. De facto ist das Verhältnis kreiskausal bzw.
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neue Herausforderungen – in der Sprache der Medientheorie (und eine Systemtheorie des Symbolischen muss heute medientheoretisch gelagert sein) könnte man das gleichsetzen mit: neue Medien – Kulturen zur Überarbeitung und Proliferation symbolischer Formen veranlassen3; welche davon sich durchsetzen, hängt von den Bedingungen der Autopoiese des Systems ab. Es ist daher auch keineswegs so, dass ein Medium in jeder Kultur dasselbe bewirkt. Es werden lediglich Parameter bezüglich der Möglichkeiten verstellt, welche die symbolischen Formen in dieser Kultur annehmen kann. Für die konkrete Ausformung sind jedoch immer cross-Effekte zwischen dem neu auf-
ko-emergent, d.h. das Symbolische und seine Binnenentwicklungen wirken umgekehrt auf das Reale zurück, indem sie dem Umgang und Zugriff darauf auf eine bestimmte Weise fokussieren. Im symbolischen Raum entspringt und entfacht sich zudem das Drama der kulturellen Wunschstrukturen und ‚Traumdriften‘, in deren Rahmen jede Kultur bestimmte ‚Angebote‘ aus ihrer medialen und ökologischen Matrix bevorzugt oder ablehnt (vgl. Slunecko 2008: 10 und 154ff.). Im Gegensatz zu einer verbreiteten Lesart von McLuhan, die auf eine Art medientechnische Fundierung von Kultur hinausläuft (d.h. dass Medien überall dort, wo sie auftreffen, mehr oder weniger vergleichbare Effekte zeitigen), muss man zudem den gegenläufigen Gedanken einer kulturellen Fundierung des Medienbegriffs starkmachen. Das bedeutet vor allem, dass der Medienbegriff ins Performative hinein gewendet werden muss: Bei der Einführung von neuen Medien ist es von zentraler Bedeutung für deren ‚kulturelles Schicksal‘, mit welchen bereits etablierten Medien sie sich verbinden, welche anderen Medien sie im Rahmen welcher sozialen Praxis und Institutionalisierung aufnehmen und fortsetzen, d.h. an welche bestehenden Kulturtechniken sie Anschluss finden, in welche Handlungspraxen – mediale wie außermediale – sie eingebettet werden, wie sie verstanden und missverstanden werden (Slunecko/Przyborski 2009). Innerhalb einer derart komplexen Matrix entscheidet sich, welche Medien von wem wie aufgenommen werden und damit, ob und wie sie sich in einer je konkreten historischen Situation entfalten oder nicht. 3
Am besten dokumentiert ist das für das Schriftmedium, dessen Auftreten das Feld des Religiösen und Symbolischen völlig neu formatiert (hierzu ausführlich Jaynes 1976; McLuhan 1962, 1964; deKerckhove 1988, 1995; Havelock 1963, 1988, 1998; Slunecko 2008, oder Assmann 1999 oder 2001).
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treffenden Medium und den bereits vor seiner Einführung vorhandenen sozialen, politischen, religiös-symbolischen, ökologischen und ökonomischen Realitäten – innerhalb der Medienlogik ausgedrückt: cross-Effekte mit schon vorhandenen Medien – zu bedenken. Je heißer bzw. ausdifferenzierter eine Kultur, desto größer das Angebot an symbolischen Formen, das sie produziert und gleichzeitig – mit Ausnahme der dominanten Form – unterdrückt. Aus einer Sozietät werden also ständig symbolische Formangebote ausgeworfen, die alle von den medialen Voraussetzungen4 dieser Kultur informiert sind; es setzen sich aber nur diejenigen in dem Kollektiv fest (d.h. werden durch soziale Praxis dauerhaft in Erinnerung gehalten), die für seine Selbsterhaltung und Steigerung brauchbar sind und – das ist die zweite funktionale Bedingung (vgl. oben) – in deren Rahmen es Individuen möglich ist, gesellschaftskompatible kognitiv-affektive ‚Wirklichkeitshaushalte‘ zu führen. Aus mehreren Möglichkeiten, stabilisieren sich nur diejenigen, welche diese Aufgaben hinreichend erfüllen. Symbolische Formen – Weltbilder, Mythen, Religionen – sind Autosuggestionen, die sich „im imaginativen Ökosystem ihrer Gesellschaften“ (Sloterdijk 1999: 416) bewähren müssen. Andersherum und mit Luhmann gesagt: dass ein kulturelles System mit einer bestimmten symbolischen Software operiert, ist immer schon Zeichen der über diese Software gelungenen Anpassung dieses Systems an seine Umwelt. Symbolische Formen geraten daher an vorhersehbaren Stellen in Krisen: wenn sich die medialen Voraussetzungen ihres Wirtskollektivs verändern; aber auch bei militärischen oder ökologischen Katastrophen müssen Kollektive die Brauchbarkeit ihrer identitätsstiftenden symbolischen Form ‚überdenken‘ (zumindest insofern diese solche Ereignisse nicht vorsieht). Wenn in solchen Situationen auf altes symbolisches Kapital zurückgegriffen wird,
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Der Begriff ‚medial‘ ist hier durchgängig in einer sehr weiten Verwendung zu verstehen: symbolische Formen sind nicht nur von Schrift und Buch, sondern auch von Straße und Werkzeug, letztlich von jedem realen Substrat, jeder Materialität, jeder Ökologie und Ökonomie, auf die sich das Kollektiv stützt, ‚informiert‘; alles, was Lebenswelt ausmacht, bis hin zu Klima und Landschaft, fließt in die Symbolisierung ein, allein deswegen, weil es der Sprache (als der Matrix des Symbolischen) Quellen für Metaphorisierungen bereitstellt.
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welches das Eintreten der Katastrophe nicht verhindern konnte, stellen sich charakteristischerweise kulturdepressive Effekte ein.
Ü BER EINIGE P ARAMETER VON H UMANISMUS
BEI DER
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Gehen wir nun unter diesen Vorzeichen zu jener symbolischen Formatierung über, die uns hier interessiert: zum Humanismus. Humanismus, so jedenfalls will ich den Begriff entwickeln, ist die Begründung einer Freundschaft zum fernen Anderen, d.h. zu einem Anderen, dem ich nicht mehr (nur) durch gemeinsames Handeln, Sprechen und Erleben ‚vor Ort‘ verbunden bin, sondern telekommunikativ, kraft eines neuen Mediums: der Schrift. Die Freundschaft begründet sich wesentlich darauf, dass die Befreundeten in hinreichendem Maß gleiches lesen (und sei es in Form von Briefen, die sie einander schicken): „Was von den Tagen Ciceros an humanitas heißt, gehört [...] zu den Folgen der Alphabetisierung. Seit es die Philosophie als literarisches Genre gibt, rekrutiert sie ihre Anhänger dadurch, dass sie auf infektiöse Weise über Liebe und Freundschaft schreibt. [....] Sie ließ sich weiterschreiben wie ein Kettenbrief durch die Generationen. Allen Kopierfehlern zum Trotz, ja vielleicht dank solcher Fehler, zog sie die Kopisten und Interpreten in ihren befreundenden Bann. [....] Man könnte das allen Humanismen zugrundeliegende kommunitarische Phantasma auf das Modell einer literarischen Gesellschaft zurückführen, in der die Beteiligten durch kanonische Lektüren ihre gemeinsame Liebe zu inspirierenden Absendern entdecken.“ (Sloterdijk 2001b: 302/304)
Unter den ermöglichenden Bedingungen für Humanismus ragt Schrift offenbar so besonders hervor, dass wir um eine medientheoretischphänomenologische Besinnung nicht herumkommen. Einer solchen Besinnung ist, gleichsam als erste Prämisse, McLuhans bekanntestes Theorem voranzustellen: Medien sind Extensionen des Menschen, d.h. sie erweitern seine Fähigkeiten oder Wirkräume. Diese werden jedoch nicht bloß quantitativ gesteigert; vielmehr liegt es im Wesen des Mediums bzw. des Technischen, etwas von Grund auf Neues in das ‚Spiel‘ zwischen Mensch und Umwelt einzubringen. Denn es ist nicht etwa so, dass mit dem Gebrauch eines Mediums jene Arbeit oder jenes ‚Projekt‘, auf die sich das Medium in erster Lesung richtet (z.B. der
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Transport von Worten über das Medium Schrift oder der Transport von Waren über das Medium Straße) bloß einfacher, menschliches Handeln in diesem Bereich bloß wirkmächtiger wird und alles übrige bleibt, wie es war. Kein Medium lässt irgendetwas an seinem bisherigen Platz. Medien machen nie Welt-Verhältnisse bloß einfacher oder größer, sondern sie verändern immer die Tiefengrammatik dieser Verhältnisse, verändern, um es mit einer phänomenologischen Wendung zu sagen, das In-der-Welt-Sein5 dessen, der das Medium gebraucht, im Gesamten. Die Evolution, in die der Mensch mit Hilfe seiner Medien eintritt, hat dabei von Beginn an einen Doppelcharakter: es ist die Geschichte einer kontinuierlichen Erweiterung zunächst kleiner Lebenssphären auf immer größere Formate, gleichzeitig die Geschichte einer fortschreitenden Distanzierung von der alten Natur und voneinander. Mit anderen Worten: Medien überbrücken Distanz und schaffen Distanz zugleich. Das gilt auch und besonders für die Schrift. Schrift als das erste Telekommunikationsmedium weitet die Reichweite bzw. Mächtigkeit des menschlichen Sprachvermögens dramatisch aus und verändert dadurch das Gefüge des raumzeitlichen Relevanzsystems: nunmehr lässt sich mit anderen kommunizieren, die sich in räumlicher, ja selbst zeitlicher Entfernung befinden. Schreibend ‚befreunden‘ wir uns nicht nur mit Zeitgenossen, sondern auch mit Autoren der Vergangenheit, ja selbst mit künftigen Lesern, von denen wir hoffen und denen wir implizit anheim stellen, unsere eigenen Projekte fortzuschreiben. Schrift erlaubt Vergleiche mit dem, was an anderen Plätzen und zu anderen Zeiten gedacht wurde, erlaubt dem Schreibenden einen Rückgriff auf das, was er geschrieben hat. SelbstBegegnung und Selbst-Reflexivität kommen dadurch in einem neuen Sinn in die Welt – eine wesentliche Veränderung der Weltsituation mit gewaltigen kulturellen Implikationen: Solange kulturelle Traditionen durch mündliche Überlieferung bzw. Rituale weitergegeben werden, können sich diese Traditionen in gleichsam homöopathischen Dosen verändern. Schriftkulturen hingegen können unliebsame Teile ihrer
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Menschliches In-der-Welt-Sein ist an sich Resultat von Mediengebrauch: Es sind die ersten primitiven, doch hinsichtlich ihrer ontischen Transformationskraft nicht zu unterschätzenden Medien – Steinwerkzeuge und Sprache –, welche die tierische Umwelthülle aufschlagen und zu menschlicher Welt transformieren (vgl. Slunecko 2008: Kap. IV).
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Tradition nicht so leicht loswerden (vgl. Goody/Watt 1968). Sie sind gezwungen, sich aktiver mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, sie zu interpretieren, sich von ihr zu distanzieren, oder aber das einmal Geschriebene – als das Buch der Bücher – absolut zu setzen.6 Schrift verändert auch die Verhältnisse der Sinne zueinander: Schreiben betont das Visuelle vor den anderen Sinnen und separiert es von diesen. McLuhan (1962, 1964) wurde nicht müde darauf hinzuweisen, dass mit dieser Betonung des Visuellen, d.h. unseres ausgeprägtesten Distanzsinnes, das Beobachten vor der unmittelbaren Teilnahme in Führung geht, sich umfeldeingebettete Nahintelligenz in Richtung Fernintelligenz verschiebt. Während Sprache in Situationen eingelassen ist und sich in Tonfall, rhetorischer Geste und auch inhaltlich simultan an das anpassen kann, was gerade geschieht, stellt das Schreiben eine wesentlich spezialisiertere Aktion dar – und vor allem eine actio in distans: „Eine Kultur mit phonetischer Schrift gibt den Menschen die Möglichkeit, ihre Empfindungen und Gefühle zu unterdrücken, wenn sie handeln. Handeln ohne zu reagieren, ohne mitbeteiligt zu sein, das ist der besondere Vorteil des alphabetischen Menschen des Abendlandes. [...] Das vielleicht bedeutendste Geschenk, das der westliche Mensch von der Schrift und dem Buchdruck mitbekommen hat, [...] ist das der Distanzierung und des Unbeteiligtseins: seine Macht zu agieren, ohne zu reagieren und sich zu engagieren.“ (McLuhan 1995: 136, 274)
In solchen Stellen hört man McLuhans Basisverdacht gegen den homo typographicus: dass dessen Fähigkeit, an etwas teilzuhaben, durch die Distanzierung und Abstraktheit der Kommunikation, die der Umgang mit der Schrift und verstärkt noch mit dem Buch ihm anerzieht, schweren Schaden genommen hat. Schrift (insbesondere der mit dem Griechischen einsetzende Sonderfall des Vokalalphabets7) ist für
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Die Etablierung der Buchreligion stellt daher auch die Zäsur der Religionsgeschichte dar (vgl. Assmann 1999, 2001).
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Das uns vertraute Vokalalphabet ist in Bezug auf diese Distanzierung besonders virulent; denn es ermöglicht eine weitergehende Autarkie bzw. Trennung des einzelne Lesers von seiner Gruppe als andere Schriftsysteme, die zu ihrer Entschlüsselung noch Kontextwissen, d.h. Operationen jenseits rein sequenzieller Analyse der Buchstabenfolge benötigen. Weil
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McLuhan alles andere als ein harmloser Transporteur von Nachrichten, sondern eine hochbrisante Psychotechnologie mit unvorhersehbaren sozialen, politischen und symbolischen Kollateraleffekten. Wie jedes Medium greift sie tief in das Welt-Verhältnis ihrer Operateure ein und konfrontiert diese mit neuen seinsgrammatikalischen Figuren (Selbstbegegnung, Wiederholbarkeit, Dekontextualisierung). Sie geht einher mit einer Neukonstellation von Sinn und Sinnen, einem „Austausch von Wahrnehmungen gegen Konzepte“ (deKerckhove 1995: 29), einer umfassenden Abstraktion, d.h. einer Abwendung von der primären, multisensorischen Erfahrung und einem Ersetzen von Situationsbezogenheit durch Beobachterdistanz. Das Vokalalphabet pflanzt „ins Zentrum unserer mentalen Organisation [...] eine Art raum-zeitliches Metronom“ (op.cit.: 30) ein, dessen Schlag in eine neue Weltlage überführt. Die neue Lage besteht wesentlich darin, nicht mehr unmittelbar in der Welt, sondern ihr analysierend gegenüber zu sein. Es ist evident, dass sich unter einer solchen system- und medientheoretischen Perspektive geistes-, mentalitäts- und begriffsgeschichtliche Fragen grundlegend neu stellen. Wer über humanitas nicht in zeitloser Abstraktion handeln, sondern die Heraufkunft dieses Denkens zu dessen eigenen Bedingungen verstehen will, muss den mentalen Distanzierungsschub bedenken, den die Schrifttechnik mit sich bringt. Symbolische Formen, die eine von der Schrift erreichte Kultur ‚auswirft‘, reagieren bereits auf die Grunddistanz zum unmittelbar Seienden, tragen die Grammatik der distanzierten Seinsverhältnisse in sich. Humanismus kann sich aus dieser Grammatik nicht lösen; er befreundet – auf einer neuen, abstrakteren Ebene – Individuen, für die es kennzeichnend ist, dass sie schon auf Distanz gegangen sind. Individuen – Unteilbare – sind sie vor allem deswegen, weil sie ‚sich selbst‘ nicht mehr mit den Mitgliedern ihrer Primärverbände teilen müssen und auch immer mehr zu Herren im eigenen Seelenhaus werden. Die Subjekte der humanistischen Befreundung sind zunehmend starke Subjekte – stark, weil sie sich von ihrer unmittelbaren
man mit dem Vokalalphabet – deKerckhove (1995: 11) nennt es treffend die „Software des Abendlandes“ – den Kontext nicht mehr braucht, kann sich der Sinn von den Sinnen und von der Interaktion noch weitergehend verabschieden und seine Agenden in einen abstrakteren Raum verlagern.
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Wirklichkeit distanziert haben und in einer zweiten, abstrakteren Welt aktiv geworden sind. Warum es auf dieser Basis in komplexeren und stratifizierteren Gesellschaften zu (Abstraktions-)Schüben im Feld des Symbolischen kommen muss, lässt sich aus einer soziokybernetischen Dynamik heraus noch weiter verstehen. Girard hat wiederholt (1990, 1992, 2002) auf die unhintergehbare Grundsituation menschlicher Gruppen hingewiesen: dass diese ständig von einem Eros-, Neid- und Eifersuchtsfluidum durchströmt sind, das sich aus den „stimulierenden Irritationen“ (Sloterdijk 2004: Kap. C-5) der ungleichen Verteilung von Besitz-, Geltungs- und erotischen Vorteilen innerhalb der Gruppe speist. Je geschichteter und komplexer Gesellschaften sind, desto größer werden mit den Differenzvorteilen der Begünstigten auch die Eifersuchts- und Neidspannungen – bis zu einem Punkt, an dem die betreffende Gruppe diese Spannung nicht mehr aushalten kann und in einem Ausbruch affektiver Selbstzerstörung zu kollabieren droht. Weil es genau das zu verhindern gilt, gehört „zur Gruppen-Lebensweisheit ein Eifersuchtsmanagement“, eine Schulung des richtigen Wünschens, eine „Gleichgültigkeit gegenüber vernachlässigbaren Differenzen“ und eine „Unempfänglichkeit gegenüber den nicht-vernachlässigbaren“ (a.a.O.). Eine wesentliche Aufgabe fortgeschrittener Kultur besteht daher darin, ihre Mitglieder vermittels symbolischer Manöver von knappen und daher polemogenen Besitzgütern zu distanzieren und ihr Interesse auf eine ‚zweite Welt‘ ideeller, d.h. auf unbegrenzt vorhandene bzw. unbegrenzt teilbare Güter umzulenken, bei denen die Provokation durch privates Besitzen entfällt. „Von dem Aufatmen, das diese Erhöhung des Begehrens bewirkt, lebt bis zum heutigen Tage alles, was irgendwie einen Bezug zum Geistigen hat.“ (A.a.O.)
H UMANISMUS – EIN MEHRFACH RECYCELTES P ROJEKT Auch der Humanismus ist Teil dieses Aufatmens, ist eine Erhöhung, ein Heben des Blickes auf ein Abstraktum und Ideal jenseits der faktischen Verhältnisse: So soll nicht mehr nur den Menschen in meiner Nähe, nicht mehr ausschließlich jenen, mit denen mich mein Geburtsschicksal zusammengeworfen hat, meine Solidarität und mein Interesse zu Teil werden, sondern dem Menschen an sich (vom ‚Pro-
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jekt Mensch‘ zu sprechen, wäre eine anachronistische, nietzscheanische Auslegung). Humanitas erlaubt daher Befreundung außerhalb der primären, durch Verwandtsein, gemeinsame Lebenswelt oder der durch Status definierten Gruppe. Mich mit fernen Anderen befreunden zu können, denen ich nicht durch gleichsam voraussetzungsloses gemeinsames Leben verbunden bin, bedeutet, aus dem automatischen Einssein mit dem Primärkollektiv, in das ich ‚geworfen‘ bin, zunächst dosiert und später immer deutlicher austreten zu können. Kraft der Distanz- und auch Einsamkeitstechniken des Lesens und Schreibens etabliere ich mich als schreibend-lesend-denkende Insel inmitten meiner Lebensweltgruppe, die ja immer auch ein Wahnkollektiv ist. Wer auf dieser Insel schreibt und liest, ist den Attacken von Paranoia nach außen und Mobbing nach innen, die sein Primärkollektiv regelmäßig durchzucken, nicht mehr so stark ausgesetzt. Umgekehrt kann Freundschaft zum fernen Anderen nur aufnehmen, wer in Bezug auf den Stallgeruch und die Stimmungen seiner Primärgruppe zu einer Grunddistanz fähig ist, dessen Blick sich über den Rand der unmittelbaren Lebenswelt gehoben hat. Wenn man also humanitas als einen symbolischen Regulator versteht, mit dem bestimmte Gesellschaften unter dem ‚Eindruck‘ bestimmter Umweltparameter ihre moralisch-soziale Balance einstellen, so darf man, gerade wenn man zu einer Kritik ausholt, die eben genannten Leistungen nicht unterschätzen, hinter die wohl wenige, die die Bedingungen des vorhochkulturellen Eingeschnürtseins in ein Clan- und Stammesdasein realistisch zu sehen imstande sind, ernsthaft zurück wollen. Und auch die hochkulturellen Alternativen zur humanitas sind nicht einladend: Seit dem Erstauftritt im antiken Griechenland (von dort haben sich die Römer wie so vieles auch die humanitas abgeschaut) ist die Liaison von Schriftkultur und Menschenbildung die eigentliche Alternative zum Vorurteil, zum Mobbing und zum enthemmenden Spektakel, für das die römische Arena der prototypische Ort wird, der seine Besucher zu einer gemeinsamen Primitivaffektmasse zusammenschweißt. Seit der Antike stehen wir vor dieser Alternative von Bestialisierung und Bildung – mit unzweifelhaften Verdiensten für das Buch und die aus ihm strömende humanitas. Neben dem Befreundungs- und Bildungsprogramm bzw. als Teil dieses Programms kommt der humanitas im griechischen Ursprungskontext noch eine weitere Aufgabe zu: Humanist zu sein bedeutet seit jeher auch eine gewisse Impfung gegenüber manischen Tendenzen in
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der eigenen Person – ein Anti-Hybris-Programm. Um eine polis zu betreiben, müssen die megalomanischen Antriebskräfte (der Männer) gezähmt werden; wer in Ämtern und Berufen belastbar sein soll, muss eine dosierte Abdankung von der eigenen Manie vollziehen. Diese Hervorbringung von Erwachsenen, die auf ihr volles manisches Potential Verzicht leisten und stattdessen bereit sind, sich innerhalb städtischer Aufgaben zu bewähren, war das Betriebsgeheimnis der griechischen Sozialpsychologie. Sie stellte den griechischen Mann so her, dass er motiviert genug zur Leistung blieb, sein Erfolgsbewusstsein dabei aber nicht überdrehte, einen Mann also, der nicht zu deprimiert und nicht zu größenwahnsinnig war – mit anderen Worten: einen Bürger. Genau diese wohltemperierte Hypomanie, die an der Schwelle der Übertreibung stehen bleibt und sich nicht in die Autoidolatrie verkehrt, ist in der humanitas mitgedacht und mitangelegt. Es ist an dieser Stelle unmöglich, das humanitas-Denken von diesen Anfängen bis in die Gegenwart zu verfolgen. Zweifellos ist am Ausgang der Antike ein Bruch zu vergegenwärtigen, nach dem humanitas und Lesekundigkeit in den Klöstern8 überleben und sich dort in Richtung auf einen christlichen Humanismus entwickeln. Sobald das Potential für freie städtische Intelligenz wieder da ist, kommt es in der Renaissance zu einem großangelegten Recycling der antiken humanitas-Software, in deren Gefolge der Mensch in den Künsten und Wissenschaften wieder ins Zentrum rückt. Trotz seines anti-polemogenen und anti-bellizistischen Gehaltes und Potentials verbindet sich humanistisches Denken dann in den europäischen Nationalstaaten mit nationalen Patriotismen zu einem französischen, einem deutschen usw. Nationalhumanismus.9 In dieser Periode gerät
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‚Aut liberi aut libri‘ – wenn Du Bücher willst, musst Du auf Kinder ver-
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„Wo der Humanismus [...] pragmatisch und programmatisch wurde, wie in
zichten – hieß es damals. den Gymnasialideologien der bürgerlichen Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert, weitete sich das Muster der literarischen Gesellschaft zur Norm der politischen Gesellschaft aus. Von da an organisierten sich die Völker als [...] Zwangsfreundschaftsverbände, die auf einen jeweils im Nationalraum verbindlichen Lektürekanon eingeschworen wurden. Was sind die neuzeitlichen Nationen anderes als die wirkungsvollen Fiktionen von lesenden Öffentlichkeiten, die durch dieselben Schriften zu einem gleichgestimmten Bund von Freunden würden. [...] Seiner Substanz nach
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die humanitas, die an sich eher ein Zukunftsdenken ist, in den Sog des Herkunftsdenkens, in dem die Gruppenidentität aus dem Hervorkommen aus einem gemeinsamen Ursprungsland und einer gemeinsamen Sprache phantasiert wird. Mediologisch könnte man es auch als Tücke des literarischen Befreundungsmediums auslegen, dass es die Sprachgrenzen schlecht überspringt. Wir finden jedenfalls national geprägte Humanisten auf beiden Seiten der deutschfranzösischen Kriegsfronten 1870/71, 1914-18 und auch 1938-45. An diesem Punkt möchte ich den historischen Schnelldurchlauf noch einmal für eine etwas ausgreifendere Überlegung anhalten: denn 1945 ist dem Humanismus bereits seine mediologische Basis entzogen. In einem fulminanten Siegeszug war in den 1920er und 30er Jahren ein neues Medium der Telekommunikation in Führung gegangen: das Radio. Der ‚Auszug‘ aus der Gutenberg-Galaxie, d.h. aus der Weltordnung des gedruckten Buches, ist aber mit medientheoretischer Notwendigkeit ein Auszug aus dem Humanismus.10 Medientheoretiker verstehen denn auch das Dritte Reich als eine ‚Klanggestalt‘ und den Faschismus als eine Folgewirkung des neuen Leitmediums, des Radios, das ein Jahrhunderte als Leser(humanisten) trainiertes Kollektiv am falschen Fuß – sprich: am Ohr – ‚erwischt‘: Kollektive, die ihre Distanzierungstechniken und ihre politische Rationalität im Feld des Visuell-Schriftlichen eingeübt hatten, erwiesen sich auf dem Audiokanal als hemmungslos verführbar und konnten den neo-partizipativen Versuchungen des Radios nichts entgegensetzen (vgl. Hörisch 2001: 318ff.).
war der bürgerliche Humanismus nichts anderes als die Vollmacht, der Jugend die Klassiker aufzuzwingen und die universale Geltung nationaler Lektüren zu behaupten.“ (Sloterdijk 2001b: 305) 10 „[D]ie Epoche des nationalbürgerlichen Humanismus ist an ein Ende gelangt, weil die Kunst, [...] inspirierende Briefe an eine Nation von Freunden zu schreiben [...], nicht mehr ausreich[t], das telekommunikative Band zwischen den Bewohnern einer modernen Massengesellschaft zu knüpfen. Durch die mediale Etablierung der Massenkultur in der Ersten Welt 1918 (Rundfunk) und nach 1945 (Fernsehen) und mehr noch durch die aktuellen Vernetzungsrevolutionen ist die Koexistenz der Menschen [...] auf neue Grundlagen gestellt worden. Diese sind [...] post-literarisch [...] und folglich post-humanistisch.“ (Sloterdijk 2001b: 306)
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Aus symbolkybernetischer Sicht markiert das Jahr 1945 einen hochsensiblen Zeitpunkt; denn Kulturen überprüfen im Ausklang von Maximalstresssituationen – prototypisch dann, wenn sie aus Kriegsereignissen wieder in den Normallauf zurückkehren – ihre moralischsymbolische Software. Identitätsstiftende Formen adjustieren und erneuern sich dabei in der Regel umso mehr, je katastrophaler die Ergebnisse des stressierenden Ereignisses sind (vgl. Mühlmann 1996). Die Desillusionierung der Hoffnung, dass humanistisches Denken uns auf der großen politischen Bühne vor dem Ausbruch barbarischer Exzesse schützen könnte, steht daher spätestens seit dem Ende des zweiten Weltkrieges zur Kenntnisnahme an. Doch gerade zu jenem Zeitpunkt, an dem alles für sein Scheitern spricht, erlebt das humanistische Modell – unter anderem in Form der Humanistischen Psychologie – noch einmal eine Nachblüte, eine zweite Renaissance; wie reflexhaft sie ist, mag man den ‚Bildungserfahrungen‘ der Geburtsjahrgänge 1927/1928 entnehmen, die 1945, mit 17 oder 18 Jahren, aus den Kriegsgräueln in die Schulen zurückkommen, um dort wieder Klassiker zu lesen. Sie kehren in eine Gesellschaft zurück, die sich „wieder als pazifiziertes Publikum von Lese-Freunden präsentierte – als könnte eine Goethe-Jugend die Hitler-Jugend vergessen machen [...], ein Traum von der Rettung der europäischen Seele durch eine radikalisierte Bibliophilie, eine schwermütig-hoffnungsvolle Schwärmerei von der zivilisierenden [...] Macht der Klassikerlektüre.“ (Sloterdijk 2001b: 307/308)
Nicht allerorts wird, als die mitteleuropäischen Kulturen nach 1945 nach einem neuen Dekorum tasten, die Frage nach dem Wiederbeleben des Humanismus im Sinn einer einfachen Bejahung und Wiederaufnahme der Klassikerlektüre beantwortet. Jean-Paul Sartre hält am 29. Oktober 1945 eine legendäre Vorlesung, die schon unmittelbar danach unter dem Titel „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“ auch in Deutschland in Umlauf kommt – ein Essay, der bis heute in humanistischen Gymnasien zur Pflichtlektüre zählt. Seine Antwort auf die Frage nach dem Schicksal des Humanismus lautet: Humanistische Werte, auf die wir uns als fest installierte, als tragende Säulen unserer Zivilisation verlassen können, gibt es nicht. Sie existieren nur, insofern wir sie in der Situation der Entscheidung mit jedem Mal neu finden und wirklich werden lassen. Wir können uns auf sie nicht in einem
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abstrakten Sinn berufen: Hoffnung gibt es nur im Handeln, aber in seinem Handeln ist der Mensch zur Freiheit verurteilt. Der Existentialismus ist nun deswegen ein Humanismus, weil „wir den Menschen daran erinnern, daß es außer ihm keinen anderen Gesetzgeber gibt und daß er in seiner Verlassenheit über sich selbst entscheidet, und [...] daß nicht durch Rückwendung auf sich selber, sondern immer durch eine Suche nach einem Ziel außerhalb seiner selber, welches diese oder jene Befreiung, diese oder jene besondere Verwirklichung ist – [...] der Mensch sich als humanes Wesen verwirklichen wird.“ (Sartre 2000: 176)
Sartres Existentialismus ist also zum einen ein neuer Humanismus der Eigenverantwortlichkeit und des Engagements, der Freiheit und der damit verbundenen Verantwortung. Er lässt sich nicht als eine aufs Podest gestellte Wahrheit über den Menschen fassen, sondern bleibt von der Situation unablösbar. Dieser Origo in der Wahrheit der Situation ist in geistesgeschichtlichem Sinn bedeutsam, insofern es damit zu einer gewissen Rücknahme der in der europäischen Antike ‚getroffenen‘ ‚Grundentscheidung‘ gegen die wahrheitsschöpferische Potenz des Situationswissens kommt. Trotz dieser Rücknahme heißt ‚entscheiden‘ trotzdem, immer noch und vor allem: ein starkes, zu wesentlicher Entscheidung mächtiges Subjekt sein, ein Subjekt, das sich gegen die Welt aufbäumt und in diesem Sich-Aufbäumen Erbe der großen „Anstrengungs- und Aufrüstungsgeschichte“ (Sloterdijk 1989: 195) europäischer Subjektivität ist. Zum anderen vertritt Sartre eine Philosophie des Transzendierens: der Mensch ruht nicht fertig in sich, er wird aus sich herausgetrieben, muss sich immer erst noch verwirklichen. Transzendenz ist hier also nicht klassisch verstanden als ein Jenseits des Menschen, sondern als ein Inbegriff der Möglichkeiten, auf die hin der Mensch sich zu sich selbst hin überschreiten kann. Transzendenz ist daher im Unterschied zur alteuropäischen Metaphysik nichts, worin man Ruhe finden könnte, sondern ist vielmehr das Herz der Unruhe. Ein solcher Appell für das Über-sich-Hinauswachsen auf die eigenen Möglichkeiten hin ist bei Vertreter/-innen der Humanistischen Psychologie durchaus vertraut. Aber auch bei diesem Motiv ist die Abkehr von der klassisch abendländischen Subjektform nur halb: behalten ist die Geste des aufragenden, vorwärtsrollenden, von seinen Idealen und Abstraktionen
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nach vorne, nach oben, in seine Zukunft propagierten Subjekts der alteuropäischen Metaphysik.
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Ich werde im Folgenden argumentieren, dass auch Sartres Runderneuerung des Humanismus zum Existentialismus das Problem, für dessen Lösung er sich ausgibt, in sich weiterträgt. Denn wie andere Spielarten von Humanismus auch – einschließlich der Humanistischen Psychologie – geht Sartres Existentialismus von einem Subjekt aus, das seiner selbst mächtig ist oder immer mehr werden kann und zumindest so mächtig und frei ist, um sich für sein Engagement bzw. Desengagement, seine Hinwendungen und Abwendungen zu entscheiden. Dies gilt auch in Hinblick auf die Entscheidung zu sich selbst, d.h. zum Transzendieren des Bisherigen. Ein wichtiger Theoretiker des personzentrierten Ansatzes (Schmid 1997), hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass auch in diesem Ansatz über die Zentralidee der Selbstaktualisierung eine Form von Ich-Bezogenheit weitergetragen wird, welche die Ideale der humanistischen Bewegung in einem kritischen Licht erscheinen lassen. Individuen, die die Aufgabe, ja die Pflicht zur Selbstverwirklichung haben: damit verbunden ist eine Vorstellung vom Subjekt, das weiß, was es tut und was es will, und das sich dabei womöglich selbst noch transparent ist, eine Vorstellung, von der wir uns wohl großräumig verabschieden müssen. Für diesen Abschied ist zu einem Teil psychoanalytisches Denken verantwortlich, insofern es den Vorstellungen von Rationalität und Mündigkeit des Individuums den Boden entzieht. Doch es sind vor allem kulturanthropologische, religionssoziologische, medientheoretische, ideengeschichtliche etc. Befunde, so man sie nur einigermaßen systematisch betrachtet, die darüber aufklären, dass die „Strukturen unseres Denkens“ (Mannheim 1980), unserer Subjektform und Mentalität – europäische Spezialitäten wie starke Subjektivität (wie sie – wie oben argumentiert – auch für den Humanismus noch Voraussetzung ist) und Transzendierenssehnsüchte eingeschlossen – Wachsfiguren im Wind der Geschichte sind. Ihr Wandel ist dabei nie die Angelegenheit einzelner; schon gar nicht sind sie im Bewusstsein derer angemessen repräsentiert, die sie ‚zur Aufführung‘ bringen. Sie laufen eher durch das (bewusste)
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Handeln hindurch, als dass sie darin ihren Anker oder Origo hätten. Wir steuern sie nicht, sondern erleiden sie.11 Auf eine LuhmannFormel gebracht: wir wissen nicht, was wir tun, und tun auch immer mehr, als wir wissen. Menschen – die Art und Weise ihrer Subjektivierungen – , so weiß es eine systemtheoretisch denkende Kulturtheorie, werden produziert, doch eben nicht so, dass sich jedes Individuum selbst (vermittels seiner Entscheidungen) produziert, wie das etwa auch die Rede von der Selbstaktualisierung nahe legt. Menschen werden von ihren Kulturen und Zeitaltern produziert, und zwar so tief hinein in ihre seelische Grammatik – das kann heute im Licht der angedeuteten medientheoretischen und soziokybernetischen Argumente ohne Übertreibung behauptet werden –, dass dies ein prinzipielles Ärgernis für Personalisten sein muss. Dieser Umstand ist v.a. in Bezug auf eine Dynamik interessant, die das Feld der Psychotherapie berührt: Solange nämlich Selbstaktualisierung personalistisch-substanzmetaphysisch aus der Seelenbeziehung zwischen der Einzelseele und der Gottseele gedacht wird – und eine andere Grammatik des Denkens stand z.B. Carl Rogers nicht zur Verfügung –, wird sie zwangsläufig von einem zumindest impliziten Beschuldigungsdiskurs begleitet. Kein personzentrierter Therapeut will das, doch lässt es sich aus der Tiefengrammatik europäischer Metaphysik heraus nicht vermeiden: Sich selbst aktualisieren heißt frei sein, sich selbst zu wählen; die Rede von Freiheit kann aber nicht ohne ihre dunkle Begleiterin, die Rede von der Beschuldigung auftreten.12 Denn
11 Bruner (1993) hat in diesem Zusammenhang einmal die schöne Formulierung gebraucht, dass uns die Kultur akquiriert und nicht – wie herkömmlicherweise und auch in der Psychologie meist gedacht – wir sie. 12 Beide Seiten – die Überinterpretation der menschlichen Freiheit und die damit einhergehende moralische Überlastung des Menschen – sind im alteuropäischen Diskursraum notwendig, um die Zurückführung weltlicher Übel auf die Sphäre göttlicher Erstursachen zu verhindern. Die Aufwertung der menschlichen Freiheitsbegabung und in Folge seiner Schuldkapazität war der einzige Weg, das Problem zu lösen, wie das Böse in der vom nur guten Gott geschaffenen Gesamtwirklichkeit Einzug hält und wem es zuzurechnen ist. Nach der Entscheidung für eine einpolige Metaphysik musste die menschliche Freiheit „als Reserve-Origo herhalten, aus der alles fließt, was seinstheoretisch nicht geheuer ist“ (Sloterdijk 2001c:
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wer frei ist, nach eigenem Belieben zu setzen und wieder zurückzunehmen, ist anklagbar und kann sich selber anklagen – wie wir das in den Therapien auch zur Genüge hören. Weil der Systemtheoretiker Luhmann derartigen Subjekt-Überlastungen nicht zugänglich ist, ist es zutreffend, ihn als „Anwalt des Teufels“ (Sloterdijk 2001c) zu bezeichnen. Selbstaktualisierung lässt sich nach Luhmann nicht mehr freiheitsmetaphysisch deuten, sondern nur mehr als Resultat von selektivem Anschließen an bestimmte und selektivem Abwenden von anderen Möglichkeiten, wie es für autopoietische Systeme typisch ist. Selektives Anschließen setzt aber keine starke Subjektivität, keine Reflexionshochleistung voraus, sondern nur ein kleines Intelligenzlichtlein, gerade groß genug, um eine Unterscheidung durchzuführen und sich für eine Seite des beobachteten Unterschieds zu entscheiden. Mit dieser Bescheidung aber, die zugleich Kern eines völlig neuartigen Anti-Hybris-Programms ist, wird die abendländische Schuldökonomie aus den Angeln gehoben: an die Stelle der großen, in Freiheit begangenen Tat oder Untat treten in der Luhmann-Welt Myriaden kleiner Einzelbeobachtungen, von denen jede einzelne für sich genommen keine nennenswerten Schuldenstände mehr hinterlassen kann. Die Entschuldung hat damit zu tun, dass sich angesichts solch bescheidener Intelligenzen, solch instabiler Beobachtungen gar kein Freiheitsdiskurs mehr führen lässt – ein Umstand, der in klassisch-metaphysischen Sprachspielen beheimatete Geister regelmäßig an Luhmann stört, solange sie die neuartige Entlastung nicht in den Blick nehmen können, die mit dieser Umstellung einhergeht. Vor allem aber ist es das Verständnis von Selbstreferentialität als Grundeigenschaft autopoietischer Systeme (die naturwüchsig zum Funktionieren von Systemen dazugehört und nicht erst mit einem starken Ich-Bewusstsein ins Spiel kommt, das das Gute aus Eigensinn
92). Es ist die starke, überhöhte Subjektivität, deren böse Selbstbezüglichkeit für das Unheil verantwortlich gemacht wird: „Die menschliche Freiheit entlastet Gott von der Zumutung, ein zweites Prinzip neben sich als Ursprung des Nicht-Intendierten zuzugestehen“ (op.cit.: 93). Den guten Gott bzw. den omne-ens-est-bonum-Gedanken zu retten, ist nur durch die Überbeanspruchung der Freiheit und Schuldfähigkeit des Menschen möglich – mit allen innerseelischen Überanstrengungen und Verkrüppelungen, die damit einhergehen.
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verdreht), welche die alteuropäische culpabilistische Matrix aus den Angeln hebt. Systeme müssen, als unvermeidliche Bedingung ihrer Selbsterhaltung, ständig zwischen Fremd- und Selbst-Pol oszillieren, die Endoreferenz kann also nicht mehr a priori als narzisstische Entgleisung und Entfremdung vom guten Sein gedacht werden. Damit ist der Selbstreferentialität „ihr gebührender Anteil an dem zurückgegeben, was man mit Nietzsche die Unschuld des Werdens nennen könnte – wir sagen im gegebenen Kontext besser die Unschuld des Funktionierens.“ (Op.cit.:112) Unschuld des Werdens – damit nochmals zum Thema Transzendieren. Auch diesbezüglich verlässt die Systemtheorie lange gehegte Vorstellungen von Entwicklung als Entfaltung einer eingefalteten Fülle, zu deren Wesen es gehört, sich zu entfalten – eine Vorstellung, die geradezu das Definiens der neoplatonischen europäischen Metaphysik darstellt. Die Systemtheorie bricht mit der (auch in Teilen der Humanistischen Psychologie zu findenden) Annahme, das Ausgedrückte hätte Präexistenz, wäre in einem inneren Kern immer schon in Latenz vorhanden – eine Annahme, die sich auch in Therapien als schwierig erweisen kann, wenn trotz verzweifelter Innenschau dieses vorgeblich verborgene Selbst, das sich aktualisieren will, nicht zum Vorschein kommen will. Systemtheorie dreht hier sozusagen das Verhältnis von ontologisch und ontisch um und versteht den Menschen als Produkt von Bildungskräften, „die ihrem ontologischen Rang nach unterhalb des Ergebnisses liegen.“ (Sloterdijk 2001a: 158) Statt „Werde, der Du (immer schon gewesen) bist“ heißt es dann: „Lasse Dich von dem überraschen, was Du noch nie zuvor an Dir erfahren hast.“
C ONCLUSIO Fassen wir zusammen: Symbolische Formen entfalten sich nicht ‚in Freiheit und Würde‘, sondern stehen evolutionär unter Druck: sie müssen unter je spezifischen Bedingungen soziale Synthesis gewährleisten, gleichzeitig müssen sich individuelle Wirklichkeitshaushalte damit bestreiten lassen. Kollektive ‚werken und weben‘ ständig an ihren lebenserhaltenden symbolischen Hüllen, ihren semantischen Lebensräumen, indem sie bestimmte symbolische Gehalte selektieren und sich gegenüber anderen verschließen. Über die ‚Natur‘ von Sym-
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bolproduktion in diesem Sinn aufgeklärt zu sein, markiert den Übergang in ein systemtheoretisches, nach-metaphysisches Denken über Zivilisation, in dem das symbolische Dasein des Menschen nahtlos an seine Naturgeschichte anschließt. Humanismus gehört zu einem Typus symbolischer Formen, welche das Subjektiv-Personale bzw. dessen Freiheitsgrade gleichzeitig betonen und zähmen. Die Betonung, d.h. die erstarkende Subjektposition ist eine psychohistorische Großleistung: mit ihr steigert sich die Emanzipation von der Unmittelbarkeit des Zusammengehörens mit der Primärgruppe bzw. wird der eigene Seelenhaushalt von animistischen Übergriffen weiter abgeschottet. Diese Entwicklung findet nicht zuletzt auf der Basis eines neuen, Abstraktion ermöglichenden Mediums statt: der Schrift. Mit dem Auszug aus der Gutenberg-Galaxie und dem Eintritt in das Zeitalter der intelligenten Maschinen und neuen Medien stehen wir heute vor einer völlig neuen Herausforderung, die in ihrem Ausmaß dem achsenzeitlichen Übergang in die Schrift-/Hochkulturen um nichts nachsteht. Die humanistische Selbstauslegung des Menschen ist von den neuen Medien umzingelt und in die Enge getrieben; sie musste in eine Krise geraten, weil sich das Lesen gegenüber der Bilderflut, die von einer Kultur der methodischen Massenerregung13 entfesselt worden ist, als ohnmächtig erweist. Es ist noch gänzlich unklar, wie in dieser veränderten Kultursituation das eigentliche Anliegen humanistischer Erziehung – nicht banalisierte und doch gesellschaftstaugliche Menschen hervorzubringen – fortgeführt werden kann. Die Semantik des Humanismus ist also aus gut angebbaren Gründen veraltet; nur „ein Posthumanismus mit seinen Diskurs- und Systemtheorien, die sich [...] von der humanistischen Tradition bewusst verabschieden, [scheint] der neuen Lage noch gewachsen zu sein.“ (Fischer 2002: 229; vgl. auch Flessner 2000) Die Chancen der neuen systemtheoretischen Symbolisierung der Kultursituation, von der ich hier diejenige Luhmanns fokussiere, liegen nicht zuletzt darin, dass die Subjekte aus ihren Hochdistanzierungen, Freiheitsspannungen
13 Das moderne ökonomische System basiert auf einer totalen Freisetzung der Neid- und Eifersuchtsimpulse, auf einer schrankenlosen Deregulierung der Konkurrenzverhältnisse, einer systematischen Aufreizung des Begehrens nach allem, was andere besitzen.
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und Schuldüberlastungen (und den damit verbundenen Sicherheitsrisiken) austreten und ein entspannt-gelassenerer, von den Dämonen der Distanzierung und Selbstaufrichtung weniger besessener Persönlichkeitstypus in den Blick kommt, ein weniger mobil gemachter, ein seitenbeweglicherer, ein Mensch mit geringerer Subjektspannung und ohne metaphysisches Auffangnetz (vgl. Slunecko 2003). Die Geschichte dürfte sich daher nach 1945 einmal zu oft zitiert haben, als noch einmal alles auf den Humanismus gesetzt wurde. Dies ist zunächst nur wenigen aufgefallen,14 doch heute schrillen bei vielen die Alarmglocken, sobald humanistische Argumente in gesellschaftspolitischen Diskursen auftauchen. Die Amerikaner haben in den letzten Jahrzehnten zur Genüge unter Beweis gestellt, dass sie gerade dann zu ihren härtesten imperialen Schlägen ausholen können, wenn sie humanistische Werte im Mund führen. Vielleicht ist aber gerade das ein Fingerzeig, d.h. das Problem darin begründet, dass eine symbolisch-moralische Form wie der Humanismus, die in überschaubaren Formaten Solidaritäten und Freundschaften stiften kann, nicht notwendigerweise geeignet ist, auch größere, auch weltpolitische Räume zu strukturieren. Hat nicht das 20. Jahrhundert gezeigt, dass die größten Katastrophen dort eintreten, wo der „menschenverbrauchende Großstaat direkt als menschenbildende Intimgruppe auftritt“ (Sloterdijk 1995: 69), wo also das Kleine falsch ins Große projiziert wird? Es ist klar, dass es auch weiter jene Intimzonen und Freundschaftssphären geben muss, die nötig sind, damit Menschen sich regenerieren und sich zum Gesetz der Dinge einen schöpferischen Spielraum erarbeiten können. Die Großwelttauglichkeit des dort erfolgreichen symbolischmoralischen Betriebssystems steht aber auf einem anderen Blatt.15 Humanismus ist aus einem Zeitalter auf uns gekommen, in dem Wahrheit, Weisheit, Schönheit und Lebbarkeit des Denkens einander
14 Heidegger war einer von ihnen; vgl. seinen 1946 als Antwort auf Sartres „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“ zu lesenden Brief „Über den Humanismus“ (vgl. Slunecko 2000). 15 Eine der verhängnisvollen ‚Qualitäten‘ europäischen Denkens besteht gerade darin, überall – hier: im Nah- und im Fernbereich – dasselbe Prinzip herrschen lassen zu müssen. Die ‚chinesische Mentalität‘ demonstriert demgegenüber, dass es möglich und günstig ist, Nah- und Fernbereichsethik auseinander zu halten, d.h. dass man privat Taoist und öffentlich Konfuzianist sein kann (vgl. Nisbett/Peng/Choi/ /Norenzayan 2001).
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nicht abgestoßen haben. Eine Systemtheorie wie die Luhmanns ist dagegen in großer Abhebung von lebensweltlichem Verständnis und Vitalinteressen konstruiert. Sie fliegt so hoch über einer geschlossenen Wolkendecke, dass das Befinden und das lebensdienliche Selbstverständnis von Erdlingen nicht mehr in Sicht ist. Sie stellt daher eine Zumutung dar, eine kränkende Wahrheitsoperation, die oft nicht einmal von Systemtheoretikern anderer Provenienz (Kriz 1997: 115f.; Fuchs 1993: 20f.; Maturana 1990: 38f.) mehr willkommen geheißen werden kann. In einem postmodernen Konzept von Aufklärung müssen solche Paradoxien des Wissens aber mitgewusst und mitberechnet werden: menschliches Denken ist primär als Einrichtung einer schützenden Symbolhülle zu verstehen, mit deren Hilfe sich die Kultursubjekte in den an sich bodenlosen Verhältnissen ihrer Existenz doch einhausen können. Mit Luhmanns (1990) Botschaft einer ‚haltlosen Komplexität‘ der Welt können sie nichts anfangen. Damit systemtheoretisches Denken, wenn es nur seiner eigenen Logik folgt, sich von Lebensinteressen seiner Träger nicht löst, ist eine Einbettung in eine lebbarmachende zeitgemäße Form von Humanismus Gebot der Stunde. Eine Art von Wissen darum mag an der Schnittstelle von humanistischer und systemtheoretisch inspirierter Therapie zu Tage treten. Hier besteht ein Lernfeld bezüglich der Kompatibilität und Anschlussfähigkeit moralisch-symbolischer Regulationen im Übergang vom Nah- zum Fernbereich, d.h. vom einzelnen Individuum zur Dyade und zu größeren Systemen; hier können sich bestimmte solcher Regulationen als Deckfiguren, Verbrämungen und Verschleierungen erweisen, die einer grundlegenden Veränderung misslicher Gesamtumstände entgegenstehen. Von der Einsicht in die der Kybernetik des Symbolischen her ergibt sich als Impuls für die Psychotherapie des abendländischen Menschen unter anderem, dass sie auch einen Beitrag zur Aufklärung der einzelnen bezgl. jener grundlegenden Subjekt(über-)spannung zu leisten hat (bzw. mit dieser Aufklärung Hand in Hand geht), die die Kultur den allermeisten von uns in die Wiege legt. Das bedeutet zu begreifen, dass diese Überspannung nicht nur Ausdruck des eigenen – vorzugsweise durch ‚oedipal issues‘ – fehlgeleiteten Ambitionsreaktors ist, auch nicht nur den Verirrungen eines Familiensystems oder einer Standes(dünkel-)lage geschuldet ist, sondern dass sie auf viel mächtigeren kulturellen Wellen reitet. Neurose besteht darin, hier
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hatte Freud Recht, dass man als einzelner Probleme auf sich nimmt, deren Bewältigung nur kulturell zu leisten ist. Entneurotisierung bedeutet einzusehen, dass das eigene Spannungsgestell nicht allein selbst- oder familiengemacht ist. Das entlastet und führt ins Offene: Entlassung aus der Neurose durch Einsicht in ihre kulturelle Mitverursachung. Wie es auch in bisherigen Psychotherapien für die Klienten Impulse geben kann, wesentliche Andere an neu gewonnenen Einsichten in die alten Verhältnisse teilhaben zu lassen und mit ihnen neue Verhältnisse zu schaffen, lassen sich aus der Einsicht in die kulturellen Bedingungen des eigenen Gewordenseins Tiefensympathien für die an den alten Verhältnissen laborierenden Kulturteilnehmer und eine Rück- und Vorsicht in Bezug auf das an ihr laborierende Außen erwarten – mit anderen Worten: Befreundungen mit einem größeren Außen. Im Gegensatz zum existenzialistischen Modell bedeutet Selbstübernahme hier allerdings nicht mehr einen heroischen Akt von Selbstfindung, sondern eine Art Wiederentdeckung all dessen, was uns von der Ferne her stimmt, eine Wiederentdeckung, die sozusagen im Liegen des Subjekts16 stattfindet, in der Haltung einer „Gelassenheit, die Niederlage in einem Kampf einzugestehen, den zeitweise zu gewinnen [die] eigentliche Katastrophe gewesen ist.“ (Sloterdijk 1989: 203) Wie wirkmächtig solche von den therapeutischen Welten ausgehenden Impulse für das große Ganze werden können, bleibt offen; die aktuellen Formen der Institutionalisierung des psychotherapeutischen Feldes lassen diesbezüglich noch wenig Hoffnung aufkommen. Es wird wohl noch dauern, bis wir Angebote wie ‚kontrollierter Ausstieg aus der kulturellen Neurose‘ im Leistungskatalog von Sozialversicherungen oder auf den Homepages von Psychotherapeuten finden werden. Die Psychotherapie, selbst dort wo sie als Gruppentherapie oder in Form von Workshops auftritt, folgt derzeit zunächst und zumeist einer Art ‚Schuhschachtelmodell‘, in dem Klienten, aus den Einschachtelungen ihrer Lebensumstände kommend, zeitlich und örtlich davon klar abgegrenzte therapeutische ‚Schuh-
16 Das eigene Hervorkommen, die kulturelle ‚Mitgift‘, das kulturelle Gift in diesem umfassenden Sinn schauen können, heißt immer auch, sich selbst als schwaches, ‚liegendes‘ in wesentlichen Dingen von den Umständen produziertes Subjekt zu sehen.
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schachteln‘ aufsuchen, um nach einer kurzen und streng vereinbarten Zeit wieder in ihre Ausgangsschachteln zurück zu kehren; die Lage der Therapeuten ist im wesentlichen vergleichbar. Therapie, die sich dem Wissen um die kulturelle Großwetterlage nicht verschließt, müsste sich demgegenüber um die Schaffung von Enklaven bemühen, in denen sich Menschsein angesichts einer globalen Kettenreaktion, die auf einen Implosionspunkt zuzulaufen scheint, umfassender regenerieren kann: um therapeutische Zonen mit permeableren Membranen nach Außen, die daher auch das Woher und Wohin ihrer eigenen Ressourcen im Blick haben und bei denen die therapeutischen Erfolge nicht ‚privatisiert‘ werden, sondern in die community abstrahlen. Es ist ein noch unklarer Aufbruch in eine therapeutische Zukunft, von der man zur Zeit nur eines sicher sagen kann: dass sie die Vergangenheit hinter sich lassen muss. Einen Übergang von einer alteuropäisch-personalistischen zu einer nachmetaphysisch-systemtheoretischen Perspektive zu finden, stellt aus der hier entwickelten Perspektive die Herausforderung der aktuellen Kultursituation dar. Man muss heute Kybernetiker werden, um überhaupt Humanist bleiben zu können, um die heraufkommende kybernetische mit der alten humanistischen Ordnung zu verbinden und um die nicht aufgebbaren kreativen Aspekte der humanitas in einen veränderten Denkraum und in eine veränderte Praxis hinein aufzuheben. Aber war, um mit meinem Leitautor zu schließen (Sloterdijk 2001b: 365), Humanität je etwas anderes als die Kunst, Übergänge zu schaffen?
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Autorenverzeichnis
Burow, Axel-Olaf, Dr., ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Kassel und forscht zu Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft sowie der Kreativitätsförderung. Ausgewählte Publikationen: Führen mit der Weisheit der Vielen. Wie Schulen zu Orten der Lernfreude werden können (in: b:sl – Beruf: Schulleitung, 1/2012, S. 12-13); Positive Pädagogik. Sieben Wege zu Lernfreude und Schulglück (Weinheim/Basel: Belz 2011); Gestaltpädagogik, Trainingskonzepte und Wirkungen. Ein Handbuch (Paderborn: Jungfernmann 1993). Johach, Helmut, Dipl.-theol., Dr. phil., arbeitete viele Jahre als Suchttherapeut und ist aktuell als Supervisor tätig. Er ist Mitbegründer der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft. Zu seinen Forschungsgebieten zählen: Geschichte der Humanistischen Psychologie, soziale Menschenrechte, interkultureller Dialog. Ausgewählte Publikationen: Von Freud zur Humanistischen Psychologie. Therapeutisch-biographische Profile (Bielefeld: transcript 2009); Erich Fromm heute. Zur Aktualität seines Denkens (mit Rainer Funk und Gerd Meyer, Hg., München: dtv 2000); Die Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1865-1880) (mit Frithjof Rodi, Hg., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, 2. Aufl.). Kochinka, Alexander, PD Dr. phil. habil., ist Privatdozent am Institut für pädagogische Psychologie der Leibniz Universität Hannover und vertritt dort seit 2007 die W3-Professur für Pädagogische Psychologie. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Emotionstheorien, Tagebuchforschung, Erzähltheorie sowie qualitative Forschungsmethoden. Er ist
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Mitherausgeber von Handlung, Kultur, Interpretation. Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften. Ausgewählte Publikationen: Emotionstheorien. Begriffliche Arbeit am Gefühl (Bielefeld: transcript 2004); Psychologie in der Praxis. Anwendungs- und Berufsfelder einer modernen Wissenschaft (mit Jürgen Straub und Hans Werbik, Hg., München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004). Kollbrunner, Jürg G., Dr. phil, ist Psychotherapeut und Psychoonkologe sowie Klinischer Psychologe an der Universitäts-HNO-Klinik in Bern. Ausgewählte Publikationen: Die Reanimation der Psychosomatik. Kritische Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven (Gießen: Psychosozial 2010); Funktionelle Dysphonien bei Kindern. Ein psycho- und familiendynamischer Therapieansatz (Idstein: SchulzKirchner 2006); Die Psychodynamik des Stotterns (Stuttgart: Kohlhammer 2004); Der kranke Freud (Stuttgart: Klett-Cotta 2001). Kozlarek, Oliver, Dr. phil. und Dr. en Humanidades, ist Professor am Instituto de Investigaciones Filosóficas der Universidad Michoacana in Morelia, Mexiko. Aktuelle Forschungsgebiete: Sozialtheorie mit Schwerpunkt Modernitätstheorien; Kritische Theorie; soziales und politisches Denken in Lateinamerika; Octavio Paz‘ Kritik der Moderne. Ausgewählte Publikationen: Shaping a Humane World. Civilizations – Axial Times – Modernities – Humanisms (mit Jörn Rüsen und Ernst Wolff, Hg., Bielefeld: transcript 2012); Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne (Bielefeld: transcript 2011); Humanismo en la era de la globalización: Desafíos y perspectivas (mit Jörn Rüsen, Buenos Aires: Biblos 2009). Slunecko, Thomas, A. Univ. Prof., ist seit 2002 Professor am Institut für Psychologische Grundlagenforschung der Universität Wien. Zudem ist er wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Kulturpsychologie und qualitative Sozialforschung (IKUS) sowie Mitglied des Österreichischen Psychotherapiebeirates. Seine Forschungsschwerpunkte: wissenschaftstheoretische, historische und politische Aspekte der Psychologie, Kulturpsychologie, Religionspsychologie, psychologische Ästhetik, Psychotherapie, qualitative Methoden und Medientheorie. Ausgewählte Publikationen: The Movement of Constructive Realism (Wien: Braumüller 1997); Psychotherapie. Eine Einführung
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(Stuttgart: Facultas/UTB 2009); Gesprächspsychotherapie. Die therapeutische Vielfalt des personzentrierten Ansatzes (mit Jürgen Kriz, Stuttgart: Facultas/UTB 2011). Straub, Jürgen, Prof. Dr. phil., ist seit 2008 Professor für Sozialtheorie und Sozialpsychologie in der Sektion Sozialpsychologie und Sozialanthropologie der Fakultät für Sozialwissenschaft der RuhrUniversität Bochum. Ausgewählte Publikationen: Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz (mit A r n e Weidemann & D o r i s Weidemann, Hg., Stuttgart: Metzler 2007); Handlung, Interpretation, Kritik. Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungsund Kulturpsychologie (Berlin/New York: de Gruyter 1999); Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte (Hg., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998).
Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Anna Sieben, Katja Sabisch-Fechtelpeter, Jürgen Straub (Hg.) Menschen machen Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme Juli 2012, 498 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1700-7
Jürgen Straub Der sich selbst verwirklichende Mensch Über den Humanismus der Humanistischen Psychologie Juli 2012, 266 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1699-6
Alexander C.Y. Huang Weltliteratur und Welttheater Ästhetischer Humanismus in der kulturellen Globalisierung Juli 2012, 218 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2207-6
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Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization André de Melo Araújo Weltgeschichte in Göttingen Eine Studie über das spätaufklärerische universalhistorische Denken, 1756-1815 Juni 2012, 280 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2029-5
Oliver Kozlarek, Jörn Rüsen, Ernst Wolff (eds.) Shaping a Humane World Civilizations – Axial Times – Modernities – Humanisms Mai 2012, 292 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1941-6
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Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Hubert Cancik Europa – Antike – Humanismus Humanistische Versuche und Vorarbeiten 2011, 524 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1389-0
Ernst Wolff Political Responsibility for a Globalised World After Levinas’ Humanism 2011, 286 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1694-1
Christoph Antweiler Mensch und Weltkultur Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung 2010, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1634-1
Jörn Rüsen (Hg.) Perspektiven der Humanität Menschsein im Diskurs der Disziplinen 2010, 454 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1414-5
Carmen Meinert, Hans-Bernd Zöllner (eds.) Buddhist Approaches to Human Rights Dissonances and Resonances 2010, 248 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1263-9
Gala Rebane, Katja Bendels, Nina Riedler (Hg.) Humanismus polyphon Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung 2009, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1172-4
Jörn Rüsen, Henner Laass (eds.) Humanism in Intercultural Perspective Experiences and Expectations 2009, 280 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1344-5
Helmut Johach Von Freud zur Humanistischen Psychologie Therapeutischbiographische Profile
Chun-chieh Huang Humanism in East Asian Confucian Contexts
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2010, 168 Seiten, Hardcover, 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1554-8
Oliver Kozlarek (ed.) Octavio Paz Humanism and Critique
Carmen Meinert (ed.) Traces of Humanism in China Tradition and Modernity
2009, 266 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1304-9
2010, 210 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1351-3
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