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German Pages 308 Year 2019
Sarah Hadda Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus
Image | Band 149
Sarah Hadda, geb. Ajnwojner (1985), promovierte am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Sarah Hadda
Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus Max Ernst, Man Ray, Luis Buñuel und Salvador Dalí
Die vorliegende Studie wurde im Februar 2018 von der Fakultät für Geschichtsund Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
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© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Man Ray, Rayografie, 1921, © Man Ray Trust, Paris / VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4648-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4648-5 https://doi.org/10.14361/9783839446485 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung. ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen [...]. aus: André Breton, Erstes Manifest des Surrealismus (1924)
Inhalt
Dank | 9 I.
Einleitende Bemerkungen | 11
II.
Methodik und Gliederung | 17
III.
Forschungsstand | 25
THEORIEN UND METHODEN – SCHNITTFLÄCHEN ZWISCHEN DENKEN UND FIGUR IV.
Über Idee, Figur und Metaphysik in der Kunst | 31
1. 2.
Von Wahrheit und Wirklichkeit – Erwin Panofskys Idea und Erich Auerbachs Figura | 32 Giorgio de Chiricos Pittura metafisica | 38
V.
Techniken des Schnitts | 45
1. 2.
Zur Abgrenzung von Montagen und Schnitt | 45 Montage und weitere Techniken bei André Breton | 53
VI.
Psychoanalytische Theorien und Modelle als Inspirationsquelle | 71
MEDIEN SCHÖPFERISCHER PROZESSE VII.
„Poetische Objektivität“. Max Ernsts Montagetechniken zwischen Kunst, Natur und Populärkultur | 89
1.
Entdeckung und Auswirkungen kinematografischer Elemente in Ernsts frühen Collagen (1919 bis 1921) | 91 Frottage – Metamorphose und Vieldeutigkeit | 108 Über das Objektive und Subjektive in Max Ernsts Montageverfahren | 122
2. 3.
VIII.
Der erfinderische Blick. Man Rays Entdeckung effektreicher Bewegung und Belichtung in der Dunkelkammer | 129
1. 2. 3.
Rayografie – Der inszenierte Zufall und die Poesie im Bild | 140 Les Champs délicieux (1922) | 142 Verfremdung und Identifikation im Spiegel-Bild | 153
IX.
„Bewusster Automatismus“ und semantische Verschiebung durch Montage. Prinzipien der Verknüpfung in Luis Buñuels Frühen Filmen | 159
1.
Un Chien andalou: „NOTHING, in the film, symbolizes ANYTHING“ | 166 L’Âge d’or: Köstliche Leichen im goldenen Zeitalter | 193
2. X.
„Die Eroberung des Irrationalen“. Salvador Dalís Entdeckung paranoisch-kritischer Aktivität | 215
1. 2. 3.
Paranoisch-kritische Methode – Das bewusst angelegte doppelte Vorstellungsbild | 219 Techniken und Metapher der Metamorphose – Bildanalysen | 227 Das „poetische Drama des Surrealismus“ | 240
XI.
Materielle Spuren surrealistischer Verfahren | 247
1. 2.
Zur Denkfigur des Schnitts | 247 Wiederaufführung surrealistischer Techniken des Schnitts: Der Stachel des Skorpions (2014) | 255
ANHANG XII.
Bibliografie | 265
XIII.
Abbildungen | 281
XIV.
Abbildungsverzeichnis | 295
XV.
Bildnachweis | 301
Dank
Prof. Dr. Fabienne Liptay (Lehrstuhl für Filmwissenschaft, UZH, Zürich) danke ich für die engagierte Betreuung dieser Arbeit und die inspirierenden Gespräche, die sie mit mir stets geführt hat. Ihre interdisziplinären Seminare im Rahmen der Kunstgeschichte an der LMU haben mein Interesse für die unterschiedlichen Medien im Surrealismus geweckt. Mein Interesse an der Verknüpfung von Psychoanalyse und Kulturwissenschaften entstand insbesondere während meines Magisterstudiums, ebenfalls unter der Betreuung von Prof. Dr. Fabienne Liptay, bei welchem ich in Kontakt mit Montagen und weiteren Techniken in der Malerei und im Film innerhalb des Surrealismus kam. Auch Prof. Dr. Hubertus Kohle (Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte, LMU, München) bin ich für seine wertvollen und konstruktiven Hinweise zu Dank verpflichtet. Die Teilnahme an einigen von ihm organisierten Forschungskolloquien, bei denen unterschiedliche Forschungsrichtungen in der Kunstgeschichte vorgestellt wurden, hat meine Arbeit ebenfalls bereichert. Weiterhin bedanke ich mich bei PD Dr. Jörg von Brincken (Akademischer Oberrat, Theaterwissenschaft, LMU, München), der freundlicherweise die Rolle des Drittprüfers in der Disputation übernommen hat. Für das aufschlussreiche Interview bedanke ich mich beim Künstlerduo M+M, das die Ausstellung „Der Stachel des Skorpions. Ein Cadavre exquis nach Luis Buñuels L’Âge d’or“ (Museum Villa Stuck, München; Institut Mathildenhöhe, Darmstadt) im Jahr 2014 kuratiert hat. Die Arbeit entstand während meiner Zeit als Stipendiatin des ELES - Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks. Den (ehemaligen) Mitarbeitern der Studienstiftung, allen voran Dr. Elvira Grötzinger und Dr. Eva Lezzi gilt mein herzlichster Dank. Ebenso geht mein Dank an die Doktorandenplattform für Kunstwissenschaften „dokunstLMU“, die es mir in den vergangenen Jahren ermöglichte, mit ande-
10 | Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus
ren Promovierenden in Kontakt zu treten, die mich mit Diskussionsbeiträgen stets ermutigten und in neue interessante thematische Bahnen gelenkt haben. Liebenswürdigerweise haben mir Prof. Dr. Liliane Weissberg (Distinguished Professor in Arts and Sciences und Professor of German and Comparative Literature, University of Pennsylvania, Philadelphia) und die Kunsthistorikerin und Autorin Marianne Karabelnik Hinweise und Ratschläge gegeben, die sehr wichtig für diese Arbeit gewesen sind. Profitieren konnte ich auch von der Zeit, die ich bei Dr. Philip Rylands, Emeritus der Peggy Guggenheim Collection und Foundation-Direktor für Italien, im Museum Peggy Guggenheim in Venedig verbringen durfte; er gewährte mir alle mögliche Unterstützung bei der Erforschung des Surrealismus. Besonders hilfreich waren zudem die netten und konstruktiven Unterhaltungen mit: Ingrid Raab (Raab Galerie Berlin); Bruno Grossetti (Grossetti Galleria d’Arte Contemporanea, Mailand); Eli Epstein-Deutsch (Samadhi Arts, Yale University, New Haven); Dr. Ivo Kranzfelder (Hochschule Augsburg). Ein weiterer Dank geht an die Künstler und Kollegen, mit denen ich in den vergangenen Jahren für unterschiedliche Projekte zusammengearbeitet habe und die mich mit Impulsen bereichert haben: Hans Hermann; Aaron Levine; Robert Richards; Pierre André Podbielski; Grazina Subelyte; Laura Altmann; Katja Wiehagen. Für Empfehlungen und stets offene Ohren danke ich besonders: Dr. Azadeh Sharifi und Hannelore Bodansky. Überdies bin ich Christina Walker hinsichtlich des Lektorats zu großem Dank verpflichtet. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern, Hanita und Fiszel Ajnwojner, die mich auf meinem Lebensweg stets liebevoll begleitet haben. Ich bin ihnen sowie meinen Schwiegereltern und Geschwistern für ihre Unterstützung und Liebe dankbar. Last but certainly not least möchte ich mich bei David bedanken, der für mich eine geduldige und endlose Inspirationsquelle war und ist. Ohne seine Fürsorge und Kraft wäre diese Arbeit undenkbar gewesen.
I. Einleitende Bemerkungen
Traumwelten, Verfremdungen, Brüche, Schock und Fragmentierung verbinden wir mit dem Surrealismus der 1920er und 1930er Jahre und mit seinen so verstörenden wie neuartigen Kunstwerken, Romanen oder Filmen. Will man zentrale verbindende Charakteristika der Bewegung beschreiben, setzt man vielleicht als erstes bei der Bezeichnung an. Der Begriff „surréalisme“ wird dem Schriftsteller Guillaume Apollinaire zugeschrieben und bedeutet „über der Realität“.1 Bis dahin wurde das ‚Wirkliche‘ (nicht nur in den Künsten) vor allem auf die tastbaren und sichtbaren Inhalte eines Wahrnehmungserlebnisses bezogen, das die Welt der äußeren Fakten als vernünftig, geordnet und zusammenhängend annahm, wogegen sich der Surrealismus stellte, indem er eine „Fluchtbewegung in die unbegreiflichen und unkontrollierten Bereiche der Einbildungskraft verkörpert“,2 wie es Werner Hofmann zugespitzt formuliert hat. Dieser Deutung leisteten die Surrealisten selbst Vorschub, wenn zum Beispiel ihr Begründer und Wortführer André Breton in Manifeste du surréalisme (1924) die Bewegung als den Triumph über die Nachahmungskunst bezeichnete.3 Die Ausgangslage des Surrea-
1
Den Begriff „sur-réalisme“ verwendete Apollinaire im Programmheft zu dem am 18. Mai 1917 aufgeführten Ballett Parade (Thema: Jean Cocteau, Musik: Erik Satie) und dann erneut als Untertitel seines im selbigen Jahr veröffentlichten Dramas Les Mamelles de Tirésias. Apollinaire, Guillaume: Parade [frz. 1917], in: Apollinaire zur Kunst. Texte und Kritiken 1905-1918, hrsg. und aus dem Französischen übersetzt von Hajo Düchting, Köln 1989, S. 277-278.
2
Hofmann, Werner: Grundlagen der modernen Kunst. Eine Einführung in ihre symbolischen Formen, 3. Aufl. Stuttgart 1987, S. 402.
3
Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus [frz. 1924], in: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, aus dem Französischen übersetzt von Ruth Henry, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 34. Das Manifest des Surrealismus [Manifeste du surréalisme] erschien 1924 bei Éditions du Sagittaire, Paris. Bretons Zweites Manifest des Surrealis-
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lismus war es, alle Antinomien des Denkens und Erlebens zu überwinden, alle gegensätzlichen Zustände des Wahrnehmens und Bewusstseins miteinander zu verschmelzen – kurz, einen Import der Realitätserweiterung in der Kunst, Literatur oder in Film und Fotografie zu schaffen. Es ging darum, eine Grenzerweiterung aufzusuchen, von welcher aus Wirkliches und Imaginäres aufhören, als Gegensätze wahrgenommen zu werden.4 Um die surrealistischen Werke richtig einzuschätzen, muss man zugleich den Anspruch ihrer Produzenten auf Wahrhaftigkeit in Rechnung stellen. Ihr Wahrheitsverlangen war auf möglichst direkte, unmittelbare und unbeschönigte Mitteilung bedacht, und dies manifestierte sich methodisch im objektiven Zufall; hatte der Zufall als poetisches Verfahren bereits bei Mallarmé und Apollinaire sowie bei Duchamp eine Rolle gespielt, durchdrang er nun bei den Surrealisten als objektiver Zufall Kunst und Leben gleichermaßen.5 Um ihn zu charakterisieren komme ich nochmals auf den Begriff Surrealismus zurück. Dabei geht es wie gesagt nicht um den Gegensatz, sondern um eine Erweiterung. Das heißt, das Wort umschreibt nicht ein ‚Jenseits‘ der Wirklichkeit, sondern eine Überwirklichkeit, in der scheinbare Gegensätze wie Traum und Realität oder auch Irrationalität und Vernunft sich auflösen.6 Entscheidend ist also das Verlangen nach Verbindung, und diese impliziert sehr wohl eine Faktenwelt des Alltäglichen. Der Surrealist erkennt diese nur anders. Demnach ist für Hofmann der Surrealismus „ein Naturalismus ohne Ufer, der die Allmacht der psychischen Realität behauptet und eine Wirklichkeitserforschung betreibt, die sich neuer Instrumente bedient und in Zonen vorstößt, die vom illusionistischen Naturalismus nicht betreten wurden“.7 Dieser Prozess sei nicht als Überschreitung, sondern eben als Erweiterung bzw. Vertiefung der Wirklichkeit zu sehen. Breton hat bereits betont, dass die Überrealität, um die es ihm geht, der Realität selbst innewohne. Er hat die surrealistische Tätigkeit weniger als ein Imaginieren, denn als ein Auf-
mus [Second manifeste du surréalisme] erschien 1930 bei Éditions Kra, Paris. In späteren Editionen wurden beide erfasst, die Schrift von 1924 erhielt den Zusatz „Erstes“. 4
Ebd., S. 18.
5
Vgl. Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung,
6
Breton, André: Zweites Manifest des Surrealismus [frz. 1930], in: Ders.: Die Manifes-
7
Vgl. Hofmann, Werner: Grundlagen der modernen Kunst, a. a. O., S. 402.
Fotografie, Film, München 2006, S. 164. te des Surrealismus, a. a. O., S. 82.
Einleitende Bemerkungen | 13
finden, Auslösen und Bloßlegen verstanden, das der Beschönigung etwa aufgrund von Moral oder Ästhetik zu entsagen habe.8 Hierbei wird der „objektive Zufall“ (hasard objectif) zum Angelpunkt surrealistischen Denkens und Schaffens: als Kraft, die Zufall und Notwendigkeit zusammenbringt. In Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (1974) verweist der Autor darauf, inwiefern auch aus André Bretons Nadja9 (1928) deutlich hervorgehe, was die Surrealisten unter ‚objektivem Zufall‘ verstehen.10 Ein Beispiel aus dem experimentellen Roman: Breton und seine Freunde entdecken auf dem Flohmarkt während des Durchblätterns eines Rimbaud-Buchs eine junge Verkäuferin, die nicht nur selbst dichtet, sondern auch Le Paysan de Paris (1924/25) von Louis Aragon gelesen hat, einem zentralen surrealistischen Werk.11 Der objektive Zufall beruht hier auf der Selektion übereinstimmender semantischer Elemente – wie Dichter und Aragon – in voneinander unabhängigen Ereignissen.12 Die Übereinstimmung wird dabei von den Surrealisten ermittelt; sie verweist auf einen nicht zu erfassenden Sinn. Das heißt, der Zufall stellt sich zwar von selbst ein, es bedarf Bürger zufolge aber von Seiten der Surrealisten einer Voreinstellung, die ihnen erlaubt, voneinander unabhängige Ereignisse auf Übereinstimmung von semantischen Elementen hin zu beobachten. Zusammenfassend bedeutet dies, dass der (objektive) Zufall unter gewissen Bedingungen herbeiführbar ist. Die Surrealisten widmen in diesem Sinne allem, was außerhalb wahrscheinlicher Erwartung liegt, erhöhte Aufmerksamkeit. Darüber wird es ihnen möglich, Zufälle zu registrieren, die wegen ihrer Belanglosigkeit bzw. Nichtübereinstimmung anderen entgehen. Die Surrealisten suchen diese Momente des Unvorhersehbaren im Alltäglichen. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich daher auch auf diejenigen Phänomene, die in einer zweckrational geordneten und orientierten Welt keinen Platz haben: die Entdeckung des Wunder-
8
André Breton: „Die Worte, die Bilder bieten sich dem, der zuhört, lediglich als Sprungbrett des Geistes an. In dieser Weise wollen die Seiten verstanden werden, die in Les Champs magnétiques, dem ersten rein surrealistischen Werk, unter dem Titel Barrières vereint wurden und worin wir uns, Soupault und ich, als solche unparteiische Gesprächspartner erweisen.“ Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 35.
9
Breton, André: Nadja [frz. 1928], aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main 2002.
10 Vgl. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974, S. 88. 11 Breton, André: Nadja, a. a. O., S.48-49. 12 Vgl. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, a. a. O., S. 88.
14 | Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus
baren im Alltäglichen.13 Sie geben sich allerdings damit nicht zufrieden und versuchen vielmehr, das Außergewöhnliche zu provozieren. Vor allem Bretons Bemühung um die Erschaffung einer Mythologie14 (der Moderne) zeigt, inwiefern es ihm darum ging, den Zufall zu beherrschen bzw. das Außergewöhnliche wiederholbar zu machen. Laut Bürger liegt jedoch nicht in dem Versuch, das Außergewöhnliche zu beherrschen das Ideologische der surrealistischen Deutung der Kategorie des Zufalls, sondern in der Tendenz, im Zufall das ‚Objektive‘ erkennen zu wollen. Sinnsetzung ist stets die Leistung von Individuen. Für die Surrealisten ist Sinn in den zufälligen Ding- bzw. Ereigniskonstellationen enthalten, die sie als ‚objektiven Zufall‘ registrieren. An der „sozusagen zufälligen Annäherung“, etwa bei poetischen Bildern, so Breton, entzünde sich ein Licht des Bildes, für das wir unendlich empfänglich sind. Der Wert des [poetischen] Bildes hängt ganz von der Schönheit des erzielten Funkens ab; ist also folglich die Funktion des Spannungsunterschieds zwischen den beiden Leitern. [...]. Man muß [...] zugeben, daß die beiden Begriffe, die das Bild ausmachen, vom Geist nicht etwa mit Absicht auf den zu produzierenden Funken voneinander abgeleitet wurden, sondern daß sie das Ergebnis eines Vorgangs sind, den ich surrealistisch nenne [...].15
Dass dieser Sinn sich für Bürger der Fixierung entzieht, ändert nichts an der surrealistischen Erwartung, dieser könne in der Realität angetroffen werden. Das gegen die Gesellschaft protestierende (surrealistische) Individuum überlässt sich seiner Erfahrung, deren Merkmal, zumindest theoretisch, in der „Nichtzweckgebundenheit“ bestehe.16 Dass der im Zufall gesuchte Sinn dabei stets ein unfassbarer bleiben muss, hat seinen Grund darin, dass er als bestimmter Sinn wieder zweckrationale Beziehungen eingehen und damit seinen Protestwert verlieren würde. Die Produktion von Sinn, die eine des Subjekts ist, erscheint als „Naturprodukt“, das es nur zu entziffern gilt. Diese Zurückführung des in „kommunikativen Prozessen produzierten Sinns auf Natur“17 ist nicht willkürlich: Sie hängt mit der Haltung des Protests zusammen, der für die Frühphase des Surrealismus
13 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 18-19. 14 Vgl. hierfür unter anderem Bretons kunst- und geistesgeschichtlichen Stammbaum im ersten Manifest sowie im zweiten die Liste mit den Namen, die Breton wieder aus der Gruppe verwies, weil sie seine Regeln nicht befolgten; Breton, André: Zweites Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 62-63. 15 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 35. 16 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, a. a. O., S. 90. 17 Ebd.
Einleitende Bemerkungen | 15
charakteristisch ist. Bürger schlägt vor, die Kategorie des Zufalls in der Bedeutung und dem Selbstverständnis, die ihr die Surrealisten gegeben haben, als ideologische Kategorie anzusehen, die es dem Wissenschaftler erlaubt, die Intentionen der Bewegung zu erfassen, ihm aber zugleich die Aufgabe stellt, sie kritisch zu hinterfragen. Ein Prinzip, das eng mit dem objektiven Zufall korrespondiert und ebenso prägend für den Surrealismus sein sollte, ist die Montage. Sieht Bürger in der Montage generell das „Grundprinzip avantgardistischer Kunst“18, kommt sie auch dem Wunsch des Surrealismus nach Verbindung von sozusagen zerstückelten, fragmentarischen Wirklichkeiten (die der objektive Zufall liefert) entgegen. Aber nicht, um eine neue Totalität zu schaffen, sondern um durch indirekte Mittel zu Verfremdungen zu führen, die zudem durch die Art der Rezeption seitens des betrachtenden Individuums durchdrungen sind. Breton erklärt, dass es die Erfindungen der Fotografie und des automatischen Schreibens im 19. Jahrhundert waren, „die den alten Ausdrucksweisen einen tödlichen Schlag versetzten“,19 indem sie es den Künstlern erlaubten, sich von den ‚banalen‘ Aufgaben der mimetischen Darstellung zu befreien. Künstler konnten nun zu unbekannten Bereichen der Darstellung aufbrechen, wie zum Beispiel in die Abstraktion. So ist die Montage im Surrealismus weit mehr als innovatives Handwerkszeug oder Mittel zum Zweck, sondern eine so grundlegende wie komplexe Denkfigur, die es in dieser Arbeit zu analysieren gilt. Diese Art der indirekten Mittel sowie die Art und Weise des Aufnehmens durch das Individuum führen jeweils automatisch zur Überwindung von Schnittflächen zwischen Innen- und Außenwelt, Denken und Figur – und somit kann der Zufall im Surrealismus (paradoxerweise) als „Chiffre der Freiheit“20 erscheinen. Inwiefern der objektive Zufall im Surrealismus nicht willkürlich ist, zeigt sich zudem anhand der Erkenntnisquel-
18 Ebd., S. 87. 19 Breton, André: Max Ernst [frz. 1921], in: Ders.: Die verlorenen Schritte. Essays, Glossen, Manifeste [Les Pas perdus, 1924], aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock, Berlin 1989, S. 77-79, S. 78. Breton bezieht sich hier allerdings nicht auf Janet (vgl. Kap. II), sondern auf Lautréamont und Rimbaud, wenn er von der Erfindung des automatischen Schreibens im 19. Jahrhundert spricht. Vgl. hierfür Fußnote 1, in: Ders.: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1928], in: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1965], aus dem Französischen übersetzt von Manon MarenGrisebach, hrsg. von Herbert Freiherr von Buttlar, Carl Linfert und Eduard Trier, Berlin 1967, S. 5-54, S. 14; siehe auch S. 53-54. 20 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, a. a. O., S. 90.
16 | Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus
len des Traums, der freien Assoziation, der sogenannten Dingwahl21 und Verfahren des Automatismus (wie die écriture automatique), auf die sich der Surrealismus gestützt hat und die es ermöglichen – neben den operierenden Verfahren des Verbindens – den Schnitt als Denkfigur im Surrealismus historisch und ideologisch zu kontextualisieren.
21 Für Antonin Artaud beispielsweise ging es bei der surrealistischen Revolution um die „spontane Neueinteilung der Dinge, gemäß einer gründlicheren und verfeinerten, durch Mittel der gewöhnlichen Vernunft nicht zu erhellenden Ordnung, aber dennoch eine Ordnung, wahrnehmbar für man weiß nicht welchen Sinn [...];“ hierin erkannte er die Erfüllung der von ihm und den anderen Surrealisten angestrebten neuen Sehweise. Artaud, Antonin: Die Tätigkeit des Büros für surrealistische Forschungen, in: Ders.: Surrealistische Texte [frz. 1976], hrsg. und übersetzt von Bernd Mattheus, München 1996, S. 54-57, S. 54.
II. Methodik und Gliederung
Die Argumente, die gegen den ‚objektiven‘ Zufall im Surrealismus vorgebracht werden, konzentrieren sich vordergründig auf die Gestaltungsmittel und vernachlässigen dabei die metaphorische, interpretative Wirkmacht seitens des Betrachters, die sich aber in dieser Arbeit als Aspekt der surrealistischen Inszenierungen herausstellen wird. Die Erkenntnis, dass sich Montagen besonders gut dafür eignen, um zum Irrationalen oder Unbewussten zu führen, hat sich in den verschiedenen Medien und Kunstsparten des Surrealismus durchgesetzt, nicht aber für die Metapher des Schnitts, die sich, wie sich noch herausstellen wird, durch die verschiedenen Medien im Surrealismus zieht. Dies hängt mit den Intentionen der Surrealisten selbst zusammen, die sich einerseits durch den Automatismus der Kontrolle des Bewusstseins der gängigen Ästhetik, Vernunft und Moral zu entledigen hofften. Zum anderen behandelten sie neuartige Themen jener Epoche wie Mechanismen des Unbewussten, der Traumdeutungen sowie des Imaginären, die sich ohnehin kaum gestalten oder formen lassen, wobei erschwerend hinzukam, dass der Surrealismus eine direkte Vermittlung von Inhalten vermied und regelrecht auf einen größtmöglichen Freiraum für subjektive Interpretationen abzielte. Die automatische Schreibweise1 oder das sprachlich freie Assoziieren funktionieren als Methoden der Psychoanalyse, um an das Unbewusste zu gelangen. Ähnliches wird von André Breton als Forderung an den Surrealismus immer wieder erhoben, der diesem Anspruch aber schon aufgrund seiner Medialität – vor allem im Bereich der bildenden Kunst, die Gegenstand dieser Arbeit ist, – kaum genügen kann. Denn während die automatische Schreibweise oder der rei-
1
Écriture automatique: Der französische Psychotherapeut Pierre Janet setzte das Verfahren im Rahmen therapeutischer Versuche ca. ab 1889 ein. Von ihm soll die Bezeichnung stammen. Aber bereits Comte de Lautréamont (=Isidore Lucien Ducasse) arbeitete damit in Les Chants de Maldoror (1869).
18 | Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus
ne Gedankenfluss leicht semantische Inkohärenz erzeugt, kommen die Zeichnung, Malerei, Fotografie und der Film nicht umhin, diese durch quasi greif- und sichtbare Mittel ästhetisch zu gestalten. Im Folgenden wird daher auf ästhetischer Ebene die Denkfigur des Schnitts herausgearbeitet, die sich bald als ein Medium schöpferischer Prozesse darstellt, die zu Wechselwirkungen zwischen semantischen und ikonografischen Gestaltungsprozessen führen. Gerade diese (faktischen und semantischen) Schnittflächen sind es, an denen bestimmte Zeichen unsichtbarer ‚Sachverhalte‘ sichtbar werden, die unabhängig vom Abgebildeten zu neuen Sichtweisen führen können. Der „Schnitt“ im Surrealismus sollte eben nicht nur aus der Sicht der Montagen betrachtet werden. Eine andere, konstituierende Sicht auf den Schnitt ergibt sich nämlich aus der Perspektive der Metapher. Christina Brandt hat in ihrem Aufsatz Metapher (2013) verschiedene Ansätze bezüglich der Rolle der Metapher zusammengetragen.2 Dabei geht Brandt insbesondere der Frage einer praxeologisch orientierten historischen Epistemologie nach. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Frage nach der Funktion von Metaphorik zu einem wesentlichen Feld in der theoretischen Auseinandersetzung um die Rolle von Metaphern in den Wissenschaften bzw. allgemeiner in wissens- oder erkenntniskonstituierenden Prozessen.3 In einer auf die Praktiken der Wissenskonstitution ausgerichteten Analyse wird schließlich die Frage nach dem Verhältnis von Metaphern, Experiment und Wissensobjekten aufgeworfen. Mit den Theorien des US-amerikanischen Sprachphilosophen Max Black seit den 1950er Jahren erfuhr nicht nur die Analyse der sprachlichen Funktionsweise der Metapher, sondern insbesondere auch die Auseinandersetzung um die Rolle von metaphorischen Redeweisen in den (Natur-)Wissenschaften eine Neuausrichtung, die seitdem auch einen Einfluss auf die kulturwissenschaftlichen Diskussionen ausgeübt hat. Bezug nehme ich in diesem Buch unter anderem auf die Interaktionstheorie4 von Black und I. A. Richards, da sie mit der Annahme bricht, dass die Metapher
2
Brandt, Christina: Metapher, in: Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. von Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes und Yvonne Wübben, Stuttgart 2013, S. 21-28.
3
Ebd.
4
Der Ausdruck „Interaktionstheorie“ hat sich im Anschluss an Black ‚eingebürgert‘, der diese Interpretation der Metapher von der „Substitutionstheorie“ und der „Vergleichstheorie“ abhebt. Vgl. Black, Max: Die Metapher [Metaphor, 1954], in: Haverkamp, Anselm (Hrsg.): Die Theorie der Metapher, 2. Aufl. Darmstadt 1996, S. 54-79; Eckard, Rolf: Interaktionstheorie der Metapher: I. A. Richards, Max Black, in: Meta-
Methodik und Gliederung | 19
auf der Wortebene angesiedelt sei und als Ersetzung eines Ausdrucks durch eine metaphorische Umschreibung, das heißt eines Wortes in uneigentlicher Bedeutung zu verstehen sei. Vielmehr handle es sich bei der Metapher um den Zusammenschluss von zwei interagierenden semantischen Feldern. Für Black treten dabei „das System von Gemeinplätzen“5 und neue Bedeutungsebenen, die im metaphorischen Akt zusammentreffen, in gegenseitige semantische Wechselwirkung und führen zur wechselseitigen Neuperspektivierung. Erst diese Interaktion bringt die dadurch notwendigerweise immer kontextabhängige Bedeutung der Metapher hervor. Black hatte in seiner systematischen Neubestimmung der Metapher die Verwendung der literarischen Metaphern mit der Bildung von Analogien und Modellen in den Naturwissenschaften verglichen. Ein Aspekt der Differenz von literarischen und wissenschaftlichen Metaphern betrifft den Neuigkeitsgehalt der Metapher, denn die Metapher kann zwar zu neuen ‚Richtungen‘ führen, sie muss dafür jedoch selbst nicht innovativ sein. In der Tat handelt es sich auch bei den von mir betrachteten surrealistischen Montage-Erfindungen, die jeweils zu überaus wirkungsvollen Metaphern führen, um kulturhistorisch bereits etablierte Bestände, denen sich unter anderem der Philosoph Hans Blumenberg in einer Theorie der Unbegrifflichkeit widmet.6 In der vorliegenden Arbeit geht es vorwiegend um solche Metaphernbestände, die – durch Collage, Frottage, Rayografie, Filmschnitt oder paranoisch-kritische Methode – mit dem frühen französischen Kino und dessen filmischen Mitteln und Effekten sowie mit psychoanalytischen Methoden von Sigmund Freud und Jacques Lacan, wie sie von den Surrealisten rezipiert wurden, zusammenhängen. Obwohl es Brandt zufolge eine geradezu unüberschaubare Vielzahl an Veröffentlichungen zur Metapher gibt, sind Studien, die sich detailliert der Analyse von konkreten Metaphern in historischen oder gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschungssituationen widmen, rar.7 Der im Jahr 2013 erschienene Aufsatz Denkfigur von Ernst Müller umfasst Ansätze zur Denkfigur als metaphorische Denkbewegungen. Der Begriff „Denkfigur“ sowie die „Figur“ und „Figuration“ sind insbesondere in den Kulturwissenschaften anerkannte, aber keineswegs terminologisierte oder lexikalisierte
pherntheorie. Typologie. Darstellung. Bibliografie, De Gruyter Lexikon, Berlin 2005, S. 35-47. 5
Ebd., S. 44.
6
Vgl. Blumenberg, Hans: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: Ders.:
7
Brandt, Christina: Metapher, a. a. O., S. 27.
Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt am Main 1983.
20 | Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus
Begriffe.8 Für Müller hat Kants Dualismus zwischen erkennbarer und phänomenaler Welt überhaupt erst den von der Denkfigur (wieder) zu überbrückenden Gegensatz zwischen Anschauung und Verstand wirkungsvoll befestigt und so werden heute seiner Meinung nach gerade diese Begriffe aus seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft, genutzt, um die Denkfigur theoretisch und epistemologisch zu begründen.9 In beiden Fällen handelt es sich für Müller um das Problem der Darstellung, im Falle der erkennbaren Welt von „Verstandesbegriffen“ und im Fall der phänomenalen Welt von „Vernunftbegriffen“10. Im zweiten Fall impliziere das für die Denkfigur einen begrifflich nicht auflösbaren Rest und in Analogie zur Erkennbarkeit werde allein die Form der Reflexion, nicht aber würden Inhalte dargestellt. Müller beruft sich hier auch auf einen Spezialisten für kulturelle Leitmetaphern, Alexander Friedrich: Im Gefolge von Hans Blumenbergs Metaphorologie und Theorie der Unbegrifflichkeit – der darin bereits den Symbolbegriff als allgemeineres Erkenntnisproblem aus dem ÄsthetikKunst-Problem herausgelöst hat – bezeichnet Friedrich „Denkfiguren als einen spezifischen Typ von Metaphern, der, auf der Ebene unbegrifflichen Denkens verbleibend, einen konstitutiven Anteil an Begriffsbildungsprozessen hat“.11 Eine Denkfigur mache bei Friedrich (im Sinne Kants) etwas Unbegriffliches erkennbar und etwas Begriffliches anschaulich. Für Müller verhält sich die Denkfigur zur Metapher also in dem Sinne, dass die Figur der Erweiterung der Begriffsgeschichte dient, in der Metapher und terminologisierter Begriff nicht als Gegensätze, sondern als unterschiedliche Zustände gefasst werden. Im Rahmen der Begriffsgeschichtsforschung rückt Müller in die Nähe von Blacks Metapherntheorie: Begriffe werden metaphorisch oder Metaphern werden zu Begriffen. Dies ist speziell für die vorliegende Arbeit von Bedeutung, wo es ebenfalls um Übertragungen geht. Denn damit der Schnitt als Denk-Figur im Surrealismus ausgewiesen werden kann, spielen Übertragungen durch Verknüpfungsprinzipien und zwischen bestimmten Disziplinen eine große Rolle. Sie lenken den Blick auf die Wechselwirkungen zwischen den surrealistischen Montagemethodiken, verwendeten Materialitäten sowie ikonischen Semantiken oder Metaphern. Analysen am historischen Material, welche die konstitutiven Funktionen der Metaphorik für die Herausbildung von neuen Wissensordnungen verdeutlichen,
8
Vgl. Müller, Ernst: Denkfigur, in: Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Hand-
9
Ebd., S. 30.
buch, a. a. O., S. 28-32. 10 Ebd. 11 Ebd.
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sollen im Folgenden veranschaulichen, inwiefern die Verknüpfungsprinzipien der Surrealisten insbesondere auch zur „Metapher des Schnitts“ bzw. zu assoziativen und interpretatorischen Möglichkeiten führen, die der surrealistische Schnitt dem Rezipienten eröffnet. Darstellungsziel der Arbeit ist es, diese komplexen kommunikativen Prozesse zwischen sinnlichem Material und Bedeutungssinn, die offenkundig Mechanismen des Unbewussten in ästhetischen Mehrwert übersetzen, anhand ausgewählter Werkanalysen zu veranschaulichen. Dazu wird der Schnitt als Denkfigur auf der (theoretischen) Ebene der, wie ich sie nenne, Schnittflächen zwischen Denken und Figur sowie als technischer Schnitt auf der Ebene des Figurativen, als Medium schöpferischer Prozesse, aufgezeigt; und es wird begründet, weshalb ich in dieser Arbeit über den Schnitt als Denkfigur im Surrealismus spreche. Im ersten Teil werden für die Arbeit relevante Aspekte einzelner Theorien und Methoden am Anfang des 20. Jahrhunderts in ihren Grundzügen dargestellt: anhand der Kunsttheorie von Erwin Panofsky, der Literaturwissenschaft von Erich Auerbach, der Malerei von Giorgio de Chirico sowie der Psychoanalyse von Sigmund Freud und Jacques Lacan, die in ihrem Verhältnis zu surrealistischen Positionen gekennzeichnet werden. Die Notwendigkeit der Schaffung einer solchen theoretischen Grundlage ergibt sich aus der Tatsache, dass eine Betrachtung und Analyse des Schnitts als Denkfigur im Surrealismus in der Forschung bisher nicht geleistet wurde. So interdisziplinär die Surrealisten vorgegangen sind, muss auch diese Arbeit über die (bildende) Kunst hinaus fächerübergreifend argumentieren. Zur Klärung der Gemeinsamkeiten und Differenzen wird ideengeschichtlich vorgegangen. Dieser theoretische Teil erhält somit einen grundlegenden Charakter, dient aber auch der Vorbereitung der im zweiten Teil folgenden Analysen der surrealistischen Werke sowie ihrer Einbettung in einen Kontext, der die Auseinandersetzung des Surrealismus mit der Methodik des Montageprinzips umfasst. Ebenfalls sollen hier Beispiele surrealistischer Freudund Lacan-Rezeptionen angeführt werden, die in den monografischen Untersuchungen des zweiten Teils nicht stattfinden. Um die Darstellung auf das Thema des Schnitts als Denkfigur im Surrealismus auszurichten, sind für den zweiten Teil zwei Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Zum einen müssen in den künstlerischen Gestaltungsmitteln der einzelnen Surrealisten die Methodiken der Montage mittels verschiedener Medien aufgezeigt werden. Hierzu eignet sich im Theorieteil, neben der Darstellung von Montagetechniken bei Comte de Lautréamont in Les Chants de Maldoror (1869) und bei André Breton in Les Champs magnétiques (1920) oder in Nadja (1928), der Blick auf die Montage und Collage als paradigmatische Darstellungsformen der Moderne. Dies ist schon deshalb nötig, um die historische Entwicklung der Mon-
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tage intermedial und interdisziplinär darzustellen. Zum anderen werden jene Aspekte in den psychoanalytischen Methoden angesprochen, die geeignet waren, bei den Surrealisten bestimmte Verfahren anzuregen, sei es, dass sie generellen surrealistischen Interessen entsprachen, sei es, dass sie sich als spezifische Rezeption im Werk einzelner Künstler auswirkten. Von zentraler Bedeutung haben sich vor allem Freuds Die Traumdeutung (1899)12 sowie Lacans Paranoiatheorien (1932)13 erwiesen. Darin sind bereits verschiedene Spezifika angelegt, mit denen sich die Mechanismen des Verbindens bzw. der Wechselbeziehungen von Medien sowie die häufig anzutreffenden Zerstückelungsfantasien, Geschlechterambivalenzen, Kastrationsangst oder Fetischtheorien in den surrealistischen Werken charakterisieren bzw. deuten lassen. Einem Missverständnis gilt es dabei von vornherein zu begegnen. Die vorliegende Arbeit unternimmt keine tiefenpsychologischen Analysen von Bildwerken, sondern untersucht, inwieweit bestimmte rhetorische Diskurse des Unbewussten, der Traumdeutung oder des Imaginären als bewusst rezipierter Einfluss produktionsästhetisch auf ikonografischer Ebene sowie auf der Ebene des Werkprozesses oder der Rezeption eine Rolle gespielt haben und spielen. Hierfür werden im Hauptteil einzelne Montagemethodiken der Künstler Max Ernst (frühe Collagen, Frottage), Man Ray (Rayografie), Luis Buñuel (Schnitt in Un Chien andalou, F 1929; L’Âge d’or, F 1930) und Salvador Dalí (paranoischkritische Methode) analysiert. Zudem werden die Bildmotive untersucht, um zu veranschaulichen, mit welchen Themen sich die Künstler im Beobachtungszeitraum dieser Arbeit, zwischen 1919 und 1939,14 beschäftigten; ebenso wird in ei-
12 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung [1900], Bremen 2012; die Erstausgabe erschien am 4. November 1899 und wurde auf das Jahr 1900 vordatiert. 13 Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit [De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité, 1932], aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Wien 2002; Lacan promovierte 1932 mit der Arbeit Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit. Die spätere Konzeption des Spiegelstadiums ist ebenfalls von Interesse für die vorliegende Arbeit, dient aufgrund des Erscheinungsjahrs 1936 allerdings mehr für (nachträgliche) Interpretationszwecke der surrealistischen Werke als zur Analyse lacanscher Rezeption seitens der Surrealisten (Dalí stellt eine Ausnahme dar). Sie gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Theorien Lacans und wurde erstmals 1936 auf dem 14. Internationalen Kongress für Psychoanalyse in Marienbad vorgestellt. 14 Die Zeitschrift Littérature (Nr. 1, März 1919) von André Breton, Louis Aragon und Philippe Soupault sowie das Gemeinschaftswerk von Breton und Soupault, Les
Methodik und Gliederung | 23
nem weiteren Schritt untersucht, wohin bzw. zu welchen Metaphern ihre Werke jeweils führen können. Dieses Vorgehen soll aufzeigen, inwiefern der Schnitt – wenn auch auf unterschiedliche Weise – die verschiedenen Medien und individuellen künstlerischen Arbeitsprozesse im Surrealismus durchzieht. Gleichzeitig soll hierüber verdeutlicht werden, inwiefern die Künstler an ihre Grenzen stießen, indem sie nur innerhalb dessen agieren konnten, was sie vorfanden bzw. was sie zum Programm erhoben hatten. Auf diese Weise wird entlang der Denkfigur des Schnitts während der ganzen Arbeit immer wieder der ‚objektive‘ Zufall im Surrealismus kritisch hinterfragt, da er die eklektische geistesgeschichtliche Fundierung des Surrealismus besonders kenntlich macht. Weder die allgemeinen noch die einzelnen Künstlerkapitel sollten als erschöpfend betrachtet werden. Die Arbeit versteht sich eher als Beitrag bzw. Anregung für weitere Untersuchungen, um die Interessensphären und Teilaspekte des Surrealismus herauszustellen.
Champs magnétiques (1920), gelten als Landmarke für den Beginn des Surrealismus. Der Kriegsbeginn 1939 markiert sein Ende. Vor allem in den Zwischenweltkriegsjahren sind die unterschiedlichen Methodiken der Montage der surrealistischen Künstler entstanden, die es in dieser Arbeit zu untersuchen gilt.
III. Forschungsstand
Der Stand der Forschung wurde bereits auf den ersten Seiten anskizziert. Hier soll noch von Arbeiten die Rede sein, die sich mit der Montage als einer paradigmatischen Darstellungsform der Moderne, mit der Metapher des Kinos im Surrealismus sowie mit freudscher und lacanscher Rezeption seitens des Surrealismus beschäftigen und wichtiges Material für die vorliegende Arbeit lieferten. Technik und Tendenz der Montage1 (1978) von Annegret Jürgens-Kirchhoff veranschaulicht, inwiefern in der Moderne das Material künstlerischer Arbeit eine bestimmte Bedeutung erlangt. Die Autorin verweist darauf, inwiefern die Montage in der Moderne von Anfang an mehr als die Materialbeherrschung war. Die Studie Montage und Collage2 (2000) von Hanno Möbius stellt den umfassenden Versuch dar, die Montage nicht nur in ihrer systematischen, sondern auch in ihrer historischen Komplexität darzustellen. Dabei zeigt Möbius die formalen Besonderheiten der Montage und ihre Entwicklung auf; es geht ihm dabei um die Geschichte der Montage mit Blick auf ihre Konzeptionen und Funktionsweisen. Petrus Schaesberg analysiert in Das aufgehobene Bild 3 (2007) ebenfalls die Funktion und Entwicklungsgeschichte der künstlerischen Technik Collage; er fokussiert dabei, wie die Collage gezielt jene Vorstellungen untergräbt, wie das Werk sich gemäß angeblicher ästhetischer Prämissen entfalten soll, um dadurch künstlerische Produktionsprozesse auf die Imagination des Betrachters zu übertragen.
1
Jürgens-Kirchhoff, Annegret: Technik und Tendenz der Montage in der bildenden
2
Möbius, Hanno: Montage und Collage, München 2000.
3
Schaesberg, Petrus: Das aufgehobene Bild. Collage als Modus der Malerei von Pablo
Kunst des 20. Jahrhunderts, Lahn-Gießen 1978.
Picasso bis Richard Prince, München 2007.
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Hans Bellers Handbuch der Filmmontage4 (2009) stellt durch verschiedene Autoren vor allem Konventionen und Prinzipien des Filmschnitts vor, die im geschichtlichen Zusammenhang reflektiert werden. Das Handbuch vermittelt sowohl die Theorie als auch die Praxis der Filmmontage. Verschiedentlich wird schon von den Zeitgenossen des Surrealismus selbst (über die Metapher des Schnitts) auf das populäre Format des Kinos verwiesen, namentlich bei Max Ernst, Man Ray oder Marcel Duchamp sowie bei André Breton. Bretons Werk Les Pas perdus5 (1924) umfasst Essays, Glossen und Manifeste des Autors, die seine Loslösung von Dada und Hinwendung zum Surrealismus veranschaulichen und mit den neuen Bedingungen der Medien Fotografie und Film verwoben sind. Breton vergleicht beispielsweise in seinem Aufsatz Max Ernst (1921), der in Les Pas perdus wieder erschienen ist, die Verfahrensweisen des Künstlers mit der filmischen Zeitlupe und dem Zeitraffer. Auch der Max-Ernst-Fachmann Werner Spies bekräftigt in Dada and the Dawn of Surrealism6 (1993), dass Breton die Beziehungen zwischen Ernsts Collagen und populärem Kino klar erkannte. Veronika Rall wiederum untersucht in Kinoanalyse7 (2011) die Schnittflächen zwischen Kino und Psychoanalyse und hinterfragt dabei, was an der Psychoanalyse plastisch bzw. visuell darstellbar ist. Bezüglich der frühen surrealistischen Filme Buñuels ist Linda Williams’ Figures of Desire8 (1992) zu nennen. Die Autorin veranschaulicht darin, inwiefern die Verknüpfungsprinzipien, die bei Buñuel zum Einsatz kommen, sowohl auf die Metapher im Film als auch in der Sprache angewendet werden können. Arturo Schwarz arbeitet in seinem Standardwerk Man Ray9 (1977) unter anderem Rays Beitrag zum Film heraus, indem der Autor die Entdeckung von Spezialeffekten einschließt, die später vielen Filmemachern Anregungen lieferten.
4
Beller, Hans (Hrsg.): Handbuch der Filmmontage. Praxis und Prinzipien des Filmschnitts, Konstanz 2009.
5
Breton, André: Die verlorenen Schritte [frz. 1924], aus dem Französischen übersetzt
6
Spies, Werner/Camfield, William A./Hopps, Walter: Max Ernst: Dada and the Dawn
von Holger Fock, Berlin 1989. of Surrealism (Ausstellungskatalog: The Museum of Modern Art, New York; The Menil Collection, Houston; The Art Institute of Chicago), München/Houston 1993. 7
Rall, Veronika: Kinoanalyse. Plädoyer für eine Re-Vision von Kino und Psychoanaly-
8
Williams, Linda: Figures of Desire, Berkeley/Los Angeles 1992.
9
Schwarz, Arturo: Man Ray [engl. 1977], München 1980.
se, hrsg. von Christine N. Brinckmann, Marburg 2011.
Forschungsstand | 27
Jean Starobinskis Aufsatz Freud, Breton, Myers10 (1968) behandelt die Rezeption Freuds durch die Surrealisten und zeichnet dabei unter anderem die Freud-Breton-Verbindung nach. Jean-Michel Rabaté analysiert in seinem Artikel Loving Freud Madly11 (2002), inwiefern die Surrealisten für ihre Ziele die Theorien Freuds teilweise umschrieben; er bezieht sich dabei vor allem auf die Theorie der Hysterie und Paranoia im Surrealismus. Zur Theorie des Imaginären bei Dalí hat bereits Peter Gorsen in Kunst und Krankheit12 (1980) unter anderem die Metamorphosen der ästhetischen Einbildungskraft herausgearbeitet. Elisabeth Bronfen ihrerseits fokussiert die Wechselbeziehung der Medien in Geheimnis, Macht und Tod13 (2009). Hanna Gekles Tod im Spiegel14 (2016) analysiert Lacans Theorie des Imaginären und geht dabei auf die Verbindung zwischen Lacan und Dalí ein. In Isabel Maurer Queipos und Nanette Rißler-Pipkas Dalís Medienspiele15 (2007) stellen unter anderem Peter Bürger in seinem Aufsatz Kunst der Metamorphose – Metamorphose der Kunst16 sowie Volker Roloff in Surreale Metamorphosen und Spiegelbilder17 dar, inwiefern Dalí für seine paranoisch-kritische Methode die Bestätigung in Lacans Theorien der Paranoia gefunden hat. Peter Gorsens Der kritische Paranoiker18 (1983) hat zuvor bereits die Entdeckung Jacques Lacans für den Surrealismus herausgearbeitet.
10 Starobinski, Jean: Freud, Breton, Myers, in: L’Arc: Freud, Nr. 34 (1968), S. 87-96. (Erneut erschienen in: La Relation critique, Paris 1970, S. 320-341.) 11 Rabaté, Jean-Michel: Loving Freud Madly: Surrealism between Hysterical and Paranoid Modernism, in: Journal of Modern Literature, Vol. 25, Nr.3-4, Sommer 2002, S. 58-74. 12 Gorsen, Peter: Kunst und Krankheit, Frankfurt am Main 1980. 13 Bronfen, Elisabeth: Geheimnis, Macht und Tod: Dalís Vexierspiele, in: Dies.: Crossmappings. Essays zur visuellen Kultur, Zürich 2009, S. 267-291. 14 Gekle, Hanna: Tod im Spiegel, 1. Aufl. 1996, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2016. 15 Maurer Queipo, Isabel/Rißler-Pipka, Nanette (Hrsg.): Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, Bielefeld 2007. 16 Bürger, Peter: Kunst der Metamorphose – Metamorphose der Kunst, in: Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, a. a. O., S. 39-48. 17 Roloff, Volker: Surreale Metamorphosen und Spiegelbilder, in: Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, a. a. O., S. 4977. 18 Gorsen, Peter: Salvador Dalí, der kritische Paranoiker, Frankfurt am Main 1983.
Theorien und Methoden – Schnittflächen zwischen Denken und Figur
Ziel dieses Kapitels ist es zu veranschaulichen, inwiefern das Prinzip der Montage als Ausgangslage für den Schnitt als Denkfigur im Surrealismus gilt. Dazu dient zuerst einmal eine Verortung der Bewegung in den (kunst-)theoretischen Diskursen und Praktiken der Zeit; zudem arbeite ich wichtige Aspekte der Psychoanalyse heraus, die den Surrealismus und seine spezifischen Verfahren maßgeblich beeinflussten. Die Metamorphosen, Verfremdungen, Lücken, Brüche, Schnitte, Fragmentierungen und Auflösungen, die sich – auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene – im surrealistischen Werk feststellen lassen, werden dabei im Folgenden als Ausdrucksformen einer Offenheit verstanden, die den Betrachter als Teilaspekt (oder quasi Co-Produzent) der surrealistischen Inszenierungen einbezieht, indem sie an den Betrachter appellieren, sie assoziativ aufzuladen und inhaltlich in der Vieldeutigkeit des Dargestellten zu interpretieren. Um zu veranschaulichen, wie hier die Metapher des Schnitts zum Ausdruck kommt, wenn der Betrachter die sogenannten Schnittflächen zwischen Denken und Figur überwindet, wird zunächst auf Erwin Panofskys Werk Idea1 (1924) und Erich Auerbachs Aufsatz Figura2 (1938) eingegangen. Dabei geht es nicht darum, den Surrealismus in ihre ikonografischen, ikonologischen und literaturphilosophischen Theorien einzubetten, denn Panofskys und Auerbachs Methodiken stellen einen Unterschied zum Surrealismus dar, indem für sie das Bild nicht für sich steht und sie den Gebrauch von Bildern als kognitive Elemente rechtfer-
1
Panofsky, Erwin: Idea [1924], in: Eidos und Eidolon – Ernst Cassirer. Idea – Erwin
2
Auerbach, Erich: Figura [1938], in: Mimesis und Figura, hrsg. von Friedrich Balke
Panofsky, hrsg. von John Michael Krois, Hamburg 2008, S. 51-284. und Bernhard Siegert, Paderborn 2016, S. 121-188.
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tigen. Es soll hier vielmehr um den kategorischen Zusammenhang zwischen dem Begriff „Denkfigur“ und der Metapher des Schnitts gehen, ähnlich wie Panofsky die ‚Idee‘ als Verbindung zwischen einem Subjekt und einem Objekt positioniert sowie Auerbach die ‚Figur‘ als Schnittfläche zwischen Imagination und Darstellung sieht. Daran anknüpfend geht es um das Metaphysische in der Malerei bei Giorgio de Chirico, der sich mit dem Ideenbegriff insofern auseinandersetzt, als er durch bestimmte Kombinationsverfahren in der Malerei eine Hinterfragung der Wahrnehmung der Dinge zu erreichen sucht. Seine Werke gelten als Herleitung für das Geistige im Surrealismus. In einem nächsten Schritt erfolgt die narrative Zusammenführung bzw. Abgrenzung von Schnitt und Montage. Hierbei wird die Montage als ein Zusammenschluss zweier (oder mehrerer) interagierender semantischer Felder veranschaulicht, der zur Metapher führt und der für den Betrachter und Zuschauer eine Überwindung von Schnittflächen zwischen Denken und Figur darstellt. Die Interaktion der Metaphernglieder bringt, wie bereits gesagt wurde, die dadurch notwendigerweise immer kontextabhängige Bedeutung der Metapher hervor, worüber im Hauptteil dieser Arbeit der Schnitt auch anhand von konkreten Beispielen als historische Denkfigur im Surrealismus beschrieben werden soll. Zunächst gilt es jedoch zu ergründen, welche Verknüpfungsprinzipien im Surrealismus zum Einsatz kommen, die zur Interaktion ihrer Metaphernglieder führen. Hierfür werden die Montage und andere Techniken, die André Breton in seinen Schriften für den Surrealismus propagiert, veranschaulicht. Der Schlussteil dieses Kapitels stellt, wie zuvor erwähnt, die Theorien der Traumdeutung von Sigmund Freud sowie der Paranoia von Jacques Lacan vor, um aufzuzeigen, inwiefern ihre neuartigen Konzepte als Inspirationsquelle für (Arbeits-)Prozesse im Surrealismus gelten können.
IV. Über Idee, Figur und Metaphysik in der Kunst
Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurde von einer Vielzahl kunsttheoretischer und -praktischer Diskurse geprägt, die auch ihren Einfluss auf die Surrealisten hatten. Wassily Kandinskys Über das Geistige in der Kunst (1911) – der Essay erschien anlässlich der ersten Ausstellung des „Blauen Reiter“ – wirkte nach. Analytiker wie Freud thematisierten das Unbewusste, Vorbewusste, Träume und Hysterien. Panofsky entwickelte in seiner Geschichte der europäischen Kunsttheorie, die auf der platonischen Verdammung der produzierten Mimesis fußt, das Konzept der (künstlerischen) ‚Idee‘. Aber auch Wissenschaftler wie Albert Einstein, der in der Physik den Schritt weg von der Empirie und hin zu Gedankenexperimenten wagte, waren Teil dieses Zeitgeistes. Zu ihm gehört außerdem eine kollektive psychische Wunde, die die Surrealisten als traumatisierte Kriegsveteranen symbolisieren und die es im weiteren Verlauf der Arbeit im Hinterkopf zu behalten gilt. Dieses Zeitalter hat nicht nur verändert, was und wie wir sehen, sondern auch das Sehen selbst hat eine völlig neue Bedeutung und Qualität gewonnen. Es ist ein Sehen, welches, beispielsweise durch Freuds Abhandlung über die Traumdeutung, das betrachtete Szenario zunächst in einen Träger verwandelt, auf dem verschiedene Verbindungen von Dingen zum Vorschein kommen können. Der Kunsthistoriker Aby Warburg, der durch das Warburg Institute in engem Austausch mit Panofsky stand, spürte seinerseits nicht gleich offensichtlichen, versteckten Verbindungen nach: 1924 begann er damit, für seinen Bilderatlas Mnemosyne Abbildungen von Kunstwerken, darunter auch Werbebilder, Briefmarken oder Pressefotos, zu sammeln. Ihn interessierte, wie Bildmuster, die schon in der Antike existierten, über die Zeiten hinweg fortleben und sich immer wieder neu inkarnieren. So wollte er zugleich Vorprägungen von Bildern im kollektiven Gedächtnis ausfindig machen. Warburg arrangierte sein Bildmaterial stets neu, entdeckte somit ständig andere Bezüge. Das Projekt blieb unvollendet.
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Seine nur in Form von Fotografien überlieferten Bildtafeln können als fast metaphysischer Versuch betrachtet werden, der den ‚Urzustand‘ der Bilder anstrebte. Hierin sehe ich eine Parallele zur surrealistischen Montage, die durch ihr Verbinden von sich oft wesensfremden Elementen zu neuen Bildern bzw. tieferen ‚Wirklichkeiten‘ fand. In beiden Herangehensweisen wird die Suche nach einer erweiterten Realität deutlich, die mit den Ideen der Psychoanalyse von einem erweiterten Bewusstsein im Einklang stand. Sie spiegeln jeweils ein Überwinden von Schnittflächen zwischen Denken und Figur wider, das nicht zuletzt zur Hinterfragung der Rezeption von Wahrnehmung führt.
1. VON WAHRHEIT UND WIRKLICHKEIT – ERWIN PANOFSKYS IDEA UND ERICH AUERBACHS FIGURA Panofskys Essay Idea, der im selben Jahr wie das erste surrealistische Manifest von André Breton erschienen ist, kann als Experiment verstanden werden, in dem versucht wird, eine Rechtfertigung für das Ab-Bildhafte zu konstruieren. Dabei eröffnet der Text diverse Interpretationsmöglichkeiten, beispielsweise dass er eine bildverehrende Agenda für die Humanwissenschaften darstellt. Idea sowie Erich Auerbachs Figura sind herausragende Zeugnisse der Frage nach der Urteilsfähigkeit, die bereits im 18. Jahrhundert ihren Anfang nahm und die heute noch innerhalb der kunsthistorischen Auseinandersetzung sowie in anderen kulturellen Bereichen (Stichworte: Cyberspace, Multimedialität u.a.) anzutreffen ist. Präsentation, Rezeption und Kritik zeitgenössischer Kunst sind dabei wichtige Faktoren. Es scheint, dass das Verhältnis zwischen dem Beurteilenden und dem Bildhaften in dem Moment ins Interesse rückte, als die Imagination als zentrale Fähigkeit des Denkens in den Vordergrund rückte. Die Fähigkeit zu beurteilen, dominiert nach wie vor die gegenwärtige westliche Kultur des Sehens: Michael Kelly ist der Ansicht, dass die Quelle der ästhetischen Auffassung des 20. Jahrhunderts im schwierigen Verhältnis lag, in dem der Ikonoklasmus zur Wahrheit stand. Kelly argumentiert: „[...] it thus seems that we must consider the option of dispensing with the notion of the truth when we think philosophically about art.“1 Eben dieses Problem des Verhältnisses zwischen der Wahrheit und dem künstlerischen Bild ist es, das den Ausgangspunkt von Panofskys Idea bildet. In dem Maße, in dem das Kunstwerk zunehmend mit der im Kern subjektiven, sinnlichen und phänomenologischen Erfahrung des Sehens in Verbindung ge-
1
Kelly, Michael: Iconoclasm in Aesthetics, Cambridge 2003, S. 96.
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bracht wurde, wurde es immer unmöglicher zu bestimmen, welchen Platz die Wahrheit in alledem besetzen sollte. Dieses Problem führte zu den vielen (inneren) Konflikten und Widersprüchen, die so charakteristisch für die Ästhetik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind. Idea rekonstruiert die Geschichte dieser Problematik, wohingegen Auerbach vielmehr eine Möglichkeit für ihre (Auf-) Lösung vorschlägt. Wenn die sogenannte Wahrheit in Panofskys Idea als Träger des „Werts“2 eines Bildes dargestellt wird, so besitzt die „geschichtliche Wirklichkeit“3, wie sie Auerbach nennt, die Funktion eines Existenz beweisenden (nicht bewertenden) Faktors des Plastischen, welcher an die Stelle des Bildes tritt.4 Auf diese Weise können beide Theorien als zwei aufeinanderfolgende Schritte im selben Prozess betrachtet werden, in dem der Modus der figuralen Rationalität erörtert wurde. Diese Debatten um Bild und Abbild, Wert und Wahrheit erinnern an den Ikonoklasmus des 8. Jahrhunderts.5 Der ungewöhnlich intensive Gebrauch religiöser Ikonen hatte zu deren offiziellem Verbot geführt. Nach einiger Zeit des offenen Ikonoklasmus erklärte das zweite Konzil von Nicäa 787 offiziell das neu gewonnene Vertrauen in die religiösen Ikonen, obwohl ikonoklastische Kontroversen bis ins 19. Jahrhundert geführt wurden.6 Der byzantinische Ikonoklasmus war eine Weiterentwicklung des jüdischen Verbots der Erzeugung von Bildern laut den Zehn Geboten. Es galt als ketzerisch, für den Selbstwert eines Bildes zu argumentieren. Stattdessen habe das Bild als göttliches Instrument zu fungieren, indem es gerade eine Distanz zwischen dem Menschen und dem Göttlichen er-
2
Panofsky, Erwin: Idea, a. a. O., S. 64.
3
Auerbach, Erich: Figura, a. a. O., S. 141.
4
Vgl. Engelmeier, Hanna: Die Wirklichkeit lesen. Figura und Lektüre bei Erich Auerbach, in: Mimesis und Figura, a. a. O., S. 89-120.
5
Gombrich, Ernst H.: Die Geschichte der Kunst [engl. 1950], 5. Aufl., Berlin 2004, S. 138: „Ikonoklasmus bezeichnet die Streitfrage über den Zweck kirchlicher Malerei und sollte von ungeheurer Bedeutung für die gesamte Geschichte Europas werden. Denn die östlichen, Griechisch sprechenden Teile des Römischen Reiches mit der Hauptstadt Byzanz nahmen vor allem diesen Punkt zum Anlass, dem lateinischen Papst die Gefolgschaft zu verweigern. Eine der Parteien in Byzanz war gegen alle Bildwerke religiöser Natur. Man nannte sie Ikonoklasten oder Bilderstürmer. Im Jahre 754 gewann diese Partei die Oberhand, und so wurde in der Ostkirche jedwede religiöse Kunst verboten.“
6
Vgl. hierzu die detaillierte Studie bezüglich des byzantinischen Ikonoklasmus: Mondzain, Marie-José: Image, Icon, Economy – The Byzantine Origins of the Contemporary Imaginary, Stanford 2005.
34 | Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus
zeuge. Durch dieses Argument der ‚hierarchischen Distanz‘ wurde die Ikone schließlich neubewertet und legitimiert. Wenngleich der byzantinische Ikonoklasmus der erste historische Prototyp eines ikonoklastischen Phänomens war, lassen sich ikonoklastische Tendenzen schon in der Antike erkennen und zwar in den Dialogen Platons. Seine Argumente kreisen in Werken wie Timaios und Politeia um den Begriff der „Mimesis“, d. h. der Darstellung und Abbildung von jemandem oder etwas. Platon unterschied dabei (unter staatsphilosophischen Gesichtspunkten) erwünschte Mimesis von einer potenziell unerwünschten (verzerrenden) Spiegelung und Nachahmung durch die Künste. Und es ist gerade diese wohlbekannte Absage Platons an diese Art der Erzeugung von Mimesis, die als Ausgangspunkt für Panofskys Idea fungiert.7 Panofsky erläutert, wie die kategorisch-prophylaktische Ablehnung Platons die Geschichte der westlichen Kunsttheorie eigentlich erst ins Leben rief und von ihr konserviert wurde. Die Tradition der europäischen Kunsttheorie kann im Wesen als eine die Bilder verehrende betrachtet werden und damit formuliert Idea das Dilemma der europäischen abbildenden Tradition: nämlich sie mit ikonoklastischen Begriffen zu beschreiben. Panofsky unterscheidet, indem er eine neukantianische Terminologie verwendet, zwischen der künstlerischen und der urteilenden Tätigkeit.8 Wenn die zentrale Frage des Ikonoklasmus in Byzanz lautete: Was gibt einem Bild (einer Ikone) ihren theologischen Wert? – so war das zentrale Thema des Ikonoklasmus des 20. Jahrhunderts: Welche sind die Kategorien, die den Wert eines Bildes erzeugen? Dieser Wendepunkt zeichnet sich durch die starke Affinität zwischen der Definition des Bildes und der Definition des Wertes aus. Das heißt, das Bild selbst wirkt als urteilendes Instrument. Seine Urteilswirkung besteht darin, die oben erwähnten Verbindungen zwischen dem Einzelnen und dem Universalen zu erzeugen. Panofsky führt die ‚Idea‘ um Platons ikonoklastische Ablehnung des nachahmenden Bildes herum aus, welche als zentralen Kritikpunkt in Bezug auf die Künste beinhaltet, dass sie nur eine Nachahmung der ‚materiellen Objekte‘ seien und diese Objekte daher vom ‚wahren‘ Sein der Welt der Ideen (eidos: Idee, Gestalt) entfernt seien, was nach Platon den Künsten einen schwachen Status verleihe.9 Panofsky zufolge ist die platonische ‚Wahrheit‘ der Kunst tatsächlich eine
7
Panofsky, Erwin: Idea, a. a. O., S. 59-60.
8
Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781], Köln 2011 S. 429.
9
Panofsky, Erwin: Idea, a. a. O., S. 44-45; S. 72-73. Die griechische Sprache unterscheidet zwischen eidos (εἶδος) und idea (ιδέα): Eidos bezieht sich auf absolute Formen und idea bezieht sich auf gegenwärtige Manifestationen von ihnen.
Über Idee, Figur und Metaphysik in der Kunst | 35
„kunstfremde“10. Diese Fremdheit diente aber seiner Meinung nach als Inhalt für die gesamte Geschichte der Kunsttheorie. Panofsky veranschaulicht, dass – von Plotin bis Bellori – das künstlerische Schaffen als eine Mimesis der sogenannten Wahrheit mit Mitteln der künstlerischen Idee wertgeschätzt wurde. Die Frage, die die Verortung dieser Wahrheit betrifft und zwar, ob sie im Geiste des Künstlers, in der objektiven Wirklichkeit oder in der Kunst des Vergangenen liegt, war dem folgenden zentralen und konsistenten Argument nachgeordnet, das in der gesamten Entwicklung der europäischen Kunsttheorie zu beobachten war: Was einem Kunstwerk seinen Wert gibt, das ist die Fähigkeit des Formenden, das heißt des Künstlers, der mithilfe von Ideen die sogenannte Wahrheit imitiert. Panofsky geht es vor allem um die Wiedervereinigung von Kunst und Wahrheit, und es ist die Bereitschaft zur Trennung von der platonischen Theorie, die den Kern von Panofskys Bilder verehrender Argumentation bildet. Den abbildenden Kern der ‚Idee‘ zu definieren dauerte in der Kunstgeschichte bis zum 18. Jahrhundert an, bis das etabliert wurde, was Jacques Rancière als das „ästhetische Regime“11 identifizierte, in dem die ‚Idee‘ relokalisiert wurde als dem Bereich der künstlerischen Produktion innewohnend. Panofsky zeigt die Konstruktion auf, in der plastische Werte die Grundbegriffe der Kunstwissenschaft darstellen.12 Die ‚Idee‘, die das Zeichen der Wahrheit trägt bzw. von der Wahrheit markiert ist, gilt dabei als bewertendes Element. Und zwar zunächst der äußeren Welt, die im Bild dargestellt wird, und dann der Welt der künstlerischen Produktion selbst. Aber diese Kluft dient Panofsky lediglich als Einleitung für die wahre Krise: Es ist die Kluft zwischen Wahrheit und Wirklichkeit. Genau hier setzten die Surrealisten an, wenn sie die ‚Schnittflächen‘ zwischen sogenannter reeller Welt und subjektiver Erfahrung (unter-)suchten. Dies schlägt sich im Surrealismus auch in der „Flucht in die Dinge“ nieder, die, folgt man Wieland Schmied, für sie als Flucht aus der Welt erschien.13 Ihre Montagemethodik macht ihr gebrochenes Vertrauen in die Dinge (als Vertreter der Wirklichkeit) deutlich. Der Schnitt in den Montagen der Surrealisten, ihre Verfremdungen, die zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion zum Ausdruck kom-
10 Ebd., S. 60. 11 Rancière, Jacques: Le Partage du sensible – esthétique et politique, Paris 2000, S. 31. 12 Panofsky, Erwin: Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie [1925], in: Heidelberger Historische Bestände – digital, Nr. 18 (2001), S. 129-161, S. 132, vgl.: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/zaak18_1925/0135 (abgerufen am 26.01. 2016). 13 Schmied, Wieland: De Chirico und sein Schatten. Metaphysische und surrealistische Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München 1989, S. 89.
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men, öffnete ihnen Zugänge zu anderen, tieferen Wirklichkeiten. In Idea finden die Begriffe „Wirklichkeit“ sowie „Wert“ vielfach Verwendung. Wert wird dabei häufig als Bezeichnung für den Wert eines Kunstwerks verwendet und in den meisten Fällen mit der „Wirklichkeit“ in Kontrast gesetzt.14 Sie ist kein Faktor bei der Analyse eines Kunstwerks. Selbst wenn Panofsky realistischere Tendenzen der Kunsttheorie der Renaissance diskutiert, ist er stärker daran interessiert, wie die Schematisierung der Wirklichkeit darin ihren Platz im Geiste des Künstlers und bei der Verbindung Subjekt-Objekt findet als am Begriff der Wirklichkeit selbst und seinem Verhältnis zum (künstlerisch) Schaffenden. Idea zeigt somit auf, wie die sogenannte Idee allmählich zum bewertenden Instrument für das Bild wurde. Das heißt, wenn Kunstwerke eine Idee imitieren, scheint das Verhältnis zur Wahrheit gesichert. Bereits im Laufe des 16. Jahrhunderts wird deutlich, inwiefern der schaffende Künstler selbst für die Nachahmung der Idee verantwortlich ist bzw. dass die Idee dem Bewusstsein des Subjekts innewohnt.15 Es lässt sich in Idea auch der Wunsch Panofskys erkennen, die Kontinuität von Platon zu Kant zu betonen, um darüber die Möglichkeit eines modernen, transzendentalen Verständnisses von der ‚Idee‘ zu eruieren. Aus dem theoretischen Rahmen des platonisch-neukantianischen Denkens entsteht eine Kluft zwischen Wahrheit und Wirklichkeit sowie zwischen Wert und Wirklichkeit. In der neukantianischen Auffassung ist die Idee auf der Seite des Werts und der Wahrheit verortet und nicht auf der Seite der Wirklichkeit. Die Aufgabe, die Panofsky erkennt, besteht also darin, sich durch die Erscheinung des transzendentalen Schematismus wieder zur konkreten Anschauungsform hindurchzuarbeiten. Für Panofsky ist die Geschichte des künstlerischen Schaffens eine dokumentierte Etablierung der subjektiven – wenn auch universellen plastischen – Schemata und Wertesysteme. Seine Analysen stellen in diesem Sinne auch implizit die Frage, in welchem Maße die moderne Kunst und die moderne Kunstwissenschaft eine transzendentale Lösung zu den ikonoklastischen Problemen der Vergangenheit darstellen. In der Zeit der Moderne des 20. Jahrhunderts, so argumentiert Panofsky, wird die künstlerische Produktion selbst ein transzendentales, reflexives, autonomes Subjekt, das als Grundlage der Ideen bzw. der künstlerischen Werte fungiert.16 Panofskys Projekt bleibt dennoch ambivalent; es scheint sich aufzureiben zwischen dem generischen Problem des Verhältnisses zwischen der künstlerischen Produktion und der Wahrheit und dem Verlangen, die künstlerische Pro-
14 Panofsky, Erwin: Idea, a. a. O., S. 124. 15 Ebd., S. 61. 16 Ebd., S. 160-161.
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duktion aus ihren eigenen Bedingungen und Möglichkeiten heraus zu verstehen und zu bewerten, wo die künstlerischen Ideen zu verorten sind.17 Trotz seiner Widersprüche ist der Einfluss von Panofskys Versuch bemerkenswert. Einerseits fungierte er als ikonophile Antwort auf den platonischen „Ikonoklasmus“. Zum anderen initiierte er einen interdisziplinären, ikonischen Ansatz, der die Humanwissenschaften inkludierte, indem er begann, den Zusammenhang zwischen Bildern, Geschichte und Wahrheit darzulegen. Einen sprachphilosophischen Ansatz dazu lieferte Erich Auerbach mit seinem Aufsatz Figura. Er stellt darin den Begriff „Figur“ als geschichtliche, körperliche Wirklichkeit vor.18 Das lateinische figura (Form, Gestalt, Idee) ist die etymologische Wurzel des Wortes fictor (Gestalter, Schöpfer) und auch in den Begriffen Tatsache (factum) und Fiktion enthalten. Dennoch sind – wie bereits Auerbachs einflussreicher Vorgänger Giambattista Vico argumentiert hatte – in der lateinischen Sprache die Wörter Wahrheit (verum) und Tatsache (factum) mehr oder weniger synonym.19 Die menschliche Wahrheit bezieht sich bei Vico sowie bei Auerbach auf das, was der Mensch getan und geschaffen hat; die Figur ist der ‚Kanal‘ durch den die ‚Wahrheit‘ (oder ‚Tatsache‘) entstanden ist. Anders ausgedrückt stellt die Figur die produzierte Vergangenheit dar, die als „geschichtliche Wirklichkeit“20 lesbar wird. Der lateinische Begriff figura enthält für Auerbach also bereits selbst die Wiederherstellung der Allianz zwischen dem Bereich des Plastischen, der Abbildung, und der ‚Wahrheit‘, dieselbe Wahrheit, deren Krise Panofsky in Idea untersucht. Abschließend kann festgehalten werden, dass bei Panofsky die ‚Idee‘ sowie bei Auerbach die ‚Figur‘ als Schnittfläche zwischen Denken und Figur verstanden wird. In diesem Sinne teilen die Surrealisten den Diskurs der Gedankenmodelle, die auf eine Verbindung zwischen Subjekt und Objekt bzw. Imagination und Darstellung abzielen. Ihr eigenes Anliegen bestand genau genommen darin, „ihre Imaginationskraft und gleichzeitig ihre mit Bleistift bewaffnete Hand die Schnittfläche zwischen der persönlichen Intuition und der sogenannten reellen Welt abtasten zu lassen“, wie es Max Ernst treffend formuliert hat.21 Bezüglich
17 Ebd., S. 161. 18 Auerbach, Erich: Figura, a. a. O., S. 141. 19 Vico, Giambattista: Selected Writings, hrsg. und aus dem Italienischen übersetzt von Leon Pompa, Cambridge 2002, S. 50-51. 20 Auerbach, Erich: Figura, a. a. O., S. 141. 21 Max Ernst zit. nach Roh, Franz: Max Ernst und der Surrealismus – sind sie noch aktuell?, in: Das Kunstwerk. Eine Zeitschrift über alle Gebiete der bildenden Kunst, hrsg. von Woldemar Klein, Heft 4/X, Krefeld 1956/57, S. 3-6, S. 5.
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des Schöpfertums unterscheiden sich allerdings ihre Ansichten, indem für Panofsky „die Form, bevor sie in die Materie eingeht, in der Seele des Menschen liegt“ (und sich für ihn nur darin von den Erzeugnissen der Natur unterscheiden), wohingegen für die Surrealisten ihre Verfahren schöpferisch sein sollten, die ‚Formwerdung‘ sollte möglichst automatisch bzw. direkt und unkontrolliert vom analytischen Verstand ablaufen.
2. GIORGIO DE CHIRICOS PITTURA METAFISICA Der Maler und Grafiker Giorgio de Chirico widmete sich ebenfalls Aspekten des Denkens, die im Bereich des (Ab-)Bildhaften liegen. Die gemeinsam mit Carlo Carrà verfassten Texte über die Metaphysik dienten ihm dabei als theoretische Vorlage für seine Bilder. Seine Werke wiederum waren eine wesentliche Inspiration für den Surrealismus. De Chirico führte 1917 den Terminus Metaphysische Malerei22 (Pittura metafisica) ein, um seinen ab 1910 entwickelten Stil zu definieren. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder, dem Dichter, Musiker und Maler Alberto Savinio, ließ de Chirico eine gegenständliche Bildsprache entstehen, mit der er die „verborgene Seite der Gegenstände“23 zu fassen suchte. Die Anhänger der Metaphysischen Malerei, zu denen ab 1917 der ehemalige Futurist Carrà gehörte, gingen dem Mysterium sogenannter einfacher Dinge nach. De Chiricos Bildlichkeit der 1910er Jahre war offenkundig beeinflusst von der symbolistischen Malweise von Arnold Böcklin, Max Klinger sowie den Phantasmen eines Odilon Redon. Die Erneuerung ihrer Malmethode durch metaphysische Abstraktion von Äußerlichkeiten erfuhr durch die Rückbesinnung auf die Maltradition des Trecento, wie sie beispielsweise von Giotto praktiziert wurde, und des Quattrocento zusätzliche Inspirationen. Hierin wurde die geistige Atmosphäre erkannt, die de Chirico durch Zitate und Carrà mittels einer Rückkehr zur plastisch-konkreten Form einzufangen versuchten. Aus ihrem funktionalen Zusammenhang herausgelöst, wurde den ‚einfachen‘ Dingen (Gegenständen) die Kraft einer „magischen Offenbarung“24 zugesprochen, die in eine ästhe-
22 Schmidt-Burkhardt, Astrit: Metaphysische Malerei, in: Avantgarde, Metzler Lexikon, hrsg. von Hubert van den Berg und Walter Fähnders, Stuttgart/Weimar 2009, S. 205206, S. 205. 1917 gründete Giorgio de Chirico mit seinem Bruder, dem Komponisten Alberto Savinio (=Andrea de Chirico), und dem Futuristen Carlo Carrà die Scuola metafisica in Ferrara. 23 Ebd., S. 206. 24 Ebd.
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tische Konfession mündete. De Chirico und Carrà setzten mit der Schrift Pittura metafisica bereits 1919 den theoretischen Endpunkt und feierten darin den Maler als neuen Philosophen. Durch ihre alogische Kombinatorik verschiedener Bildelemente entfachte die Metaphysische Malerei eine neue „Psychologie der Dinge“.25 Dabei stellten sich poetische Erlebnisse bzw. Erfahrungen ein, auf denen etwas später auch die surrealistischen Verfremdungseffekte beruhten. Auf den traditionellen Begriff der Metaphysik als einer „Wissenschaft, die gleichsam außer dem Gebiete der Physik, jenseits derselben liegt“, wie es Kant formuliert hat,26 spielt de Chirico an, um seine Idee davon abzusetzen. Als metaphysisch gilt ihm nämlich gerade nicht das Wesen hinter der Erscheinung, sondern das, was der Erscheinung Form gibt. Den Essay Estetica metafisica (1919) leitet de Chirico folgendermaßen ein: „Die ersten Grundlagen einer metaphysischen Ästhetik finden wir im Städtebau, in der architektonischen Gestalt der Häuser, auf den Stadtplätzen, in den Gartenanlagen und auf den Promenaden, in den Häfen, auf den Bahnhöfen.“27 Architektur bedeutete für de Chirico „ein uns fremd gewordenes Ding, einen undeutbaren Gegenstand“28 und zugleich „Geometrie, gestaltgewordene Mathematik, deren strenge Gesetzmäßigkeit aber undurchschaubar blieb“.29 Diese Aussage radikalisierte er sogar noch, indem er hinzufügte: Die absolute Kenntnis des Raumes, die den Gegenstand in das Bild holen kann, und des Raumes, der die Objekte trennt, begründet eine neue Astronomie jener Dinge, die durch das schicksalhafte Gesetz der Schwerkraft dem Planeten verhaftet sind. Der haargenaue und klug überlegte Gebrauch der Flächen und Volumen ergibt die Regeln der metaphysischen Ästhetik [...].30
Der Maler setzt diese Ästhetik in vielen seiner Bilder um, etwa in der Serie Piazze d’Italia, die ab 1913 entstand. Ihre Unheimlichkeit gewinnen sie durch de Chiricos eigenwilligen Gebrauch der Geometrie, seinem Spiel mit der Perspektive und mathematischen Proportionen. Und auch er arbeitet mit Brüchen, neuen
25 Ebd. 26 Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1995, S. 13. 27 Schmied, Wieland (Hrsg.): De Chirico. Wir Metaphysiker. Gesammelte Schriften, Berlin 1973, S. 46. 28 Schmied, Wieland: De Chirico und sein Schatten, a. a. O., S. 47-48. 29 Ebd. 30 Schmied, Wieland (Hrsg.): De Chirico. Wir Metaphysiker, a. a. O., S. 46-47.
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Verbindungen und Montagen. So formuliert de Chirico in einem Aufsatz von 1920: Die Landschaft, die von den Arkaden des Portikus oder dem Quadrat und Rechteck des Fensters eingerahmt wird, erhält einen höheren metaphysischen Wert. Isoliert vom Umraum, verdichtet sie sich. Architektur ergänzt die Natur. Das zu sehen war ein Fortschritt des menschlichen Intellekts auf dem Felde der metaphysischen Erfahrungen.31
Die Metaphysik des Bauens durchzieht de Chiricos gesamtes Werk. Die Liebe zum Rätsel und zur Architektur und damit zur „Architektur des Erkennenden“, wie Nietzsche es formuliert hat,32 teilt de Chirico mit ihm. Sie hat bei beiden die gleichen Wurzeln: die Prägung durch den Geist der griechischen Philosophen.33 Für Heraklit ist das Rätsel die zentrale Denkform, für Platon ist es mit der Sphäre der Mystik verbunden, und der Begriff des Rätsels ist für Aristoteles der, dass man Vorhandenes sagt, das sich unmöglich verbinden lässt. Für ihn war dies durch die Verbindung von Worten nicht möglich, sondern nur durch die Metapher. Im Hinblick auf die Verknüpfungsprinzipien der Metaphysischen Malerei genauso wie auf die Montagemethodiken der Surrealisten erscheint dies fast wie ein Programm. De Chirico, kühner Wegbereiter der Moderne und zweifellos Vorläufer der surrealistischen Bildsprache, kehrte der Metaphysik ab 1920 allerdings den Rücken.34 Überflüssigerweise, so das Urteil André Bretons, produzierte er anschließend in großen Mengen nur noch Ölgemälde, in denen er sich eklektisch durch die Kunstgeschichte arbeitete.35 Dennoch: Vielleicht hätte es ohne de Chirico keine Kunst des Surrealismus gegeben, sie hätte zumindest anders ausgesehen. Aus diesem Grund ist es notwendig, in de Chiricos Verfahren zu erkennen, dass durch seine Metaphysik das Geistige in der Kunst ab-bildhaft wird. Bereits der Geschichtsphilosoph Vico, der maßgeblich Auerbachs Figura beeinflusst hat, behauptete: „[...] physikalische Dinge werden immer nur für denjenigen wahr sein, der sie gemacht hat, gerade so wie geometrische Dinge für den Menschen
31 Ebd., S. 64. 32 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, Band 2, München 1954, S. 164. 33 Schmied, Wieland (Hrsg.): De Chirico. Wir Metaphysiker, a. a. O., S. 25. 34 Ebd. 35 Breton, André: Surrealismus und die Malerei [frz. 1928], in: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1965], aus dem Französischen übersetzt von Manon Maren-Grisebach, hrsg. von Herbert Freiherr von Buttlar, Carl Linfert und Eduard Trier, Berlin 1967, S. 5-54, S. 16-17.
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deshalb echt sind, weil er sie gemacht hat.“36 Hierin wird deutlich, dass das Entscheidende an de Chiricos Verfahren der Interpretationszwang ist, mit dem er sie untrennbar verknüpft. Es wird sich in dieser Arbeit noch herausstellen, inwiefern auch bei den surrealistischen Werken ihre Inhalte mit den jeweiligen Materialitäten verbunden sind, deren Schnittstellen wiederum die Imagination des Betrachters aktivieren. Der Einfluss de Chiricos auf den Surrealismus macht sich gleich zweifach explizit bemerkbar: zum einen in Bretons Formulierung der geistigen Ausgangslage der Bewegung, welche sich aus dem Geiste Dadas 1919 zu entwickeln begann und die im Kern die Hinterfragung von Rezeption und Wahrnehmung der Dinge vorsieht, und zum anderen in der Bildgestaltung der frühen Collagen Max Ernsts, die ebenfalls in dieser Zeit entstanden.37 Die Metaphysische Malerei, von der 1915 nach der Abreise de Chiricos nach Ferrara einige Bilder in Paris blieben, bestärkte die Gruppe um Breton, dass sich die Revolte nicht in Aktionen (der Schwerpunkt von Dada), sondern in Werken objektivieren sollte.38 Die Bilder von de Chirico erschienen ihnen als Beweis, dass Werke den Traum bewahren können, ohne dass sie Kompromisse mit der Rationalität oder Realität eingehen müssen. Diese Einsicht, bestärkt durch die Metaphysische Malerei ebenso wie durch die Dichtungen von Lautréamont, Nerval, Apollinaire oder Rimbaud, führte zu ganz neuen Möglichkeiten für den Sinn von Kunst.39 Vor allem Max Ernst bereitete den gestalterischen Übergang vor, indem er die von ihm zu Zeiten Dadas konzipierte Collage mit bildnerischen Elementen de Chiricos verband. Er übertrug seinen Collagen entsprungene Figuren auf de Chiricos (Raum-)Bühne und unterzog sie dabei seiner Sicht auf die Dinge. Ebenso haben Salvador Dalí, René Magritte oder Yves Tanguy sich von de Chiricos Bildwelt bereichern lassen und seine Bühne mit ihren eigenen Figuren besetzt. Diese Raumbühne de Chiricos ist von Leere und Enge zugleich gekennzeichnet (Abb. 1). Dabei schlägt die Atmosphäre der Leere schlagartig in ein Gefühl von Enge um, mitunter gefüllt mit widersprüchlichen Gegenständen. Menschen und Gegenstände werden in sein System von geometrischen Verhältnissen eingetragen. Gegenstände erscheinen bei de Chirico gleichgesetzt mit den Menschen, die ohnehin häufig ganz fehlen. Dies führt dazu, dass die Gegenstände – innerhalb eines neuen Funktionssystems – eine andere Qualität erhalten. Umso weniger der Mensch an Bedeutung bzw. Aufmerksamkeit in diesen Werken er-
36 Vico, Giambattista: Selected Writings, a. a. O., S. 75-76. 37 Breton, André: Surrealismus und die Malerei, a. a. O., S. 16. 38 Schmied, Wieland: De Chirico und sein Schatten, a. a. O, S. 30-31. 39 Ebd., S. 31.
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hält, desto mehr gewinnen die Gegenstände an Wirkung. Auf diese Weise konstruiert de Chirico die sogenannte neue Psychologie der Dinge. Wieland Schmied beschreibt in seiner Abhandlung Wir Metaphysiker (1973), wie sich der Raum de Chiricos im Fortschreiten seiner Arbeit ständig verkompliziert, bis der Mensch in ihm endgültig seine Orientierung verliere und ortlos erscheine.40 Gegen Ende der metaphysischen Phase wirken die Bildräume, als könnten sie jederzeit in sich zusammenfallen. Auch Schmied betont, dass die Kunst von de Chirico und die von Ernst zu den entscheidenden Voraussetzungen der surrealistischen Malerei gehört.41 De Chiricos Piazze d’Italia nennt Schmied etwa neben Lautréamonts Les Chants de Maldoror (1869) als die wichtigste Entdeckung Bretons, auch wenn de Chirico selbst sich nie den Surrealisten anschloss. Im Hinblick auf ihre übereinstimmende Ansicht von einer erweiterten (psychischen) Realität der Dinge, offenbart sich darüber gleichzeitig der Unterschied bezüglich ihrer Selbstauffassung als Künstler. De Chirico vertraute darauf, durch verschiedenste Visionen schöpferisch zu werden. Und genau gegen diese Auffassung des Künstlers als Schöpfer wendet sich Ernst. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Idee der écriture automatique42 noch kaum von ihrer anfänglichen Faszination eingebüßt und so formuliert Ernst 1934 entgegen der Auffassung von de Chirico: Als letzter Aberglaube, als trauriges Reststück des Schöpfungsmythos blieb dem westlichen Kulturkreis das Märchen vom Schöpfertum des Künstlers. Es gehört zu den ersten revolutionären Akten des Surrealismus, diesen Mythos mit sachlichen Mitteln und in schärfster Form attackiert und wohl auf immer vernichtet zu haben, indem er auf die rein passive Rolle des „Autors“ im Mechanismus der poetischen Inspiration bestand und jede „aktive“ Kontrolle durch Vernunft, Moral oder ästhetische Erwägungen als inspirationswidrig entlarvte.43
40 Ebd., S. 48. 41 Ebd. 42 Écriture automatique ist laut Bretons Definition: „Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.“ Vgl. Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, aus dem Französischen übersetzt von Ruth Henry, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 26. 43 Ernst, Max: Was ist Surrealismus? [1934], in: Max Ernst. Gemälde. Graphik. Skulptur (Ausstellungskatalog Sprengel Museum, Hannover 1989), hrsg. von Norbert Nobis und Grit Wendelberger, Hannover 1989, S. 25.
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Was der Dichter über die „automatischen Denkvorgänge“ gewinnt, indem er in sich hineinhorcht und notiert, das gebe dem Maler die „optische Eingebungskraft“ ein, die auf Papier oder Leinwand projiziert wird.44 Max Ernst führt weiter aus: Da jeder „normale“ Mensch (und nicht nur der „Künstler“) bekanntlich im Unterbewußtsein einen unerschöpflichen Vorrat an vergrabenen Bildern trägt, ist es Sache des Muts oder befreiender Verfahren (wie der „écriture automatique“) von Entdeckungsfahrten ins Unbewußte, unverfälschte (durch keine Kontrolle verfärbte) Fundgegenstände („Bilder“) ans Tageslicht zu fördern, deren Verkettung man als irrationale Erkenntnis oder poetische Objektivität bezeichnen kann.45
Hieraus sollte weder nur die Verehrung Ernsts gegenüber Bretons écriture automatique noch die reine Abneigung gegenüber einem bourgeoisen Künstlerverständnis gelesen werden, vielmehr wird in Ernsts programmatischer Aussage eine neue Kategorie sichtbar: „die Psychologie des Schaffensvorganges“.46 Der Künstler ist nicht mehr Schöpfer, sondern wird zum Medium, das seinen Werken beim Entstehen zuschaut und somit eine eher passive Mittlerrolle einnimmt. Auf mögliche Brüche und Widersprüche zwischen ihren Intentionen und Verfahrensweisen, die das Eintreten von Bildern dem objektiven Zufall überlassen, werde ich im nächsten Kapitel eingehen, das sich konkret mit den Gestaltungsmitteln der Surrealisten befasst. Soviel sei vorweggenommen: Was für de Chirico das Auftauchen eines Bildes aus dem Verborgenen bedeutete – ein glücklicher Zufall – und gerade deshalb für Ernst und die Surrealisten von solch großer Bedeutung war, überließen die Surrealisten nicht gänzlich der Zufälligkeit. Was folgte, waren Erfindungen von Verfahrensweisen, die sogenannte Einfälle in Gang setzten, um „poetische Objektivität“ (Max Ernst) zu sichern. Beispielsweise werden in beiden behandelten Techniken Ernsts – in der Frottage und Grattage einerseits und in der Collage andererseits – Elemente der Wirklichkeit aus ihrer gewohnten Umgebung herausgelöst und scheinbar zufällig montiert. Bei der Collage sind es oftmals realistische Dinge, die dadurch eine Metamorphose erfahren, bei der Frottage sind es Fundstücke meistens der Natur, deren Oberflächen durch Bearbeitung und Suggestion mehrfach an Bedeutung gewinnen. Sowohl Panofskys Konzept der ‚Idee‘ in der Kunst als auch de Chiricos Metaphysik in der Malerei zeigen, dass es nicht erst seit der Moderne von Interesse
44 Ebd. 45 Ebd. 46 Schmied, Wieland: De Chirico und sein Schatten, a. a. O., S. 82.
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ist, ob und inwieweit bildende Kunst als Ab-Bild eines Nichtdarstellbaren fungieren kann. In der Kunstpraxis wird dies spätestens dort als Problem evident, wo die Ränder der Sichtbarkeit – etwa seit dem 16. Jahrhundert – überschritten werden.47 Seit dem Niedergang des Impressionismus am Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt die Malerei sich gegenüber Nachahmung explizit aufzulehnen, und es zeigt sich, inwiefern sie sich ‚verformen‘ lässt, bevor sie ‚bricht‘ (bis in die völlige Abstraktion). Im Zentrum symbolistischer Imagination steht für die Surrealisten, neben Baudelaire, Rimbaud oder Lautréamont, insbesondere Stéphane Mallarmés hypothetisches und nie realisiertes Lebenswerk Le livre48, ein Buch, das, von seinem Autor und dem Zufall völlig befreit, zum Buch der Bücher werden sollte: „mit dem Begriff des Ich als Verkörperung der schöpferischen Weltidee [...], der die Verbindungen zwischen allem stiftet.“49 Wie der Manierismus des 16. Jahrhunderts unter Berufung auf Konzepte der ‚Idee‘, setzte sich die symbolische Darstellung im Surrealismus „unter Berufung auf das audelà über die Abbildung der äußeren Wirklichkeit zugunsten der Medialisierung innerer Bildwelten hinweg“.50 Auch die künstlerischen Gestaltungsmittel der surrealistischen Montagemethodiken sind nicht lediglich der Versuch, den Weg zum Irrationalen zu bahnen, indem sie beliebige Kombinatorik ermöglichen, sondern sie bringen als schöpferische Prozesse selbst eine Innerlichkeit zum Ausdruck. Für weitere Ausführungen diesbezüglich soll zunächst erläutert werden, inwieweit die Montagen in dieser Arbeit als Schnitt gelten.
47 Vgl. hierzu u. a. Parmigianinos Selbstportrait im konvexen Spiegel (1524), den Neptunbrunnen (1559) von Bartolomeo Ammanati, als einer der führenden Vertreter des Manierismus, oder El Grecos Individualstil. 48 Vgl. bezüglich Mallarmé die Kunstprojekte von Klaus Scherübel: http://smak.be/en/ex hibition/8390 (abgerufen am 23.03.2017). 49 Theisen, Josef: Die Dichtung des französischen Symbolismus, Darmstadt 1974, S. 75. 50 Wild, Gerhard: Ideen-Maschinen. Klang-Figuren. Bewegungs-Bilder. Sprach-Barrieren. Ebenen poetischer Subjektivität in Texten schreibender Maler (Chirico, Dalí, Giacometti, Miró, Ernst, Duchamp, Picabia, Magritte), in: Zeitschrift für Katalanistik 21 (2008), S. 39-75, S. 41, unter: http://www.romanistik.uni-freiburg.de/pusch/zfk/ 21/06_Wild.pdf (abgerufen am 28.09.2017).
V. Techniken des Schnitts
Die surrealistischen Künstler, Maler wie Fotografen oder Filmemacher, haben zwischen 1919 und 1939 vorwiegend eine dem Prinzip der Montage entsprechende Technik verwendet, welche hier als Ausgangslage für den Schnitt als Denkfigur gilt. Den weniger technisch besetzten, allgemeineren Begriff „Schnitt“ wähle ich, da er in den surrealistischen Montagen eben nicht nur auf technischer Ebene, sondern zudem auf bildmotivischer, narrativer oder assoziativer Ebene auffindbar wird. So treten die verschiedenen Bedeutungsebenen stets auf die eine oder andere Weise in Relationen, die wiederum zur Metapher des Schnitts führen können. Zur Darstellung, inwiefern die Montagen einen solchen „Schnitt“ aufweisen, werden vor allem Hanno Möbius’ Montage und Collage (2000) sowie Hans Bellers Handbuch der Filmmontage (2009) herangezogen, die herausgearbeitet haben, ob die am Anfang des 20. Jahrhunderts entstehenden Montagen nur auf technischer Ebene einen Schnitt aufweisen oder ob das Konstruktionsprinzip der Montagetechnik auch inhaltlich wirksam wird; diese Bilder sind somit auch vom Rezipienten durchdrungen. Zunächst gilt es jedoch, die Montagen vom Schnitt unabhängig zu betrachten.
1. ZUR ABGRENZUNG VON MONTAGEN UND SCHNITT Mit Montagetechniken reagierten Künstler bereits im 19. Jahrhundert auf die zunehmende Unübersichtlichkeit der Lebensumstände. Das Jahrhundert ist von der stetig voranschreitenden Industrialisierung geprägt, alles scheint beschleunigt und immer mehr aus Fragmenten oder bruchstückartigen Bildern zusammengesetzt, seien sie aus Fabriken, aus dem politischen und gesellschaftlichen Tagesgeschehen oder aus den exotischen Kolonien importiert. Die gegenwärtige Welt scheint als anschauliche Totalität nicht mehr existent und nicht mehr darstellbar, und so wird mit der Montage – bewusst oder unbewusst – versucht, dem Rech-
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nung zu tragen.1 Solche Montagekünste sind daher für Hanno Möbius – nicht zuletzt in ihrem Spiel mit den Formen der neuen Arbeitsteilung – als „Realmontage“2 wahrzunehmen. Dabei ist die sogenannte Realmontage nicht nur Hintergrund oder Thema der Künste, sondern auch deren gesellschaftliche Basis, die Materialquelle, aus der heraus die Künste in kreativer Weise Montagen gewinnen.3 Angesichts dieser gesellschaftlichen Veränderungen und vor allen Dingen der Umbrüche am Anfang des 20. Jahrhunderts, gerät der Begriff der platonischen Theorie der Mimesis, der Nachahmung und Abbildung, in die Krise. Die Avantgarde-Richtungen des 20. Jahrhunderts richten sich nun immer mehr gegen die mimetische Bildauffassung und die akademische institutionalisierte Kunst (-theorie) als solche. Mittels der Montage und ihrem Ergebnis, der Collage, bricht die Avantgarde demonstrativ und gleichsam haptisch mit dem gängigen Verständnis, welches das Kunstwerk als ein in sich abgeschlossenes Werk sah. Petrus Schaesberg notiert dazu: In jenem Schneiden und Kleben von vorgefundenem Material auf und in das traditionelle Ölgemälde, vollziehen sich praktisch die Begriffe der Umschreibung von Revolution, das Aufbrechen [...] konventioneller Gestaltung, der Übergang zu einem neuen, zusammengesetzten Ganzen [...] und die Zersetzung und Auflösung alter Strukturen [...]. In einer Zeit politischer und wissenschaftlicher Revolutionen visualisiert die Collage [und Montage] zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Umbruch, die Aufhebung der bisher ausgeübten Praxis malerischer Repräsentation.4
Montage und Collage – eine Begriffsbestimmung Beide, die Montage und Collage, bezeichnen im Allgemeinen die Technik und die Produkte in der Malerei, Fotografie, dem Film, der Literatur und Musik, deren gemeinsamer Nenner laut Metzlers Lexikon für Ästhetik die Integration oder Kombination von Alltags- bzw. Kunstmaterialen ist.5 Das Metzler Lexikon für Literatur- und Kulturtheorie weist die Montage insbesondere dem Bereich der
1
Jürgens-Kirchhoff, Annegret: Technik und Tendenz der Montage in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts, Lahn-Gießen 1978, S. 8.
2
Möbius, Hanno: Montage und Collage, München 2000, S. 121.
3
Ebd.
4
Schaesberg, Petrus: Das aufgehobene Bild. Collage als Modus der Malerei von Pablo
5
Kaiser, Gerhard: Collage/Montage, in: Ästhetik, Metzler Lexikon, Stuttgart/Weimar
Picasso bis Richard Prince, München 2007, S. 13. 2006, S. 69-70.
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performativen Kunst, wie Fotografie, Film oder Theater, und die Collage gemeinsam mit der Assemblage der Malerei und der bildenden Kunst zu.6 Die theoretische Unterscheidung der Begriffe ist jedoch im Metzler Lexikon für Kunstwissenschaft nicht eindeutig definiert.7 In der Kunstwissenschaft werden die Begriffe der Montage und Collage häufig synonym verwendet, obwohl ihre etymologischen Wurzeln unterschiedliche sind. Der Begriff Collage stammt aus dem Französischen und bedeutet „Geklebtes“, von „kleben“, „einfügen“, „zusammenfügen“ (coller). Die Collage im kunstgeschichtlichen Sinne rührt aus den papiers collés von Georges Braque und Pablo Picasso, die am Anfang des 20. Jahrhunderts in ihre kubistische Malerei vorgefundene Materialien wie Zeitungsausschnitte klebten. So ließe sich die Collage – auf Material und Tätigkeit zurückgreifend – in den Bereich der Papierarbeit einordnen. Coller bedeutet zudem „aufbrummen“, jemandem eine „kleben“ und könnte so passend zur Kunstrevolte außerdem als Verweis auf den Bruch mit den Mimesis-Konventionen der Malerei gelesen werden. Das Partizip Perfekt collé bezieht sich auf etwas Imitiertes, Gefälschtes oder Vorgetäuschtes. Die Montage- und Collagetechniken werden zudem in den verschiedenen Sprachen unterschiedlich behandelt. Beispielsweise setzt sich die Collage – angelehnt an die papiers collés – im Französischen durch, wohingegen der Begriff der Montage sich vor allem im Deutschen durchsetzt.8 Dennoch verweben sich beide Begriffe, wenn sie dieselbe Technik beschreiben, wie zum Beispiel bei der Fotomontage (Collage mit Fotovorlagen), Assemblage (plastisches Montieren von Objekten), Découpage (geschnittenes Material), Déchirage (gerissenes Material), Décollage (Herausschälen von Materialschichten), Frottage (Durchreiben von Oberflächenstrukturen auf Material), Fumage (Strukturen auf Material durch Rauch), Grattage (gekratztes, geschabtes Material) usw.9 In dem aus dem Französischen stammenden Wort Montage steckt monter, das „zusammensetzen“ oder „-bauen“ bedeutet. In Deutschland gebrauchte man den Begriff ursprünglich innerhalb des Militärs für das Ausrüsten von Soldaten.10 Erst im 18. Jahrhundert verlagert sich der Gebrauch des Begriffs hin zum Handwerklichen; man betrachtet ihn als „einen Vorgang, bei dem man die Bestandteile eines Mechanismus, einer Vorrichtung, eines mehr oder minder kom-
6
Voigts-Virchow, Eckart: Montage/Collage, in: Literatur- und Kulturtheorie, Metzler Lexikon, Stuttgart/Weimar 2004, S. 540-541.
7
Pfisterer, Ulrich: Kunstwissenschaft, Metzler Lexikon, Stuttgart/Weimar 2003.
8
Möbius, Hanno: Montage und Collage, a. a. O., S. 17.
9
Schaesberg, Petrus: Das aufgehobene Bild, a. a. O., S. 25.
10 Möbius, Hanno: Montage und Collage, a. a. O., S. 16.
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plexen Objekts zusammenführt, um es in einen gebrauchsfähigen Zustand zu versetzen“.11 Hier wird also die Montage der Mechanik zugeordnet. Dass die Montage als Verfahren innerhalb der ‚zweckfreien‘ Künste geradezu massiv am Anfang des 20. Jahrhunderts verwendet wurde, kann als Bruch mit den Konventionen und als eine bewusste Verbindung von Kunst und Handwerk gelesen werden. In Deutschland waren es insbesondere die beiden „Foto-Monteure“ John Heartfield und George Grosz, die sich als erste schon während des Ersten Weltkriegs als Monteure bezeichneten und demonstrativ in der typischen blauen Arbeitskluft auftraten.12 Beide standen in Verbindung mit der künstlerischen DadaRevolte, die nicht zuletzt aus dem Protest gegen den Krieg entstanden war.13 Sowohl Heartfield als auch Grosz übernahmen den Begriff der Montage sehr wahrscheinlich aus der Industrie, ihre Montagen stützen sich zentral auf das mittlerweile (in großen Druckhäusern) industriell gefertigte bzw. vervielfältigte Medium Fotografie. Der Surrealismus und die anderen zeitgenössischen Künste verwendeten die Montage auf unterschiedliche Weise. So ist die Montage von Bildern im Film als grundlegende Technik vom Medium vorgegeben; erst in der Aneinanderreihung fotografischer Bilder, die mit einer bestimmten Geschwindigkeit (meist 18 oder 24 Bilder pro Sekunde) am Auge vorbeiziehen, wird der Eindruck von Bewegung erzeugt. Mittels des Filmschnitts werden verschiedene Bilderfolgen je nach dramaturgischer Intention aneinander montiert, und somit wird die Montage im Film zur spezifisch künstlerischen Technik. Die Fotomontage kann zwar als eine Weiterentwicklung der malerischen Collage gesehen werden (papier collé), sie ist jedoch, wie die Filmmontage, als davon eigenständig zu betrachten, da durch die Arbeit mit (fragmentarisierten) Realfotografien – etwa in John Heartfields berühmtem Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen (1932, Abb. 2) – völlig autonome Werke entstehen. Einen wichtigen Unterschied zwischen Collage und Montage verortet Möbius außerdem in ihrer Zeitlichkeit: „Man sollte die Collage als Medium der räumlichen Gleichzeitigkeit, die Montage dagegen als Anlage für eine Abfolge verstehen. Die Collage ist punktuell, die Montage hat eine (repetitive) Verlaufsform; die erstere ist immer räumlich, die zweite integriert die Zeit.“14 Im Haupt-
11 Ebd., S. 16: Zitiert wird hier aus der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert, dem Wissenskompendium der Aufklärung, das zwischen 1751-1780 erschien. 12 Ebd., S. 17. 13 Aus Protest gegen den deutschen Nationalismus der Zeit haben sowohl der gebürtige Georg Groß als auch Helmut Herzfeld ihre Namen anglifiziert. 14 Möbius, Hanno: Montage und Collage, a. a. O., S. 198.
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teil dieser Arbeit werden daran angelehnt nicht nur die Verknüpfungsprinzipien in den Filmen Un Chien andalou und L’Âge d’or (Luis Buñuel) betrachtet, sondern auch die Frottage in der Zeichnung (Max Ernst), die Rayografie in der Fotografie (Man Ray) sowie die paranoisch-kritische Methodik in der Malerei (Salvador Dalí), da sie jeweils auf dynamische Bewegung abzielen. Ich werde dabei untersuchen, inwiefern ihre Verfahren zu Metamorphosen, Verfremdungen oder Auflösungen bzw. Kippbildern führen und darüber hinaus kinematische Effekte, wie Desorientierung oder Manipulation etwa durch Bewegungseindrücke, suggerieren. Der Schnitt – im technisch-figurativen sowie im semantisch-assoziativen Sinn – wird dabei eine konstitutive Rolle spielen. Das Konstruktionsprinzip Montage, unter anderem aus der Krise der Darstellbarkeit der Realität entstanden, impliziert von Anbeginn an auch eine starke (gesellschafts-)politische Komponente. Es kann hier bereits behauptet werden, dass der Schnitt als historische Denkfigur im Surrealismus mit dem Konstruktionsprinzip der Montage insofern zusammenhängt, da für die Surrealisten „das künstlich-künstlerische Zusammenfügen von einzelnen, vorgegebenen Elementen, die Verbindung von relativ selbstständigen, aber erst im Ganzen funktionstüchtigen und wirkungsvollen Einzelteilen“15 äußerst geeignet war, um Realitätsfragmenten und politischen Aussagen Ausdruck zu verleihen. Montage und Schnitt – eine Auslotung Damit die Montagen im Surrealismus als ein künstlerisches Prinzip betrachtet werden können, braucht es eine narrative Zusammenführung, um zu verdeutlichen, inwiefern die surrealistischen Montagen insbesondere dazu führen, dass der Zuschauer Schnittflächen zwischen Innen- und Außenwelt überwindet. „Montage“ wird im Französischen meistens für den Prozess des Zusammenfügens separater Einzelteile bzw. im Film von Aufnahmen und Szenen zu einem Ganzen, einer Bilderreihe oder einer Sequenz gebraucht und ist damit als Gegensatz zur découpage, der Auflösung bzw. Aufspaltung eines Ganzen in Teile, zu verstehen. In der Filmgeschichte wird außerdem immer von der „Montage“ gesprochen, wenn es sich um die Produktionsphase eines Films handelt, in der das Schneiden und Kleben des Bildmaterials (und später des Tonbandes) stattfindet.16 Heute wird Film freilich vorwiegend digital geschnitten. Neben der Bedeu-
15 Jürgens-Kirchhoff, Annegret: Technik und Tendenz der Montage, a. a. O., S. 25. 16 Peters, Jan Marie: Theorie und Praxis der Filmmontage von Griffith bis heute, in: Beller, Hans (Hrsg.): Handbuch der Filmmontage. Praxis und Prinzipien des Filmschnitts, München 2005, S. 33-48, S. 34.
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tung des Wortes Montage, die im Film die Ordnung der Aufnahmen meint, impliziert die Montage aber noch einen weiteren wichtigen Bedeutungsinhalt: nämlich dass die Informationen, die der Zuschauer zu sehen bekommt, vorgeformt sind. An diesem Prinzip der Montagetechnik ist für die vorliegende Studie besonders relevant, dass die Montage aus Fragmentationen des (anzuordnenden) Materials sowie aus deren (mehr oder weniger) überlegter Kombination besteht. Schon durch diese Tatsachen kann der ‚objektive‘ Zufall, den die Surrealisten durch ihre Verfahren der Montage als indirektes Mittel zu erreichen suchten, kritisch hinterfragt werden. Generell erfüllt die Montage verschiedene Funktionen wie die Überwindung von physischen Beschränkungen, Veranschaulichung von Zeitbezügen, die Einbeziehung des Zuschauers, die Artikulation des Erzählakts oder rhythmische Ordnungen, und es ist wichtig festzuhalten, dass sie als künstlerisches Prinzip und als Ausdrucksmittel dient. Was nicht oder nicht genügend sichtbar ist, kann mit Hilfe der Montage deutlicher ausgedrückt werden. So können im Film beispielsweise Zeitbezüge, Assoziationen oder Emotionen durch die Montage visualisiert oder sogar erst erzeugt werden. Durch die Art und Weise, wie man einzelne Teile verbindet, lassen sich auch – ganz im Sinne von Aristoteles’ RätselDefinition – Metaphern erzeugen. Das heißt, im Gegensatz zu Panofskys System von Bedeutung, bei dem die Methodik der Ikonologie und Ikonografie (visuelle Evidenz und kultureller Kontext) sich vor allem darauf verlässt, was wir mit unseren eigen Augen sehen, kann der Betrachter sich durch die Montage dem Versuch widmen, die Dinge von ihrem Kontext der sie umgebenden Realitäten befreit zu sehen. Hierin distanziert sich der Surrealismus von Panofskys Idea sowie Auerbachs Figura: Beide drücken starke Zweifel in Bezug auf das Piktorale an sich aus und beide nehmen sich der Aufgabe an, den Gebrauch von Bildern als kognitive Elemente (Träger) zu rechtfertigen. Hier steht das Bild nicht als etwas Souveränes, Eigenständiges. Bei Panofsky liegt der ‚Riss‘ zwischen Bild und Wahrheit in der westlichen Kunsttheorie, was zu einer transzendentalen Schematisierung der Kunstproduktion selbst führt; und bei Auerbach garantiert die Figur die Validität der Vergangenheit. Bei Panofsky wird das Kunstwerk als Träger des Wissens in Bezug auf die äußere Welt angesehen. Bei Auerbach geht die Struktur der Erinnerung und der Restauration jedwedem Wissen voraus. Eine Synthese der Methoden von Panofsky und Auerbach, und insbesondere von deren Ansätzen zum Bereich des Plastischen, könnte jedoch die Sicht auf das Kunstwerk und seine Autonomie wesentlich erweitern. Anstatt wie Panofsky Wahrheit und Wirklichkeit einander gegenüberzustellen, ist die Wirklichkeit bei Auerbach Wahrheit, aber nur unter der Bedingung,
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dass wir Wirklichkeit als das betrachten, was gemacht bzw. geschaffen wurde. Anstatt Bilder selbst die Fähigkeit tragen zu lassen zu bewerten und zu validieren, legt Auerbachs figurales Prinzip nahe, eine Validierung der erweiterten Realität des Wissenschaftlers (des Werks) auszuführen, indem die Geschichte dieser Wirklichkeit zum Einsatz gebracht wird. Insbesondere Panofskys Rekonstruktion des Konzepts der ‚Idee‘, die durch die Gegenüberstellung von Wahrheit und Wirklichkeit entsteht, verdeutlicht den Unterschied zum Konzept der Surrealisten. Sie versuchen durch ‚absolute‘ Objekte, die gewissermaßen von der Art des Aufnehmens durchdrungen sind und an dieser Schnittstelle so zu einer Montage von Bild-Objekten werden, gerade Abgrenzungen (beispielsweise zwischen Wahrheit und Wirklichkeit) aufzulösen. Nicht zufällig erinnert dieses Konzept an die Methoden Sigmund Freuds: Die Welt der Surrealisten kann zum einen neu zusammengesetzt werden, wie es ihnen gefällt; zum anderen wird durch Mechanismen des Verbindens eine Innerlichkeit zum Ausdruck gebracht. Das surrealistische Konzept der Montage stellt – ähnlich den Mechanismen der Traumdeutungen – die Chance dar, Grenzen zu überwinden und zu durchdringen und mehrere ‚Wirklichkeiten‘ ineinanderfließen zu lassen. Der Zusammenhang zwischen „Schnitt“ im Surrealismus und dem Konstruktionsprinzip der Montage wird im Hinblick auf die Montage im Film besonders deutlich. Im Schneideraum (frz. salle de montage, engl. cutting room) wird das analoge Material konkret verletzt und wortwörtlich geschnitten; der Schnitt innerhalb der Montage im Film lässt sich also als ein zugleich destruktives und konstruktives Schneiden ausweisen. Das Schneiden eines Films war lange Zeit reine Handarbeit. Folglich kann die robuste Tätigkeit des Schnittmeisters zu Luis Buñuels Zeiten mit der handwerklichen Arbeit eines Chirurgen verglichen werden. Denn jeder Eingriff in das Filmmaterial musste aufgrund seiner Irreversibilität17 wohlüberlegt sein. Aus diesem Grund stellte der technische Schnitt des Filmemachens einen „durchdringenden“ Prozess dar. Walter Benjamin notiert in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) ähnlich durchdringende Eigenschaften schon für den Kameramann: Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein. Die Bilder, die beide davontragen, sind ungeheuer verschieden. Das des Malers ist ein totales, das des Kameramanns
17 Für große Filmproduktionen wurde eine Schnittversion an einer Arbeitskopie gemacht, dann wurde erst das kostbare Original-Negativ geschnitten.
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ein vielfältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetz zusammen finden.18
Dieses „neue Gesetz“ gehört zur Besonderheit des Films und steht hier im Gegensatz zur Art und Weise, wie Semantik bzw. Sinn durch Bilder der Malerei, Fotografie, im Theater oder in der Dichtung erzeugt wird. Die besondere Art des Films, Bilder zu produzieren und zwar durch das Zusammenspiel von Erscheinung und Schau, das dem Beschauer durch seine Bewegtheit keine Zeit zur Kontemplation lässt, lässt den Montagetisch (Schneidetisch) zu einem imaginativen, stets präsenten Ereignis werden – und den Schnitt zu einer Denkfigur, die speziell im surrealistischen Film überdeutlich auftritt.19 Durch die technische Reproduzierbarkeit können Filme bzw. Filmkopien zudem mehrfach abgespielt werden und lassen sich an unterschiedlichen Orten anschauen. Anders als es Panofsky in Idea mit Kunst und Wirklichkeit darzustellen versuchte,20 ist im Film das Verhältnis zur Wirklichkeit eines zur technischen Wirklichkeit, die auch als solche wahrgenommen werden kann. Die Montage im Film, gleich welche Art von Schnitten sie beinhaltet, vom technischen bis zum assoziativen, lässt den Film erst entstehen. Ein Verfahren, das den Intentionen der Surrealisten, Gegensätze wie Innen- und Außenwelt zu durchdringen, vorteilhaft entgegenkommt, der komplexe Bereich des Ab-Bildhaften wird quasi automatisch überwunden: In der Projektion, die in den Bereich des Greifbaren fällt, und durch die Bilder, die im Kopf des Zuschauers entstehen, wird beides unweigerlich miteinander verbunden. Ein solches „Gemeinschaftswerk“ ist weit entfernt von der Aura des gerahmten Gemäldes (tableau), das einzigartig ist und sich selbst genügt, wie bereits Georges Didi-Huberman festgestellt hat.21 Wie auf dem Seziertisch wird auf dem Montagetisch geschnitten. Die Arbeit hier ist ein Schnitt in die Ganzheit des Einzelnen. Das Einzelne genügt sich dabei aber nicht mehr selbst – es wird durch das Andere befruchtet, ohne es wäre es mangelhaft. Daraus entsteht ein
18 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [L’Œuvre d’art à l’époque de sa reproduction mécanisée, 1936], Frankfurt am Main 2007, S. 36. 19 Im Kontext des digitalen Schnitts wäre demnach die Frage, was hier der Schnitt als Denkfigur bedeutet, neu zu bewerten. 20 Panofsky, Erwin: Idea, a. a. O., S. 124. 21 Didi-Huberman, Georges (Hrsg.): Atlas – How to Carry the World on One’s Back (Ausstellungskatalog: Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid), Madrid 2010, S. 18, S. 45.
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wechselwirkendes Bild, ein Paradigma, das beinahe symbolisch für die (Gemeinschafts-)Produktionen im Surrealismus steht und metaphorisch auf das Individuum anspielt, das nur im Kollektiv existiert. Es wird zudem deutlich, dass die Montage bzw. das Aufeinandertreffen, das erst das wechselwirkende Bild entstehen lässt, immer einen Bezug zur objektiven Wirklichkeit besitzt. Das wechselwirkende Bild ist in diesem Sinne der Schnitt sowohl in als auch durch die Denkbewegung und, wie im Hauptteil gezeigt werden soll, ihre künstlerischen Prozesse. Es ist der Schnitt durch eine von Spannungen gesättigte Konstellation, die ein Treffen ermöglicht. Trennen und Verbinden als dialektisches Prinzip. Schneiden heißt also immer auch Montieren. Der surrealistische Schnitt setzt dort an, wo die Spannung zwischen den Gegensätzen am größten ist. Es sind die Gegensätze zwischen Innen- und Außenwelt, Bewusstem und Unbewusstem, welche in der folgenden Überlegung Bretons zum Ausdruck kommen: […] innerhalb der Grenzen, in denen er sich produziert (zu produzieren scheint), erscheint der Traum durchaus als kontinuierlich, zeigt er eine gewisse Organisation. Das Gedächtnis nur maßt sich das Recht an, ihn zu beschneiden, Übergänge nicht zu beachten und uns eher eine Reihe von Träumen vorzuführen als den Traum. Desgleichen haben wir von den Realitäten nur im einzelnen Augenblick eine deutlich unterschiedliche Vorstellung, und ihre Koordination ist Sache des Willens.22
Und noch etwas ist hieraus zu lesen: die Tatsache, dass der Schnitt bereits im Kopf tätig wird – und dass es neben dem „Willen“ handhabbare Verfahren braucht, um Innen- und Traumwelten, um Fragmente von „Realitäten“ zu koordinieren.
2. MONTAGE UND WEITERE TECHNIKEN BEI ANDRÉ BRETON Der vorliegende Abschnitt skizziert André Bretons Montagen sowie seine Beziehung zu weiteren Techniken anderer Autoren und Künstler. Hierfür sind unter anderem Verknüpfungsprinzipien von Comte de Lautréamont in Les Chants de Maldoror23 oder Sigmund Freuds Methodik der Traumdeutungen von Interesse.
22 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus [frz. 1924], in: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, a. a. O., S. 16. 23 Lautréamont, Comte de: Die Gesänge des Maldoror [frz. 1869], aus dem Französischen übersetzt von Ré Soupault, Reinbek bei Hamburg 1996.
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Der Abschnitt verdeutlicht zudem, inwiefern der französische Surrealismus konzeptuell vorwiegend aus der Literatur hervorging und dass daher die bildenden Künstler für die praktische Umsetzung der surrealistischen Theorien erst noch eigene Verfahren entwickeln mussten. Breton gilt dabei als richtungsweisende theoretische Autorität. Seine Schriften sagen dem Bürgertum und allem voran dessen Vorstellung von Kunst den Kampf an. Die verwundete Generation Wie Millionen anderer gehört Breton zu der Generation an Männern, welche den Ersten Weltkrieg als Soldaten erlebt haben. Er hält – vom Krieg stark traumatisiert –24 den neuen bzw. wieder eingeführten Rationalismus für ein „mörderisches Prinzip“25. Zur Befreiung der sogenannten Vernunft dient ihm einmal eine den Gefühlen verpflichtete Poesie im Geist der Romantik.26 In einem mit Louis Aragon montierten Satz wird das unsichere kollektive Bewusstsein oder Unbewusstsein einer Künstlergeneration, die erst kürzlich den Weltkrieg überlebt hat, gleichsam verbildlicht: „[…] etwas links an meinem erahnten Firmament bemerke ich – doch ohne Zweifel ist es nur ein Dampf von Blut und Mord – die spiegelglatte Helle von Umwälzungen der Freiheit.“27 Breton setzt zunächst mit Dada auf eine Protestbewegung, die für einen neuen Humanismus durch die absolute Revolte kämpft. Dada hebt jegliche Art von Logik und Werten auf, indem die Bewegung als Formprinzip grundsätzlich Vernichtung betreibt. Doch verkommt diese Art von absoluter Revolte schnell zum Stereotyp, und Dada wird von Breton ohne größere Trauer verabschiedet: [...] sein Begräbnis im Mai 1921 ging ohne jede Rauferei vonstatten. Der recht kurze Leichenzug nahm den Weg des Kubismus und des Futurismus, deren Nachbildungen Studenten der Kunstakademie gerade in der Seine versenkt haben. Wenngleich es Dada zu seiner
24 Vgl. hierzu u. a. Breton, André: Jacques Vaché [frz. 1919], in: Ders.: Die verlorenen Schritte. Essays, Glossen, Manifeste [Les Pas perdus, 1924], aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock, Berlin 1989, S. 53-56. 25 Schneider, Lars: Die Schrift und das Unbewußte: zur (Traum-)Poetik André Bretons, in: Arts & Lettres, Nr. 144 (2011), S. 118-136, S. 119. 26 Ebd. 27 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 36.
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Zeit [...] zu Ruhm und Ansehen gebracht hatte, trauerte ihm kaum jemand nach: Sein Omnipotenzgehabe und seine Tyrannei hatten ihn auf die Dauer unerträglich gemacht.28
Der Surrealismus hingegen versucht nicht mehr nur, pauschale Vernichtung zu betreiben, sondern durch seine Öffnung und Differenzierung der Wahrnehmung die Gesellschaft in ihrer konventionellen Art und Weise, (alltägliche) Dinge zu sehen, zu erschüttern und zu verändern. Um sich gegen die Konventionen des Sehens aufzulehnen bzw. die gewohnte Wahrnehmung ins Wanken zu bringen, propagierte Breton diverse surrealistische Verfahren. Sein 1919 mit Philippe Soupault entstandenes Gemeinschaftswerk Les Champs magnétiques29 (1920) erprobt quasi vor-surrealistisch die automatische Schreibweise, und auch das Schreib- und Malspiel cadavre exquis kommt in dem Text zur Anwendung. Wenig bekannt ist die Tatsache, dass dieses kollaborative Schreibexperiment geradezu den Beginn der surrealistischen Bewegung einleitete.30 Doch zuerst ein Blick zurück. Der Erste Weltkrieg ist noch nicht vorbei, als Guillaume Apollinaire Breton mit Soupault bekannt macht. Louis Aragon und Breton, beide Medizinstudenten bis zur Einberufung, werden als Hilfsärzte in das Lazarett gerufen, wo Soupault dank eines neuen Impfstoffes eine Typhus-Infektion überlebt. Soupault entdeckt kurze Zeit später in einer Buchhandlung nahe dem Lazarett Die Gesänge des Maldoror von Comte de Lautréamont, und er, Breton und Aragon lesen sich gegenseitig den Text laut vor. Soupaults eigener Aussage nach beginnen sie ab diesem Zeitpunkt, die Dinge mit anderen Augen zu sehen.31 In die psychiatrische Anstalt, in die Breton anschließend als Hilfsarzt abgeordert wird, kommen täglich psychisch Erkrankte von der Front. Breton beginnt daraufhin, das Werk L'Automatisme psychologique32 (1889) des Psychiaters Pierre Janet zu lesen, in
28 Breton, André: Nach Dada [Après Dada, 1921], in: Ders.: Die verlorenen Schritte, a. a. O., S. 93-96, S. 94. 29 Breton, André/Soupault, Philippe: Die magnetischen Felder [frz. 1920], aus dem Französischen übersetzt von Ré Soupault, Heidelberg 1990. Das Gemeinschaftswerk wurde 1919 verfasst und zum ersten Mal in Paris 1920 veröffentlicht. 30 Vgl. Aragon, Louis: Lautréamont und wir, in: Surrealismus 1919 – 1939, hrsg. von Karlheinz Barck, Leipzig 1986, S. 13-43, S. 17. 31 Breton, André/Soupault, Philippe: Die magnetischen Felder, a. a. O. 32 Pierre Janet, Philosoph und Psychiater, lehrte in den 1880er Jahren an Lycées in Châteauroux und Le Havre. In seiner Freizeit arbeitete er im Krankenhaus von Le Havre und unternahm psychiatrische Forschungsarbeiten. Diese bildeten die Grundlage für seine Doktorarbeit: L’Automatisme psychologique (1889). Janet hat das Wort „un-
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dem es um traumhafte Ideenassoziationen, das Schweifenlassen der Gedanken, Schwebezustände zwischen Schlafen und Wachen sowie Traumanalysen geht. Breton leitet unter anderem daraus einige Methoden ab, wie das Umgehen von Kontrollinstanzen der Vernunft und das Sich-Einlassen auf verborgene Gedankenwelten durch psychische Automatismen.33 Doch wie lässt sich dies in der Kunst oder der Poesie umsetzen? Wie gestalten die Künstler dieses Vorhaben? Écriture automatique und cadavre exquis Gut ein Jahr später, der Krieg ist vorbei, beschließen Breton und Soupault, ihr Experiment einer sogenannten automatischen Schreibweise zu wagen:34 Innerhalb einer von ihnen festgelegten Frist von acht bis vierzehn Tagen schreibt jeder ein Kapitel, die folgenden schreiben sie zusammen. Dabei wechseln sie sich ab, eine Passage schreibt der eine, die folgende der andere. Manchmal sitzen sie sich gegenüber und vollziehen ein Frage- und Antwort-Spiel. Die Schreibgeschwindigkeit wird immer schneller. Nach rund zwei Wochen legen sie die Ergebnisse ihren Freunden vor, allen voran Louis Aragon. Sie hören begeisterte Komplimente über die überraschende Bildlichkeit, die unvorhersehbaren Erzählwendungen, was sie bestärkt, ihr Werk als Les Champs magnétiques zu veröffentlichen.35 Anschließend an diskursive Techniken wie Brainstorming oder freies Assoziieren ruft der Surrealismus die Revolution des Geistes aus, wobei die automatische Schreibweise als eine zentrale literarische Technik eingesetzt wird. Im Ersten Manifest des Surrealismus wird die écriture automatique später definiert als schneller, spontaner, der Zensur keiner moralischen oder sozialen Instanz sich unterwerfender Akt des Schreibens. Eine Art der assoziativen Montage, die durch den objektiven Zufall bedient wird. Die Künstlertheorie des Surrealismus verwendet den Automatismus, sei er durch Disziplin oder Träume herbeigeführt, als Ideengenerator, der ungewöhnlich kontrastreiche Metaphern erzeugen soll. Hierin ist ein metaphorischer Montageprozess zu erkennen, der wie im Traumerlebnis wahllos Gedanken, Dinge oder voneinander getrennte Zeitabläufe aufeinandertreffen lässt; ohne Einhaltung von Logik werden spannungsreich unterschiedliche semantische Felder und Bilder montiert, und es entsteht eine Art Bil-
terbewusst“ geprägt, seine Konzepte finden sich adaptiert u. a. wieder in Freuds Studien über die Hysterie (1895). 33 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 24-25. 34 Breton, André/Soupault, Philippe: Die magnetischen Felder, a. a. O., S. 179. 35 In Kapitel VII werde ich noch ausführlicher auf das Werk eingehen.
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derfluss, der durch seine ungewöhnlichen Kombinationen Metaphern generiert. Als Beispiel solch surrealistischer Metaphorik gilt schon Lautréamonts scheinbar willkürliches, absurdes Konstruktionsprinzip, wie „die Unschlüssigkeit der Muskelbewegungen in den Wunden der Weichteile der hinteren Genicksgegend“ oder wie „die unvermutete Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!“36 Letzteres gilt als Vorbildsatz für die surrealistische Montagemethodik und wird von Breton in diversen Essays zitiert, noch bevor er das erste surrealistische Manifest verfasst, etwa in seinen Aufsätzen Max Ernst (1921) oder Giorgio de Chirico (ca. 1922), in denen er sich mit den Verfahrensweisen der Künstler befasst. Es geht bei der Verknüpfung der surrealistischen Montage, wie bereits zitiert, um den „erzielten Funken“, der durch das Aufeinandertreffen eigentlich unabhängiger Komponenten und durch ihren „Spannungsunterschied“ entsteht.37 Sowohl in Les Champs magnétiques als auch in Lautréamonts Texten wird zudem das Prinzip der Faltmontage wiedererkannt, das bei den Surrealisten ab 1925 verstärkt zum Einsatz kommt, um an zufällige Bilder zu gelangen und das oft gezielt von den Literaten gemeinsam mit bildenden Künstlern betrieben wurde. Cadavre exquis (auf Deutsch: köstliche Leiche) ist der Überbegriff dieses heute noch populären Spiels mit gefaltetem Papier, in dem es darum geht, einen Satz (auch längere Texte sind möglich) oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, ohne dass ein Mitspieler die vorhergehenden Beiträge kennt. Das Ergebnis einer surrealistischen Faltaktion gab dem Spiel seinen Namen: „Le cadavre – exquis – boira – le vin – nouveau.“38 Der köstliche Leichnam wird den neuen Wein trinken. Ein bekannter Satz, der ebenso durch das cadavre exquis-Spiel entstanden ist, lautet: „Das kleine blutarme Mädchen lässt die eingewachsten Puppen errö-
36 Lautréamont, Comte de: Die Gesänge des Maldoror, a. a. O., S. 223. 37 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 35. 38 Breton, André: Die köstliche Leiche. Ihre Erhöhung [Le Cadavre délicieux, 1948], in: Ders.: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1965], a. a. O., S. 294-297, S. 295. Als Abdruck in: Breton, André: Oeuvres complètes I, hrsg. von Marguerite Bonnet, Paris 1988, S. 641. Für Breton galt beim Spiel Folgendes: „Was uns tatsächlich an diesen Produktionen begeisterte, war die Gewißheit, daß sie, komme es, wie es wolle, unmöglich von einem einzigen Gehirn hervorgerufen worden sein können und daß ihnen in einem viel stärkeren Maße die Fähigkeit des Abweichens eigen ist, auf die in der Dichtung nie genug Wert gelegt werden kann. Mit der „köstlichen Leiche“ verfügte man endlich über ein unfehlbares Mittel, den kritischen Geist auszuschalten und dafür der metaphorischen Begabung des Geistes völlige Freiheit zu verschaffen.“
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ten.“39 Die Spannungen, die durch Montage und Metaphorik entstehen, erinnern hier an Lautréamonts Konstruktionsprinzip, häufig Gegensätze durchaus provokant miteinander zu verbinden, wie auch der Satz zeigt: „Wenn er das rosige Antlitz eines Kindleins küsste, hätte er ihm gern die Wangen mit einem Rasiermesser herausgerissen.“40 Solche Techniken erzeugen Bilder, die unterschiedlichste Tendenzen haben können – anthropomorphistische, absurde, verstörende, witzige usw. – und so die lebendigen Bezüge zwischen äußerer und innerer Welt verstärken. Tauchen dann doch Schreibhemmungen oder Blockaden auf, empfiehlt Breton, durch die écriture automatique sämtliche Fixierungen aufzugeben und gezielt Abschweifungen und Unaufmerksamkeiten herzustellen: Setzen Sie hinter das Wort, das Ihnen suspekt erscheint, irgendeinen Buchstaben, den Buchstaben l zum Beispiel, immer den Buchstaben l, und stellen Sie die Willkür dadurch wieder her, daß Sie diesen Buchstaben zum Anfangsbuchstaben des folgenden Wortes machen.41
Wenn écriture automatique und cadavre exquis im Surrealismus eine dem halbautomatischen Prinzip der Montage entsprechende Technik darstellen, bedeutet dies eine eklatante Wandlung oder gar Verneinung der schöpferischen Tätigkeit innerhalb der Kunstgeschichte, welche sich lange mit der reinen Nachahmung der physischen Erscheinung befasste. Neben dem wichtigen Effekt des Aufbrechens linearer und kausaler Strukturen, des Bruchs mit Konventionen sowie gängigen Sprachbildern hebt Breton für die Surrealisten insbesondere die Gemeinschaftsproduktionen heraus, da er der Meinung ist, darüber „eine seltsame Fähigkeit des Denkens aufgedeckt zu haben – die zu seiner Vergemeinschaftlichung. Tatsache ist, daß sich auf diese Weise erstaunliche Beziehungen ergeben, bemerkenswerte Analogien sich zeigen“.42 Die Metapher des Schnitts erfährt hier durch die Kooperation noch eine Potenzierung, doch auch bei einem weiteren surrealistischen Verfahren ist sie präsent.
39 Breton, André: Le Cadavre exquis, in: Patrick Waldberg: Der Surrealismus, Köln 1965, S. 87-89, S. 88. 40 Lautréamont, Comte de: Die Gesänge des Maldoror, a. a. O., S. 11. 41 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 30. 42 Breton, André: Zweites Manifest des Surrealismus [frz. 1930], in: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, a. a. O., S. 92.
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Traumarbeit und symbolische Destruktion Breton spricht sich dafür aus, den Menschen und seine Seele anhand von Traumarbeit zu ergründen, die in der Psychoanalyse das Verbinden von Elementen – die im Traum frei von Logik nebeneinander bestehen können – beinhaltet. Mit vollem Recht hat Freud seine Kritik auf das Gebiet des Traums gerichtet. Es ist in der Tat ganz unzulässig, daß dessen beträchtlicher Anteil an der psychischen Tätigkeit (erfährt doch – zumindest von der Geburt bis zum Tode – die geistige Tätigkeit des Menschen keinerlei Unterbrechung, und ist doch die Summe der Traum-Momente, selbst wenn man nur den reinen Traum, den des Schlafs, in Betracht zieht, nicht geringer als die Summe der Wirklichkeits-Momente, sagen wir einfach: der Wachseins-Momente), daß dieser beträchtliche Anteil des Traums, sage ich, noch so wenig Aufmerksamkeit hat erlangen können.43
Erst nachdem man die Elemente miteinander verbunden hat, erhält man ihren latenten Inhalt. Das heißt, ein Element kann je nach Kombination (respektive Schnitt) mehrere Dinge bedeuten. In diesem Zusammenhang ist auch Bretons, der ja selbst einige Zeit Medizin studiert hatte, Ablehnung der konventionellen Medizin zu sehen. Er glaubt nicht einmal mehr an deren humanitäre Absichten und beschreibt die Materie, mit der sich der „Vulgärwissenschaftler“ befasst, folgendermaßen: „Was seine Methode anlangt, ich wette, daß sie nicht mehr wert ist als meine. Ich habe den Entdecker des Hautreflexes bei der Arbeit gesehen: er manipulierte ohne Unterlaß seine Patienten, es war alles andere als eine Untersuchung, die er durchführte [...].“44 Und schließlich beschreibt Breton den Surrealismus selbst als eine psychische Wunde, wenn er es als ein Ziel der Bewegung ansieht, den Zustand der Distraktion, der Zerstreutheit als symptomatischen Zustand zu erreichen.45 Neben den Assoziationen mit dem kollektiven Gedächtnis einer verwundeten (Künstler-)Generation, steht also Breton als Arzt, dessen Instrument nach dem Weltkrieg die Schreibfeder ist und der mit künstlerischen Montageverfahren beweisen will, wie intertextuelle und hypertextuelle Methoden nicht in der reinen Sphäre sprachlicher Experimente gefangen bleiben, sondern in das Zentrum kultureller Systeme eingreifen können. Bretons Werke bestehen nicht nur aus Montagen, die innerhalb der Sphäre der Literatur verhaftet sind. Seine literarischen Montagen, die teilweise in Co-
43 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 16. 44 Ebd., S. 42. 45 Ebd., S. 43.
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Produktion mit verschiedenen Literaten entstanden sind, weisen ihren (vermeintlich) zufälligen Charakter beispielsweise dadurch auf, indem sie – wie in Nadja46 (1928) – ‚dokumentarische‘ Bilder beinhalten (Abb. 3). Es handelt sich dabei um Bemühungen, einen literarischen Text mit Bildmaterial anzureichern, sodass einerseits ein intermediales Spannungsverhältnis aufkommt; andererseits soll ebendies den Leser dazu verleiten, die gezeigten Abbildungen zum Text in Beziehung zu setzen, um so scheinbar Zugang zu einem nicht auf Anhieb entschlüsselbaren Textwerk zu finden. Wenn die Surrealisten versuchen, Suggestionen aus dem Unbewussten hervorzubringen – und zwar ohne, dass der Verstand sie erklären könnte – ist dies allein durch Worte kaum zu erreichen und braucht weitere Hilfsmittel. Die Fotografien in Nadja, die zudem mit passenden Textzitaten und der dazugehörigen Seitenzahl versehen sind, suggerieren, dass eine enge Verbindung zwischen Text und Fotos vorliegen müsse. Die auf diese Weise erzeugten Erwartungen seitens des Lesers werden in der tatsächlichen Konfrontation von Bild und Text jedoch nicht eingelöst. Es handelt sich dabei lediglich um eine bewusste Strategie des Autors, die es ihm erlaubt, Nadja als ein ‚dokumentarisches Werk‘ auszuweisen. Breton bildet jedoch Orte und Personen ab, die im Text tatsächlich nur kurz (wenn überhaupt) Erwähnung finden. Es gibt keinerlei Erklärungen für die Auswahl seiner Abbildungen. Die Bilder erläutern demnach die Lektüre nicht, wie es die klassische Illustration vorsieht, sondern verwirren vielmehr. Darüber hinaus wirken die Fotos unpersönlich und lassen keine emotionale Dimension erkennen oder gar Identifikation aufkommen. So wird schließlich auch die letzte Annahme, die Fotos würden eine gewisse Echtheit des Erzählten nachweisen (die Funktion der Fotografie in dieser Zeit lag noch in dieser dokumentarischen Beglaubigung) und vor allem auf eine äußere Wirklichkeit hindeuten, nichtig gemacht. Die scheinbare Wirklichkeit bleibt rätselhaft und damit beliebig. Dies deformiert letztlich auch das, was abgebildet ist. Damit führt Breton die ureigene Funktion der Fotografie als Real-Bebilderung ad absurdum – und die Erwartungen der Leser in die Irre: Genau in solchen Zusammenstößen bzw. semantischen Un-Verbindlichkeiten, die er durch die Technik der Montage erreicht, entsteht ein neues, offenes Erkennen eines (individuellen) Bildes bzw. einer Art von neuer Struktur. Hierin zeigt sich das Ziel des Surrealismus, zu einem alternativen bzw. neuen Sehen (der Dinge) vorzudringen, das normalerweise durch die engen Grenzen von Logik und Vernunft beschränkt wird. Damit spricht Breton auch die Undurchdringlichkeit des jeweils anderen, konventionellen Bild- und Textgefüges an – eine Undurchdringlichkeit, die Mo-
46 Breton, André: Nadja [frz. 1928], aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main 2002.
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vens surrealistischer Tätigkeit ist und die man versucht niederzureißen. Auf der anderen Seite stehen dabei die tradierten Werte einer Kultur auf dem Spiel, konkrete Beziehungsgeflechte und Wertmaßstäbe, die durch gezielte Übertretungen von Copyrights oder durch Bedeutungsverlust von (dokumentarischer) Authentizität bedroht werden. Dass sich Breton zum Changieren symbolischer Destruktion sowie für konkrete gesellschaftspolitische Aktionen die Montagemethodik ausgesucht hat, ist bestimmt kein Zufall, denn sie symbolisiert auf ihrer technischen Grundlage nicht nur das wortwörtliche, physische Aufbrechen und neu Zusammenfügen, sondern sie kann auch solche Abgrenzungen aufbrechen bzw. niederreißen, die psychischer Natur sind. Dabei werden auf imaginative Weise Bilder geschaffen, die sonst so nebeneinander nur im Traumerlebnis möglich sein würden. Zudem sind diese Bilder, an der Schnittstelle von Denken und Figur, von der Subjektivität durch die Art ihrer Aufnahme durchdrungen. Und dadurch führen die Werke, was meine Analysen im Hauptteil auch zeigen wollen, wiederum zur Hinterfragung von Rezeption und Wahrnehmung. Walter Benjamins folgender Satz soll noch einmal unterstreichen, inwiefern für dieses Unterfangen insbesondere das Prinzip der Montage tragend ist: „Erst das Zusammentreffen zweier verschiedener Straßennamen macht die Magie der ‚Ecke‘.“47 Und hier sind wir auch wieder bei Lautréamonts Seziertisch. Beide Sätze imaginieren ein Aufeinandertreffen zweier Objekte an einem Ort, zwei Straßen(-namen) oder eine Nähmaschine und ein Regenschirm. Hier wie dort ist es ein Ereignis, ein imaginiertes Ereignis, von Benjamin „magisch“, von Lautréamont „schön“48 genannt, jedoch bringen beide durch diese Magie, die auf dem Seziertisch oder an der Straßenecke als Ort des Geschehens stattfindet, ein neues Sehen und Wissen hervor, indem sie diejenigen verändern, die aufeinandertreffen. Wie bei Freuds Traumdeutungen, die diverse Abgrenzungen durch Vernunft oder Logik aufheben und die Dinge von ihrer Realität losgelöst betrachten, entstehen neue, mitunter zufällige Bedeutungen und Deutungsmöglichkeiten. Das entsprach genau dem Non-Konformismus des Surrealismus. Es ging Breton im Vergleich zu Freud aber nicht um Heilung, sondern im Mittelpunkt von Bretons Interesse steht dieses neue Wissen, die neuen Möglichkeiten, die Dinge zu sehen – oder besser: sie zu imaginieren. Die Imagination ist für die Surrealisten daher als eine Form der Erkenntnis zu verstehen. Indem sie Verbindungen herstellt, bringt sie alte Konzepte durcheinander und ordnet sie
47 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Bd. V-2, hrsg. von Rolf Tiedemann, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2015, S. 1008. 48 Lautréamont, Comte de: Die Gesänge des Maldoror, a. a. O., S. 223.
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neu. Im Hinblick auf die bildende, die visuelle Kunst, die den Fokus dieser Arbeit bildet, kann die bisherige Unterteilung der Zeiten und Räume, des Sichtbaren und des Unsichtbaren, die Anordnungen der Körper im Raum etc. an Ordnung verlieren. Das heißt, bisher voneinander getrennte Sphären können zusammenfließen, sich überlappen und ein neues (visuelles und metaphorisches) Gebilde hervorbringen. Eine Neuordnung der vermeintlich klaren Trennlinie zwischen geistig Erfahrbarem und haptisch Erfassbarem kann eine Erkenntnis schaffen, in der Rationales gerade im Bereich der Imagination hervorgebracht werden kann. Diese Erkenntnistheorie kann daher überlieferte Grenzen aufbrechen und Unsichtbares sichtbar machen.49 Nadja oder Die Grenze surrealistischen Erlebens Inwiefern in Bretons Nadja die Metapher des Schnitts im umgesetzten Werk auffindbar wird, soll nun kurz betrachtet werden. Peter Bürger folgend, gliedert sich Bretons Novelle, in der das wesentliche Geschehen sich auf die zufälligen Begegnungen der beiden Protagonisten Nadja und Breton beschränkt, die mit der Zeit eine Liebesbeziehung entwickeln, in vier Teile auf.50 Mit einer theoretischen Einleitung, auf die scheinbar unzusammenhängende Einzelbeobachtungen folgen, beginnt die Erzählung. Notizen über die Begegnungen mit Nadja, in Form von tagebuchartigen Einträgen, bilden den Hauptteil, der die Umfänge von Pround Epilog allerdings deutlich unterschreitet. Abschließend wird zum einen über die Beziehung von Breton und Nadja und zum anderen über eine surrealistische Lebensweise reflektiert: als die geistige Freiheit, die die Surrealisten anstreben. Frei seien diejenigen, die sich ihrem Verlangen hingeben, ohne Sinn oder Logik in diesem Handeln zu suchen. Breton bewundert beispielsweise Kinder oder ‚Geisteskranke‘, die nicht nach den gesellschaftlichen Normen (hier der westlichen Industriegesellschaften) handeln und somit für ihn das Ideal der surrealistischen Freiheit des Geistes erfüllen.51 Sowohl im ersten Manifest als auch in Nadja befasst sich Breton mit dem Wirklichkeitsbegriff. Breton geht in beiden Werken von einer vernunftgesteuerten Realität sowie von einer verinnerlichten Realität, dem Traum, aus. Der zivilisierte Mensch sei durch seinen Rationalismus beschränkt, sodass ein Entkom-
49 Vgl. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006, S. 26-27. 50 Vgl. hierzu Bürger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zum Problem der avantgardistischen Literatur, Frankfurt am Main 1971, S. 119-120. 51 Breton, André: Nadja, a. a. O., S. 35.
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men in die ‚Traumwelt‘ so gut wie unmöglich erscheint. In Nadja verweist Breton auf den surrealistischen Dichter und Weggefährten Robert Desnos, der das Unbewusste erforscht, indem er seine Träume protokolliert.52 Gegen Ende des Prologs erwähnt Breton, dass der Traum das Denken beeinflusse, sobald man sich seinen Erinnerungen leidenschaftlich hingebe.53 Das Bestreben Bretons besteht also nicht darin, der Realität zu entfliehen, sondern es geht ihm um die Auflösung oder vielmehr Verschmelzung von Innen- und Außenwelt. Im Prolog beschreibt er die Wichtigkeit, dafür den Konflikt zwischen „Subjektivität und Objektivität“54 zu lösen. Schon im Manifest von 1924 spricht sich Breton ja nicht für eine Realitätsleugnung, sondern dezidiert für eine Realitätserweiterung aus, in einer Art „absoluter Realität“55 (Surrealität). Reale Gegenstände aus ihren zweckrationalen Bezügen herauslösen und auf diese Weise das Bekannte im Unbekannten zu entdecken, betrachtet Breton als „wunderbar“.56 Mit einer solchen Herauslösung der (realen) Dinge aus ihren gewohnten sowie konventionellen Kontexten geht eine neue Rangordnung der Dinge einher. In Nadja bezieht sich Breton daher auch auf de Chirico, der nur malen könne, wenn er von der Anordnung der Dinge überrascht sei.57 Die Figur Nadja präsentiert in diesem Sinne nicht nur den Prototyp surrealistischen Erlebens, sondern auch die Grenzen des Surrealismus. Häufig unternimmt Nadja die Reise in eine scheinbar surreale Wirklichkeit, meistens gelingt es ihr dann aber lange nicht, aus dieser in die Realität zurückzukehren. Nadja driftet immer mehr ins Wahnhafte und Irreale ab; sie ist etwa kaum in der Lage, das einfache Muster eines Mosaiks zu ertragen, sodass sie und Breton schließlich die Lokalität, in die sie eingekehrt sind, verlassen müssen.58 Breton bemerkt bald, dass es immer schwieriger wird, ihren Selbstgesprächen zu folgen. Nachdem Nadja ihm immer mehr entgleitet bzw. er sich von ihr entfremdet, antwortet sie auf die Frage, wo sie denn zu erreichen sei, dass dies unmöglich wäre.59 Diese Aussage scheint Bretons anfängliche Begeisterung für ihr Missachten von jeglichen konventionellen oder rationalen Ordnungen allmählich zu relativieren. Er beginnt, Nadjas ‚Surrealität‘ anzuzweifeln.60 Nadja
52 Ebd., S. 27. 53 Ebd., S. 44. 54 Ebd., S. 8. 55 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 18. 56 Ebd. 57 Breton, André: Nadja, a. a. O., S. 12. 58 Ebd., S. 75. 59 Ebd., S. 98. 60 Ebd., S.117.
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kann sich zwar von der rationalen Vernunft und somit sämtlichen Konventionen lösen, aber letztendlich ist es eine Realität, in der sie nichts weiter als eine psychisch Erkrankte ist – und die ihr den Weg in die Selbstzerstörung ebnet. Anstatt Realität und Traum in der Surrealität zu verbinden, unternimmt Nadja eine komplette Realitätsabkehr. Spätestens mit der Einlieferung in die „Irrenanstalt“61 ist Nadja nicht mehr imstande, ihr eigenes Selbst wahrzunehmen, geschweige denn zu definieren. Für Bretons Selbstfindung spielt Nadjas Identitätsverlust eine wichtige Rolle: Indem Breton Nadjas Wahnsinn nicht mehr verherrlicht und er ihr nicht folgen möchte, begreift er, dass solch eine Lebensweise (ohne jeglichen Realitätsbezug) dauerhaft unmöglich ist.62 Nadja gelingt es nicht, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden bzw. diese Sphären zu verbinden. Hierin ist der Unterschied zwischen Nadja und den Surrealisten zu erkennen, denn die surrealistischen Werke funktionieren nur, solange dieser Unterschied bewusst bleibt. Nadja wird zwar zur surrealistischen Muse, gerade in den Anfangsbegegnungen mit Breton, da sie eine Realitätserweiterung im surrealistischen Sinne für andere erfahrbar macht, es wird jedoch offenbar, dass sie diese Erfahrungen selbst als solche gar nicht wahrgenommen hat. Symbolisch betrachtet, lässt sich anhand von Nadja veranschaulichen, dass eine Verbindung zwischen Subjektivität und Objektivität zu einer Surrealität nur möglich ist, wenn Objektivität als fester Bestandteil vorhanden ist. Im Zweiten Manifest des Surrealismus (1930) erkennt Breton – gleichsam daraus folgernd – gesellschaftliche Konstruktionen beispielsweise „der moralischen Kräfte, wie Himmel, Geräusch einer Uhr, Kälte und Übelkeit“63 an. Zudem befasst sich Breton in dieser Erweiterung der ersten Programmatik vordergründig mit der äußeren Welt, wohingegen er sich noch im ersten Manifest mehr der Innenwelt bzw. dem Traum widmete. Es ist daher Peter Bürger zufolge vor allem die Lektüre dieses zweiten Manifests, die die oben dargelegte rückwirkende Interpretation von Nadja nahelegt. Es macht eben nur anfänglich den Eindruck, als lebe Nadja auf ‚wunderbare‘ Weise ihre geistige Freiheit. Im Laufe der Zeit muss der Protagonist Breton jedoch feststellen, dass Nadja zwar in eine innere Welt entkommt, dabei aber den Bezug zur Außenwelt verliert. Und in diesem Sinne wird die Figur Nadja zu einem selbstreflexiven Kommentar auf den fragilen Prozess der Metaphernbildung durch das Prinzip der Montage von Innen- und Außenwelten. Lediglich in der Stadt Paris erkennt Breton eine dauerhafte Quelle der Inspiration. In ihr kann er durch überraschende Zufälle im Bekannten dem Unbekannten
61 Ebd. 62 Ebd. 63 Breton, André: Zweites Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 56.
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begegnen. So gesehen scheint der (objektive) Zufall doch verlässlicher als das Traumhafte. Abschließend wird festgehalten, dass Breton im ersten surrealistischen Manifest und in Nadja die Frage reflektiert, wie ein Autor die sogenannte „wundersame geistige Freiheit“64 umzusetzen vermag: einmal durch écriture automatique, wie sie von Breton und Soupault bereits in Les Champs magnétiques als Ergebnis eines auf der Basis von Intuition durchgeführten Experiments praktiziert wurde; des Weiteren durch surrealistische Spiele mit Sprache und Bildern, wie dem cadavre exquis, immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen, die in einer analogen Wahrnehmung Wörter bzw. Dinge und Gefühle zusammenbringen, die sich ansonsten nicht „getroffen“ hätten. Ein ähnliches Ziel verfolgt schließlich die Traumarbeit als Katalysator zur Vereinigung der inneren und äußeren Welten. Breton sieht dabei den Traum mit dem Lustprinzip verbunden und zwar als Möglichkeit zur Wunscherfüllung, welche im Unterschied zur wissenschaftlichen Anwendung steht und vor allem mit der Montagearbeit im Film verglichen werden kann. Die Surrealisten verfolgen in ihrer Traumarbeit ein poetisches Ziel. Dabei geht es ihnen nicht in erster Linie um die Bereicherung des Bewussten durch das Unbewusste (Freud), sondern um das Unbewusste selbst. Und schließlich soll der Zufall, der allen gerade genannten Verfahren mehr oder weniger zugrunde liegt bzw. sie begleitet, dem Autor zur geistigen Freiheit verhelfen. So gilt der Zufall als ästhetisches Prinzip, das nur scheinbar ohne den Künstler funktioniert. Exkurs: Die Festschreibung des Surrealismus Breton hatte zwar erst Mitte des Sommers 1924 die Bezeichnungen LittératureGruppe und Vage Bewegung durch Surrealismus ersetzt,65 das Wort jedoch hatte er bereits seit 1920 verwendet, um damit das automatische Schreiben zu bezeichnen, wodurch „Surrealismus“ zunehmend als Etikett für die Aktivität der Gruppe gedient hatte. Die nähere Betrachtung der mittleren 1920er Jahre zeigt, dass Breton intensiv am Image und Ziel der Bewegung feilte und dabei Pläne für eine wiederbelebte Kollektivität schmiedete. Entsprechend folgte der schon zuvor nicht regelmäßig erscheinenden Zeitschrift Littérature das Blatt mit dem programmatischen Titel La Révolution surréaliste (1924-1929), dessen Herausgeberschaft Breton im Sommer 1925 (Nr. 4) von Pierre Naville und Benjamin
64 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 19. 65 Polizzotti, Mark: Revolution des Geistes. Das Leben André Bretons, Wien/München 1996, S. 299.
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Péret übernahm. Kurz zuvor stellte Breton das Manuskript seines neuesten automatischen Texts, Poisson soluble (1924), fertig, das bei Éditions du Sagittaire von Simon Kra veröffentlicht werden sollte. Poisson soluble (Löslicher Fisch66) versammelt 31 automatische kurze Anekdoten. In der Hoffnung, der Nichtbeachtung und dem Unverständnis der breiten Öffentlichkeit zuvorzukommen, auf die Les Champs magnétiques gestoßen waren, dachte Breton daran, dem Band als Vorwort eine theoretische Einführung voranzustellen, die er nach seiner Rückkehr von einer „Zufallswanderung“ im Mai 1924 zu schreiben begann. Doch bald kamen ihm Bedenken hinsichtlich der Art des Textes und er erwog, sein Vorwort durch einen Gemeinschaftstext zu ersetzen: „Soupault, Aragon und ich werden jetzt vielleicht zusammen an einer Art von Manifest unserer gemeinsamen Ideen arbeiten“, teilte er seiner Ehefrau Simone Breton am 17. Juni mit.67 Das Ergebnis war einerseits Aragons Essay Une Vague de rêve (Eine Welle von Träumen) und andererseits eine Deklaration Bretons von ca. siebzig Seiten, die letztendlich den Titel Manifeste du surréalisme erhielt. Anders als die automatischen Texte, mit denen gemeinsam es dann erschien, wurde das Manifest mit Sorgfalt verfasst. Simone fiel auf, dass es „große Mühe erfordert und Breton eine ganze Reihe von Hindernissen entgegengestellt und Frustrationen verursacht“ habe, während er Poisson soluble „rasch, fieberhaft und wie besessen“ geschrieben habe.68 Dieses Manifest destilliert Bretons intellektuellen Werdegang seit den Tagen, die Dada unmittelbar vorangingen, und verdeutlicht die Verbindung zwischen den jüngeren Experimenten der Gruppe, wie Schlafanfälle und Traumerzählungen, und jenen, die Breton während der Niederschrift von Les Champs magnétiques durchgeführt hatte. Nach fünf Jahren experimenteller und künstlerischer Tätigkeiten mit einer Vielzahl an Mitwirkenden schien es immer noch nötig, gleichsam als Befreiungsruf, das Hauptziel der Bewegung nachdrücklich zu formulieren: ein Versuch, den Menschen „diesen entscheidenden Träumer“, aus dem „lichtlosen Schicksal“ zu erretten,69 das ihm aufgrund „der Herrschaft der Logik“70 auferlegt sei und die Breton zufolge durch den nach wie vor führenden Rationalismus eng mit der Erfahrung verknüpft sei. Um den ‚Schäden‘ entgegenzuwirken, die die Logik (und alle ihre Werke) angerichtet hätten, bietet Breton die Entdeckungen Freuds an, die „Wunder, die sich
66 Eine deutsche Übersetzung dieses integralen Teils des ersten surrealistischen Manifests erschien erstmals 1938 auf Deutsch. 67 Der Brief ist in Polizzotti als Nachdruck zu lesen, ebd. S. 300-301. 68 Ebd. 69 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 11. 70 Ebd., S. 15.
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in Träumen finden“, gewisse Formen geistiger Verwirrung und speziell die neuen Ausblicke, die der Surrealismus auf dem Gebiet der Sprache schafft, „die dem Menschen gegeben wurde, damit er einen surrealistischen Gebrauch davon mache“.71 Dabei werden das automatische Schreiben, hypnotischer Schlaf und andere Aspekte des „poetischen Surrealismus“ als Zugang zu einem Zustand befürwortet, der „in der Art von Stimulanzen auf den Geist wirkt; wie diese erzeugt er einen gewissen Zustand des Bedürfnisses und vermag den Menschen in schreckliche Revolten zu treiben“.72 Zu den bekanntesten Abschnitten des ersten Manifests gehören Bretons Definitionen des Surrealismus, der durch den „reinen psychischen Automatismus mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht [...]“ sowie als Philosophie „auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes [...]“ beruhe.73 Bretons Manifest enthält eine allgemeinere philosophische sowie eine spezifische polemische Funktion und übernimmt zugleich auf raffinierte Weise die Form von Lexikonartikeln, mit für Rezipienten leicht merk- und zitierbaren Formeln. An dieser Stelle sei auch festgehalten, dass die künstlerischen Verfahren, die im Hauptteil dieser Arbeit analysiert werden, darunter etwa Max Ernsts frühe Collagentechnik oder die suggestiven, fast träumerischen Montagen, die durch Man Rays Rayografien entstanden, Jahre vor der Festschreibung des Surrealismus oder der Definition automatischer Techniken im ersten Manifest von den Künstlern entwickelt wurden. Ihre Schnitttechniken, ihre Programmatiken wurden von André Breton schon seit den Zeiten Dadas aufmerksam begleitet. Sie haben sich so nicht nur in diverse Artikel Bretons, sondern auch in das Manifest einer Bewegung eingeschrieben, das richtungsweisend sein sollte. Und das nun eine Menge an namhaften Künstlern und Autoren zu einer – zugegeben sehr heterogenen – Gruppe mit Breton als Anführer vereinte.74
71 Ebd., S. 32. 72 Ebd., S. 34. 73 Ebd., S. 26-27. Die Definitionen stehen im vollständigen Wortlaut ganz am Anfang dieses Buchs. 74 Zunächst werden die Namen von Bretons engen Mitarbeitern genannt, den Freunden, die „sich hier für immer eingerichtet“ haben in seinem mythischen Schloss „nicht weit von Paris“: Aragon, Péret, Fraenkel und Desnos, den Breton wie folgt hervorhebt: „denjenigen unter uns, der der surrealistischen Wahrheit vielleicht am nächsten gekommen ist [... und] voll und ganz die Hoffnung gerechtfertigt hat, welche ich auf den Surrealismus setzte.“ Weiters: Soupault, Éluard, Limbour, Roger Vitrac, Morise, Noll, Georges Auric und Jean Paulhan (die beiden letzten allerdings sollten nicht zur surrea-
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Mit dem Manifest scheint 1924 auch die Auseinandersetzung um das Copyright am Wort „Surrealismus“ endgültig entschieden. Sie hatte damit begonnen, dass Paul Dermée, einer der Nachläufer Dadas, dafür plädiert hatte, der Begriff „literarischer Kubismus“ solle durch „Surrealismus“ ersetzt werden, um die Werke von Pierre Reverdy, Max Jacob, Apollinaire und ihm selbst zu bezeichnen.75 Als Antwort machte die Littérature-Gruppe geltend, dass der Surrealismus, wenn auch dem Wort nach von Apollinaire stammend, in Wirklichkeit mit Lautréamont und Rimbaud begonnen und sich in Les Champs magnétiques fortgesetzt habe. Breton hatte sich zudem öffentlich bereits mit dem Begriff in Verbindung gebracht und zwar zuerst im Essay Für Dada (1919), wo er damit begann, Apollinaires Definition in Richtung unbewusste Aktivität herüberzuziehen,76 und daraufhin in Auftritt des Mediums (1922), in dem er festhält, was er unter Surrealismus versteht und dass dieser durch all das definiert werde, was er, Breton, seit 1919 gemacht habe.77 Im letzteren Essay erklärt er zudem: Dieses Wort, das nicht wir erfunden haben, und das wir ebenso gut dem verschwommenen Vokabular der Kritik hätten überlassen können, wird von uns in einem sehr präzisen Sinn verwandt. Wir sind übereingekommen, einen gewissen psychischen Automatismus mit diesem Wort zu bezeichnen, der ziemlich genau dem Traumzustand entspricht, ein Zustand, der heute noch recht schwierig abzugrenzen ist.78
Am Ende sollte aber das Manifest die definitive Aussage über den Surrealismus sein: Er erhielt dadurch einen Nimbus von nahezu wissenschaftlicher Objektivität, die die Bewegung einem breiten Publikum zugänglich machte. Zugleich taten die anderen Mitglieder ihr Bestes, um für breitere Bekanntheit zu sorgen: Unter anderem brachte Benjamin Péret in Le Journal littéraire 1924 eine Serie von Interviews mit berühmten Schriftstellern heraus, in der er um ihre Meinung zum Surrealismus bat, und Simone Breton eröffnete das Büro für surrealistische
listischen Bewegung gehören) sowie die Neuzugänge Pierre Naville und Joseph Delteil, der Rechtsanwalt Francis Gérard, der Fotograf J.-A. Boiffard, dann Jacques Baron und der Künstler Georges Malkine. Duchamp, Picasso und Picabia werden als Besucher des Schlosses genannt. Ebd., S. 20. 75 Vgl. Polizzotti, Mark: Revolution des Geistes, a. a. O., S. 305. 76 Breton, André: Für Dada [Pour Dada, 1919], in: Ders.: Die verlorenen Schritte, a. a. O., S. 65-71, S. 69. 77 Breton, André: Auftritt des Mediums [Entrée des Médiums, 1922], in: Ders.: Die verlorenen Schritte, a. a. O., S. 113-120, S. 114. 78 Ebd.
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Forschungen, wo jeder seine Träume abliefern durfte. Das Büro befand sich im Erdgeschoss einer Privatvilla in der Rue de Grenelle, die von Pierre Navilles Vater gemietet und den Freunden seines Sohnes zur Verfügung gestellt wurde. Sie lag nicht nur inmitten der Stadt und war daher für jeden gut erreichbar, sondern auch unweit der Redaktionsräume von La Nouvelle Revue française, der führenden Literatur- und Kunstzeitschrift des Landes.
VI. Psychoanalytische Theorien und Modelle als Inspirationsquelle
Aufgrund der vielen ‚Öffentlichkeitsarbeit‘, die die Surrealisten betrieben, ist die Frage legitim, inwieweit die Bewegung eine positive Rolle für die Verbreitung von freudschen Ideen gespielt hat. Diese Fragestellung klingt erst einmal generalisierend, ist aber für die vorliegende Studie ergiebig, da hierüber veranschaulicht werden kann, dass Breton weniger an den Theorien als vielmehr an den Mechanismen der Traumdeutungen interessiert war, die Verknüpfungsprinzipien darstellen. In diesem Zusammenhang spielt auch die Gültigkeit und Relevanz der Fehlleistungen1 eine Rolle, die für Freud als Handlungsautomatismus sogenannte Kompromissbildungen darstellen und die auf unterschiedliche Weise in unzählige Disziplinen des 20. Jahrhunderts eingeflossen sind. Dieses Feld ist riesig, aber im Hinblick auf den Surrealismus und die Verbindung zwischen Freud und Breton umfangreich erforscht,2 während der Lacan-Dalí-Verbindung erst seit geraumer Zeit Essays gewidmet wurden.3
1
Freud, Sigmund: Die Traumdeutung [1899], Nachdruck der 7. Aufl., Bremen 2012, S. 94-113. Die Ursache für die Entstehung der Fehlleistungen sieht Freud in der Existenz und Aktivität unbewusster Beweggründe, die, etwa aus Anstandsgründen, der psychischen Zensur unterliegen und nicht bewusst geäußert werden können.
2
Vgl. hierfür u. a.: Starobinski, Jean: Freud, Breton, Myers, in: L’Arc: Freud, Nr. 34 (1968), S. 87-96; Waldberg, Patrick: Der Surrealismus, 2. Aufl., Köln 1972; Bonnet, Marguerite: André Breton, Naissance de l’aventure surréaliste, Paris 1975; Bürger, Peter: Der französische Surrealismus, Frankfurt am Main 1996; Rabaté, Jean-Michel: Loving Freud Madly: Surrealism between Hysterical and Paranoid Modernism, in: Journal of Modern Literature, Vol. 25, Nr. 3-4 (Sommer 2002), S. 58-74.
3
Vgl. hierfür u. a.: Gorsen, Peter: Kunst und Krankheit. Metamorphosen der ästhetischen Einbildungskraft, Frankfurt am Main 1980; Gekle, Hanna: Tod im Spiegel. Zu
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Breton und Freud waren, das möchte der folgende Abschnitt zeigen, von Anfang an in einer Kette von Vermeidung und Missverständnissen miteinander verwoben. Diese ‚Fehlleistungen‘ offenbaren jedoch eine tiefer gehende Harmonie, während Lacan und Dalí, anscheinend die besten Freunde, ideologische Überlappungen (zumindest am Anfang) enthüllen, um einen tieferen Riss zu verbergen. Die erste Begegnung zwischen Freudianismus und Surrealismus liegt in der Förderung von Konzepten wie dem psychischen Automatismus, dem unbewussten Diktat, der ‚Über-Bestimmung‘ von Traumbildern (Überdeterminierung) und der Hysterie. Die zweite Begegnung – diesmal mit Lacan, der Freuds Lehren popularisieren sowie radikalisieren sollte –, die das Konzept der Paranoia fördert, scheint ein erfolgreicheres Unterfangen gewesen zu sein. Durch die Verengung des historischen Schwerpunkts auf die 1920er und frühen 1930er Jahre lässt sich beobachten, wie das anfängliche surrealistische Faible für die Hysterie in die surrealistische Theorie der Paranoia verwandelt wird. Doch zuerst soll nun die ambivalente Beziehung zwischen dem Surrealismus und Freud kurz dargelegt werden. Freud – Annäherung und Distanzierung Während des Ersten Weltkriegs begann Breton, sich mit Freud auseinanderzusetzen, das heißt zu einer Zeit, in der die meisten französischen Schulen für Psychiatrie Freud ignorierten. Im Herbst 1913 startete Breton mit seinem Medizinstudium, am 17. Februar 1915 wurde er für wehrdiensttauglich erklärt, am 25. einberufen und am folgenden Tag dem 17. Artillerieregiment überstellt. Im August 1916 wurde Breton an die neuropsychiatrische Station von Saint-Dizier geschickt. In dieser Station, die von einem ehemaligen Assistenten von JeanMartin Charcot4 überwacht wurde, las Breton Literatur, die viele von Freuds Ideen enthielt, wie beispielsweise das Kompendium von Emmanuel Régis und
Lacans Theorie des Imaginären [1996], 2. Aufl., Frankfurt am Main 2016; Bürger, Peter: Kunst der Metamorphose – Metamorphose der Kunst, in: Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, hrsg. von Isabel Maurer Queipo und Nanette Rißler-Pipka, Bielefeld 2007, S. 39-48; Roloff, Volker: Surreale Metamorphosen und Spiegelbilder, in: Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, a. a. O., S. 49-77. 4
Charcot gilt als Mitbegründer der modernen Neurologie. Bekannt wurden seine psychopathologischen Studien zur Hysterie, die wiederum von einigem Einfluss auf Sigmund Freud waren.
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Angelo Hesnard La Psychoanalyse5 (1914). Breton kopierte für seinen Freund Théodore Fraenkel – der ebenfalls Medizinstudent war und sich Dada und später dem Surrealismus anschloss – ganze Seiten aus diesen Bänden, unter denen Freuds Begriffsbestimmungen zu Widerstand, Verdrängung oder Sublimation enthalten waren.6 Freud war zwar nicht der einzige Denker, den Breton damals für sich entdeckte, jedoch entwickelte er eine Leidenschaft für die Psychoanalyse und dachte sogar daran, sie zu seinem Beruf zu machen. Breton notierte etwa pflichtbewusst die ‚unsinnigen‘ Tiraden, die er von bestimmten psychotischen Patienten hörte.7 Nach seinem Dienst 1917 schloss sich Breton dem Neurologen Joseph Babinski an und legte seinen Fokus auf die Hysterie. Jean Starobinski hat bereits anhand der Studien, die aus der psychiatrischen Literatur dieser Zeit stammen, nachgewiesen, inwiefern die vom Surrealismus geförderte Konzeption des mentalen Automatismus sehr wenig mit den Theorien von Freud zu tun hat und vielmehr von Janet (automatisches Schreiben) oder dem englischen Parapsychologen F. W. H. Myers („subliminales Ich“) abgeleitet werden kann.8 Dennoch beweist für ihn die Durchsicht von Bretons Notizbüchern, dass es Freuds Schriften waren, die Breton anfänglich dazu bewegten, der spontanen Sprachproduktion als Schlüssel für das Unbewusste zu vertrauen, selbst wenn Freud diesem Analysematerial nicht mehr als einen heuristischen Wert zumaß.9 Diese Sprachproduktion wurde besonders bei Hysteriepatientinnen angeregt. Doch für die Surrealisten ist die Hysterie kein pathologisches Phänomen, viel-
5
Der vollständige Titel lautet: La Psychoanalyse des névroses et des psychoses, ses applications médicales et extra-médicales, Paris 1914.
6 7
André Breton an Fraenkel, zit. nach Bonnet, Marguerite: André Breton, a. a. O., S. 99. Anders als die eigentlichen Praktiker der Psychiatrie galt seine Beachtung der Phänomene, deren Zeuge er in jenem Zentrum wurde, weniger ihrem therapeutischen Wert als vielmehr ihrer Anwendbarkeit auf die Wurzeln künstlerischen Schaffens: „Nichts beschäftigt mich so sehr wie die Interpretationen dieser Verrückten“, berichtete Breton Apollinaire. „Instinktiv ist es mir bestimmt, auch den Künstler einem solchen Test zu unterziehen.“ André Breton an Apollinaire, zit. nach Polizzotti, Mark: Revolution des Geistes, a. a. O., S. 79.
8
Vgl. Rabaté, Jean-Michel: Loving Freud Madly, a. a. O., S. 60; der Autor bezieht sich hier auf den Artikel von Jean Starobinski: Freud, Breton, Myers, in: L’Arc: Freud, Nr. 34 (1968), S. 87-96.
9
Ebd., S. 87-96.
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mehr ein „Ausdrucksmittel ersten Ranges“10, eine Art zwischen den Welten schwebender Geisteszustand. Selbst wenn sich die von Breton und seinen Freunden verwendeten Begriffe auf die von Charcot, Janet oder Babinski vertretene französische klassische bzw. Pre-Freudianische Psychiatrie beziehen, sind jedoch die spontanen Äußerungen, die Material offenbaren und zu einem Anfang der tatsächlichen psychischen Produktion führen, von Freud abzuleiten. Breton verweist stets auf diese ursprüngliche Inspirationsquelle, wie folgende Erzählung im Ersten Manifest des Surrealismus veranschaulicht: Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können, und beschloss nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so weit wie nur möglich gesprochener Gedanke wäre.11
Der Name Freud beherrscht das 1924 geschriebene Manifest, dennoch schließt Bretons theoretische Grundlage in psychoanalytischem (nicht psychologischem) Wissen keinesfalls das Bewusstsein dafür aus, dass die als klinische Praxis12 verstandene Psychoanalyse sich von den surrealistischen Experimenten abgrenzt, die darauf abzielen, die Grenzen zwischen Wachzustand und (Nacht-)Traum zu beseitigen sowie jene zwischen Kunst und Leben.13 Im Oktober 1921 besuchte Breton Sigmund Freud in seiner Wiener Praxis. Unter dem Titel Interview mit Professor Freud14 (1922) erschien erstmals in Littérature (Nr. 1) eine kurze Darstellung des Treffens, von dem Breton – sichtlich enttäuscht – nur Äußerlichkeiten festhält: Freuds Erscheinung sei die eines „kleinen alten Mannes ohne Haltung, der in seiner armseligen Vorstadt-Praxis empfängt“.15 Es scheint, als hätten die beiden nicht viel miteinander anfangen
10 Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung: Breton, André/Aragon, Louis: Das fünfzigjährige Jubiläum der Hysterie (1878-1928), in: Walberg, Patrick: Der Surrealismus, 2. Aufl. 1972, S. 61-62, S. 61. 11 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 24, Herv. i. O. 12 Die klinische Praxis inkludiert normalerweise Diagnose und Therapie. 13 Ebd., S. 34. 14 Breton, André: Interview mit Professor Freud [frz. 1922], in: Ders.: Die verlorenen Schritte, a. a. O., S. 89-90. 15 Ebd., S. 89.
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können, als sei Breton nicht imstande gewesen, diesen bescheidenen Wiener Arzt in einen sinnvollen Dialog zu verwickeln. Breton verfasst den kurzen Artikel in ironischem Ton und beendet ihn mit einem Zitat Freuds, der seinerseits darin seine Anerkennung in ironischer Weise ausdrückt: „Glücklicherweise rechnen wir sehr mit der Jugend.“16 Die Diskrepanz zwischen dem Begründer der modernen Psychoanalyse, der für Breton in seinen menschlichen und gesellschaftlichen Einschränkungen gefangen scheint, und den befreienden Möglichkeiten der Psychoanalyse selbst, wird in den folgenden Jahren die Haltung Bretons markieren. In seinem Werk Les Vases communicants (Die kommunizierenden Röhren,1932) verdächtigt Breton Freud gar, sich für Die Traumdeutung bei einem früheren Traumtheoretiker bedient zu haben: „[…] Freud selbst, der bezüglich der symbolischen Traumdeutung einfach Volkelts Ideen übernommen zu haben scheint – die Bibliografie am Ende seines Buches erwähnt bezeichnender Weise diesen Autor nicht [...].“17 Für Die kommunizierenden Röhren hatte Breton im Sommer 1931 die französische Übersetzung von Freuds Traumdeutung nochmals gelesen. Für Jean-Michel Rabaté veranschaulicht insbesondere der Entwurf des Werkes, der Zitate auf den rechten Seiten und Bretons persönliche Bemerkungen oder Assoziationen jeweils auf den linken Seiten enthält, Bemerkenswertes:18 Ein Beispiel für solch einen Notizbucheintrag besteht (auf der rechten Seite) aus Freuds Kritik aus seinem Kapitel „Die wissenschaftliche Literatur der Traumprobleme“, in dem er Joseph Delboeufs Vorstellung kritisiert, dass alles in Träumen aus den Gedanken des Vortags entspringe,19 und (auf der linken Seite) kommentiert Breton Delboeufs Theorien über Traum-Paranoia, die Breton auf einen kühnen Zusammenhang zwischen Traumtätigkeit und Paranoia aufmerksam werden lassen. Hier wird deutlich, dass Breton nicht lediglich Freuds Text folgt, sondern auch die darin enthaltenen verschiedenen Verweise auf die Autoren überprüft, um sie eventuell für den Surrealismus fruchtbar zu machen. Breton greift dabei Freud – Rabaté zufolge – gleich zweifach an: Zuerst habe Freud
16 Ebd., S. 90. 17 Breton, Andre: Die kommunizierenden Röhren [frz. 1932], aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Lenk und Fritz Meyer, München 1973, S. 14. Volkelt = Johannes Volkelt: Der deutsche Philosoph hatte sich bereits in den 1870er Jahren mit dem Unbewussten und Traumfantasien beschäftigt. 18 Der Entwurf ist als Fotografie im Buch enthalten, mit den Zitaten von Freud (rechts) und Breton (links). Vgl. Breton, Andre: Die kommunizierenden Röhren, a. a. O., S. 61. 19 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, a. a. O., S. 14-15.
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eine Idee (bezüglich Sexualität im Traum) von einem anderen Schriftsteller gestohlen,20 und zweitens habe Freud sein eigenes einheitliches Grundprinzip vergessen, wenn er Träume und Wirklichkeit als radikal verschiedene Welten entgegensetzt.21 Hier setzt Breton nicht nur auf Lenin, den er häufig zitiert,22 sondern er spricht auch auf Schopenhauer an, der davon ausgegangen ist, dass Träume prophetisch seien im Hinblick auf die Gabe des sogenannten zweiten Blicks,23 obwohl Letzteres auch eine Trennung zwischen Wirklichkeit und Erscheinungen postuliert: Trostloser noch ist, daß Freud, nachdem er das Prinzip der Vereinbarkeit der Widersprüche empirisch im Traum entdeckt und ausdrücklich zu seinem Recht gebracht hatte, nachdem er bezeugt hatte, der Glaube an ein Leben nach dem Tode sei nur deshalb so tief im Unbewußten verankert, weil er den so gewichtigen unbewußten Phantasien und Gedanken über ein intrauterines Leben entstammt, daß also Freud, der Monist, sich schließlich zu der zumindest zweideutigen Erklärung herabließ, die psychische Realität sei eine besondere Existenzform, welche mit der materiellen Realität nicht verwechselt werden soll.24
Bretons eigene Interpretation eines Traums vom 26. August 1931 zeigt daher ein Gegenmodell auf: Es sei kein Zweifel daran, dass der Traum, in dem eine Krawatte mit dem Namen Nosferatu eine große Rolle spielt, sich um den Surrealismus und die Surrealisten drehe. Entgegen Freuds Vorstellung von einem dunklen Kern der Unwissenheit in Träumen will Breton beweisen, dass er den Inhalt des Traumes durch seine sorgfältige Betrachtung aller Bilder und Assoziationen ergründet habe.25 Breton schreibt damit das freudsche Prinzip der Kondensation und Überdeterminierung in eine materialistische Sprache um.
20 Breton unterstellt Freud, er habe absichtlich Volkelts Buch über Symbolismus aus seiner Bibliografie gestrichen, da er ihn zu mehr, als die kurzen Verweise in Traumdeutung implizieren, inspirierte. Freud habe, schreibt Breton, die gesamte Idee über Sexualität im Traum von Volkelt übernommen. Vgl. Breton, Andre: Die kommunizierenden Röhren , a. a. O., S. 14. 21 Rabaté, Jean-Michel: Loving Freud Madly, a. a. O., S. 61. 22 Breton, Andre: Die kommunizierenden Röhren, a. a. O., S. 36. 23 Ebd., S. 15. 24 Ebd., Herv. i. O. 25 Ebd., S. 40-45.
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Freud antwortete in mehreren Briefen, um sich gegen die Plagiatsvorwürfe zu wehren:26 Er weist darauf hin, dass die Unterlassung von Volkelts Namen ein Irrtum in der französischen Übersetzung von 1926 war und dass der Name im deutschen Text sehr wohl erschienen sei. Ein eilig ausgearbeiteter Zweitbrief erklärt den Ursprung des Irrtums: Volkelts Name wurde nach dem dritten deutschen Originaldruck ohne eindeutigen Grund gelöscht, und die französische Version wurde aus einer der folgenden Editionen gemacht. Freud endet den Briefaustausch mit einem dritten Brief sowie einem kleinen Widerhaken, in dem er vorgibt, den Surrealismus nicht zu begreifen und vor allem nicht, was er will: „Und nun ein Geständnis, das Sie tolerant aufnehmen wollen! Ich erhalte soviel Zeugnisse dafür, daß Sie und Ihre Freunde meine Forschungen schätzen, aber ich selbst bin nicht im Stande mir klarzumachen, was Ihr Surréalisme ist und will. Vielleicht brauche ich, der ich der Kunst so fern stehe, es gar nicht zu begreifen.“27 Freud versucht hier, laut Rabaté, die paranoide Kritik von Breton auf Hysterie zu reduzieren (Was will ihr Surréalisme?). Am anderen Ende, scheint es, weiß Breton den kleinen Konflikt publizistisch und hinsichtlich surrealistischer Theorien geschickt zu nutzen: Er dokumentiert in fröhlicher Weise in Die kommunizierenden Röhren Freuds offensichtliche Erregung, seine Widersprüche in den aufeinanderfolgenden Briefen und schließlich seinen Wunsch, durch Ableugnung jedes erkennbaren Ziels des Surrealismus, es Breton ‚zurückzuzahlen‘.28 Als Salvador Dalí 1938 Freud in London traf, scheint Freud für die sogenannte Jugend empfänglicher gewesen zu sein, worauf im Kapitel, das sich mit Dalí befasst, näher eingegangen wird. Auch wenn Breton in Die kommunizierenden Röhren zu Fragen von Träumen, Unbewusstem und Automatismus zurückkehrt, interessiert er sich darin, wie gezeigt werden konnte (und ganz anders als in den 1924 veröffentlichten Texten), nicht mehr vordergründig für die Theorien der Traumdeutung. Es wird deutlich, dass Freuds Theorien Breton vor allem als Inspirationsquelle interessieren, die er für seine eigenen surrealistischen Theorien umformuliert. „Was wir in dieser Hinsicht einzig aus Freuds Werk zurückbehalten brauchen“, fasst er nüchtern zusammen, „ist, so scheint mir, die Methode der Traumdeutung.“29
26 Die Briefe vom 13.12.1932, 14.12.1932 sowie vom 26.12.1932 wurden von Breton in Die kommunizierenden Röhren angehängt. Vgl. Breton, André: Die kommunizierenden Röhren, a. a. O., S. 129-131. 27 Dritter Brief vom 26.12.1932, ebd., S. 131. 28 Vgl. Bretons Erwiderungen, in: Breton, André: Die kommunizierenden Röhren, a. a. O., S. 132-134. 29 Breton, André: Die kommunizierenden Röhren, a .a. O., S. 22.
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Von der Hysterie zur Paranoia Bald schon tendiert der Surrealismus von einer „Strategie der Hysterie“30 – wie Rabaté auch Bretons und Freuds Beziehung bezeichnet hat – zu einer Strategie, die Paranoia als Hauptwaffe und Sichtweise fördert. Wenn man die Ausgaben von La Révolution surréaliste aus den späten 1920er Jahren genauer betrachtet, können wichtige Hinweise gefunden werden. In der Ausgabe vom Oktober 1927 (Nr. 9-10) wird ein Ausschnitt aus Freuds Text Die Frage der Laienanalyse31 (1926) in einer Übersetzung von Marie Bonaparte veröffentlicht. Als einziger Text von Freud, der in der Zeitschrift abgedruckt wurde, spielt er offenbar eine wichtige Rolle in Bezug auf die Verbreitung der Laienpsychoanalyse, die die Surrealisten förderten.32 Ironischerweise scheint Freud darin die bevorstehende Debatte mit Breton zu antizipieren, wenn er sich einen Gegner vorstellt, der glaubt, dass er einen sensiblen Punkt berührt habe, weil er aggressiv erscheint: Wenn ich aggressiv erscheine, so ist das für mich nur ein Weg der Verteidigung. Wenn ich aber an all den Unfug denke, den manche Analytiker mit der Deutung der Träume angestellt haben, könnte ich verzagt werden und dem pessimistischen Ausspruch unseres großen Satirikers Nestroy recht geben, der lautet: Ein jeder Fortschritt ist immer nur halb so groß, als er zuerst ausschaut!33
In Bretons und Aragons gemeinsamem Artikel, der zum „Fünfzigjährigen Jubiläum der Hysterie“34 in La Révolution surréaliste im März 1928 (Nr. 11) erschienen ist, loben sie die Erfindung der Hysterie, die sie auf das Jahr 1878 bzw. auf Charcot zurückführen.35 Breton und Aragon nennen die Hysterie „die größte poetische Entdeckung des 19. Jahrhunderts; und das in einem Augenblick, wo
30 Rabaté, Jean-Michel: Loving Freud Madly, a. a. O., S. 63. 31 Freud, Sigmund: Die Frage der Laienanalyse. Unterredung mit einem Unparteiischen, Wien 1926. 32 Der Text wird im Abdruck zusätzlich mit Bildern versehen: von, unter anderen, de Chirico, Yves Tanguey oder solche, die mit cadavre exquis signiert wurden. Vgl. Freud, Sigmund: La Question de l’analyse par les non-médecins, ins Französische übersetzt von Marie Bonaparte, in: La Révolution surréaliste, Nr. 9-10 (Oktober 1927), S. 29-36. 33 Hier zitiert nach Freud, Sigmund: Die Frage der Laienanalyse, a. a. O., S. 23-24. 34 Breton, André/Aragon, Louis: Le Cinquantenaire de l’hystérie (1878-1928), in: La Révolution surréaliste, Nr. 11 (März 1928), S. 24-26. 35 Ebd., S. 24.
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die Zerstückelung des Begriffs Hysterie eine vollendete Tatsache zu sein scheint“.36 In dieser lyrischen Hommage an die Hysterie distanzieren sich Breton und Aragon von Babinski, der die Hysterie so einschränkt: „Wenn eine Emotion aufrichtig, tief ist und die menschliche Seele bewegt, dann ist kein Raum mehr für Hysterie.“37 Obwohl Breton und Aragon Babinskis Tätigkeit mit Hochachtung beschreiben, kritisieren sie ihn in ihrem Text heftig für diese ‚Negation‘ der Hysterie. Charcot loben sie weniger für die theatrale Szenerie im Hôpital de la Salpêtrière, bei der er weibliche Patienten vor einer Menschenmenge platzierte, um ihre Hysterie durch den klinischen Einsatz von Hypnose oder drastischeren Mitteln zu heilen; die Surrealisten bewundern ihn vielmehr für die Voraussetzungen, die er für die Offenlegung und Verbreitung der Hysterie geschaffen habe. Auch Freud bleibt in diesem Text nicht verschont, wenn sie seinen ‚Konservatismus‘ (Patienten heilen zu wollen) ihren (ihrer Meinung nach) lobenswerten Ansichten gegenüberstellen: „Ob sich Freud, welcher Charcot so viel verdankt, der Zeit erinnert, als – wie es die Zeitgenossen bezeugen – die Assistenzärzte der Salpêtrière ihre beruflichen Pflichten mit ihren erotischen Neigungen vermengten; als bei Einbruch der Nacht die Kranken sich draußen mit ihnen trafen oder sie in ihren Betten empfingen.“38 Bebildert wird diese erotische Unterstellung von Fotografien damaliger Patientinnen, die halb entkleidete Frauen in ‚neugierigen‘ Posen zeigen, die eine krampfhafte Ekstase ausdrücken und die die beiden Autoren mit „leidenschaftliche Einstellungen“39 betiteln. Schließlich bieten Breton und Aragon in dem Artikel eine eigene Definition eines Zustandes, der ihnen zufolge der medizinischen Kategorisierung bislang entgangen sei: Die Hysterie ist ein mehr oder weniger spezifischer Geisteszustand, der sich dadurch charakterisiert, daß er die Beziehung zwischen Person und sittlicher Umwelt außerhalb jedes Wahn-Systems fördert. Dieser Geisteszustand basiert auf dem Bedürfnis einer wechselseitigen Verführung, was die voreilig akzeptierten Wunderwirkungen der medizinischen
36 Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung: Breton, André/Aragon, Louis: Das fünfzigjährige Jubiläum der Hysterie (1878-1928), in: Waldberg, Patrick: Der Surrealismus, 2. Aufl. 1972, S. 61-62, S. 61. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Der Originalartikel enthält die von Charcot aufgenommenen Fotos der Patientinnen, vgl. Breton/Aragon: Le Cinquantenaire de l’hystérie, a. a. O., S. 24-25.
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Suggestion (oder Gegen-Suggestion) erklärt. Die Hysterie ist kein pathologisches Phänomen und darf in jeder Hinsicht als Ausdrucksmittel ersten Ranges betrachtet werden.40
Für die vorliegende Diskussion ist Rabatés Interpretation entscheidend, der darauf verweist, dass Breton und Aragon 1928 auf die Quasi-Normalität eines Zustandes bestehen, der gewöhnlich als Grenzerfahrung betrachtet wird. Wenn Breton und Aragon in ihrem Text die vier Phasen der klassischen Hysterie loben, beschreiben sie die Krise der Hysterie, die sich auf Kosten der Hysterie selber entwickelt als „prächtige Aura“, die zu einer ‚Theatralisierung‘ führt, bevor sie schließlich eine „einfache Lösung innerhalb des normalen Lebens“41 findet. In einer Vorahnung auf Lacan wird hier die Hysterie mit mystischer und erotischer Ekstase gleichgesetzt und erscheint daher als Radikalisierung einer Bewegung, die eine sehr weit gefasste Poesie mit dem Alltag verschmilzt. In dieser provokativen Lobpreisung der Hysterie verabschieden sich Breton und Aragon also von ihrem früheren Lehrer Babinski, für den die Hysterie eine reine imaginäre Krankheit war, welche allein unter dem Einfluss von Überzeugung (GegenSuggestion) wieder verschwinden könne, sowie von Charcots Versuchen der medizinischen Lokalisierung der Hysterie als pathologischem Zustand. Zur surrealistischen Sicht der Hysterie gehört auch die Idee der Simulation, die zu einer bestimmten Ausdrucksform führt. Sie wird von Breton in seinem gemeinsam mit Paul Éluard verfassten Text L’Immaculée conception (Die unbefleckte Empfängnis, 1930) großgeschrieben. Dort findet man einen Abschnitt mit der Überschrift „Les possessions“, in dem die beiden Dichter nacheinander versuchen, folgende ‚Zustände der Besessenheit‘ zu reproduzieren: „Der Simulationsversuch: Schwachsinn, akute Manie, Paralyse, Interpretationswahn und Dementia Praecox.“42 Die Einleitung dieses Abschnitts, die nur von Breton verfasst wurde, deutet auf die technische Bedeutung „in der Medizin der Geisteskrankheiten“ und insbesondere auf jene, „die im Kriege“ gebraucht werde, hin.43 Breton schließt mit einer Kritik an traditionellen dichterischen Formen ab, da er sie für völlig veraltet ansieht und sie leicht durch Nachahmungen der verschiedenar-
40 Zit. nach: Breton/Aragon: Das fünfzigjährige Jubiläum der Hysterie (1878-1928), a. a. O., S. 62. 41 Ebd. 42 Breton, André/Éluard, Paul: L’Immaculée conception [1930], in: André Breton. Oeuvres complètes I, hrsg. von Marguerite Bonnet, Paris 1988, S. 841-884. Für eine deutsche Übersetzung vgl. Breton, André/Éluard, Paul: Die Zustände der Besessenheit, in: Dies.: Die unbefleckte Empfängnis, München 1974, S. 32-79. 43 Breton/Éluard: Die Zustände der Besessenheit, a. a. O., S. 35.
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tigen psychotischen Sprachen ersetzt werden könnten: „Für uns würde der Simulationsversuch von Krankheiten, die man einsperrt, Ballade, Sonett, Epos, das Gedicht ohne Hand und Fuß sowie andere altersschwache Dichtungsarten mit Vorteil ersetzen.“44 Der Text wurde 1930 geschrieben, das heißt kurz nachdem sich die erste große Kluft in der surrealistischen Gruppe auftat,45 die 1929 in La Révolution surréaliste zum Ausdruck kommt bzw. in Bretons Zweitem Manifest des Surrealismus (1930) analysiert wird. Alte Weggefährten wie Philippe Soupault wurden (aus politischen und anderen Gründen) aus der Gruppe ausgeschlossen, Künstler wie de Chirico als verirrter Maler verurteilt.46 In dieser Zeit wird ein neuer Name in die Liste der renommierten Maler, Grafiker und Bildhauer aufgenommen, deren Werke regelmäßig in La Révolution surréaliste sowie in Ausstellungen der Surrealisten in Pariser Galerien zu sehen sind – darunter Max Ernst, Joan Miró, Pablo Picasso, Hans Arp, Francis Picabia, André Masson, Man Ray oder Yves Tanguy. Salvador Dalí heißt der junge katalanische Maler und Dichter. Das Schicksal de Chiricos wird aber nur ein paar Jahre später auch Dalí heimsuchen, wenn er 1934 aufgrund bestimmter Enttäuschung und Ablehnung von Breton aus der Gruppe ausgeschlossen wird. Im zweiten Manifest zitiert Breton zwar weiterhin Freud, wie beispielsweise den Begriff „Sublimierung“47, den er aber im Hinblick auf die Ideen-Kritik Freuds hinterfragt und sich von ihm distanziert.48 Freud wird zudem verdächtigt, Georges Batailles „antidialektische[m] Materialismus“49 Argumente zu liefern. Breton wiederholt im Zweiten Manifest des Surrealismus vor allem „das Prinzip des historischen Materialismus“,50 wobei die politischen Referenzen sich dieses Mal auf Trotzki verschieben. Der Surrealismus ist im Begriff, eine sozialrevolutionäre politische Bewegung zu werden. In Dalís L’Âne pourri (1930) werden Batailles Ideen – Bataille kritisierte Breton und die Vorstellung vom Surrealismus als (gesellschaftlichem) Heils-
44 Ebd. 45 Diese Auseinandersetzungen in der Kerngruppe hatten mit dem Bekenntnis zum Kommunismus und mit der Absage an „bürgerliche“ Tätigkeiten zu tun. Soupault verdiente etwa als Journalist seinen Lebensunterhalt. 46 Im Herbst 1925 waren seine Bilder noch integrativer Bestandteil der ersten gemeinsamen Ausstellung surrealistischer Künstler in der Pariser Galerie Pierre. 47 Breton, André: Zweites Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 80. 48 Ebd., S. 79-80. 49 Ebd., S. 96. 50 Ebd., S. 68.
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bringer51 – als „greiser Materialismus“ beschrieben;52 die Fehler beruhen für Dalí auf einer falschen Interpretation von Freud, „den dieser Herr senilerweise zu verjüngen vorgibt, indem er sich willkürlich auf die moderne Psychologie stützt“.53 Dies ist Dalí jedoch lediglich eine Fußnote wert, ganz im Gegensatz zu seinem Hauptthema in diesem surrealistischen Programmtext: seine Definition der paranoisch-kritischen Methode. Freud als Inspirationsquelle dieser Ideen wird schon im Vorläufer-Text Posició moral del surrealisme (Die moralische Position des Surrealismus, 1930) feststellbar. Darin erklärt Dalí, dass ihn die Aktivitäten genauso interessieren, die sich „bei dem mit der Wirklichkeit geführten Prozess im rasenden paranoischen Willen zur Systematisierung der Konfusion verdichten“ können.54 Dali fügt hinzu, dass, seitdem Freuds Ideen bis zur Unkenntlichkeit verwässert wurden, er darum bemüht sei, ihnen „die fahle und zugleich blendende Helle“ zurück zu verleihen: Der unwürdige Snobismus hat die Erkenntnisse der modernen Psychologie popularisiert, indem er sie bis zu dem unerhörten Punkt verfälschte, daß sie zur feinsinnigen Verschönerung der geistvollen Salonkonversation dienen und in den ungeheuren Moderumpf des modernen Romans und Theaters eine dumme Neuigkeit einpflanzen konnten. Immerhin sind die von Freud aufgezeigten Mechanismen recht abstoßend und vor allem ziemlich ungeeignet zur Zerstreuung der gegenwärtigen Gesellschaft.55
Dalí gibt daraufhin ein paar Fälle von neurotischem Verhalten wieder und erwähnt, dass er unter ein Gemälde, das ein Herz Jesu darstellte, geschrieben habe:
51 Vgl. Bataille, Georges: Un Cadavre, Paris 1930. Der Text ist als Replik auf das zweite Manifest von Breton und dessen Angriffe auf Andersdenkende zu lesen, die unter anderem Probleme mit der Hinwendung der surrealistischen Bewegung zur Kommunistischen Partei Frankreichs hatten. 52 Dalí, Salvador: L’Âne pourri, in: Le Surréalisme au service de la révolution, Nr. 1 (Juli 1930); dt.: Der Eselskadaver, in: Dalí, Salvador: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schriften, aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Weidmann, hrsg. von Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann, Frankfurt am Main 1974, S. 131-135, S. 134. 53 Ebd. 54 Dalí, Salvador: Moralische Position des Surrealismus [Posició moral del surrealisme, 1930], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, aus dem Katalanischen übersetzt von Tilbert Diego Stegmann, a. a. O., S. 22-26, S. 22. 55 Ebd.
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„Ich spuckte auf meine Mutter.“56 Hierbei handle es sich nicht um eine private Provokation, sondern um einen systematischen Demoralisierungsversuch, um die Realität anders zu sehen – und die orientierte sich für Dalí an der Paranoia: Die Geburt der neuen surrealistischen Bilder muß vor allem als Geburt von Bildern der Demoralisierung angesehen werden. Man muß besonders die selten scharfe Aufmerksamkeit für die Paranoia betonen, die von allen Psychologen bemerkt wird; diese Paranoia ist eine Art geistige Krankheit, die darin besteht, die Wirklichkeit so zu organisieren, daß sie zur Kontrolle eines Phantasiegebäudes benutzt werden kann. Der Paranoiker, der meint vergiftet zu sein, entdeckt in allem, was ihn umgibt, bis zu kaum wahrnehmbaren und subtilen Details, die Vorbereitung seines Todes. Jüngst habe ich durch einen eindeutig paranoischen Prozess das Bildnis einer Frau herstellen können, deren Stellung, Schatten und Morphologie, ohne auch nur das allergeringste an ihrem gegenständlichen Äußeren zu ändern oder zu entstellen, zu gleicher Zeit ein Pferd darstellt.57
Diese Stelle in seinem Text sollte sorgfältiger betrachtet werden, da sie eine offenkundige Zweideutigkeit enthält: Wenn die Exposition des paranoiden Mechanismus stark genug ist, um sich vergiftet vorzukommen, dann widerspricht dies in gewisser Weise Begriffen wie „Kontrolle“ oder einem – steuerbaren – „paranoischen Prozess“ oder „Willen“. Dies erinnert allerdings an Rimbauds Programm einer systematischen Deregulierung aller Sinne, die zur Gewohnheit spontaner Halluzination führe.58 Dalí fügt hinzu, dass der Prozess sich intensivieren könne und es nur eine Frage der Zeit sei, „um das Erscheinen eines dritten Bildes, und eines vierten, und von dreißig Bildern zu erzwingen“.59 So erscheint es aufschlussreich, dass Dalí weiterhin über die Produktion von (Ab-)Bildern spricht, die in der Wirklichkeit verankert sind, auch wenn er sie über paranoischkritische Methoden gewinnt und gleichzeitig aus konventionellen Darstellungssystemen entfesselt. Im Nachfolgertext Der Eselskadaver (1930) geht Dalí im Hinblick auf herkömmliche Repräsentationssysteme und paranoide Delirien weiter auf diese Art der Bilderproduktion ein. Im Fokus steht eine Frau, die zugleich ein Pferd und möglicherweise ein Löwenkopf ist. Und diesmal wird der Bildbetrachter dezidiert in den (paranoiden) Prozess der Bildentstehung einbezogen:
56 Ebd., S. 23. 57 Ebd., S. 24. 58 Vgl. Rabaté, Jean-Michel: Loving Freud Madly, a. a. O., S. 67. 59 Dalí, Salvador: Moralische Position des Surrealismus, a. a. O., S. 24.
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Ich stelle den Materialisten anheim, diese Art von geistiger Krise, die ein solches Bild hervorrufen kann, zu prüfen, ich stelle ihnen das noch verwickeltere Problem anheim, herauszufinden, welches dieser Vorstellungsbilder mehr Seinsmöglichkeiten hat, wenn man zuläßt, daß das Verlangen sich einschaltet, sowie das schwerwiegendere und allgemeinere Problem, ob diese Darstellungsreihe begrenzt sein kann oder ob, wie wir mit gutem Grunde annehmen, eine solche Begrenzung überhaupt nicht oder lediglich je nach der paranoischen Fähigkeit jedes einzelnen besteht.60
Während Paranoia zunächst eine Tür zu einer anderen visuellen Wahrnehmung öffnet, wird sie nun zu einem Prinzip, das jede Vorstellung eines „materialistischen Denkens“61 aushebelt, ja es zutiefst verunsichern kann, gerade, indem die Paranoia-Karte hier dem Betrachter zugeschoben wird. Denn „der paranoische Mechanismus“, so Dalí, der das vielgestaltige Vorstellungsbild erzeuge, „erschließt dem Verständnis die Entstehung und den Ursprung der Natur der Wahnbilder, deren Raserei das Blickfeld beherrscht, unter welchem sich die vielfältigen konkreten Erscheinungen verbergen“.62 Dies erklärt, weshalb Dalí sich Breton und nicht Bataille anschloss, denn sowohl Dalí als auch Breton kritisieren zu diesem Zeitpunkt den Dualismus von Freud, seine Trennung von Realismus und Idealismus, von „Ich“ und „Es“63, und schreiben seine Theorien – wenn auch auf unterschiedliche Art – für ihre monistischen Diskurse um. Georges Bataille hingegen betont in seinen Schriften die Materialität des Körpers, wie die Vorstellung von beispielsweise Übermaß,64 während Breton und Dalí die Wirklichkeit eher revolutionär-idealistisch als eine Reihe von Vorstellungen sehen, die von einem universell produktiven Verlangen untermauert werden. Bekannterweise war diese Debatte von großem Einfluss auf Jacques Lacan, der mit Dalí in Berührung kam, als er gerade an seiner Dissertation65 über Para-
60 Dalí, Salvador: Der Eselskadaver, a. a. O., S. 132. 61 Ebd., S. 134. 62 Ebd., S. 133. 63 Vgl. Freud, Sigmund.: Das Ich und das Es [1923], in: http://www.psychanalyse. lu/Freud/FreudIchEs.pdf (abgerufen am 06.05.2017); Ders.: Die Traumarbeit, in: Die Traumdeutung, a. a. O., S. 190-345, S. 332. 64 Der 1927 entstandene, 1931 publizierte Text L’Anus solaire (Der Sonnen-After) zeigt bereits im Titel, dass es um Analogien, Entsprechungen und Relationen von Körper und Kosmos geht, also um Grenzerfahrungen. 65 Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit [frz. 1932]. Und Frühe Schriften, aus dem Französischen übersetzt von HansDieter Gondek, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 2002.
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noia arbeitete. Elisabeth Roudinesco hat hervorgehoben, inwiefern die Lektüre von Der Eselskadaver für Lacan ausschlaggebend dafür war, sich von den klassischen psychiatrischen Persönlichkeits- und Konstitutionstheorien zu entfernen.66 Zu diesem Zeitpunkt war Lacan zudem damit beschäftigt, Freuds Artikel Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität (1922) ins Französische zu übersetzen, worin Freud die These wiedergibt, dass die Wurzel der Paranoia die Rückkehr der verdrängten Homosexualität sei. Auch die Übersetzung von Freuds Text, in dem es um Verdrängung, Projektion und Schuldzuweisung geht, führt Lacan weiter zu seiner These über Paranoia, die in der Dissertation im „Fall Aimee“67 zentral gefasst wird. In dieser Analyse eines realen Falles weist schon die formale Komponente – quasi die Grammatik –, die für die wütenden Äußerungen der Patientin verwendet wird, ein offensichtliches Bewusstsein und eine Affinität für den Surrealismus aus.68 Lacan scheint damit nach einer modellhaften Interpretation zu suchen, ähnlich den Nachahmungen der einzelnen ‚Stile‘ des typischen Deliriums von Breton und Éluard in Die unbefleckte Empfängnis, das wohlgemerkt nur ein Jahr zuvor veröffentlicht wurde. Das veranschaulicht, wie schnell der Austausch von Ideen und Texten in dieser Zeit war. Die Surrealisten wiederum begrüßten Lacans These über Paranoia, die als diskordantes Äquivalent der normalen Persönlichkeit beschrieben wird: René Crevel drückt im Mai 1933 in der Zeitschrift Le Surréalisme au service de la révolution (Nr. 5) seine Hoffnung darüber aus, in Lacan eine neue Grundlage für die Psychoanalyse gefunden zu haben, nachdem Freud endgültig als zu reaktionär gelte.69 Während dieser Zeit suchte allerdings Lacan längst Abstand zur Avantgarde und ihren politischen Ausrichtungen; dass Dalí damit begonnen hatte, seine ‚paranoischen Aktivitäten‘ immer mehr in Richtung Fantasien über Hitler sowie Mode zu lenken, dürfte ebenfalls zu der Distanzierung beigetragen haben. Dass Lacans Theorie der Paranoia nur sehr wenig mit Dalís Konzept der „neuen
66 Vgl. hierfür Roudinesco, Élisabeth: Jacques Lacan und Co. A History of Psychoanalysis in France. 1925-1985, Chicago 1990, S. 110-112. 67 Lacan, Jacques: Der Fall „Aimée“. Oder die Selbstbestrafungsparanoia, in: Ders.: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit, a. a. O., S. 155-263. 68 Ebd., S. 170-171; der Text bzw. die Äußerungen der Patientin sind in Form eines surreal anmutenden Gedichts festgehalten. 69 Crevel, René: Notes en vue d’une psycho-dialectique, in: Le Surréalisme au service de la révolution, Nr. 5 (Mai 1933), S. 47-52, S. 47.
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wahnhaften Vorstellungsbilder“70 zu tun hat, wird später noch Thema sein. Was sich jedoch festhalten lässt, ist der Umstand, dass Lacan 1932 noch nicht über sein eigenes kritisches Vokabular verfügte, welches ihm ermöglicht hätte, über Freuds (homosexuelle) These hinauszugehen; dies erfolgt kurze Zeit darauf durch seinen ‚Einmarsch‘ in die sogenannten Spiegelstadien-Theorien, auch auf sie werde ich später eingehen. Retrospektiv lässt sich hier kurz zusammenfassen, dass das zweite surrealistische Jahrzehnt theoretisch von dem Konzept der Paranoia dominiert wurde, das wiederum die Automatismen und Hysterie ablöste, die die 1920er Jahre prägten. Die surrealistischen Kunstwerke, um die es im Folgenden gehen wird, spiegeln dies wider: in vielfachen und vielfältigen Schnitten durch Raum und Zeit, durch Fantastisches und Reales, durch Imagination und Darstellung.
70 Dalí, Salvador: Die Eroberung des Irrationalen [La Conquête de l’irrationnel, 1935], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Weidmann, a. a. O., S. 268-278, S. 272.
Medien schöpferischer Prozesse
Der vorliegende Hauptteil konzentriert sich auf die künstlerischen Gestaltungsmittel der Surrealisten und umfasst insbesondere Max Ernsts Frottage, Man Rays Rayografien, Luis Buñuels Verknüpfungsprinzipien in Un Chien andalou und L’Âge d’or sowie Salvador Dalís paranoisch-kritische Methode. Im vorigen Kapitel wurde verdeutlicht, inwiefern Breton die écriture automatique als ästhetisches Prinzip einsetzte, das Bewusstes mit Unbewusstem verknüpfen sollte, um dem objektiven Zufall zur geistigen Freiheit zu verhelfen. Doch wie können die bildenden Künstler eine solche Revolution des Geistes bewirken? Und vor allem: Wie können sie die „Fundgegenstände“1 der automatischen Verfahren, wie Ernst dies nannte, in Kunst umsetzen? Dass die Montage, der Schnitt zwischen Denken und Figur, hier weit über das Handwerk hinaus eine profunde Rolle spielt, wurde bereits erwähnt. Nun soll den konkreten Mitteln und Verfahren nachgegangen werden, die die Künstler einsetzen und die – teilweise auch erst in der (zeitlichen) Nachsicht – als surrealistische Verfahren bezeichnet werden können.
1
Ernst, Max: Was ist Surrealismus? [1934], in: Max Ernst. Gemälde. Graphik. Skulptur (Ausstellungskatalog Sprengel Museum, Hannover 1989), hrsg. von Norbert Nobis und Grit Wendelberger, Hannover 1989, S. 25.
VII. „Poetische Objektivität“ Max Ernsts Montagetechniken zwischen Kunst, Natur und Populärkultur
Aufschlussreich ist im Hinblick auf den Schnitt als Denkfigur zuerst einmal André Bretons Entdeckung kinematografischer Elemente, wie Desorientierung oder Manipulation durch eine bestimmte Art von Montage, in Max Ernsts frühen Collagearbeiten, die Bretons Meinung nach den Künstler auszeichnen. Bretons Essaysammlung Les Pas perdus (Die verlorenen Schritte),1 die in Paris 1924 veröffentlicht wurde, zeigt Bretons Abwendung von Dada und Hinwendung zum Surrealismus und gilt somit als direkter Vorläufer seines ersten surrealistischen Manifests. Die Essays machen deutlich, dass Breton die technischen Bedingungen der neueren Medien Fotografie und Film als unumgängliche neue Bedingungen für die Kunst insgesamt sieht, damit sich die ‚traditionelle‘ Kunst weiterentwickeln könne. In seinem Essay Max Ernst2 (1921 erstmals erschienen) vergleicht Breton die frühen Collagen von Ernst mit dem Kino gleich an mehreren Stellen und bringt sie mit kinematografischen Spezialeffekten wie der Zeitlupe oder dem Zeitraffer in Verbindung. Breton schreibt von der illusionistischen Transformation von innen heraus,3 die für Ernsts konstruierte ‚Szenen‘ charakteristisch sei. Für Breton rückten Ernsts Collagen, in denen Fundstücke aus Werbung, Wissenschaft und Journalismus Verwendung fanden, in die Nähe der naturalisti-
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Breton, André: Die verlorenen Schritte. Essays, Glossen, Manifeste [frz. 1924], aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock, Berlin 1989.
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Der Aufsatz erschien erneut in: Breton, André: Die verlorenen Schritte, a. a. O., S. 77-
3
Ebd., S. 78; Breton spricht davon, „zwei unterschiedliche Wirklichkeiten zu erreichen,
79. ohne das Feld unserer Erfahrung zu verlassen“.
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schen Bewegung im Film, sie trugen dadurch zur radikalen ‚Überalterung‘ traditioneller zweidimensionaler Medien wie Malerei und Zeichnung bei, die für Breton in der Bewegungslosigkeit eingefroren waren.4 Ernsts Bilder waren somit provokative Zeugnisse davon, wie moderne Technologien die perspektivisch geordnete Bildebene fundamental veränderten. Ernsts Collagen machten das Malen zu etwas Überholtem und waren doch zugleich auch selbst von Versatzstücken bereits vorhandener Populärkultur5 abhängig. Für Breton waren diese frühen Collagearbeiten „Visitenkarten eines Zauberers“.6 Er sah in Ernst einen „Mann mit unendlichen Möglichkeiten“,7 vergleichbar mit den ‚Tricksern‘ des Films wie dem Filmemacher Georges Méliès. Indem er auf Einflüsse dieser bereits etablierten Bereiche der Populärkultur wie den Trickfilm8 zurückgriff, lieferte Breton ein wichtiges Beispiel für die Nachkriegsfixierung der Surrealisten auf Gegensätzlichkeiten: Ernsts Collagen sind einerseits technologisch auf dem neuesten Stand, andererseits in materiell-kultureller Hinsicht bereits etabliert – und verhindern damit eine Kategorisierung als streng modernistisch. Bereits in Ernsts frühen Collagen kann die Metapher des Schnitts im Sinne eines bestimmten ‚Filmschnitts‘ erkannt werden. Es ist die Art und Weise, wie er Objekte miteinander verbindet sowie die optische Illusion, zu der diese ‚Formüberblendungen‘ führen. Seine Collagen erzeugen Magisches, Imaginiertes, das wiederum zum Teil durch eine weitere Schnittfläche entsteht: den Betrachter selbst.
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Breton spricht vom „hochstaplerischen Mystizismus à la Stillleben“, mit dem Schluss zu machen sei, ebd.
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Unter Populärkultur wird in dieser Arbeit ganz allgemein derjenige gesellschaftliche Bereich verstanden, der Themen industriell (re-)produziert, massenmedial vermittelt und durch zahlenmäßig große Bevölkerungsgruppen genutzt oder weiterverarbeitet wird. Vgl. Lexikon der Filmbegriffe, Universität Kiel, unter: http://filmlexikon.unikiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=8155 (abgerufen am 02.10.2015).
6
Breton, André: Max Ernst. Das legendäre Leben von Max Ernst [frz. 1942], in: Ders.: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1965], übersetzt von Manon Maren-Grisebach, Berlin 1967, S. 162-171, S. 168.
7
André Breton: Max Ernst [frz. 1921], in: Ders.: Die verlorenen Schritte, a. a. O., S.
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Der Begriff „Trickfilm“ bezeichnet hier nicht – wie heute üblich – den animierten
77-79, S. 79. Film, sondern ist von „scène á truc“ abgeleitet. Méliès arbeitete zum Beispiel mit Stopptrick, Überblendungen, Doppelbelichtungen u. a.
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1. ENTDECKUNG UND AUSWIRKUNGEN KINEMATOGRAFISCHER ELEMENTE IN ERNSTS FRÜHEN COLLAGEN (1919 BIS 1921) Als Max Ernsts Collagen 1921 aus Deutschland in Paris ankamen, waren sie für die Dadaisten André Breton, Louis Aragon, Philippe Soupault und Tristan Tzara nichts weniger als eine Offenbarung und eine „unmittelbare Bestätigung“,9 wie Breton es formulierte. Er hatte die Ausstellung mit dem programmatischen Titel „Exposition Dada Max Ernst. Au-delà de la peinture“ (Galerie Au Sans Pareil) mitorganisiert.10 Bretons Erinnerung, mehr als zwanzig Jahre später im Kontext des Surrealismus veröffentlicht, betont die Reaktionen, die zufälligen Begegnungen, die man in diesen Werken erkannte sowie das Prinzip der Collage: Ich erinnere mich sehr gut der inneren, später nie mehr derart empfundenen Erregung, die uns ergriff, Tzara, Aragon, Soupault und mich, bei ihrer Entdeckung; sie kamen unmittelbar aus Köln zu Picabia, bei dem wir waren. Der äußere Gegenstand hatte mit seiner gewohnten Daseinsweise gebrochen, das ihm Wesentliche hatte sich gewissermaßen von ihm emanzipiert, um so mit anderen Dingen völlig neue Beziehungen eingehen zu können, wobei er zwar dem Prinzip der Wirklichkeit entfloh, was aber doch nicht ohne Folgen für dieses Wirkliche blieb [...].11
Unter Breton und seinen Freunden machte sich das Gefühl breit, dass sie mit den Collagen Ernsts etwas Einzigartiges entdeckt hatten – etwas, das ihnen unbekannt war und das sie doch zugleich seit langem gesucht hatten. Breton stellte
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Vgl. hierfür André Bretons Brief an André Derain vom 3. Oktober 1921, in: Spies, Werner/Camfield, William A./Hopps, Walter: Max Ernst: Dada and the Dawn of Surrealism (Ausstellungskatalog: The Museum of Modern Art, New York, The Menil Collection, Houston, The Art Institute of Chicago), München/Houston 1993, S. 97.
10 Ursprünglich hatte Tristan Tzara die Initiative gesetzt, Max Ernsts Werke nach Paris zu holen; er zog sich dann nach Auseinandersetzungen mit Breton zurück. Ernsts Briefe an Tzara zwischen Dezember 1919 und November 1920 machen dies deutlich. Ernsts letzter Brief an Tzara ist undatiert, kann jedoch aufgrund des darauffolgenden Briefes vom 5. Dezember in die letzte Novemberwoche 1920 datiert werden. Vgl. Spies, Werner: Max Ernst. Collagen: Inventar und Widerspruch, Köln 1974, S. 236237. 11 Breton, André: Genesis und künstlerische Perspektiven des Surrealismus [frz. 1941], in: Ders.: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1965], übersetzt von Manon MarenGrisebach, Berlin 1967, S. 55-88, S. 69-70.
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mit Enthusiasmus in einem Brief fest, den er im Oktober 1921 an André Derain schrieb, dass Ernst – dem er bisher nicht persönlich begegnet war – einer der „außergewöhnlichen Köpfe unseres Zeitalters“ sei.12 Es erscheint naheliegend, dass der tiefgreifende Einfluss, den Ernsts Arbeiten damals auf diesen Teil der französischen Avantgarde hatten, nicht so sehr darin bestand, dass neue Arten der Darstellung nach Paris importiert wurden; vielmehr ist es wahrscheinlich, dass es in Ernsts Arbeiten etwas gab, das einen zufälligen Schnittpunkt mit Ideen und Interessen herstellte, die unter anderem Breton, Aragon und Soupault bereits seit einigen Jahren hegten. Neben ihren Forschungen zu vergessenen Romanautoren und Dichtern des 18. und 19. Jahrhunderts, ihrem Interesse für die Psychoanalyse, für Verbrechen oder radikale (linke) Politik und ihrem Gefallen an den schäbigen Stadtteilen von Paris, waren die LittératureGruppe und die Dadaisten begeisterte Konsumenten populärkultureller Unterhaltung unterschiedlichster Art: vom Kino bis zu den frivolen Theatern der Stadt, von den traditionsreichen Tanzhallen bis zur Caféhauskultur von Paris. Ernsts Collagen schienen wie eine Art surreale Essenz dieser urbanen Moderne an der Schnittstelle von Schein und Sein, Bewegung, Magie, Vergnügen, Verderben und Flüchtigkeit. Sie nahmen den Betrachter in aggressiver Weise unter Beschlag, lieferten eine ‚Performance‘ für das Auge und unterhielten zudem in einer mehrdeutigen Weise, die sich als aufschlussreich erwies. Die vielfältigen Collagetechniken, die Ernst verwendete, erzeugten eine spezifische Art von Illusionismus, die Breton und seinen Freunden einerseits vollkommen modern, andererseits aber auch unverkennbar vertraut erschien. Das Veraltete und das Neue In verschiedenen Texten, die Breton im Anschluss verfasste und in Littérature publizierte, lotet er den Gehalt an Populärkultur in Ernsts Arbeiten aus. Auf das populäre Kino kommt er dabei, wie auch Werner Spies herausgearbeitet hat, immer wieder zentral zurück.13 Unübersehbar waren es jedoch nicht die zeitgenössischen populären Serien und Spielfilme, die Breton mit Ernsts hybriden Collagen assoziierte, sondern die filmischen Illusionen und Tricks der Jahrhundertwende und der 1910er Jahre, die Breton und sein Zirkel aus ihrer Kindheit kannten. Die Collagen rücken damit unmittelbar in die Nähe dieser populären visuellen Kulturen. Das ist für das Vorhaben dieser Arbeit von großem Interesse, denn
12 Breton, André: Max Ernst. Das legendäre Leben von Max Ernst, a. a. O., S. 168. 13 Spies/Camfield/Hopps: Max Ernst. Dada and the Dawn of Surrealism, a. a. O., S. 9599.
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sie unternimmt ja den Versuch, den Schnitt als Denkfigur im Surrealismus anhand der einzelnen künstlerischen Gestaltungsmittel der Montage aufzuzeigen, die sich zu einem späteren Zeitpunkt als schöpferische Medien herausstellen werden. Sie führen insbesondere zur Metapher des Schnitts, gerade indem sie beispielsweise filmischen Illusionismus suggerieren. Des Weiteren symbolisiert Bretons Auseinandersetzung mit Ernsts Collagen eine Art Wieder-Entdeckung, die später auch in Nadja anklingt, wenn Breton den Dingen um Nadja näher ist als ihr: In diesem Kontext wird das ‚Veraltete‘ zum Bedeutungsträger für den Widerstand gegen verschiedene modernistische Ideologien. Die Surrealisten wandten sich, wie bereits im vorigen Kapitel dargestellt, unter anderem gegen die Rückkehr zur sogenannten Ordnung, zu den weit verbreiteten Werten des Rationalismus oder gegen den zunehmenden Druck eines kapitalistischen ökonomischen Systems und die psychologische Zerstörung durch den langen Krieg.14 Walter Benjamin war derjenige, der dieser Form einer sozusagen anderen, alternativen Moderne im Surrealismus einen Namen gab. Obwohl sein Begriff „das Veraltete“ nicht direkt in Bezug auf den Surrealismus (dem er durchaus kritisch gegenüberstand) untersucht wurde, sah Benjamin in der Gefährdung des Veralteten – da es dem Fortschrittsglauben nichts entgegenzubringen scheint und dadurch in Gefahr sei, in Vergessenheit zu geraten – eine entwertete Dingwelt, die er unter anderem in seinen Passagen aufspürt.15 Hier untersucht er diese Dingwelt auf ihr subversives Potenzial hin, um zu zeigen, inwiefern die Vergangenheit immer auch uneingelöste Versprechen speichere und an die Gegenwart abtrete; und er beweist in dieser schockartigen16 Gegenüberstellung eine Verwandtschaft mit surrealistischen Verfahren wie der écriture automatique oder dem cadavre exquis. Das vermeintlich Veraltete gewinnt also die zusätzliche Bedeutung als eine Bedingung der Modernität.17 Was diese Rezeption deutlich macht, ist zunächst einmal das große Bewusstsein dafür, dass ‚veraltete‘ Themen in der Pariser Avantgarde kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs im dadaistischen Kontext an Bedeutung gewannen und
14 Bürger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur, Frankfurt am Main 1996, S. 108-112. 15 Vgl. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Bd. V-2, hrsg. von Rolf Tiedemann, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2015, S. 1000-1002. 16 Der Begriff „Chock“ wurde von Benjamin geprägt. So spricht Benjamin im Zusammenhang mit dem Dadaismus über den Film, der Kraft seiner technischen Struktur die „Chockwirkung“ hat. Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [frz. 1936], Frankfurt am Main 2007, S. 44. 17 Ebd., S. 41-42.
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schließlich im Surrealismus weiterentwickelt wurden. Es ist bekannt, dass die Fixierung auf kulturelle Gebilde, die sie aus ihrer Kindheit her kannten, insbesondere für Breton und Aragon eine zentrale Rolle für ihre Entscheidung spielte, sich von Tzaras dadaistischem Programm zu entfernen, das ja im Wesentlichen auf die Gegenwart gerichtet war.18 Im Gegensatz zu Dada bevorzugten die Surrealisten nämlich ein Paradigma der Moderne, das sich intensiv mit den literarischen, künstlerischen sowie populärkulturellen Errungenschaften des vorangehenden Jahrhunderts auseinandersetzte.19 Der Erste Weltkrieg wurde dabei als fundamentaler Wendepunkt aufgefasst und in negativer Weise als Ende einer Ära wahrgenommen.20 Die eher pessimistische Haltung gegenüber dem ‚Veralteten‘, die Breton 1921 in Ernsts Collagen erkennt, stellt ein wichtiges Beispiel für eine vor-surrealistische Fixierung auf die kritische Revision modernistischer Paradigmen der Zeit dar. Diese kritische Haltung gegenüber geschichtlicher Zeit und moderner Materialität sollte später zu einer zentralen Komponente eines systematischen Angriffs der Surrealisten gegen die einheitlichen Diskurse werden, die sich aus den rationalistischen Ansätzen der Aufklärung entwickelt hatten.21 Es ging den Surrealisten nicht darum, durch neue Technologien lediglich vorwärts zu kommen, sondern es ging um eine neue Art geistigen Schaffens, und auch um die Weiterentwicklung von radikalen Ansätzen, die schon Lautréamont und andere begonnen hatten. Die Collage als Überwindung der Kunsttradition Die Arbeiten, die in Ernsts erster Ausstellung in Paris von Anfang Mai bis Anfang Juni 1921 zu sehen waren, setzten sich aus verschiedenen Arten von Collagen (fotografische Montagen, Übermalungen) und anderen Arten von Medien
18 Polizzotti, Mark: Revolution des Geistes. Das Leben André Bretons, Wien/München 1996, S. 196. 19 Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film, München 2006, S. 57. Vgl. außerdem die „Ahnengalerie“ in Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus [frz. 1924], in: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 27; vgl. Fußnote 30 in Kapitel VIII. 20 Bürger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur, Frankfurt am Main 1996, S. 108-112. 21 Ebd.; auch politisch spielte diese kritische Haltung gegenüber der Moderne insofern eine Rolle, als dass sie auch bei ihrem vom Marxismus beeinflussten Widerstand gegen kapitalistische Vorgaben von Bedeutung waren. Vgl. hierfür Kusenberg, Kurt (Hrsg.): Max Ernst, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 63.
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zusammen. Da die meisten dieser Werke zusätzlich zu fotografischen Fragmenten auch Elemente aus Papier und gezeichnete Teile enthielten, wird hier der Einfachheit halber insgesamt von Collage gesprochen. Die Ausstellung war lediglich eines von einer ganzen Reihe von Ereignissen, die von Dada für das Frühjahr 1921 geplant war. Zum Programm gehörten Exkursionen zu ehrwürdigen Denkmälern, Scheingerichtsverhandlungen, variétéartige Salons, Bankette unter freiem Himmel und mehr. Das Spektakel, das bei der Vernissage in der Galerie Au Sans Pareil stattfand, nahm einen angemessenen Platz in dieser dadaistischen Agenda ein. Ernst selbst war nicht anwesend, da man ihm in seiner Heimatstadt Köln keinen Reisepass ausgestellt hatte. Dennoch scheuten die Pariser Dadaisten keine Anstrengungen, um ihrer Unterstützung bei der Ausstellungseröffnung Ausdruck zu verleihen. An der Eingangstür stehend, verkündete Jacques Rigaut lauthals die Anzahl an Autos und Perlen, die im Besitz der Leute waren, die die Ausstellung besuchten. Soupault und Tzara spielten inmitten des Empfangs Verstecken. Breton zündete ein Streichholz nach dem anderen an. Péret und Serge Charchoune schüttelten sich wiederholt die Hände. Währenddessen miaute Aragon laut in einer Ecke vor sich hin.22 Diese Zurschaustellung von dadaistischer Unterstützung für Ernst zählt sicherlich zu den einprägsameren Legenden, die sich darum ranken, wie Ernst von Dada in Paris in Empfang genommen wurde: mit einer exaltierten, varietéartigen Show. Insbesondere ist es aber relevant, den Hintergrund des kollektiven „Schocks“ näher zu untersuchen, den die Begegnung mit Ernsts Werken bei Breton und seinen Freunden auslöste. Im Falle Bretons war dieser Schock, wie gesagt, eng mit der Vorstellung verbunden, dass die Collage dem filmischen Illusionismus der Jahrhundertwende verwandt war. Ernst hatte Breton einige Monate vor der Ausstellung zwei seiner Collagen geschickt, darunter Crochet Relief (1921), das als verschollen gilt. Einige Jahre später schrieb Breton, dass im Jahr 1921 der Surrealismus in Ernsts Konstruktionen „bereits voll entfaltet war“.23 Dieser unverhüllte Enthusiasmus schlug sich bereits in dem Essay Max Ernst nieder, den Breton für den Ausstellungskatalog schrieb. Der Text, den Breton in nur einer Nacht verfasste, ist aus historischen Gründen in verschiedener Hinsicht bemerkenswert: Denn die visuelle Kunst wird darin mit jüngeren wissenschaftlichen und technologisch-kulturellen Fortschritten verglichen, wie zum Beispiel mit dem Kino.24
22 Vgl. hierzu Polizzotti, Mark: Revolution des Geistes, a. a. O., S. 224-225. 23 Breton, André: Genesis und künstlerische Perspektiven des Surrealismus [frz. 1941], in: Ders.: Der Surrealismus und die Malerei, a. a. O., S. 55-88, S. 69. 24 Diese Anspielung erfolgt erneut, als Breton sich im Vorwort zu Ernsts erstem Collageroman von 1929, La Femme 100 têtes, mit verwandten Themen befasst.
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Zweifelsohne kann Bretons Essay von 1921 auch als Vorreiter für protosurrealistische Theorien, und zwar im Hinblick auf die Interaktion zwischen visueller Populärkultur und den traditionelleren Künsten, betrachtet werden. Dabei wird das Medium der Collage quasi als Antwort auf das etabliert, was Breton als die ‚Überalterung‘ der früheren künstlerischen Darstellungsmittel betrachtete: Die Collage wird als das Mittel betrachtet, das die einheitliche Dominanz dessen verdrängt, was man als Mimesis bzw. Naturalismus der „schönen Künste“ bezeichnen könnte, und insbesondere solche Wertigkeiten, wie sie in dem Medium der Malerei bestimmend waren. Auch wenn Breton später in seinem Traktat Surrealismus und Malerei (1928) eine Verteidigung der Malerei als Medium formuliert, das auch für das 20. Jahrhundert eine Rolle spielen werde, betrachtet er dieses Überleben als von einer gründlichen Umstrukturierung der konventionellen Zugänge zu Darstellung und Sehen in der Moderne abhängig.25 Das heißt, dass die Malerei zwar weiter besteht, allerdings tut sie dies in einer veränderten Gestalt, die sich nämlich von der traditionellen Praxis der darstellenden Malerei mit ihrer normativ begrenzten Bedeutung bzw. Funktion abhebt. Hierfür müssen, so fordert es Breton in Surrealismus und Malerei, die Werte des Wirklichen „einer grundlegenden Prüfung“ unterzogen werden, und um dieser Notwendigkeit zu gehorchen, „muss sich das bildnerische Werk einem rein inneren Vor-Bild zuwenden oder es wird aufhören zu sein“.26 Für Breton waren Ernsts Collagen die perfekte Möglichkeit, um neue ästhetische Spielarten bzw. Strategien der Darstellung zu erkunden, indem er traditionelle künstlerische Medien darin weiterentwickelte. In der Tat wurde die ‚Überalterung‘ ehrwürdiger Modelle der Darstellung in der Moderne zu einem Thema, das zum zentralen Ausgangspunkt für Bretons Rezeption von Ernst wurde (und damit auch zu einem Teil von Ernsts eigener Selbstdarstellung in seinen späteren Jahren als Künstler).27 Zugleich gibt der Text von 1921 einen ersten Eindruck davon, wie eine proto-surrealistische Konzeption von künstlerischen Medien und Verfahren aussehen könnte, wenn traditionelle von neuen Darstellungsformen infiltriert werden und dadurch zu einer gegenseitigen Durchdringung von Altem und Neuem, Traditionellem und Innovativem führen. Dieses Verbinden von scheinbaren Gegensätzlichkeiten, wie es Lautréamont in seinen Texten auf die
25 Breton, André: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1928], in: Ders.: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1965], a. a. O, S. 5-54, S. 9, siehe auch S. 23; das Traktat wurde vom Autor bereits 1925 verfasst und 1928 erstmals veröffentlicht. 26 Ebd., S. 9. 27 Vgl. Spies, Werner: Max Ernst. Collagen: Inventar und Widerspruch, a. a. O., S. 8286.
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Spitze trieb, stellt ja von Anbeginn an das zentrale Thema des Surrealismus dar. Breton zufolge stehen Ernsts Collagen im Mittelpunkt einer neuen Form der Darstellung, die sich angesichts der jüngsten Überholung eines naturalistischen Diskurses in den schönen Künsten herausbildete. Breton erklärt, wie bereits erwähnt wurde, dass es die Erfindungen der Fotografie und des automatischen Schreibens im 19. Jahrhundert waren, „die den alten Ausdrucksweisen einen tödlichen Schlag versetzten“,28 indem sie es den Künstlern erlaubten, sich von den ‚banalen‘ Aufgaben der mimetischen Darstellung zu befreien. Trotz der jüngsten Entwicklungen im Bereich der Ästhetik, so argumentiert Breton, bleiben selbst der Symbolismus und der Kubismus durch verschiedene „Grenzen“29 der Darstellung eingeengt. Breton war daher der Ansicht, dass es die Rolle von Dada sei, endgültig mit alten darstellerischen Hierarchien abzuschließen und „wir sie gemäß der Ordnung einsortieren und gruppieren, die uns gefällt“.30 Es schien Breton nicht ausreichend, einfach die veralteten kulturellen Bedeutungen zu verjüngen, vielmehr galt es, neue Definitionen für alle alten Dinge bereitzustellen, wenn eine kollektive Offenbarung in Form eines Fortschritts erreicht werden sollte. In Bretons und Aragons Augen dienten Ernsts Collagen in der Au Sans Pareil-Ausstellung als Schablone dafür, wie alte Bedeutungsträger mit frischen Inhalten gefüllt werden können.31 Diese Collagen – und hierin erklärt sich die Notwendigkeit, die veralteten Kontexte in der Konstruktion des Neuen beizubehalten – „entfremden uns in unserer eigenen Erfahrung, indem sie uns das Referenz-System entziehen“.32 In solch einem Paradigma bleibt das Bezugssystem eines Bildes oder einer Botschaft absichtlich erhalten, mitsamt allen dazugehörigen Assoziationen, um so den früheren Inhalt von innen heraus zu ‚sprengen‘. Breton erklärt, dass es eine
28 Breton, André: Max Ernst, a. a. O., S. 77-79, S. 77; Breton bezieht sich hier allerdings nicht auf Janet (vgl. Kap. II), sondern auf Lautréamont und Rimbaud, wenn er von der Erfindung des automatischen Schreibens im 19. Jahrhundert spricht. Vgl. hierfür Fußnote 1, in: Ders.: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1928], a. a. O., S. 14, siehe auch S. 54. 29 André Breton: Max Ernst, a. a. O., S. 77. 30 Ebd. 31 In seinem Aufsatz Eine Traumwoge (1921) beschreibt Louis Aragon anhand von Max Ernsts Collagearbeit Santa Conversazione (1921), inwiefern Ernsts Collage eine der ersten Proben einer Kunst sei, die bis in den Surrealismus hinein zahlreiche Nachahmer gefunden hat. Als Nachdruck zu lesen in: Barck, Karlheinz (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919-1939, Leipzig 1986, S. 61-82. 32 Breton, André: Max Ernst , a. a. O., S. 78.
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„wunderbare Fähigkeit“ sei, in der Lage zu sein, „ohne den Bereich unserer Wahrnehmung zu verlassen, nach zwei distinkten Realitäten zu greifen und diese zusammenzubringen, um so einen Funken zu erzeugen“.33 Dieser Diskurs, der teilweise auch auf literarischen Werken von Pierre Reverdy und Comte de Lautréamont aufbaut, fand 1924 sein Echo in Bretons Manifest des Surrealismus, in dem der leuchtende „Funke“ als das oberste Ziel des surrealistischen Künstlers gesetzt wird, der sich mit „entfernten Realitäten“34 vermählt. Dieser Aspekt der poetischen Theorie Bretons lässt sich sowohl auf den Surrealismus als auch auf die Gestaltungsmittel der Montage (und Collage) anwenden, die gerade aus der unwahrscheinlichsten (surrealistischen) Nebeneinanderstellung Energie schlugen. Magier und Chirurg Bretons kurzer Essay geht vor allem, wenn er von einer solchen Desorientierung „innerhalb unserer eigenen Erfahrung“35 spricht, über poetische oder malerische Referenzen hinaus. Vielmehr stellt er einen Bezug her zwischen Ernsts Collagen und den neuen Darstellungsformen, die sie widerspiegeln, allen voran dem Kino. In gewisser Weise ähneln für Breton Ernsts Methoden der Collage als Juxtaposition distinkter Realitäten, die einen Funken erzeugen, der (flackernden) Projektion der Filmapparatur. Es ist daran zu erinnern, dass der Film in den 1920er Jahren noch eine relative Innovation darstellte. Die Vorführungen der Brüder Lumière in Paris im Jahr 1895 und jene der Brüder Skladanowsky in Berlin, ebenfalls 1895, gelten gemeinhin als Start der Filmepoche, wenngleich Modelle der projizierten visuellen Unterhaltung mit Bildsequenzen, die in Bewegung gesetzt wurden, bereits im 19. Jahrhundert vorausgegangen waren.36 Breton vergleicht die Leinwand im Kino mit der Leinwand des Malers und lässt die Malerei mithilfe dieser Metapher zu etwas Dynamischem werden. Wie die Erfindung der Fotografie und des automatischen Schreibens versetzt daher, Breton zufolge, der
33 Ebd. 34 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus [Manifeste du surréalisme, 1924], in: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, aus dem Französischen übersetzt von Ruth Henry, 12. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2009, S. 34. 35 Breton, André: Max Ernst, a. a. O., S. 78. 36 Olbrich, Harald/Dolgner, Dieter/Faensen, Hubert (Hrsg.): Lexikon der Kunst, 7 Bde., Band 2, Leipzig 2004; über Film, S. 508-509. Zu nennen sind hier Apparaturen wie das Kinetoskop und – weiter gefasst – auch populäre Bildprojektionen mit der Laterna magica.
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Aufstieg des Films den traditionellen schönen Künsten einen weiteren Schlag, insbesondere in Bezug auf die unvermeidbar statische Natur des Zeichenmediums.37 Ähnlich wie Albert Einsteins 1915 veröffentlichte „Allgemeine Relativitätstheorie“, die die Naturwissenschaft revolutionierte – ein weiteres zeitgenössisches Ereignis, das Breton in seinem Brief an Derain aufgreift38 –, trägt der Film in hohem Maße zu einer Neuordnung der Darstellungssysteme und nicht zuletzt der Art und Weise des Sehens im frühen 20. Jahrhundert bei. Unter den filmischen Effekten greift Breton besonders Zeitlupe und Zeitraffer heraus, die er als populäre Indizien der sogenannten relativen Zeit in Einsteins Theorien betrachtet.39 Einstein sieht die Raumzeit dynamisch, sie wird durch die in ihr enthaltene Materie verzerrt und beeinflusst ihrerseits, wie sich die Materie bewegt. So stehen Raumzeitstruktur und Materie in permanenter, relativistischer Wechselwirkung.40 Zeitlupe und Zeitraffer verfahren mit der Filmmaterie ähnlich. Sie wurden durch die Techniken des schneller Kurbelns und des langsamer Kurbelns bei der Aufnahme bzw. teils auch durch die Manipulation der Vorführgeschwindigkeit erzeugt und waren seit den ersten Tagen des Kinos bekannt.41 In Frankreich machte besonders Georges Méliès vielfachen Gebrauch von Filmtricks als Mittel der Unterhaltung, Betonung und Ironisierung. Bretons Generation war mit seinen äußerst populären Filmen aufgewachsen, aber Méliès hatte 1913 seinen letzten Film gedreht und geriet bis in die 1930er Jahre mehr oder weniger in Vergessenheit.42 Nicht so bei den Surrealisten, die ihn – namentlich Salvador Dalí und Jean Cocteau – sehr verehrten.43
37 Breton, André: Max Ernst, a. a. O., S. 78. 38 Vgl. hierfür André Bretons Brief an André Derain vom 3. Oktober 1921 in: Spies/Camfield/ Hopps: Max Ernst: Dada and the Dawn of Surrealism, a. a. O., S. 97. 39 Ebd. und Breton, André: Max Ernst, a. a. O., S. 78. 40 Vgl. http://www.einstein-online.info/einsteiger/allgRT (abgerufen am 28.03.2017). 41 Erste Hochfrequenzkameras – etwa der deutschen Firma Ernemann – kamen zwar bereits am Ende der 1910er Jahre auf den Markt, fanden aber noch keine weite Verbreitung. 42 Weiss, Peter: Avantgarde Film, Frankfurt am Main 1995, S. 9-10. Für eine ausführliche Bio- und Filmografie zu Georges Méliès vgl. auch http://www.melies.eu (abgerufen am 25.05.2017). 43 Vgl. u. a. Salvador Dalís Essay Short Critical History of Cinema [frz.1932], in: Gale, Matthew (Hrsg.): Dalí and Film (Ausstellungskatalog: Tate Modern), London 2007, S.75-77, S. 75; zudem Dalí, Salvador: Das Geheime Leben des Salvador Dalí [engl. 1942], aus dem Englischen übersetzt von Ralf Schiebler, München 1984, S. 375: hierin beschreibt Dalí Méliès als einen der Pioniere des Films. Jean Cocteaus Bewunde-
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Auch wenn Breton Méliès in seinem Essay nicht explizit erwähnt, evozieren seine Anspielungen auf kinematische Manipulationen doch genau die Art von Tricks, die auch dieser Filmemacher häufig einsetzte und die ebenso im Nachkriegskino – in Filmen sowie Wochenschauformaten – äußert verbreitet und beliebt waren. Breton schreibt über den Effekt der filmischen Tricks: In dem Maße, in dem sich der Gebrauch von Apparaten zum Beschleunigen und Verlangsamen allgemein verbreitet, in dem man sich daran gewöhnt, Eichen emporschießen und Antilopen schweben zu sehen, drückt man mit äußerster Erregung auf das Tempo jener vielleicht lokalen Zeit, von der man gehört hat. Bald wird uns der Ausdruck zusehends sinnentleert erscheinen, das heißt, wir werden, ohne mit der Wimper zu zucken, die Passage von der Geburt zum Tod wahrnehmen, und ebenso werden wir uns der kleinsten Unterschiede bewußt werden.44
Für Breton war Ernst dieser Mann der unendlichen Möglichkeiten, der „den spannendsten Film der Welt vor unseren Augen auf die Leinwand wirft“ und begründet es erst einmal pauschal damit: „Weil Ernst fest entschlossen scheint, mit dem hochstaplerischen Mystizismus à la Stillleben Schluß zu machen.“45 Hier sei am Rande erwähnt, dass ein solcher Vergleich von Ernst als Collagekünstler mit einem „Mann der unendlichen Möglichkeiten“ – was einem Magier gleichkommt – sich mit Walter Benjamins Metapher des Malers als Magier und des Kameramanns bzw. Filmemachers als Chirurg überschneidet.46 In einer bestimmten Umkehrung von Benjamins Zuweisungen erzeugen Ernsts Collagen einen Schock, indem sie die Techniken des Magiers einsetzen, um das Ganze zu erhalten, und zugleich chirurgisch mit dem Material verfahren: Anstatt die verwendeten Collagefragmente aus dem Kontext herauszulösen, erzeugt Ernst eine
rung für Méliès kommt in dem Essay Die Schönheit im Kinematographen [frz. 1925] zum Ausdruck, in: Cocteau, Jean: Kino und Poesie, aus dem Französischen übersetzt von Klaus Eder, München/Wien 1979, S. 22-25, S. 24. 44 Breton, André: Max Ernst, a. a. O., S. 78, Herv. i. O. 45 Ebd. 46 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a. a. O., S. 35: „Magier und Chirurg verhalten sich wie Maler und Kameramann. Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein. Die Bilder, die beide davontragen, sind ungeheuer verschieden. Das des Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein vielfältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetze zusammen finden.“
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Illusion der Totalität, indem er das Blatt (auf dem die Collage entsteht und zusammengetragen wird) als Struktur und Einheit erhält. Der Schock ist somit kein Schock, der allein aus der Abtrennung entsteht, sondern vielmehr ein Schock, der aus der Verbindung des Unähnlichen resultiert. Auch hierüber wird der Vergleich des Collagekünstlers mit einem Filmemacher nachvollziehbar. Breton stellt Ernst als jemanden dar, der die neusten Technologien dazu einsetzt, um die ‚trügerische‘ Art der perspektivischen Darstellung und der naturalistischen Wiedergabe zu überwinden und so eine neue und verbesserte Form der Illusion zu finden. Für Breton sind die akademischen Formen der Darstellung falsch, und zwar nicht, weil sie dem Auge Tiefe oder Größe vorgaukeln, wie dies ein Trompe-l’Œil tut, sondern vielmehr, weil sie ‚reglos‘ bzw. bewegungslos sind und daher nur ‚Lebloses‘ abbilden würden.47 Es ging Breton darum – dies sei hier wiederholt –, die Sicht auf das Ganze des Menschen zu eröffnen, das heißt Schnittflächen zwischen Innen- und Außenwelt bzw. Realität und Traum oder Vernunft und Irrationalität herzustellen.48 Die (veraltete) Virtualität der malerischen Perspektive ist somit dem fesselnden optischen Illusionismus der filmischen Effekte unterlegen. Dies erscheint für Breton vor allem eine Frage des technologischen Fortschritts. Die virtuelle ‚Projektion‘, die illusionistische Gemälde dadurch erzeugen, indem sie dreidimensionalen Raum auf eine zweidimensionale Oberfläche bannen, stellt gewiss eine der ersten Formen der Projektion dar; aber im Gegensatz zur Gelähmtheit der traditionellen darstellerischen Methoden, die vergeblich nach Illusion streben, sind Ernsts Collagen für Breton so dynamisch und ‚maschinistisch‘ wie Filme. Dennoch lässt der Text Max Ernst die Frage offen, inwiefern Breton eine konkrete filmartige Bewegung oder Projektion in diesen unterschiedlichen Arten von Collagen aktiviert sieht. Er lässt damit weitere Fragen als Folge seiner suggestiven Betrachtung unbeantwortet. Die Frage nach den Möglichkeiten der bildlichen Darstellung war gewiss bereits im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg von Bedeutung, als die Kubisten neue Raum-Zeit-Modi erwogen oder die Futuristen in Italien sich in die Geschwindigkeit verliebten.49 Festzuhalten ist, dass das Kino zu den Lieblingsthemen der LittératureGruppe zählte, allesamt waren begeisterte Kinogänger. Es ist zum Beispiel bekannt, dass Breton und Jacques Vaché, beide zu der Zeit junge Soldaten, die Gewohnheit pflegten, ihre eigene Art filmischer Collagen zu erzeugen, indem sie
47 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 12-13. 48 Ebd., S. 21. 49 Hierauf werde ich später im Zusammenhang mit Man Ray und der Darstellbarkeit von Bewegung in der Fotografie nochmals eingehen.
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im Laufe des Abends zufällig bei mehreren Filmen hereinplatzten und diese nach kurzer Zeit wieder verließen, wobei ihnen der kleinste Anflug von Langweile als Kriterium dazu diente, eine Vorstellung abzubrechen und in einen anderen Film zu wechseln.50 Breton und Vaché scheuten dabei jegliche narrative Fixierung oder das ausgedehnte Anschauen von Spielfilmen. Anstatt sich dem Trend des Langfilms hinzugeben, kehrten sie zum kurzen – und oft bunt zusammengestellten – Nummernprogramm-Format zurück, das der Film besaß, als er noch ein Novum war.51 In ähnlicher Weise erzeugten sie so ihre eigene Art der Montage im Kopf, indem sie verschiedene Filmsequenzen im Laufe eines Abends aneinanderreihten.52 Darüber hinaus soll hier an Bretons Vorliebe für Trash-Filme erinnert werden, wie etwa den fünfteiligen Thriller The Trail of the Octopus (USA 1919, Regie: Duke Worne), der in der Novelle Nadja erwähnt wird.53 Vor diesem Hintergrund ist es von zentraler Bedeutung zu erkennen, dass Breton und Vaché den Film, vor allem den nach dem Weltkrieg aufkommenden Langspielfilm, nicht an sich wertschätzten, sondern vielmehr recht aggressive Mittel einsetzten, um ihn umzustrukturieren und um so den sorgsam kultivierten Funken poetischer Energie zu extrahieren. Breton erkannte wohl einen ähnlichen Effekt in Max Ernsts Collagen. Diese Arbeiten verwendeten nämlich strenge Verfahren der Montage, aber sie evozierten zugleich auch filmische Formen der Unterhaltung, die weniger an Kunstfilme als an Low-Budget-Produktionen und populäre (Trash-)Filme gemahnten. Diese Anspielung muss jedoch noch weiter aufgeschlüsselt werden, wenn deren Relevanz für eine kunsthistorische Interpretation von Ernsts Collagen plausibel gemacht werden soll.
50 Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus, a. a. O., S. 194. 51 Frühe Filmvorführungen bestanden in der Regel aus mehreren Kurzfilmen, die als Programm zusammengefasst wurden: etwa Aufnahmen von Tanzdarbietungen, politischen Ereignissen, kurze gespielte Sketche u. a. 52 Hammond, Paul (Hrsg.): The Shadow and Its Shadow. Surrealist Writings on Cinema, London 1978, S. 10. 53 Hierbei beschreibt Breton die achte Episode des Films, „worin ein Chinese, der irgendein Mittel gefunden hat, sich zu vervielfachen, ganz allein, in einigen Millionen Exemplaren seiner selbst, über New York herfällt. Gefolgt von sich selbst und von sich selbst und von sich selbst, betritt er das Büro von Präsident Wilson, der seinen Kneifer abnimmt.“ Breton, André: Nadja [frz. 1928], aus dem Französischem übersetzt von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main 2002, S. 30.
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Kinematische Effekte in den frühen Collagen Bretons Vergleich von Ernsts Collagen mit dem Film ist mehr als nur eine Frage des Trends in der Kunstwissenschaft oder eine Frage von Bretons Begeisterung für verschiedene Spielarten des Kinos. Diese filmische Metapher spielt ebenfalls eine grundlegende Rolle in Bretons anderen Schriften über Ernst in den 1920er Jahren, in denen er beispielsweise Ernsts Collageromane genauso thematisierte wie dessen Gemälde: Viele dieser seiten, die erregung ausdrücken, und zwar eine erregung, die um so außergewöhnlicher ist als uns ihr vorwand verborgen bleibt – und das ist auch bei den seiten aus technischen werken der fall, vorausgesetzt, sie behandeln einen uns nicht vertrauten gegenstand –, vermitteln uns die illusion wahrhafter s c h n i t t e durch zeit, raum, sitten und gebräuche.54
Bretons Sichtweise war dabei keineswegs an das Vorhandensein der zahlreichen modernen Quellmaterialien in Ernsts Werk, wie Fotografien oder deren Druckreproduktionen, gebunden. Der markanteste Gesichtspunkt von Bretons filmischer Metapher besteht darin, dass sie Ernsts Collagen eine spezifische Form von Bewegtheit zuschreibt. Diese Einschätzung wird schon nachvollziehbar, wenn man eine Auswahl der Werke betrachtet, die 1921 in der Galerie Au Sans Pareil ausgestellt wurden: Die meisten Collagen enthalten Abbildungen verschiedener Arten von Körpern in Bewegung oder vielmehr wird Bewegung durch gestikulierende Gliedmaßen, dynamische Posen und die enge Abfolge beinahe identischer Figuren suggeriert (Abb. 4). Genau genommen ähnelt diese Wiederkehr von Figuren, die über die gesamte Bildfläche verteilt sind, oft fotografischen, wenn nicht gar kinematografischen Effekten. Diese Techniken der Wiederholung von Figuren, wie zum Beispiel in Dada Degas (ca.1920), sind Kunstgriffe, die bereits seit Jahrhunderten in verschiedenen Medien zum Einsatz kamen, um Belebtheit oder Zeitverläufe zu vermitteln. Man denke an die Fresken der frühen Renaissance, in denen ein Individuum wiederholt in mehreren verschiedenen Szenen dargestellt wird, was zur Darstellung von Zeit bzw. Be-
54 Breton, André: Anweisung für den Leser [Vorwort], in: Ernst, Max: La Femme 100 têtes [frz. 1929], Frankfurt am Main 1975, S. 5-11, S. 8-9, Herv. i. O. Wenn es um die Lesart der Bilder der Collageromane geht bzw. um die surreale Dominanz, dann sind die Texte – so gesehen noch mehr als die Collagen – ‚Fetzen‘ einer Innenschau, die verwirren, weil sie gerade den Zusammenhalt, den das Bild als haptische Einheit hat, vermissen lassen.
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wegung diente. Diese Abfolge von Figuren, wie sie in den frühen Collagen Ernsts zu finden sind, scheinen aber kaum alleiniger Grund für Bretons Einschätzung zu sein. Zudem sprach er diesen darstellerischen Formen poetische, besondere Fähigkeiten zu, und es ist anzunehmen, dass Breton nicht die Abbildung von gegenständlichen Elementen der naturalistischen Bewegung meinte, wenn er sich auf den poetischen ‚Funken‘ bezog, sondern die metaphorische Bewegung, die Ernsts rätselhafte Fotocollagearbeiten nahelegen. Es ist nämlich die Schnittfläche zwischen Abgebildetem und Imagination, an der solch ein Eindruck von Bewegtheit „wie im Film“ entsteht. Die Fotocollage La Chanson de la chair (Das Lied des Fleisches, 1920), die Breton selbst für seine persönliche Sammlung erworben hat, zeigt ein (reproduziertes) Foto von rennenden Windhunden und hinzugefügte verschiedene Montageelemente, wie den in der Luft schwebenden Tierkadaver und die einarmige ‚Kugel‘ (Abb. 5). Die Geschwindigkeit, die die gekrümmte Haltung und die unscharf verwischten Beine der Windhunde nahelegen, welche bei ihrem Rennen zur anderen Seite des Rahmens kaum noch den Boden zu berühren scheinen, steht im Kontrast zur Behäbigkeit des gleitenden Tierkadavers und der Ruhehaltung der in der Geste verharrenden Kugel. Hierdurch wird der kontrastierende Illusionismus von langsamer gegenüber beschleunigter Bewegung erzeugt. Dies zeigt, dass die Art und Weise, wie Ernsts Collagen kinematische Bewegung suggerieren, darin besteht, nicht miteinander harmonierende Elemente mit mehr oder weniger nahtlosen Techniken nebeneinander zu stellen, wodurch Kontraste, Spannungen, erzeugt werden, die zuvor in der auf Nachahmung abzielenden Malerei nicht zulässig gewesen wären. Mehr noch als Bewegung lediglich darzustellen oder gefundene Dinge einzusetzen, die Bewegung darstellen, erzeugt die Gegenüberstellung gerade durch den brutalen Zusammenstoß von ungleichen Bildern (wenn man so will als „Funken“) eine quasi erzwungene Bewegung. Einfacher ausgedrückt: Bewegung wurde durch das Übereinanderlegen von ungleichen Elementen erzeugt, die dann wiederum im Gesamtgefüge des Bildes verborgen wurden. Diese Bildkollision ist als Abfolge von Sequenzen zu lesen, die der fortlaufenden Bewegung des projizierten Films nicht unähnlich ist, mal wie in Zeitlupe verlangsamt (der schwebende Kadaver) und auch mal ganz angehalten (die Kugel). Die Collage La Chanson de la chair lässt die traditionelle Art der Darstellung zudem veraltet erscheinen, weil sie den Illusionismus nicht dazu einsetzt, um das sogenannte Naturgetreue, sondern gerade um das ‚Fantastische‘ glaubhaft zu machen – ein Aspekt, der Dalí möglicherweise zu seinen Vexierbildern geführt hat, die unsere Wahrnehmung vollends irritieren.
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Illusionismus und Staunen Es ist festzuhalten, dass Ernsts frühe Collagen für Breton deshalb radikal innovativ erscheinen, weil sie den Fokus, die ‚alte‘ Art des Naturalismus durch Perspektive aufgeben und stattdessen eine offenkundig moderne Spielart des Illusionismus verfolgen: Ihr Ziel ist es nicht, der zweidimensionalen Ebene des Bildes den Anschein von Tiefe zu geben, sondern die Suggestion einer kinematografischen Bewegung, welche die Collagen ins Zentrum des Interesses rücken lassen. Insbesondere hat die Tatsache der Reproduktionsmöglichkeiten von ‚Wirklichkeit‘ in Foto- und Druckprozessen (als anonyme mechanische Vorgänge) Methoden wie Perspektivierung bzw. das perspektivische Zeichnen als Träger von Glaubhaftigkeit ersetzt. Es ist bemerkenswert, dass trotz bestimmter Unterschiede in der technischen Ausführung und bei den Materialien beinahe alle Collagen, die von Ernst bei der Au Sans Pareil-Ausstellung gezeigt wurden, mit der Intention konstruiert scheinen, Zusammenhalt und Glaubwürdigkeit zu erzeugen55 – angesichts oder trotz des naturalistisch Unmöglichen in seinen Arbeiten. Ernst war besonders daran interessiert, seine Betrachter in dem Glauben zu lassen, dass alles an seinen Werken handgefertigt sei.56 Dabei sollte diese Illusion auch durch das Verschleiern von Collageschnitten mit Gouache, Strichzeichnungen oder Fotografien erreicht werden. Wie wichtig Ernst seine illusionistischen Ziele waren, wird unter anderem in einem Brief an Tristan Tzara von 1920 deutlich: „Ich lege ein Foto bei [...]. Das Sensationelle daran ist, dass dies ohne jede Arbeit gemacht wurde. Das ist mein Geheimnis!“57 In einem weiteren Brief schreibt er: „Können Sie dem Klischierer beibringen, daß er die Nähte bei den geklebten Arbeiten in der Reproduktion verwischt (damit das Geheimnis der Fatagaga bewahrt bleibt!)?“58 Wie bereits Spies und andere Forscher bemerkt haben, ist das „Geheimnis“ dieser Vorgehensweise eine der charakteristischen Eigenschaften von Ernsts Arbeit;59 und es diente wohl ganz allgemein als Inspiration für die besondere – nicht gleich evidente – Machart der surrealistischen Montagetechniken. Denn ganz anders als in anderen Montagemethodiken, die häufig den destruktiven Charakter der Schnitte und damit die ‚Leere‘ des ‚Da-
55 Kusenberg, Kurt (Hrsg.): Max Ernst, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 50-51. 56 Vgl. hierfür Max Ernsts Brief an Tristan Tzara vom 2. November 1920, in: Spies/ Camfield/Hopps: Max Ernst: Dada and the Dawn of Surrealism, a. a. O., S. 85. 57 Ebd. 58 Hier zitiert nach Spies, Werner (Hrsg.): Max Ernst. Collagen (Ausstellungskatalog: Max Ernst – die Welt der Collage, Kunsthalle Tübingen u. a.), Köln 1988, S. 68. 59 Spies/Camfield/Hopps: Max Ernst: Dada and the Dawn of Surrealism, a. a. O., S. 20.
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hinter‘ betonen, indem sie die Schnitte bloßlegen und offenbaren, wird in der surrealistischen Montage häufig versucht, derart offenkundige Fragmentierungen zu vermeiden. Ernsts Collagen verschmelzen beispielsweise zu Kompositionen, die der traditionellen malerischen Darstellung von Figur und Grund ähneln. Dies ist natürlich nicht so zu verstehen, dass Ernsts Collagen, die ja auch fantastische Objekte oder unmögliche hybride Menschen darstellen, im Entferntesten wirklichkeitsgetreu sind. Stattdessen setzte Ernst den Illusionismus als ‚Form‘ ein. Das heißt, Illusionismus und dessen Effekte waren dabei Selbstzweck und erinnern auch darin an verschiedene Arten von varietéartigen Shows, die so auf ihr Umfeld, ähnlich wie bei Jahrmarkt- und Zirkusattraktionen, (rück-)wirkten: Die Zuschauer in Schock und Erstaunen zu versetzen, war und ist ein konstitutives Element solcher Darbietungen.60 Auch das frühe Kino reiht sich, wie Tom Gunning gezeigt hat, in die Reihe dieser populären Attraktionen.61 Führt man diesen Gedanken fort, lässt sich sagen, dass diese frühen Collagen das Kino auch genau deshalb evozieren, weil in ihnen diejenige Art von visuellen Tricks und visueller Überwältigung zum Einsatz kommt, die lange Zeit für die spektakulären LiveUnterhaltungen (und teils Druckkulturen) des 19. Jahrhunderts charakteristisch war und die schließlich in der Erfindung des Films gipfelte.62 Diese Wende hin zu einer neuen Form der Schaulust und der Medien, sie zu befriedigen, führte zu einer zunehmenden Ersetzung der traditionellen darstellerischen Formen des zeichnerischen ‚Illusionismus‘. Möglicherweise liegt es an diesem Fokus auf die optischen Illusionen, weshalb sich Breton in seinem Essay auf die früheren Episoden der Filmgeschichte bezieht, anstatt auf neuere kinematografische Moden, wie den häufigen Einsatz von Schnitten oder Kameraschwenks. Die vorliegenden Erkenntnisse bestärken die Annahme, dass auch weitere surrealistische Künstler kinematische Effekte durch ihre Montagemethodik zu erreichen suchten, da sie darin eine Möglichkeit erkannten, durch instinktive, indirekte künstlerische Techniken einen poetischen Funken ‚sprühen‘ zu lassen bzw. dem Bild etwas hinzufügen zu können. Hier sind wir wieder bei Aristoteles’ Begriff des Rätsels, das, indem man von wirklichen Dingen spricht, Unmögliches verbindet. An dieser Stelle sollte auch darauf hingewiesen werden, dass
60 Vgl. Van den Berg, Hubert/Fähnders, Walter (Hrsg.): Avantgarde, Metzler Lexikon, Stuttgart/Weimar 2009, S. 99. Der Ort, an dem Filme in den ersten Jahren am häufigsten gezeigt und gesehen wurden, waren die Jahrmärkte, auf denen eine große Zahl an Unterhaltungsspektakeln geboten wurde. 61 Gunning, Tom: The Cinema of Attractions. Early Film, Its Spectator and the Avantgarde. In: Wide Angle 8,3-4, 1986, S. 63-70. 62 Vgl. Van den Berg/Fähnders(Hrsg.): Avantgarde, Metzler Lexikon, a. a. O., S. 99.
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die Rolle des Künstlers im Surrealismus genau aus dem Grund ambivalent bleibt, da sein Platz zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen Schöpfertum und Mittlerrolle changiert. Im gleichen Zug muss deshalb der ‚objektive‘ Zufall im Surrealismus kritisch hinterfragt werden. Nichtsdestotrotz sind Bretons Entdeckungen kinematografischer Elemente in Ernsts frühen Collagearbeiten paradigmatisch für die surrealistische Kunst. Der Bereich des filmischen Illusionismus, der es erlaubt, dass an sich statische Bilder und Motive dynamisch werden (oder umgekehrt), war für die Wirksamkeit von Werken, über das Sichtbare hinaus, von zentraler Bedeutung: Hierin gleicht die filmische Manipulation sowie Desorientierung dem Bereich der Metamorphose, welche für Breton am wirksamsten war, wenn sie von innen heraus erreicht wurde. So bleibt auch in Ernsts Collagen der Rahmen eines bestimmten Paradigmas als Bedeutung erhalten und wird von innen heraus verändert. Das einzelne Bild scheint sich in eine (andere) Identität zu verwandeln. Bewegung und Lichtprojektion stellen dabei für Breton die zentralen Gründe dar, welche das neue Medium Film gegenüber den ‚veralteten‘ darstellerischen Formen als überlegen erscheinen lassen.63 Zwar sind diese Merkmale (Bewegung und Lichtprojektion) für alle Filme charakteristisch, dennoch legen die optischen Tricks, die Breton besonders hervorhebt, einen Bezug auf das erste Jahrzehnt des (französischen) Kinos nahe. Das heißt auf eine Zeit, in der Objekte und Personen auf so zauberische Art in Bewegung versetzt wurden, dass Logik und Verstand durcheinander bzw. in Erstaunen gerieten.64 Aus Bretons Aufsätzen in Les Pas perdu liest man durchaus eine gewisse Wehmut, denn das Kino hatte die offensichtliche Verbindung zur Tradition der Variététricks und Zirkusnummern, wie es Georges Méliès oder Segundo de Chomón intensiv praktizierten, längst hinter sich gelassen. In seiner Analyse von Ernst als „diesem Mann der unendlichen Möglichkeiten“65 lässt er indirekt auch dieses Kino der Attraktionen wieder aufleben. Wenngleich Breton in seinem Essay über Ernst eng in eine Auseinandersetzung über Fortschritt und Innovation verwoben ist, nimmt er Bezug auf die visuellen Errungenschaften seiner Kindheit. Mittels Entfremdung (und unserer Desorientierung) glaubt Breton, die Kultur des Geistigen revolutionieren und surrealistische Erfahrungen, ein Fremdsein der Sinne, vermitteln zu können:
63 Für die Bedeutung von Lichtprojektion bei Breton vgl.: Ders.: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1928], a. a. O., S. 28. 64 Beliebteste Filmtricks dafür waren neben Zeitlupe und Zeitraffer etwa der Stopptrick und Überblendungen. 65 Breton, André: Max Ernst, a. a. O., S. 78.
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durch visuelle Tricks und optische Illusionen, die vom Erzählerischen unabhängig scheinen. So gelingt es André Breton in der Auseinandersetzung mit Max Ernst, ein Modell zu generieren, das es erlaubte, die älteren Referenzen zu erhalten, um auf diese Weise neue Bedeutungen zu gewinnen und Wahrnehmungsgrenzen zu erweitern. Dabei spielt „Verfremdung“, wie Breton über Max Ernst schrieb,66 eine Hauptfunktion in Bezug auf die Surrealität. Diese erreichen die Künstler auf ganz unterschiedliche Weise. Sie scheint aber unumgänglich, wenn Künstler innerhalb dessen, was sie (materiell) vorfinden, verhaftet bleiben, da sie nur mit ihren technischen Mitteln agieren können. Max Ernst etwa setzt in den frühen Collagen Vorgefundenes in neue Bezüge, er verfremdet dadurch Wirkliches und öffnet seine Werke für das Unmögliche. Buñuels Möglichkeiten, durch das bewegte Bild im Film bzw. durch unerwartete Schnitte zu Schocks zu führen, bestehen beispielsweise für Dalís Malerei nicht. Seine paranoisch-kritische Methode eröffnet in seiner peniblen Malweise wiederum eine mehr als doppelte Leseart. Hier wie dort führt es den Betrachter zur Hinterfragung von Rezeption bzw. von seinen Wahrnehmungen. Man Rays Rayografien bzw. seine kameralosen Techniken in der Dunkelkammer lassen ihrerseits Objekte verfremdet erscheinen und Ernsts Frottagezeichnungen führen zu Vexierbildern, die zwar auf ähnliche Weise wie Dalís Kippbilder Metamorphosen (von Gegenständen) suggerieren, jedoch bei Ernst durch Bildtechniken erzielt werden, die die Collage als Mittel zum verfremdeten Umgang mit Realität beinhalten.
2. FROTTAGE – METAMORPHOSE UND VIELDEUTIGKEIT Max Ernst ist neben André Breton der erste der späteren Surrealisten, der auf Giorgio de Chirico stößt; dabei ist die Begegnung insbesondere mit der Pittura metafisica von beispielhaftem Charakter. Entscheidenden Einfluss hat sie auf die Collagetechnik, die die Grundlage für Ernsts weiteres Tun darstellt und die, wie bereits erläutert wurde, sich bei Ernst ca. 1919 aus dem Geiste Dadas entwickelte. Ernst hat, wie im vorigen Abschnitt dargestellt wurde, dem Begriff der Collage – durch das, was er mit ihr und aus ihr gemacht hat – einen neuen Sinn gegeben: Collage bedeutete für Ernst die plötzliche und unerwartete Annäherung zweier oder mehrerer willkürlich gewählter und auseinander liegender Wirklichkeiten, deren Zusammentreffen etwas Neues auszulösen vermag. Der Funke Po-
66 Vgl. Breton, André: Anweisung für den Leser, a. a. O., S. 10.
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esie, der dabei zum Überspringen gelangt und der auf die beiden einander fremden, in der Collage verbundenen Realitäten ein neues Licht wirft, öffnet den Blick für eine neue Interpretationsweise oder Assoziation. So entsteht der erste Keim für den Schnitt als Denkfigur im Surrealismus, eine Denkfigur, die in Ernsts Frottagen noch vielschichtiger zur Wirkung kommen sollte. Die Pittura metafisica hat ihren sichtbaren Anteil an dieser Entwicklung. Metaphysische Inspiration De Chiricos Anordnung von Perspektiven, die zu einer bestimmten Unruhe oder Desorientierung führt, lässt sich etwa in Ernsts Collage Dada in usum Delphini (1920) wiederfinden. Des Weiteren standen de Chiricos und Carràs Schneiderpuppen Pate für die Modepuppen in Ernsts litografischem Mappenwerk Fiat modes, pereat ars (ca. 1919, übersetzt etwa: Es werde Mode, nieder mit der Kunst); und das Gemälde Aquis submersus (1919) entspricht einer unter Wasser gesetzten Piazza d’Italia von de Chirico. 1922 zieht Max Ernst endgültig nach Paris um. Dort angekommen, entsteht das gemeinsam mit Paul Éluard verfasste Buch Les Malheurs des immortels (1922), das Gedichte sowie Collagen beinhaltet und eine vor-surrealistische Kollaboration darstellt. Kurz darauf entsteht Ernsts Bild Das Rendezvous der Freunde (Au Rendez-vous des amis), in dem Ernst seine Inspirationsquellen – unter anderem de Chirico – dokumentiert. Hatte Ernst in den Jahren zuvor eigene Figuren auf de Chiricos Raumbühne projiziert sowie teilweise ikonografische Elemente de Chiricos übernommen, füllen sich die an die Pittura metafisica gemahnenden Raumbühnen nun immer mehr durch eigene Kreationen Ernsts, die neben den Zwittergestalten aus Natur und Maschine auch Gestalten zeigen, die Ikonografien aus seiner Biografie darstellen sollen. Darunter fallen unter anderem seine späteren ‚Monster‘67, die sich in Apparaturen oder Wälder hüllen. Seine puppenhaften Figuren, wie in Die heilige Cäcilie – Das unsichtbare Kleid (1923) oder Oedipus Rex (1922) sowie in dem bereits erwähnten Aquis submersus, sind oftmals mit Fragmenten technischen Geräts und menschlicher Gliedmaßen bestückte Konstruktionen und erinnern an den Il grande metafisico (Großen Metaphysiker, 1917) von de Chirico. Formal und thematisch überwindet Ernst erstmals mit Die heilige Cäcilie vorangegangene Darstellungsweisen, indem in ihr die Collagetechnik selbst die Bedeutung von ‚Überwindung‘ enthält. Ernst verbindet in diesem Werk Stücke eines Gipsmantels, der zum Einsatz
67 Vgl. u. a. Max Ernsts Le Triomphe de l’amour/fausse allegorie (Der Triumph der Liebe/falsche Allegorie, 1937) oder Die Barbaren (1937).
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bei einem Gussvorgang kommt, mit der Figur der heiligen Cäcilie, die Schutzheilige der Musik. Laut Wieland Schmied repräsentiert der Gipsmantel die erstarrte Bildwelt de Chiricos.68 Seiner Meinung nach bröckeln die steinernen Standbilder – für die sich de Chirico äußerst faszinierte – ähnlich wie der gipserne Mantel in Ernsts Werk. Das Bild, das sich abzeichnet, ist nicht nur ein Ausbrechen einer Figur, sondern eines aus einer vorgegebenen, versteinerten Form. Hierin spiegelt sich schon der Geist des Surrealismus wider – wohlgemerkt ein Jahr, bevor André Breton das erste Manifest des Surrealismus verfasst. Es wurde in der Arbeit bereits erläutert, inwiefern de Chirico und seine metaphysischen Bilder sowie Max Ernst und seine Collagen zu den entscheidenden Voraussetzungen der surrealistischen bildenden Kunst gehören. Gleichzeitig muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass de Chirico und Ernst nicht ohne Weiteres als ‚surrealistische Künstler‘ einzuordnen sind. Eine einheitliche surrealistische Stilrichtung gibt es nämlich nicht. Zudem beginnt der Surrealismus offiziell erst mit dem Manifest. Ernsts Satz von der „Annäherung von zwei (oder mehr) scheinbar wesensfremden Elementen auf einem ihnen wesensfremden Plan“69 reicht da ebenso wenig aus, wie die écriture automatique von André Breton oder eine Metaphysik in der Malerei. De Chirico kann vielmehr als Stammvater und Ernst als Anreger für eine surrealistische Kunst betrachtet werden, da sie beide Werke der sogenannten surréalité schufen. Des Weiteren können Stilmerkmale innerhalb der surrealistischen Malerei variieren, wenn beispielsweise das Werk eines Masson, Miró, Magritte, Delvaux, Dalí, Dominguez, Tanguy, Brauner, aber auch Mattà hinzugezählt werden soll. Auch Max Ernsts Frottagen, die ab Mitte der 1920er Jahre entstehen, werden dazu gezählt. Hierin wird eine dem halbautomatischen Prinzip der Montage entsprechende Technik unter Einbeziehung des kalkulierten Zufalls erkannt. Peinture automatique oder Die Entdeckung der Frottage Im Jahr 1925 lagen hinter Ernst bereits drei Jahre einer unsicheren Existenz in Paris. Reichlich Anfeindungen innerhalb der surrealistischen Gruppe haben Ernst im Unklaren darüber gelassen, welche Rolle die Malerei oder Kunst spielen sollte. So zum Beispiel hatte Pierre Naville in der Zeitschrift La Révolution surréaliste im April 1925 geschrieben: „Weder können zufällig hingekritzelte Bleistiftstriche noch eingefangene Traumbilder oder die Phantastereien der Ein-
68 Schmied, Wieland (Hrsg.): De Chirico und sein Schatten. Metaphysische und surrealistische Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München 1989, S. 89. 69 Ernst, Max: Was ist Surrealismus?, a. a. O., S. 25.
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bildungskraft als gültiger Ausdruck des Surrealismus akzeptiert werden.“70 Zwar richtete sich dieser Vorwurf vor allem gegen die sogenannten Traummaler, die ihre abgemalten Träume für Kunstwerke hielten, dennoch enthielt das erste Manifest des Surrealismus, das den psychischen Automatismus anpries, eine Anleitung zur écriture automatique. Ernst versuchte, analog dazu ein bildnerisches Verfahren zu finden, das den literarischen Methoden Bretons gleichkam – im Sinne einer peinture automatique. Ernst hat später in seiner Schrift Au-delà de la peinture (1936) folgende Situation beschrieben, bei der ihn im Sommer 1925 „eine zwingende visuelle Gewalt die technischen Mittel“ dafür entdecken ließ: Es begann mit einer Erinnerung aus der Kindheit. Es hatte eine Vertäfelung aus nachgemachtem Mahagoniholz, das sich gegenüber von meinem Bett befand, die Rolle des optischen „provocateur“ übernommen, eine Vision im Halbschlaf hervorzuzaubern. Ich befand mich nun an einem regnerischen Abend in einem Gasthaus an der See. Da suchte mich eine Vision heim, die meinem faszinierten Blick die Fußbodendielen aufdrängte, auf denen tausend Kratzer ihre Spuren eingegraben hatten. Ich beschloß, dem symbolischen Gehalt dieser Heimsuchung nachzugehen und, um meine meditativen und halluzinatorischen Fähigkeiten zu unterstützen, machte ich von den Fußbodendielen eine Serie von Zeichnungen, indem ich auf sie ganz zufällig Papierblätter legte und diese mit einem schwarzen Blei rieb.71
Ernst betrachtet das Ergebnis und ist „überrascht von der plötzlichen Verstärkung [... seiner] visionären Fähigkeiten und von der halluzinatorischen Folge von gegensätzlichen und übereinandergeschichteten Bildern, mit der Eindringlichkeit und Schnelligkeit wie sie für Liebeserinnerungen charakteristisch sind“.72 In der Folge erprobt Ernst diese Durchreibetechnik mit allen möglichen Materialien: Blätter und ihre Adern, die rauen Kanten eines Leinenläppchens, die Pinselstriche eines „modernen“ Gemäldes, den abgewickelten Faden einer Spule usw. Da taten sich vor meinen Augen auf: menschliche Köpfe, Tiere, eine Schlacht, die mit einem Kuß endete (die Windsbraut), Felsen, das Meer und der Regen, Erdbeben, die Sphinx in ihrem Stall, die kleinen Tafeln rings um die Erde, die Palette Cäsars, falsche Positionen, ein Gewebe aus
70 Zum damaligen Zeitpunkt war Naville Leiter der Zeitschrift La Révolution surréaliste. Hier zitiert nach Kusenberg, Kurt (Hrsg.): Max Ernst, a. a. O., S. 70. 71 Im Auszug übernommen aus Ernst, Max: Beyond Painting, New York 1948, übersetzt von Loni Pretzell, in: Max Ernst. Gemälde. Graphik. Skulptur, a. a. O., S. 27. 72 Ebd.
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Eisblumen, die Pampas, Peitschenhiebe und Lavafäden, Felder der Ehre, Überschwemmungen und seismische Pflanzen, Fächer, der Sturz des Kastanienbaumes. Die Geistesblitze unter vierzehn Jahren, das geimpfte Brot, die gepaarten Diamanten, den Kuckuck, Ursprung des Pendels, des Todes, das Rad des Lichtes. Ein System von Sonnengeld. Die Gewandung der Blätter, die faszinierende Cypresse. Eva, die einzige, die uns bleibt.73
Diese Auflistung Ernsts umfasst einen Großteil der 34 Bleistift-Frottagen, die 1926 unter dem Titel Histoire naturelle (Naturgeschichte) als LichtpausenReproduktionen in einer Mappe bei Éditions Jeanne Bucher in Paris erschienen.74 Während Max Ernst bei der Herstellung von Collagen noch von den Darstellungen des verwendeten Materials abhängig war, gelangte er durch die Frottage nicht nur zur weiteren Verfeinerung von Strukturwerten in seiner Malerei, sondern auch zur größeren Freiheit. Mit der Frottage hat er für sich eine Technik gefunden, bei der er alle „bewußten geistigen Einflüsse (der Vernunft, des Geschmacks oder der Moral)“ ausschließen konnte und so, „durch Reduzierung des aktiven Teils dessen, das bisher Autor genannt wurde, auf ein Minimum, offenbart sich dieser Prozess als exaktes Äquivalent zum automatischen Schreiben“. Gerade durch „eine Folge von Suggestionen und Transmutationen, die sich spontan aufdrängen – entsprechend hypnotischen Visionen“ würden die so gewonnenen Bilder „immer mehr den Charakter des befragten Materials, des Holzes zum Beispiel, verlieren, um den Aspekt von Bildern einer unerhofften Präzision anzunehmen […]“.75 Betrachtet man Ernsts Frottagewerke genauer, wie zum Beispiel Blättersitten (1926) aus dem Mappenwerk Histoire naturelle (Abb. 6), ist unschwer zu erkennen, dass die Technik obendrein erhebliches zeichnerisches Können erfordert. Letztlich ist dies aber nicht das Entscheidende, um das Werk zu verstehen, sondern wer gerade nicht auf die Bravour des Zeichnens fokussiert, kann den poetischen Funken erleben. Das Frottageverfahren hatte zunächst den Anschein, als sei es nur für Zeichnungen verwendbar. Jedoch begann Ernst im selben Jahr, seine Technik abzuwandeln und – gleichsam in einer Umkehrung – für die Malerei zu erschließen. Ein frühes Ölbild, das durch die Technik der Grattage auf
73 Ebd. 74 Im Jahr 1956 hat die Pariser Galerie Berggruen eine Nachlese-Ausstellung nicht edierter Frottagen der Histoire naturelle veranstaltet, die verschollen waren und wieder aufgefunden wurden. 75 Im Auszug übernommen aus Ernst, Max: Beyond Painting, New York 1948, übersetzt von Loni Pretzell, in: Max Ernst. Gemälde. Graphik. Skulptur, a. a. O., S. 27.
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Leinwand entstand, ist 100.000 Tauben (1925). Die Leinwand zwang ihn hier, den umgekehrten Weg einzuschlagen, nämlich Farbe nicht durchzureiben, sondern abzuziehen (Abb. 7). Histoire naturelle (1926) Beim Betrachten der Frottagezeichnungen stellt sich vielen zunächst die Frage nach der Entstehungsart der Werke. Hierzu schreibt Ernst 1925 an den Kunsthistoriker Franz Roh: Ich gebe Ihnen, lieber Doktor R., gern meine Gebrauchsanweisung. Nehmen Sie Holz vom Fichtenstamm, doch recht trocken laßt es sein. Oder aber solches, das jahrelang der Seeluft ausgesetzt war, so daß die Maserungen deutlich hervortreten. Legen Sie darauf ein nicht zu dickes Papier, das Sie mit einem weichen Stift reiben. Bald darauf erscheinen auf dem Papier Streifen und Wogen: das Meer. Je nachdem Sie den Druck regulieren, kommen die Wogen auf den Beschauer zu oder verschwimmen am Horizont. Legen Sie das Papier sodann auf die Mitte einer Grammophonplatte. Reiben Sie nun, bis die Sonne aufgeht [...].76
Im Grunde funktioniert diese Durchreibetechnik mit allen möglichen natürlichen oder auch künstlichen Materialien, die eine gewisse Oberflächenstruktur aufweisen. Auf was es Ernst ankam, war aber gerade, diese Texturen in der Frottage „übereinander, nebeneinander, durcheinander“ zu setzen, wodurch sich ein „neues Feld von unendlichen Möglichkeiten“ auftat.77 Schon unsere Vorfahren, beschreibt Ernst, hätten die Linien, welche die Vögel am Himmel zogen und einschrieben interpretiert: Sie erkannten darin, immer mit dem nötigen Quantum Phantasie, die Zukunft und die Wahrheit. – Oder aber, um nun ‚geistiger‘ zu sprechen: lassen Sie Ihre Imaginationskraft und gleichzeitig Ihre mit dem Bleistift bewaffnete Hand die Schnittfläche zwischen der persönlichen Intuition und der sogenannten reellen Welt abtasten. Registrieren Sie alle Glätten und Unebenheiten ein, und Sie erhalten somit die köstlichsten Tafeln für eine oder tausend Naturgeschichten.78
76 Max Ernst zitiert nach: Roh, Franz: Max Ernst und der Surrealismus – sind sie noch aktuell?, in: Das Kunstwerk. Eine Zeitschrift über alle Gebiete der bildenden Kunst, hrsg. von Woldemar Klein, Heft 4/X, Krefeld 1956/57, S. 3-6, S. 5. 77 Ebd. 78 Ebd.
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Dem Kunstgeschichtler Roh gegenüber versicherte sich Ernst mit solchen Verfahren einer gewissen Stetigkeit der Bedeutung, und zugleich, da er solche Frottagestellen gegeneinander setzte, erzeugte er noch mehr Schnittstellen zwischen „Intuition und der sogenannten reellen Welt“, die assoziativ schier unendliche Möglichkeiten zu bieten schienen. Auch in der Malerei hat sich Ernst verwandter Verfahren bedient, wodurch er seinen Bildern mitunter ein merkwürdiges Strukturenmosaik verschuf, das er in fesselnden Gegensatz zu frei gemalten Partien stellte. Dabei weisen die Frottagen sowie die Grattagen Mikrostrukturen auf, die durch teilweise weitgespannte Kompositionsgefüge umfasst werden. Betrachtet man etwa 100.000 Tauben, wird deutlich, dass Ernst der – durch Abziehen von Farbe – erzeugte Grund nur als Ausgangsbasis diente und die Vögel erst nachträglich durch hinzugefügte Linien wahrnehmbar wurden. An dieser Stelle sei nochmal auf Bretons und Soupaults Gemeinschaftswerk Les Champs magnétiques von 1919/20 hingewiesen, in dem sie die écriture automatique als Experiment erstmals umsetzten.79 Dabei versetzten sie sich, wie auch in Abschnitt V bereits beschrieben, in einen passiven Zustand und folgten dem Lauf ihrer Gedanken, wie sie gerade kamen. Das erste Kapitel wurde allein von Soupault geschrieben, während das zweite Kapitel allein von Breton stammt. Die folgenden Kapitel dagegen verfassten sie gemeinsam, indem sie je Passagen schrieben, danach fügten sie die Texte zusammen, was auf der Methodik des cadavre exquis basiert. Nur das Kapitel „Schranken“ ist aus einer Art Dialog entstanden. Hierfür saßen sich die Autoren gegenüber und spielten eine Art Frage- und Antwortspiel. Philippe Soupault hat später seiner Frau Ré Soupault gegenüber, die das Gemeinschaftswerk ins Deutsche übersetzte, geäußert, dass die zunehmende Geschwindigkeit (écriture automatique) allerdings nur für die letzten Kapitel angewandt wurde.80 Für Rosalind Krauss spiegelt dieses literarische Gemeinschaftswerk seine Ambitionen aber bereits im ersten Satz bzw. Titel des ersten Kapitels wider: „La Glace sans tain“ (Der durchsichtige Spiegel). Krauss merkt dabei an, dass der Spiegel ohne Versilberung in zweierlei Richtungen führen kann: Er lasse den Erzähler reflektieren, da aber der Spiegel
79 Soupault, Ré: Über das traumhafte Schreiben und das Schicksal eines Manuskripts, in: Breton, André/Soupault, Philippe: Die magnetischen Felder [Les Champs magnétiques, 1920], aus dem Französischen übersetzt von Ré Soupault, Heidelberg 1990, S. 177-191, S. 181-182. 80 Ebd., S. 182.
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durchsichtig ist, habe es zur Folge, dass die Subjektivität des Erzählers an ihm vorbeiziehen und er sich mit der Welt da draußen verbinden könne.81 Auch Ernsts offene Methodik der Frottage erinnert an einen solchen durchlässigen Spiegel, indem die Frottageflächen aus Gegenständlichkeit und Abstraktion bestehen. Dadurch führt Ernsts Verfahren auf geistiger Ebene zur Überwindung bzw. Verbindung von zwei Welten: von Außen- und Innenwelt. Ernst versucht dabei nicht, ein visuelles Äquivalent eines automatischen Schreibverfahrens zu erzielen, sondern er spekuliert vielmehr auf eine Auslösung eines mentalen Prozesses, auf eine (halb-)automatische Gestaltung. Ernsts Bilder erscheinen zudem in seinem Mappenwerk Histoire naturelle als voneinander abgegrenzt. Seine Bleistiftzeichnungen schließen im Hinblick auf das Schnittverfahren vor allem an seine vorangegangenen Produktionen an, die Collagen, deren Realisierung bewusstes Kontrollieren erforderte, das den Moment der Inspiration erst zum Anlauf brachte. Das Blatt Das Meer und der Regen (1926) veranschaulicht solch ein Vorgehen (Abb. 8). Dieses Bild ist das erste aus der Serie Histoire naturelle. Hier hat Ernst die neu gewonnenen Frottagestellen zusätzlich in Gegensatz zu frei gemalten Partien gestellt, wie der nachträglich mit Bleistift gezeichnete Kreis. Seine Bildmittel bleiben stets getrennt voneinander, als ob das doppelte ‚Wunder‘ angedeutet werden soll: Der Betrachter ist in über-realistische Bahnen eingebunden sowie in die Materie unendlich kleiner Strukturenmosaike. Beide Bildmittel scheinen in Das Meer und der Regen in Spannung zueinander zu stehen, die aber nicht aufgelöst wird. Genau hierin liegt der Reiz des Bildes. Der Künstler liefert mit Das Lichtrad (1926) eine Art Erklärung bzw. Grundkonzept für solch eine Sichtweise. Das Lichtrad zeigt ein großes, geöffnetes Auge. Die Aufforderung an den Betrachter wird hier deutlich, nicht nur mit dem Auge zu sehen, sondern auch mit der Vorstellungskraft, dem inneren Auge, wahrzunehmen. Ernst bringt diese Wirkmacht seiner Bilder in einer Definition der Frottage gut auf den Punkt: „Frottage ist nichts anderes als ein technisches Mittel, die halluzinatorischen Fähigkeiten des Geistes zu zeigen, daß Visionen sich automatisch einstellen, ein Mittel, sich seiner Blindheit zu entledigen.“82 Damit stellt sich Ernst mit seinen Arbeiten, die auf solch halbautomatischen Verfahren beruhen, dezidiert in den Rahmen innovativer surrealistischer (Kunst-)Intentionen. Im Gegensatz dazu
81 Krauss, Rosalind: Magnetic Fields – The Structure, in: Joan Miró. Magnetic Fields (Ausstellungskatalog Solomon R. Guggenheim Museum, New York), New York 1972, S. 11-38, S. 13. 82 Im Auszug übernommen aus Ernst, Max: Beyond Painting, New York 1948, übersetzt von Loni Pretzell, in: Max Ernst. Gemälde. Graphik. Skulptur, a. a. O., S. 27.
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darf die zuvor zitierte Anekdote von der „Entdeckung“ der Frottagetechnik nicht allzu wörtlich genommen werden. Nicht nur, weil wahrscheinlich jedem von uns dieses Verfahren seit der Kindheit bekannt ist, sondern Ernst selbst hat bereits Jahre zuvor nach dem gleichen Prinzip in der Druckerei Hertz gearbeitet und für die Druckerei während jener Kölner Jahre große Holzbuchstaben mit Grafit durchgerieben und zu Kompositionen verbunden, die das typografische Ausgangsmaterial verfremdeten. Daher soll die Frottage als eine weitere Technik Max Ernsts angesehen werden, die von kunstdifferentem Material ausgeht, das fast beliebig und jeweils neu kombiniert werden kann. In einer weiteren Hinsicht entsprechen die 34 Blätter der Histoire naturelle dem surrealistischen Geist. Ernst ließ sie im Lichtdruck-Verfahren vervielfältigen und verwies damit auf ihre eigentliche Funktion als Druckvorlagen und nicht auf Unikate. Ein Beispiel für diese Annahme findet sich zudem in einem weiteren Werk, das allerdings auf andere Weise Frottagen reproduziert und vervielfältigt: Die 19 Frottagen zu René Crevels Mr. Knife Miss Fork von 1931 sind Fotogramme, die Ernst entwickelte. Die Blätter entsprechen Man Rays Rayografien insofern, als sie in direktem Kontakt auf Fotopapier entstanden. Die geschwärzten Partien der Frottagen sind lichtundurchlässig und erscheinen daher nach der Entwicklung als Negativform weiß auf schwarzem Grund. Die Histoire naturelle bleibt allerdings der Höhepunkt der Frottagetechnik. Ernst beginnt dafür mit Abreibungen von Holzbrettern; bald darauf kommen weitere Materialien und Texturen hinzu: Blätter, Leder, zerknittertes Papier, hartes Brot, Strohgeflecht oder Faden.83 Durchgerieben wird ausschließlich mit Bleistift und Grafit. Erst später geht Ernst häufiger zu Kreiden und Farbstiften über. Gelegentlich werden die Blätter auch mit farbigen Akzenten versehen, mit reiner Zeichnung kombiniert oder durch Weißerhöhung akzentuiert.84 Dabei dienen sie noch, wenn auch nicht ausschließlich, als Vorlagen zur Vervielfältigung.
83 Später lässt Max Ernst nach Collagen oder Zeichnungen auch Strichätzungen herstellen, deren erhabene Partien er entsprechend ‚frottieren‘ kann. 84 Vgl. u. a. Max Ernst, Tête de corbeau (1961), Kreide (Frottage mit Weißhöhung)/Papier, 39 x 31,8 cm (Blatt); Ders., Ohne Titel zu: Jacques Préverts Buch Les Chiens ont soif (1964), Kreide (Frottage mit farbigen Punkten)/Papier, 43,5 x 31 cm (Blatt).
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Kinematische Elemente der Frottagetechnik Die Annahme, dass Ernst die Technik der Frottage nutzte, um gezielt die Überwindung der „Schnittflächen“85 zwischen persönlicher Intuition und sogenannter reeller Welt seitens des Betrachters abtasten zu lassen, wird auch durch sein weiteres halbautomatisches Prinzip, die Grattage, nachvollziehbar: Auf die Leinwand werden mehrere Farbschichten übereinander aufgetragen, anschließend legt der Künstler willkürlich Gegenstände hinter die Leinwand und schabt sodann die herausgedrückten Partien mehr oder minder stark ab, sodass tiefer liegende Farbschichten an den durch Druck erhöhten Partien zum Vorschein kommen; außerdem bearbeitet Ernst auf traditionelle Weise mit dem Pinsel die auf der Leinwand gewonnenen Strukturen stets nach; er bezieht sie in ein Konzept ein, bei dem der Künstler mit seiner „bewaffneten Hand“86 (hier mit Pinsel) bewusst Metamorphosen entstehen lässt, die aus Gegenständlichkeit und Abstraktion bestehen. Der Betrachter kann die Grattage- bzw. Frottageflächen dadurch nicht mehr auf ihre ursprünglichen Funktionsweisen zurückführen, sie sind Teil einer neuen Form und Identität geworden. Es ist auffallend, dass seine Bleistiftzeichnungen aus der Mappenserie Histoire naturelle vielfach Pflanzenblätter als (Ausgangs-)Motive zeigen. Des Weiteren können in den Strukturenmosaiken ‚Identitäten‘ wahrgenommen werden, die uns aus unserer Umgebung vertraut erscheinen, unter anderem Brot, Tiere, Augen oder Pflanzen. Auffällig ist, dass die abgebildeten Strukturenmosaike durch die von Ernst montierten Frottageflächen samt nachträglich hinzugefügten Linien ein ‚figuratives‘ Motiv (im Sinne einer bestimmten Identität eines Gegenstandes) erhalten haben. Die mittels Durchreiben zufällig entstandenen Strukturenmosaike werden demnach von Ernst in ein bestimmtes figuratives Konzept eingebunden. So führt seine Art des Verbindens nicht nur zu neuen Gesamtgefügen, seine nachträglich hinzugefügten Linien und Zeichnungen ermöglichen zudem die Konkretisierung von Gegenständen und erzeugen zusätzlich poetische Spannung. Durch das Verfahren des Durchreibens werden die Gegenstände also zuerst abstrahiert, durch die Montage verwandeln sie sich in etwas Neues. Bemerkenswert ist nun, dass diese Werke – eben durch das Verfahren – erneut filmische Bewegung suggerieren, indem diese Metamorphose in den Bereich der Manipulation bzw. Desorientierung gehört. Wie schon bei seinen frühen Collagen gelingt es Ernst mehr als Bewegung lediglich darzustellen oder ge-
85 Max Ernst zitiert nach: Roh, Franz: Max Ernst und der Surrealismus – sind sie noch aktuell?, a. a. O., S. 5. 86 Ebd.
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fundene Dinge einzusetzen, die Bewegung darstellen; vielmehr wird durch das Mittel des Verbindens Bewegung erzwungen: Sie wird in seinen Frottagezeichnungen durch das Verbinden von verschiedenen grotesken Frottageflächen sowie deren Kombination mit frei gemalten Partien erzeugt. In seinen frühen Collagen wurde hierfür das Über- und Nebeneinanderlegen von ungleichen Elementen gebraucht, die dann wiederum im Gesamtgefüge des Bildes verborgen wurden. Jeweils in beiden Methodiken erzeugt Ernst durch die vielfachen Schnittstellen Bildkollisionen. Anders als seine frühen Collagen, die eine eher statische Form von Sequenzen zeigen, die der fortlaufenden Bewegung des projizierten Films ähnelt, wenn dieser verlangsamt und schließlich angehalten würde, suggeriert seine Verfahrensweise bei den Frottagezeichnungen andererseits noch eine Bewegung, indem sich der Gegenstand selbst verwandelt. Dies beginnt bereits beim Durchreiben, wenn an sich statische Texturen (von Blättern, Holz u. a.) durch diese Abstrahierung eine Qualität erhalten, die wie lebendig zu vibrieren scheint und übergenau, wenn auch entfremdet, sichtbar ist. So gesehen erinnern die Frottagen – oder einzelne Frottagestellen – an die damals populär werdende Großaufnahme im Film, die meist ein Gesicht fokussiert, auf dem sich innere Bewegung und diverseste Gefühle spiegeln können. Breton stellte schon 1921 diejenigen Collagen von Ernst als bewundernswert heraus, in denen der Rahmen eines bestimmten Paradigmas als Bedeutung erhalten bleibt und das Motiv von innen heraus verändert wird. Hierin erkannte Breton einen ‚Schlüssel‘ zur Desorientierung, da sie für ihn unendliche Möglichkeiten bereithalte.87 Dies kann auch für die Frottagezeichnungen von Ernst gelten, wenn das einzelne Bild sich in eine neue Identität verwandelt, indem es fast unmerklich, mit beinah illusionistischen Tricks seine Form ändert. Die Metapher des Schnitts: Das geimpfte Brot (1926) Das geimpfte Brot (1926) ist ein Beispiel dafür, wie sich innerhalb seiner Form der Gegenstand fast unmerklich verwandelt (Abb. 9). Wir erkennen drei verschiedene Frottagestellen, die Ernst anhand von Durchreibeverfahren von Holzstrukturen auf Papier gewonnen hat. In der Art und Weise, wie Ernst diese qualitativ verschiedenen Stellen gegeneinander setzt und zusätzlich mit frei gemalten Linienführungen im Bild in ein Konzept einbindet, lassen uns die drei Strukturenmosaike im Bild folgende (neue) Identitäten imaginieren: Jenes im Hintergrund wird zur (Teppich-)Bodenfläche, das zweite Strukturenmosaik im Mittelteil wird zum (Holz-)Tisch und das dritte im Vordergrund wird (unter anderem)
87 Breton, André: Max Ernst, a. a. O., S. 78.
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zum angeschnittenen Brot. Allerdings mag diese Sichtweise an der Kombination von Boden und Tisch liegen, und die peinture automatique erzeugt Vieldeutigkeit. Man könnte in dem ‚Brot‘ also auch einen abgeschnittenen Finger, ein Stück Schinken oder vielleicht ein abgesägtes Aststück sehen. Ernsts Werk Das geimpfte Brot verdeutlicht damit den Schnitt als Denkfigur: Das halbautomatische Prinzip der Montage führt durch die entsprechende Montagetechnik zur Vieldeutigkeit, in der ein angeschnittenes Brot oder ein abgeschnittener Daumen erkannt wird. Dieses Bild hält daher nicht nur aufgrund des Titels Assoziationen mit einer Krankheit oder Wunde bereit. Spinnt man die Vieldeutigkeit, die stattgefundene Metamorphose (und die optische Illusion) von hier aus weiter, erzeugt der mehrfache Schnitt eine Metapher des Schnitts: Im angeschnittenen Endstück, sagen wir von „irgendwas“, kann eine phallusähnliche Form erkannt werden und schon erhält die Metapher des Schnitts durch die Metamorphose von Identitäten die Bedeutung der Kastration.88 Auch andere Titel aus Max Ernsts Mappenwerk weisen derart auf die Metapher des Schnitts hin, wie etwa Die Narben (1926); das führt zu weiteren Assoziationen mit der Haut, die aufgrund von Verletzungen bzw. Schnittwunden vernarbt sein kann. Bei genauem Hinsehen erkennt der Betrachter in der Mitte des Bildes einen ‚Faden‘ (oder eine Schlingpflanze), der sich zwischen ‚Bäumen‘ rankt (Abb. 10); er tut dies auf einer Frottagefläche, die optisch behaartem Hautgewebe ähnelt, und somit erhält der ‚Faden‘ die metaphorische Funktion, eine Wunde zu verschließen. Das Bemerkenswerte an Die Vogelscheuchen (1926) wiederum ist, dass der untere Teil der ‚Vogelscheuche‘, die die Pflanze vor Vögeln als möglichen Schädlingen schützen sollte, aus einer messerähnlichen Form besteht (Abb. 11). Schenkt man diesem Teil des Motivs mehr Beachtung, dann erhält man den Eindruck, als würde ein ‚Messer‘ in die Vogelscheuche hineinschneiden, sie also verletzen. Das Messer selbst besteht aus einer Mischung aus Schneideutensilien. Der vordere Teil erinnert an ein herkömmliches Buttermesser. Der untere Teil des Messers, der in den Griff übergeht, erinnert eher an eine
88 Sowohl Freud als auch Lacan haben sich mit der Kastrationsangst (Kastrationskomplex) auseinandergesetzt. Vgl. Freud, Sigmund: Die infantile Genitalorganisation [1923], in: Studienausgabe, 10 Bde., Band 5, Frankfurt am Main 1972, S. 235–241; Lacan, Jacques: Seminar VI: Die Objektbeziehungen [1956-1957], Wien 2003; Ders.: Über die Bedeutung des Phallus [1958], in: Schriften II, 3. Auflage, Berlin/Weinheim 1991, S. 121–132. In diesem Zusammenhang kann natürlich auch ein geflügeltes Wort zitiert werden, das Freud zugeschrieben wird (nicht belegt): „Manchmal ist eine Zigarre eine Zigarre.“ Vgl. http://www.freud-museum.at/de/sig mund-und-anna-freud/zitate.html (abgerufen am 24.05.2017).
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Gartenschere; das wird deutlich, wenn man das Bild um 90 Grad dreht. Indem die Vogelscheuche in diesem Bild allem Anschein nach selbst verletzt wird, führen die Symbole für Messer bzw. Schneideutensilien zu Assoziationen mit einer Wunde bzw. zur Metapher des (wortwörtlichen) Schnitts. Im neunten Blatt des Mappenwerks lässt Ernst durch die Montage von zwei deutlich unabhängig voneinander entstandenen Frottagezeichnungen das Motiv eines Rasierpinsels entstehen (Abb. 12), das er Die Vertraulichkeiten (1926) nennt. Solch eine auf den ersten Blick logisch erscheinende Betitelung ist allerdings für den Surrealismus eher untypisch. Die seltsame Stimmung im Bild erzeugt Ernst aber hier vor allem durch eine Leerstelle: Das unweigerlich zum Pinsel gehörige Messer, das in dieser Zeit zum Rasieren benutzt wurde, wird nicht gezeigt, sondern erscheint nur in unserer Vorstellung; dies führt zu weiteren Assoziationen mit dem „Kastrationsschreck“89. Max Ernsts Gestaltungsmittel der Montage führen auch hier zur Metapher des Schnitts. Überwindung von Schnittflächen in der Kippfigur: Eva, die einzige, die uns bleibt (1926) In Eva, die einzige, die uns bleibt lässt Ernst durch folgendes Vexierbild Vieldeutigkeiten entstehen: Wir erkennen einen Hinterkopf mit kinnlangen Haaren, Hals, Nacken und die dazugehörigen Schultern; bzw. führt das spezifische Verbinden von Frottagestellen mit den frei gemalten Partien im Bild dazu, dass wir eben die genannten Motive erkennen (Abb. 13). So bekommt das Strukturenmosaik, das sich im Zentrum des Bildes befindet und durch das Durchreiben von Holzmaserung entstanden ist, eine haarähnliche Struktur und wird durch die Linienführung von Ernst zu einem Hinterkopf samt langem Hals, Nacken und Schultern. Die von Ernst dunkel gezeichnete Stelle auf dem ebenfalls durch Durchreiben von Holz erzeugten Strukturenmosaik, rechts im Bild, wird zum ‚Schatten‘ des Hinterkopfes und zwar nicht nur aufgrund seiner Position, sondern zusätzlich, weil die Form des ‚Schattens‘ die Form des vermeintlichen Hinterkopfes spiegelt. Hier liegt also eine ebenso zufällige wie gezielte, eine formale
89 Vgl. Freud, Sigmund: Fetischismus, in: Ders.: Essays. Auswahl 1920-1937, 3 Bde., Band 3, hrsg. von Dietrich Simon, Frankfurt am Main 1988, S. 231-237, S. 234. Die Kastrationstheorie geht auf Sigmund Freud zurück. Hintergrund der Kastrationsangst ist der Glaube des (männlichen) Kindes beim Anblick des weiblichen Genitales, es sei durch den Vater kastriert worden. Dieser „Kastrationsschreck“ werde dabei durch die Schöpfung eines Fetisches abgewehrt.
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und zugleich gegenständliche Vieldeutigkeit vor, die landschaftliche, kosmische sowie anthropomorphe Assoziationen hervorruft. Das Hauptmotiv des Bildes kann vor allem aufgrund des Titels als ein weiblicher Hinterkopf gedeutet werden. Der Titel Eva, die einzige, die uns bleibt lässt zudem vermuten, dass das Sujet des Bildes von der Geschichte des Paradieses handelt. Kippt man das Bild, verändert sich das Sujet tatsächlich gravierend. Besonders, da die frei gemalten Partien im Bild dann über sexualisierte Formgebungen verfügen. Aus dieser Perspektive betrachtet, scheint das Bild ein (an der Spitze schamhaft bedecktes) erigiertes männliches Glied darzustellen; und unter besonderer Berücksichtigung des Titels verwandelt sich somit das Sujet des Bildes in jenen Teil der Bibelgeschichte, der zum Rauswurf aus dem Paradies führte: menschliche Triebe. Tragen wir nun alle Fakten zusammen, kann Folgendes festgehalten werden: Wir erkennen aus der Normalperspektive den Hinterkopf einer Frau und aus der um 90 Grad gekippten Perspektive ein männliches Glied. Die Gegenstände erhalten ihre Identitäten, indem Ernst Bildkollisionen zulässt. Er verbindet bestimmte Frottagestellen sowie frei gemalte Partien. Des Weiteren kollidiert die Geschichte der ‚Entstehung der Welt‘, die Adam und Eva als ihre ersten Bewohner nennt, mit der (allzumenschlichen) Naturgeschichte. Welche Interpretation von Eva, die einzige, die uns bleibt der Betrachter annimmt, lässt sich nicht bestimmen. Das Vexierbild öffnet sich je nach Blickwinkel für vielfältige Interpretationen und überwindet bzw. relativiert die semantischen Schnittflächen dadurch. Die Schnitte bzw. Übergänge zwischen den verschiedenen Zeichentechniken bleiben durch das genaue Lichtdruckverfahren allerdings sichtbar, was zusätzlich zur Spannung innerhalb der Bildebenen beiträgt. Ähnlich verfährt ein anderes Bild der Mappe. In Blitze unter 14 Jahren (1926) erkennt der Betrachter einmal im oberen Teil des abgebildeten Gegenstandes etwas Spritzenförmiges. Dabei wirken die Linien im unteren Teil wie Nadeln. Diese scheinen in einen ‚Boden‘ hineinzustechen, der eine netzartige Struktur aufweist und Hautgewebe ähnelt, wenn dieses durch die Mikroskopie zur besseren Beurteilung in der Medizin extrem vergrößert wird (Abb. 14). Diese gewebeähnlichen Böden kommen bei Ernst häufiger vor, wie etwa in Er wird weit von hier fallen (1926) oder Herein in die Kontinente (1926). Was nun zuerst an den medizinischen Akt einer Impfung gemahnt, ändert seine Erscheinung mit der Perspektive. Dreht man Blitze unter 14 Jahren um 180 Grad, dann erhält der Betrachter den Eindruck, einer Libelle oder einem ähnlichen Insekt bei der Nahrungsaufnahme zuzusehen. Es scheint, als verweise Ernst gleich am Anfang seines Mappenwerks auf sein Interesse für Vieldeutigkeiten: Bereits das fünfte Blatt zeigt die besondere Möglichkeit, die der Montage zuteil wird, und wie sich durch Bildkollisionen und Schnittflächen der Weg zu Vieldeutigkeiten bzw. Un-
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bewusstem auftut. Hier scheint nicht der Titel, Das Erdbeben (1926), ausschlaggebend für die Erschütterung im Bild zu sein, sondern die formale Schnittstelle der kosmisch anmutenden Platten führt zu einem tiefen Loch, einem Graben (Abb. 15), in dem man – wenn man sich hinabzusteigen wagt – zu inneren Vorstellungen gelangt. Lässt man einen Vergleich mit der Verdichtungsarbeit der Traumdeutung von Sigmund Freud zu, so können dieselben Bilder zu verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten führen. Laut Freud unterschätzt man in der Regel das Maß der stattgefundenen Kompression, indem man die ans Licht gebrachten Traumgedanken für das vollständige Material hält, während weitere Deutungsarbeit neue, hinter dem Traum versteckte Gedanken enthüllen kann. Es muss davon ausgegangen werden, dass man eigentlich niemals sicher ist, einen Traum bzw. die Bilder in einem Traum, vollständig gedeutet zu haben; selbst wenn die Auflösung befriedigend und lückenlos erscheint, bleibt es doch immer möglich, dass sich noch ein anderer Sinn durch denselben Traum kundgibt.90 Genau dies darf auch für die Frottagen von Max Ernst gelten. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass die Werke der Histoire naturelle als litografischer Druck in Höhe und Breite um einen Zentimeter vergrößert und statt mit römischen Zahlen mit arabischen nummeriert wurden, um Verwechslungen mit der Originalausgabe auszuschließen. Dies lässt die Werke als technische Reproduktionen deutlich werden – diesmal als Verweis auf ihre gegenständliche Vieldeutigkeit.
3. ÜBER DAS OBJEKTIVE UND SUBJEKTIVE IN MAX ERNSTS MONTAGEVERFAHREN Max Ernsts Position gegenüber dem Künstler und seiner Autorenschaft wurde bereits in Kapitel IV angesprochen, nämlich inwiefern Ernst auf einer „rein passiven Rolle“91 des Künstlers beharrte. Nur als Zuschauer könne er der Entstehung des einzelnen Werkes beiwohnen und seine Entwicklungsphasen mit Gleichgültigkeit oder Leidenschaft verfolgen. Diese Entzauberung des „Märchens vom Schöpfertum des Künstlers“92 ging einher mit der Entdeckung des Unbewussten und mit der Methode der écriture automatique. In der Kunst wurden aber schon seit Jahrhundertbeginn die geheimen ‚Bestimmer‘ geortet, die
90 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung [1900], Nachdruck der 7. Aufl., Bremen 2012, S. 332. 91 Ernst, Max: Was ist Surrealismus?, a. a. O., S. 25. 92 Ebd.
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unfreiwilligen Antriebe und „inneren Notwendigkeiten“,93 wie Wassily Kandinsky die geistige Kraft des Objektiven in der Kunst umschreibt. Das Prinzip der „inneren Notwendigkeit“, das Unbewusste wahrzunehmen, war für ihn dem „inneren Blick des Künstlers“ vorbehalten.94 Ein Blick, der durch die äußere Form zum Inneren der Dinge hindurch reicht. Oder um es mit Kandinskys Worten aus seinem Werk Über das Geistige in der Kunst (1911/12) auszudrücken: Das Objektive in der Kunst sucht sich heute mit einer besonders starken Spannung zu offenbaren. Es werden also die zeitlichen Formen gelockert, damit das Objektive klarer zum Ausdruck kommen kann. Die naturellen Formen [in der Malerei] stellen Grenzen, die in vielen Fällen diesem Ausdruck im Wege liegen. So werden sie zur Seite geschoben und die freie Stelle wird für das Objektive der Form gebraucht – Konstruktion zum Zweck der Komposition.95
Kandinsky beschreibt damit den Drang der Avantgardisten des 20. Jahrhunderts, die konstruktiven (noch nicht belasteten künstlerischen) Formen und Ausdrucksmöglichkeiten der Epoche zu entdecken. Während sich etwa der Kubismus in diesem Sinne extrem der Konstruktion und der Form zuwandte, versuchte der Surrealismus, über das Unbewusste zu objektiven Bildern zu gelangen. Das Eintreten von Bildern sollte dabei indirekt bzw. durch den ‚objektiven‘ Zufall erreicht werden und zwar vermittelt durch Medien, die schöpferisch sein sollten. Für Breton und die surrealistische Bewegung ging es aber nicht um das ‚Objektive‘ wie in der traditionellen Erzählform (vgl. die Begriffe „Realismus“ oder „Mimesis“), sondern vielmehr um AntiRealismus. Dies zeigt sich, wenn Breton von der „fast absoluten Subjektivität“96 schreibt, als Ernst durch seine frühen Collagen die allgemeine Wahrnehmung eines Gegenstands ins Wanken bringt – um wiederum auf den Betrachter mit fast absoluter Subjektivität zu wirken. Es liegt daher nahe, auch Ernsts Frottageverfahren als Konstruktion wahrzunehmen, die dem ‚Objektiven‘ in der Form Ausdruck verleihen sollte. Für viele Surrealisten offenbarte sich auf dem Gebiet der künstlerischen Montagemethodik der Geist der Zeit: Sie ermöglichte es, eine
93 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst [1911/12], 2. Aufl., Bern 2006, S. 124. 94 Ebd. 95 Ebd., S. 133. 96 Breton, André: Merkmale der Entwicklung der Moderne und von allem, was an ihr teilhat [Caractères de l’évolution moderne et ce qui en participe, 1922], in: Ders.: Die verlorenen Schritte, a. a. O., S. 137-159, S. 148.
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nicht klar daliegende, sondern eine versteckte Konstruktion zu sein und damit weniger für das Auge (bzw. das erste, direkte Abbild auf der Netzhaut) als für die Vorstellung(-sbilder) bestimmt zu sein. Diese Art versteckte Konstruktion konnte dabei, wie auch schon für Kandinsky, aus scheinbar zufällig auf die Leinwand geworfenen Formen bestehen, die wieder scheinbar in keinem Zusammenhang zueinander stehen. Und so stellt bereits Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst fest, dass die äußere Abwesenheit dieses Zusammenhanges zugleich seine innere Anwesenheit sei.97 Das äußerlich Gelockerte ist also das innerlich Zusammengeschmolzene. Und dies ist für Kandinsky zum einen eine innere Stimme, aber zum anderen auch ein verborgenes Gesetz, das die „glücklich gestimmte Hand“ (des Künstlers) wirken lasse.98 Max Ernst nennt dies – in einer fast dialektisch anmutenden Konstellation – „poetische Objektivität“: Da jeder „normale“ Mensch [...] bekanntlich im Unterbewußtsein einen unerschöpflichen Vorrat an vergrabenen Bildern trägt, ist es Sache des Muts oder befreiender Verfahren [...] von den Entdeckungsfahrten ins Unbewußte, unverfälschte (durch keine Kontrolle verfärbte) Fundgegenstände [...] ans Tageslicht zu fördern, deren Verkettung man als irrationale Erkenntnis oder poetische Objektivität bezeichnen kann.99
Dieses Zitat findet seine offensichtliche bildnerische Umsetzung unter anderem in dem zuvor erwähnten Werk Das Erdbeben. Das formale Verbinden der Frottagestellen, die die Schnittstelle der zwei Platten bilden, zeigt eine ‚Form‘ insofern erschüttert, als dass sie sie zum Einstürzen bringt. Wenn man so will eine Einladung zur Innenschau, zu „Entdeckungsfahrten ins Unbewusste“. Max Ernsts Verfahrensweise seiner Frottagezeichnungen führt so vom objektiven Zufall (den „Entdeckungsfahrten“) über die „poetische Objektivität“ (der Montage bzw. „Verkettung“) zur „fast absoluten Subjektivität“ (Breton), indem sie für den Betrachter Vieldeutigkeit erzeugt. Zudem generiert seine dem halbautomatischen Prinzip der Montage entsprechende Technik Metamorphosen von Gegenständen, die dem kulturellen Kontext der optischen Illusionen und Manipulationen zugehörig sind. Das bedeutet, dass Ernsts Vexierbilder filmische Effekte suggerieren, die großteils durch Gesetze des Verbindens komponiert wurden. Die vermeintlich zufällig zueinander stehenden Formen (Frottagestellen) haben im Grunde genommen eine große und präzise Beziehung zueinander. Die Größe
97 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst, a. a. O., S. 133. 98 Ebd., S. 132. 99 Ernst, Max: Was ist Surrealismus?, a. a. O., S. 25; das vollständige Zitat steht in Kapitel IV, Abschnitt 2.
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der Stellen, ihre Form, ihre Menge usw. konstituieren im Voraus eine Komposition und setzen damit einer formalen Unendlichkeit durch vorhergehende Wahl eine Grenze. Zusammenfassend kann behauptet werden, dass Max Ernst ein bestimmtes Maß an Unordnung, wenn man die über Montage verbundenen Elemente so bezeichnen möchte, der Erweiterung des ästhetischen Sehens zuführte. Dennoch muss Ernsts eigene Aussage aus seiner Schrift Au-delà de la peinture (1936) – nämlich dass die Frottage als das Äquivalent dessen gesehen werden muss, was bereits unter der Bezeichnung écriture automatique bekannt war100 – differenziert betrachtet werden. Vor allem, da Ernst darin auch die prinzipielle theoretische Einheit von Collage und Frottage feststellt.101 Die Frottage stellt vielmehr die Konsequenz seiner früheren Collageverfahren dar und dient ihm als Übergang zu amorpheren Darstellungen. Die Frottage tritt an die Stelle der Collage zu einer Zeit, als die Malerei für Ernst freier und formoffener wird. Dennoch bleibt in seinen Frottagezeichnungen, wie schon bei seinen frühen Collagen, der überwachte technische Charakter erhalten und äußert sich in der von seinen Collagen übernommenen, aktiven Regulierung des Bildaufbaus, die zu den neuen ‚Identitäten‘ der aufgefundenen Ausgangsstrukturen ursächlich beiträgt. Das Verfahren der Collage bleibt ein übergreifendes Arbeitsprinzip, das mit den strukturellen Möglichkeiten eines mobilen, jeweils neu zusammensetzbaren Materials rechnet. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass neben dieser offensichtlichen technischen Verwandtschaft auch eine ideologische besteht: Sowohl die Welt der Collage als auch die der Frottage ist, wie gesagt, eine zusammengesetzte, in der unterschiedliche, an sich nicht zusammengehörende Elemente aufeinanderstoßen können. Das bedeutet konsequent weitergedacht, dass es sich in beiden Fällen nicht um eine imaginierte oder fantastische Kunst handelt. Ikonografisch bestehen zwar teilweise solche Bezüge, allerdings bleiben sie äußerlich und betreffen dabei nicht die eigentliche Wirkung etwa der Blätter der Histoire naturelle. In diesen wird nämlich mit neuen indirekten und teilweise dem Zeichnerischen fremden Mitteln eine geistige Welt zusammengesetzt, die immer wieder die Metapher des Schnitts aufweist. Die Strukturenmosaike sind dabei Entwurfsmuster, die dazu dienen, über diverse Denkfiguren des Schnitts eine visionäre Welt zusammenzusetzen, doch sie bewahren dabei eine Eigenständigkeit, indem sie innerhalb der Darstellung als ein dem Resultat nicht anhängender Eigensinn spürbar bleiben.
100 Ernst, Max: Beyond Painting, a. a. O., S. 15. 101 Ebd.
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Die erwähnten Beispiele aus dem Mappenwerk Histoire naturelle haben gezeigt, dass die klare Konturierung der Formen in diesen Bildern an die Verwendung von Material gebunden blieb, das vorher ‚real‘ zu den Collagen herangezogen worden war. Dieses spezifische Collagematerial wurde jetzt durch Struktur schlechthin ersetzt. Das heißt, dass an die Stelle von reproduziertem Material jetzt ein Ausgangsmaterial tritt, das (kultur-)historisch betrachtet dem Anschein nach gar keinen eigenen Ausdruck mehr besitzt. Dabei sind die Texturen, die Ernst unter das Zeichenblatt legt, aber nicht nur offene oder geschichtslose, weil Ernst eine vordergründig ‚natürliche‘ bzw. botanische Formenwelt einer ‚kulturellen‘ entgegensetzt. Die (nicht menschliche) Natur derart detailliert abzubilden, war in der Malerei schlicht Neuland. Auch die filmischen Effekte, die in Ernsts Collagen sowie Frottagen ausgemacht werden konnten – hier sei der Begriff der Großaufnahme nochmals erwähnt –, stellen innerhalb des Mediums der Malerei als bildnerisches Ausdrucksmittel eine ästhetische Neuerung dar. Damals wandte sich allenfalls vereinzelt die Fotografie oder der Kulturfilm102 der Großaufnahme von Naturformen zu. Indem Ernst Naturformen bzw. Alltagsgegenstände in solch einen ästhetischen Kontext bringt, können seine Frottagen mit der filmtheoretischen Idee des Blicks in den Spiegel bzw. durchscheinenden Spiegel und damit auch in das Gesicht (als grundlegende Seinsform im Kino) in Verbindung gebracht werden.103 Franz Roh weist auf das Interesse hin, das die Pflanzenwelt nach Erscheinen der Histoire naturelle hervorrief.104 So folgen daraufhin etwa die Groß- und Nahaufnahmen durch Karl Blossfeldt, dessen Fotos 1928 im Katalog der Galerie Nierendorf unter dem vielsagenden Titel Urformen der Kunst erschienen wa-
102 Vgl. etwa Das Blumenwunder (D 1926), Regie: Max Reichmann; der deutsche Stummfilm, der in den Jahren 1922 bis 1925 entstand, hat damals für Aufsehen gesorgt. Er besteht hauptsächlich aus Zeitrafferaufnahmen von Pflanzen, die wachsen. Das Filmmaterial sollte ursprünglich für Werbezwecke verwendet werden, wurde schließlich aber als Kulturfilm aufbereitet und mit Tanzeinlagen von Solisten der Berliner Staatsoper ergänzt. 103 Vgl. hierzu die Begegnung Bretons mit den Collagen Max Ernsts (1921), die von Berton als eine Selbstbestätigung empfunden wurde bzw. als eine Bestätigung seiner eigenen Suche nach dem sogenannten poetischen Bild, das, wie die Collagen, auf „eine tatsächliche Photographie des Denkens“ zurückgreife und die Bilder verbinde. Breton, André: Max Ernst, a. a. O., S. 77-79, S. 77. 104 Blossfeldt, Karl: Alphabet der Pflanzen, hrsg. von Ann und Jürgen Wilde, München 2007, S. 6.
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ren.105 Walter Benjamin entwickelte in dem Aufsatz Kleine Geschichte der Photographie (1931) schließlich anhand dieser Fotos den Begriff des „OptischUnbewussten“, das nur eine Kamera zeigen könne.106 Auf Ernst bezogen, dessen Absicht es war, Wahrnehmungsgrenzen zu erweitern sowie durch die Frottage Ungeschautes der Kunst zuzuführen, erscheint er ebenso treffend. Die neu gewonnenen Strukturenmosaike werden zu Darstellungen einer Naturgeschichte herangezogen, die einen historisch erlebbaren Ablauf ablehnt. Dabei beschränkt sich Ernst weitgehend auf Strukturen wie Holzmaserung oder Blätter, die eine Offenheit natürlicher Formen darstellen und an die Stelle treten, die zuvor das reproduzierte, historisch bereits etablierte und vorcodierte Material auszeichnete.107 Dies schafft für die Frottagen eine Offenheit, eine Art Unschuld des Materials, die Ernst nutzen konnte, um damit Unbewusstes zu transportieren bzw. zu evozieren. In einer für sich betrachtet jeweils fremden, nicht deutbaren Darstellung trat auch das Wissen um die Wiederverwendung von einzelnen Motiven als objektivierende Tatsache auf. Das heißt, dass Ernst zudem mit der Verwendung und Wiederverwendung von Zeichen (Formenvokabular) spielte. Aufgrund dieser Gesetzmäßigkeiten kann der im Surrealismus angestrebte ‚objektive‘ Zufall bei Ernst abschließend als kalkulierter bezeichnet werden.
105 Ebd., S. 12-13. 106 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a. a. O., S. 41. 107 Hierin wird der Unterschied etwa zu Max Klingers historischem Zugriff auf traditionelle Bildgegenstände, Stile, Techniken sowie Formen bildlicher Präsentationen für seine Montagen deutlich. Klinger fügt keine Fragmente der außerkünstlerischen Alltagswelt in seine Werke ein, sondern im Gegenteil kombiniert er künstlerisch vorgeprägte Motive und Strukturen miteinander. Für Christian Drude beruht die Modernität des grafischen Werks von Klinger auf einem Verfahren der Selektion und Kombinatorik künstlerisch vorcodierten Materials, das im Historismus des 19. Jahrhunderts seine Wurzeln hat, jedoch teilweise auch für die künstlerische Montage des 20. Jahrhunderts kennzeichnend sei. Vgl. Drude, Christian: Historismus als Montage. Kombinationsverfahren im graphischen Werk Max Klingers, Mainz 2005, S. 2, siehe auch: S. 179.
VIII. Der erfinderische Blick Man Rays Entdeckung effektreicher Bewegung und Belichtung in der Dunkelkammer
In seinem Essay Auftritt des Mediums (Entrée des médiums, 1922) äußert André Breton in Bezug auf die Bestimmung des Surrealismus ein Interesse für Traumberichte, da er durch sie auch eine Möglichkeit sieht, den Surrealismus in das Gebiet der bewussten Dinge einzuführen, das heißt das Verborgene an der Realität sichtbar zu machen.1 Seine bereits erprobten Methoden, wie die Geschwindigkeit bei der écriture automatique oder die Abwesenheit jedweder kritischen Distanz (zum Beispiel durch das cadavre exquis-Spiel), lieferten Breton noch nicht das gewünschte Ergebnis, eine „fast absolute Subjektivität“2 zu erreichen, wie er sie etwa in der Begegnung mit Max Ernsts Werken erfahren hatte. Er äußert sich unzufrieden über das gemeinsam mit Philippe Soupault entstandene Werk Les Champs magnétiques, das zu unterschiedlichen Wirkungen geführt habe, die der Wechsel der Geschwindigkeit während der einzelnen Passagen hervorrief.3 Wie der Titel Auftritt des Mediums bereits erahnen lässt, geht es Breton hier um ein neues Medium, von dem er sich erhoffte, letztendlich an Bilder zu gelangen, die – ähnlich wie Traumberichte, die durch den psychischen Automatismus erreicht werden – eine Überwindung von Realität und Unbewusstem ermöglichen. Das Medium, um das es sich handelt, ist eine ‚spiritistische‘ Initia-
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Breton, André: Auftritt des Mediums [Entrée des médiums, 1922], in: Die verlorenen Schritte [Les Pas perdus, 1924], aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock, Berlin 1989, S. 113-120, S. 116.
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Breton, André: Merkmale der Entwicklung der Moderne und von allem, was an ihr teilhat [Caractéres de l’évolution moderne et ce qui en participe, 1922], in: Die verlorenen Schritte, a. a. O., S. 137-159, S. 148.
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Breton, André: Auftritt des Mediums, a. a. O., S. 115.
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tion, die René Crevel aus seinen Ferien mitbrachte.4 Crevel führte seinen Freunden vor, wie man bei Einhaltung gewisser Bedingungen – wie Dunkelheit, Schweigen im Zimmer sowie um einen Tisch herum eine Kette bilden, indem sich alle an den Händen halten – auf Anhieb ‚einschlafen‘ und Worte hervorstoßen kann, die einen mehr oder weniger kohärenten Sinn ergeben, einen Redefluss, der erst zum vereinbarten Zeitpunkt des Übergangs in den Wachzustand versiege. Breton stellt jedoch für sich fest, dass er nicht einen Augenblick lang in den tranceartigen Schlaf fallen und so in den spiritistischen Zustand gelangen konnte.5 Angesichts dieser Skepsis lässt sich Bretons kurz zuvor erschienener Essay Max Ernst, der im vorigen Kapitel eingehend besprochen wurde, nochmals programmatischer lesen: als Art Aufforderung, jenen methodischen Techniken des Surrealismus zu vertrauen, die er darin bereits ankündigt. So heißt es etwa einleitend: „Die Erfindung der Photographie hat den alten Ausdrucksweisen einen tödlichen Schlag versetzt, in der Malerei ebenso wie in der Poesie, wo das automatische Schreiben, das Ende des 19. Jahrhunderts in Erscheinung trat, eine tatsächliche Photographie des Denkens ist.“6 Das automatische Schreiben als „Photographie des Denkens“ zu bezeichnen, zeugt von einer grundlegenden Affinität zum modernen Medium. Hierin wird deutlich, inwiefern Breton jeweils beiden Techniken zusprach, verborgene Dinge zum Vorschein bringen zu können, Dinge, die nicht offenbar oder sichtbar sind. Kurze Zeit später hielt Breton einen Vortrag über die Merkmale der Entwicklung der Moderne und von allem, was an ihr teilhat7 (1922) im Kulturzentrum Ateneo in Barcelona. Hierin reflektiert er, wie Max Ernst über die durch die Fotografie entstandenen neuen Bedingungen für die bildenden Künste ebenso ausführliche, wenngleich ganz andere Kommentare abgebe wie Man Ray durch seine Fotografie.8 Man Ray folgt für Breton Ernsts Weg, indem Ray sich durch das moderne und für ihn enthüllende Instrument par excellence – den Fotoapparat – aus-
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Ebd., S. 117.
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Ebd., S. 116.
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Breton, André: Max Ernst [frz. 1921], in: Die verlorenen Schritte, a. a. O., S. 77-79, S. 77; vgl. dazu ausführlicher Fußnote 104 in Kapitel VII.
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Breton, André: Merkmale der Entwicklung der Moderne und von allem, was an ihr
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Schon anhand von Max Ernsts Werken, in denen er optischen Illusionismus und ki-
teilhat, a. a. O., S. 148. nematische Effekte ausmacht, hat Breton beschrieben, dass sich die neuen Medien Fotografie und Film mehr als nur zum Abbilden bzw. zum Dokumentieren eignen.
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drückt. Für Breton bleibt das Geheimnis des fotografischen Abzugs unberührt, weil die künstlerische Interpretation gerade hier auf ein Minimum reduziert werde. Dies gilt auch, wenn der Fotokünstler – durch ein eigenes Verfahren, mit dem er Gegenstände auf einer Fläche abbildet, – ein analoges Ergebnis auf lichtempfindlichem Papier erhält. Hier scheint sich für Breton eine Perspektive in der Kunst zu zeigen, die wesentlich mehr Überraschungen bietet als die Malerei. „Überraschungen in der Kunst“,9 wie sie nach dem Geschmack des Surrealismus und André Bretons sind. Für ihn verdeutlicht folgende Anekdote den Grad der Neuigkeit, den auch die Unternehmungen Man Rays aufweisen: Ich denke an Marcel Duchamp, wie er seine Freunde holte, um ihnen einen leeren Käfig ohne Vogel zu zeigen, der, wie es schien, zur Hälfte mit Zuckerstückchen aufgefüllt wurde. Er bat sie, den Käfig anzuheben, und sie stellten ganz erstaunt fest, daß er sehr schwer war. Was sie für Zuckerstücke hielten, waren in Wirklichkeit kleine Stücke Marmor, die Duchamp, [...] auf diese Ausmaße zurechtgesägt hatte.10
Man Ray und das Ende des Dadaismus Den Surrealismus bereits ‚entwerfend‘, hatte Breton im selben Jahr in seinem Essay Klar und deutlich (Clairement, 1922) behauptet, dass der Dadaismus keinem anderen Zweck gedient haben könne, als „uns in diesen Zustand vollkommener Offenheit zu versetzen, in dem wir uns befinden, und aus dem heraus wir uns jetzt mit aller Klarheit dorthin aufmachen, wo man uns verlangt“.11 Dada hatte als vollständig gegen die Außenwelt gerichtete Kraft für Breton die Daseinsberechtigung verloren, weil sich die Bewegung unfähig zeigte, die Ausmaße des Konflikts12 zu modifizieren. Im Zuge der Vorbereitung für den Congrès de Paris zum Thema „Der moderne Geist“ im Jahr 1922 kam es zum Eklat mit Tristan Tzara, dem Mitbegründer des Dadaismus.13 Der Kongress, der von Breton entworfen worden war, um den verschiedenen Formen der modernen Kunst eine Richtung zu geben, sollte unter Polizeischutz stattfinden und parlamentari-
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Breton, André: Merkmale der Entwicklung der Moderne und von allem, was an ihr teilhat, a. a. O., S. 148.
10 Ebd., S. 149. 11 Breton, André: Klar und deutlich [Clairement, 1922], in: Die verlorenen Schritte, a. a. O., S. 101-103, S. 103. 12 Hier sind vor allem künstlerische Konfliktfelder gemeint. 13 Breton, André: Merkmale der Entwicklung der Moderne und von allem, was an ihr teilhat, a. a. O., S. 141.
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schen Richtlinien folgen. Dies war aus Tzaras Sicht eine untragbare quasibourgeoise Wende der Ereignisse, und er lehnte die Teilnahme ab. Dieser Disput führte zu der bekannten Äußerung Bretons: Man hat gesagt, daß ich Freunde wechsle, wie andere Leute Unterhosen. Gönnen sie mir diesen Luxus, aus reiner Barmherzigkeit, denn ich kann nicht ewig dieselben tragen; wenn sie mir nicht mehr ganz sauber sind, überlasse ich sie meinen Domestiken.14
Doch es gab auch noch ein Nachspiel, das das Ende des Dadaismus und die Geburt des Surrealismus endgültig markierte und bei dem Man Ray keine unwesentliche Rolle spielte: Am 6. Juli 1923 sollte Tzaras Schauspiel Le Coeur à gaz (1921) im Théatre Michel im Rahmen der Soireé du coeur à barbe vorgeführt werden, als Tzaras frühere Freunde (Breton, Aragon, Desnos, Péret, Éluard) kamen, um das Stück zu sabotieren. Breton sprang beispielsweise auf die Bühne und begann, die Schauspieler anzugreifen, die sich nicht wehren konnten, da sie fest in Kartons eingepackt waren, Kostümentwürfe von Sonia Delaunay.15 Man Ray wurde an diesem Abend mit seinem Dreiminutenfilm Le Retour à la raison (F 1923), der Teil der Soireé war, zu einem mehr oder weniger freiwilligen Kollaborateur der Sabotage. Rays Experimentalfilm ist ein Versuch, gegenständliche Darstellungen gegen Abstraktionen zu setzen, wobei diese Abstraktionen Weiterführungen seiner Rayografien sind. Dazu wurden etwa Reißzwecken, Nadeln, Salz und andere Gegenstände direkt auf den Filmstreifen gelegt, belichtet und dann entwickelt.16 Der Film riss (aufgrund der schlecht verbundenen Klebestellen) zweimal im Laufe der Vorführung und war an dem Abend nie zusammenhängend zu sehen. Man Ray vermutete, dass die (endgültig in Aufstand geratenden) Zuschauer die Bedeutung von Le Retour à la raison dadurch verpasst hätten – und zugleich dazu verführt wurden zu glauben, dass viel mehr an dem Film sei.17 Hierin spiegelt sich nicht bloß ein Abend nach Dada-Manier, sondern auch Bretons Anspruch wider, die surréalité in das Gebiet der bewussten Dinge ein-
14 Breton, André: Geben Sie alles auf [Lâchez tout, 1922], in: Die verlorenen Schritte, a. a. O., S. 97-99, S. 98. 15 Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, 12. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2009, S. 87; Polizzotti, Mark: Revolution des Geistes. Das Leben André Bretons, Wien/München 1996, S. 279-280. 16 Vgl. http://www.medienkunstnetz.de/werke/retour-a-la-raison/ (abgerufen am 15.05. 2017). 17 Ray, Man: Self Portrait [1963], New York 1988, S. 212.
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zuführen. Der Experimentalfilm irritiert den Zuschauer mit einem Gewirr von Lichtbrechungen und unbekannten Formen, die einander wie in einem schnell rotierenden Kaleidoskop jagen; dazwischen flackern Karusselllichter, ein nackter Frauentorso (jener von Kiki de Montparnasse) mit Schattenstreifen, und das Räderwerk einer Uhr mit dem Schild „Dancer!“ Wie in Man Rays anfänglichen Rayografien, die der Künstler bereits 1921 entwickelte, unterstrich er die Materialität des Films zudem dadurch, dass er teilweise direkt auf dem Material schrieb, wobei das Geschriebene nicht mehr zu lesen war, wenn der Film im Anschluss projiziert wurde.18 Fotogramm – Die Erfindung der kameralosen Fotografie Die vom Künstler selbst so bezeichnete „Rayographie“ (auch Rayogramm genannt) geht auf eine zufällige ‚Entdeckung‘ in der Dunkelkammer zurück. Nach Man Rays eigener Erzählung muss ein unbelichtetes Blatt unter die belichteten, herkömmlich aufgenommenen Fotografien geraten sein, die er wie üblich entwickelte. […] und als er ein paar Minuten vergeblich darauf wartete, dass ein Bild entstehen sollte und gerade die Papierverschwendung bereute, stellte er fast automatisch einen kleinen Glastrichter, ein Messinstrument und das Thermometer auf das nasse Papier in der Wanne. Er drehte das Licht an; vor seinen Augen begann sich ein Bild zu formen, nicht einfach eine Silhouette der Gegenstände, wie bei einer direkten Fotografie, sondern durch das Glas, das mehr oder weniger Kontakt mit dem Papier hatte, ein verzerrtes und gebrochenes Bild, das sich von einem schwarzen Hintergrund trennte, nämlich dem Teil, der direkt dem Licht ausgesetzt war.19
Auch wenn Man Ray nicht der Erfinder der sogenannten Fotogramme war, so entwickelte er diese Technik doch bis zur Vollendung und machte sie zu einer Art Kunstfotografie. Im Gegensatz zum Erfinder der Fotogrammtechnik, William Henry Fox Talbot, der bereits ab 1835 undurchsichtige Objekte auf mit Kochsalz und Silbernitrat bearbeitetes Schreibpapier legte und durch Sonnenlicht belichten ließ, kreierte Ray durch verschiedene Lichtintensitäten und Bewegungen der Objekte dreidimensional wirkende Fotogramme. Die „Schadogra-
18 Der Film ist online, zum Beispiel unter: https://archive.org/details/returnToReasonle RetourLaRaison1923 (abgerufen am 26.09.2017). 19 Schwarz, Arturo: Man Ray [Man Ray. The Rigour of Imagination, 1977], München 1980, S. 293. Auch nachzulesen in: Ray, Man: Self Portrait, a. a. O., S. 106.
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phien“ von Christian Schad, die ab etwa 1918 durch das Auflegen von flachen Objekten, wie zum Beispiel zerrissenen Zeitungen, auf Fotopapier und dem darauffolgenden Belichten entstanden, waren zwar nach Man Rays eigener Aussage „im wahren Dada-Sinne“,20 allerdings erscheinen diese Art Fotogramme kontrollierter, klarer und weniger zufällig als bei Man Ray; durch die Wahl der belichteten Objekte wirkten sie zudem flacher und weniger komplex als die Rayografien. László Moholy-Nagy, der heute zu den wichtigsten Begründern und Theoretikern der Lichtkunst gezählt wird, experimentierte am Bauhaus etwa zur gleichen Zeit wie Man Ray mit der Idee der kameralosen Fotografie.21 Selbst wenn Man Rays Technik nicht unbekannt war, so zeichnen sich seine Ergebnisse durch eine dreidimensionale Qualität und durch vielschichtige Tonabstufungen gegenüber den Fotogrammen von Schad oder Moholy-Nagy aus.22 Die Rayografien sind mit einer traumhaften, sinnlich-lebendigen Komponente und einer Raumtiefe erfüllt, die Moholy-Nagys kameralose Fotoarbeiten vielfach erst später aufweisen sollten. Eine Tatsache, die bei Ray auch darauf beruht, dass die Bilder keine herkömmlichen Kontaktfotografien sind. Er benutzte nicht nur dreidimensionale Gegenstände, sondern er bewegte sie während der Belichtung zusätzlich auf dem Fotopapier oder im Raum darüber; die Ergebnisse scheinen diese Bewegungsimpulse gleichsam gespeichert zu haben. Von der Krise des Abbilds zum zufälligen Bild André Breton betont in Le Surréalisme et la peinture (1925 verfasst, 1928 veröffentlicht) explizit, dass Ray die Fotografie dafür einsetze, um über das reine Abbilden hinauszugehen: Fast zur selben Zeit wie Max Ernst [...] ging Man Ray ebenfalls vom photographischen Abbild aus; weit davon entfernt, ihm ganz zu vertrauen, benutzte er es nur von Fall zu Fall, je nach seinen eigenen Intentionen, je nach dem Gemeinsamen, das es uns in der Wiedergabe vermittelt. So nahm er ihm mit einem Schlage das Positive, damit es die arrogante Haltung verlor, die sich die Photographie anmaßte, sich nämlich als das auszugeben, was sie gar nicht ist. [...] Die Photographie ist, obwohl sie eine besondere Suggestionskraft
20 Ebd. 21 Moholy-Nagys „Licht-Raum-Modulator“ (er arbeitete daran von 1920-1930) gilt als richtungsweisendes Lichtkunstwerk. Vgl. hierzu: https://www.bauhaus100.de/de/da mals/werke/kunsthandwerk/licht-raum-modulator/ (abgerufen am 30.05.2017). 22 Vgl. Schwarz, Arturo: Man Ray, a. a. O., S. 293-294.
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besitzt, doch bei genauem Hinsehen nicht das treue Abbild, das wir von dem bewahren möchten, was uns nur allzu bald verloren sein wird.23
Die hier beschworene Krise des Abbilds, als dessen Perfektion die Fotografie einst gefeiert wurde, untergrub in Bretons Augen durchaus ihre Daseinsberechtigung. Breton sieht gerade in Man Ray, der – fasziniert von den objets trouvés Marcel Duchamps – bereits in New York mit Assemblagen und experimenteller Fotokunst hervorgetreten war, den „geeigneten Mann“ dafür, diese Krise zu überwinden: „[…] notwendig ein guter Techniker der Photographie“ befasse sich Ray mit dem Problem, „einerseits der Photographie ihre Grenzen genau soweit abzustecken, wie sie eben ihren Anspruch ausdehnen darf, und andererseits sie für neue Zwecke zu nutzen, für die sie nicht erfunden zu sein schien“.24 In Man Rays Verfahren der Rayografie erkannte Breton Tendenzen wieder, die auch den Surrealismus konstituierten, nämlich jene zur Bildung kollektiver Mythen, die Ursprung sowie Zusammenhalt einer Gruppe darstellen sollen; Ray schien solche Mythen innerhalb der Fotografie zu bilden.25 Eine Bewegung, die daraus entsteht, dass sie Vorhandenes bzw. Vorgegebenes ablehnt,26 ist letztlich darauf angewiesen, sich selbst eine Tradition zu schaffen, die ihre Herkunft legitimieren kann – eine Tradition, die „auf außerordentliche[n] Erschütterungen“27 beruht, wie es in Bretons Vortrag Merkmale der Entwicklung der Moderne heißt. Retrospektiv betrachtet, stellen die Rayografien einen weiteren Schritt in die Richtung dar, eine Technik zu entwickeln, bei der der Künstler sein Material Verfremdungen und Metamorphosen unterzieht, um neue Sichtweisen zu gewin-
23 Breton, André: Der Surrealismus und die Malerei [Le Surréalisme et la peinture, 1928], in: Ders.: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1965], übersetzt von Manon Maren-Grisebach, Berlin 1967, S. 5-54, S. 33-34. 24 Ebd., S. 34. 25 Vgl. hierfür Bretons Antworten aus: Literarische Umfrage über die Tendenzen der jungen Poesie [Quel mouvements principaux distinguez-vous dans la jeune poésie française et dans quel sens croyez-vous que se dirigera la poésie de demain?], in: Figaro, 21. Mai 1922. Dabei ging es darum zu erkunden, welche Hauptströmungen in der jungen französischen Dichtung zu unterscheiden seien und in welche Richtung sich die Dichtung von morgen entwickeln werde. Als Nachdruck zu lesen, in: Breton, André: Antwort auf eine Umfrage [Réponse à une enquête, 1922], in: Die verlorenen Schritte, a. a. O., S. 105-106, S. 106. 26 Breton, André: Geben Sie alles auf, a. a. O., S. 99. 27 Breton, André: Merkmale der Entwicklung der Moderne und von allem, was an ihr teilhat, a. a. O., S. 138.
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nen – mit der Steigerung, dass er das Papier (den schlussendlichen Träger des surrealistischen Werks) beim Schaffensprozess hier nicht einmal mehr berühren muss. Die kameralose Technik, die durch bewegte Lichtquellen verschiedener Stärke Gegenstände beleuchtet und darüber den Gegenstand seine vertraute Form verlieren lässt, schafft Formen und Umrisse, deren Gestalt, Art oder Dichte fast unvorhersehbar sind. Dieses Verfahren entspricht so der bretonschen Theorie einer automatischen Schrift des Zufalls. Dabei scheinen die Medien selbst – wie etwa auch bei Max Ernsts Frottagen – den schöpferischen Prozess zu übernehmen. Dem surrealistischen Grundgedanken der Verbindung von Imagination und Wirklichkeit kommt Ray insofern entgegen, als er die abgebildeten Gegenstände nur so weit verfremdet, dass sie ihre ursprüngliche Form teilweise wiedergewinnen oder erkennen lassen. Die Verfremdungen changieren stets zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Die Brüche und ‚Lücken‘, die an diesen Schnittflächen entstehen, muss der Betrachter aus eigener Erfahrung oder mittels seiner Fantasie schließen. Ray erzeugt seine Verfremdungen, indem er die aus der Malerei bekannte Technik der Spritzmalerei (bei der die Leinwand nicht berührt wird) mit der Nutzung der verschiedenen Brechungswerte undurchsichtiger, durchsichtiger sowie nur teils un- bzw. durchsichtiger Gegenstände verbindet. Die entstehenden Formen variieren je nach Entfernung und Stellung der Lichtquelle; das Verrücken der Lichtquellen um den Gegenstand herum, oder umgekehrt, generiert so die überraschendsten Bilder. Dabei konnte Man Ray durch die Kombination von Gegenständen und Materialien unterschiedlichster Transparenz bzw. Opazität verschieden intensive Tonwerte erzielen und auf diese Weise mit Licht ‚malen‘. Das Licht – als notwendige Zutat der Fotografie – entspricht bei Ray dem Pinsel in der Malerei. In der Technik der Rayografie wird dadurch eine Verstärkung des indexikalischen Moments der Fotografie deutlich. Das indexikalische Verhältnis des fotografisch Repräsentierten zum Referenten ist durch den technischen Modus der Aufzeichnung definiert, bei dem von einem Gegenstand ausgehende Lichtstrahlen mittels des zentralperspektivisch organisierten Apparats eingefangen und auf eine lichtempfindliche Oberfläche gespeichert werden. An diese indexikalische Verfasstheit knüpft sich die grundsätzliche und vielschichtige Beschreibung der Fotografie im Sinne des doppelten, ambivalenten und paradoxen Charakters des Mediums. Er hat den fotografischen Diskurs von Anfang an bestimmt, wie beispielsweise in Charles S. Pierces 1893 erschienener Abhandlung Die Kunst des Räsonierens, in der Pierce den theoretischen Status des fotografischen Zeichens
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analysiert.28 Vor allem gehört zu diesen Figurationen des doppelten Status der Fotografie, dass es ein gemachtes Bild und zugleich ein Bild von etwas ist, das wir erhalten. In diesem Sinne funktioniert die Fotografie selbst als Metapher und als Beweis gleichermaßen – sie ist zwischen Realismus und Traum, zwischen Rationalität (ihrer zentralperspektivischen Organisation) und Magischem sowie zwischen der unendlichen Reproduktionsmöglichkeit des fotografischen Bildes und der Einmaligkeit des fotografierten Moments situiert.29 Es sei hier daran erinnert, dass 1921, als Ray die Rayografie entwickelte, das „automatische Schreiben“ noch kaum in der Zeichnung oder Fotografie angekommen war und die bildenden Künstler zu diesem Zeitpunkt noch auf der Suche waren, wie sie sich innerhalb ihrer Medien ausdrücken könnten. Man Ray spricht sich durch seine Fotoarbeiten für eine ‚Objektivität‘ (im bretonschen Sinne des Zufalls) aus, indem er durch kameralose Techniken zu (halb)automatischen Bildern gelangt und indem die Verfremdungen zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion verweilen und somit vom Betrachter kontextualisiert werden müssen. In der optischen Illusion bzw. Uneindeutigkeit von Rays Bildern kann also durchaus eine Inszenierung erkannt werden, die eine Desorientierung des Zuschauers einschließt. Dies scheint insbesondere hinsichtlich der damals noch neuartigen psychoanalytischen Denkfiguren, der Mechanismen des Unbewussten bzw. der Traumdeutungen von Interesse zu sein, die auch Ray beschäftigten und die er über seine offenen Bilder zum Ausdruck brachte, ohne sie zu illustrieren: Der Zuschauer schließt die ‚Lücken‘, indem er durch subjektive Erfahrungen bzw. Erinnerungen die verfremdeten Objekte in Rays Montagen interpretieren muss. Dadurch ergeben sich möglicherweise neue Bilder bzw. Identitäten für die abgebildeten Gegenstände. Hier sind wir wieder einen Schritt näher an der „fast absoluten Subjektivität“, auf die Breton in seinem Aufsatz Merkmale der Entwicklung der Moderne
28 Vgl. hierzu: Geimer, Peter: Bilder durch Berührung. Fotografie als Abdruck, Spur und Index, in: Theorien der Fotografien, 3. Aufl., Hamburg 2011, S. 18-25; siehe auch: S. 28; es gehört allerdings zu den Besonderheiten der Fototheorie von Roland Barthes, dass sie als Theorie der Spur und des Index diskutiert werden kann. Vgl. u. a. Barthes, Roland: Die Fotografie als Botschaft [1964], in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990, S. 11-27; Ders.: Rhetorik des Bildes [1964], in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, a. a. O., S. 28-46; Ders.: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1985. 29 Vgl. Geimer, Peter: Bilder durch Berührung. Fotografie als Abdruck, Spur und Index, a. a. O., S. 34.
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abzielte. Bretons Faszination durch und Unterstützung von Montageverfahren wie sie in Ernsts frühen Collagen und Frottagen sowie in Man Rays Fotokunst zum Einsatz kamen, ist auch vor dem Hintergrund des ideologischen Paradigmenwechsels zu sehen: jenem vom Dadaismus zum Surrealismus. Es ist offensichtlich, dass Breton die reine Provokation (das heißt die Provokation ohne Ziel) der dadaistischen Bewegung nicht mehr genügte und er daraufhin einen Versuch startete, alle fortschrittlichen Tendenzen der Moderne einer geistigen Konzentration zuzuführen. Und so erscheint es konsequent, wenn er zu poetischen Errungenschaften wie bestimmten Montagemethodiken, die Ungleiches oder Gegensätzliches miteinander verbanden wie schon Lautréamont in seinen Texten, zurückkehrte.30 Der dank des Dadaismus aus den Grenzen der Vernunft befreite Geist, sollte nun für die innere und für die äußere Wirklichkeit geöffnet werden. Wenn auch die Bereiche des Wunderbaren, des Unbewussten und des Traums immer noch den Grundtenor bildeten, aus dem der Surrealismus zu entspringen scheint, so hatten sich die (methodischen) Experimente keinesfalls auf diese Gebiete beschränkt: Zum Beispiel war Paul Éluard der Beweis gelungen, dass Wörter keineswegs an ihre lexikalische Bedeutung gebunden sind, da sie nämlich ein Eigenleben führen können.31 Für Breton stand damit fest, dass die Sprache unabhängig vom Referenzsystem der äußerlichen Wirklichkeit ein eigener Wirklichkeitsbereich war. Die Sentenzen Éluards, aber auch das vorhin erwähnte ready made von Duchamp, zeigten dies Breton auf eindrückliche Weise.32 In Auftritt des Mediums, bei dem es um den Schlaf sowie Traumprotokolle
30 Breton stattete das Erste Manifest des Surrealismus mit einem Stammbaum aus, wer in mindestens einem Punkt „surrealistisch“ gewesen sei. Dazu gehörten neben Lautréamont Schriftsteller wie de Sade, der passend als „surrealistisch im Sadismus“ bezeichnet wurde, Baudelaire „in der Moral“ oder Reverdy „zu Hause“. Selbst Dante und „in seinen besseren Tagen“ Shakespeare könnten laut Breton „als Surrealisten bezeichnet werden“. Vgl. Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, a. a. O., S. 27. 31 Vgl. u. a. Éluard, Paul: Um hier zu leben [Pour vivre ici, 1918], in: Museum der modernen Poesie, hrsg. von Hans Magnus Enzensberger, Text übersetzt von Max Hölzer, 2 Bde., Band 2, Frankfurt am Main 1960, S. 606-608. 32 Breton hält folgenden Satz von Éluard fest: „Eine wohlbekannte Geschichte erzähle ich, ein berühmtes Gedicht lese ich wieder: ich lehne an einer Mauer, mit grünenden Ohren und verdorrten Lippen.“ Breton stellt es in Zusammenhang mit Éluards Art sich „keiner Filterung abzugeben“ und wie ein „tauber Empfänger so vielen Widerhalls“ zu sein und sich so zur bescheidenen „Registriermaschine“ gemacht zu haben. Vgl. Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, a. a. O., S. 28.
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geht, erwähnt Breton diverse aliterarische Schreibweisen, die auf derselben gedanklichen Ebene stattfinden sollten, um Wörtern ein Eigenleben zu verschaffen. Noch ein weiteres Verfahren aus der prä-surrealistischen Zeit ist im Zusammenhang mit den Rayografien bzw. ihrer Desorientierung und Neu-Verortung von Objekt und Subjekt spannend: das Verfahren der sogenannten synthetischen Kritik.33 Indem er ein Subjekt mit einem Prädikat verbindet, das im Begriff des Subjekts nicht bereits enthalten ist, erlangte Breton Urteile, Erkenntnisse, die unser Wissen ‚erweitern‘ sollten, insofern eine zuvor unbekannte Eigenschaft des Subjekts an diesem festgestellt wurde. Diese Art synthetische Kritik wird etwa im Aufsatz Les Chants de Maldoror (1917/1918), ebenfalls erschienen in Die verlorenen Schritte, festgehalten. Überhaupt reflektiert diese Essaysammlung hervorragend, was von Dada und seiner (Anti-)Kunst geblieben ist, ebenfalls als Vorwegnahme auf die methodischen Techniken des Surrealismus. So fungiert der Aufsatz Merkmale der Entwicklung der Moderne, dessen Funktion am Ende nicht nur die eines Ergebnisses, einer Zusammenschau der vorangegangenen Erfahrungen ist, auch als Ankündigung der Tradition und Beschaffenheit einer surrealistischen Gruppe. In diesem Kontext wird im Folgenden Man Rays Methodik der Rayografie und ihr Verhältnis zum Surrealismus genauer untersucht. Ebenso steht im Fokus, inwieweit Rays Techniken und die Medien schöpferischer Prozesse zur Erweiterung von Wahrnehmungsgrenzen führen und inwiefern dabei der Schnitt als Denkfigur eine Rolle spielt. Hierfür sollen vor allem frühe Rayografien aus dem Mappenwerk Les Champs délicieux (1922) analysiert werden.
33 Die synthetische Kritik bezieht sich hier auf die durch Immanuel Kant erarbeitete Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen in der Kritik der reinen Vernunft (Erstausgabe: 1781), die Kant zufolge im Prädikat besteht. Entweder gehört das Prädikat zum Subjekt als etwas, was in diesem Begriff (in versteckter Weise) enthalten ist, oder das Prädikat liegt außerhalb des Begriffs des Subjekts, obgleich es zwar mit demselben in Verknüpfung steht. Im ersten Fall ist das Urteil analytisch, in dem anderen synthetisch. Vgl. Söhngen, Gottlieb: Über analytische und synthetische Urteile. Eine historisch-kritische Untersuchung zur Logik des Urteils, Dissertation, München 1915, S. 14, online unter: https://archive.org/details/beranalytischeun00 shng (abgerufen am 01.03.2016).
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1. RAYOGRAFIE – DER INSZENIERTE ZUFALL UND DIE POESIE IM BILD Mit dem Manifest des Surrealismus war 1924 aus den weit verzweigten und vielfältigen ästhetischen Bestrebungen von schreibenden und bildenden Künstlern eine (wenn auch sehr heterogene) philosophische Bewegung unter der Führung von André Breton geworden. Indem Breton den Surrealismus darin deutlich als „psychischen Automatismus“ und als „den wirklichen Ablauf des Denkens [...] ohne jede Kontrolle“ definiert, bringt er offenkundig seine Experimente der vergangenen fünf Jahre unmittelbar unter dieselbe geheimnisvolle, vieldeutige Ummantelung. Dass dabei auf bereits vorhandene (und bewährte) Methoden zurückgegriffen wurde, streicht auch Polizotti heraus. Er bemerkt, dass die Abstammung, mit der sich Breton im Manifest befasst, nicht überraschend sei, da fast alle seine Erkundungen mit einem scharfen Blick zurück erfolgt waren; und er verweist auf Bretons Brief an Doucet, in dem er ihm 1922 mitteilt: „Ein sich entwickelnder Geist oder eine Bewegung ist verpflichtet, alles festzuhalten, dessen sich vergangene Geister und Bewegungen nicht annehmen konnten. Ohne 34 dieses Schutzgeleit ist, so glaube ich, Evolution nicht möglich.“ In welchem Verhältnis stehen nun Man Rays kameralose Techniken zu Bretons Ziel, das ganze Gebiet des logischen Erfassbaren und alles dessen, was sich zunächst der Rationalisierung entzieht, in einer ‚Wirklichkeit‘ zu einen, und zwar indem diese Einigung fürs erste im Individuum selbst und schließlich zwischen dem Individuum und der Welt hergestellt wird? Wie genau simulieren die Techniken, die Man Ray einsetzt, einen Automatismus, der, wie bei einem Denk-Diktat, unbewusste bzw. zufällige Bilder hervorbringt? Breton hatte im Manifest ausdrücklich auf den visuellen Charakter der automatischen (Bilder)Sprache abgehoben. Kunst und Literatur waren zu dieser Erkundung des Unbewussten und Traumartigen für den Surrealismus die wichtigsten Mittel und gleichwohl ‚nur‘ Mittel, mit denen die Künstler agieren konnten, um zu neuen Dingen vorzudringen. Der surrealistische Charakter bestimmter Kunstwerke galt Breton dabei als Manifestation des Auges, wie es in seinem „Urzustand“ existieren würde.35 Man Ray nähert sich dieser Problematik von Imitation und Kreation, von der Aufgabe des Künstlers, aus seinem Werk Wesentliches herauszukitzeln, in einem Artikel von 1926. Er erschien am 23. März auf der Titelseite der renom-
34 Vgl. Polizzotti, Mark: Revolution des Geistes. Das Leben André Bretons, Wien/ München 1996, S. 302. 35 Breton, André: Der Surrealismus und die Malerei, a. a. O., S. 7.
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mierten Tageszeitung Paris-Soir – ein Zeichen für die Aufmerksamkeit, die der Surrealismus damals genoss – als Ankündigung einer Man Ray-Ausstellung, der ersten Ausstellung in der Galerie Surréaliste: Imitation lies at the heart of all art, its laws and its limits. I prefer the poet. He creats, and every time man rises up in the moral order it is through creating, whether a machine, a poem, or a moral position. [...] Besides, a photographer is not restricted only to the role of copyist. He is a marvelous explorer of those aspects that our retinas will never record [...]. I have tried to capture those visions that dusk, or too-bright light, or their own fleetingness, or the slowness of our ocular apparatus, hides from our senses.36
In diesem Artikel mit dem vielsagenden Titel Apparences trompeuses (Trügerische Erscheinungen) wird neben seiner Haltung gegenüber dem Medium Fotografie als ‚perfektem‘ Mittel zum Abbilden – eben nicht im Sinne des Kopierens, sondern gerade des poetischen Denkens und des Entdeckens des Unsichtbaren – zudem deutlich, inwiefern Man Ray die visuellen Mittel des Films imponierten, die schöpferisch seien. Er nennt Filmemacher aus den eigenen Reihen der Avantgarde wie Francis Picabia und René Clair, aber ebenso populäre Regisseure wie Charlie Chaplin oder Mack Sennett. Man Ray fordert schließlich andere Künstler dazu auf, die kreativen Möglichkeiten insbesondere des Films zu berücksichtigen. Sein Ausgangspunkt ist, dass die Fotografie und der Film die Darstellungsweisen der Malerei (und Skulptur) überflüssig gemacht haben und die traditionellere Kunst, wenn überhaupt, eine mehr oder weniger nützliche Übung darstelle. Die neuen Medien könnten die Welt schneller und besser abbilden und zusätzlich Dinge veranschaulichen bzw. ans Licht führen, die über die normale Sehkraft hinausgehen. Ray konstatiert: „Photography and its brother, cinema, thereby join painting, as it is understood by everyone conscious of modern world’s moral necessities.“37 Was für Man Ray zählt, ist der poetische Gebrauch von solchen Bildern, die innerhalb der Vorstellungskraft, der Imagination liegen und die in keiner direkten Beziehung mit der Welt stünden. Er betont: „We are touching here on the great struggle between beauty and poetry, aesthetics and ethics. I am resolutely on the side of poetry! A spirit that still-life painters will never know.“38 Neben der Poesie ist es auch der filmische Aspekt in Man Rays
36 Ray, Man: Apparences trompeuses, in: Paris-Soir, 23. März 1926, S. 1-2. Hier zitiert nach: Mundy, Jennifer (Hrsg.): Man Ray. Writings on Art, übersetzt von Ders., London/Los Angeles 2016, S. 87-89. 37 Ebd., S. 88. 38 Ebd., S. 89.
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Werk, den es im Folgenden – gleichsam rückwirkend – zu beobachten gilt. Denn filmischen Illusionismus spricht er all jenen Bildern zu, die innerhalb der Imagination liegen.
2. LES CHAMPS DÉLICIEUX (1922) Im Herbst 1911 schrieb Man Ray (eigentlich: Emmanuel Rudnitzky) sich für Kunstkurse an der Modern School des anarchistisch orientierten New York Ferrer Center ein. Dort probierte er in kürzester Zeit viele Malstile aus. Um das Jahr 1914 kaufte Man Ray sich seinen ersten Fotoapparat, um seine Werke reproduzieren zu können.39 Kurz darauf traf er Marcel Duchamp in New York, dessen radikale Kunstideen Ray faszinierten und der ihn zur intensiveren Beschäftigung mit Film und Fotografie drängte.40 Ein Thema, das unweigerlich mit diesen modernen Medien verbunden ist, ist die Bewegung. Schon in dem berühmten Ölgemälde The Rope Dancer Accompanies Herself with Her Shadows (1916/1936)41 versuchte Ray, einen Bewegungsimpuls in der Abstraktion festzuhalten. Er befasste sich in den Folgejahren weniger mit der Malerei, sondern viel mit Objektkunst und mehr und mehr mit den Techniken der Dunkelkammer. Ray erkannte im kameralosen fotografischen Verzögerungsprozess (Langzeitbelichtung) bald eine Ähnlichkeit zum Spritzapparat in der Malerei bzw. in der Aerografie.42 Diese ‚Lichtmalerei‘43, die Malerei mit Licht und Chemikalien, bot ihm anfangs vor allem eine Abwechslung von der Ölmalerei sowie von der normalen Fotografie.44 Zunächst legte Man Ray in seiner Dunkelkammer Objekte auf Fotopapier und beleuchtete sie mit weißem Licht. So erhielt er eine Art Röntgenbild.45 Dadurch, dass er während des Beleuchtungsprozesses die Objekte verrückte oder entfernte, erhielt er zudem verschiedene Grautöne. Durch das Ver-
39 Perl, Jed: Man Ray. Master of Photography, New York 1997, S. 5. 40 Mundy, Jennifer (Hrsg.): Man Ray. Writings on Art, a. a. O., S. 27. 41 Das Gemälde hatte diverse Titel und wurde vom Künstler (zwischen 1916 und 1936) mehrmals überarbeitet. Vgl. dazu: Dada in the Collection of the Museum of Modern Art, hrsg. von Anne Umland und AdrianSudhalter, New York 2008, S. 212-213. 42 Mundy, Jennifer (Hrsg.): Man Ray. Writings on Art, a. a. O., S. 82. 43 Viele Fotografen nannten sich in der Frühzeit des Mediums „Lichtbildner“ oder „Lichtmaler“. Vgl. Geimer, Peter: Bilder durch Berührung. Fotografie als Abdruck, Spur und Index, a. a. O., S. 32. 44 Mundy, Jennifer (Hrsg.): Man Ray. Writings on Art, a. a. O., S. 82. 45 Schwarz, Arturo: Man Ray, a. a. O., S. 294.
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stellen der Beleuchtung hinsichtlich der Lichtintensität und ihrer Platzierung war Man Ray in der Lage, seine Objekte selbst auf dem platten Papier dreidimensional erscheinen zu lassen. Aufgrund der Herstellung der Bilder allein mit Hilfe von Lichtstrahlen (englisch ray) und des Namens ihres ‚Erfinders‘, ihm selbst, benannte er seine Werke Rayografien (in Deutschland wurden diese Kunstwerke jedoch auch unter dem Namen Rayo- oder Fotogramm bekannt).46 Im Jahr 1921 – kurz vor seiner ‚Entdeckung‘ der kameralosen Fotografie – schrieb Ray noch an die Künstlerin Katherine Dreier: I am trying to make my photography automatic – to use my camera as I would a typewriter – in time I shall attain this and still avoid the irrelevant for which scientific instruments have such strong penchant. In working for the truth one is apt to get too much of it or get it 47
a bit exaggerated!
Den hier schon betonten Automatismus, den er mit dem Apparat zu erreichen sucht, mit dem so viel subtileren und direkteren Mittel des Lichts selbst zu erzielen, muss für Man Ray eine Befreiung gewesen sein. Er kommt zur Erkenntnis, dass für ihn Licht genauso leicht handhabbar ist wie der Pinsel in der Malerei. Und bald geht er auch mit Filmrollen ähnlich wie Künstler mit Leinwänden um – nur dass er diese dann auch in Bewegung versetzt. „The painter is limited by immobility, while cinema gives us movement. Why go by horse when you have a car?“, schreibt Ray 1928. Und: „You must always start with a personal idea and then find the technical means with which to translate it. We are too preoccupied with special effects, which are nothing in themselves.“48 Schöpferischer Zufall Im Jahr 1922 brachte Man Ray eine Mappe mit 12 Rayografien unter dem Titel Les Champs délicieux (Die köstlichen Felder) in einer auf 40 Exemplare reduzierten Auflage heraus. Und schon an diesen frühen Rayografien ist zu sehen, dass die technischen Mittel hier Ideen übersetzen, die weit über den schnellen optischen Effekt hinausgehen. Fasziniert von den Bildern regte Tristan Tzara,
46 Mundy, Jennifer (Hrsg.): Man Ray. Writings on Art, a. a. O., S. 69. 47 Ebd., S. 61-62. 48 Rays Erklärung, mit dem Film genauso frei umgehen zu können, wie ein Künstler mit seiner Leinwand umgehen würde, gab er in Bezug auf seinen 1928 entstanden Film L’Étoile de mer im Magazin Vu ab. Nachzulesen in: Mundy, Jennifer (Hrsg.): Man Ray. Writings on Art, a. a. O., S. 95.
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der auch das Vorwort zur Mappe verfasste, den bereits erwähnten Film Le Retour à la raison an. Dieser 35-mm-Film stellt letztendlich eine Erweiterung der Rayografie-Technik auf den Filmbereich dar. Es ist der erste Film, der auf der Fotogramm-Technik beruht, die direkt und haptisch ins Filmmaterial eingreift, was weitreichenden Einfluss auf nachkommende Experimentalfilmer haben sollte.49 Wenn auch nicht in der Geschwindigkeit eines Films, finden sich – wie ich im Folgenden zeigen möchte – kinematische Effekte schon im Mappenwerk Les Champs délicieux. Die Blätter entstanden durch das halbautomatische Prinzip der Montage, die zu Verfremdungen führt, die sich wiederum zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit befinden. Genau diese Art Montage, soviel sei vorweggenommen, suggeriert kinematische Effekte, was sich erneut – wie schon bei Ernsts Montagemethodik – als äußert ergiebig erweist, da das Bild, das der Zuschauer aufnimmt, eines von vielen möglichen ist. Nicht zufällig trägt das Mappenwerk einen Titel, der an André Bretons und Philippe Soupaults Experiment mit der écriture automatique angelehnt ist, Les Champs magnétiques. Wie die beiden Autoren scheint auch der Fotokünstler seinen Gedanken und Ideen hier freien, unzensierten Lauf gelassen zu haben: Dinge des Alltags, wie sie gerade griffbereit scheinen, Kamm, Nähnadel, Springfedern oder sogar ein Revolver finden so Eingang in „Die köstlichen Felder“. Man Rays Werke aus Les Champs délicieux weisen ihn aber ebenso als einen Wissenschaftler aus, der eine Vielzahl von chemischen und optischen Experimenten in seiner Dunkelkammer unternimmt, indem er die Elastizität des Lichts, seine elastische Streuung, ausnutzt. Die Ergebnisse sind überraschend – und waren es während der Produktion auch für Man Ray, der selbst als Fachmann nur ahnen konnte, wie sich das Zusammenspiel verschiedener Objekte, deren Bewegung und variierende Belichtung auswirken würde. In dieser Hinsicht kommt zum (Halb-)Automatismus des künstlerischen Prozesses auch noch der Zufallsaspekt eines cadavre exquis, bei dem man nie genau weiß, was am Ende herauskommt. Hier machte also die Fotografie einen riesigen Schritt weg von ihrer bis dahin vordergründigen Eigenschaft, einzig ein Dokument zu sein, und bewegte sich erstmalig auf die künstlerischen Möglichkeiten einer anderen Bearbeitung hin. Und Man Ray war seit Anbeginn seines fotografischen Schaffens auf der Suche nach diversen Gestaltungsmitteln, um über das ‚einfache‘ Abbilden hinauszugehen.50 Betrachtet man etwa das siebte Blatt (Abb. 16) aus Les Champs
49 Stellvertretend seien hier Len Lye und Stan Brakhage genannt. 50 Vgl. Schwarz, Arturo: Man Ray, a. a. O., S. 285. Für Schwarz war Ray auch ein Pionier in der Verwendung unretuschierter Vergrößerungen. Zu jener Zeit habe kaum ein
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délicieux (Untitled Rayograph, 1922), wird das Manipulative in Rays Fotografien deutlich. Wir erkennen in diesem Bild die Form eines Propellers, der in die Länge gezogen nach unten hin verläuft und einer Spirale oder aber einer Filmrolle ähnelt. Im Hintergrund sind wolkenähnliche Formen zu erkennen. Im Vordergrund, rechts unten im Bild, sehen wir ein schwarzes Loch, das zur Mitte hin sich vom restlichen Bild sorgsam abzusetzen droht. Eine digitale Bildbearbeitung existierte zu jener Zeit natürlich nicht, aber Rays Techniken stellen ähnlich systematische Eingriffe (im wahrsten Sinne des Wortes) dar – wenn auch das Ergebnis nicht so exakt (vor-)bestimmt werden konnte wie bei heutigen Bildmanipulationen. Man Rays manipulierte Bilder können zweifellos als Ursprung des Surrealismus in der Fotografie gelten, da er es war, der für dieses Medium den ‚dunklen‘ Bereich öffnete und Schnittflächen zwischen Außen- und Innenwelt aufrief, die es – in der Betrachtung und Interpretation – zu überwinden galt. Die zwölf Rayografien, die die 1922 entstandene Serie umfasst, sind dabei nicht weniger fotografisch wie beispielsweise ‚einfache‘ Familien-Schnappschüsse und zwar in dem Sinne, dass sie jeweils den fotografischen Vorgang einer Belichtung benötigen. Durch den Gebrauch einer Vielzahl von Objekten unterschiedlicher Lichtdurchlässigkeit, die Ray teils direkt während der Belichtung auf das Papier platzierte oder während des Ablichtens bewegte, gelang es ihm allerdings, die Formen zu ‚biegen‘. Das heißt, hinter einem schattigen Abdruck einer Form verbirgt sich ein Eigenleben, mitunter eine neue Identität, die sich vollständig aus dem ursprünglichen Kontext loszulösen vermag. In Man Rays zehntem Werk aus der Serie (Abb. 17) zeigt sich erneut die einzigartige Position seiner Technik in jener Zeit. Das Bild zeigt, wie seine kameralosen Prozesse im direkten Widerspruch zu dem Trend des sogenannten direkten Ablichtens am Anfang des 20. Jahrhunderts standen; hier wurde von ‚Null-Manipulation‘ in der Fotografie gesprochen, da man glaubte, dass solche Änderungen die künstlerische Integrität des Mediums stören würden.51 Die Rayografie lässt Assoziationen mit einem Propeller, Glas und Trichter – oder ist es eine Pfeife? – aufkommen. Auch wenn die Gegenstände in diesem Werk teilweise ihre ursprüngliche Form
anderer Fotograf daran gedacht, Vergrößerungen zu machen, weil die Körnung der Emulsion dabei sichtbar wird. Da bei großen Gemälden Pinselstriche sichtbar sind, sollte es bei einer Fotografie und seiner Körnung, Man Rays Meinung nach, auch nicht anders sein. So ließ er die Körnung mit Absicht hervortreten – was in jener Zeit als Fehler angesehen und von herkömmlichen Fotografen gefürchtet wurde –, und zu diesem Zweck griff Ray zur Überentwicklung. 51 Vgl. Geimer, Peter: Bilder durch Berührung. Fotografie als Abdruck, Spur und Index, a. a. O., S. 15-16.
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zurückgewinnen, beginnen sie insbesondere durch ihre Anordnung, durch das Zusammenspiel der Verfremdungen, einen neuen Kontext, ein Eigenleben zu entwickeln. Natürlich sind die Verfremdungen, die Ray durch Experimente in der Dunkelkammer entstehen lässt sowie deren Arrangements, Ergebnisse seiner konstruierten Manipulationen; dennoch könnte man diese Verfahren im Hinblick auf die écriture automatique aber durchaus als schöpferisch bezeichnen, nicht zuletzt da das Medium des Lichts einen Hauptpart des schöpferischen Prozesses zu übernehmen scheint. In Man Rays später entstandenem Werk Primat de la matière sur la pensée (1929) zeigt sich ein weiteres Mittel zur Manipulation. Solarisationen, extreme Überbelichtungen, die zu einer teilweisen Tonwert-Umkehr führen, brachen vollends mit der sogenannten goldenen Regel der Fotografie, kein Licht einzuschalten, während in der Dunkelkammer entwickelt wird. Man Ray hingegen hatte während des Entwicklungsprozesses absichtlich Lichter flackern lassen, was zu unverwechselbaren (teilweise zerfließenden) Farbtönen um seine Motive herum führte. Einer anderen Erzählung folgend, war es Lee Miller, Rays damalige Gefährtin und selbst Fotografin, die aus Versehen das Licht anmachte.52 Die unbelichteten Teile des Negativs, die den schwarzen Hintergrund gebildet hatten, waren belichtet worden und bis an den Umriss des abgebildeten nackten Körpers hell geworden. Diese zufällige Entdeckung mag Lee Millers Werk gewesen sein, aber Man Ray fand bald heraus, wie er sie unter Kontrolle bringen konnte, damit die Ergebnisse genauso waren, wie er sie wollte.53 Das liegende Model in Primat de la matière sur la pensée etwa ist von dieser traumhaft anmutenden Aura durch Solarisation umhüllt und wirkt völlig entrückt. Hier wird die veränderte Haltung des Fotografen deutlich sichtbar: Rays Fotografien oder durch fotografische Methoden entstandene Bilder sind längst nicht mehr beiläufig oder dokumentarisch, sondern kunstvoll im Atelier entstanden. Seine Dunkelkammertechniken der Rayografie sowie Solarisation unterscheiden sich grundsätzlich von repräsentativen Aspekten der Fotografie. Diese Unterscheidung scheint Man Ray bereits mit seinem Werk Rrose Sélavy (1920) – ein Wortspiel aus dem französischen „Eros, c’est la vie“ – manifestieren zu wollen. Das Bild zeigt ein Porträt des befreundeten Künstlers Marcel Duchamp, der sich (in Frauenkleidung) als Rrose Sélavy ausgibt. Wie bereits R. Mutt vor ihr hat Rrose Sélavy – außer als Deckname und angenommene Identität – nie existiert und kann vielmehr der Konzeptkunst Duchamps und Rays zugeschrieben werden. Im Vordergrund steht die Ironie, indem das Porträt eine klassische Port-
52 Vgl. Schwarz, Arturo: Man Ray, a. a. O., S. 300. 53 Ebd.
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rätfotografie mimt.54 Hier findet man die Denkfigur des Schnitts in der Doppeldeutigkeit, denn das Bild ist zugleich eine ganz klassische Porträtfotografie. Kombinatorik, Inszenierung, Deutung Das vierte Blatt (Abb. 18) aus Les Champs délicieux (Untitled Rayograph, 1922) zeigt einen Wunderkreisel und Hände, die in seine Richtung greifen. Dabei wirkt das Moment der Bewegung durch die Fotoaufnahme nicht angehalten, sondern ‚fortlaufend‘. Der Betrachter erhält den Eindruck, er blicke auf eine kontinuierliche Bewegung. Es sind Hände, die hier aufgrund ihrer Schattierungen und ihrer zupackenden Haltung die Bewegung suggerieren. In ähnlicher Weise geht Ray mit dem ‚rotierenden‘ Kreisel vor. Diese mystische ‚Szene‘ wirkt durch das weiße Leuchten des Kreisels sowie der strahlenden linken Hand (vermutlich Rays eigene) zusätzlich erhöht. Nicht bloß, was hier abgebildet ist – Hände, Kreisel, darüber eine Art Emblem, das Sujet gemahnt an einen Planeten (die Erde?) –, eröffnet Assoziationen von Bewegung. Schon der Wunderkreisel an sich ist das bewegte Spielzeug bzw. Instrument par excellence. Der gleich funktionierende Kreiselkompass wird in der Schiff- und Luftfahrt verwendet; er gleicht vom Aussehen her einem vereinfachten Modell der Erde, die sich um ihre eigene Achse dreht. Das Bild eröffnet also an den Schnittstellen von Objekt und Subjekt, von Sicht- und Unsichtbarem eine schier endlose Reihe an Lesarten. Darunter natürlich auch jene, in der der Künstler selbst aus Übermut nach dem WeltSpielzeug greift oder eben nach einem Instrument, um seine Lage (im Kunstraum?) zu bestimmen. Das zweite Werk (Abb. 19) aus der Serie Les Champs délicieux ist wiederum sehr konkret, und die Gegenstände gewinnen in dieser frühen Arbeit ihre Form großteils zurück. Wir erkennen Kamm, Nadel, ein Rasiermesser, Schraubenzieher, Spitzentuch sowie ein anderes Gewebemuster, das vor allem an Blutgewebe in Vergrößerung erinnert. Diese Gegenstände bzw. Formen verweisen auf die Idee eines direkten Abdrucks auf lichtempfindlichem Papier; ähnlich wie es die im fünften Blatt deutlich erkennbaren Gegenstände evozieren, die eine Pistole und einen Hotelschlüssel erkennen lassen (Abb. 20). Doch selbst diese scheinbare Evidenz bleibt beim Betrachter – gerade weil hier nach surrealistischer Art Gegensätzliches montiert wurde (Rasiermesser und Spitzentuch, Schlüssel und Revolver) – nicht frei von spontanen Verbindungen und Fragen: Was geschieht im Hotel? Mit dem Revolver? Oder werden wir durch das Bild in die Irre geführt? René Magritte sollte dieses Feld der mehr als labilen Übereinstimmung
54 Ray, Man: Self Portrait, a. a. O., S.185.
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von Objekt, seiner Bezeichnung und der Repräsentation in dem berühmten Bild La Trahison des images (Der Verrat der Bilder, 1929) fassen: Darauf ist eine Pfeife abgebildet, und darunter steht (auf Französisch): „Das ist keine Pfeife.“55 Das Paradoxon zwingt uns zur Reflexion, genauso wie es in Man Rays Mappenwerk die Anordnung und teils irritierende Kombination der Objekte tun. Das neunte Werk (Abb. 21) aus der Reihe zeichnet sich vor allem durch sein explizites Arrangement von Gegenständen aus. Hier sind neben geometrischen Formen und einem Hammer weitere handwerkzeugähnliche Gegenstände zu erkennen, die sorgsam angeordnet wurden. Dies kann als weiterer Verweis betrachtet werden, Rays Verfahren mit dem Prinzip der Montage zu vergleichen, die im Fall dieser 12 Rayografien immer schon mit Auswahl und Kombination der Objekte beginnt und bei den Metaphern und Deutungen endet, die beim Betrachten entstehen. In späteren Rayografien steht auch das Thema Mensch, der häufig als Maschine dargestellt wird, im Fokus. Hierbei arrangiert Ray oftmals eine Figur oder vielmehr ein Gesicht mittels Zusammensetzung von Gegenständen. Frauen werden dabei als Schneiderpuppen oder aus Wäscheklammern und Spiegel zusammengesetzt (The Manikin, 1923, Abb. 22). Aus einer Violinbrücke und zwei Weingläsern oder einer Maske und einem Feuerwerkskörper entstehen fremdartige Visionen von Gesichtern, und im Schatten eines Weinglases lauert ein nagetierähnliches Gesicht (Ohne Titel, 1923, Abb. 23). Ein andermal wird in der Verbindung von Kerze mit einer Nadel, gerissenem Papier und einem Spitzentortendeckchen ein angedeuteter Frauenkopf erkennbar (Ohne Titel, 1923, Abb. 24), der an eine Spitzenklöpplerin erinnert. Kunstvolle Arrangements von Altbekanntem kreieren völlig neue Sichtweisen. Ray schafft es, mit diesen Werken seit den frühen 1920er Jahren, uns eine entdeckungsreiche Welt zwischen Realität und Imagination zu eröffnen. In Les Champs délicieux zeigt das letzte Bild (Blatt 12) eindrücklich, dass gerade durch die Verfremdungen, die von Ray in eine bestimmte Anordnung gebracht bzw. miteinander verbunden wurden, sich neue Interpretationsräume öffnen: Zu erkennen ist ein Gegenstand, der an eine (Schneide-)Reibe erinnert, wie man sie aus dem Küchenbereich her kennt (Abb. 25). Diese Reibe scheint in diesem Bild Eigenständigkeit zu gewinnen und suggeriert zusätzlich die Interpretationsmöglichkeit eines architektonisch anmutenden Gebildes. Die ‚Reibe‘ erhält diese zusätzliche oder neue ‚Identität‘ allerdings nicht, indem sie durch Rays Manipulationsverfahren nun in verfremdeter Form – in diesem Fall gedoppelt und unscharf – erscheint, sondern erst durch die
55 Vgl. hierzu auch: Foucault, Michel: Ceci n’est pas une pipe. Sur Magritte, Montpellier 1973; dt. Ausgabe: Ders.: Dies ist keine Pfeife, aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, München 1974.
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Kombination mit den anderen Elementen im Bild. Erst durch die Verbindung mit den in die Höhe ragenden ‚Pipetten‘, die ebenso durch Rays Techniken in der Dunkelkammer ihre ursprüngliche Materialität (vermutlich durchsichtiges Glas) verloren haben und nun silbrig und stählern wirken, ergibt sich schließlich das Motiv von Hochhäusern bzw. einer Skyline. Dieser Eindruck wird zudem durch die wolkenähnlich wirkenden Formen im oberen Teil des Bildes verstärkt. Selbstreferentielles und die Poesie des Objekts Die 12 Bilder erzählen viele Geschichten, darunter auch welche vom Künstler und seinen Schaffensprozessen selbst. Die autobiografischen Elemente und selbstreferentiellen Bezüge im Mappenwerk Les Champs délicieux sind auch jenseits der assoziativen Metaphern vorhanden. Wie die (Pflanzen-)Blätter, die in Ernsts Frottagen wie von einem Baum ‚gefallen‘ erscheinen, tragen die Rayografien die Einflüsse des Künstlers, der sie gestaltet hat. So zeichnet sich schon die wahrscheinlich früheste Rayografie (Ohne Titel, ca. 1921) dadurch aus, dass Ray hier seine zentralen Arbeitsutensilien auf sein unbelichtetes Papier setzt: Chemikalienflasche, Trichter, Rührstock, die zum Einsatz in der Dunkelkammer kommen, sowie (s)eine Pfeife (Abb. 26). Man Ray scheint ebenso mit seinen Werken aus der Serie Les Champs délicieux seine verschiedenen Verfahrensebenen und Techniken geradezu dokumentieren zu wollen: Wir erkennen einen Trichter aus dem Fotolabor im ersten Blatt (Abb. 27) sowie eine an eine Spiralfeder erinnernde und sich lockernde Rolle Papier oder Film (Abb. 28), welche als Symbol für die neuen Medien und ihre jeweiligen technischen Bedingungen betrachtet werden können. Das bereits erwähnte Blatt 10 zeigt ein Weinglas, Pfeife, Pipette und Sieb – was alles auf den Arbeitsalltag des Künstlers anzuspielen scheint. Ein anderes Fotogramm (Ohne Titel, 1921, Abb. 29), das Laborutensilien zeigt, wird diesbezüglich ganz deutlich: Die sorgsam angeordneten Elemente zeigen im Speziellen Schere und Filmschnipsel, durch die Verfahrensweise der Überbelichtung in einer besonderen, leuchtend-weißen Farbgebung; sie verweisen auf das mechanische Zeitalter des Films, in dem die Montage direkt durch Schnitte passierte. In Rays drittem Blatt (Abb. 30) aus der Serie von 1922 wird seine besondere Art geistigen Schaffens deutlich, die seine Fotografien auszeichnet. Eine Subtilität, die mitunter mit Hinweisen arbeitet, zu denen die Psychoanalyse ganze Abhandlungen verfasst hat. Wir sehen ein lichtdurchlässiges Tuch, ein Seil mit Knoten und eine kerzenähnliche Form am Ende dieses Seiles. Da das Tuch einem Spitzentuch ähnelt und aufgrund seiner Textur etwas verdecken und gleichzeitig das Dahinter preisgeben kann, sind hier Assoziationen mit Fetischen bzw.
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Kastrationsangst zulässig. Nach Freud entwickelt der Betroffene aufgrund seines „Kastrationsschrecks“56 ein Ersatzobjekt, um seinen Komplex abzuwehren sowie gleichzeitig zu stillen. In diesem Zusammenhang betrachtet, scheint das Spitzentuch bei Ray, das zudem in vielen seiner Werke zum Einsatz kommt,57 die endlose Begierde eines Fetischisten zu symbolisieren: Es verdeckt die Wunde (Komplex) und gibt den Blick gleichzeitig frei auf das Objekt der Begierde, der in diesem Bild auf die Kerze und das (Bondage-)Seil gerichtet ist. Das Spitzentuch als Fetischobjekt kann zudem mit dem Unterwäscheobjekt verglichen werden, das sich innerhalb der Kastrationstheorie von Freud zum Ersatzobjekt entwickelt, da es den letzten Moment der Entkleidung festhalte, in dem der Junge das Mädchen noch für „phallisch“ gehalten habe.58 Hier führt das Spitzentuch zur Metapher des Schnitts, und es ist gleichzeitig symptomatisch für Rays Methode der Montage: Ray lässt durch seine Montagen ‚Lücken‘ entstehen, die der Betrachter, ähnlich wie das unstillbare Begehren des Fetischisten, durch unendliche Interpretationsmöglichkeiten annähernd, aber nie eindeutig oder endgültig schließen kann. Hierauf werde ich gleich in Abschnitt 3 detaillierter eingehen. Es sei daran erinnert, was Man Ray später in Paris-Soir über den Fotografen schreiben sollte: „He is a marvelous explorer of those aspects that our retinas
56 Vgl. Fußnote 89 im vorigen Kapitel zu Max Ernst. 57 Das Spitzentuch kommt im zweiten und dritten Werk in der Serie, ein weiteres Mal im sechsten Werk in Form von Klöppler-Utensilien sowie als feine Gardine und deren Schatten in Le Retour à la raison auf dem Frauentorso vor – um nur ein paar Beispiele zu nennen. 58 Freud, Sigmund: Fetischismus, in: Ders.: Essays. Auswahl 1920-1937, 3 Bde., Band 3, hrsg. von Dietrich Simon, Frankfurt am Main 1988, S. 231-237, S. 234. Für Freud liegt es nahe zu erwarten, dass als Ersatz des vermissten weiblichen Phallus solche Organe oder Objekte gewählt werden, die auch sonst als Symbole den Penis vertreten: „Bei der Einsetzung des Fetisch wird ein Vorgang eingehalten, der an das Haltmachen der Erinnerung bei traumatischer Amnesie erinnert. Auch hier bleibt das Interesse wie unterwegs stehen, wird etwa der letzte Eindruck vor dem unheimlichen, traumatischen, als Fetisch festgehalten. So verdankt der Fuß oder Schuh seine Bevorzugung als Fetisch dem Umstand, daß die Neugierde des Knaben von unten, von den Beinen her nach dem weiblichen Genitale gesucht hat; Pelz und Samt fixieren den Anblick der Genitalbehaarung, auf den der ersehnte Anblick des weiblichen Gliedes hätte folgen sollen, und die so häufig zum Fetisch erkorenen Wäschestücke halten den Moment der Entkleidung fest, den letzten, in dem das Weib noch für phallisch gehalten wurde.“
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will never record […].“59 So gesehen werden auch aus auf den ersten Blick nüchternen Bildern der Les Champs délicieux-Serie, etwa aus jenen, die ich zuvor als selbstreferentiell bezeichnet habe, poetische Objekt-Geschichten: Betrachten wir noch einmal das allererste Bild aus der Mappe mit den Fotolaborutensilien, wird aus dem Trichter bei gewisser Perspektivverschiebung schnell ein Megafon, ein Sprachrohr. Des Dadaismus? Des Künstlers? Kinematische Effekte der Lichtmalerei Auch wenn es nicht Ziel Man Rays war, mit seinen Rayografien Bewegung zu simulieren, erzeugen sie teils doch durch verschiedene Aspekte, die ich nochmals zusammenfassen will, genau einen solchen Bewegungseindruck. Hier sei aber zuerst auf fotografische Vorläufer verwiesen, die sich ganz vordergründig mit dem Problem der Bewegungsabbildung in der an sich statischen Fotografie befassten. Eadweard Muybridge und Étienne-Jules Marey etwa begründeten und entwickelten die Chronofotografie: ein Versuch, Bewegungsabläufe in so detaillierte Einzelaufnahmen wie möglich zu zerlegen.60 Während diese Versuche vorwiegend den physiologischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts gewidmet waren, wandte sich Anton Bragaglia ab 1911 im Umfeld des Futurismus der „dynamischen Fotografie“ zu.61 Er experimentierte mit Langzeitbelichtungen, meist von Menschen in schneller Bewegung. Erstaunliche Bildkunstwerke sind entstanden, die weit über ein Ab-Bild hinausgehen und genau darin den Werken Man Rays gleichen. Ray hat mit Les Champs délicieux eindrücklich gezeigt, dass für ihn die Fotografie mehr als nur die Möglichkeit war abzubilden. Er schreibt im selben Zeitraum, in dem auch seine Serie entsteht, an seinen Freund und Kunstsammler Ferdinand Howald: „[...] I have finally freed myself from the sticky medium of
59 Ray, Man: Apparences trompeuses, zitiert nach: Mundy, Jennifer (Hrsg.): Man Ray. Writings on Art, a. a. O., S. 88. 60 Vgl. Eadweard Muybridges Animal Locomotion (1887) und zu Étienne-Jules Marey: Snyder, Joel: Sichtbarmachung und Sichtbarkeit, in: Geimer, Peter (Hrsg.): Ordnung der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 142–167. 61 Zur „dynamischen Fotografie“ vgl. Lista, Giovanni (Hrsg.): Futurism & Photography (Ausstellungskatalog Estorick Collection of Modern Italian Art, London, 24. Januar bis 22. April 2001), London 2001, S. 21-31.
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paint and I am working directly with light itself.“62 In einem weiteren Brief im Jahr 1922 erkennt man bereits seine Zuversicht gegenüber seiner neuen Verfahrensweise, „which is done with photographic materials, however without camera, but with the objects direct, objects found or forms constructed by myself intercepting arranged lights that are thrown on sensitive paper. Each work is an original.“63 Kurz darauf veröffentlichte Jean Cocteau eine Rayografie in Les Feuilles libres, in der er schwärmt, dass Man Ray eine ganz neue Malerei entwickelt habe.64 Dass diese Art Malerei immer wieder kinematische Effekte suggeriert und erzeugt, liegt zum Großteil genau an diesem Arbeiten mit Licht, einem der konstitutiven Bestandteile des Kinos schlechthin, das Bilder per Lichtprojektion überhaupt erst sichtbar macht.65 Auch in Rays Werk ist es das Spiel mit Licht und Schatten, das seine verfremdeten Objekte lebendig wirken lässt, als würden sie vibrieren. Hier sind wir schon beim zweiten Grundbestandteil des Kinos: der Bewegung. Der Bewegungseindruck entsteht in den Rayografien einmal durch jene Bewegung, die Ray seinen Objekten mitgibt, indem er sie während der Belichtung manipuliert: Konturen verwischen, Bildteile werden unscharf wie in Filmen, etwa in René Clairs Entr’acte (F 1924), wenn die Trauergesellschaft immer schneller dem Leichenwagen hinterherläuft und Beine und Räder vor unseren Augen verschwimmen. Bewegung vermitteln bei Man Ray auch einzelne Objekte im Bild selbst, die diesen Impuls gleichsam mitbringen; dazu gehört etwa der Wunderkreisel von Blatt 4 aus Les Champs délicieux. Filmisch an den Rayografien ist, wie bereits erwähnt, ebenso die Tatsache ihrer Entstehung durch Montage, die bei der Anordnung und Kombination der Objekte ansetzt und bei den Schnittflächen und Brüchen, die der Betrachter verbinden soll, endet. Gerade das Mappenwerk evoziert noch eine weitere filmische Sicht: Legt man das En-
62 Ray, Man: Letter to Ferdinand Howald [5. April 1922], in: Mundy, Jennifer (Hrsg.): Man Ray. Writings on Art, a. a. O., S. 78-79, S. 78. 63 Ray, Man: Letter to Ferdinand Howald [28. Mai 1922], in: Mundy, Jennifer (Hrsg.): Man Ray. Writings on Art, a. a. O., S. 82-83, S. 82. 64 Cocteau, Jean: Lettre ouverte à M. Ray, photographe américain, in: Les Feuilles libres, Nr. 26 (1922), S. 134-135, S. 135; als Nachdruck zu lesen in: Mundy, Jennifer (Hrsg.): Man Ray. Writings on Art, a. a. O., S. 82. 65 Einige Filmemacher widmen sich zu der Zeit explizit diesem Thema des Lichts und der „Malerei mit Licht“ mit entsprechenden Werken; pars pro toto seien hier die Opus-Filme (D 1921-25) Walter Ruttmanns und Jeux des reflets et de la vitesse (F 1925) von Henri Chomette genannt.
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semble der 12 Bilder nebeneinander, könnte man es auch als Storyboard eines noch zu entwickelnden Films betrachten.
3. VERFREMDUNG UND IDENTIFIKATION IM SPIEGEL-BILD Es wurde deutlich, dass für Ray in der Kunst der Ausdruck einer Idee von Bedeutung ist und die Werkzeuge und Techniken verfügbare Mittel zum Zweck darstellen. Der Umstand, dass das Überwinden von ‚Schnittflächen‘ zwischen sogenannter reeller Welt und persönlicher Intuition erfolgt, wenn der Betrachter die ‚Lücken‘ schließt, die durch die Verfremdungen entstanden sind, macht den Schnitt als Denkfigur im Surrealismus wohl am deutlichsten nachvollziehbar. Diese Verknüpfungen, die sich dadurch zwischen dem Zuschauer als verbindende ‚Naht‘, der Wahrnehmung und dem Geschauten ergeben, bilden ein spannendes Feld, das hier zum Abschluss des Kapitels noch näher betrachtet werden soll – nicht zuletzt um die Denkfigur des Schnitts auszuleuchten. In der Psychoanalyse hat sich besonders Jacques Lacan diesem Verbinden von Selbstbildnis mit der Wahrnehmung des Äußeren gewidmet. Der Ausgangspunkt für Lacans Subjekttheorie (die Stellung des Subjekts) liegt in den 1930er Jahren. Auf der Suche nach einer Theorie der Persönlichkeit, die ihm für seine Doktorarbeit66 über die paranoische Psychose zunutze sein konnte, befasste er sich mit Freuds Das Ich und das Es67 (1923). Lacans Interesse galt dem Ich, dessen Entstehung laut Freud durch eine Reihe von Identifikationen hindurch verfolgt und rekonstruiert werden könne, sowie dem Verhältnis des Ichs zur Imagination, sofern sich das Subjekt im Gegenüber als Seinesgleichen (v)erkenne.68 In Filmen findet man im Zusammenhang des Überwindens von Innen- und Außenwelt immer wieder das Motiv des Spiegels.69 Bereits Ernsts Frottagen
66 Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit [De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité, 1932]. Und frühe Schriften, aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Wien 2002. 67 Freud, Sigmund: Das Ich und das Es [1923], hrsg. von Lothar Bayer, Stuttgart 2013. 68 Vgl. Braun, Christoph: Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin 2010, S. 28. 69 Vgl. Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films [1924], Frankfurt am Main 2001, u. a. S. 22; Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt am Main 1989, S. 123.
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wurden in dieser Arbeit mit durchsichtigen Spiegeln verglichen. Der Blick in den Spiegel konfrontiert einerseits mit dem Selbst, also dem eigenen Gesicht als Ausdruck des Innerlichen, andererseits ist dieser Blick ein Blick von außen und wird somit zum Blick des Anderen. Die Faszination der Surrealisten für vertauschte bzw. changierende Identitäten, die jeweils durch die Art des Aufnehmens durchdrungen sind,70 ist bekannt und konnte hier auch schon anhand von Ernsts Metamorphosen sowie von Rays Verfremdungen veranschaulicht werden. Es gibt unzählige weitere Beispiele im Surrealismus, wie der Fahrradfahrer, der Frauenkleidung einer Nonne trägt, oder die Doppelgängergeschichte in Un Chien andalou (F 1929) von Luis Buñuel sowie Salvador Dalís doppelte Vorstellungsbilder beispielsweise in den Gemälden Der große Paranoiker (1936) oder Metamorphose des Narziss (1937). Das große Interesse an vertauschten Identitäten und Kippfiguren im Surrealismus soll an dieser Stelle vor allem darauf verweisen, inwiefern hierbei die Frage der Identifikation eine Rolle spielt, der komplexen Beziehung des Zuschauers bzw. Betrachters zum Kunstwerk. In Thomas Elsaessers Filmtheorie rekurriert Elsaesser auf Béla Balázs, der als Drehbuchautor, Regisseur sowie Theoretiker aktiv war und bereits 1924 die Großaufnahme (eines Gesichts) als den Moment festgehalten hat, in dem sich zwei Gesichter gegenüberstehen.71 Die Großaufnahme führte nicht nur zur Wiederentdeckung von Mimik und subtilem Körperausdruck für die darstellenden Künste, sie bezieht ihre eindrückliche Wirkung zugleich aus dem Unterbewussten, aus den Regungen und Affekten, die sie scheinbar an die sichtbare Oberfläche holt. Und sie involviert den Zuschauer genau dadurch, gleichsam als empathisch Teilhabenden, in die diegetische Handlung. Rufen wir uns beispielsweise die Szene in Un Chien andalou ins Gedächtnis, bei der wir die Großaufnahme des Gesichts derjenigen Frau erkennen, deren Auge zerschnitten wird, können wir darin auch einen Angriff auf das Zuschauer-Auge erkennen. Es sei hier darauf hingewiesen, dass die Fotografie und der Film damals noch keinen Kunststatus wie etwa die Malerei oder das Theater innehatten. Man Ray gelang es durch seine fotografischen Werke, seinen Teil dazu beizutragen, dass sich die neueren Medien weg vom Ruf, lediglich zu dokumentieren oder zu kopieren, und hin zur Aufnahme in den Kreis der Künste bewegten. Die betonte Visualität, die sich ab den 1920er Jahren innerhalb des Surrealismus zu entwi-
70 Vgl. Gorsen, Peter: Salvador Dali, der kritische Paranoiker, Frankfurt am Main 1993, S. 61. 71 Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007, S. 77.
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ckeln begann, zeigt eine sprach- und schriftlose Ausdrucksform, die eng mit der visuellen Kultur des frühen kinematischen Bereichs verbunden ist. In diesem Sinne können Man Rays Bilder aus seinem Mappenwerk Les Champs délicieux ebenfalls als spiegelbildliche Großaufnahmen erkannt werden. Sie zeigen zwar nicht die typische Großaufnahme des Gesichts, aber, wenn die besondere Ausdrucksqualität des menschlichen Gesichts darin bestehe, dass Regungen und Affekte nicht als Aufeinanderfolge von Ausdrücken in ein Nacheinander eingeordnet seien, sondern dass diese simultan und in Überschneidungen eine Gleichzeitigkeit markieren,72 dann gilt dasselbe für Rays Metamorphosen. Denn seine verfremdeten Objekte zeigen dem Betrachter nicht nur die Welt auf eine bisher verborgene Weise (was auch das Hauptanliegen der Großaufnahme ist), sondern er sieht sich auch selbst wie in einem Spiegel an, nämlich dann, wenn er die Lücken in Rays Bildern assoziativ und imaginativ füllt. Die (neuen) Bilder oder Metaphern, von denen einige zuvor schon genannt wurden, hängen auch von seiner Erinnerungs- und Vorstellungskraft sowie Erfahrung ab und drücken stets eine Innerlichkeit aus. In Rays verfremdenden ‚Großaufnahmen‘ in Les Champs délicieux verbindet sich das Phänomen der reinen Erscheinung mit der Notwendigkeit, eine Verborgenheit von Bedeutung lesbar zu machen. In einem weiteren Schritt kann somit der Betrachter von Rays Bildern auf ähnliche Weise wie der Zuschauer, der diese Phänomenologie im Film zu bewältigen scheint, mit der Naht(stelle) assoziiert werden. Gleiches gilt in dem Fall für die im vorigen Kapitel besprochenen Werke von Max Ernst, besonders die Frottagen, die ebenfalls mit der Großaufnahme assoziiert wurden. Bei Lacan gilt das Ich als Summe der Vorstellungen über die Beziehungen zu anderen und zur Gesellschaft insgesamt und lässt sich mit dem Zuschauer, der wie eine Naht (frz. suture) Innen- und Außenwelt verbindet, vergleichen. Die freudschen und lacanschen Theoreme von Ich, Es und Subjekt reichten bis in die Filmwissenschaft der 1970er Jahre hinein, wenn beispielsweise Jean-Pierre Oudart auf die spezielle Montage- und Erzähltechnik des Films verweist, die die Einbindung des Zuschauers in die filmische Fiktion beinhaltet. Dieser Vorgang wurde meist als „suture“73 bezeichnet; der Begriff wurde zuerst von Lacan auf
72 Ebd., S. 79. 73 Oudart, Jean-Pierre: Cinema and Suture, in: Screen, Vol. 18, Nr. 4 (Winter 1977/1978), S.35-47. Das kinematische Modell von „suture“ basiert auf Jacques Lacans Subjekttheorie sowie auf Jacques-Alain Millers darauf bezugnehmender Arbeit: Suture. Elements of the Logic of the Signifier, in: Screen, Vol. 18, Nr. 4 (Winter 1977/1978), S. 24-34. (Original: La Suture. Éléments de la logique du signifiant, in: Cahiers pour l’analyse, Nr. 1 [Winter 1966], S. 37-49).
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Strukturen der Subjektformation übertragen.74 Lacan beschreibt die Naht als ein notwendiges Konzept zur „Entwicklung der Persönlichkeit des Subjekts“.75 In diesem Zusammenhang ist die Metapher der suture in der Filmtheorie die Artikulation der Beziehung zwischen dem Zuschauer und der filmischen Signifikation. Das ist eine ideologiekritische Wendung der klassischen Erzählregel des Kinos, eine Wende, die den Zuschauer derart in die Erzählung einbindet, dass die Illusion von Kohärenz und Kontinuität nicht nur in der äußeren Narration, sondern auch für die Subjektivität entsteht.76 Entscheidend im Hinblick auf den surrealistischen Kontext ist aber bereits Lacans vorausgegangene Theorie des sogenannten Spiegelstadiums.77 Das Spiegelstadium bezeichnet eine Zeit in der Entwicklung eines Kindes, ca. zwischen sechs und achtzehn Monaten, das noch nicht in der Lage ist, seinen Körper motorisch zu kontrollieren, sodass es seine Bedürfnisse selbstständig befriedigen könnte; es erkennt allerdings bereits sein eigenes Spiegelbild. Dieses Erkennen bedeutet für Lacan den Eintritt des Kindes in die symbolische Ordnung, in die gesellschaftlichen Strukturen: Das Kind nimmt sich von außen wahr, was von innen her noch gar nicht möglich wäre, wo widersprüchliche Wünsche oder Triebe diese Vorstellung, sich als vollständig abgeschlossenes Wesen wahrzunehmen, unmöglich machen würden. Das heißt, das Kind assoziiert (und identifiziert) sich in diesem Moment selbst mit dem Objekt, dem Bild, dem Imaginären.78 Es ist der erste Blick auf das Ich als Ganzes und der erste Schritt zur Herausbildung eines Selbstbewusstseins. Damit korrelieren, bei psychischen Störungen, wiederum traumatische Zerstückelungsfantasien. Dass diese IchKonstituierung durch die Identifikation mit einem Bild geschieht, wie schon der Mythos von Narziss berichtet, mag künstlich erscheinen. Doch es ist eben diese Art von projektiver (Ver-)Kennung der Realität, die im Kino, bei der Wirkung der Großaufnahme zum Tragen kommt. Dieses Modell von projektiver Verkennung zeigt sich mit dem Überwinden von ‚Schnittflächen‘ auch in Rays Bildern und Werken anderer Surrealisten. Peter Gorsen hat in seiner Abhandlung Salvador Dalí, der kritische Paranoiker79 dazu ausführlich Stellung bezogen. Er sieht im Ansatz des Spiegelstadiums und
74 Vgl. Elsaesser/Hagener: Filmtheorie, a. a. O., S. 113. 75 Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit, a. a. O., S. 342. 76 Vgl. Elsaesser/Hagener: Filmtheorie, a. a. O., S. 113. 77 Gorsen, Peter: Salvador Dali, der kritische Paranoiker, a. a. O., S. 61. 78 Pagel, Gerda: Jacques Lacan, Hamburg 1989, S. 24. 79 Gorsen, Peter: Salvador Dali, der kritische Paranoiker, a. a. O., S. 61.
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in Lacans Theorie der Ich-Konstituierung für den Surrealismus eine besondere Faszination, die interessante ästhetische Anregungen bot. Dies zeigt sich für Gorsen in der häufig anzutreffenden Zerstückelungs- bzw. Kastrationsfantasie im Surrealismus.80 Hier sind wir wieder bei der Idee der Nahtstelle (suture), die für Lacan eine „Pseudo-Identifikation“, eine nur täuschende Identifikation ist.81 Es wird etwas identisch gemacht, wovon man zunächst noch nichts Genaueres weiß. J. M. Magrini schreibt dazu: The psychological concept of „suture” begins with Lacan and the notion of subject formation, i.e., the psychical „junction” of the symbolic and imaginary realms. This is the pinnacle moment in linguistic discourse when the symbolic (the lacking self) is assuaged and fulfilled through the intervention of the imaginary self (the „I” as ego). As related to the „mirror-stage” in Lacan, it is the point at which the self-image of the child, fostered and nurtured through maternal identification, is disrupted by the unwelcome intrusion of language, as a direct result of the child’s encounter with the paternal (phallic) Other.82
Damit nun die ‚Lücken‘, die Man Ray dadurch erreicht, indem seine Verfremdungen zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion verweilen, überwunden werden, müssen sie für den Betrachter als solche erst einmal spürbar sein. Hierüber geben sie ihre physische Seite zu erkennen und machen die Identifikation als Aneignung von etwas Fremdem, Anderem möglich: Die spürbaren ‚Lücken‘ müssen überwunden werden, um den Verfremdungen (neue) Identitäten zu verleihen. Es sei an dieser Stelle festgehalten, dass der Diskurs, der den Zuschauer (Betrachter) als Naht im Surrealismus interpretierbar macht, der eines männlichen Blicks war. Der Surrealismus war eine von Männern dominierte Bewegung, die Frauen ausgeschlossen hat. Bekannterweise fanden die Sitzungen zu ihren Experimenten, von drei kurzen im November 1930 abgesehen, in exklusiver Männerrunde statt und repräsentieren eine dezidiert männliche Blickweise.83 Daher kann der Blick auf die so häufig anzutreffenden Frauenkörper oder Frau-
80 Ebd. 81 Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI [frz. 1973], Olten 1978, S. 124-125. 82 Magrini, James M.: On the System of the „Suture“ in Cinema, in: Otherzine, Nr. 10 (2006); online unter: http://www.othercinema.com/otherzine/archives/?issueid=15& article_id=33 (abgerufen am 01.06.2017). 83 Polizzotti, Mark: Revolution des Geistes. Das Leben André Bretons, a. a. O., S. 429. Im nächsten Kapitel soll auf den Diskurs eines männlichen Blicks im Surrealismus in Bezug auf Luis Buñuel noch konzentrierter eingegangen werden.
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enkörperteile vor allem einen fetischisierenden männlichen Blick ausweisen. In Bretons Gedicht L’Union libre (Claire de terre, 1931) findet sich eine Zeile, die ambivalent physische und psychische Überwindung (Identifikation) darstellt; und an der Freud und Lacan einiges zu interpretieren hätten: „Meine Frau mit dem Geschlecht / das ein Spiegel ist.“84 Indem Man Ray durch seine künstlerischen Prozesse der kameralosen Fotografie, der Kombinatorik und Montage, der Doppelbelichtung und Solarisation das Verborgene an der Realität sichtbar gemacht hat, hat er uns ebenfalls einen Spiegel vorgehalten. Schließlich ist es der Betrachter, als Nahtstelle, der mit seinen persönlichen Assoziationen und Interpretationen das Kunstwerk erst beendet. Diese Nahtstelle, die bei avantgardistischer Kunst besonders wirksam wird, ist nichts anderes als eine weitere Denkfigur des Schnitts im Surrealismus. Hierüber wird deutlich, inwiefern der erfinderische bzw. ambivalente Blick Man Rays die Fotografie zu mehrsinnigen Sichtweisen des Wirklichen befähigte und dem Medium eine neue Qualität verlieh – jene zum Aufspüren des Surrealen in der Realität.
84 Breton. André: Freie Liebe aus Erdschein [L’Union libre, Clair de terre, 1931], hier zitiert nach: Enzensberger, Hans Magnus (Hrsg.): Museum der modernen Poesie, Text übersetzt von Max Hölzer, 2 Bde., Band 1, Frankfurt am Main 1960, S. 193-195, S. 194.
IX. „Bewusster Automatismus“ und semantische Verschiebung durch Montage Prinzipien der Verknüpfung in Luis Buñuels Frühen Filmen
In den vorigen Kapiteln konnte bereits gezeigt werden, inwiefern André Bretons Automatismusbegriff in Man Rays Rayografien sowie in Max Ernsts Frottagezeichnungen einem gelenkten Automatismus entspricht. Der Automatismus stellt dabei einen Versuch der Surrealisten dar, sich einer Spontaneität anzunähern, einem „objektiven Zufall“; letztlich griffen sie aber im Verlauf dieses Versuchs immer wieder zur bewussten Kontrolle, um jede zu offensichtliche oder gewöhnliche ‚Mitteilung‘ zu vermeiden. Dieses Verfahren der synthetisch-kritischen Methode ähnelt der psychoanalytischen Methode der Traumdeutung, indem die Elemente (im Text oder im Traum) für etwas anderes bzw. Neues stehen können.1 Einen wichtigen Unterschied gibt es aber doch: Freud verortete den Ursprung des Traummaterials im Alltag. Das Geheimnis parallelen Lebens unbewusster Gedanken ist für ihn im Wachzustand verankert; dieses Material wird gespeichert bis zum Einschlafen und erst dann verwendet bzw. kommt es erst
1
Die synthetische Methode bezieht sich hier auf die durch Immanuel Kant erarbeitete Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen aus seinem Werk Kritik der reinen Vernunft (Erstausgabe: 1781), die Kant zufolge im Prädikat besteht und bereits in dieser Arbeit im Abschnitt, der sich mit Man Ray befasst, erwähnt wird. Vgl. Kap. VIII, Fußnote 33. Vgl. zudem Söhngen, Gottlieb: Über analytische und synthetische Urteile. Eine historisch-kritische Untersuchung zur Logik des Urteils, Dissertation, München 1915, S. 14, online unter: https://archive.org/details/beranaly tischeun00shng (abgerufen am 01.03.2016).
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dann zum Vorschein.2 Im Gegensatz hierzu wollte der Surrealismus den Prozess gerade in die umgekehrte Richtung aktivieren: Der Alltag sollte durch den Traum nachdrücklicher unterwandert und bereichert werden, durch seine Sprache bzw. seine Freiheit von logischem Zwang. Dies war eine Methode, die auf einer ästhetischen, moralischen sowie psychosozialen Ebene realisiert werden sollte. Das Unbewusste bzw. unbewusste Gedanken sollten die Vorstellung und Erfahrung von Realität beeinflussen, indem sie Einblick und Eintritt in das geheime Leben der materiellen Welt sowie des Menschen gewährten. Soweit der erste Schritt des surrealistischen Vorhabens. Der nächste Schritt zeichnet sich durch eine tatsächliche physische Transformation der Welt aus: mittels surrealistischer Verfahren und Kunst. Die Macht des Films scheint dabei auf der Hand zu liegen, kann er doch durch ihm immanente Eigenschaften bzw. Bild- und Schnittverfahren zeitliche, räumliche und psychologische Dimensionen der ‚Wirklichkeit‘ vorschlagen bzw. vorgeben. Das ‚unbewusste Leben‘ konnte also direkt aus dem Filmbild heraus ‚gezeichnet‘ werden und entstehen. Die synthetisch-kritische Methode liegt auch diesem Verfahren zugrunde: Es lässt uns in das geheime Leben (des Bildes) ‚hinein‘, indem es die (filmische) Kontinuität und die gegenseitige Durchdringung von bewussten und unbewussten Gedanken zeigt, ähnlich wie es innerhalb des filmischen Bildes enthüllt wird; und dieses Bild lässt sich je nach den Wünschen bzw. der Deutung und Interpretation seitens des Zuschauers umstrukturieren. Breton, Soupault und die erste Generation der Surrealisten – zu der auch Luis Buñuel hinzugezählt werden kann – machen den Anschein, als versuchten sie durch die synthetisch-kritische Methode, den latenten Trauminhalt aus den Traumgedanken zu extrahieren. Hierfür sollen vor allem Buñuels frühe Werke Un Chien andalou (F 1929) und L’Âge d’or (F 1930) hinsichtlich Analogien zwischen Film und Psychoanalyse näher untersucht werden. Dabei ist die Frage von Bedeutung, warum gerade psychoanalytische Denkfiguren reizvoll und prägend für den surrealistischen Film waren. Ebenso wird ein Seitenblick auf kulturhistorische Parallelen von Psychoanalyse und Surrealismus geworfen, auf ihre Praktiken, auf die Selbstreflexion des Subjekts sowie auf ihr Verständnis des modernen Individuums. 1947 kommentierte Buñuel etwa zu Un Chien andalou: „NOTHING, in the film, symbolizes ANYTHING. The only method of investigation of the sym-
2
Freud, Sigmund: Die Traumdeutung [1900], Nachdruck der 7. Aufl., Bremen 2012, S. 53.
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bols would be, perhaps, psychoanalysis.“3 Es soll im Folgenden aber vor allem um jene Beziehungen zwischen Kino und Psychoanalyse gehen, die bestimmte konstitutive Aspekte des filmischen Bildes betreffen sowie die Art und Weise, wie der Zuschauer Filmbilder erlebt. Somit stehen nicht die Handlungen bzw. surreal-(alb-)traumhaften Filminhalte im Vordergrund, sondern die Montage, um den Traumcharakter der Filmbilder in ihrer Verknüpfung zu analysieren. De-Sublimierung im surrealistischen Film Ein im klassischen Sinn nicht-narrativer Film, wie auch Buñuels Un Chien andalou oder L’Âge d’or, entwickelt keine illusionistische Handlung oder Erzählung, sondern einen Diskurs. Für Christine N. Brinckmann hat der nicht-narrative Film kein materielles Hier und Jetzt, auf das er sich bezieht oder gar festlegt. Dabei bilden Zeit- und Ortsprünge keine Brüche, da der Zusammenhang imaginärer Natur sei.4 Auch wenn das fotografische Bild seinem Wesen nach konkret ist, das heißt einem Augenblick und einem bestimmten Standort aus der Realität entspringt, ist die indexikalische Verknüpfung im Film insofern außer Kraft gesetzt, da sie die Montage nur manchmal bzw. sekundär bestimmt (z. B. im Fundusfilm5). Die abgelichteten Dinge sind in ihrer Dingwelt verhaftet, gleichzeitig dennoch Teil einer formalen Komposition, die für sich steht. Max Ernst etwa gelingt die poetische Montage durch Verknüpfungen von Gegensätzlichkeiten bzw. durch den Schnitt zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, die zur Anatomie (wörtlich übersetzt: Auf-Schnitt) von den Objekten und zu ihren Metamorphosen führen. Im Film werden für solch „harte Fügungen“6, wie sie Brinck-
3
Buñuel, Luis: Notes on the making of Un Chien Andalou, Herv. i. O.; in: Arts in Cinema, hrsg. von Frank Stauffacher, 1947. Zitiert nach: https://cinefiles.bampfa. berkeley.edu/cinefiles/DocDetail?docId=4824 (abgerufen am 04.05.2017).
4
Brinckmann, Christine N.: Die poetische Verkettung der Bilder, in: Montage AV
5
Ebd., S. 33-34: „Beim Fundusfilm steht die Montage im Zentrum. Dabei besteht er
20/1/2011, S. 38. teilweise aus sogenanntem found footage, also aus fremdem, gefundenem und bereits vorhandenem Material. Allerdings gilt dies auch für solche Collagen, die aus eigenen Bildern bestehen. Denn sobald man diese aus ihrem Kontext löst, um daraus Neues entstehen zu lassen, behandelt man sie quasi wie gefundenes Material. Filme dieser Art kommen oft ohne Drehbuch aus. Ihre Montage folgt einem kreativen Prozess oder Konzept, einer teilweise nur vagen Idee oder einer formalen Vorstellung vom fertigen Film. Doch letztlich entstehen sie erst am Schneidetisch.“ 6
Ebd., S. 38.
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mann nennt, unter anderem einzelne Kader Schwarz- oder transparenter Blankfilm eingeschoben, um die Eigenständigkeit zu betonen. Außerdem tragen multiple Aufnahmesituationen dazu bei, dass sich kein Schauplatzeindruck konsolidiert. Die sichtbare Welt trete uns, so Brinckmann, „als mit der Kamera fokussierte, zum Bild gemachte, fragmentierte, artefaktische entgegen, nicht als zusammenhängende reale oder scheinbar reale, in der man sich materiell bewegen könnte“.7 Schon die Bilder, die sich bei Man Ray durch die Verfahren der kameralosen Fotografie in der Dunkelkammer ergaben und Verfremdungen zeigen, verweilen in einer Art Montage zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit; sie bieten für ihre Interpretation verschiedene Anschlussmöglichkeiten. Mit der Montage im Film verhält es sich ähnlich: Mit ihr wird das Material semantisch ‚gerichtet‘ (je nach Verknüpfungsart oder -relevanz), wobei es gerade im Film (nicht zuletzt durch die Flüchtigkeit der Projektion) passieren kann, dass eine vorgegebene Gewichtung durch den Zuschauer umgedeutet, anders gedeutet oder gar übergangen wird.8 An dieser Stelle sei auf Rays Film L’Étoile de mer (F 1928) hingewiesen, der die Parallele zum synthetisch-kritischen, durch die écriture automatique gewonnenen Text im Film als einer der ersten bildet bzw. poetisiert. Man Rays Bilder begleiten hier, aber illustrieren dabei keinesfalls, Zeilen aus einem Gedicht von Robert Desnos. Die Art, wie Ray in seiner Autobiografie Self Portrait Desnos’ Gedicht beschrieben hat (das wohl nicht mehr existiert), hört sich nach einem Text in dem Sinne an, wie er durch den objektiven Zufall bzw. automatische Schreibverfahren gewonnen wird: Desons’s poem was like a scenario for a film, consisting of fifteen or twenty lines, each line presenting a clear, detached image of a place or of a man and woman. There was no dramatic action, yet all the elements for a possible action. The title for the poem was L’étoile de Mer, Star of the Sea. [...].9
Ray arbeitet im Film mit ähnlich offenen Text-Bild-Verknüpfungen. So lautet beispielsweise ein Zwischentitel „Les dents des femmes sont des objets si charmants …“, während die nächste Einstellung nicht Zähne, sondern Frauenbeine zeigt. Das heißt, dass ein poetisches Universum ein anderes begleitet. Die Bezüge, die Schnittflächen sind jedoch nur relativ offen. Der Film von Ray verinnerlicht quasi seine eigene synthetische Kritik. Ernsts Verfahren der Frottage, die
7
Ebd., S. 34.
8
Ebd.
9
Ray, Man: Self Portrait [1963], New York 1988, S. 223-224.
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für ihn demselben Prinzip wie seine Collagen entstammen, veranschaulichen ebenfalls ein Arbeitsverfahren, das zunächst auf die Kombinatorik erkennbarer Gegenstände oder ‚Szenen‘ verzichtet. Dennoch führt dies nicht zu einer Gegenstandslosigkeit, die einen gänzlich offenen Interpretationsmodus anbietet. Seine ‚Formüberblendungen‘ funktionieren stets innerhalb eines erkennbaren Schemas. So werden beispielsweise in Das Meer und der Regen (1925) der Horizont, der Himmel und das Meer wahrnehmbar und agieren damit als erkennbares Schema von Welt. Was nun die Filme Un Chien andalou und L’Âge d’or anlangt, spielt hier vor allem der Begriff „Desorientierung“ eine große Rolle. Er beschreibt die visuelle und hintergründige Wirkmacht, die ein Werk besitzen kann, um Gedanken zu stören, um uns in unseren allzu vertrauten An-Sichten zu erschüttern, um schließlich den ‚Geist‘ in Kontakt mit seinen eigenen unterbewussten Ressourcen zu setzen. Sigmund Freud hat uns schon die Mittel genannt, die das Unbewusstsein dazu verwendet: Verdichtung, Verschiebung, Symbolisierung, coexistierende Gegensätze sowie Missachtung von Zeit, Raum und Kausalität.10 Die Surrealisten setzten diese Methoden ein, um bewusst das unbewusste Leben der Dinge zu enthüllen. Sie wollten das Ungleichgewicht, das ihrer Meinung nach durch die ausschließliche Verwendung von Vernunft bestand, beseitigen. Die Filme, die die Surrealisten machten, basieren weitgehend auf diesen formalen Strategien. Sie waren zudem auch aus filmphänomenologischer Sicht fruchtbar. Wenn Sublimierung den mentalen Prozess beschreibt, durch den unbewusstes, (gesellschaftlich) nicht akzeptables Denken brauchbar gemacht wird, indem es durch ‚höhere‘ Denkformen, wie durch Umlenkung in geistige oder kulturell anerkannte Verhaltensweisen, ersetzt wird,11 dann wollten die Surrealisten das Kino de-sublimieren, es quasi mit seinem verinnerlichten, unbewussten Leben konfrontieren. Aus André Bretons Sicht war das Kino eine lyrische Substanz, die das Mittel besaß, „um sich ohne Hilfeleistung durch das Buch mitzuteilen, was nicht heißen soll, dass der neue Lyrismus die des Phonographen entgegennehmen wird.“ Durch das Kino schien für Breton, „mit Hilfe des Zufalls, das Wunder der geschlossenen Augen weiterhin erreichbar“.12 Der (objektive) Zufall stellt auch in
10 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung [1900], a. a. O., S. 211-213. 11 Für Freud bedeutete die Sublimierung die Umlenkung von (erotischer) Energie, von Libido, in meist künstlerische, wissenschaftliche Tätigkeit. Nach dieser psychoanalytischen Deutung bedingt die Sublimierung die Entstehung der menschlichen Kultur. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, a. a. O., S. 121. 12 Breton, André: Merkmale der Entwicklung der Moderne und von allem, was an ihr teilhat [Caractères de l’évolution moderne et ce qui en participe, 1922], in: Die verlo-
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diesem Fall ein anwendbares Verknüpfungsprinzip dar. Auf den Film, die Lichtprojektion bezogen, liest sich Bretons Aussage über die zufällige Annäherung von Gegensätzlichem und den Funken, der daraus geschlagen wird, nochmals etwas anders; hier nun ausführlicher zitiert: Meines Erachtens ist es verkehrt zu behaupten, daß von den zwei gegebenen Wirklichkeiten der Geist die Beziehungen erfaßt habe. Zuerst einmal hat er überhaupt nichts bewußt erfaßt. An der sozusagen zufälligen Annäherung der beiden Ausdrücke hat sich ein besonderes Licht entzündet, ein Licht des Bildes, für das wir unendlich empfänglich sind. Der Wert des Bildes hängt ganz von der Schönheit des erzielten Funkens ab; ist also folglich die Funktion des Spannungsunterschieds zwischen den beiden Leitern. Wenn dieser Unterschied nur sehr schwach ist, wie im Vergleich, kommt es zu keinem Funken. Nun ist aber nach meinem Dafürhalten der Mensch nicht befähigt, die Annäherung zweier so weit voneinander entfernter Wirklichkeiten zu bewerkstelligen. Das Prinzip der Ideenassoziation, wie wir es kennen, stellt sich dem entgegen. [...] Man muss also wohl oder übel zugeben, daß die beiden Begriffe, die das Bild ausmachen, vom Geist nicht etwa mit Absicht auf den zu produzierenden Funken voneinander abgeleitet werden, sondern daß sie das Ergebnis eines Vorgangs sind, den ich surrealistisch nenne, wobei die Vernunft sich darauf beschränkt, das Licht-Phänomen festzustellen und zu würdigen.13
Dieses Verknüpfungsprinzip lässt sich im bereits erwähnten Gemeinschaftswerk Les Champs magnétiques (1920) aufspüren und steht im Zusammenhang mit der Methode der écriture automatique.14 Ein weiteres surrealistisches Verfahren, das vor allem für die Analyse von L’Âge d’or relevant werden wird, ist das in Abschnitt V erläuterte cadavre exquis-Spiel. Der Literaturwissenschaftler Peter Bürger hat in Les Champs magnétiques bei den formalen Merkmalen der Verknüpfungen einen hohen Grad semantischer Inkohärenz festgestellt;15 die verschiedenartigen Verfahrensweisen der Verknüpfung darin hängen jeweils von
renen Schritte [Les Pas perdus, 1924], aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock, Berlin 1989, S. 137-159, S. 158. 13 Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, 12. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2009, S. 35. 14 Soupault, Ré: Über das traumhafte Schreiben und das Schicksal eines Manuskripts, in: Breton, André/Soupault, Philippe: Die magnetischen Felder [Les Champs magnétiques, 1920], aus dem Französischen übersetzt von Ré Soupault, Heidelberg 1990, S.177-191, S. 179-180. 15 Bürger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur, Frankfurt am Main 1996, S. 158.
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den verschiedenen literarischen Formen ab, die hier als Sinngefüge dienen, wie Erzählung, Sprichwörter, Dialog oder Sketch, und zeigen anhand dieser Strukturträger (Genres), dass das Automatische bei Breton und seinem Co-Autor Philippe Soupault abhängig von Kontrollfunktionen ist. Gleiches gilt für den Filmemacher Buñuel, der über seinen Erstling Un Chien andalou schrieb: „The plot is the result of a CONSCIOUS psychic automatism and, to that extent, it does not attempt to recount a dream, although it profits by a mechanism analogous to that of dreams.“16 Im Folgenden gilt es nun, auch bei Buñuels Werken zu zeigen, inwiefern eine gewisse Beibehaltung bestimmter Einheiten und diese bewusste Lenkung des Automatismus die von den Surrealisten beabsichtigte völlige Befreiung vom Zwang logischer Folgerichtigkeit den objektiven Zufall unterlaufen. Es soll dabei veranschaulicht werden, inwiefern die Verknüpfungsprinzipien, die in Buñuels ersten beiden Filmen zum Einsatz kommen, zur Metapher des Schnitts führen; es sind Metaphern, die mit historischen Denkfiguren zusammenhängen, wodurch der Schnitt auch in Buñuels Filmen mehr als ein reines Handwerk darstellt. Die Auffassung der Surrealisten, dass der Film mehr als die anderen darstellenden und abbildenden Künste ein Paradigma des Geistes darstelle, hing damit zusammen, dass sie dem Film eine bewusste und eine unbewusste Dimension per se zuschrieben.17 Filmische Syntax und fotografischer Illusionismus erschienen dabei für sie als Analogien des Denkens. Buñuel behauptet beispielsweise, dass er und sein Co-Autor Dalí die Absicht hatten, „Gags und Gegenstände zu wählen, die uns gerade einfielen, und erbarmungslos alles auszuscheiden, was etwas hätte bedeuten können“.18 Dies veranschaulicht, inwiefern das unbewusste, traumhafte Denken im surrealistischen Film auf besondere Weise zum Ausdruck kommt. Dies bedeutete jedoch nicht, das andere, herkömmliche Kino als unvollständig zu betrachten, da bewusste und unbewusste Gedanken sich gegenseitig nähren und auch die Filme, die eine logische Diegese (offenkundig) ver-
16 Buñuel, Luis: Notes on the making of Un Chien Andalou, a. a. O. 17 Goudal, Jean: Surrealism and Cinema [1925], in: The Shadow and Its Shadow. Surrealist Writings on Cinema, hrsg. von Paul Hammond, London 1978, S. 49-56; Buñuel, Luis: Instrument of Poetry [1953], in: The Shadow and Its Shadow, a. a. O., S. 66-69, S .68. 18 Das Zitat von Luis Buñuel stammt aus einem Interview mit Salvador Dalí aus dem Jahr 1930. Dalí, Salvador: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schriften, übersetzt von Tilbert Diego Stegmann, hrsg. von Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann, Frankfurt am Main 1974, S. 97.
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folgen, eine unbewusste Dimension enthalten. Hierarchien von Inhalt und Form werden allerdings immer geformt, auch für Filme mit fehlender Erzählstruktur. Durch die Fokussierung auf Wunsch oder Begierde, wie sie sich in der poetischen Fantasie manifestieren, um die verborgenen Tiefen des Films auszuloten, umgingen die Surrealisten allerdings diese gewohnten Hierarchien und beachteten beispielsweise nur die poetischen ‚Beweise‘, die sie für ihre angestrebte Sichtweise brauchten, und ignorierten dabei, was für ihren Fall nutzlos erschien.
1. UN CHIEN ANDALOU: „NOTHING, IN THE FILM, SYMBOLIZES ANYTHING“ Luis Buñuel führte nicht nur Regie bei Un Chien andalou, sondern fungierte auch als Produzent und Schnittmeister des Films. Das Drehbuch wurde von ihm und Salvador Dalí gemeinsam verfasst. Bei seiner Erstaufführung im Sommer 1929 in Paris wurde der stumme Film von auf Grammophon abgespielten Schallplatten begleitet: der als Liebestod bekannte Akt aus Richard Wagners Oper Tristan und Isolde und argentinischer Tango. Erst im Jahr 1960 wurde eine vertonte Filmversion hergestellt, die auf der 1929 von Buñuel ausgewählten Musik basierte. Hauptdarsteller in diesem Werk sind Pierre Batcheff, Simone Mareuil, die den Mann und die Frau spielen, sowie unter anderem Luis Buñuel, Jaime Miravilles und Salvador Dalí. Die Spieldauer des Films beträgt insgesamt 17 Minuten. Un Chien andalou war innerhalb der Surrealisten- und Avantgardistenkreise sofort ein Erfolg. Zahlreiche Forschungen, die sich mit dem Film bereits beschäftigt haben, handeln vor allen Dingen von seinen historisch-ästhetischen Implikationen. Für das Vorhaben dieser Arbeit, die den Fokus insbesondere auf die Montagemethodiken im Surrealismus legt, stütze ich mich daher eher auf Literatur wie Linda Williams Figures of Desire19, die die verschiedenartigen formalen Verknüpfungen in Un Chien andalou berücksichtigt, Elisbath Bronfens Crossmappings20 und Andrea Sabbadinis Projected Shadows21, die in ihren Büchern neue Verbindungslinien zwischen ausgewählten Bildformen und ihren nachträglichen Effekten ziehen, sowie Janet Staigers Pervers Spectators22 und Kaja Silvermans The
19 Williams, Linda: Figures of Desire, Berkeley/Los Angeles 1992. 20 Bronfen, Elisabeth (Hrsg.): Crossmappings. Essays zur visuellen Kultur, Zürich 2009. 21 Sabbadini, Andrea (Hrsg.): Projected Shadows. Psychoanalytic Reflections on the Representation of Loss in European Cinema, London/New York 2007. 22 Staiger, Janet: Perverse Spectators. The Practice of Film Reception, New York 2000.
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Acoustic Mirror23, die die Überlegungen zur Rezeption von Film darstellen, die zeitgenössischen Medienstudien zugrunde liegen. Dabei rücken für die vorliegende Analyse diejenigen Verknüpfungsprinzipien in den Vordergrund, die – sowohl im verbalen als auch im filmischen Ausdruck – auf eine Metapher angewendet werden können.24 Die erste, geläufigere Art solcher Verknüpfungen besteht darin, dass Metaphern (in denen zwei Begrifflichkeiten, Bilder o. Ä. aus verschiedenen Wirklichkeitswelten verbunden und zu etwas Neuem werden) oder auch Metonymien (in denen ein sprachlicher Ausdruck nicht im wörtlichen Sinne gebraucht wird, also etwas anderes meint) syntagmatisch in der verbalen oder bildnerischen Sequenz angeordnet sind. Die syntagmatische Beziehung von sprachlichen Ausdrücken bzw. bildlichen Elementen bezieht sich dabei auf die Vergleichbarkeit auf der Ebene des Referenten sowie auf die Kontinuität auf der Ebene des Diskurses – entweder als reine Metapher oder extradiegetisch.25 Die zweite, unüblichere Art besteht darin, die Stilfiguren paradigmatisch anzuordnen. Dies bedeutet, dass die Stilfigur so sehr verdichtet wird, dass das gezeigte bzw. erwähnte Element des Stilmittels für den Teil steht, der nicht gezeigt bzw. erwähnt wird. Diese zwei Arten, die jeweils auf eine Metapher (und Metonymie) angewendet werden können, gilt es im Folgenden in Buñuels Film aufzuzeigen, um zu veranschaulichen, inwiefern seine Verknüpfungsprinzipien zur bestimmten Metapher des Schnitts führen können. Der Prolog: Runde Formen, horizontale Linien und die Metapher des Schnitts Der Prolog beginnt mit dem Insert „Es war einmal …“. Neben diesem Titel zählt die Sequenz im Film zwölf Einstellungen (Abb. 31). In der ersten Einstellung sieht man die Hände eines Mannes, der ein Rasiermesser an einem Streichriemen schärft. Die darauffolgende Nahaufnahme zeigt uns den Kopf und die Schultern eines Mannes (Buñuel), der eine Zigarette im Mund hat. Die nächste Einstellung wiederholt die zuvor gezeigte Szene des Schleifens und endet damit, dass nun
23 Silverman, Kaja: The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema, Indianapolis 1988. 24 Williams, Linda: Figures of Desire, a. a. O., S. 56. Linda Williams bezieht sich dabei vor allem auf die Erweiterung von Roman Jakobsons Rhetorik durch Christian Metz. Metz hat gezeigt, inwiefern – trotz Jakobsons Erweiterung der verbalen Rhetorik auf visuelle Stilfiguren – eine anhaltende Tendenz dazu besteht, filmische Rhetorik mithilfe der verbalen Tropen zu definieren. 25 Ebd.
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der Mann das Rasiermesser am Fingernagel seiner linken Hand auf dessen Schärfe hin testet. Hier trifft augenscheinlich eine horizontale Linie (Rasiermesser) auf eine runde Form (Fingernagel des Daumens). Eine optische Kombination, die in drei weiteren Einstellungen des Prologs betont wird: So bilden die Türen hinter dem Mann (er ist auf einen Balkon getreten) eine horizontale Linie, die exakt auf Augenhöhe hinter dessen Kopf verläuft. Am Himmel, so vermittelt es die Einstellung, erblickt der Mann den runden Vollmond, über den horizontale Wolkenstreifen ziehen. Die Reihenfolge der ersten Einstellungen (Schärfen des Rasiermessers) war die von Objekt-und-Blick. Wohingegen die Reihenfolge der nächsten Einstellungen umgekehrt verläuft, und zwar Blick-und-Objekt. Wir sehen den Mann, wie er hoch zum Himmel blickt, und anschließend sehen wir den Mond, dann wieder den Blick des Mannes (was einer gebräuchlichen Reihenfolge von Schnitt und Gegenschnitt im Film entspricht). Folglich erwartet der Zuschauer nun, erneut den Mond bzw. die fortlaufende Bewegung der Wolken zu sehen. Was folgt, ist allerdings ein neues Element, das Buñuel einführt: die Nahaufnahme des Gesichts der Frau (Mareuil). Die sitzende Frau sieht direkt in die Kamera. Der Torso eines Mannes ist hinter ihr zu erkennen. Dann sehen wir wieder kurz den Nachthimmel mit Mond und Wolken. Anstatt den begonnen Handlungsstrang bzw. die Bewegung der Wolke quer über den Mond zu Ende zu führen, montiert Buñuel einen formal ähnlichen Handlungsstrang, in dem das Auge der Frau mit dem Rasiermesser durchschnitten wird – das vierte Aufeinandertreffen von jeweils horizontalen Linien mit runden Formen, hier verkörpert durch Rasiermesser und Auge. Aufgrund der konsequenten Montagemethodik Buñuels und der wiedererkennbaren Bildelemente (horizontale Linie trifft rundes Objekt) erscheint für den Zuschauer das neue Element des Auge-Durchschnitts zunächst konsistent mit dem Handlungsstrang des restlichen Prologs. Das heißt, der Zuschauer nimmt die beiden eigentlich auseinanderliegenden Szenen als einen einheitlichen Erzählstrang wahr. Der Film suggeriert, dass beide Handlungen (Mond-Anschauen und Auge-Durchschneiden) in einem einheitlichen bzw. kausalen Raum-ZeitGefüge stattfinden, und zwar auf demselben Balkon und unter demselben Nachthimmel. Gleichzeitig gibt es jedoch keinen eindeutigen Hinweis darauf, dass sich die Frau ebenfalls in diesem Raum-Zeit-Modus befindet. Der Zuschauer nimmt diesen Umstand lediglich aufgrund der generellen Kontinuität der vorangehenden, zusammenhängend wirkenden Elemente an. Dabei ist der Torso, der sich hinter der Frau aufhält, ein gestreiftes Hemd trägt und das Rasiermesser in der Hand hält, keineswegs der erste Mann aus dem Prolog. Denn dieser zweite Mann trägt im Unterschied zum anderen keine Uhr, aber dafür eine gestreifte Krawatte.
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Es kann bisher festgehalten werden, dass Buñuel eine gewisse Spannung erzeugt, die aus der Handlung selbst zu erwachsen scheint, und zwar ohne dass eindeutige Brüche mit der ‚Realität‘ spürbar werden, jedoch trifft NichtZusammengehörendes aufeinander. Buñuel erzeugt diese Spannung (den surrealistischen Funken), indem er aufeinanderfolgende Handlungen über die Montage miteinander verknüpft: Das Schärfen der Klinge und der Probeschnitt am Daumen finden ihre Fortsetzung im finalen Durchschnitt sowohl des Mondes als auch des Auges. Bei näherer Betrachtung werden allerdings in beiden Handlungen exakt diejenigen Annahmen über eine Einheit von Zeit und Raum oder Handelnden untergraben, die die Montage uns nahezulegen scheint. Und so zeigt sich bei genauerer Beobachtung (in der Wiederholung möglich, in der gewöhnlichen Kinoprojektion eher schwierig), dass nicht bloß der Mann nicht derselbe scheint, sondern auch das Auge der jungen Frau mit dem Auge, das dann zerschnitten wird (das eines Tieres), nicht identisch ist. Auch hier stellen wir die Verknüpfung durch die raffiniert rhythmisierte Montage her: Die Augen-Szene wird geteilt durch die Einblendung des Mondes, über den nun die strichförmige Wolke zieht – genau wie das Messer gleich darauf durch das Auge. Da nun die Assoziation durch die ähnlichen Formen motiviert wird und weniger durch eine Assoziation, die auf zeitlicher Abfolge beruht, ist diese Stilform der Montage metaphorisch zu verstehen. Durch diese Ähnlichkeiten zwischen den Elementen Mond und Auge sowie Wolke und Rasiermesser kann, wie gesagt, selbst in der Bewegung der Wolke ein Schnitt, ein Durchschneiden, wahrgenommen werden. Interessanterweise verbindet Buñuel die Einstellungen in solch einer Reihenfolge, dass die Elemente Wolke und Mond den tatsächlichen Schnitt – nämlich den Auge-Durchschnitt – vorwegnehmen. Vermeintliche Hintergrundelemente (meistens gehören sie dem Bereich Natur, Architektur bzw. nicht-menschlicher Natur an) werden dadurch kurzzeitig in den Vordergrund gerückt, dass sie als Kommentar für die dominante narrative Handlung dienen. Innerhalb des Prologs ist somit die Hierarchie gestört: Das entscheidende Merkmal der Metapher des Schnitts im Prolog wird durch ein vergleichendes Element der Metapher – in diesem Fall die Wolke, die quer über den Mond zieht – zuerst angeführt. Das anfängliche Schleifen des Rasiermessers bzw. der Schnittversuch am Fingernagel kann in dem Sinne bereits als Ankündigungsgestus bzw. als pars pro toto – eine Sonderform der Metonymie – gesehen werden. Schon der Prolog zeigt, wie es Buñuel durch bestimmte Verknüpfungsmethoden gelingt, eine Handlung einzuführen, die der Metapher dient – und nicht etwa, wie üblich, eine Metapher einzuführen, die der Handlung dienlich wird. Dies geschieht bei Buñuel in einer Art und Weise, als würden die ähnlichen Formen jeweils die Handlung des Durchschneidens ‚ans Licht‘ bringen und dar-
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über die Metapher des Schnitts erzeugen. Also gehören nun Mond und Wolke, die eigentlich außerhalb der Haupthandlung liegen, auf einmal auch zu dieser. Die eigentliche Haupthandlung (das Auge-Durchschneiden) scheint auf die Formen Mond-Wolke rückwirkend übergegangen zu sein. Genau hierin zeigt sich die Montagearbeit des Künstlers: Buñuel spielt mit (vermeintlichen) Neben- und Hauptbedeutungen, mit formalen Parallelinszenierungen (sogar die Geschwindigkeiten von Wolke und Rasiermesser beim Durchschnitt ähneln sich) und motiviert so zu Verknüpfung und Vergleich. Diese Motivationen erzeugt Buñuel beim Zuschauer, ohne unmittelbare Erklärung auf der Ebene der Inhalte bzw. der bezeichneten Objekte zu liefern. Buñuels Verknüpfungsmethoden, das heißt, was und wie er miteinander verknüpft, scheinen nicht nur vielschichtig die Handlung zu erzeugen, sondern werden zudem zu einem selbstreflexiven Kommentar zum Prozess der Metaphernbildung. Betrachten wir nochmals die drei Hauptbilder des Prologs: Der erste ‚Schnitt‘ durch den Daumennagel mit dem Rasiermesser bereitet den Zuschauer auf das spätere bildliche Durchschneiden des Mondes durch die Wolke vor, welches wiederum zum Vorbild für das wortwörtliche Durchschneiden des Auges wird. Für Williams erscheint an dieser Montage nicht nur der eine Umstand radikal zu sein, der ein gewaltvolles und sadistisches Bild neben ein Bild setzt, das völlig harmlos und natürlich ist. Vor allem aber wirke die Tatsache verstörend, dass die Funktion der Montage im Prolog eine Kontrolle ausübende ist, indem die Form(-gebung) die Entwicklung des sadistischen und gewaltvollen Inhalts vorgibt.26 Im Prolog führt die gestörte Hierarchie von Hintergrund und Vordergrund zu einer Situation, in der das bildliche Element, als Symbol, vorausgeht und somit die Handlung (des Durchschneidens) erst zu erzeugen scheint bzw. gleichsam erzwingt. Der symbolische Schnitt der Wolke durch den Mond wird mit der Folgeeinstellung zur zwingenden Metapher des Schnitts. Buñuel gelingt es, die Brüche innerhalb der Montage für den Zuschauer nicht (auf Anhieb) spürbar werden zu lassen, und so erhält der Zuschauer den Eindruck von Realität, indem die Bilder zu Effekten von Kontinuität führen. Darüber hinaus gelingt es Buñuel durch subtile Brüche, dass seine Elemente den Inhalt bestimmen. Insbesondere hierüber wird deutlich, inwiefern der Film neben Desorientierung (durch gestörte Hierarchien) sowie Schockmomenten (harmloses Mondbild leitet sadistischen Gewaltakt ein) zusätzlich zu erweiterten Erkenntnissen führen kann. Der Film verinnerlicht quasi seine eigene synthetische Kritik, indem die Verknüpfungsarten, die bei Buñuel zum Einsatz kommen, Metaphern (des Schnitts) entstehen lassen, welche den Elementen ihre Bedeutung,
26 Williams, Linda: Figures of Desire, a. a. O., S. 71.
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dem Film seinen Inhalt a posteriori verleihen. Dies führt dazu, dass keines der Ereignisse, die im Prolog angeführt werden, als reine Illusion vergangener Ereignisse interpretiert werden kann, sondern die vorkommenden Elemente vielmehr als Anordnung zu begreifen sind, die aus dem Akt der Gestaltung ‚erwachsen‘. Dies relativiert Bretons zuvor zitierte Annahme aus dem Manifest, in der er behauptet, dass es unmöglich sei, zwei voneinander entfernte Wirklichkeiten (etwa Wolke und Messer) absichtlich einander zu nähern.27 Der Film besitzt dazu durch seine Bewegtheit noch weit mehr Möglichkeiten als etwa die Collage. Die Art und Weise, wie der sorgfältige Aufbau einer scheinbar realistischen Diegese in einem ungeheuerlichen (Auge-Durchschnitt) sowie metaphorischen (Wolke-Durchschnitt) Gewaltakt seinen Höhepunkt findet, legt also die Vermutung nahe, Buñuel habe in Un Chien andalou die Metapher des Schnitts mit seinen zur Verfügung stehenden Mitteln (und unter Einbeziehung des wohlkalkulierten Zufalls) bewusst konstruiert. Der Prolog als Parabel Da der Gewaltakt des Prologs das Realistische des Diskurses untergräbt (anders als in den meisten Fällen von Filmgewalt), kann folglich in der Hand, die das Auge entzweit, nach keiner konnotativen Interpretation gesucht werden, da wir nicht sicher sein können, ob es sich dabei um denselben Mann sowie dasselbe Raum-Zeit-Konstrukt handelt, wie im übrigen Filmabschnitt. Darüber ergibt sich die Möglichkeit, diese Hand von ihrem Kontext losgelöst zu interpretieren. So könnte man sie etwa als Symbol des Filmemachens lesen. Buñuel verknüpft ja gleich zum Anfang des Prologs das Bild einer Hand mit dem eines Rasiermessers, das geschärft wird. Dieses Bild wird alternierend mit dem Augenbild weiterdekliniert bis zur letzten Einstellung des Abschnitts, die die Elemente HandRasiermesser-Auge miteinander verknüpft. Dies kann ebenfalls nicht als zufällige Annäherung (ohne vorhergehende Überlegung) betrachtet werden. Neben der Folgerung, dass es vermutlich eben jene Männerhand vom Szenenbeginn ist, die das Rasiermesser hält und das Auge durchtrennt, ist es der Blick des Mannes bzw. das Kameraauge, dem der Zuschauer im Film folgt. Hierüber verdeutlichen sich gleichnishaft die zwei Aufgaben des Filmemachers: Sehen und Schneiden. Diese beiden Prozesse werden in den Einstellungen des Prologs mehrmals wiederholt. So wird beispielsweise jedes neue Element, das eingeführt wird, zuerst vom Mann gesehen und erst in der folgenden Einstellung dem Zuschauer gezeigt. Der Zuschauer sieht dem Mann etwa beim (Hinaus-)Blicken zu, und an-
27 Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, a. a. O., S. 34-35.
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schließend folgt die Einstellung des Rasiermessers oder des Monds. Der Einstellung, die erneut den Blick des Mannes fasst, folgt die Nahaufnahme des Gesichts der Frau. Der Schnitt, der dem abschließenden Blick des Mannes folgt, stellt somit im übertragenen Sinn die Anwendung auf den Film selbst dar. Hierin offenbart sich für Williams ein ironisches Symbol für die Hand des Künstlers im Film, der ‚realistisches‘, zusammenhängendes Material zu neuen bedeutungsvollen Verknüpfungen montiert.28 In Stilfigur und Verfahren des Schnitts ist hier demnach keine konnotative Interpretation zu suchen; sie sind nicht als Kommentar der Erzählung zu verstehen, sondern vielmehr scheint die Stilfigur des Schnitts im Prolog als Parabel für den gesamten Akt des Filmemachens zu stehen. Da eine Parabel aber zumeist eine engere und eine weitere Bedeutungsebene eröffnet, darf auch über das Filmemachen hinaus gedacht werden: Die Assoziationen, die sich anhand der Metaphern ergeben haben, so wurde gezeigt, lassen sich durch die Verknüpfung von Elementen und Motiven herstellen, die außerhalb des konkreten ‚Texts‘ bzw. der konkreten Handlung so sehr wahrscheinlich nicht gemeinsam in Erscheinung treten würden (in der ‚Realität‘). Daher stellt sich noch die Frage, warum Buñuel gerade diese Elemente zusammenführt, wie Auge und Mond, die jeweils ‚seziert‘ werden. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hierbei auch um einen Tribut handeln soll, den Buñuel der „zufälligen Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“29 bei Lautréamont zollt. In beiden Beispielen werden Symbole des Weiblichen mit Schnittmotiven bzw. runde Formen mit horizontalen Linien kombiniert. Genau wie Breton auf die sexuelle Komponente von Lautréamonts Paarung hingewiesen hat,30 wird auch in Buñuels Beispiel eine latente sexuelle Bedeutung in der Prologmetapher deutlich. Die Übererotisierung der Beziehung zwischen Mensch und Maschine wurde Breton zufolge durch Freuds Stellungnahme bekräftigt, in der er behauptet, „die Gesamtheit der fabrikmäßig hergestellten Gegenstände, die uns umgeben, als sexuelle Symbole anzusehen und sie als solche in männliche und weibliche einzuteilen“.31 In diesem Zusammenhang verweist Breton auf Gespräche zwischen Freud und dem britischen Sexualforscher Havelock Ellis, in
28 Williams, Linda: Figures of Desire, a. a. O., S. 72. 29 Lautréamont, Comte de: Die Gesänge des Maldoror [frz. 1869], aus dem Französischen übersetzt von Ré Soupault, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 223. 30 Vgl. Breton, André: Konrad Klapheck [frz. 1965], in: Ders.: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1965], übersetzt von Manon Maren-Grisebach, Berlin 1967, S. 411-412, S. 411. 31 Ebd.
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denen sie auf die Überreizung hinweisen, „die vom Gebrauch der Nähmaschine herrührt, zumindest in der alten und schwerfälligen Ausführung mit dem Fußpedal“.32 Was dies betrifft, so hat für Breton bereits Lautréamont in Les Chants de Maldoror die Synthese aus dieser Beobachtung vorweggenommen.33 Der Traum als Grundlage Von Bedeutung für diesen Abschnitt der Arbeit ist vor allem die Tatsache, dass die Verknüpfung der Elemente, die zur Entstehung von Metaphern (nicht nur im Prolog) führen, der Traumarbeit ähnelt. In ähnlicher Weise sind im Traum die Grundeinheiten des Diskurses ebenfalls Bilder, die anders als Wörter (vorerst) keine Bedeutungen tragen. Damit soll nicht behauptet werden, dass es im Traum nicht auch eine latente Bedeutung gäbe, sondern lediglich, dass diese latenten Bedeutungen keine bereits existierenden Einheiten sind, die man durch einen Dekodierungsprozess aufdecken könnte. Die Traumanalyse (-deutung) muss die einzelnen Traumbilder zuerst verknüpfen, um den latenten Inhalt bzw. eine Bedeutung zu ermitteln. Wie der Filmemacher zuvor schon zitiert wurde, profitiert sein Film von einem „mechanism analogous to that of dreams“. Breton wollte die Überlegenheit des Traums betont wissen. So schreibt er 1924 im Manifest des Surrealismus: Der Geist des Menschen, der träumt, ist vollauf zufrieden mit dem, was ihm zustößt. Die beängstigende Frage nach der Möglichkeit stellt sich hier nicht mehr. [...] Welche Vernunft, frage ich, welche um soviel weitgespannte Vernunft verleiht dem Traum diese Natürlichkeit, läßt mich rückhaltlos eine Reihe von Vorgängen akzeptieren, deren Seltsamkeit mich in diesem Augenblick, da ich dies schreibe, zu Boden schmettern würde?34
Die Antwort auf diese Frage scheint in der Art zu liegen, wie wir Bilder wahrnehmen. Wenn wir wach sind, bekommen die Bilder, die innerhalb unserer Vorstellung oder Erinnerung liegen, eine ‚blassere Farbe‘ als diejenigen, die die Kraft von realen Bildern besitzen. Diese Differenz erscheint ausreichend, um die reale von der vorgestellten Welt unterscheiden zu können. Während wir allerdings schlafen, sind diese Sinne ausgeschaltet bzw. frei geschaltet.35 Das heißt,
32 Ebd. 33 Ebd. 34 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus [Manifeste du surréalisme, 1924]; in: Die Manifeste des Surrealismus, a. a. O., S.11-48, S. 18. 35 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, a. a. O., S. 192.
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die Schwelle des Bewusstseins für diesen ‚Kontrast‘ scheint nicht länger zu bestehen, und die imaginäre Abfolge von (allen möglichen) Bildern gerät in den Vordergrund; trotz Widersprüchlichkeiten glauben wir (während des Schlafzustands) an ihre tatsächliche Existenz. Jean Goudal erläutert in seinem 1925 publizierten Essay Surrealism and Cinema, inwiefern der Mensch im Wachzustand sich Reales sowie Mögliches vorstellen könne, wohingegen im Traum er sich ausschließlich das Mögliche vorstelle.36 Spätestens hier muss natürlich auch auf die Entstehungslegende des Films verwiesen werden. Einer Geschichte zufolge beginnt sie zu Beginn des Jahres 1929 in der Heimatstadt von Salvador Dalí, mit dem Buñuel schon seit Anfang der 1920er Jahre befreundet war.37 Die beiden jungen Spanier kannten sich vom Studium in Madrid, wo sie gemeinsam mit Federico García Lorca zum Kern der spanischen Avantgarde zählten. Buñuel, der Erfahrung als Filmkritiker und ab Mitte der 1920er Jahre als Assistent von Jean Epstein und Mario Nalpas in Paris gesammelt hatte, sollte gleich mit seinem ersten eigenen Filmprojekt den surrealistischen Film begründen. Er erinnert sich: Dieser Film ging aus der Begegnung zweier Träume hervor. Dalí hatte mich eingeladen, ein paar Tage bei ihm in Figueras zu verbringen, und als ich dort ankam, erzählte ich ihm, daß ich kurz vorher geträumt hätte, wie eine langgezogene Wolke den Mond durchschnitt und wie eine Rasierklinge ein Auge aufschlitzte. Er erzählte mir seinerseits, daß er in der vorhergehenden Nacht im Traum eine Hand voller Armeisen gesehen habe, und fügte hinzu: „Und wenn wir daraus einen Film machen?“ Ich wusste zunächst nicht, was ich von dem Vorschlag halten sollte, aber schon sehr bald gingen wir in Figueras an die Arbeit. Das Drehbuch wurde in weniger als einer Woche [...] geschrieben.38
Un Chien andalou imitiert quasi Prozesse des Unbewussten (auch aus Träumen), und daher kann davon ausgegangen werden, dass seine Verknüpfungen ebenfalls latente Bedeutungen haben. Anhand der Prologmetapher wurde deutlich, auf welche sonderbare Weise bestimmte Verknüpfungen ein Teil der Erzählung
36 Goudal, Jean: Surrealism and Cinema, a. a. O., S. 51. 37 Salvador Dalí erzählt die Entstehung des Skripts zum Film etwas anders. Er habe die Story bereits fertig gehabt, als Buñuel zu ihm kam, um eine Filmidee zu besprechen, notiert er in seiner Autobiografie. Dalí, Salvador: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 97. 38 Buñuel, Luis: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen [Mon dernier soupir, 1983], aus dem Französischen übersetzt von Frieda Grafe und Enno Patalas, Berlin 2004, S. 147-148.
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werden, wenn die sonst typische Hierarchie von Diegese und Stilform ins Gegenteil verkehrt wird. Für Williams deutet diese Störung des Hierarchieverhältnisses darauf hin, dass es gleichzeitig ein Verlangen gibt, das versucht Ausdruck zu finden sowie diesen Ausdruck durch Zensur zu vertuschen.39 Die Unkonventionalität des Prologs sowie die Selbstreferentialität des metaphorischen Prozesses weisen schon auf einen mysteriösen Sinn bzw. Subtext im Film hin und lassen auch deshalb den Vergleich mit psychoanalytischen Denkfiguren zu. Folgt man nun den Praktiken der Traumarbeit in der Psychoanalyse, kann die Prologszene noch nicht auf ihre latente Bedeutung hin analysiert werden, da diese sich folglich nur aus dem Gesamtgefüge des Films ergeben könnte. Hierfür sollen zunächst die weiteren Elemente sowie Stilformen im Film berücksichtigt werden. So wird sich im nächsten Abschnitt zeigen, dass im ganzen Film eine Faszination für Körperteile vorliegt, die zudem nie unversehrt bleiben. Die Metapher des Schnitts ist also weiterhin präsent – ebenso wie das Thema MannFrau bzw. Begehren. Inwiefern die Verstümmelungen im Kontext der Metapher der Kastration zu verstehen sind, wird anhand weiterer Stilformen und Diskurse im Film untersucht. Metapher der Kastration: Aneinanderreihungen konkaver und konvexer Motive Auf den Prolog folgt der zweite Zwischentitel: „acht Jahre später“. Diese genau anmutende Zeitangabe steht im Widerspruch zum märchenhaft wirkenden „Es war einmal …“ zu Beginn des Films.40 Ein Fahrradfahrer (Batcheff) erscheint auf einer verlassenen Pariser Straße (Abb. 32). Er trägt einen schwarzen Anzug sowie die angedeutete weiße Kleidung einer Nonne, die durch die Haube (als um den Kopf gebundener Volant), den großen Kragen sowie die Schürze zum Ausdruck kommt. Um seinen Hals baumelt an einer Schnur eine hölzerne Kiste mit diagonalen Streifen. Wenn der Radfahrer direkt auf die Kamera zufährt, rückt diese Kiste in die Bildmitte. In der folgenden Szene wird auf eine Nahaufnahme derselben Kiste überblendet. Die diagonalen Streifen erscheinen dabei als Wiederholung bzw. visueller Reim auf die gestreifte Krawatte, die der Mann, der das Auge durchschneidet, in der Prologszene trägt. Die nächste Einstellung zeigt ein (Wohn-)Zimmer in der Totalen, in dem die Frau aus dem Prolog nun an einem Tisch sitzt und ein Buch liest. Sie trägt dabei ein Kleid aus einem gestreiften
39 Williams, Linda: Figures of Desire, a. a. O., S. 75. 40 Die folgenden Bildtitel im Film wiederholen dieses Prinzip, wie die Zeitangaben „gegen 3 Uhr morgens“ und „vor 16 Jahren“ veranschaulichen.
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Stoff, der an das gestreifte Hemd des ersten Mannes aus dem Prolog erinnert. Ihr Auge ist (wieder) unversehrt. Plötzlich blickt sie auf, als ob sie vor etwas erschrocken wäre. Es folgt eine weitere Einstellung des Fahrradfahrers draußen auf der Straße. Die Frau wirft daraufhin das Buch auf den Tisch. Nun öffnet sich das Buch auf wundersame Weise und zeigt eine Reproduktion von Jan Vermeers Die Spitzenklöpplerin (ca.1669). Die Frau im Film tritt anschließend ans Fenster und blickt zum Fahrradfahrer hinunter auf die Straße. Sie scheint erregt. Wir sehen, wie der Mann seitlich hinfällt. Dort bleibt er bewegungslos liegen, während die kleine Kiste weiterhin um seinen Hals hängt. Die Frau wirkt abwechselnd angewidert und aufgeregt. Anschließend läuft sie nach unten, wo sie sich neben den Fahrradfahrer kniet. Sie hält seinen Kopf und küsst ihn. Es folgt eine Überblendung zu einer Nahaufnahme der Kiste. Diese wird von einer Hand mit einem Schlüssel geöffnet. Ein Gegenstand wird herausgenommen. Die nächste Einstellung offenbart, dass es die Frau ist, die – wieder zurück im Zimmer – die Kiste geöffnet hat. Der Gegenstand ist eine quergestreifte Krawatte, die in gestreiftes Papier gewickelt war. Die Frau nimmt einen auf dem Bett liegenden weißen Kragen in die Hand. Sie entfernt die schwarze Krawatte darin und ersetzt sie durch die gestreifte aus der Kiste. Die folgende Einstellung zeigt das Bett, auf dem die weißen Kleidungsteile (Volant von Haube, Kragen, Schürze) des Fahrradfahrers drapiert sind, als würde sie jemand tragen. Die Frau legt nun den Kragen mit der neuen Krawatte an die dafür ‚geeignete‘ Stelle. Sie bindet die Krawatte allerdings nicht. Die Frau setzt sich daraufhin in einer Art und Weise neben das Bett, als würde sie nach einer kranken Person sehen wollen. Per Überblendung (einmal schnell und einmal langsamer) bindet sich die Krawatte in den nächsten Einstellungen selbst, und auch die Holzkiste vom Fahrradfahrer ist nun da. Die Inszenierung der Versatzstücke auf dem Bett verweist ostentativ auf das Fehlen ihres Trägers, der dadurch aber als Paradigma anwesend ist. Das rhetorische Stilmittel dieser visuellen Ellipse wird zur Metonymie und wirkt umso absurder und künstlicher, als es typisch weibliche Kleidungsteile (außer der Krawatte) sind, die als Platzhalter fungieren. Dies führt dazu, dass der Zuschauer nach einer zugrundeliegenden Metapher sucht, die sich zwischen dem Fahrradfahrer und seiner Kleidung ergeben könnte und die sowohl auf das männliche sowie weibliche Geschlecht hindeutet; denn die Krawatte und die weißen Kleidungsteile – auch Vermeers Die Spitzenklöpplerin trägt übrigens einen volantartigen großen Kragen, allerdings einen geklöppelten – repräsentieren die jeweiligen Geschlechter. Der Film fährt fort mit der Einstellung, als die Frau ihren Kopf vom Bett abwendet und den Fahrradfahrer am anderen Ende des Zimmers sieht – im dunklen Anzug ohne weibliche Versatzstücke. Der Mann starrt seine rechte Hand an, wo
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aus einem Loch in der Hand Ameisen krabbeln, woraufhin die Frau sich ihm nähert und ebenfalls auf seine Hand schaut. Die beiden wechseln einen Blick, als würden sie jeweils im Gesicht des anderen die Bestätigung für diesen seltsamen Vorgang suchen. An dieser Stelle im Film bildet eine Aneinanderreihung (Abb. 33) von runden, konkaven und konvexen Motiven einen ausgeklügelten Übergang zwischen dem Raum in der Wohnung und der Straße (irgendwo) darunter: Auf die konkave Form der holen Hand mit dem runden Loch und den Ameisen folgt das Bild einer weiblichen, behaarten Achselhöhle und das eines Seeigels im Sand (der schon auf das letzte Bild des Films verweist). Per Schwarzkader wird nun auf eine weitere runde Form überblendet. In der Filmbildmitte der rundbegrenzten Einstellung sehen wir einen Kopf mit kurzen dunklen Haaren. Er gehört einer androgyn wirkenden Frau, die wiederum einen länglichen Stock in der Hand hält. Wenn sich die Rundblende öffnet, erkennt man, dass die androgyne Frau im Kreis vieler Menschen auf der Straße steht. Ein Polizist versucht die drängelnden Leute zurückzuschieben. Dies gibt dem Zuschauer den Blick auf das frei, was die androgyne Frau mit dem Stock schon die ganze Zeit spielerisch herumstößt: eine abgetrennte Hand. Die Frau stochert weiter, der Polizist schiebt die Gaffer zurück, und auch die Frau und der Radfahrer oben in der Wohnung sind ins Fenster getreten, um zu schauen, was los ist. Während die beiden dem Geschehen weiter zusehen, legt der Polizist die abgetrennte Hand in eine diagonal gestreifte Kiste, die identisch mit der Kiste des Fahrradfahrers zu sein scheint, und übergibt sie der androgynen Frau. Die Menge verläuft sich, die Frau bleibt aber mitten auf der Straße stehen und wird schließlich von einem Auto überrollt. Die Reaktion des Fahrradfahrers, der die Szene aus dem Fenster beobachtete, lässt eine (sexuelle) Erregung erkennen. Bevor jedoch auf die Handlung weiter eingegangen wird, sollen die bisher aufgelisteten Verknüpfungen von bildlichen Elementen näher betrachtet werden. Wie schon im Prolog scheinen die formalen Ähnlichkeiten, die sich hier durch die runden konkaven sowie konvexen Formen ergeben, dominierend für die Handlung zu sein. Dies wird zusätzlich durch die Überblendungen mit Schwarzfilm, die eingeschoben werden, betont. Die runde Form des Lochs in der Hand, aus dem Ameisen kommen, ähnelt der Form der Achselhöhle und ihrer Behaarung. Auch die runde Form des Seeigels, dessen hervorstehende Stacheln sich (im Flackern des Projektionslichts?) zu bewegen scheinen, setzen das formale Motiv fort. Die Hand sowie die Achselhöhle stellen dabei konkave Formen dar, aus denen etwas herauskommt. Der Seeigel stellt eine konvexe Form dar, aus dem Stacheln hervorstehen. Das Runde wird nun explizit betont, indem die folgende Einstellung, mit der die Handlung der androgynen Frau beginnt, durch eine Irisblende eröffnet wird. Sie zeigt das Filmbild kreisrund, während der Rest
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nach außen hin schwarz ist. Diese runde Form wird durch die Form des Kopfes der androgynen Frau gedoppelt, der im Bild in der Mitte zu erkennen ist. Sobald sich die Irisblende öffnet, wird die runde Form erneut gedoppelt, wenn die Menschenmenge um die Frau herum einen Kreis bildet. Erneut gedoppelt wird die runde Form durch die Nahaufnahme der abgetrennten ‚runden‘ Hand, deren Finger eingekrümmt sind. Vergleicht man diese Aneinanderreihungen von konkaven und konvexen rundlichen und von kreisrunden Motiven erscheint es wieder, dass sich die zusammenhängende Handlung im Film dadurch ergebe, dass die Aneinanderreihung ähnlicher Formen die Orte und Einstellungen im Film miteinander verbindet. Die Form – gestaltet durch die Montage – arbeitet wie im Prolog subtil an der Konstruktion eines vermeintlich einheitlichen, kausalen und kontinuierlichen Raum-Zeit-Gefüges. Es kann außerdem festgehalten werden, dass bisher jedes dieser wundersamen Bilder, sowohl aus der Prologmetapher Messer, Mond und Auge, als auch die paradigmatische Anordnung der Kleidungsstücke auf dem Bett sowie die Aneinanderreihung runder Formen, die ihren Anfang mit dem Loch in der Hand nimmt, jeweils das Motiv des Schnitts beinhalten sowie Zeichen, die entweder für das männliche oder weibliche Geschlecht stehen können. Und so nimmt das Schnittmotiv in Un Chien andalou seinen Anfang mit dem Probeschnitt über den Daumennagel, gefolgt durch das Auge-Mond-Durchschneiden des Prologs über die verstümmelte Hand mit dem Loch bis zur abgetrennten Hand, in der die androgyne Frau mit einem Stock herumstochert. Diese erst einmal unabhängig voneinander stehenden Elemente finden im Kontext von ‚widersprüchlichen Geschlechtern‘ dann doch eine zusammenhängende Diegese: Die ambivalenten Zeichen für männliches und weibliches Geschlecht lassen sich zum ersten Mal explizit innerhalb der Erzählung auffinden, wenn der männliche Fahrradfahrer Kleidung trägt, die an den Habit einer Nonne erinnert. Dieses Motiv sich widersprechender Zeichen für das männliche und weibliche Geschlecht lässt sich auch erkennen, wenn auf dem Bett über dem Nonnenkragen der Männerkragen mit Krawatte positioniert wird. Wohlbemerkt eine Krawatte, die sich noch selbst (per Filmtrick) zuzieht – Konnotationen mit einer Falle liegen da nicht fern; gleichzeitig hat das Arrangement von Schürze, Kragen, Häubchen auf dem Bett etwas zutiefst Fetischisierendes an sich, das mit weiblichem als auch religiösem Symbolismus zu tun hat. Selbst in den abstrakteren Motivreihen trifft Männliches auf Weibliches, vaginale treffen auf phallische Formen und Symbole. Da wären die konkaven Löcher, aus denen jeweils hervorstehende ‚Dinge‘ (Formen) ragen, wie das Loch in der Handfläche und die Finger darüber. Oder die Mulde der Achselhöhle, aus der sich ein Oberarm streckt. Die sich widersprechenden und doch stets zusammenhängenden Zeichen für Männliches und
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Weibliches kulminieren schließlich in der androgyn wirkenden Frau, die noch dazu mit einem männlich (sprich phallisch) konnotierten Stock hantiert. Sie scheint die beim Radfahrer durch Kleidung nur angedeutete Transsexualität regelrecht zu verkörpern. Der Filmemacher scheint mit dieser Art Montage einerseits auf eine (neurotische) Geschlechter-Ambivalenz abzuzielen, andererseits fallen auch die vielfachen Verstümmelungen (Auge, Hand, Kleidungsteile) auf. Es liegt daher nahe, hier das Thema Kastrationsangst genauer zu betrachten. Das Entscheidende liegt bei der Metapher der Kastration darin, dass erst durch die Gesamtheit der verschiedenen Verknüpfungen, die bei Buñuel zum Einsatz kommen und jeweils mit der Metapher des Schnitts aus dem Prolog in Verbindung gebracht werden, die Metapher ihre Bedeutung erhält. Unterstrichen wird die Metapher der Kastration innerhalb des gerade behandelten zweiten Teils des Films dadurch, dass die Elemente bzw. Motive allem Anschein nach versuchen, gerade die Kastrationstheorie zu leugnen, indem sie nämlich Zeichen für das männliche sowie weibliche Geschlecht (in sich) einen. Doch laut Freud ist es genau die Leugnung der Kastration(sangst), die sie bestätigt.41 In diesem Zusammenhang lässt sich die Denkfigur des Schnitts im Surrealismus insofern verbildlichen, als das wortwörtliche bzw. konstruktive Schneiden in das Filmmaterial zur ‚Wunde‘ führt. Diese ‚Wunde‘ kommt in Un Chien andalou über die Metapher der Kastration zum Ausdruck. Solche Metaphern machen zugleich die psychoanalytischen Denkfiguren als Inspirationsquellen für Prozesse und Verfahren im Surrealismus evident. Die Verknüpfung des Unmöglichen – hier auch die Verbindung von männlich und weiblich – offenbart Unbewusstes, verborgene Verbindungen, evoziert Projektionen und Identifikationen. Daher macht der Film sichtbar, was ansonsten kaschiert bliebe, und er macht fühlbar, was ansonsten vielleicht lediglich in Form einer abstrakten Theorie denkbar wäre. Gerade im unheimlichen Bild der abgeschnittenen Hand kommen in Un Chien andalou sehr komplexe un(ter)bewusste Ängste und latente Fragen zum Vorschein: Warum wurde die (wahrscheinlich männliche) Hand abgetrennt? Als Strafe für die Wollust? Als Selbstbestrafung wegen Masturbation? Der Katholizismus mit seiner extremen Leibfeindlichkeit mag die beiden Drehbuchschreiber ebenso zu diesem Bild inspiriert haben wie Freuds Theorien.42 Der Psychoanalytiker setzt das Bild des abgetrennten Körperteils in Relation mit der Kastrationsangst, wobei er einen im Hinblick
41 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, a. a. O., S. 248. 42 Freud verweist auch auf Wilhelm Hauffs bekanntes Märchen Die Geschichte von der abgehauenen Hand (1826). Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche, in: Ders: Gesammelte Werke, Werke aus den Jahren 1917-1920. Frankfurt am Main 1999, S. 257.
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auf das Verhältnis der Surrealisten zur Weiblichkeit, auf das ich gleich eingehen möchte, sehr interessanten Satz notiert: „Allein die Psychoanalyse hat uns gelehrt, daß diese schreckende Phantasie nur die Umwandlung einer anderen ist, die ursprünglich nichts Schreckhaftes war, sondern von einer gewissen Lüsternheit getragen wurde, nämlich der Phantasie vom Leben im Mutterleib.“43 Surrealismus und Weiblichkeit Im Kontext des Surrealismus betrachtet, ist die Frau an sich schon ein ambivalentes Wesen oder besser eines, das die ausschließlich männlichen Protagonisten der Bewegung sehr ambivalent einschätzten.44 Es lässt sich sodann das Unheimliche der Metapher der Kastration daran festmachen, dass die Frau hier als Vexierspiegel des Mannes dient, gleichzeitig aber mehr als die Fantasie (über die Frau) ist, da sie den männlichen Narzissmus unter anderem in Form einer Allmacht (Rückkehr ins Geborgene, Vollständigkeit, Freuds „Mutterleib“) stützt. Es scheint, als bediene sich Buñuel im Sinne einer Vereinfachung komplexer psychoanalytischer Denkfiguren hier der Metapher der Kastration, um sie als Vertretung des Unbewussten zu stilisieren. Buñuel setzt damit eine Projektionsfläche ein, über die – positiv und negativ besetzte – Traum- und Fantasiewelten ausgelotet werden können. Elisabeth Bronfen hält in ihrem Essay Erschreckende Vertrautheit: Freud und das Unheimliche der Weiblichkeit45 fest, inwiefern die Frau bzw. Teile von ihr in den meisten surrealistischen Werken als Vexierbild dienen, um das Verhältnis von Sexualität und der Arbeit des Unbewussten zum Ausdruck zu bringen, da die Surrealisten ihr einen Zugang zum Wunderbaren, Magischen zusprachen. Dabei erkennt Bronfen als Folge, wie die Frau sehr ambivalent „zum Inbegriff des Primitiven, des Kindlichen und des Kriminellen“46 deklariert werde, um sie dann einem „dunklen Bereich“47 gleichzusetzen – in Anlehnung an Freuds
43 Ebd. 44 Im Surrealismus „wird die Frau geliebt und verherrlicht“, so Breton im Nachwort des zweiten Manifests: Sie gilt darin als das große Versprechen, „welches fortbesteht, nachdem es erfüllt ist“, und zeigt sich als „Zeichen der Auserwähltheit, das ihr verliehen ist“; vgl. Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, a. a. O., S. 129. 45 Bronfen, Elisabeth: Erschreckende Vertrautheit. Freud und das Unheimliche der Weiblichkeit, in: Dies.: Crossmappings, a. a. O., S. 211-227. 46 Ebd., S. 225. 47 Ebd.
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Psychoanalyse bzw. dem Unbewussten verwandt –, das vom „Künstlermann“48 zu erforschen und zu erobern sei. So sei die Frau im Surrealismus ganz im Sinne von Freuds Rhetorik des Fetischismus zum idealisierten oder dämonisierten Fantasieobjekt geworden, an dem die zentralen Theorien dieser Kunstbewegung verhandelt werden konnten:49 unter anderem die Intention, Begehren bzw. Mechanismen des Unbewussten, der Traumdeutungen sowie des Imaginären sichtbar zu machen. Gleichzeitig, so Bronfen (in Verlängerung von Sigmund Freud), stelle die Frau eine Darstellungskategorie dar, die gestaltet wurde, um männliche Ängste abzubilden, damit diese abgewehrt werden könnten.50 Das Unbewusste stellt in jener Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur ein Novum dar, es bedeutete zudem eine Herausforderung für die Künstler, sich völlig neu künstlerisch auszudrücken, wenn sie nicht lediglich illustrieren wollten. Ein Beispiel, bei dem das Problem der Darstellbarkeit der Psychoanalyse deutlich wird, ist G. W. Pabsts Stummfilm Geheimnisse einer Seele (D 1926). Anliegen des Films war es, die Einführung der Psychoanalyse durch Einzelbeispiele bzw. Szenen umzusetzen, welche die Verdrängung, das Unbewusste, den Traum, Fehlhandlungen sowie Angst illustrieren sollten.51 Ein Mann leidet an einer Messerphobie, die sich als Mordfantasie gegenüber seiner Frau äußert. Diese erfährt in Albträumen die massivste Ausformung. Anhand dieses Films wird der Unterschied zu Un Chien andalou deutlich, da Pabst nämlich die Verfahren der Traumarbeit, die durch die Analyse von Freud aufgedeckt wurden – Verdichtung, Verschiebung, Überdeterminierung, sekundäre Bearbeitung – nicht wie Buñuel durch einen bewussten Automatismus imitiert, sondern sie vielmehr illustriert: Auf diese Art erfahren die Verdrängung und ihre Symptomatik eine fassbare bzw. eine visuelle Veräußerlichung. Veronika Rall stellt in ihrer 2011 erschienen Dissertation Kinoanalyse fest, inwiefern die visuelle Rätsel- und Bedeutungshaftigkeit in den Traumbildern kulminieren. In dieser bildlichen Verrätselung, das heißt Mischung verschiedener Realitätsebenen, der Zusammensetzung symbolischer, abstrakter, metonymischer und metaphorischer Bilder, stecke Rall zufolge der Film fast seine gesamte Energie. Hierfür zieht sie unter an-
48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Vgl. hierfür den Brief des Psychoanalytikers Karl Abraham an Sigmund Freud (7. Juni 1925). Als Nachdruck zu lesen in: Rall, Veronika: Kinoanalyse. Plädoyer für eine Re-Vision von Kino und Psychoanalyse, hrsg. von Christine N. Brinckmann, Marburg 2011, S. 193-194, S. 193. Abraham war neben Hanns Sachs psychoanalytischer Berater des Films.
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derem das Beispiel des ‚Neurotikers‘ im Film heran. In dieser ästhetischen Gestaltung, die es mit der inneren sowie äußeren Wirklichkeit aufnehme, die Wahn, Einbildungskraft, Traumgedanken, Erinnerungsfetzen, Bilder, Filmstücke durcheinander wirbelt, schlage sich der Film ganz offensichtlich auf die Seite des Irrationalen oder wie es Michel Foucault ausdrückt: „Der Film bietet eine visuelle Erfahrung der Unvernunft.“52 Daher stellen die Bilder in Geheimnisse einer Seele auch keinen Übergang einer verbalen Abstraktion in visuelle Konkretion und Repräsentation dar, sondern sie stellen vielmehr ihre eigene Rätselhaftigkeit aus. Doch die Psychoanalyse im Film begreift ihr Sprechen über das ‚Unvernünftige‘ als heilsam für die ‚mentale Entfremdung‘ des Patienten. Für Rall erscheint der Analytiker als Autorität, der die Irrationalitäten des Films und der Moderne betrachtet, erklärt und beseitigt: „Die Irrationalität ist nur noch sein Untersuchungsgegenstand.“53 In Buñuels Film hingegen erhalten die Elemente, die in ihrer Nebeneinanderstellung zunächst keinem Zweck zu dienen und schlicht irrational scheinen, ihre Bedeutung erst, nachdem der Zuschauer die vorkommenden Elemente quasi in der Rückschau miteinander verbunden hat. Keine vorwärtsgewandte Drehbuchlogik nimmt ihm diese Aufgabe ab. Und psychoanalytische Rätsel werden dabei eher keine geklärt, sondern aufgeworfen. In dem Sinne kehren wir zurück zu den Frauen: Freud hat gezeigt, inwiefern in der Fantasie des Fetischisten die Andersartigkeit der Frau sich als Ergebnis einer Kastrationsangst darstellt.54 Wenn die Angst vor (die Idee) einer Kastration zur Fixierung wird, reagiere der Mann unbewusst darauf, indem er das weibliche Liebes- bzw. Lustobjekt durch fetischisierte Objekte ersetzt, die die gefürchtete Kastration leugnen sollen.55 Freud zeigt demnach, inwiefern die Funktion des Fetischs darin liegt, einen Ersatz für den kastriert geglaubten Penis beim weiblichen Geschlecht zu liefern.56 Freud nennt diese Ersetzung „Verleugnung“.57 In diesem Zusammenhang können auch die Kleidungsstücke, die in Un Chien andalou sorgsam auf dem Bett ausgebreitet werden, als fetischisierte Elemente betrachtet werden. Dabei stellen die Objekte
52 Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft [Histoire de la folie à l’âge classique: Folie et déraison, 1961]. Hier zitiert nach Rall, Veronika: Kinoanalyse, a. a. O., S. 210. 53 Ebd., S. 217. 54 Freud, Sigmund: Fetischismus, in: Ders.: Essays. Auswahl 1920-1937, 3 Bde., Band 3, hrsg. von Dietrich Simon, Frankfurt am Main 1988, S. 231-237. 55 Ebd., S. 236. 56 Ebd., S. 234. 57 Ebd., S. 233.
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das undifferenzierte (oder ambivalente) Geschlecht dar, da sie auf das männliche sowie weibliche Geschlecht verweisen. Es fehlt demnach der ‚Geschlechterunterschied‘, was als Folgerung die Angst vor der Kastration beim Fetischisten betont, was wiederum mit Hilfe des Fetischs geleugnet werden soll. Dieser Verleugnungsprozess wird in den Aneinanderreihungen der konkaven und konvexen Motive wiederholt, die je männliche und weibliche Formen vereinen. Das Finale dieser Aneinanderreihung besteht, wie schon erwähnt, in der androgynen Frau, die mit einem phallusähnlichen Objekt (länglichen Stock) in einem abgeschnittenen Körperteil (Hand) herumstochert. Insgesamt kann bisher festgehalten werden, dass die Anordnung der Elemente sowie der Einstellungen in Un Chien andalou für den Betrachter paradoxe bzw. nicht auf Anhieb zusammenhängende Strukturen aufweisen und erst durch die Verknüpfungen ihren Inhalt (Bedeutung) preisgeben. Die Verknüpfungen erweisen sich in Un Chien andalou als Reflexion über die mehrdeutige ‚Logik‘ von Träumen. So lassen sich die Metaphern, die aus der Prologszene sowie der Aneinanderreihung der konkaven und konvexen Motive in der Folgeszene jeweils die Metapher des Schnitts bzw. der Kastration ergaben, folgendermaßen miteinander verbinden: Buñuel verknüpft die androgyn erscheinende Frau als feminine Version mit widersprüchlichen Geschlechtermerkmalen mit dem männlichen Radfahrer in Frauenkleidung. Dem kurzen Rock der androgynen Frau steht ihr Bubikopf mit den kurzen Haaren, der kantige Körper sowie das maskuline Kleidungsstück Sakko, das sie trägt, entgegen. Die widersprüchliche Kleidung des Radfahrers wurde bereits ausgiebig beschrieben. Buñuel verknüpft diese beiden Personen weiter darüber, dass er sie abwechselnd die gestreifte Kiste besitzen lässt, die darüber hinaus abwechselnd die gestreifte Krawatte oder die abgetrennte Hand beinhaltet. Die Hand erinnert ihrerseits an die Hand, die im Prolog ein Rasiermesser schliff, und an jene, die mit dem Messer ein Auge durchschnitt. Die Krawatte in der Kiste erinnert ebenso an die Krawatte aus der Prologszene und lässt sich zugleich mit dem Fahrradfahrer verknüpfen, der sie transportierte, als auch mit der Frau, in deren Besitz sie später kommt, wenn sie sie im Männerkragen auf dem Bett ausrichtet. Wenn Buñuel betont hat, dass in diesem Film nichts irgendetwas symbolisiere, kann hier zumindest festgestellt werden, dass in diesem Film über ein eng geknüpftes Netz an visuellen Verweisen scheinbar alles mit allem zu tun hat. In dieser Verknüpfungsreihe von Un Chien andalou werden Freuds Verleugnungstheorie und die ihr zugrunde liegenden Begriffe „Abwesenheit“ und „Anwesenheit“58 erkennbar: Die Wunde durch den Auge-Durchschnitt im Prolog führt zum
58 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, a. a. O., S. 223.
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Auftritt des Fahrradfahrers in fetischisierter Kleidung. Durch die Inszenierung der weiblichen und männlichen Kleidungs-Versatzstücke auf dem Bett ist er abwesend präsent. Dem Loch (Wundmal) in der Hand folgt die Aneinanderreihung metaphorisch ähnlicher und ambivalenter Formen, die die Lücke durch konvexe Formen anscheinend zu füllen suchten. Der Film spiegelt, so gesehen, quasi das Verlangen eines Fetischisten wider, der fortwährend seine Angst vor ‚Verlust‘ auszugleichen, zu verdecken oder zu verleugnen versucht. Weitere psychische Strukturen: Kontext eines sexuellen Begehrens Nicht über Logik oder Assoziation der Bildmotive, sondern gerade durch seine Verknüpfungsprinzipien gelingt es in Un Chien andalou also, den latenten Inhalt des Films zu entdecken. Buñuels Stilmittel lassen es nicht zu, die Elemente, Motive oder Darsteller im Film in Bezug auf ihre unmittelbare Umgebung, das heißt auf die Handlung zu interpretieren, da der Diskurs dieses Films, wie in der Analyse bisher gezeigt werden konnte, eben weitgehend auf der Ebene der Stilformen, die Buñuel einsetzt, angesiedelt ist. Inwiefern der Kastrationskomplex im Film im Kontext eines sexuellen Begehrens zu lesen ist, offenbart die folgende Szene des Films, diesmal als direkte Narration. Als der Radfahrer den Tod der androgynen Frau beobachtet, reagiert er, wie gesagt, mit ansteigender Erregung, die sich im Film über seinen Atem mitteilt, der das Fenster, durch das er blickt, beschlagen lässt. Daraufhin fokussiert der Radfahrer sein sexuelles Verlangen auf die Frau neben ihm, die mit ihm gemeinsam das Geschehen unten auf der Straße verfolgt hat. Williams stellt fest, dass bis hierher das Verhältnis vom Mann gegenüber der Frau ein passives war, und vergleicht es mit der Beziehung eines Sohnes zu seiner Mutter. Erst in unmittelbarer Reaktion auf den Tod der androgynen Frau erscheint sein Interesse geweckt, woraufhin Williams interpretiert, dass im Tod der androgynen Frau eine (temporäre) Auflösung seiner Kastrationsangst zu lesen sei.59 Diese Auflösung erlaubt nun die Entwicklung eines Verlangens in Richtung des anderen Geschlechts, da sie ebenfalls eine Auflösung der fetischistischen Impulse nach sich zieht. Von diesem Moment an stellt die Frau also nicht länger einen Mutterersatz dar (bei dem das Fehlen des Penis beim männlichen Kind erst zu seiner Verstörung führte). Die Frau wird im Film nun zum Lustobjekt, das durch seine Andersartigkeit zum Ziel des Begehrens wird. Und so fasst der Fahrradfahrer als erstes nach den Brüsten der Frau. In diesem Teil des Films wird die ausgeprägte
59 Williams, Linda: Figures of Desire, a. a. O., S. 87.
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surrealistische Darstellungsweise von eher konventionelleren Symbolbildern der Lust abgelöst. Der Mann bedrängt nun die zuerst zögerlich zurückweichende Frau. Dabei wechselt Buñuel während der ganzen folgenden Szene von schwungvollleidenschaftlicher argentinischer Tangomusik zu Wagners dramatisch-sentimentalem Liebestod aus Tristan und Isolde. Als der Radfahrer die Frau für einen Moment zu fassen bekommt, streichelt er ihre Brüste durch ihre Kleidung hindurch. Eine Überblendung zeigt, wie dieselben Hände in der nächsten Einstellung nackte Brüste streicheln. In der folgenden erscheint auch der Radfahrer verändert. Sein Gesicht ist nun verzerrt, seine Augen sind nach oben gerollt und sehen fast aus, wie die eines Toten; aus seinem Mundwinkel tropft Blut. Hier äußert sich wieder die Vorliebe der Surrealisten für Gegensätze, wie sie durch die Kombination von Liebe und Gewalt oder Liebe und Tod zum Ausdruck kommen. Es scheint, dass in Un Chien andalou der ‚Liebestod‘ nicht wie bei Wagner einer romantischen Beziehung entspricht, die im Tod ihre höchste Erfüllung finden würde. Die musikalische und visuelle Gestaltung der Szene spricht vielmehr für einen deutlichen Hang zur Ironisierung. Williams deutet darauf hin, dass Buñuel und Dalí damit auch die Unmöglichkeit einer transzendenten Einheit, einer Vollendung von Liebe betonten.60 In der Verknüpfung der Musikrichtungen mit den genannten Einstellungen, in denen sich das Gesicht des Radfahrers verzerrt zeigt, lässt das sexuelle Verlangen gleichzeitig an den Tod denken. Hierin ist Freuds dialektische Theorie von Lebenstrieb (Eros) und Todestrieb wiederzuerkennen.61 Diese Paarung von Gegensätzlichkeit erinnert an die Verknüpfung der Zeichenausdrücke für die unterschiedlichen Geschlechter im Film. Dieses Oszillieren zwischen unterschiedlichen Polen erzeugt beim Zuschauer Spannung – ohne dass sie sich auflöst. Die Szene geht mit surrealistischer Ironie und Doppeldeutigkeit weiter: In einer Wiederholung der vorigen Einstellung streicheln die Hände abwechselnd die bekleideten und entkleideten Brüste, die sich per Überblendung in zwei Pobacken verwandeln. Die Frau läuft nun davon, während der Radfahrer sie durch das ganze Zimmer verfolgt. Sie greift zu einem Tennisschläger, der an der Wand hängt, und versucht, sich damit den Mann vom Leib zu halten. Der greift nach zwei Seilen, die auf dem Boden liegen. Er legt sie sich über die Schultern und setzt dann seine Bewegung in Richtung der Frau fort. Noch bevor der Zuschauer erfährt, was der Fahrradfahrer da hinter sich herzieht, wird deutlich, dass der Vorgang des Ziehens eine Art Sublimierungsprozess
60 Ebd., S. 89. 61 Vgl. Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips [1920], in: Ders.: Studienausgabe, 10 Bde., Band 3, Frankfurt am Main 1975.
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(Verdrängungsmechanismen) darstellt: Die Energie, die ursprünglich auf das sexuelle Objekt (die Frau) gerichtet war, wird nun umgeleitet in Körperenergie; das zu ziehende Gewicht scheint ungeheuer schwer, und es scheint den Mann gleichsam von der Frau fernzuhalten oder wegzuziehen. In den nächsten Einstellungen wird gezeigt, was der Radfahrer hinter sich herzieht, und somit, welche verschiedenen Formen seine Sublimation bedingen: Zunächst sind da an den Seilen, je ein Brett sowie eine Melone. So am Seil erinnern sie an Kork und Schwimmer beim Angeln. Williams weist hier auf die Idee des im Netz Gefangenseins hin.62 Nun sehen wir das Gewicht selbst: zwei Konzertflügel, in denen Eselskadaver hängen. Ihre blank liegenden Zähne ähneln den Klaviertasten, und ihre leeren Augenhöhlen erinnern an den Auge-Durchschnitt des Prologs. Für Williams stehen die leeren Augen der Esel für die Abwesenheit von Verlangen.63 Mit dem Tod stellen sie einen ironischen Verweis auf die sexuelle Energie des Radfahrers dar. Nicht weniger ironisch sind die beiden Gestalten zu sehen, die vor den Instrumenten am Seil hängen und ängstlich mit den Augen rollen: zwei katholische Priester, die auf dem Weg zum Objekt des Begehrens (hier wortwörtlich) extrem hemmend sind. Sie erinnern an die religiöse Strafe und die religiöse Autorität, die als repressive Macht untrennbar mit dem Begehren verquickt scheinen.64 Wieder sind es also die Verknüpfungen der Montage, die hier eine latente Narration (oder Interpretation) nahelegen, die die Psychoanalyse im Rahmen von Triebtheorie bzw. gestörter Libido deuten würde. Der Frau gelingt derweilen die Flucht ins Zimmer nebenan. Sie klemmt die Hand des Radfahrers, der sie verfolgt, in der Tür ein, was ihm sichtlich Schmerzen bereitet. Wieder krabbeln Ameisen aus dem Loch in der Hand. Noch andere Dinge wiederholen sich: Das Zimmer nebenan gleicht dem Zimmer, aus dem sie gerade gekommen ist, bis ins letzte Detail. Und auf dem Bett liegt der Radfahrer – er trägt sämtliche weibliche und männliche Versatzstücke, die die Frau zuvor dort (ohne ihn) arrangiert hat. Er wirkt, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht, und schaut sich erleichtert um. Im Kontext der Metapher der Kastration betrachtet, verläuft das Trauma der eingeklemmten Hand analog zur Verletzbarkeit eines erigierten Penis. Diese Analogie wird durch die vorangegangene metaphorische Reihe konvexer Formen unterstützt, die mit demselben Loch in der
62 Williams, Linda: Figures of Desire, a. a. O., S. 90. 63 Ebd. 64 Angefangen beim angedeuteten Nonnenhabit über das Loch in der Handfläche, das an Jesus’ Leidensmale gemahnt, bis zu den Priesterseminaristen, die hier „in den Seilen hängen“ – die satirischen Seitenhiebe und kritischen Anspielungen auf die (katholische) Kirche sind in Un Chien andalou so vielfältig wie hintersinnig.
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Hand ihren Anfang nahm. Angesichts der körperlichen Gefahr, die von dem Ausleben seines sexuellen Verlangens vermeintlich ausgeht, verfällt der Radfahrer nun zurück in eine Angst vor der Kastration, die sich aber durch die Rückkehr in seine fetischisierten Kleidungsstücke sublimieren lässt. Erneut versucht also der Radfahrer, durch eine kindliche Art und Weise die Andersartigkeit dadurch zu verdecken, indem er sie durch die sich widersprechenden Zeichen für Geschlechtsmerkmale, das heißt mithilfe seines Fetischs, leugnet. Der Doppelgänger oder Ich und Über-Ich Der Zwischentitel „Gegen drei Uhr morgens“ kündigt die nächste Szene an. Ein Fremder mit Hut klingelt an der Tür. Er betritt eilig das Zimmer und befiehlt dem Fahrradfahrer aufzustehen. Der Fremde entreißt dem Radfahrer außerdem die weiblichen Kleidungsstücke sowie die Kiste, die um seinen Hals hängt. Daraufhin tritt er ans Fenster und schmeißt die Sachen hinaus. Er positioniert den Radfahrer mit dem Gesicht zur Wand, erst die Hände hinten verschränkt wie ein Kind, das Buße tun muss, dann mit erhobenen Armen wie Jesus am Kreuz. Die autoritäre Rolle des Fremden stimmt mit Freuds Konzept des Über-Ich insofern überein, indem sie ein maßregelndes Element der Selbstbeobachtung darstellt, das das Ich mit einem sozialen Ideal, einem anderen, idealisierten Ich, abgleicht.65 Diese Sichtweise ist auch aus der nächsten Szene abgeleitet: Als der Fremde sich darin zum ersten Mal umdreht, zeigt sich, dass es sich um einen Doppelgänger des Fahrradfahrers handelt. Dem Doppelgänger kommt allerdings eine weitere Funktion zu, wenn er die fetischisierte Ausrüstung aus dem Fenster schmeißt: Er wird zur Bedrohung. Genau genommen wird er zur Bedrohung für das unsichere geschlechtliche Gleichgewicht des Radfahrers. Williams legt nahe, dass sich der Fahrradfahrer in sein kindliches Stadium zurückgezogen habe, um sich selbst gegen die gefürchtete Bestrafung des ‚Fremden‘ zu schützen (bzw. vor der Kastration zu schützen).66 Die nächste Szene beginnt mit dem Insert: „Sechzehn Jahre früher“. In dem Moment, als er sein Gesicht der Kamera zuwendet, wird der Fremde nicht bloß als Doppelgänger erkennbar, sondern seine autoritäre Art wird von einer Traurigkeit im Ausdruck abgelöst. Er geht (in Zeitlupe) zu einem Tisch, der an einen Schultisch erinnert. Die verstaubten, verklecksten Bücher drückt er an die Brust, wie die androgyne Frau die Kiste an ihre Brust drückte, unmittelbar bevor sie überfahren wurde. Nun übergibt er die Bücher dem Radfahrer, der sie als Ge-
65 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, a. a. O., S. 191. 66 Williams, Linda: Figures of Desire, a. a. O., S. 94.
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wicht mit ausgebreiteten Armen hochheben muss. Bevor der Doppelgänger die Tür erreicht, haben sich die Bücher in Revolver verwandelt – und der Doppelgänger (Über-Ich) muss nun seinerseits die Hände über seinen Kopf halten. Der Radfahrer beginnt zu schießen, der Doppelgänger fällt in Zeitlupe hin. Sein Fall endet – zum Crescendo aus Liebestod – auf einer Wiese, wo der Mann vergebens versucht, sich an Schulter und Rücken einer halbnackt dort sitzenden Frau festzuhalten. Erneut verbindet Buñuel hier Gegensätze wie Eros und Tod. Der Tod des Doppelgängers markiert einen wichtigen Übergangspunkt. Mit seinem Tod sowie dem Leichenzug, der sich daran anschließt, wird im Film ein einziges Mal Leidenschaft zu Ende geführt. Durch den Leichenzug scheint dieser Tod einen bedeutenden Verlust darzustellen. Nun verschiebt sich der Fokus des Films weg von den Wünschen oder Fantasien des Mannes und hin zu denen der Frau. Die nächste Einstellung zeigt wieder den Raum in der Wohnung. Die Frau tritt hinein und lehnt sich gegen die Tür. Dabei blickt sie konzentriert zur gegenüberliegenden Wand. In immer näheren Einstellungen bis hin zu einem Close-up mit Kreisblende zeigt uns die Kamera, was es mit dem schwarzen Fleck dort auf sich hat: Es ist ein Totenkopffalter, am Ende ist nur noch das Rückenteil mit dem Totenkopf im kreisrunden Bild. In diesem Fall handelt es sich allerdings nicht um eine Metapher, sondern um ein konventionelles Symbol für den Tod. Erneut erscheint der Fahrradfahrer im Zimmer. Er legt die Hand auf den Mund und scheint ihn durch eine schnelle Bewegung ‚abzuziehen‘. Daraufhin ist sein Mund verschwunden. Die Frau sieht angeekelt zu ihm hinüber. Als würde sie sich der Existenz ihres Mundes vergewissern wollen, trägt sie nun Lippenstift auf. In der nächsten Einstellung erscheint beim Mann anstelle des Mundes ein Haarbüschel (Abb. 34). Nun untersucht die Frau ihre Achselhöhle und stellt überrascht fest, dass sich dort keine Haare mehr befinden. Verächtlich streckt sie dem Mann ihre Zunge hinaus und verlässt das Zimmer. In dieser wundersamen Szene wird also einerseits eine natürliche Körperöffnung (der Mund) geschlossen. Die unnatürliche Öffnung (des Auges) im Prolog findet in einer unnatürlichen Schließung (per Filmtrick) ihre Entsprechung. Andererseits hat die glattrasierte Achselhöhle der Frau ihre (trans)sexuelle Konnotation verloren. Mit dieser letzten Szene zwischen dem Fahrradfahrer und der Frau endet das Aufdecken der Kastrationsmetapher bzw. der psychischen Innerlichkeit, die im Prolog ihren Anfang nahm. In diesem Zusammenhang bedeutet die herausgestreckte Zunge der Frau mehr als nur Verachtung. Sie beweist damit, dass die Frau eine Körperöffnung hat und, Williams zufolge, dass sie ein Geschlecht besitzt, was andersherum das ‚Fehlen‘ eines eindeutigen Geschlechts beim Mann
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betont.67 Die Zunge der Frau ist dabei das phallusartige Symbol, das der Radfahrer nicht mehr nachahmen kann, da sein Mund versiegelt erscheint. Dies macht nochmals den ambivalenten männlichen Blick auf die Frau im Surrealismus deutlich. Als Objekt des männlichen Begehrens scheint sie die Unterlegene, doch gerade weil sie ihr eigenes Begehren offensichtlich unter Kontrolle hat, wird sie hier zur Überlegenen. Der Epilog: Anfang als Ende Dieser Sichtweise entspricht auch, dass die zunächst passive Rolle der Frau nun zu einer aktiven wird. Die Befreiung spiegelt sich im Setting: Die Frau verlässt die Wohnung, Wind spielt in ihrem Haar, sie winkt fröhlich jemandem zu – einem Mann am Strand, der scheinbar auf sie gewartet hat. Sie tritt demnach – der Filmschnitt macht es möglich – aus der Wohnung direkt an den Strand. Der Mann deutet zunächst auf seine Uhr, als würde er sie auf ihr zu spätes Kommen hinweisen, verfällt aber dennoch ihren Reizen. Es folgt eine Nahaufnahme, die das Gesicht der Frau sowie die Armbanduhr des Mannes rechts neben ihr zeigt. Diese Einstellung erinnert an den Prolog, der eine Nahaufnahme der Frau und eine männliche Hand mit Armbanduhr zeigt, kurz bevor ‚ihr‘ Auge durchtrennt wird. Die Frau legt ihre Hand über die des Mannes und zieht sie nach unten, sodass sie nicht mehr im Bild zu sehen ist. Während sie das tut, verläuft eine horizontale Linie, genauer gesagt ein horizontal verlaufender weißer Zaun im Hintergrund des Bildes genau auf Augenhöhe und erinnert erneut an den Prolog bzw. an das Motiv, das im Auge-Durchschnitt seinen Höhepunkt fand. In diesem Fall führt der Zaun, der das Auge ‚entzweit‘, allerdings zu keinem Schnitt – weder wird das Auge tatsächlich durchtrennt noch führt eine gestörte Hierarchie von Diegese und Stilform zur Metapher des Schnitts. Mann und Frau spazieren nun am Strand entlang und entdecken die zerbrochene quergestreifte Kiste sowie die Kleidungsstücke, die an jene einer Nonne erinnern. Die Funktion der Elemente scheint paradigmatischer Art zu sein. Sie verweisen auf den Fahrradfahrer, der selbst nicht im Bild ist. Der Mann kickt die Holzkiste Richtung Meer und wirft die dreckigen Stoffstücke, die die Frau hochgenommen hat und ihm reicht, hinterher. Diese paradigmatischen Verweise auf den Fahrradfahrer samt früheren Metaphern funktionieren hier anders als die vorangegangenen Stilformen im Film. Die Verknüpfung erzeugt hier keine (neue) Diegese, sondern bildet vielmehr einen Kommentar zu früheren Entwicklungen
67 Williams, Linda: Figures of Desire, a. a. O., S. 97.
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im Film. Ein Kommentar der abgenutzten Elemente könnte sich auf das abgenutzte Verlangen beziehen. Die letzte Einstellung, die mit dem Insert „Im Frühling“ beginnt, zeigt die Frau und einen Mann bis zur Brust im Sand eingegraben, ihre Augen tot und zerfressen, die Köpfe nachdenklich geneigt (Abb. 35). Buñuel zieht hier offenkundig das zuvor angedeutete Happy End ins Lächerliche. Er verknüpft die Fruchtbarkeit („Im Frühling“) mit dem Tod, das heißt, was vorgibt ein Anfang zu sein, ist tatsächlich ein Ende und verdeutlicht auch zum Abschluss des Films die Montagetechnik Buñuels, Gegensätzlichkeiten miteinander zu verbinden. Die Kunst der Verknüpfung: Eine kurze Zusammenschau Die Analyse der einzelnen Filmszenen hat bereits gezeigt, welch komplexe Prinzipien der Verknüpfung Buñuel in Un Chien andalou einsetzt. Dazu dient ihm eine bewusst durchrhythmisierte Montage, die aber, da sie immer wieder mit Gegensätzen und Brüchen arbeitet, keine Kino-Illusion aufkommen lässt. Die geläufigere Verknüpfungsart, die Buñuel anwendet, ordnet Metaphern und Metonymien syntagmatisch in der Sequenz an. Die syntagmatische Beziehung von Motiven bezieht sich dabei auf die Vergleichbarkeit auf der Ebene des Referenten sowie auf die Kontinuität auf der Ebene des Diskurses und zwar entweder als reine Metapher oder extradiegetisch. Des Weiteren kommt jene Verknüpfungsart zum Einsatz, die darin besteht, Stilfiguren paradigmatisch anzuordnen, und die ebenfalls in der (Bild-)Sprache auf eine Metapher angewendet werden kann. Hierbei verdichtet Buñuel eine Stilfigur so sehr, dass das gezeigte Element des Stilmittels für den Teil steht, der nicht gezeigt wird. Durch diese Verknüpfungsprinzipien lässt Buñuel im Prolog die Metapher des Schnitts entstehen, die im Nachhinein die Bedeutung der Kastration erhält. Hierüber ergeben sich weitere Assoziationen mit der Naht, die mit dem Zuschauer und seiner Interpretation, die er an die Bilder heranträgt, zusammenhängen. Es konnte in dieser Arbeit bereits anhand von Ernsts sowie Rays Werken deutlich gemacht werden, inwiefern die Assoziationen mit der Naht in Verbindung mit dem Zuschauer jeweils von den bestimmten Techniken abhängen, die die Künstler verwenden. Die Naht im Fall von Buñuel hängt ebenfalls mit seinen Verfahren zusammen. Seine Stilmittel verleiten dazu, etwa die im Prolog zunächst unabhängig voneinander wirkenden Elemente miteinander zu verknüpfen. Die Metapher der Kastration entsteht ebenfalls durch Verknüpfungen, deren letztes Element stets der Zuschauer anfügt bzw. schließt. Dennoch ist die Naht bei Buñuel weniger offen als in den Frottagen und Rayografien, vielmehr scheinen der Rhythmus der Montage, die bewusst montierte Anordnung von Einstellun-
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gen und nicht zuletzt die kontinuierliche Bewegung des Filmbilds hier die Richtung schon zwingender vorzugeben. Die Schnittstellen sind vielfach auch die Ansatzpunkte für psychoanalytische Denkfiguren und insbesondere die Praktiken der Traumdeutungen, die durch die Methode von Verknüpfungen einzelner Elemente (im Traum) zu ihren latenten Bedeutungen führen. An dieser Stelle sei erneut auf das Werk Die Spitzenklöpplerin (ca.1669) von Vermeer verwiesen, das in Form einer Reproduktion in Un Chien andalou gezeigt wird. Das Motiv wurde bestimmt nicht zufällig gewählt. Einerseits handelt es sich um eines der Lieblingsbilder von Salvador Dalí,68 andererseits verkörpert die Kunst des Spitzen-Klöppelns – und auch die immense Konzentration, die die junge Frau im Bild verkörpert – die Art und Weise, wie Buñuel Filme macht und seine Schnitte setzt: bewusst und präzise. Das Ergebnis dieser Feinarbeit, das aus einem Netz an Bezügen und Verweisen besteht, ist genauso schwer aufzutrennen oder zu entwirren wie ein gut gearbeitetes Stück geklöppelte Spitze. Geht es aber der Handarbeiterin darum, Schönheit zu erzeugen, ging es den Filmemachern und dem Surrealismus, den sie auch im Filmmedium durchsetzen wollten, schließlich darum, die inneren Bilder, Wahrnehmungen und Widersprüche ans Licht zu führen. Damit setzten sich Buñuel und Dalí explizit vom (formverliebten) Avantgardefilm69 der Zeit ab und näherten sich analytisch-synthetischen Verfahren des Filmemachens sowie der Phänomenologie des Filmeschauens an. Nehmen wir etwa die Metapher des Schnitts in Form der im Film zentralen und vom Zuschauer unschwer deutbaren Metapher der Kastration: Innerhalb dieser psychoanalytischen Denkfigur kann der Film als ein Symbol für die Andersartigkeit betrachtet werden, die sich vor allem im lacanschen Sinn als ein ‚Fehlen‘ bzw. „Fremdverhältnis“70 entpuppt und dem Verlangen Struktur gibt.71 Janet Staiger veranschaulicht in Perverse Spectators (2000) aus heutiger Sicht, inwiefern der historische Kontext bzw. eine historisch-materialistische Rezeptionsweise für die Auslegungsmethoden von Zuschauern notwendig ist, um
68 Dalí gehörte seit seiner Jugendzeit zu den Bewunderern Vermeers. Seine Étude paranoïaque-critique de La Dentellière de Vermeer (ca. 1955) hängt im New Yorker Guggenheim Museum. 69 Hier werden etwa genannt: „Ruttmann, Cavalcanti, Man Ray, Dziga Vertoff [sic], Rene Clair [sic], Dulac, Ivens, etc.“ Vgl. Buñuel, Luis: Notes on the making of Un Chien Andalou, a. a. O., S. 29. 70 Braun, Christoph: Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin 2010, S. 27. 71 Ebd.
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die Rolle der Medien in der Kultur sowie in unserem persönlichen Leben besser zu verstehen.72 Demnach können die verschiedenen Verknüpfungsmethoden in Un Chien andalou durchaus als eine von Buñuel bewusst inszenierte Nachahmung der rhetorischen Form des Diskurses des Unbewussten gewertet werden. Die Vorgänge im Traum, die durch Verdichtung und Verschiebung ausgeführt werden, werden im Film imitiert, indem Buñuel Metaphern verwendet sowie die Bedeutung der Handlungen (oder Motive) sich allein aus den Schnitt- und Verknüpfungsverfahren ergibt. Um diesen Abschnitt zu schließen, sei noch kurz nach vorne geschaut: auf die letzte Szene vor der Schlussexplosion im Film Cet obscur objet du désir (F/E 1977). In dieser Szene stopft eine Frauenhand sorgfältig den Riss in einem mit Blut bespritzten Spitzenmantel. Es ist Buñuels letzter Film, und einiges daran erinnert an seinen Erstling Un Chien andalou. In dem beschädigten, mit Blut bespritzten Spitzenmantel kann folglich auch ein metaphorischer Schnitt erkannt werden. Indem das Stück Spitze darüber hinaus in einer runden Halterung eingeklemmt (fixiert) ist und durch eine Nahaufnahme in die Bildmitte rückt, erinnert es an das runde Auge der Frau bzw. an den Mond in Un Chien andalou, die – ebenfalls als Nahaufnahme und in der Bildmitte – durchschnitten werden. Somit lässt Buñuel, im übertragenen Sinn, die Wunde, die er in seinem ersten Film im Prolog einmal durch den Auge-Durchschnitt sowie durch Verknüpfungsprinzipen (Mond-Durchschnitt) aufgerissen hat, in seiner letzten Filmszene wieder zusammennähen. Hier stehen die Assoziationen mit der Naht in direktem Zusammenhang mit Buñuels Techniken des Filmschnitts. Buñuel lässt zwischen seinem ersten und letzten Film immer wieder (äußerliche, innere und metaphorische) Wunden öffnen. In Él (MEX 1953) versucht ein Paranoiker aus Eifersucht einen Mordanschlag an seiner Frau zu verüben. Hierfür packt er zunächst ein Seil ein, mit dem er seine Frau vermutlich festbinden möchte. Zudem packt der eifersüchtige Mann behutsam eine Rasierklinge, Schere und schließlich eine Nadel, durch die er außerdem sorgfältig einen Faden durchzieht, in eine aufgerollte Watte. Diese Einstellung zeigt, wie viel Raum Buñuel den Elementen gibt, die für einen Schneidevorgang stehen können. Auch in Un Chien andalou kommen neben dem Rasiermesser noch weitere medizinische Gerätschaften vor. Allerdings übersieht man sie leicht neben der Reprografie der Spitzenklöpplerin: Auf dem Tisch neben dem Buch liegen ein Spritzenbesteck und ein kleiner Käfig mit lebenden Mäusen (Abb. 36). Diese Elemente kommen wie die Schneidewerkzeuge in Él aber nicht weiter zu einem (diegetischen) Einsatz. Sie scheinen vielmehr für sich zu stehen und bereiten den Zu-
72 Staiger, Janet: Perverse Spectators. The Practice of Film Reception, a. a. O, S. 23.
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schauer vor allem auf assoziativer Ebene auf eine Wunde, eine Verletzung vor. In Él ist das der Verlust der Frau, die ihren Gatten verlässt. In Un Chien andalou mögen sie zudem ein Hinweis auf das Experimentelle sein – an diesem Film und am Surrealismus generell.
2. L’ÂGE D’OR: KÖSTLICHE LEICHEN IM GOLDENEN ZEITALTER Auf ähnliche Weise wie in Un Chien andalou findet sich auch in L’Âge d’or ein Interesse am Traumhaften wieder. Und so erscheinen – neben der radikal sozialkritischen Dimension im Film – vor allem die traumähnlichen Assoziationen der Verdichtung und Verschiebung als das ästhetisch Revolutionäre. Die Frage, die sich im Hinblick auf die traumähnlichen Assoziationen im Film ergibt, bezieht sich auf das Maß an Inkohärenz, das ein Film abbilden kann, ohne dass diese Inkohärenz selbst zu einem Zeichen, Symbol, zu einer Formspielerei wird, die Buñuel am Avantgardefilm ja gerade kritisierte. Hierfür werden im Folgenden vor allem die ‚Brüche‘ näher betrachtet, die zwischen den einzelnen Abschnitten bestehen. L’Âge d’or, der diesmal bis auf einige Motive, die Dalí beisteuerte, vorwiegend aus der Feder von Buñuel stammte,73 war nur ein kurzer Erfolg beschieden. Nach der Uraufführung am 3. Dezember 1930 im heute noch bestehenden Studio 28 in Paris kam es schon nach wenigen Aufführungen zum Eklat.74 Der Film wurde kurz darauf verboten und blieb es bis 1981, was seinem Nimbus als Meilenstein des surrealistischen Kinos keinen Abbruch tat. Der Schwarz-weiß-Film – einer der ersten französischen Tonfilme – galt vielen als ein untragbarer revolutionärer Angriff auf christlich-bürgerliche Werte und wurde zum Gegenstand einer politischen Auseinandersetzung zwischen linken und rechten Kräften. Als die Vorführung im Kino eskalierte, wurde nicht bloß die Leinwand zerstört, sondern auch Gemälde und Kunstwerke in der Theaterlobby; sie stammten von Dalí, Ernst, Ray, Miró und Tanguy. Bei den Demonstranten handelte es sich um Mitglieder der sogenannten Liga der Patrioten und der Antijüdischen Jugendliga.75 Sie stifteten, zunächst in den Zeitschriften, eine Kampagne an, um den Film verbieten zu lassen, da sie ihn für unmoralisch und bolschewistisch hielten. Die Be-
73 Buñuel, Luis: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen, a. a. O., S. 166. 74 Vgl. hierzu auch http://www.cinema-studio28.fr/historique/ (abgerufen am 04.05. 2017). 75 Vgl. hierfür Buñuel, Luis: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen, a. a. O., S. 169.
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schwerden führten dazu, dass zuerst die Szenen im Film verboten wurden, in denen kirchliche Würdenträger vorkommen. Die darauffolgenden Beschwerden der rechten Presse, die sie der Polizei vorgebracht hatten, hatten schließlich zur Folge, dass der Film komplett verboten wurde.76 Der Film wurde zum Streitfall, und natürlich verteidigten ihn linke Zeitungen und die Surrealisten, die bereits ein Manifest für den Film veröffentlicht hatten, das unter anderem von Aragon, Breton, Crevel, Dalí, Éluard und sogar Tzara unterschrieben wurde.77 Im Streit um Das goldene Zeitalter spiegelt sich grob die Spaltung, die innerhalb der surrealistischen Bewegung stattgefunden hatte: Manche Surrealisten wollten die ästhetischen, methodischen Experimente fortführen, die bereits begonnen worden waren, andere wollten diese neue Ästhetik in den Dienst der politischen Revolution stellen. Diese Phase ging mit der neuen Zeitung Le Surréalisme au service de la révolution (1930-1933) einher, die Nachfolgerin von La Revolution surréaliste (1924-1929) war. In demselben Jahr 1930 erschien auch Bretons Second manifeste du surréalisme. Darin revidierte er einige seiner anfänglichen Urteile über die Vernunft bzw. den ‚objektiven‘ Zufall. Bretons zweites Manifest widmet sich – im Gegensatz zum ersten, das sich vorwiegend auf die innere Traumwelt konzentriert – deutlich mehr der Realität, also der äußeren Welt.78 Buñuels Film L’Âge d’or scheint äußerlich betrachtet der Forderung nachzukommen, die auf die anfängliche surrealistische Phase zurückgeht und deren Impetus Max Ernst für seine „poetische Objektivität“ so treffend formuliert hatte: „Lassen sie Ihre Imaginationskraft und gleichzeitig Ihre mit Bleistift bewaffnete Hand die Schnittfläche zwischen der persönlichen Intuition und der sogenannten reellen Welt abtasten.“79 Das Überwinden der Abgrenzung von Denken und Figur, von Innen- und Außenwelt gelangt darin zum Ausdruck. Diese Schnittflächen zwischen Innen- und Außenwelt werden im Film durch die Bewegtheit der
76 Ebd. 77 Das Manifest (1930) der Surrealisten zu Das goldene Zeitalter ist als Nachdruck zu lesen in: Dalí, Salvador: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 100-107. 78 Es war vorwiegend das umfangreiche Vorwort, in dem die Umdeutung des Surrealismus zur sozial-revolutionären Bewegung stattfand; das zweite Manifest enthält die Verurteilung ehemaliger Kameraden – auch Dalí fiel in Ungnade, der sich zu dieser Zeit auch nicht mehr mit dem langjährigen Freund Buñuel verstand. 79 Max Ernst zitiert nach: Roh, Franz: Max Ernst und der Surrealismus – sind sie noch aktuell?, in: Das Kunstwerk. Eine Zeitschrift über alle Gebiete der bildenden Kunst, hrsg. von Woldemar Klein, Heft 4/X, Krefeld 1956/57, S. 3-6, S. 5.
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Bilder allerdings vom Zuschauer fast automatisch ‚durchdrungen‘. Daher braucht es für Buñuel eine zusätzliche bzw. etwas anders gelagerte Methode, die die neuartigen Diskurse bzw. Mechanismen des Unbewussten zum Ausdruck bringt. Buñuel nutzt dazu geschickt eine Eigenheit des Films, der ja von Anbeginn als realitätsabbildendes Medium galt. Er verknüpft Dokumentaraufnahmen mit gespielten Szenen, er inszeniert an realen Schauplätzen und künstlichtheatral im Studio. Er verweigert seinen Figuren vermeintlich realistische Reaktionen, etwa wenn ein Kind (aus der Unterschicht) erschossen wird und das nur für leichte Empörung sorgt, während eine Ohrfeige (in der oberen Gesellschaft) dramatisiert wird. Die Welt in L’Âge d’or scheint aus den Fugen und willkürlich wie das Ergebnis einer cadavre exquis-Zeichnung, das sprichwörtliche „goldene Zeitalter“ scheint so unerreichbar wie nie. Die meisten Kritiker, die den Film lobten, sahen in der subversiven filmischen Darstellung der Oberflächlichkeit der Bourgeoisie den Beginn einer neuen sozialen Dimension des Surrealismus.80 Die satirische Sicht der Bourgeoisie und der Kirche, die im Film über eine zerstörerische und respektlose Leidenschaft verbunden wird, kündigt zwar das Entstehen einer neuen sozialsatirischen Ader in der surrealistischen Kunst an, diese vor allem inhaltliche Sichtweise würde dem Film aber nicht gerecht werden. Denn es ist die revolutionäre Form in L’Âge d’or – ähnlich wie bei Un Chien andalou –, die den latenten Inhalt befördert. Diesbezüglich ist der Film eine Fortsetzung der surrealistischen Erkundung der Mechanismen des Unbewussten (vor allem des Begehrens), die in Un Chien andalou begonnen wurde. Doch wird in L’Âge d’or ein anderer Weg der Erkundung eingeschlagen und damit ein anderer Schwerpunkt gelegt. Während in Un Chien andalou das Unbewusste und die trügerische Einheit des Selbst durch das erotische Verlangen zur Debatte gestellt werden, erfolgt in L’Âge d’or eine Infragestellung der Gesellschaft und der trügerischen Einheit dieser Gesellschaft anhand der zerstörerischen Kraft des erotischen Verlangens. Das Begehren ist also noch immer das Movens oder, wenn man so will, der rote Faden. Nur geht L’Âge d’or weit über eine Psychoanalyse des begehrenden Subjekts hinaus und
80 Legrand, Gérard: Elixir of Potboiler and Unlabelled Love Portions [1951], in: The Shadow and Its Shadow, a. a. O., S. 98-101; The French Surrealist Group: Manifesto of the Surrealists Concerning L’Âge d’or [1930], in: The Shadow and Its Shadow, a. a. O., S. 115-121, S. 120; Maxime Alexandre, Louis Aragon, André Breton, René Char, René Crével, Salvador Dalí, Paul Éluard, Benjamin Péret, Georges Sadoul, André Thirion, Tristan Tzara, Pierre Unik und Albert Valentin unterzeichneten das „Manifesto“, in dem sie u. a. die „social aspects“ und „subversive elements“ des Films festhielten.
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begibt sich quasi sozio-analytisch auf anthropologische Forschungsfelder, etwa der Mythen, Zeremonien sowie der (Mythen der) sozialen Organisation. Dazu nutzt auch Das goldene Zeitalter die traumähnlichen Assoziationen der Verdichtung und Verschiebung. Diese Assoziationen sind umso effektiver, als der Film durch seine vermeintliche Nähe zum Realismus einer konventionellen Erzählweise nachzukommen scheint. In vielen Filmbeschreibungen wird daher auch die Liebesgeschichte hervorgehoben. In dieser Arbeit geht es aber vor allen Dingen darum zu zeigen, inwiefern psychische Strukturen anhand der Verknüpfungen zwischen den bruchstückartigen einzelnen Abschnitten auffindbar werden. Der „köstliche Leichnam“ – historische Konstellation Gerade dort, wo gewisse Regeln der kinematografischen Diegese oberflächlich eingehalten werden, erweckt der Film den Anschein einer narrativen Kohärenz, die mit der sogenannten sekundären Revision von Träumen in der Psychoanalyse verglichen werden kann,81 indem die radikale Inkohärenz des Traums durch den oberflächlichen und falschen Anschein von Verständlichkeit vertuscht wird. Um dieser Täuschung nicht aufzusitzen, spielt für die Analyse des Films insbesondere das Verfahren des cadavre exquis (übersetzt etwa: köstlicher Leichnam) eine große Rolle. Zwangsläufig entstanden durch die vorgefasste Methode monströse Figuren – gar nicht in ihren Einzelteilen, aber eben in der Zusammenschau, die die Einzelteile einer metamorphotischen Veränderung preisgab;82 diese Metamorphose sollte, wie bereits betont, zu einem zentralen Verfahren surrealistischer Bildpraxis werden. Das heißt, was als Verfahren mit der Sprache (écriture automatique) begonnen hat, wurde visuell weiterentwickelt, da hier eine Form der Produktivität neu entdeckt wurde, die bald für alle möglichen Darstellungsformen (Text, Zeichnung, Collage, Fotokunst) nutzbar gemacht wurde. Mit den Verfahren der écriture automatique sowie des cadavre exquis kam man offensichtlich den Quellen der Wechselwirkung von Unbewusstem und Bewusstem, auch als einer Wechselwirkung von Vorgefundenem und Eingriff, auf die Spur.
81 Vgl. dazu Freud, Sigmund: Die sekundäre Bearbeitung, in: Die Traumdeutung, a. a. O., S. 332-345. 82 Vgl. die Faltmontagen, bei denen einer mit dem Kopf auf dem gefalteten Papier begann und die anderen die Figur fortsetzten, ohne das vorher Gezeichnete zu kennen: Yves Tanguy, Man Ray, Max Morise und André Breton, Cadavre exquis, 17. Mai 1927, Centre Pompidou, Paris; Man Ray, Joan Miró, Max Morise und Yves Tanguy, Cadavre exquis, 1927, Centre Pompidou, Paris.
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Wichtig waren dabei stets die überraschenden und zündenden Verbindungen einander ursprünglich fremder Wörter und Bildelemente. L’Âge d’or hat mit rund 60 Minuten damalige Spielfilmlänge. Obwohl der Film passagenweise mit Originalton arbeitet bzw. Sequenzen und Dialoge nachvertont wurden, spielt die Musik wie schon beim vorigen Film eine wichtige Rolle. Die Musik besteht aus einer Montage aus Auszügen von Mendelssohn, Mozart, Beethoven, Debussy, Wagner sowie von Georges van Parys. Darsteller sind unter anderem Lya Lys (die Frau), Gaston Modot (der Mann), Max Ernst (Anführer der Banditen) und Pierre Prévert (Bandit). L’Âge d’or beginnt mit einem Stück „Kulturfilm“, so die Bezeichnung in Deutschland, einem zur damaligen Zeit sehr beliebten Genre, das vor den Spielfilmen im Kino gezeigt wurde: In diesem Fall handelt es sich um eine Naturdokumentation über Skorpione (Abb. 37). Es folgt eine Klippenszenerie am Meer, ein offensichtlicher Räuber hält Ausschau, eine Gruppe Bischöfe deklamiert auf den Felsen Gebete. Daran anschließend folgen Bilder der abgerissenen, elenden Banditengruppe. Sie wollen die Landung der „Mallorquiner“ abwehren. Eine Gesellschaft aus Honoratioren, Polizisten, Geistlichen, bürgerlichen Damen und Herren. Bei ihrer Ankunft sind von den vier Bischöfen nur noch Skelette übrig – sie ziehen den Hut vor den religiösen Wegbereitern und wenden sich ihrem Vorhaben zu: der Grundsteinlegung einer Stadt. Diese Zeremonie wird aber durch ein Liebespaar (Modot und Lys) gestört, das sich lustvoll am Strand wälzt und von den aufgebrachten Leuten gewaltsam getrennt wird. Rom – gleich darauf eingeblendet mittels spektakulärer Realaufnahmen aus der Luft – wird nun gegründet. Es folgen Impressionen des „modernen Lebens“ in der Stadt, teils aus Kulturfilmen entlehnt, die immer wieder surreal gebrochen und konterkariert werden: Etwa wenn ein Mann aus einem Café tritt und sich den Staub aus dem Anzug klopft. Zu den „widersprüchlichen und pittoresken Aspekten der großartigen Stadt“ (Übers. SH), so ein Zwischentitel, gehört auch, dass ganze Straßenzüge sonntags zusammenbrechen. Der verhinderte Liebhaber wird immer noch abgeführt, in seiner schlammigen Kleidung, bis er seine (wichtige) Identität preisgibt. Im noblen Haus der Geliebten erinnert sie derweilen die Kuh auf ihrem Himmelbett an die unerfüllte Begierde. Die Stadt scheint die Liebenden vorerst zu trennen. Es folgt die längere Szene des Festes beim Marquis von X., dem Vater der jungen Frau. Dokumentaraufnahmen spielen hier keine Rolle mehr. Die Abschnitte geben sich wie ein Spielfilm, der allerdings die herkömmliche Illusion einer kohärenten Fiktion verweigert: Weder ein Pferdekarren im Salon (Abb. 38) noch Feuer und Schreie aus der Küche bringen die Festgesellschaft aus der Ruhe. Die Innen- werden mit Außenszenen gegengeschnitten, die die bereits er-
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wähnte Episode zeigen, in der ein Vater seinen Sohn erschießt. Dieser hatte dem Vater die Zigarette im Spiel aus der Hand geschlagen. Auf dem Fest trifft sich auch das Liebespaar wieder. Als Fetisch hat er das Kleid, das sie trägt, mitgebracht. Hier kommt es nun (weil ein Getränk verschüttet wurde) zu der Ohrfeige: Der Mann schlägt ausgerechnet die Mutter der Geliebten. Der Mann und die Frau ziehen sich in den Garten zurück, wo auch das Festkonzert stattfinden soll. Die folgende Parallelmontage zwischen Liebespaar und Konzert inszeniert teils slapstickhaft, teils surreal die domestizierte und nun gehemmte Leidenschaft. Das Liebespaar fällt ungeschickt aus den Sesseln, eine Vision ermahnend blickender Priester stört genauso wie der Butler, der den Mann ans Telefon ruft. Der Innenminister wirft dem Mann vor, verantwortlich für den Tod vieler Menschen zu sein. Die nächste Szene zeigt den Minister an der Decke kleben, er hat sich selbst getötet, der Aufstieg ins Himmelreich endet neben dem Kronleuchter. Als das Liebespaar wieder zusammen ist, scheint die Glut der Leidenschaft vollends verflogen. Stattdessen folgt eine Art Gedankendialog, in dem unter anderem der Satz „Welche Freude, welche Freude, unsere Kinder umgebracht zu haben“ (Übers. SH) vorkommt. Über das Gesicht des Mannes läuft Blut, während der Dirigent des Orchesters auf einmal von Kopfschmerz geplagt abbricht und im Garten auf das Paar stößt. Die junge Frau küsst ihn, woraufhin ihr Geliebter wütend die Szenerie verlässt. In ihrem Schlafzimmer zerstört er Kissen und wirft dann einen brennenden Busch, einen Bischof, einen Handpflug und eine (Stoff-) Giraffe aus dem Fenster. Ein Zwischentitel kündigt den Szenen- und Zeitwechsel von Rom nach Paris, zum Schloss Selliny, an. Nun wird die Kulisse theatral-irreal: Der Film endet mit dem Abschnitt über die Figuren, die aus Marquis de Sades Die 120 Tage von Sodom83 bekannt sind. Die vier Männer verlassen gerade die Orgie (Abb. 39). Die Hauptfigur im Film sieht allerdings wie Jesus Christus aus, nicht wie der verruchte Duc de Blangis. Ein Mädchen in blutbeflecktem Nachthemd läuft ihnen nach. Jesus-de Blangis kehrt mit ihr ins Haus zurück, man hört Schreie, dann tritt er wieder aus dem Tor. Der Film schließt mit einem Bild eines Kreuzes, an dem Haarbüschel wehen. Diese Aneinanderreihung unabhängig voneinander wirkender Abschnitte lehnt sich äußerlich betrachtet an die quasi-automatischen Niederschriften, die Traumprotokolle und an das cadavre exquis-Spiel an, dessen wesentliches Resultat ein weitgehend von Konventionen befreites Schreiben und Zeichnen war.
83 Sade, Marquis de: Die 120 Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung [Les 120 journées de Sodome ou L’École du libertinage; verfasst 1785, frz. EA. 1904], aus dem Französischen übersetzt von Karl von Haverland, Köln 2006.
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Entsprechend diesem Verfahren sollen nun die einzelnen (unvollendeten) Erzählstränge in L’Âge d’or miteinander in Verbindung gesetzt werden. Diese ‚Brüche‘ sind in den Räumen zwischen den fiktiven Welten der einzelnen Abschnitte verortet, quasi in den ‚Lücken‘, die die Dokumentation über Skorpione von der Erzählung über Banditen, der Gründung einer Stadt und schließlich von der Darstellung einer Orgie am Ende des Films trennen. Diese ‚Lücken‘, so scheint es, bilden dabei das Pendant der unabhängig voneinander entstandenen Erzählstränge in Les Champs magnétiques, die Breton und Soupault durch das cadavre exquis-Spiel entstehen ließen. Dabei versetzten sie sich in einen ‚passiven‘ Zustand und folgten nach ihrer eigenen Aussage dem Lauf ihrer Gedanken, wie sie kamen (écriture automatique).84 Damit waren die beiden Pole der surrealistischen ästhetischen Verfahren – deutlich vor dem Manifest des Surrealismus von 1924 – bereits angelegt: in der écriture automatique die psychografische Niederschrift, die sich vor allem in den bildnerischen Werken von Masson, Tanguy und Miró auswirken sollte;85 und im cadavre exquis die – hier noch vom Zufall mitbestimmte – Zusammenfügung des eigentlich nicht Zusammengehörigen, welche dann systematisiert den Werken von Magritte, Dalí und eben Buñuel zugrunde liegen sollte.86 Max Ernst hatte schon in seinen vorsurrealistischen Collagen das analoge bildnerische Verfahren der surrealistischen Kombinatorik entwickelt, das er später als „poetische Objektivität“ umschreiben sollte. Der ähnlich angelegte „bewusste Automatismus“, den Buñuel als Verfahren für Un Chien andalou ins Spiel gebracht hatte, verbindet sich nun in seinem nächsten Film wieder mehr mit dem (scheinbar) Zufälligen. Welche Verknüpfungsprinzipien in L’Âge d’or zum Einsatz kommen, die visuell semantische Inkohärenz abbilden, die die Logik der Mehrdeutigkeit im Traum reflektiert, soll nun näher betrachtet werden.
84 Soupault, Ré: Über das traumhafte Schreiben und das Schicksal eines Manuskripts, a. a. O., S. 182. Vgl. dazu ausführlicher die Passage Histoire naturelle des Kapitels VII. 85 Vgl. u. a. Joan Miró, La Naissance du monde (Die Entstehung der Welt), 1925, The Museum of Modern Art, New York; André Masson, L’Armure (Der Panzer), 1925, Privatbesitz; Yves Tanguy, Je suis venue comme j’avais promis. Adieu (Ich bin gekommen, wie ich versprochen hatte. Adieu), 1926, Stiftung Sammlung Dieter Scharf zur Erinnerung an Otto Gerstenberg in der Hamburger Kunsthalle. 86 Vgl. u. a. René Magritte, La Durée poignardée (Die durchbohrte Zeit), 1938, The Art Institute of Chicago; Salvador Dalí, Les Plaisirs illuminés (Illuminierte Freuden), 1929, The Museum of Modern Art, New York; Luis Buñuel, L’Âge d’or (F 1929).
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Sex und Gewalt oder Der Schnitt durch den Mythos Von Beginn an kann L’Âge d’or als Spiel mit dem Mythos der menschlichen Zivilisation verstanden werden: Hier wird von den Anfängen der modernen Welt sowie von deren Auflösung am Ende berichtet, strukturell und thematisch angelehnt an den allbekannten Mythos aus der Antike, den Hesiod zu erzählen begann. Schon der entlehnte Titel Das goldene Zeitalter beinhaltet aber den ersten Bruch. Ist es im antiken Mythos eine ideale Gesellschaft, mit der die Geschichte beginnt, konterkariert Buñuel diese mit einer deutlich geteilten Gesellschaft zu Anfang des Films, indem er elende Gestalten neben prunkvolle Bischöfe und satte Bürger schneidet. Der Schnitt geht hier wortwörtlich und im übertragenen Sinn durch die sozialen Schichten. Ein weiterer Schnitt geht durch die Zeit. Das erklärt, wieso die „Mallorquiner“, als sie die Stadt Rom gründen, bereits modern angezogen sind und den christlichen Märtyrern (Bischöfen) ihre Ehre erweisen. Wenn L’Âge d’or die Vorstellung des Alten und die des Modernen in einer pseudomythischen Darstellung der Gründung des römischen Reichs verschmilzt, präsentiert der Film Geschichte quasi im umgekehrten Zeitraffer. Der erste Abschnitt – ein Prolog als Aufriss des zentralen Filmthemas wie sich später herausstellen wird – beginnt mit der scheinbar antisozialen Welt der Skorpione. Sie ist geprägt vom Instinkt des Überlebenstriebes. Der zweite Abschnitt bewegt sich in der primitiven Gesellschaft der Banditen. Der dritte Abschnitt beinhaltet die Gründung einer vollständig entwickelten Zivilisation. Im vierten Abschnitt werden die pittoresken Sehenswürdigkeiten und Errungenschaften dieser Zivilisation dargestellt – mit ihren Gegensätzen und Abgründen. Und im fünften Abschnitt erfolgt endgültig die perverse Entartung der gesellschaftlichen Organisation in der Darstellung von Marquis de Sades Antigesellschaft im Château de Selliny, wo die (Gesellschafts-)Regeln Umkehrungen der Regeln ‚normaler‘ Gesellschaften sind. Jeder der fünf Abschnitte des Films findet in einem Akt der Gewalt seinen Höhepunkt. Das beginnt mit dem ersten Abschnitt, in dem der Skorpion die Ratte tötet, und endet im Tod des jungen Mädchens durch die Jesus-de Blangis-Figur. Während Gewalt fortwährend im Film präsent ist, ändert sich allerdings deren Bedeutung bei jedem Wechsel des kulturellen Kontexts. Im ersten Abschnitt ist die Gewalt ein vollkommen natürlich scheinender Reflex eines Skorpions, der einer Ratte, einer Bedrohung, gegenübersteht. Im zweiten Abschnitt, in dem die Banditen gegen die Landung der Mallorquiner vorgehen wollen, verläuft sich die Gewalt im Sande. Die Banditen sind schlicht zu schwach. Während ihres langen Marschs zum Meer verwandeln sie sich von Angreifern zu Opfern und bleiben im Sand liegen. Anders als den Skorpionen gelingt es ihnen nicht, diejenigen zu
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vertreiben, die ihre Ruhe stören. Was bisher als Räuberbande daherkommt, darf so gesehen in der Retrospektion als Volk von Ureinwohnern interpretiert werden, die den Usurpatoren bzw. Kolonialisten unterliegen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde Gewalt als notwendiges Mittel zur Selbsterhaltung dargestellt. Im dritten Abschnitt, in dem mit den Mallorquinern eine komplexe soziale Ordnung die Szene betritt, ändert sich die Funktion der Gewalt. Nun, da die gesellschaftliche Ordnung hergestellt scheint, wird Gewalt zu einer Bedrohung für die Gesellschaft und mithilfe von Gewalt bestraft, die wiederum von der Gesellschaft für rechtmäßig erklärt wird und wiederum Gewalt erzeugt. Der besondere Kniff im Film besteht darin, dass sich diese Gewalt auch als Sexualverhalten äußert und verfolgt wird. Oder anders ausgedrückt: Das Begehren wird hier nicht bloß, wie in Un Chien andalou, psychoanalytisch pathologisiert, sondern sozial kriminalisiert. Die Liebenden werden, wie zuvor beschrieben, auseinandergezerrt, weil sie von der Gesellschaft als Bedrohung ihrer eigenen Stabilität angesehen werden. Wenn sich die Liebenden „wie Tiere“ im Schlamm wälzen, erinnert ihr ‚primitives‘ Verhalten dabei an das instinktive der Skorpione und Banditen. Ihre unbändige sexuelle Gewalt löst die gesellschaftlich sanktionierte Gewalt der Menschenmenge aus. Die Gewalt und die Unbefriedigtheit der sexuellen Triebe führen zu weiterer und sinnloser Gewalt. Die Schläge, die er selbst einsteckt, gibt der Mann (Modot) gleich kompensativ an einen Hund und einen Käfer weiter, den er zertritt. Die ‚zweckgebundene‘ Gewalt des Überlebenstriebs aus den ersten beiden Abschnitten wird also von immer sinnloseren Gewaltakten abgelöst, die verschobene Formen der sexuellen (Ersatz-)Befriedigung darstellen. Ein weiterer „Schnitt“ des Filmemachers geht durch einen Mythos, der allgegenwärtig ist: Es ist der Mythos der Liebe. Es ist bereits viel über die sogenannte amour fou zwischen dem Mann (Modot) und der Frau (Lys) geschrieben worden; die grundlegende Tatsache der Impotenz dieses weniger romantischen als vielmehr rein körperlichen Begehrens wurde dabei jedoch von den meisten ignoriert.87 Linda Williams hat diese Impotenz erkenntnisreich herausgearbei-
87 Vgl. u.a. The French Surrealist Group: Manifesto of the Surrealists Concerning L’ Âge d’or [1930], in: The Shadow and Its Shadow, a. a. O., S. 115-121, S. 115-116; bezüglich des Liebespaares geht es im „Manifesto“ vordergründig um „sexual instinct“ und um „death instinct“; Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film, München 2006, S. 200: „Ein Paar findet in seiner leidenschaftlichen Liebe nicht zueinander. L’Amour fou ist das zentrale Thema, zugleich aber die Gewalt. Sie resultiert einerseits aus der Unbedingtheit der Liebenden und andererseits aus dem Scheitern dieser Liebe an bürgerlichen Konventionen.“
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tet:88 In der Gartenszene haben die Liebenden endlich die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, paradoxerweise hat das den Effekt, dass ihr Verlangen dadurch abgeschwächt scheint. Nur in ihren Vorstellungen lassen sich ihre Körper auf eine ekstatische Höhe treiben, indem sie Bilder ihrer eigenen Verstümmelungen und der Tötung ihrer eigenen zukünftigen Kinder heraufbeschwören. Allerdings dringt der Orchesterdirigent in diese gedanklichen Ausflüge ein, die dazu dienen sollen, das Verlangen am Leben zu halten. Der verhinderte Liebhaber, selbst ein Aggressor bzw. Eindringling, schafft es nun nicht – genau wie zuvor die Banditen – den Störenfried abzuwehren. Sein Sexualtrieb wird ‚verschoben‘ – diesmal auf das Schlafzimmer der Frau, wo die Symbole moderner Zivilisation in einem kompensatorischen Gewaltakt aus dem Fenster gekippt werden. Dabei könnte man den vorneweg fliegenden brennenden Baum – angelehnt an die biblische Erzählung von Mose und dem brennenden Dornbusch89 – als vorhergehende Aufforderung lesen, das Volk aus der (sexuellen, sozialen, geistigen, religiösen etc.) Gefangenschaft zu führen. Dazu fliegt auch gleich der geistliche Würdenträger hinterher (steht auf und läuft davon) sowie der Pflug als Symbol der menschlichen Zivilisation schlechthin. Wieder ist es erst der Zusammenschnitt der einzelnen Einstellungen, der hier den latenten Inhalt erzeugt. Wenn man sich etwa die Sequenz mit der Landung der Mallorquiner in Erinnerung ruft, wird die Giraffe zu einer anti-kolonialistischen Giraffe; denkt man an sie als Symbol von Macht und Reichtum (schon Julius Cäsar ließ eine in Rom zur Schau stellen) und an die Gesellschaft in L’Âge d’or, wird ihr Fenstersturz (ebenfalls eine bekannte politische Tradition) zur radikalanarchistischen Kritik an eben dieser Macht. Gesetz und Gesetzesübertretung: Verschiebung durch Montage Gewalt als Ersatzventil für das Tabu der sexuellen Vereinigung prägt den Film seit dem ersten Auftritt der verhinderten Liebenden. Ein Schlüsselelement in der Darstellung von Sexualität und Gewalt ist – wie bereits in Un Chien andalou – das Aufstellen eines Gegensatzes. Dies findet hier Ausdruck anhand der Montage zwischen dem ‚Gesetz‘ und dessen Übertretung. Der Unterschied zwischen den beiden Filmen besteht jedoch darin, dass dieser Prozess in L’Âge d’or viel expliziter und ausführlicher dargestellt wird. Dem Zuschauer wird beispielsweise
88 Vgl. hierfür Williams, Linda: Figures of Desire, a. a. O., S. 132-136. 89 Vgl. 2. Mose 3, 2-8: Mose erhält in dieser Passage den göttlichen Auftrag, das Volk Israel aus Ägypten, wo es unterdrückt wird, zu führen. https://www.bibleserver.com/ text/NLB/2.Mose3%2C2-8 (abgerufen am 03.05.2017).
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tatsächlich eine Zeremonie vorgeführt, die der Gründung einer Stadt nach gesellschaftlichem Recht ähnelt. Der nicht gestatte Geschlechtsakt des Liebespaares steht für die gegen die Gesellschaft gerichtete Unordnung, vor deren Hintergrund die Autorität der Gesellschaftsgründer etabliert wird. Von diesem Punkt an haben weder Sex noch Gewalt mehr eine rein instinktive und biologische Funktion. Das Verlangen hängt paradoxerweise vom Gesetz ab, einem gesellschaftlich und religiös induzierten, wie der Film nahelegt, und diesem Gesetz unterliegt das Verlangen schlussendlich. Sex und Gewalt sind aber nicht nur auf eine Weise miteinander und mit dem Gesetz verbunden, die im Bereich der Verbote zu verorten ist, sondern sie changieren im Spannungsfeld zwischen Gebot und Verbot. Eine genaue Untersuchung der parallelen Strukturen der Abschnitte drei und vier veranschaulicht, inwiefern ihre Beziehung überhaupt erst im Raum zwischen Gesetz und Gesetzüberschreitung zu bestehen scheint. Im dritten Abschnitt sind die Mallorquiner die Kolonisten, die in Booten landen. Im vierten Abschnitt sind sie die Gäste, die in Autos vor der Villa des Marquis von X., dem Vater der Protagonistin, vorfahren. In beiden Abschnitten kommen die Mallorquiner, um einer Zeremonie beizuwohnen: der Gründungszeremonie der Stadt und der des Fests bzw. des Konzerts. Die erste Zeremonie stellt den Ursprung der Gesellschaft dar, die zweite eine Weiterentwicklung der kulturellen Gepflogenheiten und sozialen Rituale dieser Zivilisation. Im späteren Abschnitt scheint sich die Zivilisation schon in einem relativ fortgeschrittenen oder vielmehr dekadenten Stadium zu befinden. Wenngleich viele der kulturellen Gepflogenheiten vertraut sind, verkehren bestimmte Aspekte – wie die Fliegen auf dem Gesicht des Marquis, der Bauernkarren, der durch den eleganten Salon fährt, der Bedienstete, der seinen Sohn aus einer Laune heraus tötet – die Erwartungen an das ‚normale‘ Benehmen einer solchen Gesellschaft ins Gegenteil. Diese Szenen geben somit dem Film eine entrückte anthropologische Note. In den Abschnitten drei und vier werden die Liebenden zudem durch eine Gesellschaft voneinander getrennt, deren Werte des Patriotismus, der Familie und des Glaubens durch die Dringlichkeit des Verlangens der beiden Liebenden bedroht scheint. Im früheren Abschnitt wird die Gründungszeremonie vom Ausbruch der Leidenschaft unterbrochen, wohingegen im späteren Abschnitt die Zeremonie (durch die Musik und dann durch den Dirigenten selbst) die Liebenden unterbricht. Im früheren Abschnitt werden (unerfüllte) sexuelle Energien auf Ersatzobjekte übertragen – auf den Hund, den der Mann tritt, den Käfer, den er zerquetscht, das groteske Bild der Frau auf der Toilette –, während die Liebenden im späteren Abschnitt abhängig von anderen Ersatzobjekten geworden sind, sodass sie nicht mehr in der Lage sind, ihr ursprüngliches Vorhaben (Sexualakt) auszuführen. Fetischobjekte wie das Kleid, das der Mann zum Fest mitbringt,
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oder der Fuß der Statue, der von Lys in den Mund gesteckt und liebkost wird, sind nunmehr an die Stelle des ursprünglichen Objekts des Begehrens getreten. Es scheint, als wären die Liebenden vom Gesetz, das sie voneinander fern hält, abhängig geworden. Sie brauchen dieses Gesetz, um ihr Verlangen anzuheizen – sie scheinen daher ohne diese Gesetzesinstanz impotent zu sein. So kann der Tod des Ministers, als Gesetzesvertreter, auch keine Befreiung der befangenen Leidenschaft sein. Die Parallelen zwischen Abschnitt drei und vier machen die Unterschiede deutlich, die zwischen der rohen Leidenschaft der ersten (verhinderten) Vereinigung der Liebenden und der kulturell vermittelten, fetischisierten Leidenschaft ihrer zweiten (versuchten) Vereinigung bestehen, die schließlich in einem müden Streicheln ausläuft. Unter anderem stellen für Williams die Liebenden im Film kein privilegiertes Beispiel dafür dar, das außerhalb der Zivilisation bestünde, die ihrer Vereinigung im Weg steht. Das Gegenteil ist der Fall. Es wurde gezeigt, inwiefern ihre Leidenschaft gerade das Produkt dieser Zivilisation ist. Buñuel setzt die Liebenden nicht dazu ein, um eine amour fou zu verherrlichen, sondern er zeigt vielmehr, inwiefern das sexuelle Verlangen ein Produkt der gegenseitigen Bedingtheit von Gesetz und von dessen Übertretungen ist. Und sexuelle Gewalt oder aus ihr resultierende Gewalt, stellt eine ultimative Gesetzübertretung dar, die im Film eine Übertretung zu sein scheint, die die Begehrlichkeit des Lustobjekts bewahrt. Im letzten, fünften Abschnitt kommen alle vorangegangenen Verschiebungen der sexuellen Energie zu ihrem Höhepunkt. In diesem Abschnitt ersetzen ‚reine‘ gewaltvolle Agressionen die sexuellen Bedürfnisse. Die unschuldige Gewalt des Skorpions, der eine Ratte tötet, steigert sich zur sadistischen Gewalt, der ein junges Mädchen zum Opfer fällt. Im letzten Abschnitt wird die Montage zwischen Gesetz und Gesetzesübertretung am deutlichsten. Sie wird verkörpert in der Verbindung von Mörder und Opfer, einmal symbolisiert in der Jesus-de Blangis-Figur. Diese Übertretung ist ähnlich bereits im zweiten Abschnitt auffindbar, wenn die Bischöfe anfangs lebendig bzw. als Eindringlinge erscheinen und dann nur noch Skelette von ihnen übrig sind. In dem letzten Bild des fünften Abschnitts treibt es Buñuel allerdings auf die Spitze, wenn am Kreuz – als Symbol des Christentums und damit als Symbol für das Verbot von Mord – die Haare der ermordeten Mädchen flattern. Dafür trägt Jesus-de Blangis, als er wieder aus der Burg tritt, keinen Bart mehr. Der Bart ist ab, das Symbol von Männlichkeit und Potenz schlechthin, oder auch zu lesen als „Prophetenbart“, der für Weisheit steht. Zwischen Vorher und Nachher liegt der Schrei (Tod) der jungen Frau – und ein Schnitt. Die Metapher des Schnitts drängt sich im verschwundenen Bart geradezu auf, doch ist sie hier wohl weniger psychoanalytisch im Sinne einer Kastrationsangst als vielmehr kulturanthropologisch zu deuten.
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Metonymische und metaphorische Verknüpfungen Um noch weiter zu verdeutlichen, inwiefern sich der Diskurs des Unbewussten bzw. des Begehrens im Film über bestimmte Verknüpfungsprinzipien ergibt, soll hier das Verhältnis von Diegese und bestimmten Stilfiguren wie Metapher und Metonymie näher betrachtet werden. In L’Âge d’or scheint jeder Abschnitt einmal als selbstberechtigte Diegese zu existieren sowie im übertragenen Sinne in Bezug zum Rest des Films zu stehen. Die anfängliche Dokumentation über Skorpione funktioniert sowohl als Darstellung einer bestimmten Spielart des Erzählens von ‚Realität‘ über das echte Leben (Naturdokumentation) sowie als Kommentar im übertragenen Sinne zum Thema Gewalt, das sich durch den ganzen Film hindurchzieht. Insbesondere durch die anthropomorphen Kommentare zum Verhalten der Skorpione – ihre „mangelnde Umgänglichkeit“, ihre „Blitzattacken“ oder das „Vertreiben von Eindringlingen“90 – werden diese KulturfilmSequenzen zu Analogien für das gesellschaftsfeindliche Verhalten der Liebenden sowie der Jesus-de-Blangis-Figur. Gleichzeitig stellen sie einen Kontrast zur Langsamkeit und Schwäche der Banditen dar, denen es nicht gelingt, die eindringenden Mallorquiner abzuwehren. Diese Parallelen sowie Unterschiede funktionieren ähnlich wie Metaphern: Durch sie rückt der ‚Text‘ für einen Moment von der unmittelbaren Diegese ab und wird sodann – wie im Verbund eines cadavre exquis – zu einem konnotativen Kommentar. Das heißt, die Parallelen und Unterschiede werden zu Bestandteilen eines rhetorischen Konstrukts, das die Gewalt der Skorpione mit der Gewalt einer Gesellschaft vergleicht, die sich je nach Abschnitt in einem anderen Stadium der Zivilisation befindet. In komplexer Weise wird diese Verschiebung durch alle fünf Abschnitte des Films hindurch aufrechterhalten. In den Abschnitten drei und vier haben diese Verschiebungen beispielsweise die Funktion, die Unterschiede zwischen der rohen Leidenschaft des ersten Treffens der beiden Liebenden (im Schlamm am zerklüfteten Strand) und der zweiten kulturell vermittelten, fetischisierten Leidenschaft (im wohlgestalteten, kultivierten Garten) aufzuzeigen. Ein Großteil der Übergänge basiert dabei auf räumlichen oder zeitlichen Kontinuitäten, jedoch selten auf beiden zugleich. Der Übergang zwischen der Skorpionsdokumentation und der Banditenerzählung erfolgt mittels der Bildüberschrift „Einige Stunden später“. Es gibt jedoch keine diegetische Handlungsbeziehung zwischen diesem Dokumentarfilm und der darauffolgenden
90 Diese Beschreibungen des Verhaltens der Skorpione werden auf Zwischentiteln gezeigt, die eingeschoben werden. Meine Übersetzungen können Abweichungen beinhalten.
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Banditenerzählung. Anscheinend besteht die Kontinuität lediglich durch eine räumliche Verbindung, die in beiden Abschnitten aus derselben felsigen Umgebung besteht, in der sich die Skorpione sowie die Banditen aufhalten. Beim nächsten Übergang, der von der Banditenerzählung zur Gründung des römischen Reichs verläuft, gibt es erneut eine klare Kontinuität des Raums, ebenfalls die felsige Landschaft, in der die Bischöfe sitzen und die Mallorquiner landen. Es gibt allerdings auch hier keine zeitliche Beziehung zwischen diesen beiden Abschnitten. Die Mallorquiner treffen nur noch auf die Gerippe der vier Bischöfe, die in der Banditensequenz davor noch quicklebendig waren. Das heißt, eine räumliche Kontinuität tritt beim Übergang von Abschnitt zwei zu Abschnitt drei erneut in Verknüpfung mit zeitlicher Diskontinuität auf. Im Gegensatz dazu besteht beim Übergang vom Abschnitt drei (Gründung Roms) zu Abschnitt vier (Szenen aus dem Leben in Rom) eine zeitliche Kontinuität. Denn Gaston Modot trägt im Abschnitt vier nach wie vor den mit schlamm verschmierten Anzug und befindet sich auch weiterhin in Gewahrsam zweier Herren. Es liegt diesmal eine räumliche Diskontinuität vor, da der vierte Abschnitt nicht mehr in einer felsigen Landschaft in der Nähe einer Meeresküste stattfindet, sondern im zeitgenössischen Rom; so suggerieren es zumindest die Dokumentar-Luftaufnahmen und Straßenszenen am Anfang des Abschnitts. Bis hierher waren die verschiedenen Abschnitte des Films auf der Basis von bruchstückartigen sowie teilweise widersprüchlichen Elementen aus Raum und Zeit miteinander verbunden. Der Zuschauer hat dabei zunächst das Gefühl, die Grundlage für die gedankliche Verknüpfung (Assoziation) zweier Abschnitte bestehe nicht in den metaphorischen Ähnlichkeiten sowie Kontrasten zwischen den Abschnitten, sondern vielmehr in diesen sonderbar verschobenen Metonymien. Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, sind Metonymien bildliche Assoziationen, die mehr auf der Kontinuität als auf der Ähnlichkeit der Referenten beruhen. Anders als Metaphern ‚verlangen‘ Metonymien vom Zuschauer nicht, dass dieser von der erzählerischen Ebene auf die Ebene der übertragenen Bedeutungen ‚springt‘, da das sogenannte Vehikel der Assoziation aus der Narration der vorangegangenen Kontinuität erwächst. In L’Âge d’or entstehen die metonymischen Assoziationen unterschiedlich. Einmal, wie oben gezeigt, durch räumliche oder zeitliche Kontinuität. Da nun aber jedes unverbundene Segment der Narration in der Luft ‚schweben‘ bleibt, ist der Zuschauer außerdem gezwungen – wie bei der klassischen Struktur einer Metapher – in den Ähnlichkeiten oder Unterschieden der aufeinanderfolgenden Abschnitte nach einem Motiv für die Assoziation zu suchen. Die surrealistische Metonymie von L’Âge d’or behandelt also jeden neuen erzählerischen Abschnitt,
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als wäre er das sogenannte Vehikel bzw. der „Rahmen“91 einer Metapher, der damit zum „Fokus“92 des vorangegangenen Abschnitts gehört. Es gibt in diesem Film demnach ein weitgehendes Nebeneinander von Diegese und Stilfigur; indem nicht ‚offen‘ auf die Illusion von Ort und Zeit verzichtet wird, bewahren die großen metonymischen Einheiten aus dem Film eine scheinbare Wirklichkeit(snähe). Der Schock bzw. die Desorientierung, die mit der surrealistischen Metapher einhergeht (wie beim Mond-/Auge-Durchschnitt), wird hier durch eine subtilere Verschiebung ersetzt. Obwohl die Metonymien aus der Narration heraus entstehen, dienen sie der Erzählung nicht in der Form, wie es Metaphern oder Metonymien normalerweise tun. Einmal mehr wird die Hierarchie zwischen Diegese und Stilfigur bei Buñuel gestört: Diesmal entsteht die Störung durch die Verzerrung bzw. Verdrehung realistischer Verfahren, auf die ich gleich im nächsten Unterkapitel eingehen werde. Wenngleich nicht der ganze Film anhand derartiger Metonymien funktioniert, erscheinen sie angesichts Buñuels weiterer Arbeiten, wie insbesondere Le Fantôme de la liberté (F/I 1974) zeigt, dennoch als wichtiges Stilmittel. Der ‚Stab‘ der Geschichte wird in diesem Film quasi abschnittsweise weitergegeben, eine Nebenperson aus der vorangegangenen Geschichte wird zur Hauptperson in der folgenden. Der letzte Übergang in L’Âge d’or ist allerdings rein metaphorisch. Dieser Übergang von der Szene im Schlafzimmer, wo der Mann Kissen aufreißt und brennende Büsche und anderes aus dem Fenster schmeißt, zum Schlussakt besteht visuell aus unschuldigem, reinem Weiß: Die Federn (aus den Polstern) legen sich so sacht unter das Fenster des Stadthauses wie der Schnee um die Burg der Orgiasten. Ein Zwischentitel informiert den Zuschauer über den Wechsel der Szenerie, wie gesagt ein örtlicher und zeitlicher Sprung von Rom nach Paris, aus der Filmgegenwart ins 18. Jahrhundert. Eine derart offenkundig unmögliche Zeitabfolge bzw. räumliche Verbindung zerstört die bereits heiklen Kontinuitäten von Raum und Zeit, die bisher im Film bestanden. An dieser Stelle werden die metonymischen Verknüpfungen von einer extradiegetischen sowie metaphorischen Zusammenführung dreier unterschiedlicher Elemente bzw. Figuren abgelöst. Im letzten Abschnitt kehrt der Film also zur surrealistischen Metapher zurück und sucht Ähnlichkeiten zwischen dem männlichen Protagonisten (Modot), Herzog de Blangis und Jesus Christus. Wie bereits in Un Chien andalou entsteht das auslösende Motiv für einen derartigen Vergleich aus einer ver-
91 Black, Max: Interaktionstheorie der Metapher, in: Metapherntheorien: Typologie, Darstellung, Bibliographie, hrsg. von Rolf Eckard, De Gruyter Lexikon, Berlin/New York 2005, S. 35-49, S. 35. 92 Ebd.
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meintlich unwichtigen formalen Ähnlichkeit – der Überblendung von fallenden Federn in fallenden Schnee. Dass dieser Übergang durch keine Metonymie mehr zu schließen ist, liegt hier auch an der schlagartig veränderten Bildästhetik. Waren die Filmbilder an sich in allen Abschnitten zuvor annähernd realistisch, bewegen wir uns nun in einer theaterhaften, (alb-)traumähnlichen Kulisse, die in ihrer Künstlichkeit an die frühe Stummfilmzeit gemahnt. Desorientierung als Konsequenz des glaubwürdigen Falschen Insbesondere die Jesus-de-Blangis-Figur zeigt jedoch, inwiefern die abschließende Metapher sich in der konkreten Narration entwickelt. In L’Âge d’or wird das semantische Feld fortwährend neu gegliedert. Das heißt, die Skorpione, Banditen, Bischöfe, Liebenden und Jesus/de Blangis gehören jeweils zu verschiedenen Diskursen und Genres wie naturalistische Dokumentation, Actionerzählung, christliche Mythologie oder Pornografie. In L’Âge d’or sind die Übergänge von einem Abschnitt auf den nächsten nicht extradiegetische rhetorische Kommentare, die für einen Moment konkrete Elemente der Narration abstrahieren (im Sinne von herauslösen), wie üblicherweise in metaphorischen Darstellungen. Die Beziehung zwischen Stilfigur und Diegese scheint in diesem Film anders zu sein: Während darin die konkreten Eigenschaften der Darstellung erhalten bleiben, zieht uns der Film niemals vollständig in die ‚Realität‘ seiner imaginären Welt hinein. Das heißt, während bildliche Verfahren hochabstrakte Konzeptualisierungen liefern, verändern sich diese Konzeptualisierungen in dynamischer Weise – ähnlich wie die Entwicklung des Plots der Narration. Buñuel erzeugt seinen ‚Text‘ also auf der weiterreichenden Ebene der Konflikte zwischen und innerhalb der fünf Abschnitte: Jeder dieser Abschnitte ist, wie gesagt, teilweise eine Nachahmung eines bestimmten erkennbaren Diskurses und Genres (Naturdokumentation, Actionerzählung etc.), gleichzeitig ist jeder dieser distinkten Diskurse in sich verzerrt sowie in einer bestimmten Weise miteinander verschränkt. Die Skorpiondokumentation ist ausgesprochen anthropomorphistisch, die Actionerzählung der Banditen spielt in einer so lethargischen Geschwindigkeit, dass das Wort „Action“ dabei ad absurdum geführt wird, die epische Zeremonie der Gründung Roms wirkt durch die Störung durch die Liebenden sowie durch den Scheißhaufen, der auf dem Grundstein ausgebreitet wird, ins Lächerliche gezogen, und die dokumentarischen Szenen aus dem Leben in Rom zeigen sowohl die spektakulärsten Sehenswürdigkeiten als auch alltägliche Absurditäten, etwa, um andere Beispiele als zuvor zu nennen, einen Mann, der eine Violine vor sich her kickt, oder einen Mann, der wie die Statue
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von Jacques Bossuet einen Stein am Kopf balanciert.93 Und schließlich tritt Jesus an die Stelle von de Sades entartetem Freigeist – auf dessen Anblick sich der Zuschauer eigentlich eingestellt hatte. Somit ist nicht nur jeder Diskurs von allen anderen verschieden, sondern jeder einzelne weicht jeweils von seinen ‚Genreregeln‘ ab, die er nachzuahmen vorgibt. Das Ergebnis ist ein Collageeffekt, in dem die verschiedenen Teile, die oftmals aus der realen Welt entnommen sind oder scheinen, selbst unauthentisch werden. Der Collageeffekt funktioniert aber auch anders herum: Das Fiktive erhält durch die realen und realistischen Implikationen einen seltsamen Anstrich von Glaubwürdigkeit, die ihrerseits zur weiteren Desorientierung beiträgt. Es kann daher festgehalten werden, dass sich Buñuel nicht nur beim cadavre exquis im Sinne der Zusammenfügung des eigentlich nicht Zusammengehörigen bedient, sondern darüber hinaus dem Medium eine neue Qualität ästhetischen Sehens zuführte, indem er den Zuschauer mit dem ewigen Paradox des glaubwürdigen Bildes – das Fotografie und Film angeblich widerspiegeln – konfrontiert. Der Film erreicht dabei eine Inkohärenz, die an die mehrdeutige Logik im Traum erinnert, denn der Zuschauer kann die Darstellung einer bereits existierenden, fiktionalen Welt niemals vollständig in sich aufnehmen. Stattdessen wird er zum aktiven Teilnehmer an der dynamischen Konstruktion dieser ‚Welt‘. Dies führt dazu, dass keine ‚Realität‘ vorgegeben, sondern stets erzeugt wird. Insbesondere die visuelle Darstellung von Sex und Gewalt in L’Âge d’or veranschaulicht, wie Buñuel die ‚realistischen‘ Bilder während des Filmverlaufs auf intellektuelle Weise konstruiert und sie surrealistisch verzerrt. Oft lässt Buñuel den Zuschauer nur gedanklich an Sex oder Gewalt denken, wie beispielsweise in der Masturbationsszene,94 welche im Grunde genommen gar keine ist, sondern eine Abfolge obskurer Hinweise, die der Zuschauer im Nachhinein neu interpretiert. Sobald der Film erotische oder gewaltvolle Handlungen zeigt, sind diese Darstellungsweisen stets grotesk, wie in der Liebeszene im Garten, wenn das Paar von den Stühlen plumpst oder sich ungeschickt im Kies wälzt. Buñuel beugt quasi einer Identifikation der Zuschauer mit den Darstellungen von Sex oder Gewalt vor, indem er die Bilder ins Lächerliche oder Übertriebene zieht. Durch ihre brutale Rohheit (Tritte für den Mann am Boden, mutwilliges Umtreten eines Blinden, Erschießen eines Kindes etc.) schockieren uns die Ge-
93 J. Bossuet war ein einflussreicher französischer Bischof des 17. Jahrhunderts. Der Stein auf dem Kopf gehört nicht zur Statue. 94 Als der Mann durch die Stadt abgeführt wird, trifft er überall auf Werbeschilder mit erotisch aufreizenden Motiven. Er imaginiert, dadurch angeregt, seine Liebste in einer zweideutigen Position.
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waltbilder einerseits, andererseits wirken sie eben durch ihre Unangemessenheit grotesk. Nur die natürliche Gewalt des Skorpions ist tolerierbar. So schafft Buñuel eine kritische Distanz. Es gelingt ihm, dass der Zuschauer zu hinterfragen beginnt, was diese Dinge innerhalb der Kultur jeweils bedeuten. Es scheint also, als mache es Buñuel dem Zuschauer absichtlich unmöglich, sich wie gewohnt von der erzählerischen ‚Realität‘ des Bildes verführen zu lassen, indem es dem Zuschauer nicht gelingt, sich mit den Figuren und ihren Handlungen zu identifizieren. Er verweigert dem Zuschauer mit der Identifikation auch die Katharsis (seelische Reinigung) im aristotelischen Sinne. Die vielfachen Desorientierungen verhindern jedes heilsame Mitleiden vor der Leinwand. Diese wird vielmehr zu einer Art Spiegel, der Verdecktes sichtbar macht. Hier sei nochmals an Aristoteles’ Rätselbegriff erinnert: „Denn es liegt im Wesen des Rätsels, zwar Tatsächliches zu sagen, aber Unmögliches zu verbinden.“95 Gerade die Bilder von Sex und Gewalt dienen Buñuel dabei als Inspirationsquelle und Vehikel, um psychische Prozesse darzustellen, die das Verlangen gliedern und Unbewusstes im Film zu Tage fördern. Der Blick in den Spiegel: Richtig oder falsch? In dieser Arbeit konnte bereits gezeigt werden, dass ein Großteil der Faszination der Surrealisten für das Bild im Film von dessen Ähnlichkeit mit dem Bild in Träumen herrührt. Oder anders ausgedrückt: Ihr Interesse hing mit der Fähigkeit des Unbewussten zusammen, mit Bildern zu arbeiten. Nicht die Fähigkeit der bewegten Filmbilder, Illusion von diegetischer Zeit und diegetischem Raum erzeugen zu können, stand im Mittelpunkt, sondern vielmehr, dass der Film durch Bilder und nicht zuletzt durch deren Anordnung in der Montage Zeit und Raum jenseits rationaler Logik in andere, neue Formen aufgliedern kann. Ihr Fokus lag dementsprechend auf dem Unterschied, der zwischen dem Bild im Film und der ‚Realität‘, die der Film angeblich widerspiegelt, besteht. An dieser Schnittfläche ist der Zuschauer gefragt. Bei Ray wurde der Zuschauer als Naht interpretierbar, abgeleitet von Lacans Spiegelstadien-Theorie, in der sich das Kind noch „verkennt“96. Die Surrealisten fanden Gefallen an diesem sogenannten Falschverstehen des Bildes bzw. an dem zuvor schon angesprochenen Paradox des glaubwürdigen Falschen.
95 Aristoteles: Poetik, Kapitel 22 (5), vgl. u. a. http://www.gottwein.de/Grie/aristot/arist poet22.php (abgerufen am 06.06. 2017). 96 Vgl. dazu ausführlicher im Kapitel VIII den Abschnitt Verfremdung und Identifikation im Spiegel-Bild.
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Um dies zu erreichen, legt der surrealistische Film oftmals die Illusion der erzählten Welt offen. Dies gelingt am besten, wenn die Diegese nicht vollständig ausgelöscht wird, sondern wenn das Verhältnis der Diegese zu anderen Elementen im Film ‚nur‘ abgeändert erscheint. Dieses Verkennen einer imaginären Identifikation mit dem erzählerischen Bild wurde sowohl anhand der gestörten Hierarchie zwischen Metapher und Diegese in Un Chien andalou als auch anhand der Zerstückelung der verschiedenen diegetischen Elemente in L’Âge d’or bloßgelegt.97 Der Anspruch solcher Werke, die von poetischer Kraft sind und das Trügerische des Bildes offenlegen, drückt sich innerhalb der surrealistischen Kunst häufig durch die Verwendung von Spiegeln aus. So zum Beispiel bei René Magritte, der Fenster oder Gemälde malte, die spiegelähnliche Funktion haben. Sie zeigen aber entweder nicht, was vor ihnen steht, oder tun dies nur teilweise bzw. auf bizarre Art, wie beispielsweise der falsch gespiegelte Mann (Abb. 40) in La Reproduction interdite (Reproduktion untersagt, 1937). Hierin wird eines der Bildprinzipien Magrittes deutlich: Indem er lediglich ein Element im Bild mit Entschiedenheit umdrehte (das richtig gespiegelte Buch von E. A. Poe) und gleichzeitig den Mann vor dem Spiegel entgegen der Spiegel-Logik abbildet, wendet Magritte damit eine Wirklichkeit und damit Wahrhaftigkeit vortäuschende Malerei an. Durch diese Vermischung von „richtig“ und „falsch“ stellt Magritte die herrschenden Wirklichkeitsvorstellungen von Grund auf in Frage: Ist es ein richtiges Bild oder ein falsches? Und was ist richtig am Bild und was falsch? Vor das Fenster in La Condition humaine (Die Beschaffenheit des Menschen, 1933), das vom Inneren eines Zimmers aus gesehen wird, stellte Magritte ein Bild, das genau den Teil der Landschaft darstellt, der von diesem Bild verborgen wird (Abb. 41). Der auf dem Bild dargestellte Baum versteckt also den Baum hinter ihm, außerhalb des Zimmers. Er befindet sich für den Betrachter innerhalb des Zimmers auf dem Bild und gleichzeitig außerhalb, durch das Denken, in der wirklichen Landschaft.
97 In diesem Zusammenhang ist natürlich auch an das „epische Theater“ zu denken, das Erwin Piscator und Bertolt Brecht seit Mitte der 1920er Jahre auf deutschen Bühnen forcierten, allerdings mit offen politischen Intentionen. Das Aufbrechen der aristotelischen Einheit von Raum, Zeit und Kausalität, Verfremdungseffekte und der Griff zum irritierenden Zusammenwirken verschiedener Medien und Genres gehören jedoch zu den gemeinsamen formalen Kennzeichen zwischen dieser Theaterform und gerade L’Âge d’or. So setzte Piscator etwa Dokumentarfilm auf seiner Bühne mit demselben zweifachen Effekt ein wie Buñuel in seinem Film: die Illusion zu torpedieren und Authentizität zu suggerieren.
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In dieser Doppelung und Irritation des Sehens erinnert das Bild an einen frühen Film von Georges Méliès, Le Portrait mystérieux (F 1899). Der Filmemacher inszeniert darin in einem opulenten Bilderrahmen per Filmtrick sich selbst, wie er neben sich selbst sitzt – und sich über sich selbst wundert, bis er sich erkennt. Dies wiederum erinnert an die Vorgänge während des Spiegelstadiums, wie Jacques Lacan es 1934 beschrieben hat,98 und das hier schon in Abschnitt VIII (3.) thematisiert wurde: Das kleine Kind sieht sich auf die Art im Spiegel, auf die es die Bilder der anderen sieht. Dieses Bild des Subjekts als Objekt stellt demnach eine Konstruktion durch Verkennen dar. Lacan hat festgestellt, inwiefern es sich dabei um ein narzisstisches Falschverstehen der Einheit des Selbst handelt: Das Kind glaubt, dass das Bild mit dem es sich identifiziert, als Subjekt eine Einheit bildet, während diese Einheit dagegen noch nicht stattgefunden hat.99 Das Kind hat noch keinen Platz innerhalb der Beziehungen des Symbolischen bzw. es kann noch nicht die symbolischen Formen des sogenannten Unterschieds beeinflussen, die beispielsweise der sprachlichen Unterscheidung zwischen ‚er‘ und ‚sie‘ innewohnen. Es kann sich nur mit dem Anderen identifizieren, ohne sich jeglicher Unterschiede bewusst zu sein und dabei an die Illusion einer Einheit glauben. In dieser frühen Phase gerät das Kind quasi in die ‚Falle‘ des Spiegels, da dieser auf verführerische Weise eine Einheit vorspielt. Dieses Verständnis davon, wie Beziehungen mittels des projizierten Bildes eines idealen Selbst funktionieren, kann die Bedeutung der spiegelähnlichen Werbeposter in L’Âge d’or sowie des Spiegels, in den Lya Lys im Film hinein-
98 Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint [Le Stade du miroir comme formateur de la fonction du Je : telle qu’elle nous est révélée dans l'expérience psychanalytique, 1949], in: Ders.: Schriften I. Berlin 1986, S. 61–70. 99 Lacan unterscheidet in der Spiegelstadien-Theorie zwei Formen des Narzissmus. Der erste liegt auf der Ebene des realen Bildes und bezieht sich als solcher auf das Körperbild. Die darin Gestalt annehmende Einheit des Subjekts projiziert sich nicht nur ins Selbstgefühl des menschlichen Seins, sondern dient auch als imaginäre Quelle des Symbolischen bzw. als Verbindung des Symbolischen mit dem Gefühl. In diesem Sinne ist Lacans weitergehende Feststellung zu verstehen, dass unsere Beziehung zum Unbewussten imaginär vermittelt ist, sofern sie in unserer Beziehung zu unserem Körper wurzelt. Durch die Reflexion im Spiegel wird ein zweiter Narzissmus eingeführt, dessen Grundmuster die Beziehung zu Seinesgleichen, das heißt zum sozialen anderen ist. Im realen anderen begegnet das Subjekt also dem anderen als der bezeugenden Instanz. In diesem Sinne stellt der andere das Ich-Ideal dar. Vgl. dazu: Braun, Christoph: Die Stellung des Subjekts, a. a. O., S. 37.
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schaut, herleiten. Somit sind im vierten Abschnitt nicht die Hindernisse, die das Liebespaar trennen und die sie überwinden, das Interessante im Film; das Besondere scheint vielmehr in den Mechanismen ihrer Vereinigung zu liegen, die in ihren Vorstellungen stattfindet. Diese Mechanismen bilden zum einen die erotisch-narzisstischen Bilder weiblicher Körperteile im Film, die dem Betrachter in Form von Werbebildern das Verlangen nach einer Handcreme, nach Seidenstrümpfen oder nach einem spezifischen Haarschnitt vermitteln. Diese Bilder verleiten den Protagonisten schließlich zur schon erwähnten Vorstellung von Masturbation. Und zum anderen stellen die erotisch-narzisstischen Bilder der Frau, die sich vor einem Spiegel ihre Nägel feilt, Mechanismen dar, um sich durch den Spiegel eine Zugangsmöglichkeit zu ihren erotischen Fantasien zu verschaffen. Die Werbeposter arbeiten mit dem typischen Narzissmus von Werbung, mit dem Produkte angepriesen werden, die die Attraktivität der Frau erhöhen sollen. Wenn die Frau also ein Produkt erwirbt, weil sie es an einer anderen Frau bewundert hat, dann kauft sie ein ‚falsches‘ Bild ihrer selbst. Die erotischen Bilder, die der Mann aufgrund solcher Werbung in seiner Vorstellung heraufbeschwört, werden expliziter und zwar bis diese latent onanistisch werden. Tatsächlich wird jedoch nichts von alledem gezeigt. Der erste Hinweis auf Masturbation findet dann statt, wenn die Frauenhand aus der Handcremewerbung lebendig wird und beginnt, den schwarzen Stoff mit zwei Fingern zu reiben. Daraufhin wird der schwarze Stoff im Film durch Haar ersetzt. Da nicht klar ist, um welche Hand es sich handelt, ist auch die Geste zunächst nicht eindeutig zuordenbar. Sobald sich allerdings in der folgenden Szene die Fotografie in einem Schaufenster in Lya Lys Kopf ‚verwandelt‘, wird deutlich, dass es der Mann ist, der dieses Bild heraufbeschworen hat. In der nächsten Szene liegt die Protagonistin auf einem Sofa, ihre rechte Hand im Schoß auf dem schwarzen Stoff ihres Rocks. Nun können die vorangegangenen Bilder aktiviert werden: Die Bilder der Hand, des Beins und des Kopfes waren Teil des Versuchs des Mannes, in seiner Vorstellung ein Gesamtbild des Objekts seines Verlangens zu erzeugen. Dieses vorgestellte Objekt hat demnach die onanistische Handbewegung zu Ende geführt, die zuvor kurz in der Handcremewerbung angedeutet wurde. Das Verständnis davon, dass die Fantasien hier mit Masturbation zu tun haben, wird also über die Montage evoziert und nur indirekt bzw. über psychische Strukturen, die Buñuel hier nachahmt, ersichtlich. Darüber hinaus vermischen sich im Film Ebenen des ‚Realen‘ mit der Ebene des Imaginären. Denn das, was als subjektive Fantasie des Mannes beginnt, endet im Schlafzimmer der Frau, wo sie ihrerseits in einer subtil in Szene gesetzten Imagination der Sehnsucht verfällt. Der zweite Mechanismus, mithilfe dessen
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die Liebenden die Distanz, die sie trennt, überwinden, funktioniert allerdings anders und diesmal direkt über einen Spiegel. Man sieht die Protagonistin im Profil, wie sie in den Spiegel blickt. Ein Wind, der ‚aus‘ dem Spiegel kommt, weht ihr ins Haar. Das Geräusch des Windes vermischt sich dabei mit Hundebellen und dem Läuten der Kuhglocke. Das Hundebellen verknüpft hier die alternierenden Einstellungen von Mann und Frau und erinnert mit dem Wind an die erste Leidenschaft am Strand. In der nächsten Einstellung sieht man den Spiegel in Nahaufnahme. Anstelle von Lya Lys’ Spiegelbild erkennt man Wolken, die über einen Himmel ziehen. Trotzdem sind unten im Spiegel die Flacons zu sehen, die auf dem Tisch vor dem Spiegel stehen (Abb. 42). Wie bei Magritte wird also etwas physikalisch-logisch, sprich spiegelbildlich abgebildet und etwas anderes nicht: Die Utensilien vor dem Spiegel sind da, statt des Frauengesichts sehen wir einen Ort, der unbestimmt bleibt und seinerseits zur Projektionsfläche wird. Der Spiegel erlaubt es der Frau, Bilder von sich selbst auf andere Orte und ein anderes ‚Selbst‘ zu projizieren. Dieser falsche Spiegel ist ihre ‚Leinwand‘, die es ihr erlaubt, in eine andere Welt auszubrechen. Es scheint, als habe der Narzissmus, wie er sich im Abschnitt mit den Werbebildern zeigt, auf dieses Paradox des falschen Spiegelbildes von Lys vorbereitet. Zusammenfassend wird festgehalten, dass das Neuartige an Buñuels zweitem Film aber gerade nicht der Triumph der Liebe über den Raum oder die Zeit ist, sondern die Art und Weise, wie jeder Liebende die eigene Identität in den Augen des anderen findet, die er als Spiegel für das Selbst verwendet. Indem er diese Mechanismen des (narzisstischen) Begehrens nachahmt sowie für den Zuschauer nachvollziehbar macht, versucht Buñuel in L’Âge d’or also vor allem, die narzisstischen Beziehungen zum falschen Bild aufzuzeigen, welche das Verlangen bestimmen bzw. strukturieren. Nicht die Illusion ist das Ziel des surrealistischen Filmemachers, sondern die Irritation, um einer tieferen, unbewussten oder verdeckten Wahrheit auf die Spur zu kommen. Die heftige Reaktion auf den Film spricht dafür, dass dies in L’Âge d’or gelungen ist.
X. „Die Eroberung des Irrationalen“ Salvador Dalís Entdeckung paranoisch-kritischer Aktivität
Die erfolgreichen Aufführungen von Un Chien andalou öffneten Luis Buñuel und Salvador Dalí 1929 endgültig den von Breton geführten Kreis der Pariser Surrealisten. Im Gegensatz zu vielen Künstlern der surrealistischen Malerei, die versucht haben, ihr Können im Interesse des Zufalls bzw. im Interesse von Authentizität zu ‚verlernen‘,1 stellte Dalí hingegen seine Fähigkeiten als Maler stets offen zur Schau. Allerdings scheint er diesbezüglich zuerst ambivalente Gefühle gehabt zu haben. Die Beziehung, die zwischen seinem ständigen Steigerungsdrang bezüglich der optischen und darstellerischen Möglichkeiten sowie seinem Status als (surrealistischer) Künstler bestand, war eine recht komplexe. So maß er sich beispielsweise in der Technik mit Vorbildern wie Vermeer, Velázquez, Raphael und da Vinci, hatte aber keinerlei Ambitionen, auch motivisch in ihre Fußstapfen zu treten.
1
Vgl. u. a. André Masson, der zunächst vom Kubismus beeinflusst war und ca. 1924 zu einem eigenen Verfahren des freien Zeichnens kam: „Wenn man sehr rasch arbeitet, ist die Zeichnung mediumartig, als würde sie vom Unbewußten diktiert. Die Hand muss hinreichend schnell sein, damit das bewußte Denken sich nicht einschalten und die gestische Bewegung kontrollieren kann. [...] Wenn das Bild erscheint, nehme ich es an und verwerfe es nicht. Ich sehe es erst, wenn die Zeichnung fertig ist, nie vorher. Wenn ich die Linie vor Erscheinen des Bildes anhielte [...], käme nur eine Kritzelei heraus.“ Zitiert nach: Masson, André: Gesammelte Schriften I, hrsg. von Axel Matthes und Helmut Klewan, München 1990, S. 118. Obwohl Miró sich am „automatischen“ Schreiben und Zeichnen der Surrealisten nicht direkt beteiligte, ermöglichte die Art Bildpraxis ihm sogleich einen freieren Umgang mit seinen eigenen Bildmitteln: In La Bouteille de vin (Die Weinflasche) von 1924, erkennen wir beispielsweise skripturales Zeichnen, poetisches Abkürzen sowie offenes Kombinieren.
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Das Vergnügen bestand für Dalí, André Breton zufolge, gerade darin, „so kleine Dinge so gut, und noch besser, wenn sie vergrößert wurden, zu malen“.2 Dieses Anliegen entfaltet sich im Jahr 1928 und lässt sich anhand des Werkes Les Plaisirs illuminés (Illuminierte Freuden, 1929) veranschaulichen (Abb. 43), das für Robert Descharnes, Fotograf und Freund des Malers, Dalís erstes Meisterwerk darstellt.3 Illuminierte Freuden (oder auch: Erleuchtete Lüste) zeigt völlig disparate Motive innerhalb einer Landschaft, die in Collagemanier zueinander gebracht wurden. Teils sind sie eingeklebt, aber meistens so genau gemalt, dass sie fotografischen Abbildungen gleichen. Dabei können die aufgeklebten Farbdruckpartien selbst bei genauem Hinsehen durchaus für gemalt und die gemalten Partien für aufgeklebt gehalten werden. Auch wenn Dalí hier ein die Wahrnehmung provozierendes Trompe-ḻ̱ ’Œil gelang, haben gerade die so fein und realistisch gemalten Motive die Surrealisten zu einem anfänglichen Zögern veranlasst, ob Dalí der Bewegung überhaupt angehören sollte. Breton wägte – in dem oben angeführten mehrdeutigen Lob erkennbar – Dalís Stolz als Maler und seine anderen „Fehler“4 (wie sein Nationalismus hinsichtlich Katalonien) gegen seine unvergleichlichen Kräfte der „freiwilligen Halluzination“5 sowie geistigen Befreiung ab. Technischer Einfallsreichtum oder auch visuelle Spielereien um ihrer selbst Willen waren für die Surrealisten verdächtig, aber sie waren sich darin einig, dass die Malerei in den Dienst der Erkundung der Labyrinthe des Geistes gestellt werden sollte. Während für sie die visuellen Mittel dafür idealerweise schlicht oder gar transparent ausfallen sollten – wie die rudimentäre Aufzeichnung eines Traums, zufälliger Gesten, gefundener Objekte –, schien Dalí hingegen zunehmend von der zwingenden Notwendigkeit überzeugt zu sein, seine Bilder so überwältigend illusionistisch wie nur möglich zu gestalten. Sein Ziel war es, dem Formlosen eine Form zu verleihen – wie der Unsichtbarkeit, den Träumen, Wahnvorstellungen, Wünschen und Ängsten. Sein Ehrgeiz auf dem Gebiet der Malerei bestand, so formulierte Dalí 1935, darin,
2
Breton, André: Erste Dalí-Ausstellung [Première exposition Dalí, 1929], in: Dalí, Salvador: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schriften, übersetzt von Brigitte Weidmann, hrsg. von Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann, Frankfurt am Main 1974, S. 336-338, S. 336.
3
Descharnes, Robert/Néret, Gilles: Dalí. Das malerische Werk. 1904-1946, Köln 2005,
4
Breton, André: Dalí, in: Dalí, Salvador: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der
5
Ebd., S. 337.
S. 149. Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 336.
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die Vorstellungsbilder der konkreten Irrationalität mit der herrschsüchtigsten Genauigkeit sinnfällig zu machen. Daß die Welt der Fantasie und der konkreten Irrationalität von der gleichen objektiven Augenfälligkeit ist, von der gleichen Festigkeit, von gleicher Dauer, von der gleichen überzeugenden, kognoszitiven und mitteilbaren Dichte wie diejenige der Außenwelt, der phänomenologischen Wirklichkeit.6
Das heißt, die genaue Malweise, die in der Kunstgeschichte erarbeitet worden war, um die Erscheinung und Texturen von Lebewesen, Dingen und ihren Oberflächen so genau wie möglich darzustellen, um die sogenannte phänomenologische Wirklichkeit im Bild vorzuspielen, wurde von Dalí eben wegen ihrer Genauigkeit eingesetzt; allerdings lag ein wesentlicher Unterschied im Abzubildenden selbst, beabsichtigte er doch im Gegenteil, die Imagination als anschaulich bzw. als Wirkliches darzustellen. Für Dalí waren dabei in Übereinstimmung mit dem Surrealismus „die bildlichen Ausdrucksmittel auf das Thema konzentriert“7 und nicht um ihrer selbst willen gefragt. Realistische Malerei und Fotografie als Inspiration Dalís Text Die Eroberung des Irrationalen, aus dem gerade zitiert wurde, ist der Kunsthistorikerin Dawn Ades zufolge auch bezüglich Dalís widersprüchlicher Haltung, die er seiner eigenen Arbeit gegenüber hatte, aufschlussreich. Wird darin doch Dalís Ungeduld und Frustration über seine Leistung und seine zwiespältige Haltung gegenüber der akademischen Kunst erkennbar. So schreibt er etwa über den „Illusionismus der nachahmenden, auf niederträchtigste Weise streberischen und unwiderstehlichen [sic] Kunst“, ihre „geschickten Kniffe“ und den „auf analytische Weise erzählende[n], so verrufene[n] Akademismus“.8 Gleichzeitig erhebt Dalí genau diese Praktiken in den Stand seiner besonderen ‚Waffen‘ in der Malerei. Dawn Ades hat in Dalí’s Optical Illusions9 herausgearbeitet, wie Dalí versuchte, den Phantomen jener Jahrzehnte Substanz zu verleihen, was stets nach-
6
Dalí, Salvador: Die Eroberung des Irrationalen [La Conquête de l’irrationel, 1935], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 268-279, S. 271.
7
Ebd.
8
Ebd.
9
Ades, Dawn: Dalí’s Optical Illusions (Ausstellungskatalog: Wadsworth Atheneum Museum of Art in association with Yale University Press), New Heaven/London 2000.
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haltige Untersuchungen beinhaltete, die sich über die Beziehung zwischen Vision, Wahrnehmung und Darstellung ergaben. Die beiden wichtigsten Anregungen, die Dalí für seine eigene Praxis verwendete, waren die Farbfotografie und, so Dalí, die Künstler „der großen realistischen Malerei – Velázquez und Vermeer van Delft“.10 Sie gelten als Ressourcen für eine bestimmte Art der Materialisierung seiner Ideen. Dabei ist es für Dalí keine Frage der „fotografischen Malerei“,11 obwohl die „Präzision“12 das Ziel für ihn ist und die Materialisierung innerhalb eines Bildes bzw. durch den Prozess des Malens entsteht. Dalís Interesse gilt vor allem dem fotografischen Verfahren, das für ihn aus einem plötzlichen, sofortigen und insgesamt aber bisher unbekannten Bild bestehe.13 Die Potenziale der Fotografie für die surrealistische Kunst erkannte André Breton schon in seinem Essay Max Ernst (1921). Er empfahl, die neuen Medien für die traditionelleren Darstellungsweisen in der Kunst zu berücksichtigen, um darüber dem Bild etwas Neues hinzufügen zu können.14 Das Medium der Fotografie funktioniert, wie ich schon im Abschnitt über Man Ray gezeigt habe, als Metapher und als Beweis gleichermaßen, da die Fotografie zwischen Rationalität ihrer zentralperspektivischen Organisation (Realismus) und Magischem (Traum) sowie zwischen Reproduktionsmöglichkeiten des fotografischen Bildes und der Einmaligkeit des (fotografischen) Moments situiert ist – die Fotografie ist ein gemachtes Bild und gleichzeitig ein Bild von etwas. Der Film geht dabei sogar einen Schritt weiter. Da die bewegten Filmbilder dazu verleiten, dass der Zuschauer Außenund Innenwelt automatisch ‚durchdringt‘, muss der Film erst Metaphern erzeugen, wenn dem Bild etwas Neues hinzugefügt werden soll; wie beispielsweise die Metapher des Schnitts in Buñuels ersten surrealistischen Filmen. Die speziellen Ressourcen der Malerei sind wiederum mit Textur, Licht, Farbe, Perspektive und Rahmen verbunden, die ihrerseits manipulierbar sind, die assoziativ und suggestiv eingesetzt werden können. Das habe ich bereits anhand der „metaphysischen Malerei“ de Chiricos angeschnitten, die einigen Einfluss auf Dalí hatte, bevor er seine Methoden weiterentwickelte und zu einer ganz eigenen doppel- und mehrdeutigen Bildsprache fand. An Dalís Montagemethodik ist für diese Arbeit das Entscheidende, dass sie dynamische, unbekannte Bilder
10 Dalí, Salvador: Die Eroberung des Irrationalen, a. a. O., S. 271. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 272. 13 Ebd., S. 271. 14 Breton, André: Max Ernst [frz. 1921], in: Die verlorenen Schritte [Les Pas perdus, 1924], aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock, Berlin 1989, S. 77-79, S. 77.
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(Kippbilder) sowie penible, realistische Darstellungsweisen verbindet, was schließlich auch als Kritik am ‚objektiven‘ Zufall im Surrealismus verstanden werden kann. Dabei verknüpfte Dalí beide Verfahrensweisen und erweiterte sie, indem er sie in Verbindung mit den „Ereignissen“15 der modernen (psychoanalytischen) Wissenschaft setzte.
1. PARANOISCH-KRITISCHE METHODE – DAS BEWUSST ANGELEGTE DOPPELTE VORSTELLUNGSBILD Dalí gilt als einer der populärsten Maler des 20. Jahrhunderts, eine schillernde Persönlichkeit, die in bemerkenswerter Weise viele Gemeinsamkeiten mit Marcel Duchamp, einem eher zurückhaltenden Protagonisten dieser Zeit und ihrer Kunst, hat. Beide lehnten die Idee ab, dass die Malerei nur für das Auge ansprechend sein sollte, während sie in komplexer Weise zugleich rein optische Phänomene als Teil einer Untersuchung zur Erkundung von Wahrnehmung für nützlich hielten.16 Mit diesem Anliegen stellten sie nicht zuletzt eine zentrale Idee der Moderne in Frage, die diese mit bedingt hat, nämlich jene einer Autonomie der visuellen Erfahrung. Beide Künstler, Dalí sowie Duchamp, haben darüber hinaus einen engen Dialog zwischen ihrem (kunsttheoretischen) Schreiben und ihrer praktischen visuellen Arbeit gesucht, was eine weitere Abweichung von der modernistischen (Über-)Betonung des Visuellen darstellt.17 Dalí war genauso produktiv und vielfältig als Autor wie als Maler.18 Seine Schriften
15 Dalí, Salvador: Die Eroberung des Irrationalen, a. a. O., S. 273. 16 Bürger, Peter: Kunst der Metamorphose – Metamorphose der Kunst, in: Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, hrsg. von Isabel Maurer Queipo und Nanette Rißler-Pipka, Bielefeld 2007, S. 39-48, S. 46. 17 Vgl. u. a. Duchamp, Marcel: The Bride stripped bare by her own Bachelors, Even [La mariée mise à nu par ses célibataires, même, 1932], in: This Quarter: Surrealist Number, Vol. V, Nr. 1 (Paris September 1932), S. 189-192; Ders. und Halberstadt, Vitaly: L’Opposition et les cases conjuguées sont réconciliées, Paris 1932; Ders.: Rrose Sélavy, Paris 1939, in der Serie Biens Nouveaux, Édition G.L.M., 20 S. unpag. Noch andere Surrealisten verfassten neben ihrer Kunst begleitende theoretische Texte, wie beispielsweise Max Ernst. 18 Hier sei auf Dalí als Multitalent als Maler, Drehbuchautor, Kunsttheoretiker, Objektkünstler und Bildhauer, Kostüm- und Bühnenbildner sowie Designer von Stoffen u. a. Gebrauchskunst hingewiesen.
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relativieren dabei die Idee von der Autonomie der Kunst, sie offenbaren seine Gedanken über die Probleme und Möglichkeiten der Kunst bzw. der visuellen Darstellung in einer mechanischen und ‚freudschen‘ Welt. Es scheint, als bewege sich Dalí ganz bewusst zwischen Kunstpraxis und Theorie; und er beweist eine eklektische Neugier gegenüber zeitgenössischen Wissenschaften. Dabei war Dalí stets mehr als skeptisch gegenüber dem Anspruch, die sogenannte Realität durch Rationalität zu erklären. Im Einklang mit den Surrealisten untermauerte er seine Einwände gegen die eng gefasste Definition von ‚Realität‘, die er unter der Schirmherrschaft des Rationalismus und der „Herrschaft der Logik“19 sah. Vielmehr tendierte er zu den Ideen der neuen Wissenschaft der Psychoanalyse, welche für die Surrealisten zweifellos die Existenz einer erweiterten, psychischen Realität bewiesen hatten. Der Geist enthalte, wie Breton im Ersten Manifest des Surrealismus argumentiert, verborgene Kräfte in solchen Dingen, wie Träume, Fehlleistungen und Neurosen, die nicht weniger reale Erfahrungen für das menschliche Subjekt darstellen, als die der Außenwelt.20 Der Surrealismus – und Dalí mit ihm und neben ihm – war somit ein wichtiger Teil einer Bewegung, die wie die Psychoanalyse oder sogar Physik21 in jener Zeit die empirischen Grundlagen des Wissens in Frage gestellt hatte und die versuchte, die verborgenen Mechanismen zu verstehen, die die Realität beeinträchtigen.22 Was ist real? – Mechanismen der Paranoia Es ist heute allgemein anerkannt, dass die ‚Realität‘ der Objektwelt durch die unmittelbare Erfahrung, die uns gegeben ist, irreführend ist; der wahre Charakter beispielsweise der Farbe oder der Materie ist nicht bloß aus optischen oder haptischen Prinzipien ableitbar. Die Fehlbarkeit der Wahrnehmung und die seltsame Rolle der Illusion haben Physiologen, Psychologen und Psychoanalytiker gleichermaßen untersucht. Auch die Rolle des Gedächtnisses, der persönlichen Erfah-
19 Breton, André: Erstes Manifest [Manifeste du surréalisme, 1924], in: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, 12. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2009, S. 15. 20 Ebd., S. 17. 21 Vgl. Einstein, Albert: Zur Elektrodynamik bewegter Körper [1905], in: Annalen der Physik, Vol. 14, Februar 2005, S. 229-247. Vgl.: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/ 10.1002/andp.200590008/full (abgerufen am 08.06.2017); Ders.: Zur allgemeinen Relativitätstheorie [1915], in: Albert Einstein. Akademie-Vorträge. Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1914-1932, hrsg. von Dieter Simon, Weinheim 2006, S.778-786. 22 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 17.
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rungen und Assoziationen oder der kulturellen Muster bezüglich dessen, was wir sehen oder nicht sehen, sind Aspekte moderner Wahrnehmungstheorien. Wahrnehmung funktioniert komplex und subjektiv. Dennoch scheinen die verschiedensten Methoden bildlicher Darstellungen, die das Auge täuschen bzw. von der ‚Wirklichkeit‘ überzeugen sollen, sowie die Erfindung von Technologien, die die sichtbare Welt so genau wie möglich abbilden wollen, stets in irgendeiner Beziehung zur Idee einer objektiven ‚Realität‘ zu stehen. Im Jahrhundert der Psychoanalyse wurde ‚Realität‘ dann auch in den Mechanismen der psychischen Welt verortet – also in dem, was verborgen und nicht offenbar ist. In der Folge hat sich der Status des ‚Visuellen‘ als problematisch herausgestellt. Die Moderne in der Kunst hat sich daraufhin konzentriert mit dem Abstrakten, Formalen, Konzeptionellen, dem reinen Objektmaterial beschäftigt. Allein der Surrealismus hat versucht, systematisch die Schnittstelle zwischen inneren und äußeren Realitäten zu (unter)suchen; und somit ist es das Anliegen auch dieses Kapitels aufzuzeigen, ob und inwiefern – neben Max Ernst, Man Ray und Luis Buñuel – dies auch Salvador Dalí gelingt. Für Dalí liegt die Schnittfläche insbesondere zwischen Illusion und Vision, Wahrnehmung und Gedanke, die der Künstler durch Mechanismen des Imaginären nachzuahmen scheint. Hierfür setzt Dalí die paranoisch-kritische Methodik ein, die Techniken der Metamorphose beinhaltet sowie zur Metapher der Metamorphose führt. Mit Dalís Werk L’Homme invisible (Der unsichtbare Mann, 1929-32) beginnt die Phase, in der er sich als Maler der systematischen Auseinandersetzung mit dem paranoischen Doppelbild (Vexierbild) widmet. Zur selben Zeit, in der das Bild entstanden ist, hat Dalí das Buch Die sichtbare Frau23 (La Femme visible, 1930) verfasst, dessen erste Innenseite ein Porträtfoto seiner Gefährtin Gala Éluard zeigt, der das Buch gewidmet ist.24 Galas Einfluss hatte eine immens große Auswirkung auf den Künstler. Sie wurde zur Redakteurin von Dalís Texten, seine Muse und sein Model, seine erste Kritikerin und erfolgreiche Agentin seiner Kunst. Gala hat Dalí auf dem Weg der Selbstanalyse unterstützt und damit den fantastisch-intellektuellen Überschwang für seine Bilder sowie seine Texte mit bereitet.25 Als eine der „Hauptentdeckungen [s]eines Le-
23 Dalí, Salvador: Die sichtbare Frau [frz. 1930], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 128-156. 24 Gala lernte Salvador Dalí 1929 über ihren Mann Paul Éluard kennen. Auch angesichts der Tatsache, dass die Scheidung von Éluard 1932 und die Hochzeit mit Dalí erst 1934 stattfand, kann dieses Foto als mutiges Statement einer Liebe bezeichnet werden. 25 Vgl. dazu Ades, Dawn: Dalí’s Optical Illusions, a. a. O., S. 78.
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bens“26 bezeichnet Dalí Sigmund Freuds Buch Die Traumdeutung: „[…] mich befiel eine wahre Sucht nach Selbstanalyse“, erinnert sich Dalí, „ich interpretierte nicht nur meine Träume, sondern alles, was mir passierte, wie zufällig es auf den ersten Blick auch aussehen mochte.“27 Hierin liegt wohl der Nukleus des „Interpretationswahns“28, den Dalí einige Jahre später in La Femme visible programmatisch fassen und beschreiben sollte. Der erste Text darin, Der Eselskadaver29, stellt den „Mechanismus der Paranoia“ vor, der das „vielgestaltige Vorstellungsbild erzeugt“.30 Dies ist Dalís erste Erklärung seiner paranoisch-kritischen Methode, obwohl er den vollständigen Begriff erst mit Erscheinen seiner Paranoisch-kritischen Interpretation des zwanghaften Bildes »Das Abendläuten« von Millet31 1933 verwendet. In Der Eselskadaver erklärt er aber bereits, dass es nur aufgrund eines offensichtlich paranoischen Vorgangs möglich sei, ein doppeltes Vorstellungsbild zu erhalten: das heißt, die Darstellung eines Gegenstandes, die ohne die mindeste figürliche oder anatomische Veränderung gleichzeitig die Darstellung eines anderen, völlig verschiedenen Gegenstandes ist, auch sie frei von jeder irgendwie gearteten Verzerrung oder Anomalität, die auf ein Arrangement schließen ließe.32
Dalís Konzept der Paranoia, das von ihm noch während seines Naheverhältnisses zum Surrealismus eingeführt wurde, war jedoch entscheidend anders als der surrealistische Automatismus, der den Künstler eher in den Status eines (lenkenden) Mediums als den eines aktiv Schaffenden versetzte. Dalí vertraute dagegen auf
26 Otte, Torsten: Salvador Dalí. Eine Biographie mit Selbstzeugnissen des Künstlers, Würzburg 2006, S. 29. 27 Ebd. 28 Dalí, Salvador: Die sichtbare Frau, a. a. O., S. 140. 29 Der Text (L’Âne pourri) erschien bereits in: Le Surréalisme au service de la révolution, , Nr. 1 (Juli 1930), S. 9-12. 30 Dalí, Salvador: Der Eselskadaver [frz. 1930], in: Ders.: Die sichtbare Frau, a. a. O., S. 131-135, S. 133. 31 Dalí, Salvador: Paranoisch-kritische Interpretation des zwanghaften Bildes Das Abendläuten von Millet [Interprétation paranoïaque-critique de l'image obsédante L’Angélus de Millet, 1933], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 196-204. Der Aufsatz erschien im Juni 1933 in der ersten Ausgabe des Journals Minotaure, Chefredakteure: André Breton und Pierre Mabille. 32 Dalí, Salvador: Die sichtbare Frau, a. a. O., S. 132.
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die Wirkmacht des Paranoikers und seines „paranoische[n] Interpretationswahn[s]“33, um Visionen sichtbar zu machen. Er scheint mit seiner Methode bei Freuds Idee der Paranoia34 anzuschließen und zugleich weit darüber hinauszugehen. Jacques Lacan, der Freuds Aufsätze zur Paranoia gerade übersetzte, stieß auf Dalís Eselskadaver und bat den Künstler um eine Unterhaltung.35 Freilich war ihre Herangehensweise an die Paranoia sehr verschieden: Dalís Paranoia war eine simulierte und strategische im Hinblick auf seine Kunst. Lacan dagegen suchte als Wissenschaftler und Arzt nach einer Erklärung der krankhaften Paranoia und möglichen Therapien.36 Doch es gab auch viele Berührungspunkte, wobei Lacans Interpretationen – die, wie später erläutert wird, durchaus vom Surrealismus inspiriert sind – Dalí in seiner Methode stützen bzw. bestätigen sollten. Dies beinhaltete etwa das systematische falsche Verständnis der Welt durch die obsessive Idee: Lacan beschreibt die paranoide Psychose als kohärente Struktur, „die sich auf die gesamte Entwicklung der Persönlichkeit des Subjekts, das heißt auf die Ereignisse seiner Geschichte, auf die Fortschritte seines Bewußtseins und auf seine Reaktionen in der sozialen Umwelt bezieht“.37 Objekte seien somit durch persönliche Bedeutung eingeprägt. Die „Besessenheit“38, Identifizierung von einem Objekt, führt zu einer wiederholten Projektion der gleichen Ereignisse bzw. zur Verdoppelung dieser Ereignisse und Bedeutungen. Dieses „Delirium
33 Ebd., S. 140. 34 Vgl. Freud, Sigmund: Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität [1922], in: Gesammelte Werke, Band 13, 1. Aufl. 1940, 10. Aufl. Frankfurt am Main 1998, S. 195-207. Vgl. auch: http://www.textlog.de/sigmundfreud-gesammelte-werke-1893-1939.html (abgerufen am 08.06.2017); Freud interpretiert Paranoia hier als verdrängte Homosexualität und daraus resultierende zwanghafte Projektion. Vgl. hierzu auch Kapitel VI. dieses Buches, den Abschnitt Von Hysterie zur Paranoia. 35 Vgl. Apollon, Willy/Feldstein, Richard (Hrsg.): Lacan, Politics, Aesthetics, New York 1996, S. 275. 36 Es handelt sich dabei zu dieser Zeit konkret um den Fall Aimée, an dem Lacan für seine Dissertation forschte. Als Nachdruck: Lacan, Jacques: Der Fall „Aimée“. Oder die Selbstbestrafungsparanoia, in: Ders.: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit [frz. 1932]. Und Frühe Schriften, aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 2002, S. 155206. 37 Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit, a. a. O., S. 342, Herv. i. O. 38 Ebd, S. 341.
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der Deutungen“39 kann für ihn eine Kette von Bildern produzieren, die entsprechend mit der individuellen obsessiven Idee verknüpft ist und die dann dem Betrachter auferlegt werden könnte. Diese systematische und kohärente paranoische (Fehl-)Interpretation war für Dalí Beweis für die überragende Kraft der Gedanken, woraufhin er fortan auf vielfältige Weise die ‚Realität‘ der wahnhaften Interpretationsweisen erkundete. Dalí ging es insbesondere um Die Eroberung des Irrationalen40, so der Titel einer späteren Schrift zum Thema. Dabei gilt für ihn, dass das Subjekt nicht nur seine Vernunft frei benutzen könne, sondern auch die Wege zum Unbewussten, dem Irrationalen oder dem Naturhaften, offen stünden. Doch Dalí war bei seinen Erkundungen des Unbewussten bzw. Irrationalen keineswegs ‚verrückt‘, sondern ging äußerst strukturiert vor. Was vordergründig zu zählen schien, war vor allem der kritische Weg als offener Weg. Dalí schreibt in Die Eroberung des Irrationalen: „Paranoisch-kritische Aktivität: spontane Methode irrationaler Erkenntnis, die auf der kritisch-interpretierenden Assoziation wahnhafter Phänomene beruht.“41 Dieses Phänomen „objektiviert sich erst a posteriori durch Einschalten der Kritik“.42 Lacan arbeitete zeitgleich daran zu veranschaulichen, dass es sich beim Wahn nicht um Fehlurteile handle und verweist in seiner Dissertationsschrift Die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit darauf, inwiefern die Interpretation ein Teil der Wahnbilder ist.43 Die Wahnbilder gibt es Lacan zufolge bereits vor der Interpretation, diese enthülle sie nur. Sie entstünden also nicht nachträglich durch irgendeine Interpretation und somit erklärt er: „Diese Phänomene und speziell die Deutungen stellen sich im Bewußtsein mit einem unmittelbaren Überzeugungsgewicht, einer von Beginn an objektiven Bedeutung oder, wenn sie subjektiv bleibt, einem Zug von Besessenheit ein. Sie sind niemals die Frucht einer räsonierenden Herleitung.“44 Die Schlussfolgerung wäre demzufolge, dass Deutungen, Interpretationen des ‚Verrückten‘ (subjektiv gesehen) ebenso objektiv sein können wie solche des ‚Vernünftigen‘. Womit wir wieder bei der komplexen Frage nach der Wahrnehmung der sogenannten Realität wären. Da wir also die Außenwelt, wie sie an
39 Ebd. 40 Dalí, Salvador: Die Eroberung des Irrationalen, a. a. O., S. 268. 41 Ebd., S. 273. 42 Ebd. 43 Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit, a. a. O., S. 341. 44 Ebd., Herv. i. O.
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sich sein mag, niemals objektiv erkennen können, können wir letztlich auch nicht beweisen, welche Interpretation die ‚normale‘ oder die angeblich ‚verrückte‘ ist. Es scheint, als schrieben beide, Lacan sowie Dalí – trotz einiger Unterschiede –, der Paranoia eine produktive Kraft bzw. einen Realität konstituierenden Wert zu. Lacan wendet sich damit gegen die These vom „neurologischen Automatismus“45 und Dalí gegen die Automatismustheorie seiner Surrealistenkollegen.46 Für Dalí ist die Paranoia durch ihren aktiven Charakter das Gegenteil der écriture automatique. Die Paranoia ist für ihn Methode und Kritik zugleich; sie besitzt eine präzise Bedeutung und eine sichtbare Dimension.47 Das heißt, nachdem Dalí 1929 der Gruppe um Breton beigetreten ist, macht der Künstler bereits ein Jahr später ein grundsätzliches Dilemma in den surrealistischen Theorien (und so für die Bewegung selbst) aus. Die surrealistischen Experimente, die für Dalí hinter dem Schlagwort révolution surréaliste48 stehen, sollten ja ursprünglich durch Verfahren erreicht werden, die schöpferisch sind, wie das automatische Schreiben oder Traumprotokolle. Diese Verfahren sollten das Ich in eine passive Rolle versetzen. Zwischen den Verfahren und den Intentionen, die das Eintreten von Bildern dem objektiven Zufall überlassen, besteht allerdings „eine
45 Ebd., S. 342. 46 André Breton formulierte im ersten Manifest: „Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.“ Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 26; in Dalís Autobiografie lautet eine Überschrift eines Abschnitts: „Mein Kampf: Meine Teilnahme an der Surrealistischen Revolution und meine Position »Surrealistisches Objekt« gegen »Traumberichte«. Paranoisch-kritische Aktivität gegen Automatismus.“ Dalí, Salvador: Das Geheime Leben des Salvador Dalí [The Secret Life of Salvador Dalí, 1942], 2. Aufl., München 1984, S. 351. 47 Vgl. Descharnes/Néret: Dalí. Das malerische Werk, a. a. O., S. 303. 48 Dalí verweist hier auf die Zeitschrift La Revolution surréaliste, die ein paar Jahre lang die Experimente der Gruppe protokollierte. Er erwähnt zudem den Leitartikel von André Breton in La Revolution surréaliste (Nr. 12) vom Juli 1925, der mit „Warum ich die Herausgabe der Révolution surréaliste selbst in die Hand nehme“ überschrieben war; vgl. Dalí, Salvador: Der Gegenstand im Licht surrealistischer Experimente [The Object as Revealed in Surrealist Experiment, 1932], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 163-173, S. 163, S. 166.
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unüberwindbare Kluft“, wie auch Peter Bürger angemerkt hat, die die Surrealisten weder in der Theorie noch durch ihre künstlerischen Gestaltungsmittel überwunden haben und die in der vorliegenden Arbeit anhand der weniger zufälligen als vielmehr kalkulierten schöpferischen Prozesse bei Ernst, Ray sowie Buñuel bereits gezeigt wurde.49 Zwar stellten beispielsweise die Bilder, die durch die Methode der Frottage entstanden sind, in gewisser Weise eine Überraschung für Max Ernst (und den Betrachter) dar, sie unterliegen aber dennoch einer Vorauswahl des Künstlers sowie der anschließenden Anordnung durch den Künstler und beziehen demnach einen kalkulierten Zufall ein. Es scheint also, als lieferte Dalí mit seiner paranoisch-kritischen Methode eine Lösung für das Problem des Automatismus und des objektiven Zufalls. Anders als der surrealistische Automatismus beruht Dalís Verfahren auf der ‚Fähigkeit‘, die gegebenen Formen mit Bedeutung zu füllen. Seine Methode einer paranoischen Aktivität besteht darin, dass Bilder, die beim Anblick von bestimmten Objekten in der Vorstellung erscheinen, sich je nachdem, in welcher Relation man sich ihnen gegenüber verhält (aufhält), verändern können. Diese Erkenntnis, die bereits als empfohlenes Phänomen und Inspirationsquelle von Leonardo da Vinci bekannt ist,50 verleitet Dalí zur Annahme, dass alle Interpretationen (von Objekten) letztendlich Projektionen von Bedeutung seien, die somit der Paranoia verwandt sind. Daher ist es gerade der konstruktive Charakter, der ihn an der Paranoia interessiert, die alle Bereiche der Wirklichkeit (und selbst der Träume) ihrem wahnhaften Deutungssystem zu unterwerfen vermag.51 Dies scheint für Dalí das geeignete Verfahren, um zum „Ruin der Wirklichkeit beizutragen“,52 so schreibt er es in seiner ersten surrealistischen Schrift Der Eselskadaver. Anknüpfend an die Konstruktivierung des Wahns in der Paranoia und ihrer Produktion von Bedeutungen, erscheint es für Dalí also möglich, den Wirklichkeitsbegriff kritisch zu hinterfragen. Eine allgemeine Bewusstseinskrise wird auch im Zweiten Manifest des Surrealismus (1930) angesprochen.53 Wäh-
49 Bürger, Peter: Kunst der Metamorphose – Metamorphose der Kunst, a. a. O., S. 42. 50 Richter, Irma A. (Hrsg.): The Notebooks of Leonardo da Vinci, Oxford 1998, S. 182. 51 Dalí, Salvador: Moralische Position des Surrealismus [Posició moral del surrealisme, 1930], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 22-26, S. 25. 52 Dalí, Salvador: Der Eselskadaver, a. a. O., S. 135. 53 Breton, André: Zweites Manifest des Surrealismus [frz. 1930], in: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, a. a. O., S. 55; hier spricht Breton von einer „Bewusstseinskrise allgemeinster und schwerwiegendster Art“ in „intellektueller und moralischer Hinsicht“.
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rend Dalí aber damit beginnt, durch aktive und produktive Phänomene der Paranoia seine Bilder zu inszenieren – als Spielformen der künstlerischen Strategie dienen ihm außerdem Narzissmus, Psychose und Halluzination –, entfernt er sich dadurch zusehends vom Surrealismus. Im Folgenden sollen seine Strategien des künstlerischen Schaffens, die realistische Malerei und irrationale Interpretation in Kippbildern überblenden, anhand einiger Werkbeispiele analysiert werden.
2. TECHNIKEN UND METAPHER DER METAMORPHOSE – BILDANALYSEN Seit 1930 hat Dalí den paranoischen Prozess als aktives Kompositions- und Produktionsprinzip beschrieben, bei dem es keine gleichbleibenden (im Sinne von eindeutigen) Bilder mehr gibt. Es entstehen Vexierbilder bzw. „doppelte Vorstellungsbilder“.54 Hier sollen nun diejenigen Techniken genauer untersucht werden, die zu dieser Metamorphose sowie zur Metapher der Metamorphose führen. Auch Max Ernsts Frottagezeichnungen, die er Mitte der 1920er Jahre entwickelte, führen zu Vexierbildern. Seine Metamorphosen, die innerhalb ihrer Form ihre Identität fast unmerklich verändern, entstehen aber durch den verfremdeten, unerwarteten Einsatz konkreter Realitäten (etwa Holz- oder Blattstrukturen), wohingegen Dalí die Wahnbilder ebenso präzise zu zeichnen versucht, wie sich uns unsere vermeintliche Wirklichkeit darstellt. Hierüber, scheint es, sollten sie sich uns als Wirklichkeitsäquivalent aufdrängen. Es gilt also zuerst einmal, Dalís penible Malweise näher zu betrachten, die zur doppelten Leseart führt und die in dieser Arbeit als Montage betrachtet wird, da das Bild immer nur im Zusammenhang mit dem anderen Kippbild erkannt werden kann. Des Weiteren wird Dalís sorgfältige Wiederverwendung einzelner Figuren näher betrachtet, um zu veranschaulichen, inwiefern auch hierin die Metamorphose steckt. Zwei Arten der Wiederholung sind hier zu unterscheiden: Teilweise kommen die Figuren in weiteren Bildern in ihrer exakten Wiedergabe erneut zum Einsatz und erhalten durch ihre neue Umgebung eine neue Funktion und Bedeutung. Nicht selten setzt Dalí allerdings die Figuren als eine ‚Hälfte‘ eines neuen Doppelbildes ein, und somit sind sie zugleich simultan wiedererkanntes und anderes Bild. Diese Metamorphose beinhaltet nicht nur die ‚Verwandlung‘ eines Motives, sondern berücksichtigt zudem ein Wechselspiel zwischen erinnertem und dargestelltem Bild, was zusätzlich zur Metamorphose führt.
54 Dalí, Salvador: Der Eselskadaver, a. a. O., S. 132.
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Der unsichtbare Mann (1929-32) Der unsichtbare Mann markiert, wie gesagt, den Beginn des paranoischkritischen Schaffens und zugleich die Emanzipation von der metaphysischen Malerei, die sich in diesem Bild aber noch in den eigenwilligen (Architektur)Perspektiven zeigt (Abb. 44). Das Bild enthält zahlreiche Motive, die aus anderen Werken des Künstlers vertraut sind. Dalí verstreut sie in dieser Ruinenlandschaft, in der sich die Figur eines Mannes von den goldenen Wolken am Himmel, die auch als seine Haare gelesen werden können, bis in den Vordergrund erstreckt. Eine rigoros konstruierte Perspektive steuert die Linien der Wände, der Arkaden und der riesigen gepflasterten Plattform sowie die entfernte Linie der Säulen. Der Fluchtpunkt ist links vom Horizont an der Spitze des tiefsten ‚Schnitts‘ angelegt. Dieser lässt sich auch als scharfe Spitze oder Zacken einer reliquienhaften Symmetrie lesen. Die abrupte vertikale Linie unterstreicht sowohl die scharfe Vertiefung im Bild als auch die Landschaft. Die zweidimensionale, aus diversen Versatz- und Bruchstücken bestehende Figur des Mannes, der die ganze Landschaft zu überspannen scheint, erzeugt eine Art amorphe Gestalt. Seine Masse nimmt dabei zur Vorderseite des Bildes hin zu, seine Hände sind in den ‚negativen‘ Mustern des Jugendstil-Brunnens sichtbar, und die Beine und Füße verschwinden im fließenden Brunnenwasser. Dalí zog sorgfältig die Horizontlinie, um eine genaue Symmetrie zwischen dem Abstand vom linken Rand des Bildes zum Fluchtpunkt und dem Arkadenhaus rechts zu schaffen. Solch eine rationale und abstrakte Leidenschaft für Abmessungen steht im Konflikt mit der „konkreten Irrationalität“55 des paranoischkritischen Bildes und verdeutlicht den Einsatz jener Montagemethodik, die Dalí verwendete, um die Grafik einer doppelten Leseart zu erreichen. In der oberen linken Seite der Landschaft wird das Mehrfachbild Dormeuse, cheval, lion invisibles (Die Unsichtbaren – Schlafende, Pferd und Löwe, 1930) wiedererkannt (Abb. 45), obwohl der Löwe sich hier im Bild ‚aufgelöst‘ hat. Der Kopf der Frau ist fast allgegenwärtig in Dalís Gemälden dieser Periode und ein interessantes Beispiel für die Art und Weise, wie der Maler freudsche Symbole einführt und gleichzeitig interpretiert: In diesem Fall ist es die Vorstellung, dass eine Art ‚Container‘ das Weibliche symbolisiert. Implantiert in den Kopf ist eine schnurrbärtige langhaarige Frau, was als Beispiel für die geschlechtsspezifische Instabilität gesehen werden kann, die Dalís Ikonografie sowie die zahlreich an-
55 Dalí, Salvador: Paranoisch-kritische Interpretation des zwanghaften Bildes Das Abendläuten von Millet, a. a. O., S. 199.
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zutreffenden Zerstückelungs- bzw. Kastrationsfantasien der Surrealisten häufig begleitet. Lacans weiterführende Theorie des (narzisstischen) Begehrens wird ebenfalls in dem Motiv erkannt. Folglich kann in diesem Werk in der Geschlechterambivalenz der doppelte bzw. gespaltene Narziss gelesen werden. In Lacans Spiegelstadien-Theorie gibt es zwei Formen des Narzissmus. Der erste liegt auf der Ebene des realen Bildes und bezieht sich als solcher auf das Körperbild. Die darin Gestalt annehmende Einheit des Subjekts projiziert sich nicht nur ins Selbstgefühl des menschlichen Seins, sondern „dient auch als imaginäre Quelle des Symbolischen“.56 In diesem Sinne ist Lacans weitergehende Feststellung zu verstehen, dass unsere Beziehung zum Unbewussten imaginär vermittelt sei, sofern sie in unserer Beziehung zu unserem Körper wurzelt. Und durch die Reflexion (zum Beispiel im Spiegelbild) wird ein zweiter Narzissmus eingeführt, „dessen Grundmuster die Beziehung zu Seinesgleichen, das heißt zum sozialen anderen ist. Im realen anderen begegnet das Subjekt also dem anderen als der bezeugenden Instanz (in diesem Sinne stellt der andere das Ich-Ideal dar)“57 – eine Konstellation, die auch in einzelnen Szenen (jene mit Werbebildern und Spiegel) im Film Das goldene Zeitalter bereits auffiel. Im unteren rechten Teil von Der unsichtbare Mann ist die ‚Familiengruppe‘ auszumachen, die einer eng verwandten Zeichnung (Schmetterlingsjagd, 1930, Abb. 46) aus La Femme visible ähnelt, die um ein Schmetterlingsnetz ragt, was ein weiteres verschleiertes Sexualsymbol darstellt. An dieser Stelle gilt es jedoch hervorzuheben, dass Dalí erneut in Collagemanier Motive wiederverwendet, um sie in diesem Werk neu zu orchestrieren. Das heißt, die Montage der doppelten Leseart erhält hier zusätzlich einen Collageeffekt, indem ein ‚Zusammenschnitt‘ von ganz bestimmten Figuren vorliegt, die der Künstler in einem neuen Kontext bewusst zusammenbringt. Schon bei der genaueren Betrachtung dieses frühen surrealistischen Bildes fällt auf, dass Dalí die sogenannte Schnittfläche zwischen der Innen- und Außenwelt vor allem durch Mechanismen des Imaginären aktiv und kreativ zu erreichen versucht und nicht etwa anhand von Mechanismen des Unbewussten (beispielsweise der Traumdeutungen, wie insbesondere in Un Chien andalou). Hierüber wird das Naheverhältnis von Dalís Ästhetik zu Lacans Theorien des Imaginären offenbar. Sowohl das Doppelbild von Mann und Landschaft als auch die Wiederverwendung bestimmter Figuren beinhalten eine Reflexion, ein Wechselspiel zwischen Erinnertem und Dargestelltem.
56 Vgl. zu Lacans weiterführender Spiegelstadien-Theorie: Braun, Christoph: Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, 3. Aufl., Berlin 2010, S. 37. 57 Ebd.
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Der große Paranoiker (1936) Obwohl Dalí bereits seit Der unsichtbare Mann mit dem paranoischen Doppelbild experimentierte, begann er erst Mitte der 1930er Jahre damit, regelmäßig ganze Leinwände mit mehreren Figurationen und einer solchen technischen Sicherheit zu orchestrieren. In Der große Paranoiker (Le Grand paranoïaque) bildet in einer Landschaft zwischen Strand und Felsmassiv eine Masse von Figuren einen großen Kopf, dessen leicht definierte Schultern im Vordergrund sich durch intensivere rötlich-orange Farben unterscheiden (Abb. 47). Ansonsten ist die Leinwand fast monochrom, was darauf hindeuten kann, dass Dalí hier die Komplexität zu beschränken versuchte, um die Wirkmacht des Kippbildes zu verstärken. An mehreren Aspekten zeigt sich, wie Dalí sich am Beispiel von Leonardo da Vinci orientierte. Freuds psychoanalytische Studie Leonardo da Vinci58 war Dalí schon länger bekannt, und er hatte da Vincis Anna Selbdritt (Anna Metterza, ca. 1501) in seiner Schrift Paranoisch-kritische Interpretation des zwanghaften Bildes »Das Abendläuten« von Millet 1933 reproduziert;59 Freud hatte bekanntlich in da Vincis Werk das verborgene Bild des Geiers entdeckt.60 Dalí war gut vertraut mit da Vincis Ideen über das Ausloten verschiedener Oberflächen zugunsten visueller, optischer Erfindungen.61 In der chromatisch einheitlichen, aber dennoch abwechslungsreichen ‚Substanz‘, aus der die Landschaft und der Kopf in Der große Paranoiker gemeißelt werden, erhält man den Eindruck, Dalí könnte folgende Instruktion da Vincis illustriert haben: Look at walls splashed with a number of stains, or stones of various mixed colours. If you have to invent some scene, you can see there resemblances to a number of landscapes, adorned with mountains, rivers, rocks, trees, great plains, valleys and hills, in various ways. Also you can see various battles, and lively postures of strange figures, expressions on faces, costumes and an infinite number of things, which you can reduce to good integrated form. This happens on such walls and varicoloured stones, (which act) like the sound of bells, in whose pealing you can find every name and word that you can imagine.62
58 Freud, Sigmund: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci [1910], 3. Aufl., Frankfurt am Main 2006. 59 Dalí, Salvador: Paranoisch-kritische Interpretation des zwanghaften Bildes Das Abendläuten von Millet, a. a. O., S. 203. 60 Freud, Sigmund: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, a. a. O., S. 87. 61 Richter, Irma A. (Hrsg.): The Notebooks of Leonardo da Vinci, a. a. O., S. 182. 62 Ebd.
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Zudem arbeitete Dalí während der Entstehung von Der große Paranoiker an Skizzen von Pferden sowie Kampfszenen, die auf da Vincis Zeichnung Die Schlacht von Anghiari (La Battaglia di Anghiari, ca.1504) basieren. Die Schlacht von Anghiari sowie das unvollendete Werk Anbetung der Könige aus dem Morgenland (Adorazione dei Magi, ca.1481) mit ihren in bräunlichen Farbtönen gehaltenen, von Figuren und Pferden überfüllten Szenerien dienten Dalí möglicherweise auch als Vorlage für sein späteres Doppelbild Espagne (Spanien, 1938). Obwohl die Gestalt in Der große Paranoiker komplett aus Figuren besteht, sind keinerlei Gesichter von ihnen erkennbar. Die meisten sind Männer, die ins Gesicht gezogene Kappen tragen und die wiederum von Dalí etwa schon für die Figuren der Fischer von Port Lligat eingesetzt wurden (Image médiumniqueparanoïaque/Medial-paranoides Bild, 1935). Zudem erinnern sie an den verkappten Mann in L’Énigme de Guillaume Tell (Das Rätsel Wilhelm Tells, 1933), der Lenin ähnelt, was zu einem Streitpunkt zwischen Breton und Dalí wurde, der 1934 mit zu dessen Ausschluss von den Gruppensitzungen der Surrealisten führte.63 In Der große Paranoiker bildet ein nackter weiblicher Körper die Nase. Die Stirn ist ein harter Lichtfleck aus weißem Stein. Dalís Behandlung von Boden – Erde, Stein oder Sand – bewegt sich stets zwischen zwei Polen: Entweder erscheint er glatt, undifferenziert und flach oder er ist rau und brodelnd-lebendig, wie Lava. Letzteres ist auch in der feurigen Landschaft von Lo spettro del sexappeal (Das Gespenst des Sex-Appeal, 1934) oder in Metamorphose des Narziss wiederzufinden. Die kämpfenden Figuren in Der große Paranoiker formen das Gesicht des Mannes, wohingegen dieselben Figuren, die auch im Werk Spanien vorkommen werden, darin das Doppelbild der sich anlehnenden Frau ‚bauen‘ (Abb. 48). Hier wird das Wechselspiel von erinnerten und dargestellten Bildern nicht nur auf der Ebene der Kippbilder deutlich, sondern erneut durch die wiederkehrenden Figuren. Zudem stellen die Figuren in Der große Paranoiker bzw. im Werk Spanien jeweils ‚Hälften‘ eines anderen Doppelbildes dar und beinhalten somit (anders als in Der unsichtbare Mann) simultan auf technischer Ebene sowie auf imaginärer Ebene die Metamorphose. Welches Bild ist nun das richtige, welches das wahnhafte bzw. imaginierte? Dalí schreibt hierzu: „Ich glaube, der Augenblick ist nahe, wo ein Denkvorgang paranoischen, aktiven Charakters (gleichzeitig mit dem Automatismus und anderen passiven Zuständen) die Ver-
63 Vgl. dazu ausführlicher den letzten Abschnitt dieses Kapitels.
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wirrung zum System erheben und zum vollständigen Verruf der realen Welt beitragen kann.“64 Metamorphose des Narziss (1937) Inwiefern das erinnerte Bild stets einer Metamorphose unterliegt, veranschaulicht gut Dalís Gemälde Metamorphose des Narziss (Abb. 49). In diesem Werk wird das „Delirium der Deutungen“65 besonders evident. Das Delirium, das für Lacan eine Kette von Bildern produzieren kann, die entsprechend mit der individuellen obsessiven Idee verknüpft sind, kommt in diesem Bild darüber zum Ausdruck, dass die Unterscheidung zwischen Interpretation und Delirium für den Betrachter kaum mehr möglich ist. Was zunächst auffällt, ist die Hand, die aus der Erde ‚hinausragt‘ und die ein Ei hält, in dem Narziss ‚brütet‘. Auch wenn die meisten Gemälde Dalís aus einer ähnlich klassischen Malweise entstehen, einer realistischen, peniblen Darstellung, die die sorgfältige Wiedergabe von Raum samt seiner Schatten und Linien berücksichtigt, erscheint dieser Raum jedoch verzerrt. Betrachtet man das Ei lange genug, ist der ‚Sprung‘, aus dem die Blume herausragt, im selben Moment der Schatten der Blume oder ihre Wurzeln. Tatsächlich scheint das gesamte Bild aus Formen zu bestehen, die – trotz der visuellen Überblendung unserer Wahrnehmung – simultan etwas anderes sind. Beim ersten Hinsehen spiegelt sich links hinter dieser Hand eine weitere, etwa gleich große, ähnlich geformte. Dieses Mal erstreckt sie sich aus einem Wasserbecken. Diese ‚Hand‘ hält ebenfalls etwas Eiförmiges, das allerdings eher einer Walnuss ähnelt, aber gleichfalls einen ‚Sprung‘ hat. Aus diesem Sprung bzw. Riss scheinen Haare herauszukommen, die gleichzeitig wie Flammen aussehen. Da diese zweite ‚Hand‘ – bei genauem Hinschauen – eher einem zusammengekauerten Körper gleicht, erkennt man sodann auch Knie, Kopf und Arme. Die formalen und proportionalen Ähnlichkeiten von Hand und Körper sind verblüffend. Es ist diese Verdoppelung, die Spiegelung, die so unglaublich verwirrend erscheint. Sie führt dazu, dass die Objekte kontextualisiert werden müssen. In dieser Hinsicht behandelt Dalí hier nicht nur die Spiegelstadien-Theorie Lacans, die sich wie auch schon in Man Rays Rayografien darüber bemerkbar macht, dass der Betrachter die ‚Lücken‘ – die bei Ray durch Verfremdungen in der Dunkelkammer entstanden sind, die zwischen Abstraktion und Gegenständlich-
64 Dalí, Salvador: Der Gegenstand im Licht surrealistischer Experimente, a. a. O., S. 163-173, S. 163, S. 167. 65 Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit, a. a. O., S. 341.
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keit verweilen –, füllen bzw. interpretieren muss; darüber hinaus reflektiert Dalí hier die Intermedialität von Wahrnehmung. Um es mit Hans Belting auszudrücken: Unsere inneren Bilder sind nicht immer individueller Natur, aber sie werden auch dann, wenn sie kollektiven Ursprungs sind, von uns so verinnerlicht, daß wir sie für unsere eigenen Bilder halten. [...] Unsere Bilderfahrung gründet zwar auf einer Konstruktion, die wir selbst veranstalten, und doch wird sie gesteuert von der aktuellen Verfassung, in der die medialen Bilder modelliert sind. Es läuft auf einen Akt der Metamorphose hinaus, wenn sich die gesehenen in erinnerte Bilder verwandeln, die fortan in unserem persönlichen Bildspeicher einen neuen Ort finden.66
Die Möglichkeit, in Dingen simultan mehr als eine Sache zu erkennen, ist für Dalí aber weniger das Ergebnis einer historisch-ikonografischen Überlagerung (auch im Sinne von Aby Warburgs Bilderatlas) als vielmehr das Resultat einer paranoiden Aktivität. Der Wille zur Fehlinterpretation basiert zwar auf Theorien Freuds, Freud hatte dabei aber vor allem über die Filter gesprochen, die die unbewussten und bewussten Gedanken voneinander getrennt halten (hierher gehört unter anderem das Versprechen).67 Wohingegen Dalí für sich beanspruchte, dass er innerhalb der paranoisch-kritischen Aktivität beides, das Unbewusste sowie das Bewusste, simultan erleben würde: Zwar würde er seine Bilder bewusst erschaffen, allerdings könne die Erkenntnis, in der Form simultan Körper sowie Hand, Fleisch sowie Stein zu erkennen, keinem bewussten Zustand entsprungen sein.68 Letzteres unterstreicht die Suche der Surrealisten nach Authentizität, die ihrer Meinung nach der Kontrolle des Bewusstseins fehlt. Darin bestand offensichtlich der gemeinsame Motor ihrer Kreativität. Die diversen Verfahren der Montage, die die Künstler für sich entwickelt haben, ermöglichten dabei den Surrealisten den Weg zum Unbewussten. Zum Beispiel zeigt sich an Juan Mirós Bildern, der zwar nie offizielles Mitglied der Surrealistengruppe wurde, inwiefern er sich einer Malweise bediente, die durch die erreichte neue Freiheit der écriture automatique ein ungebundenes Zeichnen ermöglichte. Seine Bilder ähneln in dieser Zeit großen Skizzen, in denen sich Striche, Zeichen, Zahlen oder Buchstaben auf monochromen Flächen wie zufällig und doch genau gesetzt be-
66 Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 21. 67 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung [1900], Nachdruck der 7. Aufl., Bremen 2012, S. 450. 68 Descharnes/Néret: Dalí. Das malerische Werk, a. a. O., S. 305.
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gegnen. Hierüber wird sein Bestreben nach einer Malweise deutlich, die keine bewusste vorangegangene Interpretation zulässt,69 wohingegen Dalí offensichtlich beides möchte. Er strebt nach Perfektion im akademischen Sinne, um darüber die Inspiration des Unbewussten zu erreichen. Dalís Verfahrensweisen, so kann festgehalten werden, umfassen eine genaue Reflexion der Wechselbeziehungen zwischen sichtbaren und unsichtbaren, dargestellten und erinnerten Bildern sowie zwischen Bild und Text (Bedeutung). Für ihn ist die Wirklichkeit eine Illusion in gleicher Weise, wie der Traum für ihn Wirklichkeit ist. Die wahre Wirklichkeit, so Dalí, sei demnach in uns und würde von innen nach außen projiziert werden und zwar durch die systematische Auswertung unserer Paranoia.70 1938 traf sich Dalí mit Sigmund Freud, um ihm das Werk Metamorphose des Narziss zu zeigen, das in Kenntnis über Freuds Schriften zum Thema Narzissmus entstanden war.71 Dalí hatte sich darauf vorbereitet, Freud das Bild zudem anhand seines eigens geschriebenen Gedichts zu diesem Thema zu erläutern.72 Das Treffen sollte Freuds relative Meinungslosigkeit gegenüber den Surrealisten – auch nach dem Treffen mit Breton Jahre zuvor – revidieren, selbst wenn es zu keiner Übereinstimmung im Hinblick auf theoretische Prinzipien kam. Freud litt zu diesem Zeitpunkt bereits an Hörproblemen, was dazu führte, dass er Dalí nicht zuhörte, sondern ihn vielmehr beobachtete. Danach bedankte sich Freud bei Stefan Zweig, der den Spanier „mit seinen treuherzigen fanatischen Augen und seiner unleugbar technischen Meisterschaft“73 zu ihm gebracht hatte. Freuds Einschätzung von Dalí lag allerdings einem doppelten Missverständnis zugrunde: erstens über die Art seiner „technischen Meisterschaft“ und zum anderen über die Folgen für Dalí aufgrund seiner Vertrautheit mit der Psychoanalyse. Freud fand, dass Dalís „Geheimnis offenbart, manifestiert“74 sei, indem er die Arbeit der Analyse für sich selbst getan hatte; und damit waren Dalís Bilder für den Psychoanalytiker das Ergebnis bewusster und nicht unbewusster Gedanken. Für Freud lag das Interesse an einem Gemälde oder einem Werk der Literatur darin, was es Unbewusstes zeigt, durch beispielsweise Mechanismen der Träume
69 Vgl. hierfür Joan Miró: Paysage catalan (Le chasseur)/ Katalanische Landschaft (Der Jäger), Öl auf Leinwand, 1923/24, Museum of Modern Art, New York. 70 Dalí, Salvador: Der Eselskadaver, a. a. O., u. a. S. 132, S. 133. 71 Descharnes/Néret: Dalí. Das malerische Werk, a. a. O., S. 316. 72 Dalí, Salvador: Die Metamorphose des Narziss [La Métamorphose de Narcisse, 1936], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 280-284. 73 Descharnes/Néret: Dalí. Das malerische Werk, a. a. O., S. 313. 74 Ebd.
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oder Neurosen; obwohl er zugibt, dass es „in der Tat sehr interessant wäre, die Entstehung eines solchen Bildes analytisch zu erforschen“.75 Es ist offensichtlich, dass Freud Dalís künstlerische Ambitionen und den doch sehr kreativen Einsatz von psychoanalytischen Ideen wie jene der Paranoia nicht sonderlich wertschätzte bzw. nicht richtig einschätzen konnte. Für Dalí strebten nämlich „die neuen wahnhaften Vorstellungsbilder der konkreten Irrationalität ihrer körperlichen, wirklichen Möglichkeit entgegen“ und gehen somit über den Bereich „virtueller“, der Psychoanalyse zugänglicher „Phantasmen und Darstellungen“ hinaus.76 Das heißt, die wahnhaften Vorstellungsbilder führen zu ihren realen und physikalischen Möglichkeiten, indem in ihnen neue, objektive Bedeutungen des Irrationalen entdeckt sowie die Welt des Wahns selbst auf die Ebene der (Bild-)Wirklichkeit gehoben wird. Dies geht über die surrealistischen Verfahren des Automatismus genauso hinaus wie über den Bereich von ‚psychoanalysierbaren‘ Halluzinationen und Manifestationen des Unbewussten. Dass sich Dalí hier eher im Raum des Imaginären und der Deutung von Subjekt und Narzissmus bei Lacan bewegt, soll anhand des nächsten Bildes erläutert werden. Das Bild verschwindet (1938) Dalís Werk Das Bild verschwindet (L’Image disparaît) gibt einmal mehr seine Leidenschaft für Jan Vermeers Gemälde und Malkunst preis, welche bereits seit seiner Studentenzeit besteht. Die Präzision von Vermeers Technik hatte Dalí tief beeindruckt.77 Etwa Die Spitzenklöpplerin (ca.1669), von dem Dalí Mitte der 1950er Jahre neben seiner berühmten Interpretation als Gemälde auch eine sorgfältige Kopie als Filmrequisit fertigte,78 und das flüchtig in Un Chien andalou auftaucht, an dessen Drehbuch er mitwirkte. Dalís Faszination gilt zudem dem verborgenen Sinn in Vermeers Gemälden, die der niederländische Maler symbo-
75 Ebd. 76 Dalí, Salvador: Die Eroberung des Irrationalen, a. a. O., S. 272. 77 Dalí, Salvador: Phänomenologische Aspekte der paranoisch-kritischen Methode [Aspects phénoménologiques de la méthode paranoïaque-critique, 1955], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 299-308, S. 302-303. 78 Gemeinsam mit Robert Descharnes arbeitete Dalí an dem Filmprojekt L’Aventure prodigieuse de la dentellière et du rhinocéros (F 1955). Bei dem Film spielen ein Nashorn im Zoo von Vincennes, Dalí und eine Kopie der Spitzenklöpplerin die Hauptrollen (ein Ausschnitt ist bei YouTube zu finden). Dalís Gemälde Étude paranoïaquecritique de La Dentellière de Vermeer entstand ebenfalls ca. 1955.
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lisch über die ruhigen Interieurs mit Figuren legte, wie in Die Briefleserin am offenen Fenster (Brieflezend meisje bij het venster, ca. 1657, Abb. 50), das große motivische Ähnlichkeiten mit Das Bild verschwindet aufweist (Abb. 51). Bei Dalí wird die Figur des Mädchens, das einen Brief liest, im Kippbild zu einem Männerkopf im Profil. Der Kopf des Mannes kann nach Antonio Pitxot (ein Freund und Berater Dalís) als jener von Diego Velázquez identifiziert werden.79 Im Bild könnte man jedoch auch Freud erkennen, der mit Dalí überblendet wird: Brille, Bart und Nase erinnern an Freud und der Schnauzer an Dalí selbst. So frei interpretiert ist das Bild eine Dreifach-Überblendung der drei Männer (aus einer Frauengestalt). Die in sich versunkene Frau, deren Gesicht man nicht erkennt, blickt auf ein Papier, das sie vor sich in den Händen hält. Die goldene Lichtquelle, der sie sich zugewandt hat, ist von einem dunklen Vorhang eingerahmt, während sie selber wie aus einer dunklen Wolke hervorzutreten scheint. Nur durch eine leicht veränderte Blickrichtung erscheint der Männerkopf, der in die entgegengesetzte Richtung wie die Frau blickt. Der Kopf der Leserin bildet sein rechtes Auge, ihre Schulter und ein Oberarm seine Nase, der ausgestreckte Unterarm den Mund oder vielmehr den Schnauzbart, und der Rock wird zum Bart. Sein Gesicht überschattet wiederum die stehende Frauenfigur, wobei keine der beiden Gestalten eindeutig zu sehen ist, sondern nur andeutungsweise. Die Denkfigur des Schnitts ist in ihrer Vielschichtigkeit hier Bild geworden. Es handelt sich dabei zugleich um ein klassisches Kippbild, dessen bekannteste Darstellung wohl die berühmte ‚Hasen-Ente‘ ist (Abb. 52). Doch während der Aspektwechsel zwischen Hasenkopf und Entenkopf keine weitere Bedeutung (außer „Hase“ bzw. „Ente“) in sich birgt, ist es bei Dalí gerade das Fluktuieren zwischen Bedeutungen (über das definitive „Mann“ bzw. „Frau“ hinaus), mit dem sich das ambigue Bild gegen eine festlegende Interpretation wehrt.80 Beim Betrachten dieses Werkes bleibt offen, in welche Richtung die Metamorphose (und Metapher) hier funktioniert: ob im Akt des Lesens der Männerkopf wie ein Phantom aufgerufen wurde oder ob die Leserin das Resultat eines nach innen gerichteten Blicks der im Profil zu sehenden Gestalt zu lesen ist. Elisabeth Bronfen zufolge bezieht sich der Titel Das Bild verschwindet daher nicht nur auf das Bild selbst, sondern auch auf den Betrachter, denn das Bild des Gesichts, das sich der lesenden Frau aufdrängt sowie die lesende Frau, die in dem Gesicht des Mannes
79 Ades, Dawn: Dalí’s Optical Illusions, a. a. O., S. 135. 80 Unter anderem hat sich Ludwig Wittgenstein intensiv mit dem Aspektwechsel in der Kunst, Musik etc. auseinandergesetzt und Begriffe wie „Sehen-als“ oder „AspektSehen“ geprägt. Vgl. dazu: Brezzel, Chris: Aspektwechsel der Philosophie Wittgensteins und die Ästhetik, Thalheim bei Wels 2013.
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zu verschwinden scheint, zeigen sich immer nur changierend.81 In ihrem Aufsatz Geheimnis, Macht und Tod: Dalís Vexierspiele verweist Bronfen darauf, inwiefern Dalí hier genau das Gegenteil des ‚Verborgenen‘ inszeniert, das, wenn es einmal offenbart würde, zu einem ‚besseren‘, umfänglicheren Sehen führen würde.82 Denn selbst nachdem der Betrachter das Doppelbild bzw. die Doppelgestalt erkannt hat, bleibt eben offen, welches das chiffrierte bzw. welches das dechiffrierte Motiv ist. In Dalís ästhetischer Aneignung dieser optischen Illusionen bleiben sowohl die vom Realitätsprinzip geprägte manifeste als auch die im Imaginären mehrdeutige Wahnvorstellung bloß Chiffrierungen.83 In einem solchen Szenario geht es offensichtlich um Inszenierung und Verschleierung. Für Volker Roloff dreht sich hinsichtlich dieses Zusammenspiels der Sinne daher viel um die Fragmentierung und Auflösung des Körpers, was schließlich dazu führt, auch in diesen Montagen Dalís die Metapher des Schnitts zu erkennen. Für Roloff ist es offensichtlich, dass nicht Freuds, sondern Lacans Analyse des narzisstischen Begehrens für Dalí relevant sei und zwar „nicht nur im Hinblick auf die medienästhetischen Aspekte, sondern auch auf die damit verbundene Traumästhetik und Konzeption des Subjekts“.84 Dabei werde immer noch zu wenig beachtet, dass die Produktionen der Surrealisten, insbesondere aber Dalís Bilder und Texte, eine entscheidende Grundlage für Lacans Überlegungen darstellten; diesbezüglich verweist Roloff auf das Subjekt, das bereits bei Freud keine Instanz des Selbstbewusstseins mehr ist, „sondern eine Funktion des Narzissmus“.85 Dieses Subjekt erscheint schon in der Perspektive der Psychoana-
81 Vgl. Bronfen, Elisabeth: Geheimnis, Macht und Tod. Dalís Vexierspiele, in: Dies.: Crossmappings. Essays zur visuellen Kultur, Zürich 2009, S. 272. 82 Ebd. 83 Ebd. 84 Roloff, Volker: Surreale Metamorphosen und Spiegelbilder, in: Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, a. a. O., S. 4977, S. 58. Weitere Studien behandeln ein weites Spektrum der Wechselbeziehungen zwischen Lacan und Dalí. Vgl. hierzu: Gorsen, Peter: Kunst und Krankheit. Metamorphosen der ästhetischen Einbildungskraft, Frankfurt am Main 1980; Gekle, Hanna: Tod im Spiegel. Zu Lacans Theorie des Imaginären, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2016; Amossy, Ruth: Le „Divin Dalí“ du visuel au verbal. Autoportrait et interaction dans le livre-entretien, in: Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, a. a. O., S. 77-94. 85 Roloff, Volker: Surreale Metamorphosen und Spiegelbilder, in: Dalís Medienspiele. Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, a. a. O., S. 4977, S. 58.
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lyse von Freud durch narzisstische Kränkungen bedroht.86 Bekanntlich gelangt Lacan 1936, also nach den engen Kontakten mit Dalí, zu einer neuen weiterführenden Deutung des Narzissmus in der Spiegelstadien-Theorie: ein medialer Komplex von Spiegelungen und Täuschungen (Verkennung), so Roloff, in dem mit dem Blick auf die Vollkommenheit des Körpers auch die Doppeldeutigkeit des Begehrens zum Ausdruck komme.87 Lacan verstehe dabei das sogenannte Spiegelstadium als ein immer neu inszenierbares und wiederholbares Drama, in dem Vexierbilder oder Metamorphosen, aber auch Wahnvorstellungen eine Rolle spielen.88 In eben diesem inszenierbaren bzw. wiederholbaren Drama wird die Ähnlichkeit mit Dalís paranoisch-kritischer Methodik deutlich. Dalís Bilder inszenieren ebenfalls die Vorstellung der Vollkommenheit bzw. Einheit des Körpers, nämlich gerade dadurch, dass sie immer wieder bedroht wird und sich aufzulösen scheint, so etwa auch im Aquarellgemälde Erscheinung einer Figur von Vermeer im Gesicht von Abraham Lincoln89 sowie in der gleichnamigen Bleistiftzeichnung (Abb. 53) (jeweils 1938). In beiden Bildern wird die Figur der lesenden Frau aus Das Bild verschwindet wiedererkannt, die zudem jeweils Ähnlichkeiten mit Vermeers Frauengestalt aus Briefleserin in Blau (Brieflezende vrouw in het blauw, ca. 1662) besitzt (Abb. 54). Während im Aquarellbild Nase, Mund und Augen des Gesichts (von Lincoln) klar zu unterscheiden sind, sind sie in der Bleistiftzeichnung weniger herausgehoben. Allerdings erkennt man anhand bestimmter Ansätze, die Dalí bereits begonnen hat, inwiefern der Künstler auch hierin an einer zusätzlichen Zeichnung arbeitete, die zu einem Doppelbild oberhalb des Kopfes des Mädchens führen sollte. Im Unterschied zu Das Bild verschwindet wird der Kopf von Lincoln eher frontal als seitlich gezeigt. Aber sowohl die Frau als auch das Gesicht (von Lincoln) erscheinen in diesen Werken ebenfalls nur angedeutet bzw. sind dabei sich aufzulösen. Sie können als ästhetische Analogie zu Lacans Theorien über das Imaginäre gelesen werden. Die Psychoanalytikerin Hanna Gekle erläutert in Tod im Spiegel dazu: […] was bei Freud die Mechanismen der Traumdeutung wie des Unbewußten insgesamt sind, das behält Lacan dem Imaginären vor [...]. Alle Formen des Imaginären sind dem-
86 Gorsen, Peter: Kunst und Krankheit. Metamorphosen der ästhetischen Einbildungskraft, a. a. O., S. 268. 87 Roloff, Volker: Surreale Metamorphosen und Spiegelbilder, a. a. O., S. 58. 88 Ebd., S. 59. 89 Frz. Originaltitel: Apparition d’une figure de Vermeer dans le visage d’Abraham Lincoln.
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nach gekennzeichnet vom Narzißmus des Ich: seiner Unabgetrenntheit vom Anderen, den er nur als Spiegelbild seiner Selbst wahrnehmen darf, von den Verleugnungen und Verkennungen seiner Angst vor dem Tod [...], von seinen Phantasien von Zerstückelung, seiner entfremdeten Wiederkehr als Puppe, Maschine oder Automat [...]. Das sind die Bildthemen dieses Ich, die sich in wahrhaft verblüffender Übereinstimmung mit einem breiten Spektrum [...] der Themen des Surrealismus zur Deckung bringen lassen.90
Gekles Meinung nach ist es auch kein Zufall, dass Lacan diese Konzeption des Narzissmus im Dialog mit Dalí entwickelte.91 Inwiefern Dalís Bildästhetik in die Nähe der theoretischen Ansätze Lacans rückt, lässt sich für Gekle insbesondere anhand von Dalís Konzeption von Traumästhetik verdeutlichen. Der Nachttraum als progressiver Akt bei Freud mobilisiert zwar alte Wünsche, aber sie entstehen aus einem Ungenügen in der Gegenwart. Der Träumer hat ein Problem im Hier und Jetzt, und in der Nacht arbeitet das Ganze sozusagen in ihm weiter und erweckt alte Wünsche als Motor des Traumes, die sich allerdings in einer neuen, verkleideten Form ausdrücken müssen. Aus solcher Rücksicht auf Darstellbarkeit (wie es Freud nannte) muss das Alte, Verdrängte verändert werden und eine einigermaßen mögliche Gestalt bekommen (das Ich des Träumenden ist zwar unter den Bedingungen des Traumes eingeschränkt, aber nicht völlig außer Kraft gesetzt).92 Somit gewinnt der Traum mehrere Dimensionen des Neuen, folgert Gekle: Er verwandelt intellektuelle Probleme in Bilder. Freud hat das unter dem Aspekt der Regression betrachtet, wohingegen für Lacan die alten Wünsche in der Gegenwart verortet seien.93 Das heißt, auch wenn alte unüberwindbare Wünsche sich wieder wecken lassen und wiederkehren, tun sie das in der Gegenwart des Träumenden. In dieser Hinsicht verschreibe sich der Nachttraum nur einer Zeit: „derjenigen der Gegenwart“.94 Unter anderem geht für Gekle Lacans Prinzip und Theorie über in Dalís simultan gegenwärtige Kippfiguren. Dalís Doppeldeutigkeiten, die aus dem Wechselspiel zwischen erinnertem und dargestelltem Bild, zwischen Wahrnehmung und Gedanke entstehen, beinhalten zugleich Be-
90 Gekle, Hanna: Tod im Spiegel. Zu Lacans Theorie des Imaginären, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2016, S. 159-160. 91 Ebd., S. 142. Dalí und Lacan veröffentlichten 1933 hintereinander im selben Minotaure-Heft (1, 1933) zur Paranoia: Dalí den Aufsatz über das zwanghafte Bild von Millet, Lacans Titel hieß: Le Problème du style et la conception psychiatrique des formes paranoïaque de l’experience. 92 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, a. a. O., S. 345. 93 Gekle, Hanna: Tod im Spiegel. Zu Lacans Theorie des Imaginären, a. a. O., S. 171. 94 Ebd.
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wusstes und Unbewusstes. Dabei sind Dalís bewusst angelegte Doppel- und Mehrfachbilder, die die Mehrdeutigkeit bzw. Uneindeutigkeit der Traumform zum Ausdruck zu bringen scheinen, nicht im Kontext der Traumdeutung als Wunschbefriedigung zu lesen; vielmehr dienen sie Dalí als ästhetisches Modell, das die freudsche Unterscheidung zwischen bewusst und unbewusst relativiert. Hierüber wird Dalís ‚Abkehr‘ von Freud sichtbar. Auch Peter Gorsen gelangt in Kunst und Krankheit zu der Erkenntnis, dass Dalís narzisstische Bildwelt eher als ästhetische Analogie zu dem theoretischen Ansatz Lacans gelesen werden kann, und bezieht sich dabei auf Dalís Werk Die Metamorphose des Narziss: „Die paranoisch-anamorphotische Auflösung des personifizierten Narziß in eine versteinerte Hand, die ein Ei hält, ist bewußt doppelsinnig und erlaubt die Wahrnehmung des aus dem anorganischen und organischen Sein, aus Tod und anonymer Schöpfung in seine personale Identität zurückgekehrten Narziß.“95 Dabei bleibt für Gorsen allerdings offen, ob diese Metamorphosen bei Dalí wirklich als „Wiedergewinnung einer neuen personalen Identität im Selbst eines Anderen“96 gedeutet werden können.
3. DAS „POETISCHE DRAMA DES SURREALISMUS“ Bis 1934 – danach wird Dalí offiziell von Breton aus der Gruppe ausgestoßen, da Dalí in einem Brief vorgeschlagen hatte, „Hitler aus surrealistischer Sicht einzuordnen“97 – ist auffällig, dass sowohl Dalí als auch Breton der Imagination eine große Produktionskraft zuschreiben. So behauptet Breton bereits auf der zweiten Seite des ersten Manifests von 1924: Einzig die Imagination zeigt mir, was sein kann, und das genügt, den fruchtbaren Bann ein wenig zu lösen; genügt auch, mich ihr ohne Furcht, mich zu täuschen, zu ergeben (als wenn man sich noch mehr täuschen könnte). Wo beginnt sie, Trug zu werden, und wo ist
95 Gorsen, Peter: Kunst und Krankheit, a. a. O., S. 264. 96 Ebd., S. 263. 97 Descharnes/Néret: Dalí. Das malerische Werk, a. a. O., S. 255. Dalí wurde von den Gruppensitzungen der Surrealisten 1934 zwar ausgeschlossen. Jedoch veröffentlichte er weiter in ihren Zeitschriften und stellte seine äußerst publikumswirksamen Bilder weiter bei surrealistischen Ausstellungen aus. Er war längst ein Publikumsmagnet. Vgl. dazu ebd. S. 203.
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der Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit, richtig zu denken?98
Breton betont zwar abschließend im Manifest, dass ihn „die künftigen surrealistischen Techniken nicht interessieren“,99 dennoch behauptet er einige Jahre später, dass „Dalí dem Surrealismus ein Werkzeug ersten Ranges geliefert hat, in Gestalt der paranoisch-kritischen Methode“, die Dalí „unterschiedslos auf die Malerei, die Poesie, den Film, auf die Herstellung typisch surrealistischer Gegenstände, auf die Mode, auf die Kunstgeschichte und gegebenenfalls sogar auf jede Art von Interpretation anzuwenden verstand“.100 Subjektivität, Objektivität und die Wahrnehmung Die Arbeit hat bisher verdeutlicht, inwiefern es für Breton sowie für Dalí hinsichtlich der Imagination(-skraft) vordergründig um Subjektivität ging. Bretons Intention war es, „zu den Quellen der dichterischen Imagination hinabzusteigen und vor allem dort zu bleiben“.101 Dabei hänge „das wahre Ziel“, hatte man die Richtung gefunden, „nur noch von der Ausdauer des Reisenden ab […]“.102 Für Breton gelangt die Subjektivität allerdings durch den Zufall zum Ausdruck und wird unter anderem durch den Automatismus generiert, wohingegen für Dalí die Subjektivität innerhalb der Paranoia liegt und praktisch im greifbaren Bereich des Handelns durch den Zustand des Wahns hindurchgeht. Der Zufall ist für ihn das Ergebnis der systematischen paranoischen Aktivität. Die paranoischen Wahnbilder können zwar auch spontan auftreten, aber es ist offensichtlich, dass Dalí die Systematik der Spontaneität vorzog. Wer Dalí also als Surrealist in den Blick nimmt, wie es hier geschehen ist, muss seine paranoisch-kritischen Werke im Kontext des Imaginären im Surrealismus und nicht im Kontext des ‚objektiven‘ Zufalls der surrealistischen écriture automatique betrachten. Die Rolle der Subjektivität eint dabei dennoch alle in dieser Arbeit behandelten Montagemethodiken der Surrealisten. So unterschiedlich die Verfahren sein mögen, lassen
98
Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 12.
99
Ebd., S. 41, Herv. i. O.
100 Breton, André: Was ist Surrealismus? [Qu’est-ce que le surréalisme, 1934], in: Breton, André: Oeuvres complètes I, hrsg. von Marguerite Bonnet, Paris 1988, S. 10271028. Im Auszug übernommen aus: Dalí, Salvador: Die Eroberung des Irrationalen, a. a. O., S. 268-279, S. 268. 101 Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 21. 102 Ebd.
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die Künstler damit doch die Mechanismen des Imaginären, des Unbewussten oder der Traumdeutungen nachvollziehbar werden. Und überall fordern Verfremdungen, Brüche, Metamorphosen den Betrachter und seine Wahrnehmung heraus. Auch Dalís Montagen der bewusst angelegten Doppel- und (teilweise) Dreifachbilder führen dabei zur Hinterfragung der Rezeption von Wahrnehmung. Während sich Ernst, weil ihm die traditionelle Malerei für die neuen Absichten nicht geeignet schien, hilfreicher moderner Bildtechniken bediente, setzte der ebenfalls von der Collage als Mittel zum verfremdenden Umgang mit Realität ausgehende Dalí (vgl. Erleuchtete Lüste) allerdings eine eher illusionistische und präzise (altmeisterlich anmutende) Feinmalerei ein, die die Moderne längst verworfen hatte. „Die auf kombinatorischem Wege zusammengetragene, auf überraschende Begegnungen aufbauende Bildwelt“103 könne, so der Künstler selbst, „nur dadurch in den Bereich des Wahrscheinlichen und damit des Schockierenden gehoben werden, indem man die Bildgegenstände in gleicher Weise mit illusionistischer Technik vergegenwärtige“.104 Hier wurzelt etwa in der Verschmelzung ungleicher Gestalten das Erlebnis des ‚physiognomischen‘ Wiedererkennens. Doch die aus einem Guss wirkenden Vexierbilder lassen das Disparate noch fremdartiger wirken. Die penible Malweise hatte also eine inhaltliche, eine surrealistische Bedeutung. Dalí definierte 1934 in einem Paradoxon: „Malerei: Handgemachte Farbfotografie der konkreten Irrationalität und der Welt der Phantasie im allgemeinen.“105 Dalís Schnittflächen liegen – anders als bei den anderen Surrealisten – also nicht zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, sondern zwischen Irrationalität und Realität. Um die Kluft zwischen den Intentionen und den Verfahrensweisen, die das Eintreten von Bildern dem objektiven Zufall überlassen, geht es dezidiert in Dalís 1933 erstmals veröffentlichtem Aufsatz Paranoisch-kritische Interpretation des zwanghaften Bildes „Das Abendläuten“ von Millet. Für Dalí wirken die Gestaltungsmittel seiner Surrealisten-Kollegen zwanghaft, da sie für ihre Interpretation (Theorien von Bedeutung) im Nachhinein eingreifen. In der Arbeit zeigt sich das beispielsweise bei den hinzugefügten Zeichnungen in Ernsts Frot-
103 Dalí, Salvador: Paranoisch-kritische Interpretation des zwanghaften Bildes Das Abendläuten von Millet, a. a. O., S. 196. 104 Ebd. 105 Dalí, Salvador: Neuste Mode intellektueller Erregung für den Sommer 1934 [Derniers modes d’excitation intellectuelle pour l’été 1934, 1934], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 239-241, S. 240.
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tagen, die die Strukturenmosaike nachträglich in ein Konzept einbeziehen; Ähnliches kritisiert Dalí an Rays Arrangements der verfremdeten Objekte oder bei bestimmten Verknüpfungsprinzipien in Buñuels frühen Filmen106, die zur Metapher des Schnitts führen. Dalí verstand den paranoischen Mechanismus als Vehikel, der eine Produktionskraft und Kritik, eine Bedeutung und sichtbare Darstellung gleichermaßen schon beinhaltet und, ihm zufolge, sich in Lacans Abhandlung De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité bewahrheite.107 Dalí erklärt in seinem Text, dass es Lacan zu verdanken sei, dass zum ersten Mal eine umfangreiche Vorstellung des Phänomens der Paranoia außerhalb des „mechanischen Denkens“108 möglich sei. Für Dalí gibt Lacans Dissertationsschrift „[...] voll und ganz Rechenschaft von der objektiven und mittelbaren Hyperschärfe des Phänomens, dank welcher der Wahn diesen greifbaren, unwiderlegbaren Charakter annimmt, der ihn in direkten Gegensatz zur Stereotypie des Automatismus und des Traumes bringt.“109 Dalí hält fest, dass im Gegensatz zu den passiven Elementen in vielen surrealistischen Kunstwerken, die durch den Automatismus entstehen und einer Interpretation entgegenkommen, „der paranoische Wahn bereits in sich eine Form der Interpretation dar[stellt]“110. Gerade dieses aktive Element, das aus dem „Vorhandensein von Systematik“111 hervorgegangen sei, „greift jenseits der vorherigen, allgemeinen Auffassungen als Grundsatz jenes Widerspruchs ein, in welchem für mich [Dalí] das poetische Drama des Surrealismus besteht“.112 Dieser Widerspruch könne ihm zufolge nicht besser dialektisch aufgehoben werden als durch die neuen Vorstellungen über die Paranoia, „die sich Bahn brechen und denen zufolge der Wahn als ausgebildetes System in Erscheinung treten würde“.113 Dalí kommt schließlich zum Entschluss, dass trotz der mechanischen Schwierigkeiten offensichtlicher Inkon-
106 Dalí kritisiert: „Später, als Buñuel sich vom Surrealismus abkehrte, reinigte er L’Âge d’or von seinen [Dalís] Wahnsinnspassagen und nahm eine Anzahl weiterer Änderungen vor, ohne mich nach meiner Meinung zu fragen [...].“ Daraufhin habe Dalí die veränderte Fassung nie gesehen. Dalí, Salvador: Das Geheime Leben des Salvador Dalí, a. a. O., S. 350. 107 Dalí, Salvador: Paranoisch-kritische Interpretation des zwanghaften Bildes Das Abendläuten von Millet, a. a. O., S. 200. 108 Ebd. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Ebd., S. 201. 112 Ebd. 113 Ebd.
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sequenz oder Widersprüchlichkeit, die für ihn vom Automatismus herrühre, die Tätigkeiten der Surrealisten gerade auf der Ebene des „Handelns“114 wirken, und sie in die Wirklichkeit, ins Leben eingreifen. Damit die Surrealisten ihr Ziel erreichen und Wahrnehmungsgrenzen durchbrechen könnten, müssten sie sich kritischer, sprich subjektiver Techniken bedienen, andernfalls würden Traum und Automatismus nur den Sinn von Fluchten aus der ‚Realität‘ bzw. Illustration von Träumen oder Irrationalitäten annehmen und nicht aber die Verbindung von Subjektivität und Objektivität zu einer Surrealität.115 Das „zwanghafte Bild“ Besonders Dalís Aufsatz Das Abendläuten von Millet116 (1934) veranschaulicht seine Auseinandersetzung mit dem Gemälde117 von Jean-François Millet. Hierin hält er fest, inwiefern sich die Paranoia nicht darauf beschränkt, Illustration zu sein, sondern darüber hinaus die für ihn einzig wahre, sogenannte „wortwörtliche Illustration“ darstelle, das heißt die „wahnhaft-interpretative Illustration“ – wobei für den Künstler die Identität immer a posteriori auftrete, als Folge der „interpretativen Assoziation“.118 In Millets berühmtem Bild (ca. 1857), das zwei Menschen auf dem Feld zeigt (Abb. 55), erstarrt in betender Haltung beim – wie der Originaltitel L’Angélus sogleich vermittelt – Angelusläuten, erkennt Dalí die aus Die Gesänge des Maldoror bekannte „zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“119 wieder.120 Für Dalí spielt die „einsame, dämmrige, tödliche“121 Umgebung in diesem Bild die Rolle des Seziertisches bei Comte de Lautréamont, „denn erstens verlöscht das Leben
114 Ebd. 115 Ebd. 116 Dalí, Salvador: Das Abendläuten von Millet [L’Angelus de Millet, 1934], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 204-206, S. 204. 117 In der deutschen Ausgabe des Aufsatzes von Dalí wird das Werk Das AngelusLäuten [L’Angélus] von Jean-François Millet mit Das Abendläuten übersetzt. 118 Dalí, Salvador: Das Abendläuten von Millet, a. a. O., S. 204-206, S. 204. 119 Lautréamont, Comte de: Die Gesänge des Maldoror [Les Chants de Maldoror, 1869], aus dem Französischen übersetzt von Ré Soupault, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 223. 120 Dalí, Salvador: Das Abendläuten von Millet, a. a. O., S. 204. 121 Ebd.
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am Horizont, und zweitens versinkt die Gabel in diesem wirklichen, substantiellen Fleisch, das der Ackerboden von jeher für den Menschen gewesen ist“.122 Wenn der Ackerboden, wie wir behaupten, der wortwörtlichste und vorteilhafteste aller Seziertische ist, wären der Regenschirm und die Nähmaschine im Abendläuten in die männliche und in die weibliche Figur transponiert [...]. Der Regenschirm – vom Typus eines surrealistischen Objekts mit symbolischer Funktion – verwandelt sich kraft seines offenkundigen und wohlbekannten Erektionsphänomens in den Mann des Abendläutens, der [...] auf dem Bild durch die schamhafte, kompromittierende Art, wie er seinen Hut hält, seine Erektion zu verheimlichen sucht – wobei er allerdings nur erreicht, daß sie besonders augenfällig wird. Die Nähmaschine ihm gegenüber, das höchst charakteristische, wohlbekannte weibliche Symbol, pocht gar auf die tödliche, kannibalische Eigenschaft der Nadel [...], die ihr Männchen ‚leert‘, das heißt ihren Regenschirm leert und ihn dabei zu diesem geschundenen, schlappen, deprimierenden Opfer macht, in das sich jeder Regenschirm verwandelt, der nach dem glänzenden Höhepunkt seiner aufgespannten Liebesfunktion geschloßen wird.123
In seinem Text geht Dalí abschließend auf sein Werk Hommage à Millet124 (1934) ein (Abb. 56), das eine ‚wortwörtliche‘ bzw. ‚wahnhaft-interpretative‘ Illustration von Das Abendläuten darstelle. Darin erkennt man ebenfalls zwei Figuren, die sich gegenüberstehen (und aussehen, als wären sie einem Triptychon von Hieronymus Bosch entsprungen).125 Dalí zufolge handelt es sich bei der linken Figur, die ein Messer in der Hand hält, um die Silhouette Napoleons. Sie richtet das Messer gegen die andere Figur im Bild, der Dalí ein Kotelett auf den Kopf gelegt hat, das sich die Napoleon-Figur gerade zu holen versucht. Des Weiteren erläutert Dalí, dass das Kotelett „in Wahrheit und Wirklichkeit eigent-
122 Ebd. 123 Ebd. 124 Es sei darauf verwiesen, dass es mehrere Bilder/Zeichnungen mit diesem Titel gibt; auch spätere Auseinandersetzungen mit Millets Werk heißen so. 125 Auch wenn Dalí einen direkten Einfluss explizit verneint hat – was Freud zufolge ja schon seiner Bestätigung gleichkommt –, sei hier kurz auf eine immer wieder aufscheinende motivische Verwandtschaft verwiesen: Dalís oft gesichtslose und teils monströse Gestalten lassen an Hieronymus Boschs symbolgeladene (religiöse) Visionen denken. Laut Dalí seien diese aber ein „Produkt der nebelverhangenen Wälder des Nordens und der schrecklichen Verdauungsstörungen des Mittelalters“ und an „diesem Universum“ sei er nicht interessiert. Zitiert nach: Maddox, Conroy: Dalí, 2. Aufl., Köln 1985, S. 58.
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lich nur der mit aller Finesse feinen, mit allem Schrecken schrecklichen Nadel der gespenstischen, heimlichen Nähmaschine zugedacht ist“.126 Dalí beendet schließlich seinen Text damit, Das Abendläuten als gleichermaßen schön wie die bekannte Begegnung aus Lautréamonts Werk zu bezeichnen.127 Das vielzitierte Zusammentreffen der ungleichen Gestalten auf einem Seziertisch wurde in dieser Arbeit als eine Art Metapher und Vorbildfunktion für die unterschiedlichen Montagemethodiken der Surrealisten verwendet, die die Künstler jeweils den Möglichkeiten ihrer Medien anpassten. Die Hommage à Millet hat gezeigt, inwiefern für Dalí seine Vorstellungen, die zunächst nicht eindeutig sind, sich insofern konfigurieren, als sie ein Bild ergeben, das er seiner Erfahrung und seiner Imagination anpasste. In diesem Sinne ist die Darstellung Dalís weniger ein Spiegelbild, als vielmehr eine Projektionsfläche. Sie verdeutlicht erneut, wie Dalís Denkweise durch seinen engen Austausch mit Lacan geprägt war und seiner Formbestimmung des Imaginären ähnelt. Der Unterschied von Dalís paranoisch-kritischer Methode zum „poetischen Drama des Surrealismus“ ist selbst in der schlichten Tintenzeichnung dieser Hommage an Millet evident; und doch verbindet Dalí bzw. sein Werk als Maler ein zentraler Aspekt mit den schöpferischen Prozessen anderer Surrealisten: Es ist der Schnitt als vielgestaltige Denkfigur. Er manifestiert sich in der Fragmentierung und Auflösung von Körpern, die Dalís amorphe Gestalten gleichsam verinnerlicht zu haben scheinen. Der Schnitt zeigt sich aber ebenso in der dynamischen Montage zwischen realistischer Malerei und paranoisch imaginiertem Bild. Sie führt in der gleichsam kinematischen Überblendung, die der Betrachter bzw. unsere Wahrnehmung anstellt, dennoch zu keinem eindeutigen Bild, sondern in das faszinierende Zwischenreich des Irrationalen und Surrealen.
126 Dalí, Salvador: Das Abendläuten von Millet, a. a. O., S. 204. 127 Ebd., S. 206.
XI. Materielle Spuren surrealistischer Verfahren
1. ZUR DENKFIGUR DES SCHNITTS Von der „Denk-Figur“ im Surrealismus zu sprechen, das habe ich in dieser Arbeit gezeigt, setzt voraus, dass der Surrealist ausgehend von den Techniken und Praktiken, die mit der Nachahmung der Natur und sogenannten Realität verbunden sind, zu einem Konzept der Nachahmung des Protokolls einer Wirklichkeit übergeht, die nur als imaginierte Wirklichkeit verständlich bzw. lesbar ist. ‚Wirklichkeit‘ wird so im Surrealismus gleichsam als ‚Figur‘ greifbar – sie wird figuriert – und wirklich in der Vorstellungskraft. „Man ist versucht, die Surrealisten als Allegoriker zu bezeichnen, denen ein festes Bezugssystem allegorischer Deutung fehlt“, kommentiert Peter Bürger dazu.1 Dieser Satz impliziert bereits, dass die Entdeckung bestimmter Objektbeziehungen eine Einstellung des Betrachters zur Voraussetzung hat. Dem auf bestimmte überraschende Objektbeziehungen ausgerichteten Blick des Surrealisten ‚zerfällt‘ die Wirklichkeit in Fragmente, die zum Träger einer Bedeutung werden. Laut Bürger gilt der surrealistische Kult aber nicht dem Ding als solchem, sondern dem Ding als Träger einer allemal abwesenden Bedeutung, die der Betrachter eben neu zu setzen hat. Dies geschieht etwa bei den aus überlagerten Fragmenten bestehenden Frottagen von Max Ernst oder in den ausgeklügelt montierten Filmen Luis Buñuels. Er hat übrigens mit dem gestreiften Holzkästchen, das in Un Chien andalou von Hand zu Hand wandert, auch so ein „Ding“ geschaffen – eine Art MacGuffin, wie ihn
1
Bürger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur, Frankfurt am Main 1996, S. 128.
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Hitchcock in seinen Filmen später vielfach einsetzen wird2 und der folgende Aussage Buñuels paradigmatisch verkörpert: „NOTHING, in the film, symbolizes ANYTHING.“3 Den poetischen Funken, die surrealistische Atmosphäre, die für André Breton durch das mechanische, automatische Schreiben geschaffen werden, wollte der Anführer der surrealistischen Bewegung für jedermann zugänglich machen. Anhand seiner Definitionen im Manifest des Surrealismus von 1924, mit Fußnoten, die er teilweise ganzseitig ausführt, sowie dem Fachzeitschriften-Aussehen, das er der ersten surrealistischen Zeitschrift La Revolution surréaliste verpasst, wird Bretons Versuch ersichtlich, dem Surrealismus eine wissenschaftliche Begründung zu verleihen. An den Stellen, wo Breton auf die Methoden näher eingeht, verliert der Begriff der écriture automatique allerdings den schöpferischen Unterton, so heißt es an einer Stelle im Manifest: Der erste Satz wird ganz von allein kommen, denn es stimmt wirklich, daß in jedem Augenblick in unserem Bewußtsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden. Ziemlich schwierig ist es, etwas darüber zu sagen, wie es mit dem folgenden Satz geht; ohne Zweifel gehört er unserer bewußten Tätigkeit und zugleich der anderen an – wenn man annimmt, daß die Tatsache, einen ersten Satz geschrieben zu haben, ein Minimum an Wahrnehmung mit sich bringt.4
2
Zu nennen sind hier etwa die 40.000 Dollar aus Psycho (USA 1960); ein weiteres Beispiel wäre der Koffer aus Pulp Fiction (Quentin Tarantino, USA 1994), der durch den Film wandert, allerdings ohne dass der Zuschauer je erfährt, was drin ist. Der MacGuffin erinnert an Lacans objet petit a, wo sich das Imaginäre, das Symbolische und das Reale überscheiden. Vgl. Lacan, Jacques: Encore: Das Seminar, Buch XX [Le séminaire de Jacques Lacan. Texte établi par Jacques-Alain Miller, Livre XX, Encore (1972-1973), 1975], übersetzt von Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger, Wien 2015, S. 79; Evans, Dylan: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, übersetzt von Gabriella Burkhart, Wien 1998, S. 206.
3
Buñuel, Luis: Notes on the making of Un Chien Andalou, in: Arts in Cinema, hrsg. von Frank Stauffacher, 1947. Zitiert nach: https://cinefiles.bampfa.berkeley.edu/ cinefiles/DocDetail?docId=4824 (abgerufen am 04.05.2017).
4
Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus [frz. 1924], in: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 30.
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Werner Spies bezeichnet die écriture automatique im Surrealismus daher auch als ein Missverständnis eines undifferenzierten Begriffs.5 Die Entstehung von Les Champs magnétiques,6 dem praktischen Vorläufer der theoretischen automatischen Schreibweise, bei der es zu großen Wechseln der Geschwindigkeiten kam, mag das belegen.7 Bezüglich der Arbeitsverfahren wird Breton jedoch etwas konkreter: Lassen Sie sich etwas zum Schreiben bringen, nachdem Sie es sich irgendwo bequem gemacht haben, wo Sie Ihren Geist soweit wie möglich auf sich selber konzentrieren können. Versetzen Sie sich in den passivsten oder den rezeptivsten Zustand, dessen Sie fähig sind. [...] Schreiben Sie schnell, ohne vorgefaßtes Thema, schnell genug, um nichts zu behalten oder um nicht versucht zu sein, zu überlesen.8
Hinterfragung von Automatismus und objektivem Zufall Dieses Verfahren lehnt es ab, die ‚Wirklichkeit‘ mittels vorgefasster Intentionen zusammenzustellen. Den Surrealisten geht es dabei nicht um flüchtige Beunruhigung, die ein Kunstwerk verursachen soll, und daher auch nicht um die Antikunst von Dada, sondern um die, zugegeben sehr weit abgesteckte, ‚Wirklichkeit‘ selber.9 Wenn ein Surrealist beispielsweise der Kraft und den Bildern des Traumes vertraut, dann nur darum, weil ihm in der Traumerfahrung jene unzerteilte Ganzheitlichkeit gewiss ist, die es ermöglicht, sich an allem zu bereichern, was ihm begegnet. Mit Hilfe eines Bewusstseins, das tiefer reichen soll als die Ratio, hofft der Surrealist letztlich, das Denken zu befreien und es in seiner ‚Ursprünglichkeit‘ wiedergeben zu können. Das heißt nicht die Flucht in die Imagination wird angestrebt, sondern unverfälschtes Registrieren von äußeren wie inneren Vorgängen. Diese Art Nachahmung der ‚Natur‘ ist ebenso vielschichtig wie die surrealistischen Methoden dazu. Dabei begnügt der Surrealismus sich nicht damit, „in intellektueller und moralischer Hinsicht eine Krise des Bewußtseins all-
5
Spies, Werner (Hrsg.): Max Ernst. Collagen (Ausstellungskatalog: Max Ernst – die
6
Breton, André/Soupault, Philippe: Die magnetischen Felder [frz. 1920], aus dem
Welt der Collage, Kunsthalle Tübingen u. a.), Köln 1988, S. 83. Französischen übersetzt von Ré Soupault, Heidelberg 1990. Das Gemeinschaftswerk wurde 1919 verfasst und zum ersten Mal in Paris 1920 veröffentlicht. 7
Vgl. hierzu Kapitel V. und VII.
8
Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, a. a. O., S. 29-30.
9
Breton, André: Zweites Manifest des Surrealismus [frz. 1930], in: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 55.
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gemeinster und schwerwiegender Art“10 zu provozieren, sondern er möchte die Welt gleichsam von innen heraus verändern. So schreibt André Breton: Der Surrealismus strebt danach unser gesamtes psychisches Vermögen zurückzugewinnen auf einem Wege, der nichts anderes ist als der schwindelnde Abstieg in uns selbst, die systematische Erhellung verborgener Orte und die progressive Verfinsterung anderer, ein ständiges Wandeln auf streng verbotenem Terrain.11
Schon die „systematische Erhellung“, von der Breton hier im Manifest von 1930 schreibt, relativiert den zuvor beschworenen ‚objektiven Zufall‘. Auch die Analyse der Arbeitsverfahren und Medienästhetik von Max Ernst, Man Ray, Luis Buñuel oder Salvador Dalí hat ergeben, dass dieser Zufall im Surrealismus kritisch zu hinterfragen ist und dass das Bewusstmachen des Unbewussten von den Surrealisten gesteuert geschieht. Einerseits plädiert also der Surrealismus für den unkontrollierbaren Automatismus und das ‚Geschehenlassen‘, während der Künstler sich mit der weitgehend passiven Rolle einer Art Medium begnügt. Die écriture automatique ist eine Methode, die dieses spontane ‚Ereignen-Lassen‘ auszulösen und dann zu protokollieren vermag. Was sie fixiert, verhält sich dementsprechend zu den Inhalten des Unbewussten. Andererseits übersieht dieses Wunschbild der Hingabe (an das Unbewusste) aber, dass diese Hingabe bereits auf einem bewussten Entschluss (des Künstlers) beruht. Breton hat eingeräumt: Daß der Automatismus sich sowohl in der Malerei als auch in der Dichtung mit bestimmten vorgefaßten Absichten verbinden kann, sei zugestanden, aber es besteht dabei leicht die Gefahr, den Surrealismus zu verlassen, wenn nämlich der Automatismus aufhört, sich unterm Gestein zu bewegen.12
Dalí, der sich nicht nur verfahrenstechnisch in seiner Malerei, sondern auch theoretisch in seinen Schriften vom surrealistischen Automatismus emanzipierte, forderte explizit eine „paranoische, aktive, systematische Einstellung“13 gegen-
10 Ebd. 11 Ebd., S.65. 12 Breton, André: Genesis und künstlerische Perspektiven des Surrealismus [frz. 1941], in: Ders.: Der Surrealismus und die Malerei [frz. 1965], übersetzt von Manon MarenGrisebach, Berlin 1967, S. 55-88, S. 74. 13 Dalí, Salvador: Der Eselskadaver [L’Âne pourri, 1930], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte
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über den „Phänomenen des Irrationalen“.14 Und Artaud nannte als Ziel der surrealistischen Revolution die „spontane Neueinteilung der Dinge, gemäß einer gründlicheren und verfeinerten, durch Mittel der gewöhnlichen Vernunft nicht aufzuklärenden Ordnung“.15 Eben diese „Ordnung“ und „Neueinteilung“ schufen Ernst, Ray, Buñuel oder Dalí, indem sie auf bestimmte, neuartige und collagierende Schnittverfahren setzten. In dem Sinne können schon die Montagetechniken selbst als surrealistisches ‚Objekt‘ ausgemacht werden, das aus unzusammenhängenden Teilen hergestellt wird, die man aus Unmittelbarem greift. Deformationen und Brüche ergeben sich hier oder werden sogar um ihrer selbst willen gesucht. So erkannte Breton in den frühen Collagen, die Ernst um 1919 schuf, die Erfüllung der von ihm und seinen Weggefährten angestrebten neuen Sichtweise: Der äußere Gegenstand hatte mit seiner gewohnten Daseinsweise gebrochen, das ihm Wesentliche hatte sich gewissermaßen von ihm emanzipiert, um so mit anderen Dingen völlig neue Beziehungen eingehen zu können, wobei er zwar dem Prinzip der Wirklichkeit entfloh, was aber doch nicht ohne Folgen für dieses Wirkliche blieb; die totale Veränderung des Begriffs der Relation.16
Im Jahr 1925 erfand Ernst ein weiteres Verfahren, die Frottage. Dieses halbautomatische Prinzip der Montage will die verschiedenen Wirklichkeiten, die der Materie innewohnen, sichtbar machen, das heißt ihre Vieldeutigkeit gegenstandsfreier Forminhalte veranschaulichen. Dies ermöglicht Ernst eine Annäherung an eine peinture automatique. Rays kameralose Techniken der Rayografie, die er 1921 zu entwickeln begann, führen zu Verfremdungen, die verschiedene Anschlussmöglichkeiten für den Betrachter bieten, und in Buñuels surrealistischen Filmen Un Chien andalou und L’Âge d’or geben die Elemente bzw. Sequenzen ihren (latenten) Inhalt erst preis, nachdem der Zuschauer sie miteinan-
Schriften, aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Weidmann, hrsg. von Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann, Frankfurt am Main 1974, S. 131-135, S. 131. 14 Dalí, Salvador: Paranoisch-kritische Interpretation des zwanghaften Bildes Das Abendläuten von Millet [frz. 1933], in: Ders.: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, a. a. O., S. 196-204, S. 199. 15 Artaud, Antonin: Die Tätigkeit des Büros für surrealistische Forschungen, in: Ders.: Surrealistische Texte [frz. 1976], hrsg. und übersetzt von Bernd Mattheus, München 1996, S. 54-57, S. 54. 16 Breton, André: Genesis und künstlerische Perspektiven des Surrealismus, a. a. O., S. 69-70.
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der verbunden hat. In „sorgfältig realistischer Manier“17 hat später Dalí (ab 1928) die Einsicht in die Ambivalenz der Erscheinungsform weiterentwickelt und durch die paranoisch-kritische Methodik die verwirrenden Vexierbilder gewonnen, die dem Betrachter eine surreal-irrationale Welt eröffnen. Der Schnitt im Surrealismus oder Die Veränderung des Sehens Die Analyse der surrealistischen Werke hat gezeigt, dass durch Übertragungen zwischen den kreativen Verfahren, Materialitäten und Motiven der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus immer präsent ist. Dabei konnte kenntlich gemacht werden, inwiefern Assoziationen, die mit Mechanismen des Unbewussten (Sigmund Freud) bzw. der Traumdeutungen, Kastrationsangst oder Fetischtheorien zusammenhängen sowie Assoziationen, die mit Mechanismen des Imaginären (Jacques Lacan) geknüpft werden können, mit den jeweiligen Medien zusammenhängen. Der Künstler kann schließlich nur innerhalb dessen agieren, was er in seinem Metier jeweils vorfindet. Er greift also innerhalb des Mediums, durch das er sich ausdrückt, auf Techniken, Bildgegenstände und Formen zurück, die er in ihrem Materialcharakter begreift: Dieser Materialcharakter bleibt in Ernsts Frottagezeichnungen als Metamorphose erkennbar, indem er durch Durchreibeverfahren zunächst Objekte aus der Natur abstrahiert, um sie anschließend mit weiteren Frottageflächen zu kombinieren. In den Rayografien sind Objekte als Verfremdungen sichtbar, indem Ray durch Fotografieren ohne Fotoapparat die ursprüngliche Materialität des Gegenstandes teilweise auflöst. Und in Buñuels ersten beiden Filmen ist (neben dem wortwörtlichen Schnitt des Filmmaterials) ein Bruch oder Schnitt spürbar, indem seine Verknüpfungsprinzipien das Verkennen einer imaginären Identifikation des Zuschauers mit dem diegetischen Bild evozieren; hierzu tragen, wie gezeigt wurde, eine gestörte Hierarchie zwischen Metapher und Diegese sowie die Zerstückelung der verschiedenen diegetischen Elemente bei. In Dalís Kippbildern sind es wiederum Fragmentierung bzw. Auflösung und die doppelte Lesart, die den Schnitt implizieren. Metamorphose, Verfremdung, Bruch, Schnitt, Fragmentierung oder Auflösung bleiben zwischen den von den Künstlern kombinierten Elementen und Strukturen erkennbar bzw. spürbar. Sie machen die unterschiedlichen Kombinationsverfahren der Surrealisten als Montagen begreifbar, und genau diese Schnitt- und Bruchstellen bieten vielfache Ansätze für Deutungen. Rays verfremdete Objekte etwa changieren zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, wodurch ‚Lücken‘
17 Dalí, Salvador: Paranoisch-kritische Interpretation des zwanghaften Bildes Das Abendläuten von Millet, a. a. O., S. 200.
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entstehen, die unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. Ernst erreicht durch Gesetze des Verbindens, dass die vermeintlich zufällig zueinander stehenden Formen eine präzise Beziehung zueinander eingehen. Seine Kompositionen von Frottageflächen führen zur Manipulation oder Desorientierung. Gemeinsam ist den surrealistischen Montagen, dass sie sich – in Bezug auf ihre Materialität – darüber auszeichnen, dass sie Fragmente der außerkünstlerischen Alltagswelt einbeziehen. Insbesondere hierüber wird der Unterschied zwischen surrealistischen Montagen und Collagen und solchen, die bereits zuvor entstanden waren, deutlich. Beispielsweise fügte Max Klinger in seine Montagen Ende des 19. Jahrhunderts keinerlei Fragmente der außerkünstlerischen Alltagswelt ein, sondern bediente sich an künstlerisch vorgeprägten Motiven und Strukturen historistischer Kunst.18 Wohingegen Ernsts Histoire naturelle, zu der Fragmente aus der Natur und der botanischen Formenwelt herangezogen wurden, nicht historisch erlebbar ist und für die Kunst bzw. innerhalb eines ästhetischen Kontexts Neuland darstellte. Auch in den Rayografien werden alltägliche Objekte (Kamm, Messer oder die selbstreflexiven Film- und Fotolaborutensilien) in neue Zusammenhänge gestellt. Ray gewann für das Medium Fotografie eine neue Qualität ästhetischen Sehens, indem er Fotografie nicht mehr dokumentarisch bzw. rein abbildend einsetzte, sondern die Objekte ihre ursprüngliche Materialität durch Experimente in der Dunkelkammer verlieren ließ. Buñuels Montage im Film verinnerlicht nicht nur eine eigene Art des Faltmontage-Spiels cadavre exquis im Sinne der Zusammenfügung des eigentlich nicht Zusammengehörigen, sondern auch er führt dem Medium eine neue Qualität ästhetischen Sehens hinzu, indem er den Zuschauer mit dem ewigen Paradox des glaubwürdigen Falschen als Filmbild konfrontiert. Dies gelingt Buñuel beispielsweise in L’Âge d’or, wenn er durch die unterschiedlichen Diskurse, die die einzelnen Abschnitte vermeintlich nachahmen, semantische Inkohärenz entstehen lässt. Diese erinnert an die Logik der Mehrdeutigkeit im Traum, da der Zuschauer die Darstellung der bereits existierenden, fiktionalen Welt nicht vollständig in sich aufnehmen kann. Das heißt, der Zuschauer ist an der dynamischen Konstruktion der
18 Christian Drude hat in Historismus als Montage (2005) herausgearbeitet, inwiefern Klinger durch die Verbindung von hochgradig vorgeprägten Motiven und Strukturen sie dennoch als kunstimmanentes Fremdmaterial bewusst macht, indem er sie zu widersprüchlichen oder teilweise paradoxen Synthesen vereint. Der historistische Pluralismus in Klingers Montagen macht den Bruch mit Vorgaben der Tradition zwischen den kombinierten Motiven bzw. Strukturen erkennbar. Vgl. Drude, Christian: Historismus als Montage. Kombinationsverfahren im graphischen Werk Max Klingers, Mainz am Rhein 2005.
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jeweiligen ‚Welt‘ (Diskurs) beteiligt. Dies führt dazu – und das darf für den Surrealismus generell gelten –, dass keine ‚Realität‘ vorgegeben bzw. abgebildet, sondern stets erzeugt wird. Die Arbeit konnte demnach zeigen, inwiefern das Identitätserlebnis für die Surrealisten eine Art Wahrnehmungsverschmelzung bzw. (automatische) mentale Auflösung zwischen Innen- und Außenwelt ist, die sie durch Deformationen in ihren Werken für den Zuschauer nachvollziehbar werden lassen. Ihre Montagen verleiten oder nötigen den Betrachter zum Überwinden der Schnittflächen zwischen Denken und Figur. Hierüber können die Surrealisten die neuartigen psychoanalytischen Theorien und Modelle Freuds, die Lacan später modifizieren sollte, beispielsweise im Kontext der Traumdeutungen oder Hysterieforschung zum Ausdruck bringen, ohne sie lediglich zu illustrieren, indem sie die Mechanismen des Unbewussten sowie des Imaginären nachvollziehbar werden lassen. Buñuel gelingt eine Nachahmung der rhetorischen Form des Diskurses des Unbewussten, indem er in Un Chien andalou Vorgänge im Traum, wie beispielsweise Verdichtung und Verschiebung, imitiert. Die Frottagezeichnungen von Ernst konnten in ihren Metamorphosen mit filmischen Effekten wie Manipulation und Desorientierung in Zusammenhang gebracht und im Bereich der optischen Illusionen verortet werden. Rays Experimente in der Dunkelkammer führen ihrerseits dazu, das Verborgene in und an der Realität sichtbar zu machen. Ich habe dabei das Modell von projektiver Verkennung (Lacan) mit dem Füllen der ‚Lücken‘ in Rays Werken verglichen, die der Betrachter aus eigener Erfahrung bzw. Erinnerung schließen muss. Dalís systematisch angelegte doppelte Vorstellungsbilder wiederum führen zur Hinterfragung der Rezeption von Wahrnehmung, indem Dalí vor allem illusionistisch-irrationale Motive mit penibler realistischer Feinmalerei ins Bild setzte. Im Hinblick auf derartige Motive werden Mechanismen nachvollziehbar, die mit theoretischen Ansätzen des Imaginären bei Lacan zusammenhängen. Für Dalí sind die Methoden der Surrealisten dezidiert als kritische Tätigkeiten zu betrachten, da sie auf materielle, erkennbare und körperlich greifbare Weise angewendet werden. In dem Sinne kann die Denkfigur des Schnitts im Surrealismus auch häufig als (mehr oder weniger) bewusst gesetzte Metapher gelesen werden, was in dieser Arbeit ebenfalls verdeutlicht wurde. Hier kommt es zur Übertragung und Überlagerung von Techniken, Materialitäten und Motiven, die – wie etwa Buñuel betont hat – mit psychoanalytischen Theorien auszulegen sind. Angefangen bei Max Ernsts Frottage Das geimpfte Brot über die hintersinnige und fetischbehaftete Inszenierung von Rasiermesser und Spitzentuch in einer Rayografie bis zu einer der berühmtesten Filmszenen der Kinogeschichte – jene aus Der andalusische Hund, in der ein Auge durchschnitten wird – gemahnt im Surrealis-
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mus vieles an zerstückelte Körper, an männliche Kastrationsangst, an fetischisierte Frauen. Hier überlappen Denkfigur, technischer Schnitt und Metapher. Auf ästhetischer und rezeptiver Ebene hat sich die Denkfigur des Schnitts im Surrealismus also als ein Medium schöpferischer Prozesse herausgestellt. Die Wechselwirkungen und Verflechtungen von semantischen und ikonografischen Gestaltungsprozessen lassen sich dabei durchaus als grafische Artikulation des Denkens beschreiben. Der Schnitt im Surrealismus erscheint in dieser Hinsicht als materielle Spur kreativer Verfahren, in denen die Symbolik bzw. bestimmte Zeichen unsichtbarer Sachverhalte sichtbar werden.
2. WIEDERAUFFÜHRUNG SURREALISTISCHER TECHNIKEN DES SCHNITTS: DER STACHEL DES SKORPIONS (2014) Abschließend möchte ich noch kurz anskizzieren, wie es mit dem Fortleben der surrealistischen Schnitttechniken in der zeitgenössischen Kunst aussieht. Dafür soll ein Gemeinschaftsprojekt von (Medien-)Künstlern näher betrachtet werden. Die vom Künstlerduo M+M initiierte und kuratierte Ausstellung Der Stachel des Skorpions (2014)19 wollte deutlich machen, inwiefern der Surrealismus auch heute noch in der Kunst von Bedeutung ist, während sich die Frage stellt, inwiefern die historische Konstellation des Surrealismus und seine künstlerischen Verfahren dabei relevant waren. Dass die Metaphorik des Schnitts bzw. des Schneidens im Kontext des digitalen Zeitalters eine andere Denkfigur wäre, wurde im Kapitel über Buñuel bereits angesprochen. Die Ausstellung aus dem Jahr 2014, die den zentralen Film des Surrealismus – Das goldene Zeitalter – als Ansatz nimmt, zeigt exemplarisch, dass surrealistische Techniken des Schnitts wiederaufgeführt werden bzw. weitere Techniken des Schnitts eine Rolle spielten. Im Mai 2017 konnte ich das Künstlerduo M+M bezüglich seiner Idee für eine Hommage an Buñuels Meisterwerk persönlich befragen.20
19 Beil, Ralf/ Buhrs, Michael/M+M (Hrsg.): Der Stachel des Skorpions. Ein Cadavre Exquis nach Luis Buñuels » L’Âge d’or « (Ausstellungskatalog: Der Stachel des Skorpions, Museum Villa Stuck, München, März bis Juni 2014, und Mathildenhöhe Darmstadt, Juni bis Oktober 2014), Berlin 2014. Vgl. auch die Website: http://www.villa stuck.de/ausstellungen/2014/stachel/index.htm (abgerufen am 22.05.2017). 20 Nicht belegte Zitate im folgenden Text gründen auf meiner Unterhaltung mit M+M (Marc Weis und Martin de Mattia) am 10. Mai 2017 in ihrem Atelier in München.
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Das ambitionierte Kunstfilmprojekt Der Stachel des Skorpions vereint die multinational tätigen Gegenwartskünstler Tobias Zielony, die Musik-KunstBand Chicks on Speed, Keren Cytter, Julian Rosefeldt, John Bock sowie das Künstlerduo M+M zu einer kreativen Neuinszenierung und Vergegenwärtigung der Themen und Motive von Buñuels Film L’Âge d’or. Die sechs Filmbeiträge folgen dabei den einzelnen Teilen der berühmten Vorlage, wobei der Festepisode des Originals hier zwei Filme gewidmet sind. Laut M+M verweisen die sechs Teile auf die sechs Glieder des Skorpionschwanzes, die in einem giftigen Stachel enden, auf den schon die erste Episode im Film von 1930 hinweist. Das Ergebnis des Projekts wurde zuerst in den offen bespielten Räumen des Museums Villa Stuck in München gezeigt, anschließend in eigens erstellten Projektionsräumen im Platanenhain der Mathildenhöhe Darmstadt. Unter dem Motto „SurrealismusSommer 2014“ kooperierte man mit dem Filmmuseum Frankfurt, das Filmreihen und eine Ausstellung präsentierte.21 Kollaboration und cadavre exquis Die Inszenierung in Darmstadt hat mit ihrem sechsräumigen Konzept die radikale Fragmentierung des Films als Strukturprinzip des Ausstellungsparcours aufgegriffen. Die räumliche Isolierung der einzelnen Filme in den Pavillons wurde noch durch schwer zu öffnende Türen verstärkt. Verbindende ‚Musikfetzen‘ aus den jeweiligen Räumen brachten die disparaten Teile miteinander in Verbindung, sodass der Zuschauer sich zwischen den einzelnen Filmepisoden in einer Art „Zwischenraum“, wie es M+M formuliert haben, wiederfand, in dem er seinen Vorstellungen und Fantasien überlassen war. Der Film L’Âge d’or wurde bis in die 1990er Jahre hinein häufig nur aus filmgeschichtlicher Perspektive (als Meilenstein des surrealistischen Kinos) betrachtet. Die Arbeit hat aber bereits gezeigt, dass der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus genauso mit bildhistorischen Aspekten der Kunstgeschichte zusammenhängt. Daher soll auch im Folgenden eine Engführung zwischen Film und bildnerischen (Schnitt-)Mustern es ermöglichen, die Ausstellung als Schnittstelle zwischen Filmprojekt und bildender Kunst näher zu betrachten. Für M+M erscheint L’Âge d’or, „als markanter Erfindungsreichtum für die filmische Erzählweise“, heute wieder äußerst aktuell. Zum einen gehe der Film über die anfänglichen Überlegungen des Surrealismus, Gegensätze zwischen Traum und Wirklichkeit zu verbinden bzw. aufzulösen, hinaus, indem der Film auch eine politische Dimension mit einbrachte. Zum anderen liegt für das Künstlerduo die
21 Vgl. hierzu http://surrealismus-sommer-2014.de/ (abgerufen am 22.05.2017).
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Reichhaltigkeit von L’Âge d’or in den widersprüchlichen Episoden des Films, die für sich genommen jeweils wie ein eigenständiges kleines Projekt betrachtet werden könnten, eine Art Vorbild für extreme Sprünge und Arbeitstechniken in der zeitgenössischen bildenden Kunst seit den 1990er Jahren (auch wenn die meisten bildenden Künstler den historischen Film vielleicht gar nicht kennen). Für M+M scheinen einmal die sozialen Themen, wie sie etwa die dokumentarischen Szenen oder vor allem die Räuberszenen zum Ausdruck bringen, wieder drängender. Sie werden beispielsweise durch die (Selbst-)Darstellung der Künstlergruppe Chicks on Speed neu interpretiert: „Sie stellen sozusagen Outlaws dar, die eine eigene Gesetzmäßigkeit aufbauen“, während dieser Beitrag zu weiterführenden Gedanken anregt, die mit Konsumkritik oder Feminismus zusammenhängen. Zudem, so M+M, seien die Mittel im historischen Film Mittel, die sich auch bei ihnen und ihren Künstlerkollegen immer häufiger finden lassen. Dies war letztlich auch der Anstoß dafür, den Film Buñuels ‚übermalen‘ bzw. ‚überschreiben‘ zu lassen – ähnlich wie bei einer Collage oder Frottage. Besonders reizvoll erschien M+M dabei das surrealistische Verfahren der Kollektivarbeit in Form eines cadavre exquis, zu dem jeder Künstler bzw. jede Künstlergruppe einen Teil beisteuerte. Dies geschah zwar teilweise „radikal persönlich“, jedoch stand dabei stets fest, dass ein gesamtes Filmprojekt daraus entstehen sollte, das in einem Gedankenzusammenhang entwickelt wurde. Alle beteiligten Künstler verbrachten hierfür gemeinsame Zeit in Barcelona, in der sie auch den Film, dem ihre Hommage galt, zusammen ansahen. M+M teilten die jeweiligen Episoden zu, deren Gestaltung – außer der Medienform Film – völlig frei war. Bei der Zuteilung wurden allerdings die jeweiligen Ausdrucks- bzw. Verfahrensweisen der Künstler berücksichtigt. Schon bei der Auswahl der am Projekt Mitwirkenden hatten M+M auf eine gewisse Affinität zum (surrealistischen) Thema und seinen Methoden geachtet, wobei die einzelnen Künstler durchaus unterschiedliche inhaltliche und produktionsbezogene Fokusse haben. Die Filme für die Ausstellung wurden schließlich weltweit gedreht, was sich eher zufällig ergab und von M+M im Vorfeld nicht geplant wurde. Über dem gesamten Projekt stand stets folgende Frage: Welche Widersprüche können durch eine solche Gemeinschaftsarbeit bzw. durch die disparaten Episoden auch heute noch verbunden bzw. sichtbar gemacht werden? Dabei ging es M+M nicht mehr vordergründig um gegensätzliche ‚Welten‘, wie Traum und Wirklichkeit, die es zu überwinden bzw. verbinden gilt. Brüche und Widersprüche verortete Der Stachel des Skorpions unter anderem in der Welt der sozialen Medien (als andere Art von Wirklichkeit). Darüber hinaus handelt das Filmprojekt von (politischen und territorialen) Widersprüchen, die mit Auseinandersetzungen in verschiedenen Krisenherden der Gegenwart zusammenhängen. Dabei
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steht weiterhin der Versuch im Vordergrund, mit dem Collageprinzip des cadavre exquis unterschiedliche Perspektiven sowie unterschiedliche Themen ohne Rücksicht auf den clash, der bei einem solchen Zusammentreffen passieren kann, zu einem Gesamtkunstwerk zu montieren. Denkfigur und Techniken des Schnitts Im Hinblick auf den Fokus dieser Arbeit ist es vor allem der Schnitt in Bezug auf den Filmschnitt, die Collage und Montage sowie die metaphorische bzw. allegorische Deutung, die hier anhand der einzelnen Filme und des Gesamtprojekts betrachtet werden sollen. Tobias Zielonys Einstieg entspricht dem Dokumentationsabschnitt über die Skorpione und wurde in Ramallah gedreht. Hierbei verknüpft Zielony Dokumentation und subjektive Autorenschaft. In seiner in Schwarzlicht gedrehten Episode zeigt er Mädchen, die im Rahmen einer (Biologie-)Unterrichtsstunde tote Skorpione untersuchen und sezieren, die sie anschließend durch Animation in einer psychedelisch anmutenden Trickfilmszene wieder lebendig werden lassen. Die vermeintliche Naturkunde über Skorpione entpuppt sich als Unterricht über Film, indem die Bedingungen filmischer Illusion offengelegt werden. Der zweite Film, von Chicks on Speed, übernimmt die Banditenszene aus L’Âge d’or; er wurde in der Wüste Australiens gedreht. Das vordergründige Thema handelt von Landnahme und Neokolonialismus. Hier überschreiben die KunstfilmerInnen die Darstellung des Banditenanführers – im Original gespielt von Max Ernst – und seiner maroden Truppe durch ihre eigene Gruppenselbstdarstellung. In ihren durch digitale Manipulation entstandenen flirrend-farbigen Panoramabildern erscheinen Chicks on Speed in futuristischen Kostümen. Solche Überlagerungen von Elementen und Motiven erinnern teilweise an Werbeplakate bzw. Werbung, die sie wiederum dekonstruieren. M+M haben den dritten Abschnitt aus der historischen Vorlage übernommen, der die Gründung Roms beinhaltet. Ihre Episode dreht sich jedoch um die Störung der Liebenden. Dabei können die beiden Protagonisten in ihrem Film durch zeitliche und räumliche Verschränkungen und Parallelen bzw. Distanzierungen und Fragmentarisierungen auch als eine Person wahrgenommen werden. Der mit Infrarotkameras gedrehte Film entstand in München auf dem Grundstück der Villa Stuck und bei den Bavaria Film Studios. Die Hauptdarstellerin, die von Birgit Minichmayr gespielt wird, trägt während ihrer medienwirksamen Abführung die goldenen Boots, die schon zuvor in der zweiten Episode zu sehen waren. Ein MacGuffin, wenn man so will, und eine bewusste Erinnerung an den zeichnerischen Ursprung des cadavre exquis-Spiels in den 1920er Jahren, bei
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dem die Surrealisten stets Linien stehen ließen, sodass daran angeknüpft werden konnte. Eine Stilfigur, die sich auch im Projekt von 2014 weiterzieht: Im nächsten Teil von Keren Cytter läuft im Fernseher des Saloons eine von M+M gedrehte Sequenz (jene mit Hund); sie verdeutlicht erneut, inwiefern bewusst ausgewählte Objekte bzw. Motive als Bindeglieder weitergereicht wurden. Ein typisch surrealistisches Stilmittel lässt sich ebenso in der Rauminszenierug von M+M erkennen. Der Raum setzt sich collageartig zusammen, die Hauptprotagonisten (Mann und Frau) sind entweder auf zeitlicher oder räumlicher Ebene miteinander verbunden, aber nie auf beiden Ebenen zugleich (wie das Pflaster im Gesicht des Mannes verdeutlicht). Raum und Zeit wirken dadurch verzerrt, selbst wenn es Verbindendes gibt wie Geräusche, die die Protagonisten gleichermaßen hören, etwa die Kuhglocken, die eine weitere Reminiszenz an das historische Werk sind. Zur Destabilisierung des Raum-Zeit-Gefüges trägt noch der plakative Einsatz von found footage-Material bei, das im Hintergrund läuft. Eine solche betonte Darstellung der Raumebene mit sehr eigenwilligen Perspektiven erinnert teilweise an Freskenmalereien des Trecento, beispielsweise von Giotto. Keren Cytters grell ausgeleuchtete Bilder zeigen die amour fou, die bereits vorbei ist. Hier scheint das Thema Gewalt und Alltag die Leidenschaft längst besiegt zu haben. Die Episode spielt in einer Bar namens Rose Garden, die an einen Saloon aus Westernfilmen erinnert, und übernimmt den Abschnitt des Empfangs bzw. des Festes. Spielen in Buñuels Filmpassage Fetischobjekte, wie das vom Mann mitgebrachte Kleid, und Gewaltimaginationen eine zentrale Rolle, inszeniert Cytter dies durch Alltagserotik und exzessive Gewaltmotive. Julian Rosefeldts Schwarzweißbilder der nächsten Episode erinnern an die écriture automatique in dem Sinne, dass er in gleichsam fließenden Kamerabildern sowohl auf technischer wie inhaltlicher Ebene Gegensätze aufeinanderprallen lässt, die zudem auf assoziativer Ebene weitere Montagen von Gegensätzen sowie Metaphern erzeugen. Rosefeldts Film spielt in den 1920er Jahren in Berlin und wurde im Studio Babelsberg gedreht. Die erste Szene beginnt damit, dass Modot (so heißen der Protagonist hier und der Schauspieler in L’Âge d’or)22 auf eine Fensterbank gelehnt sinnierend in Daunenfedern wühlt. Anders als Modot aus der historischen Vorlage, der nach einem Eifersuchtswahn einen Bischof, einen brennenden Busch und anderes aus dem Fenster wirft, stürzt sich in Rosefeldts Sequenz Modot selbst aus dem Fenster. Er landet neben dem verkohlten Busch und dem Bischofsstab (die wir nicht haben fallen sehen). Die nächste Einstellung zeigt ihn auf der Straße, wo Chaos, Belagerungsatmosphäre und offensichtlich
22 Beil/Buhrs/M+M (Hrsg.): Der Stachel des Skorpions. Ein Cadavre Exquis nach Luis Buñuels »L’Âge d’or«, a. a. O., S. 205.
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keine soziale oder logische Ordnung mehr herrschen. Modot kehrt im Nachtclub Deep Gold ein, in dem völlige individuelle Freiheit und erotische Freizügigkeit gefeiert werden. Auf der Bühne gibt es laszive Tanz-, Gesangs- und BurlesqueShows. Als die Kamera einem Travestie-Darsteller durch den Hinterausgang folgt, kommt sie an einem Dalí-Double vorbei, um gleich darauf mitten auf dem Filmset zu landen. Rosefeldt legt hier gewollt nüchtern und in einer Kippfigur den filmischen Illusionismus bloß, indem der Zuschauer Einblick ins (inszenierte) Set erhält, inklusive Mobiklo für die Crew und Kulissengerüsten als Trennwänden zwischen der Filmillusion und der Seite ihrer Produktion, während Richard Wagners Isoldes Liebestod gespielt wird. Das Kameraauge gibt zudem den Blick auf eine Kostümbildnerin frei, die am Rand des Sets sitzt, wo sie einen abgerissenen Stoffpenis wieder an ein Kostüm näht. Der Kastrationskomplex und die Metapher des Schnitts lassen sich kaum augenfälliger in Szene setzen. Die Diegese am Schluss beinhaltet dann ‚sanfte‘ Schnitte, die den nächsten Zeitund Raumsprung ankündigen: In einem Schaufenster betrachtet Modot ein Miniaturschloss inmitten gebirgiger Winterlandschaft. Davor fährt im Tal eine ultramoderne Modelleisenbahn mit der Aufschrift „lust is a force“ – die Überleitung zum Chateau de Selliny, zum Finale. John Bocks Episode knüpft schließlich an die 120 Tage von Sodom von Marquis de Sade23 an und stellt damit den sechsten Teil des Skorpionschwanzes, den giftigen Stachel, dar. Anders als Buñuels Abschnitt, der den Duc de Blangis in Gestalt von Jesus zeigt, als dieser das Schloss verlässt, sind wir bei Bock im Inneren des Schlosses. Seine Themen, Kirche, Sex, Kastration oder Moral, werden in Form von Theaterschauspiel bzw. durch Theaterrequisiten dargestellt. Bock erzeugt damit eine künstlich-surreale Welt, die im Künstleratelier entstanden ist. Der Stachel des Skorpions spannt damit denselben Genre-Bogen wie seine Vorlage: von (einmal echter, einmal gespielter) Dokumentation über realistischillusionistische Szenen und deren gezielten Bruch mit der (imaginären) Identifikation bis zum ostentativ Theatralen. Es wurde zudem evident, dass der Schnitt, der in Bezug auf den Filmschnitt, die Collage und Montage im cadavre exquis von 2014 untersucht wurde, als zentrales Mittel des zeitgenössischen Filmprojekts gelten kann. Dessen Künstler lassen damit wie ihre Vorläufer im Surrealismus den sogenannten poetischen Funken entstehen, der wiederum zu weiterführenden Deutungen, Aussagen, Gedanken animiert. Der Schnitt bzw. Bruch ist im Gemeinschaftswerk naheliegenderweise noch vielfältiger und offener als bei
23 Sade, Marquis de: Die 120 Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung [Les 120 journées de Sodome ou L’École du Libertinage; verfasst 1785, frz. EA. 1904], aus dem Französischen übersetzt von Karl von Haverland, Köln 2006.
Materielle Spuren surrealistischer Verfahren | 261
Buñuel. Er tritt hier wie dort in Form von semantischer Inkohärenz der verschiedenen Teile sowie durch inhaltliche und diegetische Widersprüche auf. Hinzu kommen 2014 noch die sehr differenten Bildsprachen und verschiedenen Kombinationsverfahren der einzelnen Künstler sowie auf der Mathildenhöhe die räumliche Trennung im Ausstellungsparcours. Die Rezeption des surrealistischen Films in der Gegenwart ist ebenfalls eine veränderte, und so erscheint es, dass die Mechanismen des Unbewussten bzw. der Traumdeutungen weniger durch die Verknüpfungsprinzipien zum Ausdruck kommen, die die einzelnen Künstler einsetzten, sondern vor allem die Inszenierungen des Ausstellungsparcours dazu beitrugen, dass der Zuschauer die disparaten Teile miteinander verknüpft hat und so die genannten Mechanismen nachvollziehbar wurden. Ein Grund für die veränderte Rezeption liegt gewiss auch beim Zeitbezug, der teils andere Assoziationen eröffnet und Metaphern entstehen lässt. Bei Zielony etwa wird die Metapher des Sezierens (eine Reminiszenz an die surrealistische Vorliebe für die Zerstückelung von Körpern) anschließend im Animationsfilm zur Metapher des Filmschnitts. Bei Chicks on Speed fällt die Deutung des Schnitts allegorisch in Richtung popkultureller Neoliberalismus aus, und bei M+M scheinen die Assoziationen, die mit dem Schnitt vor allem über die collagierte Raumebene geknüpft werden können, mit dem „schwebenden Dilemma der Identitäten“24 sowie mit vermeintlicher Freiheit zusammenzuhängen. Die Metapher des Schnitts ist in Cytters Episode angesichts brutaler Gewalt vor allem mit Schock bzw. der Gewaltverdrängung verbunden. Rosefeldts Montagen von Gegensätzen und Extremen scheinen auf die Verblüffung bürgerlicher Gesellschaft und ihre Desorientierung abzuzielen, und Bocks „Schauspiel eiternder Instinkte und Nachkommen eines Furunkels“25 evoziert eine Metapher des Schnitts, die vor allem mit Modellen der Kastrationsangst oder mit Fetischtheorien in Verbindung gebracht werden kann. Der Schnitt ist also auch in den jüngsten Interpretationen von Buñuels surrealistischem Schlüsselwerk mehr als Handwerk – er ist eine Denkfigur, die vielfältige künstlerische Prozesse und nicht zuletzt die Rezeption der Werke prägt. Vor dem Hintergrund der Psychoanalyse erscheint Buñuels L’Âge d’or als revolutionär, da der Film (als Programm) die Mechanismen des Unbewussten für den Zuschauer nachvollziehbar werden ließ. Ebenso aufrüttelnd war damals – in einer Zeit zwischen Restauration und Wirtschaftskrise – die gesellschaftskritische Dimension des Films. Dies gelingt Buñuel unter anderem, indem er den Zu-
24 Beil/Buhrs/M+M (Hrsg.): Der Stachel des Skorpions. Ein Cadavre Exquis nach Luis Buñuels »L’Âge d’or«, a. a. O., S. 161. 25 Zitiert nach John Bock, ebd.
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schauer durch Verknüpfungsprinzipien – in einer Zeit, als Film noch als realitätsabbildendes Medium galt – mit dem glaubwürdigen falschen Bild im Film konfrontierte. Auch wenn Der Stachel des Skorpions surrealistische Verfahren anwendet, weiterentwickelt und teils mit aktuellen Themen unterfüttert, bleibt der Effekt des Episodenfilms doch hinter dem von L’Âge d’or zurück. Schockwirkung und Desorientierung sind angesichts multimedial geschulter Seherfahrungen in liberalen westlichen Gesellschaften schwerer zu erreichen. Außerdem bleiben die historischen Verweise in Der Stachel des Skorpions als solche spürbar bestehen. Dennoch scheinen der Schnitt als Denkfigur und gerade das Inkohärenzen provozierende Montageverfahren des cadavre exquis heute passender denn je, um abgestumpfte Sehgewohnheiten zu irritieren und aufzubrechen, um sich jenseits der Oberfläche der Dinge auf die Suche nach einer anderen Wirklichkeit zu machen.
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XIII. Abbildungen
Abb. 1: Giorgio de Chirico, Mystère et mélancolie d’une rue, 1914, Öl auf Leinwand
Abb. 2: John Heartfield, Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen, 1932, Fotografie, Fotomontage
Abb. 3: André Breton, Nadja Doppelseite 46/47, Veröffentlichung 1928
Abb. 4: Max Ernst, Dada Degas, ca. 1920, Collage und Gouache
Abb. 5: Max Ernst, La Chanson de la chair, 1920, Collage mit Fototeilen, Gouache und Bleistift auf Karton
Abb. 6: Max Ernst, Blät-
Abb. 7: Max Ernst, aux 100.000 colombes, 1925,
tersitten (Histoire natu-
Grattage, Öl auf Leinwand
relle, Bl. 18), 1926, Lichtdruck nach BleistiftFrottage, und Bleistift auf Karton
Abb. 8: Max Ernst, Das
Abb. 9: Max Ernst, Das
Meer und der Regen (His-
geimpfte Brot (Histoire
toire naturelle, Bl. 1),
naturelle, Bl. 23), 1926,
1926, Lichtdruck nach
Lichtdruck nach Blei-
Bleistift-Frottage
stift-Frottage
Abb. 10: Max Ernst,
Abb. 11: Max Ernst, Die
Abb. 12: Max Ernst, Die
Die Narben (Histoire
Vogelscheuchen (Histoire
Vertraulichkeiten (His-
naturelle, Bl. 15),
naturelle, Bl. 13), 1926,
toire naturelle, Bl. 9),
1926, Lichtdruck nach
Lichtdruck nach Bleistift-
1926, Lichtdruck nach
Bleistift-Frottage
Frottage
Bleistift-Frottage
Abb. 13: Max Ernst, Eva,
Abb. 14: Max Ernst, Blitze
Abb. 15: Max Ernst, Das
die einzige, die uns bleibt
unter 14 Jahren (Histoire
Erdbeben (Histoire natu-
(Histoire naturelle, Bl. 34),
naturelle, Bl. 24), 1926,
relle, Bl. 5), 1926,
1926, Frottage
Frottage
Frottage
Abb. 16: Man Ray, Untit-
Abb. 17: Man Ray, Untitled
Abb. 18: Man Ray, Untitled
led Rayograph (Les
Rayograph (Les Champs
Rayograph (Les Champs
Champs délicieux, Bl. 7),
délicieux, Bl. 10), 1922,
délicieux, Bl. 4), 1922, Sil-
1922, Silbergelatineabzug
Silbergelatineabzug
bergelatineabzug
Abb. 19: Man Ray, Untit-
Abb. 20: Man Ray, Untitled
Abb. 21: Man Ray, Untit-
led Rayograph (Les
Rayograph (Les Champs
led Rayograph (Les
Champs délicieux, Bl. 2),
délicieux, Bl. 5), 1922,
Champs délicieux, Bl. 9),
1922, Silbergelatineabzug
Silbergelatineabzug
1922, Silbergelatineabzug
Abb. 22: Man Ray, The
Abb. 23: Man Ray, Ohne
Abb. 24: Man Ray, Ohne
Manikin, 1923, Rayogra-
Titel, 1923, Rayografie
Titel, 1923, Rayografie
fie
Abb. 25: Man Ray, Untit-
Abb. 26: Man Ray, Oh-
Abb. 27: Man Ray, Untit-
led Rayograph (Les
ne Titel, ca. 1921, Ra-
led Rayograph (Les
Champs délicieux, Bl. 12),
yografie
Champs délicieux, Bl. 1),
1922, Silbergelatineabzug
1922, Silbergelatineabzug
Abb. 28: Man Ray, Untit-
Abb. 29: Man Ray, Ohne Ti-
Abb. 30: Man Ray, Untit-
led Rayograph (Les
tel, 1921, Fotogramm mit
led Rayograph (Les
Champs délicieux, Bl. 8),
Laborutensilien
Champs délicieux, Bl. 3),
1922, Silbergelatineabzug
1922, Silbergelatineabzug
Abb. 31: Luis Buñuel, Szenen aus „Un Chien andalou“ (Frankreich 1929). Aus dem Prolog: Die Sequenz im Film zählt 12 Einstellungen.
Abb. 32: Luis Buñuel, Szene aus „Un Chien andalou“ (Frankreich 1929), 01:57: Der Fahrradfahrer trägt Kleidung, die auf das männliche (Krawatte) und weibliche (Volant von Haube, Kragen und Schürze) Geschlecht hindeutet.
Abb. 33: Luis Buñuel, Szenen aus „Un Chien an-
Abb. 34: Luis Buñuel,
dalou“ (Frankreich 1929), 05:21, 05:23, 05:24,
Szenen aus „Un Chien
05:28, 05:31, 05:40: An dieser Stelle bildet eine
andalou“ (Frankreich
Aneinanderreihung von runden, konkaven und
1929), 18:08, 18:12,
konvexen Motiven einen Übergang zwischen der
18:21
Wohnung und der Straße darunter.
Abb. 35: Luis Buñuel, Szene aus „Un Chien andalou“ (Frankreich 1929), 20:51: In dieser Einstellung werden die Fruchtbarkeit („Im Frühling“) mit dem Tod (tote und zerfressene Augen) verknüpft.
Abb. 36: Luis Buñuel, Szene aus „Un Chien
Abb. 37: Luis Buñuel, Szenen aus „L’Âge
andalou“ (Frankreich 1929), 02:48: Jan Ver-
d’or“ (Frankreich 1930), 01:07, 02:03,
meer, Die Spitzenklöpplerin, ca. 1669, in „Ein
02:26, 03:20: Dokumentationsszenen in
andalusischer Hund“, 1929.
„Das goldene Zeitalter“, 1930.
Abb. 38: Luis Buñuel, Szene aus „L’Âge
Abb. 39: Luis Buñuel, Szene aus „L’Âge
d’or“ (Frankreich 1930), 32:24
d’or“ (Frankreich 1930), 1:01:03: Die Kulisse im Film ändert sich und wird theatral-irreal.
Abb. 40: René Mag-
Abb. 41: René Magri-
ritte, La Reproduc-
tte, La Condition hu-
tion interdite, 1937,
maine, 1933, Öl auf
Öl auf Leinwand
Leinwand
Abb. 42: Luis Buñuel, Szene aus „L’Âge
Abb. 43: Salvador Dalí, Les Plaisirs illumi-
d’or“ (Frankreich 1930), 26:58
nés, 1929, Öl und Collage auf Hartfaserplatte
Abb. 44: Salvador
Abb. 45: Salvador Dalí, Dormeuse,
Dalí, L’Homme
cheval, lion invisibles, 1930, Öl auf
invisible, 1929-32,
Leinwand
Öl auf Leinwand
Abb. 46: Salvador
Abb. 47: Salvador Dalí, Le
Dalí, Schmetterlings-
Grand paranoïaque, 1936, Öl
jagd Seite 149, 1930
auf Leinwand
Abb. 48: Salvador
Abb. 49: Salvador Dalí, Métamorphose de
Dalí, Espagne,
Narcisse, 1937, Öl auf Leinwand
1938, Öl auf Leinwand
Abb. 50: Jan Vermeer
Abb. 51: Salvador Dalí,
van Delft, Brieflezend
L’Image disparaît, 1938,
meisje bij het venster,
Öl auf Leinwand
ca.1657, Öl auf Leinwand
Abb. 52: Klassisches
Abb. 53: Salvador Dalí, Er-
Kippbild ‚Hasen-Ente‘
scheinung einer Figur von
von Joseph Jastrowon
Vermeer im Gesicht Abraham Lincolns. Studie für „Das Bild verschwindet“, 1938, Bleistift auf Papier
Abb. 54: Jan Vermeer van
Abb. 55: Jean-François Millet, L’Angé-
Delft, Brieflezende vrouw in
lus, ca. 1857, Öl auf Leinwand
het blauw, ca.1662, Öl auf Leinwand
Abb. 56: Salvador Dalí, Hommage à Millet, 1934, Feder
XIV. Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Giorgio de Chirico, Mystère et mélancolie d’une rue (Geheimnis und Melancholie einer Straße), 1914, [Standort nicht angegeben] (ArteMIS, Ludwig-Maximilians-Universität München, Kunsthistorisches Institut, LudwigMaximilians-Universität München) Abb. 2: John Heartfield, Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen, 1932 (Diathek online, Technische Universität Dresden, Institut für Kunstgeschichte) Abb. 3: André Breton, Nadja Doppelseite 46/47, Erstveröffentlichung 1928 (Diathek online, Justus-Liebig-Universität, Institut für Kunstgeschichte) Abb. 4: Max Ernst, Dada Degas, ca. 1920, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Staatsgalerie moderner Kunst München (IKARE, Martin-Luther-Universität Halle, Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas, Martin-Luther-Universität Halle, Zentralbibliothek) Abb. 5: Max Ernst, La Chanson de la chair (Das Lied des Fleisches), 1920, Musée National d’Art Moderne Paris (IKARE, Martin-Luther-Universität Halle, Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas, MartinLuther-Universität Halle, Zentralbibliothek) Abb. 6: Max Ernst, Blättersitten (Histoire naturelle, Bl. 18), 1926, Sprengel Museum Hannover (Diathek der Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Katholisch-Theologische Fakultät Münster, Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Abb. 7: Max Ernst, aux 100.000 colombes (Zu den 100.000 Tauben), 1925, Privatsammlung (IKARE, Martin-Luther-Universität Halle, Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas, Martin-Luther-Universität Halle, Zentralbibliothek)
296 | Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus
Abb. 8: Max Ernst, Das Meer und der Regen (Histoire naturelle, Bl. 1), 1926, Sprengel Museum (Hannover Diathek der Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Katholisch-Theologische Fakultät Münster, Westfälische WilhelmsUniversität Münster) Abb. 9: Max Ernst, Das geimpfte Brot (Histoire naturelle, Bl. 23), 1926, Sprengel Museum Hannover (Diathek der Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Katholisch-Theologische Fakultät Münster, Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Abb. 10: Max Ernst, Die Narben (Histoire naturelle, Bl. 15), 1926, Sprengel Museum Hannover (Diathek der Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Katholisch-Theologische Fakultät Münster, Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Abb. 11: Max Ernst, Die Vogelscheuchen (Histoire naturelle, Bl. 13), 1926, Sprengel Museum Hannover (Diathek der Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Katholisch-Theologische Fakultät Münster, Westfälische WilhelmsUniversität Münster) Abb. 12: Max Ernst, Die Vertraulichkeiten (Histoire naturelle, Bl. 9), 1926, Sprengel Museum Hannover (Diathek der Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Katholisch-Theologische Fakultät Münster, Westfälische WilhelmsUniversität Münster) Abb. 13: Max Ernst, Eva, die einzige, die uns bleibt (Histoire naturelle, Bl. 34), 1926, Max-Ernst-Kabinett Brühl (RUDI, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Kunsthistorisches Institut, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) Abb. 14: Max Ernst, Blitze unter 14 Jahren (Histoire naturelle, Bl. 24), 1926, Sprengel Museum Hannover (Diathek der Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Katholisch-Theologische Fakultät Münster, Westfälische WilhelmsUniversität Münster) Abb. 15: Max Ernst, Das Erdbeben (Histoire naturelle, Bl. 5), 1926, Sprengel Museum Hannover (Diathek der Arbeitsstelle für christliche Bildtheorie, Katholisch-Theologische Fakultät Münster, Westfälische Wilhelms-Universität Münster) Abb. 16: Man Ray, Untitled Rayograph (Les Champs délicieux, Bl. 7), 1922, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou Paris (DadaWeb, Universität zu Köln, Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln) Abb. 17, 19, 20, 21, 25, 27, 28, 30: Man Ray, Untitled Rayograph (Les Champs délicieux, Bl. 10, 2, 5, 9, 12, 1, 8, 3), 1922, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou Paris
Abbildungsverzeichnis | 297
Abb. 18: Untitled Rayograph (Les Champs délicieux, Bl. 4), 1922, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou Paris (Digitale Diathek, Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Kunstgeschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen) Abb. 22: Man Ray, The Manikin, 1923, aus Les feuilles libre, Paris, Nr. 40, Mai - Juni 1925 (Schwarz, Arturo: Man Ray [Man Ray, The Rigour of Imagination, 1977], München 1980, S. 251, Abb. 405) Abb. 23, 24: Man Ray, Ohne Titel, 1923 (Kat.: Man Ray. 1890 - 1976. Sein Gesamtwerk [Perpetual Motif: The Art of Man Ray, 1988], hrsg. von Merry Foresta, Kilchberg/Zürich 1994, Abb. 152, 155) Abb. 26: Man Ray, Ohne Titel, 1921 (Foresta 1994, Abb. 116) Abb. 29: Man Ray, Ohne Titel, 1921, Paris Abb. 31: Luis Buñuel, Un Chien andalou (Frankreich 1929), Doppelseite 66/67 (Williams, Linda: Figures of desire, Berkeley/Los Angeles 1997, S. 66-67) Abb. 32, 33, 35: Luis Buñuel, Un Chien andalou, (Frankreich 1929), Cursos de Cinema Fantástico, unter: https://www.youtube.com/watch?v=054OIVlmjUM (abgerufen am 22.06.2017) Abb. 34, 36: Luis Buñuel, Un Chien andalou (Frankreich 1929), Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn (Kat.: Buñuel! Auge des Jahrhunderts, hrsg. von David Yasha, Bonn 1994, S. 140, S. 255) Abb. 37, 38, 39, 42: Luis Buñuel, L’Âge d’or (Frankreich 1930), Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn (Yasha, 1994, S. 384-385, S. 397, S. 407, S. 395) Abb. 40: René Magritte, La Reproduction interdite (Reproduktion untersagt), 1937, Museum Boymans-van Beuningen Rotterdam (ArtICON, Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Kunstpädagogik, Justus-Liebig-Universität Gießen) Abb. 41: René Magritte, La Condition humaine (Die Beschaffenheit des Menschen), 1933, National Gallery Washington, D.C. (ArtICON, Justus-LiebigUniversität Gießen, Institut für Kunstpädagogik, Justus-Liebig-Universität Gießen) Abb. 43: Salvador Dalí, Les Plaisirs illuminés (Die illuminierten Freuden), 1929, The Museum of Modern Art New York, Sammlung Sidney und Harriet Janis 1957 (Kat.: Dalí. Das malerische Werk, 1904-1946, hrsg. von Descharnes, Robert/Néret, Gilles, Köln 2005, S. 149, Abb. 326) Abb. 44: Salvador Dalí, L’Homme invisible (Der unsichtbare Mann), 1929-32, Museo Nacional Reina Sofía, Schenkung Dalís an den spanischen Staat
Abbildungsverzeichnis | 299
Abb. 55: Jean-François Millet, Das Angelus-Läuten, ca. 1857, Musée d’Orsay Paris (HeidICON – Europäische Kunstgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Universitätsbibliothek, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) Abb. 56: Salvador Dalí, Hommage à Millet, 1934, The Salvador Dalí Museum St. Petersburg (Fla.), ehemals Sammlung E. und A. Reynolds Morse (Descharnes/Néret 2005, S. 212, Abb. 474)
XV. Bildnachweis
Abb. 1: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/artemis-bcf8413f2 4e862abefa942b78add43a2ab8d8313 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Archiv des Instituts für Kunstgeschichte der LMU München/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 2: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/dresden-5f27517f a789a6d5b8e55d4e7d3afd0d76a4c5c6 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (© The Heartfield Community of Heirs/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 3: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/digidia-f29ce5d09f d372d409e0cea390f25980e9769e7d [letzter Zugriff: 27.08.2018] (André Breton: Nadja, aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 46-47/ © VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 4: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/halle_kg-b5cd7965 65a34f6a1d407b32a2b8b7c43b386160 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Kat.: Max Ernst. Collagen, Inventar und Widerspruch, hrsg. von Werner Spies, Köln 1988, Abb. 29/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 5: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/halle_kg-ba120acc aee108562a2e408eccd481b4333a9d1b [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Spies 1988, Abb. 23/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 6: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/kgerlangen-17db 86ec234fb649beea4fe05eba31e867235cc2 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Orchard, Karin [Hrsg.]: Die Erfindung der Natur. Max Ernst, Paul Klee, Wols und das surreale Universum, Freiburg im Breisgau, Rombach 1994, S. 185 | Diathekssignatur: 27 E1 26/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 7: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/halle_kg-1f4b2f54 437ff9037692b60213c650a1172b688c [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Kat.: Max Ernst, Retrospektive, hrsg. von Werner Spies, Köln 1979, S. 48, Abb. 14/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018)
302 | Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus
Abb. 8: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/muenster_theologie -706cd8e132987a4ee9e5b07ce5dea13e74d2fbdf [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Orchard 1994, S. 168 | Diathekssignatur: 27 E1 09/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 9: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show_athene_search/mue nster_theologie-fc5ab04944f17da73bb33362fb70110494afb251 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Orchard 1994, S. 190 | Diathekssignatur: 27 E1 31/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 10: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/muenster_theolo gie-fc5ab04944f17da73bb33362fb70110494afb251 [letzter Zugriff: 27.08. 2018] (Orchard 1994, S. 182 | Diathekssignatur: 27 E1 23/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 11: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/muenster_theolo gie-a8d0be18ec630b3a7dd117596afc00669aff0a12 [letzter Zugriff: 27.08. 2018] (Orchard 1994, S. 180 | Diathekssignatur: 27 E1 21/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 12: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/muenster_theolo gie-e8d4d02f221e4540ab30a64330b48620a13b1f7a [letzter Zugriff: 27.08. 2018] (Orchard 1994, S. 176 | Diathekssignatur: 27 E1 17/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 13: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/kgerlangen-2ae55 4850917a7cd4b181e01dff1f14e9f7a4186 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Orchard 1994, S. 201, Abb. 185/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 14: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/muenster_theolo gie-844f3f0cc93a6ce67e16ef2f05ddc8772fe8dc4c [letzter Zugriff: 27.08. 2018] (Orchard 1994, S. 191, Abb. 175 | Diathekssignatur: 27 E1 32/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 15: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/muenster_theolo gie-3833d80716a4efa62055fcad9f0590f5a8846bee [letzter Zugriff: 27.08. 2018] (Orchard 1994, S. 172, Abb. 156| Diathekssignatur: 27 E1 13/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 16: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/dadaweb-bd5e5c0 1dd11ac2771712267f78a65f616866df2 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Frizot, Michel (Hrsg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 446/© Man Ray Trust, Paris/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 17, 19-21, 25, 27, 28, 30: http://dadasurr.blogspot.com/2011/09/manray-les-champs-delicieux-1921-1922.html [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Schwarz, Arturo: Man Ray [Man Ray. The Rigour of Imagination, 1977],
Bildnachweis | 303
München 1980, S. 248-249/© Man Ray Trust, Paris/ VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 18: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/digidia-6c3aa74c8 4092b004fd4700a76721e8c520ababb [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Foresta, Merry (u.a.): Man Ray 1890-1976. Sein Gesamtwerk, Schaffhausen: Edition Stemmle 1989, S. 186/© Man Ray Trust, Paris/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 22: Schwarz, Arturo: Man Ray [Man Ray. The Rigour of Imagination, 1977], München 1980, S. 251, Abb. 405 (© Man Ray Trust, Paris/VG BildKunst, Bonn 2018) Abb. 23: https://artblart.files.wordpress.com/2014/09/man-ray-rayograph-web. jpg [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Kat.: Man Ray. 1890-1976. Sein Gesamtwerk [Perpetual Motif: The Art of Man Ray, 1988], hrsg. von Merry Foresta, Kilchberg/Zürich 1994, Abb. 152/© Man Ray Trust, Paris/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 24: Kat.: Man Ray. 1890-1976. Sein Gesamtwerk [engl. 1988], hrsg. von Merry Foresta, Kilchberg/Zürich 1994, Abb. 155 (© Man Ray Trust, Paris/ VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 26: Kat.: Man Ray. 1890-1976. Sein Gesamtwerk [engl. 1988], hrsg. von Merry Foresta, Kilchberg/Zürich 1994, Abb.116 (© Man Ray Trust, Paris/ VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 29: https://ginamoimcintosh.wordpress.com/2014/02/05/photo-gram-artistresearch-man-ray/ [letzter Zugriff: 27.08.2018] (© Man Ray Trust, Paris/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 31: Williams, Linda: Figures of desire, Berkeley/Los Angeles 1997, S. 6667 (© Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 32, 33, 35: https://www.youtube.com/watch?v=054OIVlmjUM [letzter Zugriff: 27.08.2018] (© Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/ VG BildKunst, Bonn 2018) Abb. 34, 36-39, 42: Kat.: Buñuel! Auge des Jahrhunderts, hrsg. von David Yasha, Bonn 1994, S. 140, S. 255, S. 384-385, S. 397, S. 407, S. 395 (© Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 40: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/giessen_kup-ce33 420f42e781a60ec78d8158c21b19a7f3b339 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film, München 2006, S. 114/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018)
304 | Der Schnitt als Denkfigur im Surrealismus
Abb. 41: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/giessen_kup-7370 a28224f0220ad6c070f0e521b45307e6cfdb [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Schneede 2006, S. 115/© VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 43: https://www.fink-verlag.de/detailview?no=9529 [letzter Zugriff: 27.08. 2018] (Kat.: Dalí. Das malerische Werk, 1904-1946, hrsg. von Descharnes, Robert/Néret, Gilles, Köln 2005, S. 149, Abb. 326/© Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 44: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/dadaweb-581edd b67139ba3f7bd80f012a961bdadd28153b [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Descharnes/Néret 2005, S. 147, Abb. 322/© Salvador Dalí, Fundació GalaSalvador Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 45: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/genf-8b1b9d114d edf28b476e944b4e1176be272c84fb [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Descharnes/Néret 2005, S. 161, Abb. 356/© Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 46: Dalí, Salvador: Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schriften, übersetzt von Tilbert Diego Stegmann und Brigitte Weidmann, hrsg. von Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann, Frankfurt am Main 1974, S. 149. Abb. 47: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/genf-6c6e77c44a5 98b0e34a0ff19832137cc24a31db7 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Descharnes/ Néret 2005, S. 268, Abb. 600/© Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 48: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/genf-a3d5aa13beb 7ae03e45a43eb717fa87ff4798ab3 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Descharnes/ Néret 2005, S. 312, Abb. 698/© Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 49: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/giessen_kup-f36 0971ccdb0c206f706da9cfaf44a69487801b8 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Descharnes/Néret 2005, S. 289, Abb. 645/© Salvador Dalí, Fundació GalaSalvador Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2018) Abb. 50: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/bochum_kgi-5033 6bc687eb161ee9fb0ddb8cf2b7e65bad865f [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Greub, Thierry: Vermeer oder die Inszenierung der Imagination, Petersberg 2004, S. 31, Abb. 13) Abb. 51: http://blog.ac-versailles.fr/lettresdarts/index.php/picturesShow/452928/ [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Descharnes/Néret 2005, S. 310, Abb. 693/© Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2018)
Bildnachweis | 305
Abb. 52: https://blogs.uni-paderborn.de/perspektivwechsel/2015/01/15/kippbild er-die-perspektive-wechseln/kippbild8/ [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Kuhn, Thomas S.: Struktur wissenschaftlicher Revolution [The Structure of Scientific Revolutions, 1962], Frankfurt am Main 1967, S. 126) Abb. 53: Kat.: Dalí. Das malerische Werk, 1904-1946, hrsg. von Descharnes, Robert/Néret, Gilles, Köln 2005, S. 310, Abb. 694. Abb. 54: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/halle_kg-a3574c 1685d2229fe75fde1b14e2ba1a03035db9 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Kat.: Vermeer, hrsg. von Aillaud, G./Blankert, A./Montias, J. M., Genf 1987, S. 115, Tafel XIV) Abb. 55: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/heidicon_kg-1047 b56881438260286a8e7a57e07c53445ceb19 [letzter Zugriff: 27.08.2018] (Fermigier, André: Jean-François Millet, Genf 1977, S. 9) Abb. 56: Kat.: Dalí. Das malerische Werk, 1904-1946, hrsg. von Descharnes, Robert/Néret, Gilles, Köln 2005, S. 212, Abb. 474.
Kunst- und Bildwissenschaft Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)
»Global Art History« Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft 2017, 304 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4061-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4061-2
Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)
Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3
Heike Engelke
Geschichte wiederholen Strategien des Reenactment in der Gegenwartskunst – Omer Fast, Andrea Geyer und Rod Dickinson 2017, 262 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3922-3 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3922-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kunst- und Bildwissenschaft Burcu Dogramaci, Katja Schneider (Hg.)
»Clear the Air«. Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren Interdisziplinäre Positionen 2017, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3640-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3640-0
Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas 2017, 372 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3631-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3631-8
Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.)
Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 2017, 312 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3585-0 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3585-4
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