Paradoxe Säulen - Athletik der Askese: Luis Buñuels "Simón del Desierto" und die Realität des Surrealismus 9783964564689

Buñuels Film wird hier unter verschiedensten Blickwinkeln mit dem Ziel beleuchtet, sich seiner ungeheuren Vielschichtigk

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German Pages 312 [310] Year 2019

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INHALT
Einleitung
Teil I: Ästhetisch-ethische Vorüberlegungen
Teil II: Simón del Desierto
1. Inhaltssynopse
2. Die Daten des Films
3. Simón in der Wüste der Diskurse - Zur Rezeption
4. Die petite histoire der Produktion
5. Der Film und die Quellen
6. Die zwei Typen des Dokumentarfilms
7. Das historisch-ideologische Umfeld der Vorlage
8. Personelle Verknüpfungen
9. Formale und technische Filmanalyse
10. Tonspuren: Geräusche und Musik
11. Kostüme
12. Symbole - Metaphern - Wirklichkeit
13. Themen und Motive
14. Deutungen
15. Literaturverzeichnis
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Paradoxe Säulen - Athletik der Askese: Luis Buñuels "Simón del Desierto" und die Realität des Surrealismus
 9783964564689

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Stefan Gross Paradoxe Säulen - Athletik der Askese

Stefan Gross

Paradoxe Säulen Athletik der Askese Luis Buñuels Simón del Desierto und die Realität des Surrealismus

Verlag Vervuert • Frankfurt am Main 1998

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Ginheitsaufhahme Gross, Stefan: Paradoxe Säulen - Athletik der Askese: Luis Bufluels Simón del Desierto und die Realität des Surrealismus / Stefan Gross. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1998 Zugl.: Paderborn, Univ., Habil.-Schr., 1995 ISBN 3-89354-104-7 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1998 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann, unter Verwendung eines Szenenphotos aus dem Film Simón del Desierto Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany

INHALT Einleitung Teil I: Ästhetisch-ethische Voruberlegungen 1. Der Surrealismus, das Surreale und die Künste 2. Vom Ethik-Ästhetik-Dilemma und vom wissenschaftlichen Anspruch des Surrealismus 3. Avantgarde und Postmoderne - Geschichte und Ironie 4. Breton, Bufiuel und der surrealistische Film a) Bretons Stellung zum Kino b)' Bretons Stellung zu Buñuel c) Buñuels Stellung zum Surrealismus Teil II: Simón del Desierto 1. Inhaltssynopse 2. Die Daten des Films 3. Simón in der Wüste der Diskurse - Zur Rezeption 4. Die petite histoire der Produktion 5. Der Film und die Quellen a) Simulation der Legenda aurea b) Biographisches über den Styliten c) Motive und Themen d) Psychologische Varianten 6. Die zwei Typen des Dokumentarfilms 7. Das historisch-ideologische Umfeld der Vorlage a) Das Christentum im Verhältnis zu anderen Religionen in der römischen Provinz Syrien b) Widerstreit der Kulte c) Apokalypse, Märtyrertum und Askese d) Dialektik der Askese und der Weltfremdheit e) Askesedefinitionen oder: Die Systematik des christlich-olympischen Neunkampfs f) Zeitreisen I: Askese heute g) Zeitreisen II: Thesen zur Modernität des antiken Syriens h) Symeon und die Häresien i) Symeon und die phallischen Säulen der Dea Syria. Zur Problematik kultureller Kontextualisierungen 8. Personelle Verknüpfungen

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6 9. Formale und technische Filmanalyse 181 10. Tonspuren: Geräusche und Musik 195 a) Bufiuels Überlegungen zur Filmmusik 195 b) Der Soundtrack in Simón del Desierto 200 11. Kostüme 205 12. Symbole - Metaphern - Wirklichkeit 209 a) Falsche Fährten 209 b) Explosives Evangelium 210 13. Themen und Motive 212 212 a) Simón und seine Mutter - keine Psychoanalyse b) Die Askese-Disziplinen 218 c) Häresien I: ¡Viva la Apocatástasis! 221 d) Häresien II: ¡Viva Nestorio Papa! 223 e) Die heiligen Ziegen Domitila und Pelagia 225 f) Die keltiberische Herkunft des syrischen Urins 226 g) Der Gute Hirte 230 h) Männer und Bärte 231 i) Schlangen und Würmer 240 j) Paradiesischer Wohlgeruch und infernalischer Gestank 241 k) Die Eucharistie 241 1) Reisen, Zeitreisen: Der magische Flug 243 m) Verknüpfungen: Motive, Metaphern, Strategien und Themen in Verbindung mit anderen Buñuel-Filmen 245 14. Deutungen 251 a) Apokalyptische Reiter 251 b) Sakrale und profane Orte. Reale, allegorische und symbolische Zeitreisen. Antike und moderne Wüsten 259 c) Paradoxes Finale: Widersprüche in der Wüste - Dialektik der Disko ...269 15. Literaturverzeichnis 277 a) LuisBuñuel 277 b) Simón del Desierto 286 c) Surrealismus 300 d) Sonstiges 306

EINLEITUNG Die geheime Einheit zu suchen, ist Wahnsinn, und diesen Wahnsinn haben die Surrealisten immer aufs tiefste, höchste, schmerzlichste bewundert und gesucht. Antonin Artaud sagt es in seinem Buch über Heliogabal: "Heliogabal hat früh Sinn für die Einheit gehabt, die die Grundlage aller Mythen, aller Namen bildet; und sein Entschluß, sich Elagabalus zu nennen, und die Hartnäckigkeit, mit der er seine Familie und seinen Namen in Vergessenheit brachte und sich mit ihrem Schutzgott identifizierte, ist ein erster Beweis seines magischen Monotheismus, der nicht nur veibal, sondern im Handeln besteht. Diesen Monotheismus setzte er später in die Tat um. Und diesen Monotheismus, diese umfassende Einheit, die den Eigensinn und die Vielheit der Dinge einschränkt, nenne ich Anarchie. Sinn für die völlige Einheit der Dinge haben, heißt Sinn für Anarchie haben, und für die Anstrengung, die unternommen werden muß, um die Dinge zu reduzieren und in die Einheit zurückzuführen. Wer Sinn hat für die Einheit, hat auch Sinn für die Vielheit der Dinge, für diesen Staub von Aspekten, durch die man hindurchgehen muß, um sie zu reduzieren und zu zerstören." (Artaud: Heliogabal, 53/54) Die geheime Einheit zu suchen, ist aber eine gar nicht leichte Aufgabe, selbst wenn man einen einzigen Film Buñuels ein wenig genauer zu fassen bekommen will: Simón del Desierto. Einen Film in diesem Fall, der trotz aller Querverbindungen zu seinen anderen Filmen einzig dasteht im Werk des Regisseurs. Es will schon etwas heißen, wenn Buñuel selbst, der seine eigene Bedeutung und die seiner Filme fast immer heruntergespielt hat, Simón del Desierto in einem Interview anläßlich der Uraufführung während der Biennale in Venedig als ungewöhnlich und außergewöhnlich bezeichnet (Baby, in: Le Monde, 13 août 1965; vgl. Kap. zur Produktionsgeschichte). Nicht leichter wird die Aufgabe durch Buñuels Dialogverhalten in Interviews; bisweilen kann man sich da wie in den Filmen selbst nicht sicher sein, ob er gerade eine falsche Fährte legen oder sich einen anderen Jux machen will. Zudem ergänzen sich seine Aussagen bisweilen wie verstreute Teile eines Puzzles, andere wiederum scheinen verlorengegangen, andere widersprechen sich. Einer durchgehend kohärenten Analyse verweigert sich der Regisseur energisch. In einem Interview zu Simón del Desierto etwa (Cobos/De Erice: Reencuentro con Luis Buñuel, in: Griffith. Revista mensual de cine, Octubre 1965) erklärt Buñuel, daß es sich um einen Dokumentarfilm handle. Er sagt dies in solcher Ausdrücklichkeit nur in diesem einen Interview, aber da immerhin in drei Formulierungen: (1) Simón sei vor allem ein Dokumentarfilm über einen Anachoreten. (2) Der Film sei gemacht wie ein Dokumentarfilm, ausgehend von (expressis verbis genannten) Quellen. (3) Er betone noch einmal, daß es sich um einen Dokumen-

8 tarfílm handle. Ob dies nun eher als ernsthafte Aussage, spielerischer Hinweis oder falsche Fährte zu verstehen ist, sei erst einmal dahingestellt. Fest steht, daß Buñuel systematische Vorstudien zu Epoche und Objekt betrieben hat, die hier in der Überzeugung, dem Film nur so überhaupt gerecht werden zu können, rekonstruiert werden. Einerseits dabei zwar berücksichtigend, was der Regisseur zum Entstehungszeitpunkt des Films wissen konnte, andererseits aber keine künstlichen Grenzen des Wissens durch Ausblendung aller nach 1964 erschienenen Publikationen ziehend. In den Kapiteln zu Symeon dem Styliten, Syrien und dem frühen Christentum wird versucht, religionsgeschichtlich Symeon als Häretiker zu beschreiben, kulturgeschichtlich die Eunuchenpriester der syrischen Göttin als Vorläufer der christlichen Wandermönche erscheinen zu lassen, moralphilosophisch die Askese neu zu bewerten, geschlechterforschungsbezogen die syrische Wende von der Dea Syria zum Christentum als wichtigen Wendepunkt vom frauenbezogenen zum männerbezogenen Denken zu bestimmen, ideologiekritisch die eurozentrische Vorstellung der hellenisch-römischen Wurzeln des Okzidents bloßzulegen. Die symbolischen Dominanten dabei: der Sieg der Christen über die antiken Religionen bzw. Kulte, der Sieg des männlichen über das weibliche Prinzip und der Sieg der Verdrängung durch Askese über die Sexualität. Man wird davon ausgehen können, daß es Buñuel einen 'Heiden'spaß gemacht hat, für seine Fiktion eines Dokumentarfilms zu recherchieren. Zugegebenermaßen macht es jedenfalls einen 'Heiden'spaß, ihm dabei auf der Fährte zu bleiben, seine Rekonstruktionen zu rekonstruieren und etwa Publikationen wie Philippus Oppenheims Das Mönchskleid im christlichen Altertum zu entdecken - um nur dieses scheinbar abseitige Beispiel für zu verfolgende Elemente des Dokumentarischen zu nennen. Ziel und Anspruch der S/wó/i-Detailanalyse ist es, eine dem Film möglichst angemessene und dabei den Besonderheiten des Mediums möglichst vielfältig gerecht werdende Angangsweise zu liefern; Ziel und Anspruch ist es aber auch, die geheime Einheit des Buñuelschen Werks über Simón del Desierto hinaus zu suchen, Charakteristisches, Spezifisches des surrealistischen und des ganzen Buñuel - vom Chien andalou und L'Age d'or über Las Hurdes und die mexikanischen Produktionen der 50er Jahre bis zu Le Fantôme de la liberté und Cet obscur objet du désir - zu finden, dabei aber immer in der Nähe der Simónschen Säule bleibend. Letztlich soll es gleichwohl ein Buch über einen einzigen 43Minuten-Film sein. Und mit einem in bezug auf weitere Ansätze und weitere Deutungsmöglichkeiten offenen Ende.

9 Ein weiteres interessantes Kapitel wäre zum Beispiel ein Vergleich der verschiedenen Originaldrehbuchversionen - die vorliegende Arbeit beschränkt sich aber in Analyse und Deutung weitgehend auf den Film, so, wie er von Buñuel 1965 in Venedig als 'fertiger' präsentiert wurde. Auch ein Vergleich mit Rossellinis II Miracolo (1947/48) und seinem Franz von Assisi-Film Francesco guillare de Dio (1950) würde zusätzliche Aspekte ermöglichen. Impliziert ist die hier zwar nicht in der wünschenswerten Ausführlichkeit zu erörternde Frage, was Surrealismus ist, die aber auch nicht wie Ihab Hassans Frage nach der Postmoderne oder Immanuel Kants Frage nach der Aufklärung beantwortet werden soll - für den Surrealismus gibt's so etwas eh': am buchstäblichsten als Qu'est-ce que le surréalisme? auf 128 Seiten der Reihe Que sais-je? von Yvonne Duplessis. Daß es nicht sinnvoll ist, vom Surrealismus zu reden, ohne vor allem über Breton zu reden, ist dabei eine der zu erläuternden Voraussetzungen. Die science des mœurs, die Poetisierung der Welt, die Phantasie an die Macht: Ausgehend vom angestrebten Idealfall einer klassenlosen und religionsfreien Gesellschaft ohne soziale Spannungen will Breton den Alltag in allen Bereichen des Lebens aufwerten: poetisieren, profan erleuchten, sakralisieren, resakralisieren. Die Beziehungen zwischen den Menschen mit dem Ideal der Liebe, das Denken mit dem Ideal einer vorurteilsfreien, neugierigen Wissenschaft, die Künste als sinnlichste Instrumente von Erkenntnis und Verführung, die Objektrealität (die Orte, an denen man sich befindet, die Gegenstände, von denen man umgeben ist) in ihrer potentiellen Poesie und Schönheit. Poetisierung der Welt, des Alltags, des Lebens meint als Ideal, in einer aufgeklärten Gegenwart mit Technik, aber ohne Religion ein profan heiliges Diesseits erkennen und leben zu können, und es impliziert, sowohl die Nähe wie die Unabhängigkeit von transzendenten Konzepten in den Griff zu bekommen. Denn auch hier muß man an die Resultate quasi glauben, man muß sie spüren, fühlen, kann sie nicht beweisen. Man muß bereit sein, sich verführen zu lassen, die 'Initiation' in die Magie bzw. Heiligkeit des Alltags mitzuvollziehen. Schließlich eine formale Erläuterung: Insbesondere im Teil zu Buñuels Film sind einige orthographische Besonderheiten zu verzeichnen: Im Text wird grundsätzlich zwischen "Symeon", dem historischen Symeon Stylites dem Älteren aus dem 5. Jahrhundert, und "Simón", dem Protagonisten aus Buñuels Film unterschieden. Das gilt jedoch nicht für Zitate. Deshalb erscheint "Simón" in spanischen Zitaten bisweilen als "Simeón", in französischen meist als "Simon". (Letzteres gilt analog für "Trifón" bzw. "Trifon", "Matías" bzw. "Mathias" usw.) Bewußt sind teilweise lange Zitate enthalten, zum einen mit dem Zweck, damit einen Effekt von Mehrbzw. Vielstimmigkeit zu erzielen, zum anderen, da die benutzten Quellen vielfach

10 nicht der schnell greifbaren hispanistischen oder filmwissenschaftlichen Literatur entstammen und die Überprüfbarkeit der Argumentation somit leichter gewährleistet ist. Der vorliegende Text stellt die überarbeitete und gekürzte Fassung einer 1995 an der Universität Paderborn als Habilitation angenommenen Schrift dar, die zu diesem Zwecke bereits deutlich gekürzt und domestiziert war. Einige Spuren des ursprünglichen Konzepts sind geblieben. Für Anregungen und Kritik möchte ich besonders Andreas und Dorothee, Pere, Josefina, Julia, Alo und Friedmar danken sowie, auch wenn es zu spät kommt, Kerstin.

TEIL I: ÄSTHETISCH-ETHISCHE VORÜBERLEGUNGEN 1. DER SURREALISMUS, DAS SURREALE UND DIE KÜNSTE Zunächst sollen im folgenden einige der Grundbegriffe des Surrealismus als Voraussetzungen und Bedingungen für ein Reden vom "surrealistischen" Film problematisiert und diskutiert werden. Denn an der Frage, was man unter Surrealismus verstehen will, kommt man nicht vorbei, und es wären sicherlich weniger Konfusionen entstanden, wenn gewisse diesbezügliche Vorüberlegungen häufiger in der einschlägigen Literatur angestellt worden wären. Bereits in den 30er Jahren hatte Breton angesichts dessen, daß insbesondere Bildende Künstler mit dem Etikett des Surrealistischen oder Surrealen den Verkaufspreis ihrer Bilder zu steigern suchten, Überlegungen dazu angestellt, wie der Surrealismus sich vor einem solchen Mißbrauch schützen könnte. Sowohl im Französischen wie im Deutschen hat sich aber insbesondere das Wort "surréel" bzw. "surreal" mittlerweile weitgehend von seiner Herkunft gelöst: im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache der Ostberliner Akademie ist es 1980 noch nicht enthalten, im sechsbändigen Duden von 1981 steht "(bildungsspr.) traumhaft-unwirklich", im Brockhaus/Wahrig von 1984 "übernatürlich, traumhaft", im Petit Robert von 1976 wird das Adjektiv als Neologismus mit der Bedeutung "Qui est au delà du réel" erklärt und auf das gleichlautende und -bedeutende Substantiv hingewiesen. In der 1992er Ausgabe des spanischen Akademie-Wörterbuchs ist das Wort nicht verzeichnet. "Surrealistisch" bzw. "surréaliste" hingegen steht noch recht eindeutig in Abhängigkeit vom Substantiv, sowohl im französischen wie in den deutschen Wörterbüchern wird darauf verwiesen. Man könnte also sprachlich sehr wohl surreal und surrealistisch leicht auseinanderhalten - gäbe es da nicht einige weitere Komplikationen, die in den Wörterbüchern auf sehr unterschiedliche Weise gelöst werden. Der Petit Robert erwähnt unter "surréaliste" eine zusätzliche umgangssprachliche Verwendung: "Se dit de ce qui évoque l'art surréaliste (par l'étrangeté, la bizarrerie)" und zeigt, daß selbst dieses Wort sich aus seiner Bindung an den Surrealismus zu lösen beginnt. Zeigt dies nicht zuletzt durch folgende Definition des Substantivs "surréalisme": "Ensemble de procédés de création et d'expression utilisant toutes les forces psychiques (automatisme, rêve, inconscient) libérées du contrôle de la raison et en lutte contre les valeurs reçues; mouvement intellectuel révolutionnaire affirmant la supériorité de ces procédés." Ein m. E. angesichts des eingeschränkten Platzes hervorragend gelungener Versuch, möglichst viele Elemente der Sache zumindest anzuschneiden. Das stark Pauschalisierende der

12 umgangssprachlichen Verwendung des Adjektivs in Richtung auf "seltsam, bizarr" ist damit im übrigen ebenfalls deutlich gemacht. In den deutschen Beispielen läßt sich ein Unterschied zwischen den Adjektiven hingegen kaum feststellen, da die Definition des Bezugssubstantivs Surrealismus "Strömung in Kunst u. Literatur, die das Übernatürliche u. Traumhafte u. seine Verschmelzung mit der Wirklichkeit darzustellen sucht" (Beispiel Brockhaus/Wahrig) sich schlicht an das selbständig definierte "surreal" anlehnt. Solche Definition geht damit also kaum über das Niveau der französischen umgangssprachlichen Pauschalierung hinaus. Umgangssprachlich sei dabei in einem relativ weiten Sinne verstanden. Die unreflektierte Verwendung des Worts hat schon längst über die Tageskritik hinaus auch in die universitäre Kritik Einzug gehalten. Teilweise sind sicher insbesondere bei zeitweiligen Mitgliedern der Gruppe aber auch durchaus reflektierte, kommerzielle Beweggründe wie die Verwendung als Vermarktungsstrategie ursächlich. Ein Beispiel für die Verselbständigung: Ado Kyrou, Cineast, Kritiker, Sympathisant des Surrealismus, Buffuel-Fan, Regisseur einer Verfilmimg des von den Surrealisten hochgeschätzten englischen Schauerromans The Monk von Lewis auf der Basis eines Bufiuel-Carrière-Drehbuchs, etikettiert und befördert in seinem Buch Le Surréalisme au cinéma unter besonderer Berücksichtigung ihm bizarr erscheinender Elemente die halbe Filmgeschichte zum Surrealismus. Der Versuch, das Wort und die Sache seriös zu definieren, also in einer Weise, die die Intentionen und Hervorbringungen des Surrealismus bzw. der Surrealisten angemessen zur Kenntnis nimmt, bleibt gleichwohl schwierig, selbst wenn man umgangssprachliche Verwässerungen völlig unberücksichtigt läßt. Denn im Gegensatz zu traditionellen Epochenbezeichnungen wie Siglo de Oro, Barock oder Romantik, mit denen Leitlinien für überaus heterogene Erscheinungen gesetzt werden sollen, im Unterschied aber auch zu bisweilen unter der Bezeichnung Avantgarde-Strömungen zusammengefaßten Erscheinungen gibt es hier ein fest umrissenes Programm sowie einen klaren Willen zur Abgrenzung von anderen Gegenwartsströmungen (z.B. Dadaismus, Futurismus), so daß man mit völlig anderen Kriterien als bei herkömmlichen Epochendefinitionen operieren muß. Wegen der notwendigen Einbeziehung des surrealistischen Selbstverständnisses ist zunächst zu fragen: wer ist als Surrealist und insofern Auskunftgeber über das, was Surrealismus bedeutet, zu akzeptieren? Von Betroffenen ist in Autobiographien und anderen Schriften im Laufe der letzten Jahrzehnte vielfach in sehr unterschiedlicher Weise polemisch dazu Stellung bezogen worden. Aber gerade weil man in die Gruppe aufgenommen und auch wieder ausgeschieden werden konnte, weil es Abtrünnige und Reumütige, Links- und Rechtsabweichler gab, bleibt schließlich immer wieder André Breton als Gewährleistung einer Konstanz.

13 Auch wenn er oft genug kontrovers - sei es negativ als dogmatischer Papst, sei es positiv als charismatischer Vordenker und Ideengeber - dasteht, erweist er sich jedenfalls als die entscheidende Persönlichkeit, und so müssen in einer akzeptablen Definition des Surrealismus Bretons Überlegungen angemessen Eingang finden. Er war der Leiter, die Autorität der wenn auch antiautoritär ausgelegten Gruppe. Vernünftige Surrealismus-Definitionen müssen daher auch der intellektuellen Entwicklung Bretons Rechnung tragen. Es ist beispielsweise nicht zu rechtfertigen, den Surrealismus weitgehend auf die frühen Experimente mit der "écriture automatique" zu reduzieren, wie es immer wieder geschieht, bloß weil besagte automatische Niederschrift im Ersten Surrealistischen Manifest von 1924 als zentrales Verfahren des Surrealismus definiert wird. Schon wenige Jahre später spielt sie keine derart herausgehobene Rolle mehr, ist vielmehr ein Verfahren unter anderen. Es würde in diesem Rahmen zu weit führen, Bretons Entwicklung detailliert zu verfolgen. Anhand einiger Zitate sei allerdings die Spannweite seiner Überlegungen illustriert: "Le surréalisme, tel qu'à plusieurs nous l'aurons conçu durant des années, n'aura dû d'être considéré comme existant qu'à la non-spécialisation a priori de son effort. Je souhaite qu'il passe pour n'avoir tenté rien de mieux que de jeter un fil conducteur entre les mondes par trop dissociés de la veille et du sommeil, de la réalité extérieure et intérieure, de la raison et de la folie, du calme de la connaissance et de l'amour, de la vie pour la vie et de la révolution, etc." (Breton 1932: Les Vases communicants, in: Œ. C. II, 164) "En s'appliquant à coordonner les diverses démarches précédentes, le surréalisme s'est trouvé tout naturellement porté au seuil même du soi, mot qui, par opposition au mot moi dans le vocabulaire psychanalytique, sert, comme vous savez, à désigner l'ensemble des puissances très actives dérobées à la conscience en vertu de divers jugements réprobateurs. [...] C'est cette immense et sombre région du soi où s'enflent démesurément les mythes en même temps que se fomentent les guerres. Mais, me demanderez-vous, cette région par où l'aborder? Je dis que seul le surréalisme s'est préoccupé de la résolution concrète de ce problème, qu'il a vraiment mis le pied dans l'arène et pris des repères et qu'à toutes fins utiles, et qu'en vue d'une entreprise qui excédait singulièrement ses forces numériques, mais dont la nécessité lui est apparue primordiale, il a été seul à placer de loin en loin quelques vigies. Foi persistante dans l'automatisme comme sonde, espoir persistant dans la dialectique (celle d'Héraclite, de Maître Eckhardt, de Hegel) pour la résolution des antinomies qui accablent l'homme, reconnaissance du hasard objectif comme indice de réconciliation possible des fins de la nature et des fins de l'homme aux yeux de ce dernier, volonté d'incorporation permanente à l'appareil psychique de

14 l'humour noir qui, à une certaine température, peut seul jouer le rôle de soupape, préparation d'ordre pratique à une intervention sur la vie mythique qui prenne d'abord, sur la plus grande échelle, figure de nettoyage, tels sont ou demeurent bien, à ce jour, les mots d'ordre fondamentaux du surréalisme." (Breton 1942: Situation du surréalisme entre les deux guerres, in: La clé des champs, 109-110) Der Surrealismus ist in diesem Sinne keine künstlerische Bewegung, er ist vielmehr eine Wissenschaft vom menschlichen Denken und Fühlen, vom Leben, die sich allerdings für alle Arten künstlerischer Hervoibringungen in besonderem Maße interessiert, insofern diese aufschlußreiche und charakteristische Betätigungen der menschlichen Psyche darstellen. Dieser Anspruch äußert sich nicht nur in den Texten Bretons, sondern beispielweise auch in der "Lettre aux Recteurs des Universités Européennes" im 1. Jg. der Zeitschrift La Révolution surréaliste, wo es u.a. heißt: "Vous fabriquez des ingénieurs, des magistrats, des médecins à qui échappent les vrais mystères du corps, les lois cosmiques de l'être, de faux savants aveugles dans l'outre-terre, des philosophes qui prétendent à reconstruire l'esprit. Le plus petit acte de création spontanée est un monde plus complexe et plus révélateur qu'une quelconque métaphysique. Laissez-nous donc, Messieurs, vous n'êtes que des usurpateurs. De quel droit prétendez-vous canaliser l'intelligence, décerner des brevets d'Esprit? Vous ne savez rien de l'Esprit, vous ignorez ses ramifications les plus cachées et les plus essentielles, ces empreintes fossiles si proches des sources de nous-même, ces traces que nous parvenons parfois à relever sur les gisements les plus obscurs de nos cerveaux. Au nom même de votre logique, nous vous disons: La vie pue, Messieurs." (anonym, in: La Révolution surréaliste, n°3, 15.4.1925, 11) Gleichwohl oder gerade deswegen ist das Verhältnis zwischen dem Surrealismus und den Künsten ein immer gespanntes, da künstlerische Hervorbringungen wiederum nur dann ernstgenommen und als solche akzeptiert werden, wenn sie zur Wissenschaft im surrealistischen Sinne beitragen, in irgendeiner Weise also selbst surrealistisch sind. Man mag das als dogmatisch oder gar totalitär bezeichnen ein Wahrheitsanspruch ist in der Tat vorhanden, und "anything goes" wird nicht akzeptiert. Bei der Musik ist Breton am radikalsten. In einem Essay über Surrealismus und Malerei aus dem Jahre 1925 folgt nach einer einleitenden Eloge des Auges und des Sehens - zitiert seien hier nur die ersten drei Sätze: "L'œil existe à l'état sauvage. Les Merveilles de la terre à trente mètres de hauteur, les Merveilles de la mer à trente mètres de profondeur n'ont guère pour témoin que l'œil hagard qui,

15 pour les couleurs, rapporte tout à l'arc-en-ciel. Il préside à l'échange conventionnel de signaux qu'exige, paraît-il, la navigation de l'esprit." - folgender Gedankengang: "A ces divers degrés de sensations correspondent des réalisations spirituelles assez précises et assez distinctes pour qu'il me soit permis d'accorder à l'expression plastique une valeur que par contre je ne cesserai de refuser à l'expression musicale, celle-ci de toutes la plus profondément confusionnelle. En effet les images auditives le cèdent aux images visuelles non seulement en netteté, mais encore en rigueur, et n'en déplaise à quelques mélomanes, elles ne sont pas faites pour fortifier l'idée de la grandeur humaine. Que la nuit continue donc à tomber sur l'orchestre, et qu'on me laisse, moi qui cherche encore quelque chose au monde, qu'on me laisse les yeux ouverts, les yeux fermés - il fait grand jour - à ma contemplation silencieuse." (Breton: Le Surréalisme et la Peinture, in: La Révolution surréaliste, n°4, 15 juillet 1925, 26) In bezug auf die Literatur sind daher positive Beispiele wie Saint-Pol-Roux mit seinem Schild vor der Schlafzimmertür "Der Dichter arbeitet" (Breton, Œ.C.I, 319) oder negative wie die Ablehnung des realistischen Romans anhand des Satzes "La marquise sortit à cinq heures" (ebd., 314) in diesem Kontext zu sehen. Schon bald nach Erscheinen des Ersten Manifests, welches man als noch sehr literatuibezogen, ja literaturlastig ansehen kann - kein Wunder angesichts der intellektuellen Biographie Bretons - entsteht in der Gruppe eine Diskussion darüber, ob es eine surrealistische Malerei geben kann. Max Morise etwa meint im ersten Heft der Révolution surréaliste vom 1.12.1924: "(...) II est plus probable que la succession des images, la fuite des idées sont une condition fondamentale de toute manifestation surréaliste. Le cours de la pensée ne peut être considéré sous un aspect statique. Or si c'est dans le temps que l'on prend connaissance d'un texte écrit, un tableau, une sculpture ne sont perçus que dans l'espace, et leurs différentes régions apparaissent simultanément. Il ne semble pas qu'un peintre soit encore parvenu à rendre compte d'une suite d'images, car nous ne pouvons pas nous arrêter au procédé des peintres primitifs qui représentaient sur divers endroits de leur toile les scènes successives qu'ils imaginaient. Le cinéma - un cinéma perfectionné qui nous tiendrait quittes des formalités techniques - nous ouvre une voie vers la solution de ce problème." (26) Morise schrieb seine Überlegungen von der gedanklichen Voraussetzung aus, daß an künstlerisch-surrealistischen Hervoibringungen bis dahin nur der Text Les Champs magnétiques von Breton und Soupault erschienen sei, womit mißverständlich die Mitgliedschaft in der Gruppe für surrealistische Produktionen vorausgesetzt wird; und auch die Implikationen der traditionsfindenden Aufreihung

16 des Ersten Manifeste: "Swift est surréaliste dans la méchanceté. Sade est surréaliste dans le sadisme. (...) Baudelaire est surréaliste dans la morale..." usw. (Breton: Œ.C.I, 329) scheinen nicht ganz verstanden zu sein. Das Morise-Zitat soll hier im Grunde auch nur als Beleg für die Malerei-Diskussion stehen und zugleich als frühe Überlegung zu einem surrealistischen Kino. Breton wiederum veröffentlichte zwischen Juli 1925 und Juni 1926 in vier aufeinanderfolgenden Nummern der Révolution surréaliste einen großen Aufsatz mit dem Titel Le surréalisme et la Peinture. Gleich im ersten Teil wird die Frage angeschnitten: "On a dit qu'il ne saurait y avoir de peinture surréaliste. Peinture, littérature, qu'est-ce là, ô Picasso, vous qui avez porté à son suprême degré l'esprit, non plus de contradiction, mais d'évasion! Vous avez laissé prendre de chacun de vos tableaux une échelle de corde, voire une échelle faite avec les draps de votre lit, et il est probable que, vous comme nous, nous ne cherchons qu'à descendre, à monter de notre sommeil. Et ils viennent nous parler de la peinture, ils viennent nous faire souvenir de cet expédient lamentable qu'est la peinture." (Breton: op. cit., in: La Révolution surréaliste, 15.7.1925, 29). Eine polemische Entgegnung, die besagt, daß surrealistische Malerei eben mehr als Malerei ist, z.B. Beschäftigung mit dem, Erkundung des Unbewußten. Im surrealistischen Sinne also Wissenschaft. 1 Da die Einschätzung des Verhältnisses von Surrealismus und Film letztlich der Einschätzung des Verhältnisses des Surrealismus zu den Künsten allgemein weitgehend analog verläuft, hilft auch folgende definierende Stellungnahme Bretons Breton nimmt 1941 noch einmal ausdrücklich Bezug auf die Malerei-Diskussion innerhalb der Gruppe: "Anfang 1925, mehrere Monate nach der Veröffentlichung des >Surrealistischen Manifests< und mehrere Jahre, nachdem die ersten surrealistischen Texte erschienen waren, - >Les Champs magnetiques< wurden von 1919 an in der >Litterature< veröffentlicht diskutierte man noch die Möglichkeit, ob die Malerei die surrealistischen Absichten überhaupt verwirklichen könne. Manche leugneten, daß eine surrealistische Malerei möglich sei, andere neigten eher zu dem Gedanken, daß sie in einigen neueren Werken doch schon angelegt sei oder daß sie sogar schon existiere. Unabhängig davon, was sie in jenem Augenblick auf dem Gebiet des Traums Chirico schulden mochte oder im Hinblick auf die Einbeziehung des Zufalls Marcel Duchamp, Arp oder Man Ray für ihre röntgenartigen Photographien und Klee in bezug auf den partiellen Automatismus, ist es leicht von fem schon erkennbar, daß sie damals im Werk von Max Ernst bereits voll entfaltet war. Tatsächlich hat der Surrealismus seine unmittelbare Bestätigung in seinen >Collagen< von 1920 gefunden, in denen sich eine völlig neue Auffassung der anschaulichen Ordnungen niederschlägt, die dennoch dem entspricht, was schon Lautreamont und Rimbaud in der Dichtung gewollt haben." (Breton: Der Surrealismus und die Malerei, 69)

17 in bezug auf die Bildenden Künste, noch ein paar Kriterien beizutragen: "Beaucoup de ceux qui entendent parler pour les premières fois du surréalisme s'inquiètent de savoir quel critérium permet de décider qu'une œuvre plastique est surréaliste ou non. Est-il besoin de répéter que ce critérium n'est pas d'ordre esthétique?" (Comète Surréaliste, in: La Clé des champs, 155) Ich unterbreche das Zitat hier, um ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, daß Breton dieses negative Kriterium an den Anfang setzt, vermutlich, weil es hier immer schon die meisten Mißverständnisse gegeben hat. Er fährt fort, und die Argumentation wird nun vorsichtiger, komplizierter und weniger leicht faßbar: "Très sommairement on peut dire que le champ plastique du surréalisme est limité par le 'réalisme' d'une part, par Tabstractivisme' d'autre part. Non surréaliste, et à notre sens aujourd'hui régressive, toute œuvre tournée vers le spectacle quotidien des êtres et des choses, c'est-à-dire participant immédiatement du mobilier animal, végétal et minéral qui nous entoure quand bien même celui-ci serait rendu optiquement méconnaissable par la 'déformation': l'œuvre surréaliste bannit résolument tout ce qui est du ressort de la perception simple, quelque spéculation intellectuelle qui se greffe sur elle pour en modifier l'apparence." (ebd., 155-156) Breton bringt im Anschluß daran hierfür Beispiele wie den Anemonenstrauß oder den kleinen Krug, aber man könnte angesichts der im Rahmen der Definition erwogenen 'déformation' auch bestimmte weiche Uhren oder allzu langbeinige Elefanten damit ausgeschlossen sehen. Weiter erläutert wird dies dann aber nicht. Ebenso wie diese Formen realistischer Kunst sei auch die gegenstandslose Kunst vor allem wegen ihrer Tendenz zur beliebigen Reduktion auf ausschließlich räumliche oder 'musikalische' Ordnungsprinzipien nicht surrealistisch, da dies eine weitgehende Abdankung des menschlichen Wollens [désir] impliziere. Es handle sich jedoch nur um Annäherungswerte, relativiert Breton gleich anschließend seinen formal und inhaltlich operierenden Definitionsansatz nicht ohne humoristischen Beiklang, und so sei es dem Abstraktivisten Mondrian nach einem langen asketischen Leben gelungen, sich mit Bildern wie Boogie-Woogie dem Surrealismus anzunähern, und der unverbesserliche Realist Picasso habe, wenn er seinen lyrischen Schwung nicht bändigte, bisweilen regelrechte Ausflüge in den Surrealismus gemacht (vgl. ebd., 156). Die Erläuterungen, die sich im Konkreten, ornamental Verknoteten beinahe zu verlieren scheinen, sind hier aber noch nicht zu Ende. Es wird plötzlich wieder abstrakter: "Avant tout, ce qui qualifie l'œuvre surréaliste, c'est l'esprit dans lequel elle a été conçue. S'il s'agit d'une œuvre plastique, la valeur que nous lui prêtons peut être fonction, soit du pouvoir visionnaire dont elle témoigne, soit du sentiment de vie organique qui s'en dégage (sans que, ni d'une manière sensorielle, ni d'une manière conceptuelle, cette vie soit réductible à l'aspect de tels ou tels éléments qui la composent), soit du secret d'une sym-

18 bolique nouvelle qu'elle porte en elle, etc." (ebd., 156-157) Also weder Form noch Inhalt sind letztlich ausschlaggebend. In der Kunst sei, das habe er immer wieder betont, als Mittel vor allem der Automatismus wichtig: "seule mode d'expression graphique qui satisfasse pleinement l'œil en réalisant l'unité rythmique" (ebd., 157). Der Surrealismus wird wenig später dann als "discipline mentale" (ebd., 157) bezeichnet, dies gehört aber nicht mehr in den offiziellen definitorischen Teil. Es handelte sich hier um Auszüge aus einem 1947 entstandenen Beitrag zu einer internationalen Ausstellung surrealistischer Kunst. Die Definition gibt sich durch die Begründung für ihren Anlaß (die Anfragen von Leuten, die noch nie etwas vom Surrealismus gehört haben) einerseits den Anschein der Leichtverständlichkeit, andererseits operiert sie, unter bloßem Hinweis auf ihre häufige Benutzung, mit Begriffen, die erklärungsbedürftig wären, und ist damit eben letztlich keineswegs in jeder Hinsicht leicht verständlich. Dies kann man als Strategie im Sinne der bereits im Zweiten Manifest geforderten Okkultisierung des Surrealismus ansehen: "JE DEMANDE L'OCCULTATION PROFONDE, VÉRITABLE DU SURRÉALISME", die Breton mit einer langen, in der Tat auch auf Okkultismus und Astrologie bezogenen Anmerkung erläuterte, die aber begann mit einem Hinweis auf den "effort qui consiste à ruiner cette tendance parasite et 'française' qui voudrait qu'à son tour le surréalisme finisse par des chansons" (Œ.C.I, 821). Es gibt zudem nicht immer die leichten, griffigen und dennoch funktionierenden Definitionen, und dies gilt eben, wie für die surrealistische Kunst, so auch für den surrealistischen Film. Wie unterschiedlich die Aspekte sind, die der Gruppe selbst als maßgeblich dafür erscheinen, ob ein Werk surrealistische Elemente enthält oder ob man es surrealistisch nennen darf, welch wichtige Rolle dabei auch politisch-ethische Erwägungen spielen, dafür ist insbesondere die Diskussion um den Ausschluß Dalis aufschlußreich. Obwohl einerseits die Hauszeitschrift mittlerweile mehr oder weniger vielsagend nicht mehr La Révolution surréaliste, sondern Le Surréalisme au service de la Révolution hieß, andererseits die KP einer zunehmenden Stalinisierung verfiel, drohte die Gruppe Anfang der 30er Jahre insbesondere wegen unterschiedlicher Einschätzung der politischen Entwicklung auseinanderzufallen. (1935 kommt der endgültige Bruch mit der Partei - ausgelöst durch die Ohrfeige Bretons für Ilya Ehrenburg, der sich als Mitglied der sowjetischen Delegation für den internationalen Congrès des écrivains pour la défense de la culture in Paris befand.) Bufluel war zusammen mit Aragon und einigen anderen bereits im Frühjahr 1932 aus der Gruppe ausgeschlossen worden, weil er der Unabhängigkeit der Gruppe von der Kommunistischen Partei abgeschworen hatte. Dann wird im Laufe des Jahres 1933 auch Dali zum Streitfall. Am 23.1.1934 schreibt Breton

19 Dali auf mehrheitlichen Wunsch der Gruppe einen Brief, der eine Reihe von Vorwürfen enthält, zu denen Dali Stellung beziehen soll. 1. habe er wiederholt, und zwar nicht nur ironisch, erklärt, eine Eisenbahnkatastrophe würde ihm große Befriedigung verursachen, um so mehr, insofern sie besonders die Reisenden der dritten Klasse beträfe. Dies sei antihumanitär. 2. habe er leidenschaftlich das Neue und Irrationale in Hitler verteidigt und lehne es gleichzeitig selbst prinzipiell ab, sich aktiv in einer sich als revolutionär begreifenden Organisation zu engagieren. 3. habe er für die akademische Malerei gegen die Moderne Stellung bezogen, in einem Moment, wo letztere zahlreichen Verfolgungen ausgesetzt sei. 4. seine Verteidigung der väterlichen Autorität und der familiären Werte. Was ihn dazu geführt habe, seine Hoffnung auf Hitler zu setzen... 5. die Ausstellung seines Bildes L'Enigme de Guillaume Tell beim letzten Treffen der Surrealisten und sein Spekulieren auf Erfolg. Das Bild sei akademisch, systematisch und ultrabewußt und verdiene praktisch nicht mehr die Bezeichnung surrealistisch. Abschließend wird Dali ultimativ aufgefordert, eine Stellungnahme gegen den deutschen Faschismus und für die proletarische Revolution zu veröffentlichen. Schon zwei Tage später verfaßt Dali einen ernsthaft um Klärung bemühten Antwortbrief, in dem er zu allen Vorwürfen Stellung nimmt. Sein angeblicher Hitlerismus etwa: Er sei weder tatsächlich noch der Absicht nach Hitler-Anhänger. Jedoch sei das Fehlen jeglicher befriedigender Analyse des Phänomens "Hitler" Beweis seiner Neuheit. Jedes Phänomen, das unsere intellektuellen Gewißheiten erschüttere, sei in gewisser Weise revolutionär. Und im Bereich der Politik zerstöre der Hitlerismus seine intellektuellen Gewißheiten. Wenn man also die reaktionären Elemente des Nationalsozialismus unter Bezug auf solch sattsam bekannte Begriffe wie Familie und Vaterland zu erklären versuche, mißachte man den folgenden Aspekt: "Jegliche Neuheit liegt - unter Berücksichtigung der konkreten historischen Bedingungen, der geistigen Situation usw., die den phänomenologischen Sinn des Problems ausmachen - in der radikalen Verfremdung (dépaysement truculent) solcher Mythen." Zum Beispiel habe De Chirico stereotype Mythen und Motive wie Gladiatoren, Rüstungen und Statuen in eine neue Stereotypenumgebung gesetzt, wie Bananen oder Eisenbahnen, und damit einen hyperoriginalen Inhalt geschaffen. Der Hitlerismus habe einige Probleme reaktualisiert, die vom dialektischen Materialismus unterschätzt worden seien. "Kein dialektischer Fortschritt wird möglich sein, wenn man die unverzeihliche Haltung einnimmt, dies zu leugnen, und den Hitlerismus bekämpft, ohne zu versuchen, ihn so vollständig wie möglich zu begreifen. Abschließend bekenne ich mich zu

20 meiner surrealistischen Disziplin, die ich für exemplarisch halte." Allerdings versucht Dali dann am 5.2.34, während der Sitzung, durch eine Art Gag-Happening die Angelegenheit ins Lächerliche zu ziehen, und wird daher aus der Gruppe ausgeschlossen.2 Taucht das Kino im ersten Manifest nur ganz am Rande und in einem ironisierenden Sinne auf (vgl. Breton: Œ.C. I, 345: "Et, dès lors, il me prend une grande envie de considérer avec indulgence la rêverie scientifique, si malséante en fin de compte, à tous égards. Les sans-fil? Bien. La syphilis? Si vous voulez. La photographie? Je n'y vois pas d'inconvénient. Le cinéma? Bravo pour les salles obscures. La guerre? Nous riions bien. [...]"), so ist es im Zweiten Manifest neben Malerei und Literatur akzeptiertes künstlerisches Ausdrucksmedium des Surrealismus (ebd., 802: "[...] le surréalisme sous forme de livres, de tableaux et de films [...]"). Un Chien andalou ist mittlerweile gedreht, ein Jahr später wird L'Age d'or folgen. Trotz der postulierten grundsätzlichen Parallelität zwischen Büchern, Bildern und Filmen gibt es im Verhältnis des Surrealismus zum Film eine Reihe von Besonderheiten, die es rechtfertigen, dies in einem eigenen Kapitel zu behandeln. 3

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Alles zitiert und referiert nach dem Katalog der André Breton-Ausstellung des Centre Pompidou, 1991, p. 197 ss. S. das Kapitel "Breton, Bufluel und der surrealistische Film".

2. VOM ETHIK-ÄSTHETIK-DILEMMA UND VOM WISSENSCHAFTLICHEN ANSPRUCH DES SURREALISMUS Wenn man denn das Reden über den Surrealismus ernst nehmen will, kann man endgültig nicht mehr umhin, Breton ernst zu nehmen, aber das muß auch heißen, den ganzen Breton. (Und das heißt auch: wenn man etwa Aragon zitiert im Rahmen des Surrealismus, kann man das nicht, ohne sein jeweils konkretes Verhältnis zur Gruppe und zu Breton und ohne das jeweilige Verhältnis Bretons und der Gruppe zur kommunistischen Partei zu berücksichtigen.) Was nun Bretons Verhältnis zur Kunst angeht, so ist das im Grunde gar nicht besonders kompliziert: Man muß zunächst einmal trennen zwischen dem, was Breton persönlich macht, und dem, was er bei anderen akzeptiert, was ihn von anderen interessiert. Da gibt es einmal den Satz: "Sans lui [Jacques Vaché] j'aurais peut-être été un poète." (Les pas perdus, in: Œ.C.I,194) Er, der von Mallarmé, Rimbaud, Gide, Valéry und Apollinaire 'herkommt' und ein deutliches Interesse insbesondere an Lyrik hatte, schreibt zunächst selbst Gedichte und entfernt sich erst ganz allmählich von dieser Neigung. Literatur und Kunst sind aber wichtig für ihn, insofern sie mehr als alle anderen Lebensbereiche dazu beigetragen haben und beitragen, "das große Reich dessen, was Freud das 'Es' genannt hat, zu durchforschen" (vgl. La clé des champs, 13/14 + 109/110). Sie sind hierin sogar die traditionell wichtigsten Instanzen. Literatur und Kunst sind aber auch nur dann wichtig, wenn sie freiwillig oder unfreiwillig zur Durchleuchtung dieser Fragen beitragen. Wenn nicht, sind sie heftig zu bekämpfen als kontraproduktive Elemente. Den Künsten wird also ein erkenntnisfördernder, in gewisser Weise wissenschaftlicher Rang zuerkannt. Analog dem Ideal der Freiheit der Wissenschaft wird ihnen ein Raum höchster Autonomie zugestanden: Freiheit von ästhetischen, ethischen und ideologischen Bedingungen und Einschränkungen ist vorausgesetzt. Damit ist im Grunde alles gesagt, wäre nicht ein fundamentales logisches Dilemma impliziert, welches möglicherweise die ganzen Verwirrungen in der Einschätzung seiner Position verursacht: DILEMMA SURREALISTISCHER RELATION

(BRETONSCHER)

ETHIK-ÄSTHETIK-

1. Künste müssen autonom, frei von ethischen Bedingungen sein. 2. Ethischer Wille zur Erkenntnis ist bei der Produktion von Kunst vorausgesetzt. (Der unfreiwillige Beitrag zur Erkenntnis ist ein dialektischer Sonderfall, der diesem zweiten Satz des Dilemmas gleichwohl nicht widerspricht - man könnte

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solchen Fällen dann einen unfreiwillig oder unbewußt vorhandenen ethischen Willen unterstellen.) Im Grunde ist es schon die Lehre des Ersten Manifests: daß es logische Widersprüche gibt, mit denen man zu leben lernen muß. Die man sich bemühen soll zu überwinden, trotz des Wissens, daß dies nicht wirklich geht. Die man gleichwohl nicht verdrängen soll. Mit denen man sich auseinandersetzen soll. Die man humoristisch ertragen soll, da es eben kein persönliches Versagen bedeutet, an der Synthese oder Aufhebung zu scheitern. Da die Aufhebung eine Utopie ist und die Utopie insofern, auch insofern, gerade insofern zur Realität gehört. "C'est à sa conquête que je vais, certain de n'y pas parvenir mais trop insoucieux de ma mort pour ne pas supputer un peu les joies d'une telle possession." (Œ.C.I, 319) Der Satz ist hier nur scheinbar aus dem Kontext geholt, insofern die "conquête" sich auf den Begriff surréalité bezieht und dieser wiederum eingeführt ist mit: "Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l'on peut ainsi dire." (ebd.) In Situation du surréalisme entre les deux guerres wird es heißen: "Comme je l'ai dit en 1930 [im 2. Manifest], à plus forte raison aujourd'hui: 'Il s'agit d'éprouver par tous les moyens et de faire reconnaître à tout prix le caractère factice des vieilles antinomies destinées hypocritement à prévenir toute agitation insolite de la part de l'homme, ne serait-ce qu'en lui donnant une idée dérisoire de ses moyens qu'en le défiant d'échapper d'une manière valable à la contrainte universelle. Tout porte à croire qu'il existe un certain point de l'esprit d'où la vie et la mort, le réel et l'imaginaire, le passé et le futur, le communicable et l'incommunicable, le haut et le bas cessent d'être perçus contradictoirement.' Ce n'est pas là une vue seulement héritée des occultistes, elle traduit une aspiration si profonde que c'est d'elle essentiellement que le surréalisme passera sans doute pour s'être fait la substance. Pour le surréalisme et j'estime qu'un jour ce sera sa gloire - tout aura été bon pour réduire ces oppositions, creusées déplorableinent au cours des âges et qui sont les vrais alambics de la souffrance." (La clé des champs, 107). Ein letztes Zitat in diesem Kontext: "J'ai parlé d'un certain 'point sublime' dans la montagne. Il ne fut jamais question de m'établir à demeure en ce point. Il eût d'ailleurs, à partir de là, cessé d'être sublime et j'eusse, moi, cessé d'être un homme." (L'Amour fou, 171) Im Ersten Manifest ist sicher bereits viel, sehr viel von den Grundzügen des surrealistischen Denkens enthalten, deswegen war es auch gleich eine internationale Sensation, aber es ist eben nicht alles darin, zumindest nicht alles ausgereift. Breton hat sich entwickelt, und insofern der Surrealismus. Das zeigt sich sehr deutlich auch am Indiz der hier noch festzustellenden Literaturlastigkeit, insbesondere Poesielastigkeit der Beispiele.

23 Das Ästhetik-Ethik-Dilemma ist eines der fundamentalsten des Surrealismus überhaupt; viele der Konflikte innerhalb der Gruppe wie auch Probleme des surrealistischen Verhältnisses zu den Künsten können damit in Zusammenhang gebracht werden. Der Fall Dali z.B.: Dali war sicher außerordentlich scharfsinnig, so daß vieles als bewußt inszeniert angenommen werden kann. Aber nehmen wir seine Hitler-Bewunderung ruhig einmal als real, nicht gespielt an. Dann ist die briefliche Verteidigung seiner Position als ernstzunehmende, sogar hellsichtige Einschätzung der Erscheinung des Hitlerismus anzusehen. Ähnliches läßt sich auch für seine Argumentation gegenüber anderen Vorwürfen der Gruppe sagen, so daß die Gruppe sich bei der Entscheidungsfindung über seinen Ausschluß mit mehreren Dilemmas (z. B. auch dem zwischen Rhetorik und Wahrhaftigkeit oder dem zwischen System und Wahnsystem) hätte auseinandersetzen müssen. Da Dali aber die ihn betreffende Sitzung dann zu einer Art Happening umfunktionierte, hat er seinen endgültigen Ausschluß gewissermaßen selbst provoziert. In seinem Brief hatte er offenbar die ethische Dimension nur simuliert und dadurch eine Dilemma-Situation inszeniert, die für ihn real gar nicht bestand. Man kann den Fall von Dalis Ausschluß in dieser Hinsicht aber noch prototypischer durchleuchten: insofern man nämlich auch von Breton sagen könnte, daß er Dilemma-Situationen inszeniert, daß auch er damit spielt, daß auch er sie bisweilen humoristisch verwendet. Der winzigkleine, aber fundamentale Unterschied zwischen den beiden Inszenierungsvarianten besteht darin, daß Dali künstlich Dilemmas konstruiert, Breton aber reale Dilemmas aufdeckt, anzündet und zum Glühen bringt. (Auch Dali, andererseits, als überaus schlauer, ironischer und zugleich hemmungsloser Spieler, der er war, kam im Bretonschen Sinne des Unfreiwilligen gleichwohl zu Erkenntnissen.) Wenn man den Buñuelschen Satz mit ins Spiel bringt: "El objetivo - 'ese ojo sin tradición, sin moral, sin prejuicios' ve el mundo. El cineasta, después, lo ordena." (Obra literaria, 172) - ist es dieser kleine Nachsatz, der zählt, das Bekenntnis zum Interesse - bei Breton zum Interesse an der Erkenntnis. Die ganze deutsche Bohrer-Bürger-Habermas-Diskussion trifft insofern, so interessant sie auch sein mag, im engeren philologischen Sinne Breton und den Surrealismus allenfalls am Rande. Der Kern der Ästhetik Bretons, der sein Erkenntnisinteresse immer offengelegt hat, ist ethisch, und insofern ist es eine Ästhetik des Widerstands, wie immer Peter Weiß auch seine verstanden haben mag und wie immer auch erst recht Habermas sie versteht. In der Tat nun hat sich Breton in den Jahren nach 1945 bis zu seinem Tod 1966 verstärkt und dezidierter mit Fragen der Magie und magischen Erscheinungen

24 aller Art auseinandergesetzt. Und ab da erst recht ist ihm immer wieder bürgerlicher, kleinbürgerlicher, reaktionärer, konterrevolutionärer Irrationalismus, Eskapismus, Mystizismus usw. vorgeworfen worden. Auch die sonst beste deutsche Breton-Darstellung von Elisabeth Lenk4 klammert diesen Teil des Bretonschen Werks weitgehend aus. Dabei läßt sich solches Interesse bereits bis in die Anfänge des Surrealismus in den zwanziger Jahren verfolgen. Als frühes Beispiel kann vor allem der Essay Entrée des médiums von 1922 (Œ.C.I, 273-279) gelten, worin Breton von medialen und Trance-Experimenten der späteren surrealistischen Gruppe berichtet. Um etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen, hat er dies gleich in den größeren Kontext des grundsätzlichen Interesses an nicht von der Ratio gesteuerten menschlichen Äußerungen ("un certain automatisme psychique", 274) gesetzt und Beispiele fur andere Experimente dieser Art vorangestellt: mit Soupault zusammen hatte er 1919 versucht, jene mehr oder weniger unvollständigen Sätze, die einem gleich vor dem Einschlafen durch den Kopf gehen, aufzuzeichnen. Methodologische Bedenken haben dieses Experiment beendet: "Nous n'en risquions pas moins, en prêtant même malicieusement l'oreille à une autre voix que celle de notre inconscience, de compromettre dans son essence ce murmure qui se suffit à lui-même, et je pense que c'est ce qui arriva." (ebd., 275) Die Beschäftigung mit Traumprotokollen wurde ebenfalls wegen methodologischer Bedenken aufgegeben, da dies nur unter Rückgriff auf das Gedächtnis möglich war und dies zutiefst unzuverlässig und unverläßlich ist. Die spiritistische Sitzung sollte ein neuer Versuch in der Ausrichtung dieser Experimente sein. Breton betont: "Il va sans dire qu'à aucun moment, du jour où nous avons consenti à nous prêter à ces expériences, nous n'avons adopté le point de vue spirite. En ce qui me concerne je me refuse formellement à admettre qu'une communication quelconque existe entre les vivants et les morts." (ebd., 276) Auch diese Experimente wurden später wegen zunehmender Gewaltausbrüche des Gruppenmitglieds und Mediums Robert Desnos während der Trancen abgebrochen. Schon in diesem Artikel wird ein bestimmter Begriff von Literatur ironisiert, unter Bezugnahme auf den Titel der Zeitschrift, in der Bretons Beitrag erstmalig erschien: Littérature. Um Literatur handle es sich zwar gar nicht, aber, nicht schlimm, unter diesem Etikett werde einem ja eine ganze Menge verziehen. Und der Poesie, so werden viele nach der Lektüre mit Erleichterung feststellen, gehe es dabei trotzdem nicht an den Kragen (s. ebd., 274). Explizit ist auch bereits der wissenschaftliche Anspruch - die Experimente, die teilweise wegen methodologischer Bedenken verworfen werden - sichtbar.

Der springende Narziß. André Bretons poetischer Materialismus. München: Rogner & Bernhard (Reihe Passagen) 1971.

25 Dieser Anspruch ist auch in den kommenden gut zehn Jahren der Zusammenarbeit mit der kommunistischen Partei immer vorhanden, im Sinne des arbeitsteiligen Konzepts, daß die Partei sich um die Basis, die surrealistische Gruppe um den Überbau kümmern wolle. Wir unterstützen euch bei der sozialen Revolution des Proletariats ("transformer le monde"), ihr unterstützt uns bei der psychischen Revolution des Alltagslebens ("changer la vie"). Wenn auch vielleicht leicht überspitzt, denke ich, daß dies die Position Bretons, von einigen kleinen tagespolitischen Schwankungen abgesehen, recht charakteristisch trifft. Viel mehr jedenfalls als die der Partei - was zu mannigfaltigen Spannungen mit der Partei und später auch mit Gruppenmitgliedern geführt hat. Ab 1936 wird der Stalinismus energisch bekämpft. Noch 1964 sagt Breton, die Niedertracht der im Osten zum Zwecke des hohen Zieles Aufbau des Sozialismus angewandten Mittel sei unentschuldbar. Als Konsequenz sei um so stärker daran festzuhalten, daß die weiterhin anzustrebenden Ideale "transformer le monde" und "changer la vie" als ein einziger, unteilbarer Imperativ aufzufassen sind (im Artikel A ce prix über Jean-Claude Silbermann, in: Le surréalisme et la peinture, 408409). Zu einem Zeitpunkt, da der Surrealismus von frühen interessierten Biographen schon manches Mal als historisch gescheitert und beendet angesehen worden ist, hält Breton (am 10.12.1942) vor französischen Studenten an der Yale University den die Überzeugungen und Ziele des Surrealismus zusammenfassenden Vortrag mit dem Titel Situation du surréalisme entre les deux guerres (aus dem bereits im vorigen Kapitel zitiert wurde). Das heißt, der Anspruch, den Breton vertritt, ist keineswegs kleiner geworden - im Gegenteil, er ist eher größer geworden und wird jetzt selbstbewußter denn je vertreten. Auf diesen wissenschaftlichen Anspruch hingewiesen haben schon einige - Carrouges in seinem Breton-Buch von 1950 vielleicht als erster und am deutlichsten, Starobinski in Freud, Breton, Myers, zuletzt Gérard Legrand im Vorwort zur Neuausgabe von Bretons L'Art magique. Legrand diskutiert dabei auch einige der zentralen Beweggründe fur Bretons vermeintlich irrationale Hinwendung zur Magie: "Il y aurait quelque dérision à analyser comment l'interrogation de LArt magique reprend les grandes lignes d'une 5

Über das Ziel hinaus schießen die Monographien Mythologie des Surrealismus von Gisela Steinwachs und Surrealismus und Identität von Gerd Hötter, da Breton darin letztlich zum Strukturalisten bzw. Poststrukturalisten erniedrigt wird, wozu die Verfasser ihn gutmeinend erhöhen wollen. Denn es haben zwar wirklich alle von ihm profitiert, die Lacan, Foucault, Derrida, Deleuze und Baudrillard, sich dann aber in Nischen häuslich eingerichtet, die Breton selbst wiederum zu begrenzt erschienen wären. Statt zu zeigen, wo Breton also nicht hingegangen ist, wäre es an der Zeit, deutlicher zu umreißen, worin die Geschlossenheit seiner Position lag.

26 quête qui préoccupa toujours son auteur. Il importe seulement, d'emblée, de souligner le caractère de cette quête, qui pour se diriger, par définition, vers les contrées 'ésotériques' de l'univers mental et les sciences cryptiques qui prétendent en dresser la carte, n'a jamais concédé quoi que ce fût au postulat spiritualiste de ces sciences, qu'il soit explicite ou implicite, ni plus généralement à l'évanescence d'un 'surnaturel' indicible. Dans l'un de ses ultimes textes6, Breton s'élèvera encore contre le péril qui guette le processus de l'analogie universelle, lorsque celui-ci dérive jusqu'à la croyance en 'Dieu, d'absurde et provocante mémoire', comme il l'écrivait en 1942. Son goût mesuré pour les Tarots, voire pour l'astrologie, relevait de sa curiosité psychologique au moins autant que de sa méfiance quant aux théories patentées de la causalité." (Legrand, in: Breton: L'Art magique, 16/17) Breton sieht bei den etablierten Wissenschaften große Berührungsängste vor dem Umgang mit Magie: "Il est tout naturel que les milieux scientifiques - ethnologues, sociologues, historiens des religions, voire psychanalystes - considèrent avec une extrême suspicion la démarche de cette catégorie d'esprits pour qui la magie est autre chose qu'une aberration de la faculté imaginative, qui n'a plus sa place que dans les lointains et ne saurait valoir que comme objet d'étude, aux fins de se représenter ce qu'a pu être l'aube de l'histoire humaine." (Breton, ebd., 32) Insbesondere die Geisteswissenschaften, die sich mit künstlerischen Gegenständen beschäftigen, versagen aber letztlich aufgrund solcher Berührungsängste, da Kreativität ohne Magie nicht denkbar ist, da vor allem anderen der Mehrwert von Kunst oder Poesie in ihrer Magie liegt: "Jalouse au possible de ses prérogatives, ici comme ailleurs, la connaissance discursive entend rester seule maîtresse du terrain. Si on l'écoutait en poésie et en art, par exemple, il y a beau temps que le pouvoir créateur serait annihilé: il est trop évident qu'aucune des véritables vertus du poème ne saurait passer dans l'explication de texte, ni de l'œuvre d'art dans l'analyse de ses moyens. C'est pourtant ce à quoi tend à nous réduire une civilisation de professeurs qui, pour nous expliquer la vie de l'arbre, ne se sent tout à fait à l'aise que lorsque la sève s'en est retirée." (ebd., 32) Es handelt sich um den bereits erwähnten, in Le Surréalisme et la Peinture (op. cit., 407-409) abgedruckten Artikel zu Silbermann, der 1964 unter dem Titel A ce prix erschienen war und der auch in politischer Hinsicht noch einmal programmatisch die surrealistischen Intentionen zusammenfaßte.

3. AVANTGARDE UND POSTMODERNE - GESCHICHTE UND IRONIE Der Surrealismus ist frühzeitig als Avantgarde-Bewegung bezeichnet worden: wohl zuerst durch Guillermo de Torre in Literaturas europeas de vanguardia (Madrid 1925). Die Begrifflichkeit hat sich weitgehend bis heute erhalten - teilweise hat man von "historischer Avantgarde" geredet, allemal ihn als Teil der "Moderne" gesehen. Seit einiger Zeit wird er nun zunehmend auch für die "Postmoderne" reklamiert. Für Buñuel ein Beispiel aus neuester Zeit: "Bufiuels spektakuläre Rückgriffe auf prämoderne, archaische, karnevaleske, pikareske spanische Traditionen und Bildwelten sind vielleicht im Blickwinkel der 'Postmoderne' und 'Postavantgarde' besser zu begreifen als mit den Prämissen jener oft vordergründigen, ideologiekritischen oder auch psychoanalytischen Deutungen, die die Bufluel-Interpretationen und auch die Buñuel-Rezeption der 60er und 70er Jahre dominiert haben." (Volker Roloff in: Link-Heer/Roloff: Luis Buñuel, 9) Als Beispiel für das, was er damit meint, führt Roloff das Nachwort Carlos Rincóns zur deutschen Ausgabe von Buñuels Schriften (Die Flecken der Giraffe) an, worin Rincón "Buñuels Umgang mit der Legende seines Heimatortes, mit dem vielzitierten Wunder von Calanda - die Verstümmelung und das traumatische, halluzinatorische Wiederansetzen des Beins - nicht primär als obsessionelles Leitmotiv Buñuels erläutert, als einen Aspekt der individuellen Biographie, sondern vielmehr als Zitat, als 'parodistische Allegorie der grundlegenden ästhetischen Vorentscheidungen Buñuels' und der radikalen ästhetischen Innovationen seiner Filme." (ebd.) Nun mag man auch mit Rincón und Roloff vollkommen konform darin gehen, daß Buñuels Aufgreifen der Legende keine traumatischen Hintergründe hat - Buñuel hat oft genug betont, daß ihn die katholische Bild- und Vorstellungswelt unter anderem wohl wegen seiner religiösen Erziehung im Jesuitengymnasium von Zaragoza fasziniere und daß er gleichwohl überzeugter Atheist sei -, aber ein solches Ergebnis wäre auch bei einem ideologiekritischen oder psychoanalytischen Angang jederzeit denkbar. Der postmoderne Clou besteht für Roloff im Aufweis des Zitatcharakters eines jeweiligen Motivs sowie in der Demonstration "der ironisch reflektierten Intermedialität, die die Filmkunst Buñuels kennzeichnet" (ebd., 9). Voreilig und auch ein wenig blauäugig ist Roloffs Erwartung, daß durch den Wechsel der Methode bzw. des Erkenntnisinteresses die Ergebnisse weniger vordergründig werden. Beispiele für vordergründige Analysen mit verschiedenen Angangsweisen sind auch in dem von ihm eingeleiteten Band zu finden. Auf den tendenziell psychoanalytisch orientierten Beitrag von Peter Gendolla beispielsweise wird im Kontext der Analyse von Simón del Desierto noch Bezug genom-

28 men. Die zu erwartende Welle von 'postmodern' orientierter Literaturwissenschaft wird uns voraussichtlich noch mit einer großen Zahl von Analysen überraschen, die eine ebenso große Zahl von Werken mit postmoderner Prägung, d.h. voll ironisch reflektierter intermedialer Zitate, vor uns ausbreiten werden. Insbesondere auch für Bufiuel ist das zu erwarten, bei dem RolofF den Einsatz von Ironie als sehr charakteristisch bezeichnet: so spricht er von der "ironischen Verfremdung" (ebd., 9), der "Ambiguität und Ironie der späten Werke", dem "ironischen Spiel mit der Hermeneutik", der "ironischen und grotesken Konfrontation von Sakralem und Profanem" (alle ebd., 10) - wobei der verwendete Ironiebegriff sicher zuallererst einmal definiert werden müßte, um nachvollziehbar zu sein. Von dem keineswegs so besonders einleuchtenden Begriff der Postmoderne mit seiner kaum faßbaren Erfolgsstory schreibt zwar Peter Bürger (wenn ich ihn recht interpretiere) treffend: "Was wir heute mit dem eher hilflosen Begriff Postmoderne zu fassen suchen, könnte sich als Einbruch der avantgardistischen Problematik in die Kunst der Moderne [sie: ist 'Gegenwart' gemeint? - S.G.] erweisen." {Postmoderne: Alltag, Allegorie und Avantgarde, hg. v. Ch. u. P. Bürger, 11) Schreibt dies aber in einem Band, dessen Titel bereits in mancher Hinsicht programmatisch Beziehungsverhältnisse geknüpft hat. Folgerichtig meint er auch: "Begreift man das postmoderne Denken nicht als stringente Theorie, sondern als Ausdruck einer epochalen Befindlichkeit, dann ist es als solches ernst zu nehmen." (ebd., 198) Die möglichen Probleme der Architekturgeschichte seien hier undiskutiert, obwohl die Historiker der Baugeschichte vielleicht besser daran getan hätten, ihren Le Corbusier-Modernebegriff in Frage zu stellen. Literatur- und Kunstgeschichte hätten sich dann jedenfalls einige Begriffsverwirrungen ersparen können. Spätestens mit Ecos Nachschrift zum >Namen der Rose< hat der Begriff sich aber zumindest in der Literaturwissenschaft des deutschsprachigen Raums schnell ausgebreitet. Insbesondere auch der Bezug zur Avantgarde wird von Eco darin bereits thematisiert. Ecos Interesse ist klar: seine ganze Kenntnis aktueller Theorie wirft er in die Waagschale, um seinen historischen Roman als wahrhaft zeitgemäß zu rechtfertigen. Leider setzt er sich nicht mit den großen Vorbehalten des Surrealismus gegen den realistischen Roman auseinander, die bereits im ersten Manifest deutlich zum Ausdruck kommen: "L'attitude réaliste, inspirée du positivisme, de saint Thomas à Anatole France, m'a bien l'air hostile à tout essor intellectuel et moral. Je l'ai en horreur, car elle est faite de médiocrité, de haine et de plate suffisance. C'est elle qui engendre aujourd'hui ces livres ridicules, ces pièces insultantes. [...] Une conséquence plaisante de cet état de choses, en littérature par exemple, est l'abondance des romans. Chacun y va de sa petite 'observation'. Par besoin d'épuration, M. Paul Valéry proposait dernièrement de réunir en anthologie

29 un aussi grand nombre que possible de débuts de romans, de l'insanité desquels il attendait beaucoup. Les auteurs les plus fameux seraient mis à contribution. Une telle idée fait encore honneur à Paul Valéry qui, naguère, à propos des romans, m'assurait qu'en ce qui le concerne, il se refuserait toujours à écrire: La marquise sortit à cinq heures." (Breton: Œ.C.I, 313-314) Eco geht mit keinem Wort auf diese Vorbehalte und die folgende Argumentation ein, obwohl sie einer der zentralen Ansatzpunkte hätte sein können für eine Auseinandersetzung mit der "Moderne". Er reduziert die "sogenannte 'historische' Avantgarde" (Nachschrift zum >Namen der RoseTheorie der Avantgarden Lukäcs, Georg: Die weltanschaulichen Grundlagen des Avantgardeismus, in: ders.: Wider den mißverstandenen Realismus. Hamburg: Ciaassen 1958. Mourier-Casile, Pascaline: s. Amour - Humour. Nadeau, Maurice: Histoire du Surréalisme. Paris: Seuil 1945. Deutsche Übersetzung des ersten der beiden Bände: Reinbek (rde 240/241) 1965.

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