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German Pages 144 Year 1994
DETLEV LOHSE
Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" aus erkenntnistheoretischer Sicht
Schriften zum Umweltrecht Herausgegeben von Prof. Dr. M i c h a e I K I o e p f e r , Berlin
Band 36
Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" aus erkenntnistheoretischer Sicht am Beispiel der Gefahrenabwehr im Immissionsschutz- und Atomrecht
Von
Dr. Detlev Lohse
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lohse, Detlev: Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" aus erkenntnistheoretischer Sicht am Beispiel der Gefahrenabwehr im Immissionsschutz- und Atomrecht I von Detlev Lohse. Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum Umweltrecht ; Bd. 36) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07877-2 NE:GT
n2
Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4247 ISBN 3-428-07877-2
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1993 von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Schrifttum wurden bis August 1993 berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt meinem akademischen Lehrer Herrn Professor Dr. Karl Albrecht Schachtschneider für die Förderung der Arbeit und für die langjährige wissenschaftliche und persönliche Unterstützung. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Professor Dr. Walter Schick, der die Zweitbegutachtung übernommen hat. Herrn Reinhard Wessels danke ich ganz herzlich dafür, daß er mit seinem persönlichen Einsatz zur wirtschaftlichen Absicherung dieses Vorhabens beigetragen hat. Allen Mitarbeitern des Lehrstuhls für Öffentliches Recht in Nürnberg danke ich für ihre Hilfsbereitschaft. Schließlich gilt mein Dank Herrn Professor Dr. Michael Kloepfer für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe "Schriften zum Umweltrecht". Hamburg, im August 1993
Detlev Lohse
Inhaltsverzeichnis Einlelt11111 • . • • . . . • . . • . • . . . . . . . . . . . . . . . . • . • . • . . • . . . . . • . • • • 13 Erstes Kapitel Die Gefahrenabwehr Im Immissionsschutz. und Atomrecht
A. Tatbestandliehe Anforderungen der Gefahrenabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. Konkretisierung der Anforderungen und Genehmigunppraxis . . . . . . . . . . . . . . 17 C. Die Immissionsgrenzwerte nach dem BlmSchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Festlegung der Immissionsgrenzwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. DieAbleitungderMI-Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Sicherheitsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Luftqualitätskriterien . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsbestimmung und methodische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Toxikologische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Epidemiologische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. In-vitro-Versuche an biologischem Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kasuistische Erfahrungen beim Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Immissionsgrenzwerte und karzinogene Stoffe . . . . . . . . . . . . . . . D. Die atomrechtlichen Strahlengrenzwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. V 01bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Radiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Radiologische Wirkungen und Wirkungsschwellen . . . . . . . . . . . . . . . • . . . IV. Die Festsetzung radiologischer Immissionsgrenzwerte . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutz-Kommission . . . . . . 2. Das "0,3-mSv-Konzept" der Bundesregierung . . . . . . • . . . . . . . . . . . . V. Verfahren der Datenerhebung und Festlegung der atomrechtlichen Strahlengrenzwerte - Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Der Maßstab der "praktischen Vernunft" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die praktische Vernunft als materieller Standard . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Praktische Vernunft als das Urteil des erfahrenen Technikers und NatuJ.Wissenschaftlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Praktische Vernunft als "Sozialadäquanz" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der "Maßstab der praktischen Vernunft" als sicherheitsrechtliche Anforderung für das Auslegen einer genehmigungsbedürftigen Anlage . . . . . . . . . . . . . . 1. Die auslegungstechnisch relevanten "auslösenden Ereignisse" und "Auslegungsbeanspruchungen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 19
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35
36 36 38 39
. 40 . 40 . 41 . 43 . 44 . 44 . 44
8
Inhaltsverzeichnis Vermeidung "auslösender Ereignisse" und Beherrschung der "Auslegungsbeanspruchungen" durch Sicherstellen der Funktionserfüllung von Kompnenten und Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Funktionserfüllung durch Erhaltung der "Integrität" . . . . . . . . . . . . . . . 4. Funktionserfüllung durch Gewährleistung der "Zuverlässigkeit" . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111. Verfahren der Datenerhebung und methodische Probleme . . . . . . . • . . . . . . 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . 2. Experimentelle Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... .. a) Verbot von Menschenversuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • b) Komplexität und Unzugänglichkeit . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Simulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auswertung von Betriebserfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.
F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47 48 SO 52
53 53 54 56 59 62 64 65
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Zweifes KaplCel Der Stand der Wissenschaft aus erbnntnlstbeoretlsc:ber Siebt A. Die Wissenschaft als empirische Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
B. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen . . . . . . . . . . . . . . . . • . . 70 I. Induktion als Abgrenzungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Die induktive Erkenntnismethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2. Zusammenfassung der und Einwände gegen die induktive Erkenntnismethode 73 3. Das Induktionsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4. Der Versuch, den induktiven Übergang als logische Folgerung zu deuten . . . . 74 5. Der Versuch, den induktiven Übergang aus der Erfahrung abzuleiten . . . . . . 15 6. Induktive Schlüsse als Wahrscheinlichkeitsschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . 76 7. Das Problem der Beziehungvon Theorie und Erfahrung . . . . . . . . . . ... 77 8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 II. Falsifikation als Abgrenzungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Die hypothetisch-deduktive Erkenntnismethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2. Logische Aspekte der Falsifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3. Methodische Aspekte der Falsifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4. Pragmatische Aspekte der Falsifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 5. Einwände gegen die Existenz einer Asymmetrie zwischen Verifikation und Falsifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 6. Falsifikation mit falliblen Prüfsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 7. Wissenschaftshistorischer Einwand gegen die hypothetisch-deduktive Erkenntnismethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 111. Anerkennung der "wissenschaftlichen Gemeinschaft" als Abgrenzungskriterium . . 92 1. Der wissenschaftshistorische Ansatz des Paradigma-Modells von Thomas S. Kuhn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . 92 2. Normalwissenschaftliche Forschung . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3. Krise und Übergang zur außerordentlichen wissenschaftlichen Forschung . . . 97 4. Logik oder Psychologie der Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 5. Einwände gegen Kuhn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . 99 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 IV. Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 C. Der "Stand" einer Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 I. Der Stand der Wissenschaft als Fortschrittsbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Inhaltsveneichnis
9
II. Fortschrittsbasis und Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 III. Autonomie der Wissenschaft und Fortschrittsbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 D. Die Abgrenzung Wissenschaft I Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Einheitlichkeit des Technikbegriffs im Anlagenrecht . . . . . . . . . . . . . . . II. Abgrenzung Wissenschaft I Technik unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaftsfreiheit des Art. S Abs. 3 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • .
106 106 106 108
E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Drittes Kapitel Die normativ gebotene Gefahrenabwehr und der Stand der Wlssensc:haft A. Die Auslegung der Formel in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . 110
B. Die Genehmigungsgrundlage und der Stand der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 113 I. Methodische Probleme der Verfahren der Datenerhebung unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . 114 II. Methodische Probleme und Induktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1. Vorbemerkung . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 115 2. Toxikologische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3. Experimentelle Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 117 4. In-vitra-Versuche an biologischem Material und Simulation . . . . . . . . . . . 118 S. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 6. Epidemiologische Untersuchungen ... .. . . . . . . ... . .. . . . . . . . . 120 7. Kasuistische Erfahrungen beim Menschen und Auswertungvon Betriebserfahrungen . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . 120 8. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 III. Methodische Probleme und Falsifikationismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 2. Toxikologische und experimentelle Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . 122 3. In-vitra-Versuche an biologischem Material und Simulation . . . . . . . . ... 124 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 S. Epidemiologische Untersuchungen, kasuistische Erfahrungen beim Menschen und Auswertung von Betriebserfahrungen - Zwischenergebnis . . . . . . . . . 125 IV. Methodische Probleme und das Paradigma-Modell von Kuhn .. .. . . . . . .. . 126 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Präzisierung des Kuhnschen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • 127 V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 C. Die erkenntnistheoretisch orientierte Auslegung der Formel . . . . . . . . . . . . . . . . 130 D. Die Grenzen der Gefahrenabwehr . . . . . . . . . . . ... .. ... . ... .. .. . . .. 131 E. Ergebnis . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . ... ... 135
SchrlfUumsverzelc:hnls . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Abkürzungsverzeichnis Atg
Atomgesetz
AtomG
Gesetz über die friedliche Vetwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Juli 1985 (BGBI. I S. 1565).
atw
Atomwirtschaft • Atomtechnik (Zeitschrift)
BAnz.
Bundesanzeiger
BayVGH
Bayrischer Verwaltungsgerichtshof
BB
Der Betriebsberater (Zeitschrift)
bearb.
bearbeitete
ber.
berichtigt
BGBI.
Bundesgesetzblatt
BlmSchG
Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (BundesImmissionsschutzgesetz - BlmSchG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Mai 1990 (BGBI. I S. 880).
BMFf
Bundesminister für Forschung und Technologie
BMI
Bundesminister des Inneren
BMU
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BVerwG
Bundesverwaltungsgericht
BVerwGE
Entscheidungen des Bundesverwalungsgerichts
DAA
Durchdringungs-Abschlußarmatur
DIN
Deutsches Institut für Normung
Diss.
Dissertation
DÖV
Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift)
DVBI.
Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift)
et
Energiewirtschaftliche Tagesfragen (Zeitschrift)
GG GMBI.
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBI. I,
S.1).
Gemeinsames Ministerialblatt
GRS
Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit
h
Stunde
Abkürzungsveneichnis
ICRP
Internationale Strahlenschutzkommission
KfK
Kernforschungszentrum Karlsruhe
K.J
Kritische Justiz (Zeitschrift)
Komm.
Kommentar
K.TA
Kerntechnischer Ausschuß
LOFf
Loss-of-Fiuid-Test
LWR
Leichtwasserreaktor
MIK
Maximale Immissions-Konzentration
MTR
Maximale Immissions-Raten
MI-Werte
Maximale Immissions-Werte
mSv
Millisievert (10"3 Sv)
NJW
Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)
No.
Number
NuR
Natur und Recht
NVwZ
Neue Zeitschrift für VeiWaltungsrecht (Zeitschrift)
11
OECD
Organisation fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
OVG
OberveiWaltungsgericht
Reinhalt.
Reinhaltung
Rn.
Randnummer
SI
Systeme International
StörfaiiV
Zwölfte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Störfaii-Verordnung)- 12. BlmSchV- in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. September 1991 (BGBJ. I S.1891)
StörfaiiVwV
Zweite Allgemeine VeiWaltungsvorschrift zur Störfaii-Verordnung vom 27. April1982 (GMBI. S. 205)
StriSchV
Verordnung über den Schutz vor Schäden durch ionisierende Strahlen (Strahlenschutzverordnung) in der Fassung der Bekanntmachung vom 30.06.1989 (BGBI. I S.1321)
Sv
Sievert (abgeleitete SI-Einheit für die Äquivalentdosis), seit 1986 gesetzlich vorgeschriebene Einheit in der Bundesrepublik Deutschland
TA Lärm
Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm
TA Luft
Erste Allgemeine VeiWaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (fechnische Anleitung zur Reinhaltung der Luft) vom 27. Februar 1986 (GMBI. S. 95, ber. S. 202)
TÜV
Technischer ÜbeiWachungsverein
UPR
Umwelt und Planungsrecht (Zeitschrift)
VDI
Verein Deutscher Ingenieure
VDI-Z
VDI-Zeitschrift (Zeitschrift)
12
Abkürzungsverzeichnis
VG
Verwaltungsgericht
VGH
Verwaltun~gerichtshof
Vol
Volume
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Zeitschrift)
WHO
Weltgesundheitsorganisation
WiVerw.
Wirtschaft und Verwaltung (Zeitschrift)
ZfU
Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht (Zeitschrift)
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik (Zeitschrift)
Einleitung Kerntechnische Anlagen und Anlagen, die auf der Grundlage des § 4 BlmSchG in einer Rechtsverordnungnäher bestimmt werden, bedürfen für die Errichtung und den Betrieb einer Genehmigung. Das vorgeschaltete Genehmigungsverfahren soll u. a. sicherstellen, daß von einer solchen Anlage keine Gefahren ausgehen. § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG und § 5 Abs. 1 Nr.1 BlmSchG enthalten die genehmigungstatbestandliehen Anforderungen der Gefahrenabwehr für den Normalbetrieb und den Störfall. Die Formel Stand der Wissenschaft ist das wesentliche Tatbestandsmerkmal zur Sicherstellung sowohl der atomrechtlichen als auch der immissionsschutzrechtlichen Gefahrenabwehr. Die Vorstellungen, was unter dem Stand der Wissenschaft zu verstehen ist, welche Funktion dieser im Genehmigungsverfahren ausübt und wie sich diese Formel von dem Stand der Technik abgrenzt, gehen in Literatur, Rechtsprechung und Genehmigungspraxis auseinander. Gegenstand der vorliegenden Arbeit wird es sein, auf die oben gestellten Fragen eine Antwort zu versuchen. Das erste Kapitel beginnt mit der Darstellung der Pflicht zur Gefahrenabwehr und zeigt, daß der Stand der Wissenschaft ein wesentliches Tatbestandsmerkmal für deren Sicherstellung ist. Die Konkretisierung der Genehmigungsanforderungen für die normalbetriebsbezogene Gefahrenabwehr erfolgt durch die Rechtsfigur des Grenzwertes; die für die störfallbezogene Gefahrenabwehr durch die Festlegung der auslösenden Ereignisse und Auslegungsbeanspruchungen für genehmigungsrechtlich relevante Auslegungsstörfälle (kurz: Wissensbasis). Die Konkretisierung der oben genannten Anforderungen und die Genehmigungspraxis werden dargestellt. Für die Festlegung der Grenzwerte und der Wissensbasis ist der Stand der Wissenschaft maßgeblich, der sich auf eine empirische Datenbasis stützt. Die Verfahren der Datenerhebung für die Ermittlung der Datenbasis werden vorgestellt und deren methodische Probleme, von denen sich herausstellt, daß sie unüberwindbar sind, diskutiert. Die diskutierten Methoden der Datenerhebung sind Instrument der Erkenntnisgewinnung, sie werden jeweils im Kontext einer Erkenntnistheorie angewendet, existierenjedoch unabhängigvon dieser, und zwar gemeinsam mit den ihnen eigenen unüberwindlichen methodischen Problemen. Eine Diskussion der methodischen Probleme der Verfahren der Datenerhebung unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten erfolgt im dritten Kapitel. Im zweiten Kapitel wird gezeigt, daß Wissenschaft i. S. d. Anlagenrechts Erfahrungswissenschaft oder empirische Wissenschaft ist und sich durch die autonome Wahl einer Erkenntnistheorie als solche konstituiert. Welche Erkennt-
14
Einleitung
nis als erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis gelten soll und somit zur Wissenschaft zählt, hängt ab von der Wahl der Methode der Erkenntnisgewinnung, d. h. von der maßgeblichen Erkenntnistheorie. Es werden drei verschiedene Erkenntnistheorien {Induktivismus, Falsifikationismus und das ParadigmaModell von Kuhn) skizziert und diskutiert. Im Anschluß daran wird untersucht, ob und gegebenenfalls welchen Einfluß eine Erkenntnistheorie auf den "Stand" einer Wissenschaft ausübt. Ferner wird das Verhältnis von Wissenschaft und Staat angesprochen. Ausgehend von der Einheitlichkeit des Technikbegriffs im Anlagenrecht wird unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG die Wissenschaft von der Technik abgegrenzt. Das Zuordnungsproblem der Ingenieurwissenschaften läßt sich hierdurch lösen. Insgesamt versucht das zweite Kapitel eine Antwort auf die Frage, was unter der Formel Stand der Wissenschaft unter insbesondere erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten auf der Grundlage der durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährten Wissenschaftsfreiheit zu verstehen ist. Die Auslegung in Literatur und Rechtsprechung zur Funktion der Formel Stand der Wissenschaft wird im dritten Kapitel vorgestellt. Anschließend werden die im ersten Kapitel diskutierten methodischen Probleme der Verfahren der Datenerhebung unter den im zweiten Kapitel erarbeiteten erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten erörtert. Die Kompetenz des Standes der Wissenschaft, und damit dessen Konkretisierungsbeitrag, hängt aus erkenntnistheoretischer Sicht ganz entscheidend davon ab, ob sich dieser auf die Gegenstandshereiche oder Erkenntnisobjekte bezieht, die für die Beurteilung der Gefahrenabwehr unmittelbar maßgeblich sind. Nach diesen Betrachtungen wird sich klären lassen, welche Rolle der Stand der Wissenschaft bei der Fixierung der Immissionsgrenzwerte und der auslegungsrelevanten Wissensbasis spielen kann. Ausgehend von diesem Resultat wird die Beantwortung der Frage versucht, welche Funktion der Stand der Wissenschaft bei der Sicherstellung der normativ gebotenen Gefahrenabwehr übernehmen soll. Schließlich wird der vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem sogenannten Kalkar-Beschluß geäußerten Ansicht, die Grenzen der Gefahrenabwehr werden durch die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens bestimmt, widersprochen. Es ist nicht die eigentliche Absicht der Untersuchung, die Gefahrenabwehr im Immissionsschutz- und Atomrecht zu erörtern, etwa die Problematik des Gefahrbegriffs und dessen Abgrenzung gegenüber der Vorsorge. Die Formel Stand der Wissenschaft oder Stand von Wissenschaft und Technik tritt an mehreren, sachlich verschiedenen Stellen des BimSchG und AtomG auf. Der Bezug auf die Gefahrenabwehr erlaubt es, auf einen speziellen Kontext dieser Formel abzustellen und diese somit in einem ausgewählten Zusammenhang zu diskutieren. Die Gefahrenabwehr bietet also den sachlichen Rahmen, die Formel "Stand der Wissenschaft" unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten am Beispiel des Immissionsschutz- und Atomrechts zu behandeln.
Erstes Kapitel
Die Gefahrenabwehr im Immissionsschutz- und Atomrecht A. Tatbestandliehe Anforderungen der Gefahrenabwehr Kerntechnische Anlagen und Anlagen, die auf der Grundlage des § 4 BlmSchG in einer Rechtsverordnung näher bestimmt werden, bedürfen füt die Errichtung und den 'Betrieb einer Genehmigung. Anlagen mit einem außerordentlichen Gefahrenpotential unterliegen somit besonders hohen sicherheitstechnischen Anforderungen. Die Störfälle in den Kernkraftwerken von Harrisburg!USA (1979) und Tschernobyl/UDSSR (1986) sowie Störfälle sogenannter konventioneller Technik in Freyzin/Frankreich (1966), Flixborough!England (1974), Seveso/ltalien (1976), Manfredonia/ltalien (1976), Bhopal!Indien (1984) und die Brandkatastrophe bei der Firma Sandoz in Schweizerhalle/Schweiz (1986) haben gezeigt, daß es notwendig und vertretbar ist, von den Betreibern solcher Anlagen die Sicherstellung eines besonders hohen Sicherheitsniveaus zu verlangen. Das vorgeschaltete Genehmigungsverfahren soll den sicheren Betrieb einer Anlage gewährleisten. Während eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung wegen der Formulierung "ist zu erteilen"(§ 6 BlmSchG) nach Erfüllung der Genehmigungsvoraussetzungen erteilt werden muß\ ist dies im atomrechtlichen Verfahren nicht der Fall. Die atomrechtliche Genehmigungsbehörde hat nach überwiegender Ansiehewegen der Formulierung"Die Genehmigung darf nur erteilt werden"(§ 7 Abs. 2AtomG) ein Versagensermessen. Eine atomrechtliche Genehmigung darf u. a. nur dann erteilt werden, wenn gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG "die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist". Die Schadensvorsorge richtet sich, gemäß der Schutzzielbestimmung in§ 1 Nr. 2 AtomG, u. a. darauf, "Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den Gefahren der Kernenergie und der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen zu schützen".
1 2
Hierzu etwa Feldhaus, Bundesimmissionsschutzrecht, § 6 Anm. 2 m. w. N. Hierzu ausführlich Haedrich, Atomgesetz, Überwachungsvorschriften- Vorbemerkung,
Rn.3m.w.N.
16
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
Eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung ist gemäß § 6 BimSchG zu erteilen, wenn u. a. sichergestellt ist, daß die sich aus § 5 und einer auf Grund des § 7 erlassenen Rechtsverordnung ergebenden Pflichten erfüllt werden. § 5 Abs.1 Nr.1 BimSchG läßt die Errichtungund den Betrieb genehmigungsbedürftiger Anlagen nur dann zu, wenn "schädliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft nicht hervorgerufen werden können". Die Legaldefinition des § 3 Abs. 1 BimSchG legt fest, was unter dem Begriff "schädliche Umwelteinwirkungen" zu verstehen ist: "Schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne dieses Gesetzes sind Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen." Darüber hinaus muß gemäߧ 5 Abs. 1 Nr. 2 BimSchG "Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen getroffen (werden), insbesondere durch die dem Stand der Technik entsprechenden Maßnahmen zur Emissionsbegrenzung". Schließlich verlangt§ 5 Abs.1 Nr. 3 BimSchG die Reststoffvermeidung und § 5 Abs. 1 Nr. 4 BimSchG die Wärmewiederverwendung. Die Abwehr schädlicher Umwelteinwirkungen richtet sich gemäß § 1 BimSchG auf "Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kultur- und sonstige Sachgüter." § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG und§ 5 Abs. 1 Nr. 1 BimSchG enthalten die genehmigungstatbestandliehen Anforderungen der Gefahrenabwehr für den Normalbetrieb und für den Störfall3• Maßnahmen der Gefahrenabwehr stehen jedenfalls nicht unter dem Vorbehalt einer Kosten/Nutzen-Abwägung4 • Nach Martens5 wird eine Gefahr für ein polizeiliches Schutzgut dann angenommen, ''wenn seine Schädigung bei ungehindertem Geschehensablauf hinreichend wahrscheinlich ist". Das Bundesverwaltungsgericht6 stellt in seinem VoerdeUrteil zur Konkretisierung des§ 5 Abs. 1 Nr. 1 BimSchG folgendes fest: "Ob die Immissionen geeignet sind, die genannten Beeinträchtigungen herbeizu-
3 Umfangreich hierzu Breuer, WiVerw. 1981, 219 ff.; Luku, Regelungsbedarf, S. 27; VGH Baden-Württemberg, DÖV 1982, 866; a. A. BVerwG, DÖV 1986, 431, nach dem§ 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG auch eine gefahrenunabhängige Risikovorsorge umfaßt. 4 Vgl. etwa Haedrich, Atomgesetz, § 7 Anm. 79, 84, der ebd. von "Risiko/Kosten-Abwägung" bzw. "wirtschaftliche(r) Verhältnismäßigkeit" spricht. 5 Martms, DVBI. 1981, 597; ebenfalls Drews/Wacke/Vogel!Martms, Gefahrenabwehr, S. 220 ff.; umfangreich zum Gefahrenbegriff insbesondere im Immissionsschutz- und Atomrecht Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizein:cht. 6 BVerwGE 55, 250, 254; zustimmend Breuer, DVBI. 1978, 837; Sellner, Industrieanlagen, S. 22 f. Rn. 25; Martms, DVBl. 1981,598.
B. Konkretisienmg der Anforderungen und Genehmigungspraxis
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führen, richtet sich nach der aUgemeinen Lebenserfahrung, insbesondere nach dem Stand der Wissenschaft." Auch wenn das BlmSchG nicht ausdrücklich die.Maßgeblichkeit der Wissenschaft für die Gefahrenabwehr erklärt, wie dies im AtomG geschehen ist, so kann für das Immissionsschutzrecht gemäß Schachtschneider7 wegen des "staatlichen Sachlichkeitsprinzips" nichts anderes gelten: "Dabei (bei der Gefahrenabwehr/der Verf.) haben die Staatswaltee manch aUgemeine Rechtsprinzipien der Gemeinwohlkonkretisierung zu beachten, wie das der Sachlichkeit und damit der Wissenschaftlichkeit. Dieser Topos ist ein Rechts- und Grundrechtsprinzip, das aus dem aUgemeinen rechtsstaatliehen und am Gleichheitsgedanken orientierten Gerechtigkeitsprinzip folgt, welches unsachliche Differenzierungen verbietet."8 Die Formel Stand der Wissenschaft ist das wesentliche Tatbestandsmerkmal zur Sicherstellung sowohl der atomrechtlichen als auch der immissionsschutzrechtlichen Gefahrenabwehr. Wie oben gezeigt, ändert der unterschiedliche Wortlaut der beiden Schutznormen an dieser Tatsache nichts. Allerdings gehen die Vorstellungen darüber, was unter dem Stand der Wissenschaft zu verstehen ist und wie sich dieser vom Stand der Technik abgrenzt, auseinander9• Ebenfalls Unklarheit besteht darüber, welche Funktion die Formel Stand der Wissenschaft im Rahmen der Gefahrenabwehr zu erfüllen hat10• Marburger11 bemerkt, daß die Gesetzesmaterialien keinen Hinweis darauf enthalten, wie die oben genannten Fragen zu beantworten sind. Gegenstand der vorliegenden Arbeit wird es sein, auf die beiden Fragen eine Antwort zu versuchen.
B. Konkretisierung der Anforderungen und Genehmigungspraxis Die Konkretisierung der tatbestandliehen Anforderungen für die normalbetriebsbezogene Gefahrenabwehr erfolgt durch die Rechtsfigur des Grenzwertes, die für die störfaßbezogene Gefahrenabwehr durch die Festlegung der auslösenden Ereignisse und Auslegungsbeanspruchungen für genehmigungs-
Schachtschneükr, Rechtsbegriff, S. 93 f., passim, m. w. N. Schachtschneükr, Staatsuntemehmen, S. 242 mit Fn. 31, 32. 9 Etwa MOTburger, et 1984, 209 f.; Feldnumn, et 1983, 387; Rengeling, Schadensvorsorge, S. 84, m. w. N.; Rittstieg, Konkretisierung, S. 31 f.; nach Kutscheitü, et 1991, S. 686, handelt es sich bei der "nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden" um einen "schillernden Begriff". 10 Etwa MOTburger, et 1984, 209 f.; Feldnumn, et 1983, 387; ders., et 1984, 288; Rengeling, Schadensvorsorge, S. 84, m. w. N., Rittstieg, Konkretisierung, S. 31 f. 11 Marburger, et 1984, 209. 7
8
2 Lohse
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Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
rechtlich relevante Auslegungsstörfälle (kurz: Wissensbasis12). Maßgeblich für die Festlegung des genehmigungsrechtlichen Immissionsgrenzwertes sowie der Wissensbasis ist der Stand der Wissenschaft. In der Genehmigungspraxis gilt die störfallbezogene Gefahrenabwehr als sichergestellt, wenn der Eintritt eines Störfalles nach dem "Maßstab der praktischen Vernunft" ausgeschlossen erscheint. Mit anderen Worten, wenn sich die in der Wissensbasis beschriebenen Schadensmöglichkeiten praktisch nicht verwirklichen können. Im folgenden wird dargestellt, wie die oben beschriebenen tatbestandliehen Anforderungen der Gefahrenabwehr inhaltlich konkretisiert werden und wie der Störfall in der Genehmigungspraxis nach dem Maßstab der praktischen Vernunft ausgeschlossen wird. Der für die Konkretisierungspraxis maßgebliche Stand der Wissenschaft im Hinblick auf Dosis-Wirkungs-Beziehungen, auslösende Ereignisse und Auslegungsbeanspruchungen stützt sich auf eine Fülle von Beobachtungen oder Tatsachen, die im folgenden zusammenfassend als empirische Daten(basis) bezeichnet werden. Verfahren für die Ermittlung dieser empirischen Daten (kurz: Verfahren der Datenerhebung) sind toxikologische und experimentelle Untersuchungen, epidemiologische Erhebungen, In-vitro-Versuche an biologischem Material, SQilulation, kasuistische Erfahrungen beim Menschen und Auswertung von Betriebserfahrungen. Der Darstellung der Konkretisierungspraxis schließt sich jeweils unmittelbar eine allgemeine, d. h. erkenntnistheoretisch (hierzu ausführlich im zweiten Kapitel) unspezifische Beschreibung der methodischen Probleme der Verfahren der Datenerhebung an. Die methodischen Probleme der Verfahren der Datenerhebung werden ausschließlich diskutiert in bezug auf die Frage nach der Erkennbarkeil einer Gefahr und den sich daraus ergebenden Folgen für deren Konkretisierbarkeit durch Aussagen über Dosis-Wirkungs-Beziehungen und die Wissensbasis. Insbesondere beziehen sich diese Ausführungen nicht auf die technisch erforderlichen Maßnahmen des Gefahrenausschlusses, etwa den praktischen Störfallausschluß, und die Tatsache, daß diese technischen Maßnahmen niemals zu einem absoluten Schadensausschluß führen, sondern diesen stets nur mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit gewähren können. Die Ausführungen im ersten Kapitel, insbesondere die Darstellung der methodischen Probleme der Verfahren der Datenerhebung, bilden mit die Grundlage für die Beantwortung der Frage nach der Funktion der Formel Stand der Wissenschaft im Rahmen der genehmigungsrechtlich geforderten Gefahrenabwehr, die im dritten Kapitel versucht wird.
12
lich.
Ladeur, UPR 1993, 122, 124; ders., BB 1993, 1305, 1307, verwendet diesen Begriff ähn-
C. Die Immissionsgrenzwerte nach dem BlmSchG
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C. Die Immissionsgrenzwerte nach dem BlmSchG I. Die Festlegung der Immissionsgrenzwerte Die Bundesregierung hat die Immissionsgrenzwerte, so wie sie für die Konkretisierung des normalbetriebsbedingten Gefahrenausschlusses erforderlich sind, gemäߧ 5 Abs. 1 Nr. 1 BimSchG i.V.m. § 48 Nr. 1 BimSchG duch Verwaltungsvorschriften, das sind die TA Luft 1986 und die TA Lärm 1968, festgelegt. Die Exekutive stützt sich bei der Festlegung von Immissionsgrenzwerten wesentlich auf die durch die VDI-Kommission Reinhaltung der Luft und Lärmminderung erstellen Richtlinien13• Die Heranziehung dieser VDI-Richtlinien zur Festlegung von Immissionsgrenzwerten darf nicht verwundern, wurde doch der Anstoß zur Gründung einer VDI-Kommission Reinhaltung der Luft bereits 1955 vom Gesetzgeber gegeben14• Schwarz/Grefen15 bemerken, daß dieser "staatsentlastende Auftrag" an die VDI-Kommission Reinhaltung der Luft und Lärmminderung durch die Verankerung im Bundeshaushalt allgemein anerkannt ist. Im Bundeshaushalt heißt es dazu: "Das Bundesministerium des Inneren wird bei der Durchführung der Aufgaben auf dem Gebiet der Reinhaltung der Luft im Sinne von§ 1 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes von der VDI-Kommission Reinhaltung der Luft (bzw. von der Kommission Lärmminderung) in der Weise unterstützt, daß diese den Stand von Wissenschaft und Technik in freiwilliger Selbstverantwortung und gemeinsam mit allen beteiligten Behörden, Wissenschaft und Industrie feststellt und in Richtlinien festhält, deren Inhalt in die Gesetzgebung und die Tätigkeit der Exekutive einfließen kann."16 Inhaltlich geben diese Richtlinien die "Maximalen Immissions-Werte (kurz "MI-Werte« genannt) der VDI-Kommission mit einer umfangreichen Begründung wieder. Die MI-Werte leitet die Kommission aus den sogenannten "Luftqualitätskriterien" ab17• Sie hat bei der Zusammenstellung der Luftqualitätskriterien die Erkenntnisse und Erfahrungen möglichst vieler Institute und Experten "ausgewogen" zu berücksichtigen; die Ergebnisse zahlreicher wissenschaftlicher Kolloquien und Tagungen fließen ebenfalls in die Richtlinienarbeit mit ein18• Eine weitere wesentliche Grundlage ist die gesamte einschlägige
13 Rat, Umweltgutachten 1974, S. 14 f; Schwarz/Grefen, Staub·Reinhalt.Luft 47 (1987) Nr. 3/4, S. 52 f; Birkner/Bollmacher/Grefen!Löbel/Schneidu, Staub-Reinhalt.Luft 47 (1987) Nr. 5/6, s. 125 ff. 14 Schwarz/Grefen, Staub-Reinhalt.Luft, 47 (1987) Nr. 3/4, S. 52. 15 Schwarz!Grefen, Staub-Reinhalt.Luft, 47 (1987) Nr. 3/4, S. 52. 16 Bundeshaushalt, zitiert bei Schwarz/Grefen, Staub-Reinhalt.Luft, 47 (1987) Nr. 3/4, S. 52. 17 Rat, Umweltgutachten 1974, S. 14 ff.
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Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
Wirkungsliteratur19, die den Stand der publizierten Wirkungsbeobachtungen dokumentiert. Die Darstellung der Ableitung der MI-Werte sowie die Erörterung der damit verbundenen Schwierigkeiten erfolgt im nächsten Abschnitt. II. Die Ableitung der MI-Werte 1. Vorbemerkung
Nach Ansicht der VDI-Kommission Reinhaltung der Luft20 handelt es sich bei den MI-Werten um rein wirkungsbezogene, "wissenschaftlich begründete" und aus der praktischen Erfahrung abgeleitete Werte mit medizinischer und naturwissenschaftlicher Indikation. Die wissenschaftliche Begründbarkeit der MI-Werte wird jedenfalls begrenzt durch die wissenschaftliche Begründbarkeit der Luftqualitätskriterien, da diese die Ableitungsbasis für die MI-Werte darstellen. Die technische Realisierbarkeit bleibt bei der Ableitung der MIWerte unberücksichtigt21• MI-Werte dienen der Exekutive als Grundlage für die Festsetzung von Immissionsgrenzwerten, stellen also eine "Orientierungshilfe"22 für den exekutiven Entscheidungsprozess dar23. Da die MI-Werte darauf abzielen, das Leben und die Gesundheit von Menschen zu schützen, insbesondere auch von Kindern, Embryonen, Alten und Kranken selbst bei langfristiger Einwirkung, und auch einen Schutz für Tiere, Pflanzen und andere Sachen gewähren sollen, werden, sofern erforderlich, für einen Stoff mehrere MI-Werte festgelegt24• Die VDI-Kommission Reinhaltung der Luft legt ihrer Erarbeitung von Richtlinien für MI-Werte einen recht umfangreichen GesundheitsbegriffS zugrunde. Daß die Kommission bei der Begriffsbestimmung u. a. auf das "Wohlbefmden des Menschen" abstellt, läßt vermuten, daß sie sich den sogenannten Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu eigen gemacht hat. In der Gründungserklärung der WHO vom 22. Juni 1964 heißt es,
18 19
Schwarz/Grcfen, Staub-Reinhalt.Luft 47 (1987) Nr. 3/4, S. 49 f.
Etwa VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310 Blatt 12, S. 23. VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310, S. 1. 21 VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310, S. 1; hierzu skeptisch Prinz, Staub-Reinhalt.Luft 44 (1984) Nr. 3, S. 117. 22 So Schwarz/Grefen, Staub-Reinhalt.Luft 47 (1987) Nr. 3/4, S. 55. 23 Vgl. VDI (Hrsg.), Richtlinie 2309 Blatt 1, S. 2, 20; Rat, Umweltgutachten 1974, S. 15; Birkner/Bollmacher/Grcfen/LiJbel/Wilhelm, Staub-Reinhalt.Luft 47 (1987) Nr. 5/6, S. 126. 24 VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310, S. 1. 2S VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310, S. 1 f. 20
C. Die Immissionsgrenzwerte nach dem BlmSchG
21
Gesundheit ist "ein Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefmdens und nicht nur des Freiseins von Krankheiten." Die Begriffsbestimmung der Kommission26 enthält eine Fülle qualitativer Gesundheitsmerkmale, deren Konkretisierung im Einzelfalle strittig sein kann. Die Beurteilung schließt die Abgabe eines persönlichen Werturteils ein, stellt mithin eine subjektive Wertung dar, die den weltanschaulichen Standort des Entscheidenden widerspiegelt. Im Einzelfalle muß dieser Wertungsvorgang in der "umfangreichen Begründung" der MI-Werte für die Exekutive und/oder Legislative nachvollziehbar dokumentiert sein. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Lärmschutz gegen Fluglärm am Flughafen Düsseldorf deutlich gemacht, daß der Begriff der körperlichen Unversehrtheil jedenfalls den Begriff der Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne umfaße7• Der biologisch-physiologische (naturwissenschaftliche) Gesundheitsbegriff ist allerdings in der Medizin und in der Sozialwissenschaft nicht unumstritten; vielmehr werden auch andere Gesundheitsbe~e vertreten, wie Kuning28 hervorhebt. Etwa äußern Kuning und RauschDing die Ansicht, daß der Gesundheitsbegriff der WHO weit über den Begriff der köperliehen Unversehrtheit i. S. des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hinausgeht, d. h. nicht übereinstimmt mit dem grundgesetzliehen Gesundheitsbegriff. Gemäß der "Definition für die Richtlinie 'Maximale Immissions-Werte' der VDI-Kommission 'Reinhaltung der Luft"'30 können Maximale Immissionswerte durch die Maximale Immissions-Konzentration ( =MIK) und/oder Maximale Immissions-Raten (=MIR) ausgedrückt werden. Als Maximale Immissions-Konzentrationen und Maximale Immissions-Raten werden diejenigen Konzentrationen und Raten aller festen, flüssigen und gasförmigen Luftverunreinigungen bezeichnet, unterhalb derer nach dem heutigen Wissensstand Mensch, Tier, Pflanze und andere Sachgüter nach Maßgabe dieser Richtlinie31 geschützt sind.
VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310, S. 1 f. rt BVetfG, NJW 1981, 1656 ff. 28 Kuning, Grundgesetz, Art. 2 Rn. 62. 29 Kuning, Grundgesetz, Art. 2 Rn. 62; Rauschning, VVDStRL, 38, (1980), S. 179. 30 VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310, S. 2. 26
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VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310, S. 2.
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Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
2. Der Sicherheitsfaktor
Methodische Probleme bei der Ermittlung der Dosis-Wirkungs-Beziehungen führen zu Ungenauigkeiten in den Aussagen oder Schätzunsicherheiten im Hinblick auf die wahren Immissionsparameter der genehmigungsrechtlich maßgeblichen Grundgesamtheit. Die Ursachen für diese in der Literatur auch als Unschärfe32 bezeichneten Schätzunsicherheit in den Aussagen über DosisWirkungs-Beziehungen gehen sowohl auf überwindliehe als auch auf unüberwindliche methodische Schwierigkeiten33 bei der Datenerhebung zurück. Mit der hingenommenen Schätzunsicherheit wird aber gleichzeitig die Irrtumswahrscheinlichkeit festgelegt, d. h. die Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Vertrauenshereich für die Schätzung den wahren Parameter in der genehmigungsrechtlich maßgeblichen Grundgesamtheit nicht überdeckt34• Aus diesem Grunde ist für die Richtlinienarbeit im Hinblick auf die Festlegung von Maximalen Immissions-Werten für den Menschen der MI-Wert um einen "Sicherheitsfaktor" unter den Wert zu legen, der beim Menschen nach dem derzeitigen "Stand der Kenntnisse" - vermutet oder nachgewiesen -gerade noch zu einer Gesundheitsschädigung führe5• Immissionsgrenzwerte können nur dann wirkungsanalytisch begründet festgesetzt werden, wenn es für die betreffenden Stoffe eine Wirkungsschwelle gibt. Das Vorhandensein einer solchen Wirkungsschwelle kann nicht vorausgesetzt werden, ihre Existenz ist für jede einschlägige Dosis-Wirkungs-Beziehungjeweils tatsächlich nachzuweisen36• Bei irreversibel wirkenden, insbesondere bei karzinogenen, mutagenen und allergenen Stoffen ist nach dem Stand der Wissenschaft davon auszugehen, daß eine Wirkungsschwelle nicht bestehe'. Der Sicherheitsfaktor ist entsprechend der Art und Eigenschaft des Stoffes sowie unter Berücksichtigung der nach Art und Umfang vorhandenen, aus experimentellen und eJ!idemiologischen Feststellungen gewonnenen Informationen zu bestimmen . Der Sicherheitsfaktor soll also den Bereich des Nicht-
32 Vgl. Prinz, Staub-Reinhalt.Luft 44 (1984) Nr. 3, S. 117, der bei der Darstellung dieses Sachverhalts von "unscharf' spricht; auch Hansmann, Problematik, S. 291, passim, der von "Unsicherheiten" spricht. 33 Darstellung dieser Schwieriglc.eiten z. B. bei Prinz, Staub-Reinhalt.Luft 44 (1984) Nr. 3, S. 117; Pon/Schlipköter, Umwelt 1978/1, S. 38 ff.; VDI (Hrsg.), Richtlinie 2309 Blatt 1, S. 7 f. 34 Vgl. Härtler, Statistische Methoden, S. 67. 35 VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310, S. 2. 36 Rat, Umweltgutachten 1987, S. 444; ebensoPott/Schlipköter, Umwelt 1978/1, S. 39. 37 Rat, Umweltgutachten 1987, S. 444. 38 VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310, S. 2; ausführlich zur Notwendigkeit sowie den inhaltlichen
C. Die Immissionsgrenzwerte nach dem BlmSchG
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Wissens, welche Ursache auch immer maßgeblich sein mag, überbrücken. Die Quantifizierung des Sicherheitsfaktors im konkreten Falle kann weit streuen. Aussagen über Wirkungsschwellen bestimmter Stoffe in genehmigungsrechtlich relevanten Populationen können als wahrscheinlichkeitstheoretische Erkenntnisse aus empirisch gewonnenen Häufigkeilen abgeleitet werden, im vorliegenden Falle etwa aus epidemiologischen Untersuchungen und Tierexperimenten39. Die verwendeten Verteilungen werden in der Regelletztlich auch eine subjektive Komponente enthalten, die sich in der arbiträren Festlegung des Sicherheitsfaktors widerspiegelt40• Der Sicherheitsfaktor ist keine auf wissenschaftliche Weise abgeleitete Größe; er wird, abhängig von dem Umfang der vorliegenden Erfahrungsgrundlagen, nach Ermessen und in der Regel von Sachverständigengremien vorgeschlagen41 • Nach von Lersner42 ist in der Begründung eines numerischen Wertes jeweils darzulegen, ob und inwieweit er durch empirische Erkenntnisse, seien es solche aus Tierversuchen oder epidemiologischen Erkenntnissen, begründbar ist. Sofern von Tierversuchen auf Risiken für Menschen geschlossen wird, ist seiner Ansicht nach der vorgeschlagene Faktor der Übertragung beim Tier ermittelter Werte auf den Menschen zu begründen. Gerade hierbei ist es nach Lersner von rechtlicher Relevanz, ob der Übertragungsfaktor vom Tier auf den Menschen empirisch ausreichend begründet ist, um Maßnahmen der Gefahrenabwehr zu rechtfertigen. Ein Beispiel soll die Streuung des Sicherheitsfaktors und die schwache sachliche Begründbarkeil desselben veranschaulichen. So enthält die Begründung der NOz-MIK-Werte43 folgende Angaben zum Sicherheitsfaktor: "Ausgehend von diesen Wirkungsbeobachtungen in einem Bereich zwischen 470 und 940 #g/m~Ozliegt dem derzeitigen 24-h-Mittelwert ein Sicherheitsfaktor von 4 bis 9 zugrunde." Und in der Begründung hierzu heißt es an gleicher Stelle: "Ein Sicherheitsfaktor dieser Größenordnung ist auch erforderlich, weil u. a. in den morphologischen Untersuchungen z. B. Denaturierungvon Eiweißen bzw. emphysemähnliche Veränderungen in der Lunge beobachtet wurden."
und prozeduralen Anforderungen für die Festlegung von Sicherheitsfaktoren von Lersner, NuR 1990, 195 ff., pm 39 Hierzu etwa Vallendar, GewArch 1981,282. 40 In diesem Sinne auch Vallendor, GewArch 1981, 282. 41 Rat, Umweltgutachten 1987, S. 453. 42 von Lusner, NuR 1990, 195 f. 43 VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310 Blatt 12, S. 27.
24
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
3. Schlußbemerkung
Der Ansicht des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen44 ist darin zuzustimmen, daß, soweit Wirkungsschwellen bestehen, Grenzwerte unterhalb der Schwellenkonzentration und mit dem gebotenen Sicherheitsabstand mittels eines Sicherheitsfaktors so gelegt werden können, daß eine Exposition gesundheitlich unbedenklich erscheint. Es ist jedoch klar hervorzuheben, daß die so ermittelten Schwellenwerte, d. s. die MI-Werte, nicht wertungsneutral sind, da ihnen nicht ausschließlich objektive, d. h. aufTatsachenberuhende Erkenntnis zugrunde liegt. Deswegen müssen, damit die Ableitung und insbesondere der Wertungsvorgang für den Entscheidungsträger nachvollziehbar bleibt, die wissenschaftlichen Tatsachen sowie die Begründung der Wertung sorgfältig dargestellt werden. 111. Die Luftqualitätskriterien 1. Begriffsbestimmung und methodische Probleme
Grundlage für die Ableitung der MI-Werte und die Festlegung der Immissionsgrenzwerte sind die Luftqualitätskriterien. Luftqualitätskriterien sind die Gesamtheit aller für einen Stoff vorliegenden Dosis- und Immissions-Wirkungsbeziehungen. Sie geben an, welche Wirkung unter definierten Expositionsbedingungen durch Immissionen oder durch auf anderem Wege zugeführte Schadstoffdosen an dem der Wirkungsuntersuchung zugrundeliegenden Objekt festgestellt wurden45 • Die Luftqualitätskriterien sind rein "wissenschaftlich begründete" DosisWirkungs-Beziehungen'". Als Informationsquellen für die als Luftqualitätskriterien dargestellten Wechselbeziehungen kommen in Frage toxikologische, d. h. unter kontrollierten Bedingungen ablaufende experimentelle Untersuchungen, gewerbehygienische, zumeist auf eingetretenen Schadensfällen beruhende Befunde, In-vitro-Versuche an biologischem Material und epidemiologische Erhebungen47•
44
Vgl. Rat, Umweltgutachten 1987, S. 444. Vgl. Rat, Umweltgutachten 1974, S. 14 f.; Dreyhaupt, HandbuchS. 101. 46 Rat, Umweltgutachten 1974, S. 14 f. 47 Rat, Umweltgutachten 1974, S. 17; Dreyhaupt, Handbuch, S. 101 f; in Rat, Umweltgutachten 1987, S. 446, wird statt von gewerbehygienischen Erhebungen von "kasuistischen Erfahrungen beim Menschen" gesprochen, neu hinzu tritt die Methode der "ln-vitro-Versuche an biologischem Material". 45
C. Die Immissionsgrenzwerte nach dem BlmSchG
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Wirkungsuntersuchungen erfolgen sowohl auf Mortalität als auch auf Morbidität hin411• Als ursächliche Wirkung für Morbidität werden funktionelle und/oder morphologische Veränderungen des Organismus von Menschen und/oder Tieren untersucht49• So kann beispielsweise die "Akute Inhalationstoxizität von SOz bei Tieren"50 oder die "Veränderung der Lungenfunktion bei Tieren (bei NOz-Inhalation/der Verf.)"51 eine Wirkung im Hinblick auf die für den Schutz des Menschen zu ermittelnden Luftqualitätskriterien sein. Der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen52 merkt an, daß die oben genannten Methoden zur Ermittlung von Dosis-Wirkungs-Beziehungen wegen der "systemgebundenen Schwierigkeiten", das sind grundsätzliche Mängel in der Ermittlungsmethode, zu "relativ unsicher(en) Entscheidungsgrundlage(n) für die Aufstellung von Luftqualitätskriterien" führen. Als ein Grund hierfür wird angegeben, daß die Untersuchungen selten repräsentativ für natürliche Umweltbedingungen und, sofern sie am Tier durchgeführt werden, was überwiegend der Fall ist, auch nicht in jedem Falle repräsentativ für den Menschen sind53 • Im folgenden werden die methodischen Probleme der oben genannten Verfahren der Datenerhebung skizziert. Z. Toxikologische Untersuchungen
In der toxikologischen Untersuchung wird die Dosis-Wirkungs-Beziehung des reinen Schadstoffes analysiert. In realen Immissionssituationen tritt ein Schadstoff hingegen nicht in reiner Form auf, sondern in einem Schadstoffkollektiv, d. h., er ist umgeben von anderen Schadstoffen und wirkt mit diesen gemeinsam aufMensch, Tier, Pflanze und andere Sachen ein54• Die Schädigung ist demnach eine Gemeinschaftsleistung verschiedener, miteinander wechselwirkender Schadstoffe. Insbesondere ist bei synergistischer Schadstoffwirkung eines Kollektivs der Anteil des einzelnen reinen Stoffes nicht mehr wirkungsanalytisch zu belegen.
411
Etwa VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310 Blatt 11, S. 18. Vgl.Dreyhaupt, Handbuch, S. lOl. 50 VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310 Blatt 11, S. 24 f. 51 VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310 Blatt 12, S. 30. 52 Rat, Umweltgutachten 1974, S.17; i. d. S.Murswiek, Verantwortung, S. 379 f. m. w. N. 53 Etwa Rat, Umweltgutachten 1974, S. 17; ebenso Murswiek, Verantwortung, S. 379 f. m. w. N.; in Rat, Umweltgutachten 1987, S. 452,456, passim, findet sich eine umfangreiche Auflistung der methodischen Mängel, die bei der Ermittlung der Dosis-Wirkunp-Beziehungen mehr oder weniger unübetwindlich erscheinen (worauf aber, von einer Ausnahme abgesehen, nicht explizit eingegangen wird}. 54 Sinngemäß VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310 Blatt 11, S. 19. 49
26
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
Mit Blick auf diese Schwierigkeit ist der Vorbemerkung zur Begründung der SOz-MIK-Werte der VDI-Richtlinie55 folgende Formulierung zu entnehmen: 'Weitere Unschärfen in der Beurteilung der SOz-Wirkung ergeben sich durch die Kombination insbesondere mit Schwebstoffen: Ihre Zusammensetzung und Toxizität kann sehr unterschiedlich sein und zusätzlich in Abhängigkeit von variierenden Randbedingungen stark schwanken; daher hat eine beobachtende Dosis-Wirkungs-Beziehung wegen der örtlich spezifischen Zusammensetzung der Schadstoffe nicht unbedingt Allgemeingültigkeit." Die einfache Gleichsetzung der Dosis-Wirkungs-Beziehung des reinen Stoffes mit derjenigen des gleichen Stoffes in einer realen Immissionssituation ist somit nicht erlaubt. Mit anderen Worten, beide Immissionssituationen stellen wegen der unterschiedlichen Zusammensetzung der Schadstoffe keine im statistischen Sinne homogene Grundgesamtheit dar. Ursachen für die fehlende Übertragbarkeit tierexperimentell gewonnener Dosis-Wirkungs-Beziehungen auf den Menschen können verschiedenster Art sein56• So sind etwa Schätzungen über die Dosis-Wirkungs-Beziehungen im Hinblick auf Veränderungen der Lungenfunktion bei Tieren u. a. deswegen nur mit erheblicher Irrtumswahrscheinlichkeit auf den Menschen zu übertragen, weil Unterschiede in der Lungenarchitektur, der Abwehrlage und der Atemtechnik sowie die sehr hohe Keimzahl bei den Versuchen zu berücksichtigen sind57• D. h., Mensch und Tier bilden bezüglich der untersuchten Wirkungen physiologisch und konstitutionell keine hinreichend homogene Grundgesamtheit Diese Irrtumswahrscheinlichkeit infolge fehlender Gleichartigkeit könnte nur durch den direkten Versuch am Menschen vermieden werden. Unfreiwillige Menschenversuche sind auf jeden Fall in der Bundesrepublik Deutschland unmöglich. Nach Murswiek58 verstoßen unfreiwillige Menschenversuche jedenfalls gegen Art. 1 Abs. 1 GG. Darüber hinaus verbietet das grundgesetzlich geschützte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheil des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG "insbesondere den staatlich organisierten Mord und die zwangsweise durchgeführten Experimente an Menschen"59• Insoweit wären Menschenversuche nur dann möglich, wenn es sich um Untersuchungen an freiwilligen Versuchspersonen mit solchen Stoffen handelt, die in den verabreichten Dosen nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand keine irreversib-
ss VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310 Blatt 11, S. 19. 56 Hierzu Grimme/Faust/Altenburger, Die Begründung von Wirkungsschwellen in der Pharmakologie und Toxikologie und ihre Begründung aus biologischer Sicht, S. 45 ff. 57 Vgl. VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310 Blatt 12, S. 25. 58 Munwiek, Verantwortung, S. 390. 59 BVerfGE 1, 97 (104 f.); i. d. S. etwa auchKuning, Grundgesetz, Art. 2 Rn. 61, 62.
C. Die Immissionsgrenzwerte nach dem BlmSchG
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len Funktionsstörungen und morphologischen Veränderungen hervorrufen, also nur vorübergehende Wirkungen zeigen60• Aus diesem Grunde werden Menschenversuche vornehmlich zur Prüfung geruchsintensiver Stoffe und von Reizgasen durchgeführt, meist zur Ermittlun~ von Schwellenwerten des Geruchs und der Reizwirkung an Schleimhäuten6 • Da es sich bei den oben genannten Schätzfehlern um, wie der Sachverständigenrat für Umweltfragen62 formuliert, "systemgebundene Schwierigkeiten" handelt, sind diese Bestandteil der Methode und damit zwar minimierbar, jedoch nicht eliminierbar. Konsequenz dieses methodischen Fehlers ist eine systembedingte Erkenntnislücke im Hinblick auf das Wissen um die Dosis-Wirkungs-Beziehung eines Schadstoffes in einer realen, auf den Menschen bezogenen Immissionssituation. Überdies werden nach Zeschmar-LahVLahfl die Ergebnisse tierexperimenteller Untersuchungen über Dosis-Wirkungs-Beziehungen nicht unerheblich durch persönliche Festlegungen des Experimentators beeinflußt. Die Entscheidung über die Anzahl und Art der Versuchstiere; die Versuchsanordnung und die Meßverfahren; denn "je höher das Auflösungsvermögen einer Methode, desto eher werden Vorgänge zur 'Wirkung', die mit einer gröberen Methode unsichtbar geblieben wären"64• Die Wahrscheinlichkeit, eine Wirkung zu beobachten, steigt mit der Anzahl der Versuchstiere, d. h. mit der Länge der Versuchsreihe65 • Lange Versuchsreihen sind u. a. zeitaufwendig und teuer, weswegen etwa aus laborökonomischen und auch aus ethischen Aspekten die Versuchsreihen möglichst kurz gehalten werden, d. h., statt viele Versuchstiere mit vergleichsweise niedrigen Dosen zu belasten, werden, in der Hoffnung, es werde das gleiche Resultat eintreten, wenige Versuchstiere mit hohen Dosen belastet66• Aufgrund der oben geschilderten methodischen Mängel ist ersichtlich, daß die wissenschaftliche Basis der mittels toxikologischer Experimente gewonnenen Dosis-WirkungsBeziehungen nicht bewertungsfrei ist, wie es der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen behauptet67•
Etwa Dreylulupt, Handbuch S. 102. Etwa Dreyhaupt, HandbuchS. 102. 62 Rat, Umweltgutachten 1974, S. 17; ebenso Murswiek, Verantwortung, S. 379 f. m. w. N.; ebensoPon/Schlipköter, Umwelt 1978/1, S. 39. 63 In diesem Sinne Zeschmar-Lahl/Lahl, Zfll 1987/1, S. 47; ebenso Rat, Umweltgutachten 1987, S. 452,456, passim. 64 Zeschmor-Lahl!Lahl, zru 198711, s. 47. 65 Vgl. Zeschmor-Lahi/Lahl, Zfll 1987/1, S. 48. 66 Vgl. Zeschmor-Lahi/Lahl, Zfll 1987/1, S. 48. 60 61
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
28
3. Epidemiologische Untersuchungen
Nach Dreyhaupt u. a. führen epidemiologische Untersuchungen zu Aussagen über die statistische Korrelation eines luftverunreinigenden Stoffes und dem Ausmaß des Auftretens von Gesundheitsstörungen68• Die in einer solchen Studie betrachteten Dosis-Wirkungs-Beziehungen liegen im extrem niedrigen Bereich einer sigmoidal verlaufenden Wirkungsfunktion69• Dies führt dazu, daß konkurrierende Einflußfaktoren das Wirkbild von Immissionseinflüssen stark überdecken können, so daß jede Zuordnung einer bestimmten Wirkung zu dem entsprechenden Immissionsmaß wegen des niedrigen Gradienten, d. h. wegen ungenügender S~anz, mit erheblichen systematischen Schätzunsicherheiten behaftet ist . Epidemiologisch ermittelte Dosis-Wirkungs-Beziehungen enthalten daher eine methodisch bedingte Unkenntnis über die tatsächlich für die Erzielung einer bestimmten Wirkung ursächlichen Faktoren71• Dem oben Gesagten entsprechend stellt die Kommission in der Vorbemerkung zur Begründung der S{}z-MIK-Werte der VDI-Richtlinien klar, "daß beobachtete Wirkungsbeziehungen wegen unterschiedlicher Randbedingungen (genetische, sozio-ökonomische, meteorologische, geographische usw. Faktoren) oder deren Vernachlässigung bei der Durchführung bzw. Auswertung eine Unschärfe enthalten, die die Festlegung eines an der Wirkung definierten Grenzwertes womöglich macht". Weder gibt es zwei oder mehr faktoriell dekkungsgleiche Vergleichsgebiete noch lassen sich durch statistische Faktorenbereinigung solche erzeugen. Insoweit sagen epidemiologisch gewonnene Ergebnisse allein nichts aus über die Art des Zusammenhangs oder darüber, ob die Verknüpfungen kausaler Art sind, selbst wenn hohe Korrelation einen engen Zusammenhang signalisiert73•
67 68
Rat, Umweltgutachten 1974, S. 14 f.
Dreyhaupt, Handbuch, S. 101; ebenso Rat, Umweltgutachten 1987, S. 470.
69 Rat, Umweltgutachten 1974, S. 17; Darstellung einer sigmoidalen Wirkungsfunktion ebd. aufS. 14. 70 Rat, Umweltgutachten 1974, S.17; ebensoModan, S. 60 ff., mit einer Diskussion der Ursachen; umfangreich hierzu auch Rat, Umweltgutachten 1987, S. 448 ff. 71 Rat, Umweltgutachten 1974, S. 17; i. d. S. auch Eikmonn! Miche/s!Krieger/Einbrodt, Wissenschaft und Umwelt 2/1989, S. 79, mit einer Erörterung der Gründe für die "erheblichen Unsicherheiten". n VDI (Hrsg.), Richtlinie 2310 Blatt 11, S. 18. 73 Vgl. Rat, Umweltgutachten 1987, S. 470, passim, grundsätzlich führt der Rat von Sachverständigen hierzu aus: "Die ,epidemiologische Forschungstradition hat es mit ihrer induktivpragmatischen Erkenntnismethode schwer, sich in der deduktiv-theoretischen Denktradition der Naturwissenschaften als richtige Wissenschaft auszuweisen, da Kausalität im strengen Sinne durch sie nicht beweisbar ist. Der Kausalitätsbegriff der Epidemiologie ist ein eher gradueller im Sinne von zunehmender Evidenz durch das Zusammentragen von Indizien";
C. Die Immissionsgrenzwerte nach dem BlmSchG
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Folgerichtig macht der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen unmißverständlich klar, "daß epidemiologische Untersuchungen die notwendigen Kenntnisse und Voraussetzungen (nicht) liefern können, um direkt und auf die gesamte exponierte Bevölkerung bezogen die Frage zu beantworten, ob und ggf. von welchen Schwellen an ein Umweltfaktor gesundheitsschädlich ist"74. Mithin führt die der epidemiologischen Methode inhärente systematische Schätzunsicherheit nach allgemeiner fachwissenschaftlicher Ansiches zu einer inakzeptablen Irrtumswahrscheinlichkeit bezüglich der wahren Wirkungsschwellenparameter in der genehmigungsrechtlich maßgeblichen Population. Mit den so gewonnenen Erkenntnissen kann vor allem das Vorverständnis über die Zusammenhänge zwischen Immission und Wirkung erweitert werden76. Eine fehlende Signifikanz bei einer epidemiologischen Untersuchung ist nicht zwangsläufig mit Wirkungslosigkeit gleichzusetzen77• Denn bei epidemiologischen Untersuchungen kann immer nur auf den signifikanten Wirkungsunterschied bei stärkerer Immissionsbelastung gegenüber schwächerer Immissionsbelastung geprüft werden78• Diese systemimmanente Erkennbarkeitsschwelle von Wirkungen ist grundsätzlich nicht eliminierbar. Die Erkennbarkeitsschwelle von Wirkungen, das ist die Signiftkanzschwelle, gibt den geringsten Unterschied in der ermittelten Wirkung an, die statistisch noch zu sichern ist79• Weisen die Vergleichsgebiete annähernd gleiche Immissionsbelastung auf, so ist wegen mangelnder Belastungsdifferenz eine Signifikanz nicht zu erkennen; oder das untersuchte Kollektiv ist möglicherweise zu klein, um den Effekt beobachten zu können80•
sinngemäß auch Rat, Umweltgutachten 1974, S. 17; ebenso Dreyhaupt, Handbuch, S. 101; zur Problematik epidemiologischer Korrelationen und den darauf beruhenden Hochrechnungen siehe Hosemann, et 1993, 406, passim. 74 Rat, Umweltgutachten 1987, S. 448 f. 75 In diesem Sinne etwa Rat, Umweltgutachten 1974, S. 17; ders., Umweltgutachten 1987, S. 451, 470, passim; VDI (Hrsg.), Richtlinie 2309 Blatt 1, S. 20, passim; Dreyhaupt, Handbuch, S. 101; Modan, S. 60 ff.; allgemein in diesem Sinne Vallendar, GewArch 1981, 282 f.; PoU/Schlipköter, Umwelt 1978/1, 38 ff.; Prinz, Staub-Reinhalt.Luft 44 (1984), Nr. 3, S. 117. 76 Rat, Umweltgutachten 1974, S. 17. 77 VDI (Hrsg.), Richtlinie 2309 Blatt 1, S. 10 f. 18 VDI (Hrsg.), Richtlinie 2309 Blatt 1, S. 10. 79 Vgl. VDI (Hrsg.), Richtlinie 2309 Blatt 1, S. 10 f., wo statt von "Wirkung" von "Mortalität" gesprochen wird. 80 Vgl. VDI (Hrsg.), Richtlinie 2309 Blatt 1, S. 10.
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
4. ln·vitro-Versuche an biologischem Material
In-vitro-Versuche beruhen auf ausschnitthaften, vereinfachten Modellen von Vorgängen im lebenden Organismus81• Nach Darstellung des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen ist die Übertragung der Ergebnisse aus der Zellkultur auf Vorgänge im lebendigen Tier oder im menschlichen Organismus jedoch mit Unsicherheiten belastet82• Die Population der Zellkultur unterscheidet sich signifikant von den anderen beiden genannten Populationen, so daß die Schätzung für den wahren Wirkungsschwellenparameter in der menschlichen Population mit einer inakzeptablen Irrtumswahrscheinlichkeit behaftet wäre. Eine wirkungsanalytisch hinreichende Absicherung der Aussagen über Dosis-Wirkungs-Beziehungen ist folglich mit diesem Verfahren der Datenerhebung ebenfalls nicht durchführbar. 5. Kasuistische Erfahrungen beim Menschen
Kasuistische Erfahrungen beim Menschen werden dadurch gesammelt, daß alle gewerbehygienischen, suizidalen und akzidentiellen Vergiftungen ausgewertet und dokumentiert werden, um sie dann für eine auf den Menschen bezogene Stoffbeurteilung heranzuziehen83• Die so gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen einen qualitativen Vergleich der Wirkungen beim Tier und beim Menschen und verbessern damit im günstigsten Fall die Grundlagen für die Übertragung von Ergebnissen aus dem Tierversuch auf den Menschen84• Es ist in der Regel besonders schwierig, für chronische Vergiftungen die Zusammenhänge zwischen Stoff, Exposition und Schädigung aufzudecken, da man in diesen Fällen keine oder keine ausreichende Kenntnis besitzt über die Art und den zeitlichen Verlauf der Exposition, die persönliche Vorbelastung und über die Wirkung anderer Einflußgrößenas. Dies trifft um so mehr zu, wenn die Symptome unspezifisch sind, also verschiedenen Ursachen zugeschrieben werden können oder unter dem Bild bekannter Krankheiten ablaufen86.
81
Rat, Umweltgutachten 1987, S. 448. Vgt. Rat, Umweltgutachten 1987, S. 448. 83 Vgt. Rat, Umweltgutachten 1987, S. 448; nur gewerbehygienische Untersuchungen erwähnend Rat, Umweltgutachten 1974, S.17. 84 Rat, Umweltgutachten 1987, S. 448. as Rat, Umweltgutachten 1987, S. 448. 86 Rat, Umweltgutachten 1987, S. 448. 82
C. Die Immissionsgrenzwerte nach dem BlmSchG
31
Das abschließende Urteil des Rates für Umweltfragen lautet folgendermaßen: "In solchen Fällen ist es nicht nur schwierig und aufwendig, eine Hypothese über einen vermuteten Zusammenhang zu prüfen, sondern überhaupt erst eine solche Hypothese zu bilden."87 6. Zusammenfassung
Es wurde gezeigt, daß die Festsetzung der immissionsschutzrechtlichen Grenzwerte im wesentlichen auf den MIK-Werten der Kommission Reinhaltung der Luft bzw. Lärm beruht. Die Basis der MIK-Werte sind die Luftqualitätskriterien. Luftqualitätskriterien sind die Gesamtheit aller für einen Stoff vorliegenden Dosis-Wirkungs-Beziehungen. Methoden zur Ermittlung der Dosis-Wirkungs-Beziehungen sind toxikologische und epidemiologische Untersuchungen, In-vitro-Versuche an biologischem Material sowie kasuistische Erfahrungen beim Menschen. Ferner wurde dargestellt, daß keine dieser Methoden frei ist von systemgebundenen Schwierigkeiten. Zum einen ist es wegen des grundgesetzliehen Verbots von unfreiwilligen Menschenversuchen unmöglich, mit Hilfe der toxikologischen Methode unmittelbar auf den Menschen bezogene Aussagen über Dosis-Wirkungs-Beziehungen zu gewinnen. Zum anderen führt bei der epidemiologischen und kasuistischen Methode die systematische Unkenntnis über die tatsächlich für die Erzielung einer beobachteten Wirkung ursächlichen Faktoren dazu, daß eine rein auf Tatsachen gegründete Wirkungsschwelle für den Menschen nicht ermittelt werden kann. Die mit der In-vitro-Methode an Zellkulturen gewonnenen Ergebnisse sind nicht repräsentativ für den menschlichen Organismus. IV. Immissionsgrenzwerte und karzinogene Stoffe Nach dem gegenwärtigen Stand der Wirkungsforschung können für krebserzeugende Stoffe keine Schwellendosen, bei deren Unterschreiten eine Unbedenklichkeit angenommen werden kann, angegeben werden88• Pott89 zufolge würde als allgemeiner Schwellenwert eine Dosis gelten, deren Unterschreiten ein Krebsrisiko im Verlaufvon 80 bis 100 Lebensjahren beijedem Menschen
87 Rat, Umweltgutachten 1987, S. 448. 88 Rat, Umweltgutachten 1987, S. 444, 453 f.; Feldhaus/Ludwig!Davids, DVBI. 1986, 651 m. N.; Pott, Staub-Reinhalt. Luft 44 (1984) Nr. 3, S.123 ff; Salzwedel, Staub·Reinhalt. Luft 52 (1992), S. 6, passim; Hansmann, Problematik, S. 298. 89 Pott, Staub·Reinhalt.Luft 44 (1984) Nr. 3, S. 123.
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Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
ausschließt, deren Überschreiten jedoch bei entsprechender Empfindlichkeit eine Tumorbildung verursachen kann. Im allgemeinen wird deswegen von einer linear verlaufenden Dosis-Wirkungs-Beziehun;:- ohne Schwellenwert ausgegangen90. Aus diesem Grunde hat die Bundesregierung darauf verzichtet, Immissionsgrenzwerte im Sinne von Nr. 2.2.1.1 i. V. mit Nr. 2.5.1 TA Luft 1986 für karzinogene Stoffe in der TA Luft 1986 festzulegen91• Die tatbestandliehe Konkretisierung des Gefahrenausschlusses im Sinne der TA Luft 1986 besteht darin, daß gemäß Nr. 2.2.1.5. i. V. mit Nr. 2.3 Abs. 1 die "im Abgas enthaltenen Emissionen karzinogener Stoffe ... unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeitsoweit wie möglich zu begrenzen" sind. Soweit dennoch Immissionsgrenzwerte für karzinogene Stoffe festgesetzt werden, dienen diese operational der Risikominderung, sie markieren jedoch nicht einen Bereich des gesundheitlich Unbedenklichen92• Jede rechtlich verbindliche Fixierung eines Immissionsgrenzwertes zur Sicherstellung des kausalitätsbezogenen Individualschutzes i. S. d. Gefahrenabwehr enthält zugleich ein Urteil über das kalkulierte zugemutete Kollektiv- oder Bevölkerungsrisiko und ist eine politische Willensentscheidung, d. h. reine Dezision93•
D. Die atomrechtlichen Strahlengrenzwerte I. Vorbemerkung
Entsprechend der immissionsschutzrechtlichen Regelung bedient sich die atomrechtliche Gefahrenabwehr für den bestimmungsgemäßen Betrieb ebenfalls der Rechtsfigur des Grenzwertes, hier in der Form des atomrechtlichen Strahlengrenzwertes. Die Festlegung der atomrechtlichen Strahlengrenzwerte unterscheidet sich von der, wie sie oben für den Immissionsgrenzwert beschrieben wurde. Im folgenden wird deswegen die atomrechtliche GrenzwertfiXierung dargestellt.
90 Pott, Staub-Reinhalt.Luft 44 (1984) Nr. 3, S. 125. 91 In diesem Sinne Feldhaus/Ludwig!Davids, DVBI. 1986, 651; ausführlich zu dieser Problematik Salzwedel, Staub-Reinhalt Luft 52 (1992}, S. 3 ff. 92 Vgl. Rat, Umweltgutachten 1987, S. 444. 93 Vgl. Rat, Umweltgutachten 1987, S. 60; ebenfalls Salzwedel, Staub-Reinhalt Luft 52 (1992), passim, der insbesondere Bedenken vor allem gegen die Art und Weise, wie die Maßstäbe für die Immissionsbegrenzung zustande kommen, äußert. Kritisch hebt er die Problematik hervor, daß die quantitative Gefährdungsabschätzung für die wichtigsten kanzerogenen Frachten ganz überwiegend auf Hochrechnungen von Ergebnissen aus Tierversuchen beruht.
D. Die atomrechtlichen Strahlengrenzwerte
33
Für ein Verständnis der Diskussion um die atomrechtlichen Grenzwerte ist es vorteilhaft, etwas über die Eigenart radiologischer Strahlung und deren Wirkung auf den Menschen zu wissen. Im folgenden werden diese Kenntnisse skizziert. Schließlich soll, wie oben für den Immissionsgrenzwert, auch für den atomrechtlichen Strahlengrenzwert geklärt werden, welcher Art die methodischen Probleme der hier verwendeten Verfahren der Datenerhebung sind. Denn gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG darf die Genehmigung nur erteilt werden, "wenn die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist". Sofern sich bei der Beantwortung dieser Frage sachliche Übereinstimmung mit den Ausführungen zum Immissionsgrenzwert im Hinblick etwa auf das Ergebnis und die Argumentation ergibt, wird auf eine detaillierte Darstellung verzichtet und auf die obigen Ausführungen verwiesen. II. Radiologische Grundlagen Für ein besseres Verständnis der atomrechtlichen Grenzwerte und den damit zusammenhängenden Fragen werden zunächst elementare Kenntnisse über radiologische Grundlagen vermittelt. Die gesamte Strahlenexposition des Menschen in der Bundesrepublik Deutschland setzt sich zusammen aus der natürlichen und der zivilisatorischen Strahlenbelastung94• Unter Strahlenexposition versteht man die Einwirkung ionisierender Strahlen auf den menschlichen Körper95• Ionisierende Strahlen sind Photonen- oder Teilchenstrahlen, die in der Lage sind, direkt oder indirekt die Bildung von Ionen zu bewirken96• Allen ionisierenden Strahlen ist ihre biologische Wirksamkeit gemeinsam97• Entsprechend der Definition der "Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission"98 werden die schädlichen Wirkungen ionisierender Strahlen in somatische und genetische Wirkungen unterteilt. Somatische Strahlenschäden sind solche Schäden, die bei den der Strahlung ausgesetzten Personen auftreten99• U. a. rechnen Erkrankungen an Krebs und
94 Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 3. (Für die Darstellung strahlenbiologischer Zusammenhänge wird auf die alte Fassung Bezug genommen.) 95 Anlage I StriSchV. 96 Anlage I StrlSchV. 97 Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 222. 98 Veröffentlichungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP), Heft 26, zitiert beiKramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 222. 99 Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 6. 3 Lohse
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
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Leukämie zu den somatischen SchädenulO. Somatische Schäden treten bei Personen auf, die hohe Strahlendosen (mehr als 0,5 Sv) erhalten haben und führen zu Schädigungen der Blutbildung und des Magen-Darm-Systems101• Strahlendosen von 3 Sv führen bei etwa 20% der solchen Dosen ausgesetzten Personen zum Tode102. Dieser Prozentsatz steigt rasch an, wenn sich die Dosen erhöhen103. Genetische Strahlenschäden sind Schäden, die erst bei den Nachkommen bestrahlter Personen auftreten104. Bei genetischen Strahlenschäden werden Mutationen der Chromosomen ausgelöst, was zu funktionellen und physiologischen Beeinträchtigungen der Nachkommen führen kann1os. Die Strahlenexposition des Menschen erfolgt durch direkte Strahlung, durch Kontamination, das ist eine durch radioaktive Stoffe verursachte Verunreinigung, durch Inkorporation, d. h. durch eine Aufnahme radioaktiver Stoffe in den meschlichen Organismus, sowie durch eine Kombination aller vorher genannten Einwirkungsmechanismen106• Die Bestrahlung durch ionisierende Strahlen kann sowohl von außen auf den gesamten Körper oder auf einen Teil desselben als auch von innen her erfolgen107• Die Inkorporation radioaktiver Stoffe führt zu einer inneren Bestrahlung im Organismus, entsprechend dem Stoffwechsel wirkt sie sich aufbestimmte Gewebe und Organe besonders schädigend aus108. Die natürliche Strahlenexposition in der Bundesrepublik Deutschland beträgt im Mittel1,1 mSv pro Jahr109• Im einzelnen hängt dieser Wert von verschiedenen Faktoren ab, z. B. von der geographischen Lage, dem Bodenuntergrund und der Bauausführung des Wohnhauses, und liegt zwischen 1 und 6 mSvpro Jahr110• Die Summe der zivilisatorisch bedingten Strahlenexposition lag für das Bundesgebiet in den Jahren bis 1987 bei etwa 0,6 mSv pro Jahr111• Der Anteil an dieser Strahlenexposition durch den Betrieb kerntechnischer
100 101
102 103 104 tos 106 107 108
109
Kramer/Zerleu, Komm. zur StriSchV, S. 6. Kramer/Zerleu, Komm. zur StrlSchV, S. 6. Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 6. Kramer/Zerku, Komm. zur StriSchV, S. 6. Kramer/Zerleu, Komm. zur StriSchV, S. 6. Kramer/Zerleu, Komm. zur StriSchV, S. 6. Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 5. Kramer!Zerleu, Komm. zur StriSchV, S. 5. Kramer/Zerleu, Komm. zur StriSchV, S. 5. BMU (Hrsg.), Umweltpolitik, S. 80; lacobi, atw 1983, 246; Kramer/Zerku, Komm. zur
StriSchV, S. 3. 110 Rat, Umweltgutachten 1987, S. 520, 528. 111 BMU (Hrsg.), Umweltpolitik, S. 80; Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 3.
D. Die atomrechtlichen Strahlengrenzwerte
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Anlagen beträgt weniger als 0,01 mSv und wird weitgehend durch die mit dem bestimmungsgemäßen Betrieb erfolgenden Ableitungen radioaktiver Abluft und radioaktiven Abwassers verursacht112• 111. Radiologische Wirkungen und Wirkungsschwellen Die radiologischen Wirkungen werden unterteilt in die stochastischen und die nichtstochastischen Strahlenwirkungen113• Als stochastische Strahlenwirkungen bezeichnet man solche Schäden, deren Wahrscheinlichkeit, daß sie auftreten, als eine Funktion der Dosis betrachtet wird114• Hierzu zählen die genetischen Wirkungen, das sind die vererbbaren Schäden, sowie einige somatische Wirkungen, etwa bösartige Neubildungen m. Nichtstochastische Wirkungen sind Strahlenwirkungen, deren Schweregrad in direktem Verhältnis zur Größe der Dosis steht116• Nichtstochastische somatische Strahlenschäden können als spezifiSch für bestimmte Gewebe angesehen werden, z. B. die Linsentrübung, die Knochenmarkschädigung und die Schädigung der Keimzellen, die zur Störung der Fruchtbarkeit führen kann117• Im Bereich niedriger und mittlerer Strahlendosen, d. h. im Bereich unterhalb etwa 1 Sv, bestehen die Strahlenschäden überwiegend aus den sogenannten stochachstischen Strahlenschäden, also aus Krebs, Leukämie, Erbschäden bei Nachkommen, Mißbildung und mentalen Behinderungen118• Bei sehr hohen Dosen nimmt die Wahrscheinlichkeit von Strahlenkrebs wieder ab, da dann nichtstochastiche Effekte für die Lebensverkürzung ausschlaggebend sind119• Eine allgemeine Schwellendosis kann nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft nicht angegeben werden, deren Höhe hängt vielmehr stark von der Dosisrate ab120• Zu rechnen ist mit nichtstochastischen Strahlenschäden jedenfalls bei hohen und sehr hohen Dosen, d. h. ab etwa 1 Sv121• Da das Gewebe die Fähigkeit besitzt, die Zellerneuerungsrate zu regulieren, verschiebt sich die
112 BMU (Hrsg.), Umweltpolitik, S. 80; Kramer/Zerlen, Komm. zur StrlSchV, S. 3; lacobi, atw 1983, 246; i. d. S. auch Rat, Umweltgutachten 1987, S. 520. 113 Kramer/Zerlett, Komm. zur StrlSchV, S. 222; lacobi, atw 1983, 239; BMFf (Hrsg.), Risikostudie, S. 188 ff. 114 Kramer/Zerlett, Komm. zur Str!SchV, S. 222. 11S Kramer/Zerlett, Komm. zur Str!SchV, S. 222. 116 Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 222. 117 Kramer/Zerlett, Komm. zur Str!SchV, S. 222. 118 Etwalacobi, atw 1983, 239; ebenso BMFf (Hrsg.), Risikostudie, S. 190. 119 BMFf (Hrsg). Risikostudie, S. 190. 120 lacobi, atw 1983,239. 121 lacobi, atw 1983,239.
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Schwellendosis für nichtstochastische Strahlenschäden mit sinkender Dosisrate hin zu höheren Dosen122. Nach dem Stand der Wissenschaft existiert für nichtstochastische Strahlenschäden eine Wirkungsschwelle, bei deren Unterschreiten eine gesundheitliche Schädigungnicht auftritt123• Nach dem Stand der Wissenschaft existiert für stochastische Strahlenwirkungen keine Wirkungsschwelle124. Es ist davon auszugehen, daß selbst kleinste Strahlendosen schädliche Wirkungen auszulösen in der Lage sind125. Das Strahlenrisiko im Bereich niedriger Dosen muß stets auf der Basis von Modellen extrapoliert werden126• Entsprechend den Empfehlungen der International Commission on Radiological Protektion {ICRP) wird für Zwecke des Strahlenschutzes von einer proportionalen, d. h. linearen Dosis-WirkungsBeziehung bei stochastischen Strahlenschäden ausgegangen127• Stoll und Bekker128 weisen darauf hin, daß das linea.I:_~ Dosiswirkungskonzept nur eine besonders konservative Annahme darstellt, welches nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse schon deswegen nicht widerlegt werden kann, weil es nicht beweisbar ist. IV. Die Festsetzung radiologischer Immissionsgrenzwerte 1. Die Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutz-Kommission
Nach Aussage des BMFI'129 bilden die Veröffentlichungen der Internationalen Strahlenschutz-Kommission die wissenschaftliche Grundlage für die nationale Strahlenschutzgesetzgebung und deren Durchführung. In den Empfehlungen der ICRP wird folgende Strategie der Grenzwertfestlegung ausgesprochen:
122 Jacobi, atw 1983, 239. 123 Etwa Jacobi, atw 1983, 239 ff.; BMFf (Hrsg.), Risikostudie, S. 189 ff.; Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 5 f., 222 f. 124 Etwa Jacobi, atw 1983, 239 rr.; BMFf (Hrsg.), Risikostudie, S. 189 ff.; Kramer/Zerlett, Komm. zur Str!SchV, S. 5 f., 222 f. 125 Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 222; BMFf (Hrsg.), Risikostudie, S. 187 ff.; Jacobi, atw 1983, 238 ff.; kritisch zu dieser Ansicht StoU/&cker, atw 1989, 172. 126 Etwa Jacobi, atw 1983, 240. 127 Etwa Jacobi, atw 1983, 240 f., passim; ebenso BMFf (Hrsg.), Risikostudie, S. 196. 128 Sto/1/Becker, atw 1989, 173. 129 BMFf (Hrsg.), Kernenergie, S. 236.
D. Die atomrechtlichen Strahlengrenzwerte
"Nichtstochastische Wirkungen könnten dadurch verhindert werden, daß die Grenzwerte für die Äquivalentdosen ausreichend niedrig festgesetzt werden, so daß selbst nach einer Strahlenexposition während des ganzen Lebens oder während der ganzen Beschäftigungszeit der Schwellenwert nicht erreicht würde. Die Begrenzung stochastischer Wirkungen ist dadurch zu erreichen, daß alle gerechtfertigten Strahlenexpositionen so niedrig gehalten werden, wie es unter Berücksichtigung wirtschaftlicher und sozialer Faktoren vernünftigerweise erreichbar ist, wobei immer darauf geachtet werden muß, daß die entsprechenden Grenzwerte für die Äquivalentdosis nicht überschritten werden."130 Unter Äquivalentdosis wird das Produkt aus Energiedosis und dem Bewertungsfaktor, welcher der Anlage VII der StrlSchV zu entnehmen ist, verstanden131. Die ICRP hielt in ihrer Empfehlung von 1977 einen GanzkörperdosisGrenzwert von 5 mSv pro Jahr132 und eine genetische Dosis von 0,05 Sv in 30 Jahren, die zu je 1/3 aufgeteilt wird auf die Bereiche Medizin, Kerntechnik und sonstige künstliche Strahlenbelastungen (z. B. Fall-out) 133, für zulässig. Die Empfehlung führte zu einem Richtwert von etwa 0,02 Sv in 30 Jahren für die Kerntechnik134. Der oben genannte Grenzwert von 5 mSv pro Jahr für Einzelpersonen wurde im Vergleich zu anderen allgemein akzeptierten Risiken des Alltagslebens (Personenverkehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln) errechnet, wie Stall und Becker135 bemerken. Aufgrundneuerer Daten hat die ICRP ihre Empfehlungen für den Strahlenschutz von 1977 im November 1990 in revidierter Form neu gefaßt. Für die allgemeine Bevölkerung wird der Grenzwert der Jahresdosis aus künstlichen Strahlenquellen von bisher 5 mSv auf 1 mSvreduziert136. Die ICRP ist eine internationale nichtstaatliche Organisation. Die von ihr veröffentlichten Strahlenschutzempfehlungen binden die Bundesrepublik Deutschland nicht, wennweich diese teilweise auch den Regelungen der StrlSchV zugrunde liegen13 •
130 Emfpehlung der Internationalen Strahlenschutz-Kommission, zitiert bei Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 222 f. 131 Vgl. Anlage I StriSchV; etwas ausführlicher hierzu Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, s. 6 f. 132 Zitiert bei BVerwG, NJW 1981, 1394. 133 Zitiert bei Kramer!Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 13, 14 m. w. N. 134 Zitiert bei Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 13, 14 m. w. N. 135 StoU!Becker, atw 1989, 175. 136 Mitteilung in der atw 1991, 57, ohne Autor.
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
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2. Das "0,3-mSv-Konzept" der Bundesregierung
Die nach dem sogenannten 0,3-mSv-Konzept durch die Bundesregierung in der StrlSchV normierten Dosisgrenzwerte lie§en unterhalb der Werte, die sich aus den Empfehlungen der ICRP ergeben1 • Nach diesem Konzept dürfen Personen, die sich außerhalb der Strahlenschutzbereiche in der unbeteiligten Umgebumg einer kerntechnischen Anlage aufhalten, aufgrundder mit dem Normalbetrieb der Anlage verbundenen radioaktiven Strahlung keinen höheren Körperdosen als 0,3 mSv pro Jahr ausgesetzt sein139• Anders ist dies für Störfälle, hier mutet§ 28 Abs. 3 StrlSchV unbeteiligten Personen in der Umgebung der Anlage höhere Dosisgrenzwerte zu: "Bei der Planung ist die Anlage so auszulegen, daß auch im ungünstigsten Störfall höchstens der Wert für beruflich strahlenexponierte Personen von 50 mSv erreicht wird."140 Jedoch stehen alle oben genannten Grenzwerte unter dem Strahlenminimierungsgebot des§ 28 Abs. 1 StrlSchV. Die nach dem 0,3-mSv-Konzept no~erten Dosisgrenzwerte liegen weit unterhalb der von der Wissenschaft angenommenen WirkungsschweDe für nichtstochastische Strahlenschäden141• Nichtstochastische Strahlenschäden des Menschen als Folge der aus dem bestimmungsgemäßen Betrieb einer kerntechnischen Anlage resultierenden Strahlenexposition können somit nach dem Stand der Wissenschaft als ausgeschlossen gelten142• Da es für stochastische Strahlenschäden nach dem Stand der Wissenschaft keine WirkungsschweDe gibt, steDen die nach dem 0,3-mSv-Konzept für den bestimmungsgemäßen Betrieb einer kerntechnischen Anlage erlaubten Dosisgrenzwerte das Höchstmaß an künstlicher Strahlenbelastung dar, welches der Verordnungsgeber dem einzelnen, wo immer er sich auch jenseits der Überwachungsbereiche von Kernkraftwerken aufhalten mag, zumutee43• Die Bundesrepublik Deutschland orientiert sich bei der Festlegung der Strahlengrenzwerte nicht an einem Risikovergleich, wie die ICRP, sondern an der statistischen Schwankungsbreite der natürlichen Strahlung, weswegen der Wert mit 0,3 mSv erheblich niedriger ausgefallen ise44•
131
Kramer/Zerlett, Komm. zur StriSchV, S. 13, 14m. w. N.
138
Vgl. BVerwG, NJW 1981, 1394; dies gilt auch nach der Revision der ICRP-Strahlenschutzempfehlungvon 1977 im November 1990. 139 Veith, StrlSchV 1989, S. 25 140 Veith, StriSchV 1989, S. 25. In diesem Sinne Jacobi, atw 1983, 239. Jacobi, atw 1983, 239. 143 In diesem Sinne BVerwG, NJW 1981, 1394; Levi, atw 1991, 69, passim. 144 Stoll!Becker, atw 1989, 175; ausführlich bei Levi, atw 1991, 69. 141
142
D. Die atomrechtlichen Strahlengrenzwerte
39
Sommer 145 zufolge handelt es sich bei dem 0,3-mSv-Konzept im Grunde um ein Immissionsschutzkonzept Nach seiner Ansicht entsprechen diese atomrechtlichen Dosisgrenzwerte für den bestimmungsgemäßen Betrieb einer kerntechnischen Anlage, sieht man von gewissen Unterschieden ab, auf die es hier nicht ankommt, den Immissionsgrenzwerten der Nr. 2.5 in der TA Luft 1986146• V. Verfahren der Datenerhebung und Festlegung der atomrechtlichen Strahlengrenzwerte - Ergebnis Der für die Konkretisierungspraxis der atomrechtlichen Strahlengrenzwerte maßgebliche Stand der Wissenschaft stützt sich auf eine empirische Datenbasis über Dosis-Wirkungs-Beziehungen. Die Wissenschaft bedient sich bei der radiologischen Wirkungsforschung zur Ermittlung von Dosis-Wirkungs-Beziehungen einer Reihe von Verfahren der Datenerhebung. Es werden hier die gleichen Verfahren verwendet, wie sie schon mit Blick auf die Luftqualitätskriterien oben festgestellt wurden. Im einzelnen sind dies die epidemiologischen Untersuchungen, tierexperimentelle, d. h. toxikologische Untersuchungen, Invitro-Versuche an biologischem Material sowie kasuistische Erfahrungen beim Menschen147• Auch Jacobi148 erinnert daran, daß eine direkte quantitative Übertragung tierexperimenteller Befunde auf den Menschen nicht möglich ist. Ferner weisen Stoll und Becker149 darauf hin, daß die Unsicherheit über die Wirkung kleinster Dosen mit Hilfe epidemiologischer Aussagen nicht einzuengen, d. h. zu klären ist. Levi150 äußert sich hierzu wie folgt: "Wenn man auch in der Praxis des Strahlenschutzes mit der Annahme einer linearen Dosis-Wirkungs-Beziehung und dem daraus folgenden Rechtfertigungs- und Optimierungsgebot recht gut leben kann, bleibt das Verständnis
Sommer, DÖV 1983, 756. Sommer, DÖY 1983, 756, 754 f. 147 Umfangreich hierzulacobi, atw 1983, 238 ff., passim; Stoll/Becker, atw 1989,172 ff., passim; Rat, Umweltgutachten 1987, S. 446 ff.; Rat, Sondergutachten 1981, S. 52, dort heißt es: "Die Mechanismen der Schadeffekte radioaktiver Einwirkungen auf biologische Systeme sind relativ gut untersucht. Quantitative Risikoabschätzungen sind anband experimentell ermittelter und epidemiologisch beobachteter Dosis-Wirkungs-Beziehungen möglich und vielfach durchgeführt worden."; zu den Methoden auch Levi, atw 1989, 32. 148 Jacobi, atw 1983, 240; ebenso Levi, atw 1989, 30, für den die "Übertragbarkeit (von Erkenntnissen aus Tierversuchen/ d. Verf.) auf den Menschen mit Unsicherheiten behaftet ist." 149 Stoll/Becker, atw 1989, 173. 150 Levi, atw 1989, 33. 145
146
40
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
der Wirkung kleiner Dosen wissenschaftlich doch ein Kernproblem der strahlenbiologischen Wirkungsforschung. Diese Wirkungen sind allerdings weder durch epidemiologische Studien noch in Tierexperimenten zugänglich. Man kann leicht zeigen, daß der Nachweis von Effekten dieser Größenordnung epidemiologisch prinzipiell unmöglich ist und tierexperimentell einen nicht darstellbaren Aufwand erforderte." Wenn auch die Festlegung der atomrechtlichen Strahlengrenzwerte formal anders erfolgt als bei den immissionsschutzrechtlichen Grenzwerten, so sind sie methodisch bedingt doch mit den gleichen unüberwindlichen Unsicherheiten behaftet. Methodisch deswegen, da, wie oben gezeigt, die gleichen Verfahren der Datenerhebung verwendet werden.
E. Der Maßstab der "praktischen Vernunft" In diesem Abschnitt werden die Konkretisierungspraxis der tatbestandliehen Anforderungen an die störfallbezogene Gefahrenabwehr und der praktische Störfallausschluß, der dem Maßstab der praktischen Vernunft genügen muß, dargestellt. Zuerst wird die Formel "Maßstab der praktischen Vernunft" erläutert. Es folgt eine Darstellung dieser Formel als sicherheitsrechtliche Richtlinie für das Auslegen einer genehmigungsbedürftigen Anlage. Der für die Konkretisierungspraxis maßgebliche Stand der Wissenschaft im Hinblick auf auslösende Ereignisse und Auslegungsbeanspruchungen stützt sich auf eine empirische Datenbasis. Die Verfahren der Datenerhebung für die Ermittlung dieser Datenbasis werden vorgestellt. Die methodischen Probleme der Verfahren der Datenerhebung werden diskutiert.
I. Die praktische Vernunft als materieller Standard Wie gezeigt, gilt die störfallbezogene Gefahrenabwehr als sichergestellt, wenn der Eintritt eines Störfalls nach dem Maßstab der praktischen Vernunft ausgeschlossen erscheint. Für den atomrechtlichen Geltungsbereich fmgiert dieser praktische Ausschluß des Auslegungsstörfalles die Einhaltung der Störfall-Planungsdosis. Dies ist deswegen im Einzelfall nicht mehr nachzuprüfen, da dem durch die Formulierung der allgemeinen Auslegungsgrundsätze Rechnung getragen wurde. Einen entsprechenden Zusammenhang zwischen Störfall-Immissionsgrenzwert und dem praktischen Ausschluß eines Störfalles gibt es im immissionsschutzrechtlichen Geltungsbereich nicht. Überhaupt kennt das BimSchG die Unterscheidung zwischen einem normalbetriebsbezogenen und einem störfallbezogenen Immissionsgrenzwert gar nicht.
E. Der Maßstab der ''praktischen Vernunft"
41
Weder das AtomG noch das BlmSchG noch deren untergesetzliche Regelungen enthalten eine Normierung des praktischen Ausschlusses. Diese hat sich vielmehr in genehmigungsbehördlicher Praxis in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung entwickelt. Nach h. M.151 in Literatur, Rechtsprechung und Behördenpraxis wird die praktische Vernunft als ein materieller Standard angesehen. Jedoch ist das Verständnis dieser Formel nicht einheitlich. Es haben sich diesbezüglich vielmehr zwei Ansichten entwickelt, die im folgenden dargestellt werden. 1. Praktische Vemuoft als das Urteil des erfahreoeo Techoikers uod Naturwisseoschaftlers
Sowohl die Formel "Standard der praktischen Vernunft" als auch die ihr zugrundeliegenden materiellrechtlichen Vorstellungen gehen zurück auf Breuerm. Das BVerfG hat sich in seinem sogenannten Kalkar-Beschluß nach ganz überwiegender Ansicht Breuers Formel und deren Interpretation zu eigen gemachtm. Breuer154 zufolge braucht ein "Schadenseintritt ... nicht mehr in Betracht gezogen zu werden, wenn es aufgrundder getroffenen Vorsorgemaßnahmen und des Erkenntnisstandes der führenden Naturwissenschaftler und Techniker praktisch nicht vorstellbar ist, daß ein bestimmtes Schadensereignis eintritt. Unter diesen Voraussetzungen ist der Schadenseintritt zwar nicht absolut, d. h. natur-oder denkgesetzlich, wohl aber praktisch ausgeschlossen." In Anlehnungdaranstellt der Zweite Senat des BVerfG fest, das AtomG lasse eine Genehmigung nur dann zu, "wenn es nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen erscheint, daß solche Schadensereignis-
151 Etwa Breuer, DVBI. 1978, 835, passim; ders., WiYelW. 1981, 219, 228 ff.; ders., Umweltschutzrecht, S. 405 f., Rn. 24, 25; Marburger, Schadensvorsorge, S. 95 ff.; ders., et 1984, 212; ders., Bewertung von Risiken, S. 35; Hohlefelder, et 1983, 394, 396; Feldmann, et 1983, 388 f.; Ossenbühl, Anlagen, S. 46; Scholz, Technik, S. 694; Kramer, NJW 1981, 261; Sommer, DÖV 1981, 654 ff.; Rengeling, DVBJ. 1988, 257 ff.; ders., Schadensvorsorge, S. 71, passim; loschek, Bewertung, S. 14; Lukes, Regelungsbedarf, S. 31; Obenhaus/Kuckuck, DVBI. 1980, 155; BVerfG, NJW 1979, 363; VG Koblenz, et 1984, 711 f.; OVG Lüneburg, DVBI. 1982, 33 f.; OVG Lüneburg, DVBJ. 1984, 891 f.; OVG Lüneburg, et 1982, 955 f., = UPR 1983, 161, 166 f.; BayVGH, NJW 1980, 762; BVelWG, DÖV 1986, 434 f., = NVwZ 1986, 213; VGH Baden-Württemberg, et 1982,863 ff.; VG Düsseldorf, et 1984, 785; OVG Koblenz, et 1981,212. 152 Breuer, DVBI. 1978, 835; auf diesen Sachverhalt weist etwa Schochtschneider, Rechtsbegriff, S. 109, 102 in Fn. SS m. v. w. H., hin. 153 BVerfG, NJW 1979, 363; die Übernahme der Interpretation und damit des "Begriffes" von Breuer bestreitet Schachtschneider, Rechtsbegriff, S. 102 in Fn. 55, passim. 154 Breuer, DVBJ.1978, 835.
42
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
se eintreten werden"155• An der "Schwelle praktischer Vernunft" wird der praktische Ausschluß von Schadensereignissen verwirklicht156• Um den praktischen Ausschluß von Störfällen sicherzustellen, sind nicht nur "erfahrungsgemäße Gefahrenabläufe" zu berücksichtigen, sondern auch solche, die von der "allgemeinen Erfahrung" abweichen, jedochgrundsätzlich als möglich angesehen werden1S7. Es ist ersichtlich, daß die Formel, verstanden als "qualitativer Maßstab"158, keine Vereinheitlichung für die Praxis des Gefahrenausschlusses herbeiführen kann. Denn wann ein Schadenseintritt ausgeschlossen ist, ist aus dieser Formel nicht subsumierbar, da sie hierfür kein "generelles Kriterium"159 enthält. Es ist der Feststellungvon Wolf160 zuzustimmen, daß die "praktische Vernunft" nicht viel mehr bedeuten kann als die "Vernunft der Praktiker". Materiell entpuppt sich der "Standard der praktischen Vernunft" als eine "Leerformel"161 und ebnet einervom Urteil des Technikers und Naturwissenschaftlers abhängigen administrativen dezisionistischen Vorgehensweise bei der Praxis der Sicherstellung des Gefahrenausschlusses den Weg162• Breuers163 Optimismus in der Beurteilung des von ihm kreierten "Standard der praktischen Vernunft" ist deswegen tatsächlich nicht begründet. Denn daß sich durch diese Formel der rechtlich gebotene "qualitative Sprung" von der sehr geringen, aber beachtlichen Eintrittswahrscheinlichkeit zum Ausschluß des Schadensereignisses vollzieht und nur mit dieser Formel auf der Basis der gesetzlichen Grundentscheidung, daß Atomanlagen und andere Großvorhaben zulässig sind, Vollzu~sentscheidungen plausibel begründet werden können164, ist nicht erkennbar 65 •
155 BVerfG, NJW 1979,363. 156
In diesem Sinne BVerfG, NJW 1979,363.
Vr).Bmler, DVBI.1978, 835. 158 Ren~ling, Schadensvorsorge, S. 203 f. 159 So Hohleftlder, et 1983, 394. 160 Wolf, Technik, S. 333; ders., KJ 1984, 247. 161 Wolf, Technik, S. 340. 162 In diesem Sinne zutreffend Schachtschneider, Rechtsbegriff, S. 103 m. v. w. N. 163 Bmler, DVBI. 1978, 835. 164 SoBreuer, DVBI.1978, 835. 165 Diese Ansicht dürfte überwiegen. So schreibt Ftldmonn, et 1983, 388, "Wie dieser 'qua151
litative Sprung' beschaffen sein muß, darüber wird seit einiger Zeit in der internationalen Fachwelt diskutiert. Unterschiedliche Ansätze werden in verschiedenen Ländern bereits praktiziert." Stand und Zielsetzung US-amerikanischer und bundesrepublikanischer "Sicherheitsziele" ebd., S. 388 f.
E. Der Maßstab der ''praktischen Vernunft"
43
2. Praktische Vernunft als "Sozialadäquanz"
Den Weg für ein "generelles Kriterium" hat der Zweite Senat des BVerfG in seinem sogenannten Kalkar-Beschluß mit dem Bezug auf die "Sozialadäquanz"166 gewiesen. "Unter Sozialadäquanz versteht man alle Handlungen oder Zustände, die sich weitgehend übereinstimmend von der Gesellschaft akzeptiert im Rahmen einer sozialen Grundordnung bewegen und für deren Aufrechterhaltung unerläßlich sind."167 Dem "generellen Kriterium" der "Sozialadäquanz" zufolge ist ein Störfall nach dem Standard der praktischen Vernunft jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn das in Rede stehende Störfallrisiko168 gleich oder kleiner ist als andere, allgemein als akzeptiert angesehene Zivilisations- und Lebensrisiken169. Diese auf die Sozialadäquanz gerichtete Argumentationslinie verfolgt das Bundesverwaltungsgericht in seinem Stade-Urteil, wenn es die Strahlenexposition, die sich nach dem sogenannten 0,3-mSv-Konzept für den bestimmungsgemäßen Betrieb einer kerntechnischen Anlage maximal ergeben darf, damit begründet, daß "dieses Risiko ... kleiner (ist) als das mit der natürlichen Strahlenbelastung verbundene, dem jeder einzelne von Beginn seines Lebens an unentrinnbar ausgesetzt ist, und um mehrere Größenordnungen geringer als andere Zivilisations- und Lebensrisiken ... Es braucht daher nach den Maßstäben praktischer Vernunft nicht mehr in Rechnunggestellt zu werden"170• Sieht man von einigen exemplarischen Bearbeitungen dieses Ansatzes111 ab, so hat sich aus dem "generellen Kriterium Sozialadäquanz" kein subsumierbarer Maßstab für die störfallbezogene Gefahrenabwehr ergeben. Sowohl der Genehmigungspraxis als auch der Rechtsprechung fehlt es an rechtlich verbindlichen Referenzrisiken, welche ausgedrückt werden durch Risikozahlen, die, in Analogie zum normalbetriebsbedingten Gefahrenausschluß, gleichsam Risikogrenzwerte darstellen, die von der zu genehmigenden Anlage nicht überschritten werden dürfen. Das dieser Vorgehensweise zugrundeliegende "naturwissenschaftliche Risikokonzept" strebt eine weitgehende Quantiftzierung des Risikos an172• Insbesondere wird in diesem Zusammenhang mit der Frage nach der Risikoakzep-
166 BVerfG, NJW 1979, 363; diesen Zusammenhang feststellend Hohlefelder, et 1983, 394. 167 Hohlefelder, et 1983, 394m. N. 168 Der Risikobegriff wird später erläutert. 169 Sinngemäß auch Feldmann, et 1983, 388. 170
BVeiWG, NJW 1981, 1394.
111 Vgl. BMFf (Hrsg.), Risikostudie, S. 242. 112 Münch/Renn, et 1982, 737 ff.
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
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tanz nicht unterschieden zwischen freiwillig eingegangenen und aufgezwungenen Risiken. Diesbezüglich wird vielmehr Indifferenz unterstellt. 3. Zusammenfassung
Der Ausschluß des Auslegungsstörfalls muß gemäß dem Maßstab der praktischen Vernunft erfolgen. Nach h. M. in Literatur, Rechtsprechung und Behördenpraxis wird die praktische Vernunft als ein materieller Standard angesehen. Weitestgehende Anerkennung hat Breuers Ansicht von der praktischen Vernunft als das Urteil des erfahrenen Technikers und Naturwissenschaftlers gefunden. Die Ansicht zur praktischen Vernunft als Sozialadäquanz hat wegen der nur in geringem Maße vorliegenden Referenzrisiken in Form von Risikozahlen wenig Verbreitung gefunden. II. Der "Maßstab der praktischen Vernunft" als sicherheitsrechtliche Anforderung für das Auslegen einer genehmigungsbedürftigen Anlage 1. Die auslegungstechnisch relevanten "auslösenden Ereignisse" und "Auslegungsbeanspruchungen"
Grundlage für die sicherheitstechnische Auslegung einer Anlage sind die sogenannten "auslösenden Ereignisse"173 oder, in der Terminologie des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, die "Gefahrenquellen und Eingriffe" (§ 3 Abs. 2 StörfallV). Gemäß Nr. 3.2.4 2. StörfallVwV sind "Gefahrenquellen ... Ereignisse, die geeignet sind, einen Störfall zu verursachen". Im folgenden werden beide Begriffe gleichbedeutend verwendet. Eine nähere Umschreibung der auslegungstechnisch zu berücksichtigenden und, atomrechtlich, der vernachlässigbaren "auslösenden Ereignisse" enthalten die "Leitlinien"174 und dieNr. 3.2.4ff. der2. StörfallVwV. Für eine konkret auszulegende Anlage sind diesen Vorgaben zufolge alle auslösenden Ereignisse zu ermitteln und zu beschreiben. Für die Auslegung unberücksichtigt bleiben jene, die "vernünftigerweise ausgeschlossen" werden können. Für den atomrechtlichen Geltungsbereich wird das Spektrum der möglichen Störfälle durch die sogenannten "umhüllenden Ereignisse" abgedeckt; es sind dies die "Auslegungsstörfälle"175• Die Gefahrenquellen müssen
173 Etwa BMFT (Hrsg.), Risikostudie, S.70 f. 174
BMI (Hrsg.), Leitlinien, Vorwort.
175
Vgl. Mayinger!Birklwfer, atw 1988, 427.
E. Der Maßstab der "praktischen Vernunft"
45
sowohl objektiv bekannt als auch subjektiv erkannt sein176. Im Einzelfall kommt es auf den allgemeinen technisch-naturwissenschaftlichen Kenntnisstand, auf praktische Erfahrungen, die in Anlagen dieser oder vergleichbarer Art gewonnen wurden, sowie auf Rechnungen, Abschätzungen oder Übertragung von Erkenntnissen an177• Gefahrenquellen sind qualitativ und quantitativ (durch zahlenmäßige Angabe der auftretenden Beanspruchungen) zu beschreiben178. Die so ermittelten Beanspruchun~en einer Gefahrenquelle werden auch als "Auslegungsbeanspruchungen"1 bezeichnet. Im Hinblick auf die Auslegung der Anlage sind die Gefahren~uellen und die den Gefahrenquellen gleichgestellten "Eingriffe Unbefugter"1 in ihrer Wirkung auf die einzelnen Anlagenbestandteile, das sind die Komponenten, und die Anlage insgesamt hin zu analysieren181. Im Ergebnis müssen komponentenbezogene und systembezogene Auslegungsbeanspruchungen definiert sein. Birkhofer bemerkt, daß für reale Komponenten und Systeme die Auslegungsbeanspruchungen nur innerhalb gewisser Grenzen vorauszubestimmen, d. h. zu erkennen sind182. Nachfolgend werden beispielhaft einige auslösende Ereignisse und Auslegungsbeanspruchungen dargestellt. Beanspruchungen bei einer Störung des bestimmungsgemäßen Betriebs eines exothermischen chemischen oder kerntechosieben Reaktors können etwa Temperatur- und Druckanstieg sein. Für diesen Fall sind die maximal erwarteten Temperatur- und Druckwerte sowie deren Grandienten und Transportdynamik vorauszubestimmen183, die von dem Reaktordruckbehälter zur "Gewährleistung der Umschließung"184 aufgenommen werden müssen. EntsprechendesaFt etwa für den Sicherheitsbehälter (Containment) von Kernkraftwerken1 .
176 Etwa Birkhofer, et 1983, M7 f.
177 Vgl. 2. StörfaiiVwV, S. 11.
178 179 180
Sinngemäß Birkhofer, et 1883, M9. 2. StörfaiiVwV, S. 18. 2. StörfaiiVwV, S. 13.
181 Vgl. Birkhofer, et 1983, (:}19 f.; dazu auch Hawickhom, et 1983, passim. 182 Birkhofer, et 1983, M9. 183 Hierzu etwa Joschelc, Bewertung, S. 15 ff.; Kußmaul, atw 1978, 354 f. 184 Kußmoul, atw 1978,354. 185 Hierzu Mayinger!Birkhofer, atw 1988,431 f.; Birkhofer, atw 1987, 4n; Für die "Ermittlung der Belastungen für die Auslegung des Volldrucksicherheitsbehälters gegen Störfälle innerhalb der Anlage" sind detaillierte Regeln in der KTA 3413 (6189) festgelegt.
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
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Chemie- und Kühlmittelpumpen können eine übermäßige Leckage verursachen oder gänzlich versagen. Mögliche Ursachen sind z. B. unerwartete chemische Reaktionen zwischen dem abzudichtenden Medium und den Gleitringpartnem sowie übermäße Erwärmung, unerwartet hohe mechanische Belastungen usw. Diese Ursachen sind umfassend phänomenologisch darzustellen. Die physikalischen Effekte sind zu quantifizieren, so daß die Funktionserfüllung sichergestellt werden kann. Die Abschlußventile eines Siedewasserreaktorgebäudes {DAA) müssen bei einem Bruch der Frischdampfleitung im Turbinengebäude im Bedarfsfalle einwandfrei betätigt werden können; dies hängt davon ab, ob die Hilfsenergie bereitsteht und das Signal "Überdruck im Turbinengebäude" geliefert wird186• Art und Ausmaß von Ursachen, die Bereitstellung von Hilfsenergie und Informationstransport behindern können, sind zu beschreiben. Von entscheidender Bedeutung sind oft gerade dynamische Belastungen, etwa durch Ein- und Ausschaltvorgänge oder durch Schwingungen verursacht. Hierdurch kann beispielsweise ein starker Kraftstoß auf Rohr und Rohrhalterung wirken und diese gegebenenfalls überlasten. Anfahrbedingte Schwingungen der Anlage können Befestigungen {Schraub-, Schweiß- und Klebverbindungen usw.) infolge zu großer Amplitude lösen und somit die Funktionserfüllung der Anlage gefährden. Solche dynamischen Vorgänge sind phänomenologisch zu beschreiben, erwartete Kraftstöße, Amplituden usw. sind zu quantifi• 187 Zieren . Eine Gefahrenquelle können z. B. außen verlegte Rohrleitungen darstellen. Hier sind etwa Witterungseinflüsse wie z. B. Korrosion infolge hohen Säuregehalts in der Luft und dem Niederschlag zu berücksichtigen. Ebenfalls schwer zu erfassen sind Temperaturschwankungen. Hier ist es in der Regel sehr schwierig, realistische Belastungsprofile mit der Angabe von Minimum und Maximum zu erkennen. So wird für die Bemessung der Bohrplattformen in der Nordsee die "100Jahres-Welle" zugrunde gelegt, also eine Wellenhöhe, die im Mittel nur einmal in 100 Jahren überschritten wird188• "In Holland wurde sogar gesetzlich festgelegt, Deiche so hoch zu bauen, daß die Wahrscheinlichkeit einer Überflutung kleiner ist als 10"4 pro Jahr. Bei wirtschaftlich weniger bedeutenden Gebieten wird eine Überflutungswahrscheinlichkeit von 3 x 10"4 pro Jahr toleriert."189 Bei
186 187 188 189
Vgl. Merz, atw 1981, 298. Hierzu Birlchofer, et 1983, 690. Vgl. Birlchofer, et 1983, 690. Birlchofer, et 1983,690.
E. Der Maßstab der ''praktischen Vernunft"
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umgebungsbedingten Gefahrenquellen dieser Art wird offenbar nicht der höchste, jemals gemessene Belastungswert zugrunde gelegt, sondern ein "Kompromißwert", so daß die Auslegungsbeanspruchungen nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit überschritten werden190• So weit einige Beispiele zu den technischen Gefahrenquellen und Auslegungsbeanspruchungen. Eine bedeutende Gefahrenquelle sind die menschlichen Fehlhandlungen19\ seien es nun fahrlässige oder vorsätzliche Bedienungsfehler. So kann sich etwa eine Organisation der Anlagenbedienung als völlig unzweckmäßig erweisen19Z. Nicht zu vergessen sind die Eingriffe Unbefugter. Maßgeblich für die Festlegung der Wissensbasis ist der Stand der Wissenschaft. Auslegungstechnisch werden "auslösende Ereignisse" dadurch vermieden oder beherrscht, daß die Funktionserfüllung von Komponenten und Systemen durch Auslegungsmaßnahmen nach dem Maßstab der praktischen Vernunft sichergestellt wird. Auf diesen Zusammenhang wird im folgenden eingegangen. 2. Vermeidung "auslösender Ereignisse" und Beherrschung der "Auslegungsbeanspruchungen" durch Sieberstellen der Funktionsenüllung von Komponenten und Systemen
Die sicherheitstechnische Auslegung einer Anlage hat so zu erfolgen, daß eine Störung des bestimmungsmäßigen Betriebs, durch den Eintritt eines auslösenden Ereignisses verursacht, entweder nicht eintreten kann oder aber als Auslegungsstörfall beherrscht wird. Insoweit muß gewährleistet werden, daß die Anlagenbestandteile und die Anlage insgesamt die betreffenden sicherheitstechnischen Funktionen erfüllen können. Die Funktionserfüllung setzt voraus, daß die Anlagenkomponenten in der vorgesehenen Weise zusammenwirken und jede Komponente den auftretenden Beanspruchungen standhäle93• Diese Funktionserfüllung muß also gerade bei Beanspruchungen, die aus einer Störung resultieren, das sind die "Auslegungsbeanspruchungen", sichergestellt sein. Maßstab für die Aufrechterhaltung der Funktionserfüllung sind die "Integrität" und die "Zuverlässigkeit" oder deren Komplement, das ist die "Versagenswahrscheinlichkeit"194•
190 191
19Z 193
In diesem Sinne Birklwfer, et 1983, 690. VV).loscMk, Bewertung, S. 16. VV).loscMk, Bewertung, S. 16. V V). Birklwfer, et 1983, 690.
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
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Die Funktionserfüllung durch Erhaltung der "Integrität" zielt zu allererst auf die Beschaffenheit der Anlagenkomponenten. Das Funktionieren der zusammenwirkenden Anlagenkomponenten bestimmt zugleich das Funktionieren der Anlage insgesame95• Das Funktionieren der Anlagenkomponenten setzt unabdingbar deren Integrität, d. h. deren Unversehrtheit, voraus196• Für diese Betrachtung ist eine Unterscheidung der Anlagenkomponenten in "passive" und "aktive" zweckmäßig197• Die Funktionserfüllung aktiver Anla~en komponenten setzt neben der Integrität auch deren Zuverlässigkeit voraus 98• Z. B. ist ein Reaktordruckbehälter eine passive Anlagenkomponente. Die Funktion "Gewährleistung der Umschließung'' wird solange erfüllt, wie der Behälter unversehrt bleibt, d. h. dessen Integrität erhalten ist199• Andererseits wird etwa die Funktion "Schließen des Reaktorgebäudes" durch Abschlußventile nicht allein dadurch garantiert, daß diese unversehrt sind, sondern dadurch, daß diese im Bedarfsfalle auch wirklich den Schließbefehl ausführen und nicht versagen. Versagen kann ein Abschlußventil z. B. weil es "klemmt"200• Im folgenden werden Integrität und Zuverlässigkeit ausführlich behandelt. 3. Funktionserf"tillung durch Erhaltung der "Integrität"
Die Integrität von Anlagenbestandteilen wird sichergestellt, indem diese so ausgelegt werden, daß die erwartete Beanspruchung die zugesicherte Belastbarkeit wahrscheinlich nicht übersteigen wird. Wie schon erwähnt, lassen sich Belastung und Belastbarkeit nur innerhalb gewisser Grenzen vorausbestimmen. Die empirisch belegbare Tatsache, daß die Belastbarkeit von Anlagenbestandteilen nicht einen einzigen, vorbestimmten Zahlenwert annimmt, sondern sich in der Charakteristik einer "Glockenkurve" um einen wahrscheinlichsten Wert gruppieren wird, resultiert aus verschiedenen Ursachen2111• So läßt sich heute bei Eisen, Stahl und anderen Werkstoffen das Materialverhalten sehr gut vorausbestimmen202• Wenn dennoch immer wieder der Verlust der Integrität auch durch Materialversagen ausgelöst wird, so ist dies, die-
194 Vgl. Birklwfer, et 1983, 689. 195 Vgl. Birklwft:r, et 1983, 690. 196
Vgl. Birklwfer, et 1983, 690.
197
Zu dieser UnterscheidungBirlchofer, et 1983, 689.
198 Vgl. Birklwfer, et 1983, 689. 199 Sinngemi8Birlcho/t:r, et 1983,689. 200
Vgl. Birklwft:r, et 1983,689.
201 Vgl. Birklwfrr, et 1983, 689. 202 Vgl. Birklwfer, et 1983, 691.
E. Der Maßstab der ''praktischen Vernunft"
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ser Ansicht ist Birkhofer203, kaum auf grundsächtliche Mängel im Wissen um das Materialverhalten zurückzuführen. Nach seiner Ansicht liegt die Ursache hierfür in den meisten Fällen bei Fehlern in der Herstellung und beim Betrieb204. Für genehmigungsrechtlich exponierte Komponenten kann oftmals durch eine zerstörungsfreie physikalische Belastungsprüfung sichergestellt werden, daß die reale Belastbarkeit jedenfalls der Auslegungsbeanspruchung standhält. So werden z. B. Reaktordruckbehälter einer Druckprobe ausgesetzt205• Andererseits kann die geforderte Belastungsfähigkeit eines Reaktordruckbehälters gegen dynamische Stoß- und Druckbelastungen durch Schwingungen des Erdbodens infolge eines Erdbebens nicht am realen Anlagenteil ermittelt werden. Die Wirksamkeit von Sicherheitseinrichtungen wird häufig experimentell überprüft206• Birkhofer207 bemerkt, daß die Möglichkeit einer experimentellen Überprüfung nicht in jedem Falle in ausreichendem Maße möglich ist. Stattdessen werden Störfallabläufe dann analytisch untersucht. Jedoch können bei physikalischen Belastungsproben am realen Bauteil gerade Beschädigungen auftreten (Haarrisse, Versprödungen usw.), die durch die anschließende Qualitätsprüfung nicht erkannt werden oder erkannt werden können, so daß die Anlagenkomponente der Auslegungsbeanspruchung im betrieblichen Belastungsfalle nicht standhält und die Integrität des Bauteils nicht gewährleistet ist. Da man also weder die Auslegungsbeanspruchung exakt ermitteln noch die Belastbarkeit exakt garantieren kann, muß ein Sicherheitsabstand zwischen Auslegungsbeanspruchung und Belastbarkeit gelegt werden208• Das Maß für diesen Sicherheitsabstand ist der sogenannte "Sicherheitsfaktor", technisch wird er durch "Überdimensionierung" des Anlagenbauteils realisiert209• Mathematisch ergibt sich der Sicherheitsfaktor als Quotient aus der ''vorausgeschätzten minimalen Belastbarkeit und der erwarteten maximalen Belastung"210. Der Sicherheitsfaktor ist immer größer als Eins.
203 Vgl. Birklwfer, et 1983, 691.
204 Vgl. Birklwfer, et 1983, 691. 205 Vgl.IWßmaul, atw 1978, 358 f. 206 Birklwfer, et 1983, 689; Smidt, Vorsorge, S. 43. 207 Birklwfer, et 1983, 689. 208 Vgl.Birkhofer, et 1983,689. 209 Vgl. Birklwfer, et 1983, 689. 210 Vgl.Birklwfer, et 1983,689. 4 Lohse
so
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
Der so erzielte Zugewinn an Sicherheit im Sinne einer ständigen Funktionserfüllung durch Erhaltung der Integrität bleibt jedoch unbekannt, da der Sicherheitsfaktor nicht deduktiv aus den Erkenntnissen von Technik und (Natur-) Wissenschaft gewonnen werden kann, da dieser gerade deren Erkenntnislücken überbrücken soll. Die Festlegung ist weitgehend in das Ermessen des Technikers gestellt und hängt ab von dessen Erfahrung, Können usw. Ferner ist dieser darüber hinaus gebunden an allgemeine Festlegungen der technischen Gemeinschaft, die z. B. in technischen Richtlinien211 mitgeteilt werden212• Maßstab für die Festlegung des Sicherheitsfaktors ist die "Vernunft des Praktikers" oder der "Maßstab der praktischen Vernunft". 4. Funktionserf"üllung durch Gewährleistung der "Zuverlässigkeit"
Genügt für die Gewährleistung der Funktionserfüllung passiver Anlagenbestandteile die Sicherstellung der Intregrität, so tritt bei den aktiven Komponenten die Sicherstellung der "Zuverlässigkeit" als Voraussetzung hinzu21 • Auch hier ist von der empirischen Tatsache auszugehen, daß eine Zuverlässigkeit nicht absolut garantiert werden kann214• Es muß vielmehr immer mit einem Versagen von Anlagenfunktionen gerechnet werden215 • Die Auslegungsmaßnahmen haben also sicherzustellen, daß die geforderte Zuverlässigkeit oder deren Komplement, die hingenommene Versagenswahrscheinlichkeit, erzielt wird216• Auslegungstechnische Maßnahmen zur Sicherstellung der Zuverlässigkeit sind Redundanz, Diversität, Entmaschung von Anlagenbestandteilen (Prinzip der räumlichen Trennung von sicherheitstechnischen Systemfunktionen) sowie die Berücksichtigung des Fail-Safe-Prinzips217. Redundanz besagt, daß Anlagenbestandteile mehrfach installiert werden, so daß bei einem Versagen des einen ein anderes die Funktion erfüllen kann218• So können z. B. die Gleitringdichtungen für Hauptkondensatpumpen von Druckwasserreaktoren als doppeltwirkende Gleitringdichtungen, die Primär-
211 Etwa "Werkstoff-Bauvorschriften für Dampfkessel" des TÜV; Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft Druckbehälter (AD-Merkblätter); DJN-Normen. 212 Sinngemäß Birkhofer, et 1983, 693. 213 Vr). Birkhofer, et 1983,689. 214 Vgl. Birkhofer, et 1983, 689 f. 215 Vr).Birkhofer, et 1983,689 f. 216 Vgl. Birkhofer, et 1983, 689 f. 217 Etwa Merz, atw 1981, 296; Höfele, atw 1989,524 f. 218 V gl. Birkhofer, et 1983, 690.
E. Der Maßstab der ''praktischen Vernunft"
51
umwälzpumpen im Siedewasserreaktor als Dreifach-Tandem-Gleitringdichtungen ausgelegt werden219• Die Abschlußventile und deren Betriebsleitungen können 2, 3 und n-fach angeordnet werden220• Diversität bedeutet, daß redundant installierte Anlagenbestandteile zusätzlich voneinander verschieden im Hinblick auf technisch-physikalische Wirkprinzipien zu sein haben und von verschiedenen Herstellern nach verschieden erstellten Fertigungsunterlagen (Zeichnungen, Stücklisten usw.) zu produzieren sind221• Die Diversität dient einer breiten Fehlerstreuung durch Vermeiden von gleichzeitig mehrfachem Auftreten identischer Fehlerquellen. So können Sicherheitsventile, die nach den gleichen technisch-physikalischen Wirkprinzipien funktionieren, vom gleichen Hersteller stammen und möglicherweise dem gleichen Fertigungslos angehören, im sicherheitstechnischen Belastungsfalle nacheinander ausfallen, da sie identische Fehlerquellen, d. h. Versagensursachen, in sieb tragen222. Diversität soll dies vermeiden. Entmaschung bedeutet, daß redundant und divers angeordnete Anlagenbestandteile nach Möglichkeit auch räumlich voneinander getrennt installiert werden sollen223• Ferner sollen auch die Zuleitungen, z. B. hydrauliche, elektrische, zu diesen räumlich getrennt installierten Anlagenbestandteilen nicht gemeinsam in Bündeln oder Kabelkanälen verlegt werden. Es bestünde sonst die Gefahr, daß bei schweren Unfällen die drei Stränge etwa durch Trümmer gleichzeitig beschädigt und somit unterbrochen würden, in der Folge alle Abschlußventile versagen könnten224• Das Faii-Safe-Prinzip fordert, daß die Anlage im Falle einer Störung von sich aus in einen sicheren Zustand zurückkehrt. Beispielsweise werden die Steuerstäbe in einem Druckwasserreaktor bei einem Ausfall der Stromversorgung wegen Versagen der elektormagnetischen Halterung ausgeklingt und fallen dann in den Reaktordruckbehälter ein. Die eingefallenen Steuerstäbe bewirken sofort eine Reaktorschnellabschaltung. Wie oben schon erwähnt, verbleibt trotz aller Maßnahmen zur Sicherstellung der Zuverlässigkeit eine restliche Versagenswahrscheinlichkeit. Weder das Anlagenrecht noch dessen untergesetzliche Regelungen enthalten hierzu quantitative Festlegungen.
219
Mayer, Gleitringdichtungen in der Energietechnik, S. 6 ff.
220
Vy).Merz, atw 1981,297. 221 Vy). Merz, atw 1981, 295; Birkhofer, et 1983, 690. 222 Hierzu Birkhofer, et 1983, 690; Merz, atw 1981, passim. 223 Vy).. Merz, atw 1981, 295. 224 Vy). Merz, atw 1981, 295.
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
52
Da also einschlägige Eintrittswahrscheinlichlceiten nicht normiert sind, ist mit Ossenbühl225 die Frage zu stellen, nach welchen Kriterien wer beurteilen soll, ob eine Eintrittswahrscheinlichlceit von 10" 7 keine Auslegungsmaßnahmen erfordert, eine Eintrittswahrscheinlichlceit von 10- 6 hingegen wohl. Wie gezeigt, hat sich hier das Kriterium der praktischen Vernunft etabliert D. h., die "Vernunft des Praktikers" bestimmt darüber, in welchem Umfang Redundanz, Diversität, Entmaschung installiert und das Fail-Safe-Prinzip berücksichtigt werden müssen. Birkhofer216 resümiert: "Letztlich wird also das Sicherheitsniveau zwar nicht vom einzelnen Ingenieur, aber von der technischen Gemeinschaft festgelegt." Birkhofer227 zeigt, daß zwischen dem Sicherheitsfaktor und der Zuverlässigkeit ein enger Zusammenhang besteht. Der Sicherheitsfaktor läßt sich wahrscheinlichkeitstheoretisch deuten228• Die Zuverlässigkeit stellt danach einen allgemeiner anwendbaren Maßstab dar als der Sicherheitsfaktor, da sie die Güte aktiver und passiver Komponentenkennzeichen kann229• So berichtet Ossenbühl230, daß die Wahrscheinlichkeit für den Bruch eines Reaktordruckbehälters, Versagenswahrscheinlichkeit einer passiven Anlagenkomponente, von den Fachleuten mit 10-6 bis 10- 7 je Betriebsjahr angegeben wird. 5. Zusammenfassung
Grundlage für die sicherheitstechnische Auslegung einer Anlage sind die sogenannten auslösenden Ereignisse oder, in der Terminologie des BimSchG, die Gefahrenquellen und Eingriffe. Die Beanspruchungen, die aus Gefahrenquellen und aus Systemen, die zur Vermeidung oder Beherrschung auslösender Ereignisse dienen, resultieren, müssen festgestellt werden. Es sind dies die Auslegungsbeanspruchungen. Bei der Festlegung der Wissensbasis kommt es auf den Stand der Wissenschaft an. Die sicherheitstechnische Auslegung einer Anlage hat so zu erfolgen, daß eine Störung des bestimmungsgemäßen Betriebs, durch den Eintritt eines auslösenden Ereignisses verursacht, entweder nicht eintreten kann oder aber als Auslegungsstörfall beherrscht wird. Insoweit muß gewährleistet werden, daß
Ossenbühl, Anlagen, S. SO. Birkhofer, et 1983, 693; ebenso Ossenbühl, Anlagen, S. 49 f. mit einem interessanten Hinweis auf eine Äußerung des OVG Münster (Fn. 55 ebd.). 227 Birkhofer, et 1983,689. 228 Birkhofer, et 1983, 689. 229 Birkhofer, et 1983, 689. 230 Ossenbühl, Anlagen, S. 49 m. w. N. 225
216
E. Der Maßstab der ''praktischen Vernunft"
53
Anlagenbestandteile und die Anlage insgesamt die sicherheitstechnischen Funktionen erfüllen können. Kriterien für die Aufrechterhaltung der Funktionserfüllung sind die Integrität und die Zuverlässigkeit. Die Integrität von Anlagenbestandteilen wird sichergestellt, indem diese so ausgelegt werden, daß die erwartete Beanspruchung die zugesicherte Belastbarkeit wahrscheinlich nicht übersteigen wird. Auslegungstechnische Maßnahmen zur Sicherstellung der Zuverlässigkeit sind Redundanz, Diversität, Entmaschung von Anlagenbestandteilen sowie die Berücksichtigung des FallSafe-Prinzips. Der Umfang an technischen Auslegungsmaßnahmen zur Sicherstellung der Integrität und Zuverlässigkeit wird nach dem "Maßstab der praktischen Vernunft" bestimmt.
111. Verfahren der Datenerhebung und methodische Probleme 1. Problemstellung
Im Hinblick auf die Betriebsprozesse genehmigungsbedürftiger Anlagen bilden der "Normalbetrieb" und der "Auslegungsstörfall" die Grundlage für die Festlegung der Auslegungsbeanspruchungen. Die Auslegungsbeanspruchung ist die wesentliche Vorgabe für die technische Auslegung einer Anlage. Diese Größe muß im Vorwege der Genehmigungsecteilung ermittelt werden, sie stellt, zusammen mit den qualitativen und quantitativen Aussagen über die genehmigungsrechtlich relevanten Auslegungsstörfälle, die Wissensbasis (die tatbestandliehe Konkretisierung) für die störfallbezogene Anlagenbeurteilung dar. Technische und physikalische Parameter sind in der Regel über einen breiten Gültigkeitsbereich untersucht und als Tabellenwerte oder Diagramme usw. vorfindbar231• Ist dies nicht der Fall, müssen entsprechende Untersuchungen durchgeführt werden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es sich bei der zu genehmigenden Anlage um eine völlig oder doch überwiegend neue Technik handelt, so daß wegen fehlender technischer Erfahrung und ingenieurwissenschaftlicher Untersuchungen noch keine Daten über technische und physikalische Anlagenparameter vorliegen. Beanspruchungs- und Belastungskurven sind die Grundlage für die Festle-
gung der Auslegungsbeanspruchung. Diese stellt einen Punktwert auf einer
solchen Kurve dar. Können diese Kurven nicht unter den dem späteren Betrieb
231 Beispiele für das "Primärsystem eines Druckwasserreaktors" findet man etwa bei Smidl, Reaktorsicherheitstechnik, S. 34-61, und Kußmaul, atw 1978, 358-361.
54
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
der Anlage vergleichbaren Bedingungen ermittelt werden, weist die so gewonnene empirische Datenbasis im Hinblick auf die tatsächlich auftretenden Belastungen und Beanspruchungen des realen Betriebs eine systematische Abweichung auf. D. h., auch hier ist die empirische Datenbasis, auf die sich der für die tatbestandliehe Konkretisierung der störfallbezogenen Gefahrenabwehr maßgebliche Stand der Wissenschaft stützt, wegen der unüberwindlichen methodisch bedingten Wissenslücke mit Unsicherheiten behaftet. Diesen Unsicherheiten wird später durch einen Sicherheitsaufschlag in der Größe eines gewählten Sicherheitsfaktors232 Rechnung getragen. Z. B. werden in der KTA 3413 (6/89) "auch Zuschläge festgelegt, um Unsicherheiten bei der Berechnung oder Nichtübereinstimmung zwischen Rechenannahmen und Bauausführung entgegenzuwirken." Ferner werden in dieser Regel auch die zu berücksichtigenden Randbedingungen angegeben. Für die Ermittlung der oben genannten empirischen Datenbasis stehen folgende Verfahren der Datenerhebung zur Verfügung: experimentelle Untersuchungen, Simulation und die Auswertung von Schadensfällen233• Diese Verfahren der Datenerhebung sind mit systembedingten Schwierigkeiten, das sind grundsätzliche Mängel in der Ermittlungsmethode, behaftet, die zu unsicheren Entscheidungsgrundlagen für die Festlegung der auslegungsrelevanten Wissensbasis führen. Im folgenden werden diese methodischen Schwierigkeiten der oben genannten Verfahren der Datenerhebung dargestellt. 2. Experimentelle Untersuchungen
Wie gezeigt, besteht die genehmigungsrechtlich entscheidende Wissensbasis für die störfallbezogene Gefahrenabwehr aus den qualitativen und quantitativen Aussagen über die zu berücksichtigenden Auslegungsstörfälle und den daraus resultierenden Auslegungsbeanspruchungen für sicherheitstechnisch bedeutsame Komponenten und Systeme. Oben wurde bereits gesagt, daß es verschiedene Verfahren der Datenerhebung gibt, mittels derer man die Voraussetzung für die Gewinnung der als erforderlich geschilderten Aussagen schaffen kann. Jedoch weisen alle diese Verfahren unüberwindliche methodische Schwierigkeiten auf, die die Gültigkeit und den Geltungsbereich dieser Aussagen einschränken. Dies wird im folgenden für "experimentelle Untersuchungen" gezeigt.
232 Die wahrscheinlichkeitstheoretische Deutung des Sicherheitsfaktors auf S. 22 f. ist hier sinngemäß anzuwenden. 233 Zu den Verfahren der Datenerhebung etwa Smidt, Reaktorsicherheitstechnik, passim; Birlchofer, et 1983, passim.
E. Der Maßstab der "praktischen Vernunft"
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Man unterscheidet die experimentellen Untersuchungen in "Einzeleffektexperimente" und "Integralexperimente"234• Ein Einzeleffekt in diesem Sinne ist etwa die "Bauteilsicherheit gegen sprödes Versagen", für deren Ermittlung der "Fallgewichtsversuch nach Pellini" angewandt wird, wie Smidt235 berichtet. Bei diesem Experiment werden Grundwerkstoff- oder Schweißproben mit einer Einlagenschweißraupe als Rißeinleitung versehen und durch ein Fallgewicht bei verschiedenen Prüftemperaturen beansprucht. Es wird die Temperatur ermittelt, bei der ein Anriß im Grundwerkstoff nicht mehr aufgefangen wird. Bei einem Integralexperiment wird die Gesamtanlage in Anlagenteile, die eine funktionelle Einheit bilden, sogenannte Teil- oder Subsysteme, unterteilt, um die benötigten Daten zu gewinnen236• Smidt237 nennt als Beispiel für Integralexperimente ein "komplettes Modell des Primärkreises von Druckwasserreaktoren", mit deren Hilfe man den ganzen Ablauf des gesamten Störfalles einschließlich der Notkühlmaßnahmen studieren kann. Ferner werden die Experimente unterteilt in Groß- und Kleinexperimente. Nach Wolfert/RiegeVSonnenburg238 versteht man unter Großexperimenten sowohl Einzelexperimente mit einer Nachbildung von (Reaktor)Komponenten im Maßstab 1:1 als auch Integralexperimente mit z. B. der Nachbildung des Primär- und Sekundärkreislaufs. Wie Häfele239 zu Recht hervorhebt, wird sich ein Integralexperiment praktisch nie auf die konkrete ganze Anlage als solche beziehen können. Ein Grund hierfür ist u. a. das Verbot von Menschenversuchen240• Im folgenden wird ein Beispiel für die Auslegung von chemischen Anlagen nach J oschek dargestellt. Zugleich werden die Grenzen der Methode, die sich aus dem Verbot von Menschenversuchen ergeben, verdeutlicht.
234 Etwa Smidt, Reaktorsicherheitstechnik, S. 206; Häfele, atw 1989, 520; Wolfert/Riegel!Sonnenburg, Großexperimente, S. 46. 235 Smidt, Reaktorsicherheitstechnik, S. 45, m. w. Beispielen ebd. und passsim. 236 Smidt, Reaktorsicherheitstechnik, S. 206; Häfele, atw 1989, 520. 237 Smidl, Reaktorsicherheitstechnik, S. 206 ff. m. v. w. Beispielen für Integralexperimente in der Reaktorsicherheitstechnik; ebenso hierzu Wolfert!Riegel/Sonnenburg, Großexperimente, S.46ff. 238 Wolfert/Riegel!Sonnenburg, Großexperimente, S. 46. 239 Häfele, atw 1989, 520; dies hebt Banaschik, Reaktorsicherheitsforschung, S. 21, für das Zusammenspiel von Mensch und Maschine, in kerntechnischen Anlagen und allen komplexen technischen Systemen, heiVOr. 240
Hierzu etwa Kap. I die Fn. 53 f.
56
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
a) Verbot von Menschenversuchen Joschek2A1 beschreibt etwa die
Vorgehensweise bei chemischen Anlagen für den Fall, daß eine Explosion in einem Behälter möglich ist. Zunächst wird die Heftigkeit der Explosion experimentell im Labor ermittelt, d. h., es wird gemessen, wie schnell der Druck ansteigt und wie hoch dieser maximal werden kann2A2• Weiter berichtet er, daß in schwierigen Fällen solche Messungen sogar an einem Behälter natürlicher Größe und gleicher Ausführung vorgenommen werden, um möglichst realistische, dem konkreten Fall entsprechende Werte zu erhalten243• Aber auch im zuletzt genannten Fall sind das Experiment und die geplante Anlagen- und Betriebsrealität nicht identisch und dürfen dies auch nicht sein, da aus Sicherheitsgründen mit einer starkt reduzierten Reaktionsmenge experimentiert wird. Sehr instruktiv schildert J osche~ die systematische Suche nach Gefahrenquellen bei der Entwicklung neuer Verfahren: "Ein neues Verfahren durchläuft auf dem Weg vom Labor bis zur großtechnischen Anlage eine Reihe von Entwicklungsstufen. Besonders die neuartigen Teile des Verfahrens- seien sie nun chemischer, verfahrenstechnischer oder ingenieurtechnischer Art - werden in jeder Phase der Entwicklung systematisch unter die Lupe genommen. Erst wenn das Verfahren sicherheitstechnisch in Ordnung ist, darf der jeweils nächste Entwicklungsschritt getan werden. Bei einerneuen chemischen Reaktion wird z. B. zunächst die Geschwindigkeit, mit der sie abläuft, im Labor ermittelt, wobei die Reaktionsbedingungen in weiten Grenzen variiert werden. Damit sind dann die Dynamik der Reaktion und die Effekte, die beim Abweichen von den normalen Reaktionsbedingungen auftreten, bekannt. In einer weiteren Entwicklungsstufe - dem Technikum - wird mit größeren Stoffmengen gearbeitet. Zuerst müssen dort die Laborergebnisse bestätigt werden können. Weitere Untersuchungen gelten dann zum Beispiel Korrosionsproblemen und der Auswahl des geeigneten Reaktortyps und der geeigneten Maschinen und Apparate zur Vorbereitung und Aufarbeitung. Je nach den Schwierigkeiten, die eine weitere Vergrößerung erfahrungsgemäß mit sich bringt, wird auf dem Weg zur Großanlage noch eine größere Versuchsanlage dazwischengeschaltet. Ähnliche Untersuchungen werden bei verfah-
2Al loscMk, Bewertung, S. 20. 2AZ JoscMk, Bewertung. S. 20. 243 loscMk, Bewertung, S. 20. 244 JoscMk, Bewertung, S. 21, 23.
E. Der Maßstab der ''praktischen Vernunft"
57
renstechnischen oder ingenieurtechnischen Neuerungen durchgeführt und ihre Ergebnisse ebenfalls in den einzelnen Entwicklungsstufen verifiziert." In dem von Joschek skizzierten Stufenmodell wird gezeigt, daß man sich iterativ an die Bedingungen der Großanlage heranbegibt. Zu dem Geltungsbereich der so ermittelten experimentellen Datenbasis bemerkt Häfele245, daß die "Übertragung der Ergebnisse aus Versuchen mit den Teilsystemen auf das Gesamtsystem ... selbst wieder nicht grundsätzlich frei (ist) von kontingenten Elementen." D. h., es besteht die Möglichkeit, daß ein Strukturelement auch anders beschaffen sein könnte, als es für den untersuchten Gegenstandsbereich als zutreffend angenommen wurde. Der Geltungsbereich der empirischen Daten ist durch die Grenzen des Experiments festgelegt. Jenseits dieser Grenzen, also auf der Stufe der Großanlage, verbleibt ein methodisch bedingtes Nichtwissen. Wolfert/RiegeVSonnenburg246 weisen entsprechend daraufhin, daß die "experimentelle Datenbasis" jedenfalls keine gesicherten Auslegungsanforderungen in dem Sinne darstellen, daß diese unmittelbar auf die Verhältnisse der in Rede stehenden Anlage übertragbar sind. Nach Ansicht dieser Autoren247 gibt es immer ''verbleibende Modellunsicherheiten". Insbesondere gilt dies für sogenannte "großräumige Phänomene", deren Untersuchung eine möglichst weitgehende Nachbildung der Reaktorgeometrie in vollem Maßstab, d. h. in einem Großexperiment, erfordert248• Ein solches Großraumphänomen ist etwa die "Wasserverteilung im oberen Plenum bei heißseitiger Notkühleinspeisung" in einem Druckwasserreaktor249• Für die Übertragbarkeit der an der Versuchsanlage gewonnenen Aussagen über Großraumphänomene auf die zu genehmigende Anlage ist die "geometrische Skalierung'' der untersuchten Anlagenkonfiguration wesentlich250• Unter der geometrischen Skalierung versteht man das Größenverhältnis zwischen den Längenabmessungen der Versuchseinrichtung zu den Originalabmessungen der Anlage, beispielsweise eines Reaktors25 1• So zeigen Wolfert/RiegeVSonnenburg252, daß die gemessene "Gegenstromgrenze", das ist derjenige Dampfmassenstrom, bei dem eine Rückströmung
245
246
247 248 249 250 251
Häfele, atw 1989, 520. Wolfert/Riegel/Sonnenburg, Großexperimente, S. 47. Wolfert!Riegel/Sonnenburg, Großexperimente, S. 56, passim. Wolfert/Riegel/Sonnenburg, Großexperimente, S. 50 ff. Wolfert/Riegel/Sonnenburg, Großexperimente, S. 51. Wolfert/Riegel/Sonnenburg, Großexperimente, S. 47, 52, 54, 56. Wolfert/Riegel/Sonnenburg, Großexperimente, S. 47, 52, 54, 56.
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
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von Wasser verhindert wird, in Abhängigkeit der im Versuch verwendeten Rohrdurchmesser zu sehr unterschiedlichen Werten führt. D. h., die Versuchsstandskalierung beeiflußt die in den Hauptkühlmittelleitungen eines Druckwasserreaktors ablaufenden Strömungsvorgänge in nicht zu vernachlässigender Weise. Neben diesen "verbleibenden Skalierungsunsicherheiten", die aus der unvollständigen Kenntnis der "Skalierungsgesetze" resultieren, gibt es ferner die Unsicherheiten, die aus der unvollkommenen Kenntnis solcher Phänomene resultieren, die wegen des Gefahrenpotentials in einem Experiment grundsätzlich nur durch physikalische Analogie simuliert werden können. Beispielsweise wird das Verhalten des Reaktorkerns bei einem Kernschaden durch elektrisch beheizte Stäbe oder Stabbündel simuliere53• Für das Kernverhalten im Falle einer teilweisen oder vollständigen Schmelze ist aber weder das Skalierungsgesetz noch der phänomenologische Ablauf selbst, weder qualitativ noch quantitativ, abzusichern. Dies wäre nur realisiert, wenn die so gewonnene "experimentelle Datenbasis" ohne "konservative Annahmen" und "Sicherheitszuschläge" Grundlage für die Systemauslegung im Rahmen des Auslegungsverfahrens sein könnte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Nach Murswiek verstoßen unfreiwillige Menschenversuche jedenfalls gegen Art.l Abs. 1 GG254• Jede experimentelle Untersuchung mit der Absicht, auslegungsrelevante Aussagen zu beschaffen, ist jedenfalls grundgesetzlich dann verboten, wenn sie Menschen zum "Objekt" in einem solchen Experiment macht oder doch werden läßt. Daraus folgt, daß die versuchsweise Durchführung von Betriebsabläufen der beschriebenen Art, das sind Versuche unter sogenannten realen Bedingungen, verboten sind. Mit diesem Verbot soll sichergestellt werden, daß im Hinblick auf die Beschaffung der für die Genehmigungserteilung erforderlichen empirischen Datenbasis nicht gerade jene
252 253
Wolfert/Riegel!Sonnenburg, Großexperimente, S. 54 f. m. w. Beispielen, passim. Kuczera, atw 1989, 38 ff; Eine Ausnahme hiervon bildete die Reaktor-Testeinrichtung
LOFT, die weltweit einzige Versuchseinrichtung, mit der das Verhalten aller Komponenten eines Leichtwasserreaktors bis hin zu schwersten nuklearen Störfällen mit realem Einsatz von Kernbrennstoffen simuliert werden konnte. Hicken, atw 1990, 563, kommentiert die Ziele und die Übertragbarkeit der Ergebnisse des LOFT-Projektes wie folgt: "LOFT soll das Störverhalten einer großen kommerziellen Anlage simulieren; wesentliche Ähnlichkeiten sind daher einzuhalten, um keine zu großen Abweichungen im Systemverhalten zu erzeugen. Dennoch wird es immer Abweichungen geben, z. B. in den absoluten Rohrleitungsdurchmessem. Ob diese Abweichung von Bedeutung ist, hängt auch davon ab, um welchen Störfalltyp es sich handelt." 254 Murswiek, Verantwortung, S. 390; ebenfalls BVerfGE 1, 97 (104 f.); i. d. S. auch etwa Kuning, Grundgesetz, Art. 2 Rn. 61, 62.
E. Der Maßstab der "praktischen Vernunft"
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Gefahren entstehen, die durch ein Genehmigungsverfahren schließlich verhindert werden sollen.
b) Kompleritilt und UnzugiJnglichkeit Während bei den oben behandelten Aussagen über Auslegungsbeanspruchungen die unüberwindlichen methodischen Schwierigkeiten darin bestanden, daß aus Gründen der Gefahrenabwehr Experimente unter den der geplanten Anlagen- und Betriebsrealität entsprechenden Bedingungen nicht zulässig sind, da diese den grundgesetzlich verbotenen Menschenversuchen gleichkämen, ergibt sich ein weiterer Grund dafür aus der Komplexität der naturwissenschaftlich-technischen Vorgänge und der Unzugänglichkeit technischer Anlagenbestandteile. Das heißt, sind Einzeleffekt- und Integralexperimente als Großexperimente möglich und werden diese durchgeführt, dann sind diese empirisch gewonnenen Aussagen über den betreffenden Gegenstandshereich dennoch in dem Maße in ihrer Aussagekraft beschränkt, wie Komplexität und Unzugänglichkeit die Datengewinnung über den in Rede stehenden Gegenstandsbereich verhindern. Technisch bedingte Unzugänglichkeit liegt dann vor, wenn wegen der baulichen Eigenarten etwa eines Anlagenbestandteils die erforderlichen Meßstellen für eine Meßwerterfassung nicht zu erreichen sind. Oftmals liegen Komplexität und Unzugänglichkeit gleichzeitig vor. So werden etwa in Chemie- und Kühlmittelpumpen, auch z. B. in Umwälzpumpen in Kernkraftwerken, sogenannte Gleitringdichtungen eingesetzt255 • Die Leckage einer solchen Dichtung ist physikalisch bedingt immer größer Null. Die Aussagen über Auslegungsbeanspruchungen für solche Dichtungen sind sehr ungenau zu ermitteln, da die chemisch-physikalischen Vorgänge äußerst komplex sind und der weniger als I,um hohe Dichtspalt256 eine Meßwerterfassung nicht zuläßt. Darüber hinaus sind Einflüsse an Gleitringdichtungen rechnerisch sehr schwer zu erfassen. Schmidthals257 berichtet dies für thermische Einflüsse. Er stellt fest: "Kenntnisse über Reibungsbeiwert, Wärmeleitzahlen, Trockenlaufverhalten und ein reicher Erfahrungsschatz aus der Praxis sind die Voraussetzungen für die richtige Auslegung gegenüber thermischen Einflußgrößen" 258•
255
Hierzu Mayer, Gleitringdichtungen in der Energietechnik, S. 3 ff.
256
Burgmann, Gleitringdichtungen, Konstruktionsmappe 12, S. 102.
257
Schmidlhals, Axiale Gleitringdichtungen, Ursachen und Analyse von Schadensfällen,
258
Schmidlhals, Axiale Gleitringdichtungen, Ursachen und Analyse von Schadensfällen,
s. 7.
s. 7.
60
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
Für die Beurteilung der Sicherheit von Reaktorsicherheitsbehältern bildet nach Kußmaul259 die Zähigkeit der Grundwerkstoffe und Schweißverbindungen die entscheidende Voraussetzung, weswegen alle Einflußgrößen, die diese Eigenschaft beeinträchtigen und überdies die Rißbildung bei der Herstellung und im Betrieb Vorschub leisten können, analysiert und bewertet werden. Ausgangspunkt der Betrachtungen waren einige im konventionellen Bereich vor allem bei der Druckprobe aufgetretene Berstfälle260• Hierzu stellt Kußmaulu1 fest, daß diese Berstfälle "auch mit den Methoden der Bruchmechanik nicht hinreichend erklärt werden (konnten), weil die maßgebenden Werkstoffzustände nicht bekannt bzw. einer Prüfung nicht zugänglich waren». Ob diese von Kußmaul festgestellte Unzugänglichkeit übereinstimmt mit der oben definierten oder ob sie in einem weiteren Sinne gemeint ist, und zwar derart, daß sie die oben definierte Komplexität einschließt, ist hier unerheblich. Sie belegt vielmehr in jedem Falle die oben vertretene These der unüberwindlichen methodischen Schwierigkeit infolge Unzugänglichkeit. Dieser Erkenntnis trägt Kußmaul262 dadurch Rechnung, daß er aus den zwei Lösungswegen, auf denen er die Sicherheit des Reaktorsicherheitsbehälters erzielen kann, jenen auswählt, der die methodische Schwierigkeit als unabänderliche Tatsache hinnimmt. So verwirft er den Weg, der die lückenlose Beschreibung des Spannungs-, Werkstoff- und Fehlerzustandes für den nicht optimalen Werkstoffzustand und bei Vorhandensein von Eigenspannungen erforderlich macht, um den Sicherheitsabstand gegen katastrophales Versagen quantifizieren zu können263• In dem oben dargestellten Fall müßte die Belastung bei Betriebs-, Stör- und Schadensfällen mittels Fehler- und Ereignisbäumen in Verbindung mit einer zuverlässigen Festigkeitsrechnung richtig ermittelt werden264• Ferner wären der Werkstoff- und Fehlerzustand durch Werkstoffkennwerte in Verbindung mit einer zuverlässigen zerstörungsfreien Prüfung richtig zu beschreiben265• Kußmaul geht davon aus, daß das Werkstoffverhalten sicherheitstechnisch nicht zuverlässig beschrieben werden kann, da nicht alle qualitätsmindernden Einflüsse bekannt und bei den Prüfungen treffsichererfaßbar sind266• Dies liegt 259 KujJmaul, atw 1978, 356; umfangreich hierzu Smidl, Reaktorsicherheitstechnik, S. 39 ff. 260 KujJmaul, atw 1978,356. Ut KujJmaul, atw 1978,356. 262 KujJmaul, atw 1978, 358. 263 KujJmaul, atw 1978, 357. 264 KujJmaul, atw 1978,357. 265 KujJmaul, atw 1978,357.
E. Der Maßstab der ''praktischen Vernunft"
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an der schon erwähnten Unzugänglichkeit bei der Anwendung der Methoden der Bruchmechanik. Diese "Unsicherheiten in der Spannungsanalyse" hat auch der VGH Baden-Württemberg267 in seinem Wyhl-Urteil festgestellt. Die zuverlässige Analyse aller Einflußgrößen eines Reaktordruckbehälterversagens wird wegen der unüberwindlichen methodischen Schwierigkeit aufgegeben zugungsten einer Strategie der Optimierung der Produktionstechnologie, Betriebstechnologie und Sicherheitstechnologie mit dem Ziel, den Sicherheitsabstand bis zur uneingeschränkten Sicherheit gegen katastrophales Versagen zu erhöhen268• Im einzelnen wird dies realisiert durch die optimale Konstruktion in bezugauf Rißbildung und Rißstopp, hohe Werkstoff- und Bauteilzähigkeit und die Beschränkung der Werkstoffehier in Verbindung mit der Sicherstellung einer ausreichend großen Fehlerauffmdbarkeit269• Auf diesem Wege wird eine "Basissicherheit" geschaffen, die gekennzeichnet ist durch hohe Bauteilzähigkeit zusammen mit Prüfbarkeil sowie einer ausreichenden Überwachung des Herstellungsprozesses (begrenzte Fehlergrößen)270. "Sicherheit durch werksunabhängige Qualitätskontrolle" und "Sicherheit durch Prüfung und Überwachung im Betrieb" wirken dann zusätzlich als redundante Maßnahmen271• Die in Kauf genommenen Schätzunsicherheiten in der Analyse der Einflußgrößenwerden durch die Einhaltung eines Sicherheitsabstandes, der nicht näher bekannt ist, berücksichtigt, etwa durch eine außerordentlich konservative Begrenzun! der Spannungen über das Regelwerk hinaus272• Nach Ansicht Kußmauls , die er als Sachverständiger im Wyhl-Prozeß geäußert hat, werden für den Fall, daß der Reaktordruckbehälter überhaupt versagt, mit hoher Wahrscheinlichkeit die "Leck-vor-Bruch-Bedin~ngen" erfüllt werden, "postulieren lasse sich dies aber grundsätzlich nicht" 4• Abschließend sei noch Birkhofer275 zitiert, der sich zu den Möglichkeiten der experimentellen Datenbeschaffung folgendermaßen äußert:
266 Kußmaul, atw 1978, 357; in diesem Sinne ebenfalls Smidl, Reaktorsicherheitstechnik, S.56. 267 VGH Baden-Württemberg, et 1982,870. 268 Kußmaul, atw 1978, 357. 269 Kußmaul, atw 1978, 357. 270 Kußmaul, atw 1978, 358. 271 Kußmaul, atw 1978, 358. 272 VGH Baden-Württemberg, et 1982,870. 273 VGH Baden-Württemberg, et 1982,870. 274 VGH Baden-Württemberg, et 1982,870.
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
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"Häufig sind die auftretenden Belastungen zu unübersichtlich, um sie unmittelbar erfassen zu können. In solchen Fällen hilft man sich mit experimentellen Untersuchungen, gegebenenfalls unterstützt durch rechnerische Simulation. Bei größeren Systemen geht dies jedoch nur auf leistungsfähigen Rechenanlagen. Vereinfachungen und Vernachlässigungen sind dabei in aller Regel unvermeidlich. Wichtige Phänomene, wie das Schwingungsverhalten, lassen sich manchmal erst im realen Betrieb beurteilen." Das Verbot von Menschenversuchen sowie die Komplexität und Unzugänglichkeit führen, wie gezeigt, nach allgemeiner fachwissenschaftlicher Ansicht dazu, daß die mittels experimenteller Methoden gewonnene Wissensbasis keine Schätzung der Wissensbasis der zu genehmigenden Anlage darstellt, da beide Wissensbasen aus verschiedenen Grundgesamtheilen stammen und damit der Schätzfehler zu einer inakzeptablen Irrtumswahrscheinlichkeit führt. 3. Simulation
Der Durchführung von Experimenten sind, wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, Grenzen gesetzt. Eine Möglichkeit, trotzdem zu Aussagen über die entsprechenden Gegenstandsbereiche zu gelangen, besteht in der Anwendung der Simulationstechnik Unter Simulation versteht man die Nachbildung allgemeiner oder anlagentechnischer Funktionsbereiche durch mathematische oder technisch-physikalische Modelle und das anschließende Studium des "Verhaltens" solcher Modelle, wobei Modellparameter und -variablen nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit des Modells und der erforderlichen "Simulationshardware" varüert werden können. Zu den mathematischen Simulationsmodellen zählen die Standardrechenprogramme, die "in Teilbereichen die wahren Prozesse nur unvollkommen modellieren", wie Smidt276 hervorhebt. Er fährt fort: "Im Genehmigungsverfahren müssen deshalb diese Punkte direkt oder indirekt durch konservative Annahmen abgedeckt werden." Smidtm beispielsweise gibt einen Überblick über die Standardrechenmethoden am Beispiel des Druckwasserreaktors für die quantitative Untersuchung eines angenommenen Verlaufes eines Kühlmit-
275
Birklwfer, et 1983,690. Reaktorsicherheitstechnik, S. 214, m. v. Beispielen ebd.; zu ModellieNng:sdefiZiten ebenfalls Wo/fert/Riegei/Sonnmburg, Großexperimente, S. 46 ff.; Teschendorf!Mird/Lerchl, Athlet, S. 60 ff. m Smidt, Reaktorsicherheitstechnik, S. 19 ff.; einen Einblick in Stand und Entwicklung von Rechenmodellen gibt Kuczera, atw 1989, 37 ff.; zur Entwicklung des Rechenprogramms "Athlet" siehe Teschendorff!Mird/Lerchl, Athlet, S. 60 ff. 276 Smidt,
E. Der Maßstab der "praktischen Vernunft"
63
telverluststörfalles. Ferner stellt er die Grenzen der Modelle und der Modellierbarkeit dar. Grenzen der Simulationsmodelle ergeben sich etwa dadurch, daß der phänomenologische Ablauf der Störfälle vereinfachend modelliert wird. So wird für die Berechnung der zeitlichen Druckverteilung der Druckentlastungswelle, die die Druckbehältereinbauten belastet, die laufende Wechselwirkung zwischen Fluid und Struktur nicht berücksichtigt, die begrenzenden Wände werden als starr angenom.m.en278• Für die Modeliierung des Ausströmvorgangs aus dem Leck wird für die Zweiphasenströmung angenommen, daß diese isentropisch ist und die Rohrreibungseinflüsse deswegen vernachlässigt werden können279. Ferner wird der Schlupf der Zweiphasenströmung vernachlässigt280• Die Modellierungsdeftzite werden durch konservative Annahmen und explizite Sicherheitsaufschläge ausgeglichen281• Zur Anwendung solcher mathematischen Modelle auf konkrete Schadensverläufe muß man zusätzlich die Anfangsbedingungen kennen. Häfele282 bemerkt hierzu, "daß solche Anfangsbedingungen kontingenter Natur sind: Sie sind nicht deterministisch vorgegeben, sondern man hat sie vorzufinden." Eine solche ist etwa die "nicht exakt vorhersehbare Geometrie der Lecköffnung", von der jedoch die Ausströmrate abhängt und die auf diese durch eine mehr oder minder große Strahleneinschnürung reduzierend wirke83• Diese soeben beschriebene kontingente Anfangsbedingung "Geometrie der
Le~köffnung" kann man allenfalls durch eine "Einhüllende"284 verschiedener
Annahmen über diese Anfangsbedingungen antipizieren. Die Frage jedoch, ob eine irgendwann auftretende konkrete "Geometrie der Lecköffnung" innerhalb oder außerhalb der Einhüllenden liegt, kann durch dies Verfahren der Datenerhebung nicht geklärt werden.
Sowohl die verbleibende Nichtübereinstimmung zwischen Simulationsmodell und den technisch-physikalischen Bedingungen der realen Anlage als auch die Anfangsbedingungen machen eine wirklichkeitsnahe Störfallsimulation unmöglich. Hierzu bemerken Wolfert/RiegeVSonnenburg:zss: "Während etwa
278
279
Smidt, Reaktorsicherheitstechnik, S. 201. Smidt, Reaktorsicherheitstechnik, S. 201.
280
Smidl, Reaktorsicherheitstechnik, S. 201.
281 Etwa Smidt, Reaktorsicherheitstechnik, passim; siehe etwa KTA 3413 (6189), S. 2, wo
solche Angaben zu finden sind. 282 Häfele, atw 1989, 522. 283 Smidt, Reaktorsicherheitstechnik, S. 202. 284 Sinngemäß Smidt, Reaktorsicherheitstechnik, S. 44.
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
64
bis 1980 die Bereitstellung von Rechenprogrammen zur Überprüfung der Systemauslegung im Rahmen von Genehmigungsanforderungen im Vordergrund stand (die, wie in den Leitlinien der Reaktorsicherheitskommission festgehalten, aufkonservativen Rechenannahmen basieren), wird seitdem eine realistische, d. h. möglichst wirklichkeitsnahe Störfallsimulation mit der Quantifizierung der verbleibenden Unsicherheiten gefordert." D. h., die Programmentwicklung strebt keine Beseitigung der Modellierungsdeftzite an, sondern eine quantitative Erfassung derselben. Die Modellierungsdeftzite als Ursache einer lückenhaften Datenbasis bleiben jedoch bestehen. Es ändert sich ausschließlich die Überdeckung derselben in den Rechenprogrammen. 4. Auswertung von Betriebserf'abrungen
Während der Datenerhebung durch Experimente rechtliche Grenzen sowie Begrenzungen anderer Art gesetzt sind, kann die so entstandene Datenlücke durch Simulation nicht geschlossen werden. Eine weitere Möglichkeit der Datengewinnung besteht in der Auswertung von Schadensfällen. Auf diese Weise können z. B. wertvolle Aussagen qualitativer Art über mögliche Ausfälle von Komponenten und Systemen, die durch Auswertung von Betriebserfahrungen mit genehmigungsbedürftigen Anlagen gewonnen werden, zu einer Absicherung der Auslegungsanforderungen beitragen286• Zu Beginn der Kerntechnik war die Schadensauswertung eine Quelle, die kaum genutzt werden konnte. Z. B. war die Übertragung der Schadensauswertung, die bei Schäden an konventionellen Druckbehältern vorgenommen wurde, auf die kerntechnischen Verhältnisse jedenfalls nicht ohne erhebliche Sicherheitsaufschläge möglich287• Die Analyse von Schadensursachen und -verläufen kann jedoch keine Auskunft geben über die aufgetretenen quantitativen Belastungen, die als ursächlich für den untersuchten Schaden angesehen werden. Auch die Rekonstruktion eines Schadens an einer Komponente oder eines Systems hilft hier nicht weiter, denn in diesem Falle werden die oben genannten Grenzen, die für die Experimente festgestellt wurden, wirksain. Insbesondere ist es unmöglich, die einem einzelnen Schadenseintritt zeitlich voreilende Schadensgeschichte
2.8S
Wolfert/Riegei/Sonnmburg, Gro8experimente, S. 46, 48, passim.
Etwa Birklwfu, atw 1987, 475 f; Smidl, Reaktorsicherheitstechnik, S. 8, 55; ferner können solche Betriebserfahrungen zur VerifJZierung von Rechenprogrammen herangezogen werden, so etwa Tuchmdcrff!Mir6/Lerchl, Athlet, S. 67. 287 Vgl. Smidl, Reaktorsicherheitstechnik, S. 55. 286
E. Der Maßstab der "praktischen Vernunft"
6S
quantitativ zu rekonstruieren, um ihren Einfluß auf den Schadenseintritt feststellen zu können. Die Auswertung von Schadensfällen beruht auf der Auswertung einzelner, individueller Schadensfälle. Eine Erklärung der Schadensart und des Schadensverlaufs ist allenfalls in qualitativer Hinsicht möglich. Eine exakte quantitative Aussage über Belastungen ist nicht möglich, d. h., eine entscheidende Absicherung der Auslegungsanforderungen ist auf diese Weise nicht direkt zu erzielen. Dennoch ist die Auswertung von Schadensfällen eine wichtige Quelle für das Sammeln von Erfahrungen zur Erweiterung der Datenbasis. Sie genügt jedoch nicht, um genauequantitative Aussagen über Ursache und Wirkung mit Blick auf die festgestellten und für das Versagen als ursächlich angenommenen Phänomene abzugeben.
5. Zusammenfassung
Die genehmigungsrechtlich relevante Wissensbasis für die störfallbezogene Gefahrenabwehr besteht aus den qualitativen und quantitativen Aussagen über die zu berücksichtigenden Auslegungsstörfälle und den daraus resultierenden Auslegungsbeanspruchungen für sicherheitstechnisch bedeutsame Komponenten und Systeme. Für die Konkretisierung der Wissensbasis ist der Stand der Wissenschaft maßgeblich. Der Stand der Wissenschaft stützt sich auf eine empirische Datenbasis, für deren Ermittlung folgende Verfahren der Datenerhebung zur Verfügung stehen: experimentelle Untersuchungen, Simulation und Auswertung von Betriebserfahrungen. Diese Verfahren der Datenerhebung sind mit unüberwindlichen methodischen Schwierigkeiten behaftet. Wegen des grundgesetzlieben Verbots von unfreiwilligen Menscbenversucben, der Unzugänglichkeit und Komplexität bei experimentellen Untersuchungen sowie den Modellierungsdeftziten bei der Simulation können mit Hilfe dieser Verfahren der Datenerhebung keine unmittelbar auf die technischphysikalischen Bedingungen der zu genehmigenden Anlage bezogene Aussagen über auslösende Ereignisse und Auslegungsbeanspruchungen gewonnen werden. Die auf diesen experimentell ermittelten Tatsachen beruhenden Wahrscheinlichkeitsaussagen bezüglich der Wissensbasis der realen Anlage weisen eine inakzeptable Irrtumswahrscheinlichkeit auf. Mit der Auswertung von Betriebserfahrungen können die für eine beobachtete Wirkung ursächlichen Faktoren nicht ermittelt werden.
s Lohse
66
Erstes Kapitel: Die Gefahrenabwehr
F. Zusammenfassung Die Exekutive stützt sich etwa bei der Feststellung von Immissionsgrenzwerten wesentlich auf die durch die VDI-Kommission Reinhaltung der Luft und Lärmminderung erstellten MIK-Werte. Die MIK-Werte werden auf der Grundlage der sogenannten Luftqualitätskriterien ermittelt. Luftqualitätskriterien sind die Gesamtheit aller für einen Stoffvorliegenden Dosis- und Immissions-Wirkungsbeziehungen. Bei den Luftqualitätskriterien und den MIKWerten soll es sich um bewertungsfreie und auf rein wissenschaftlicher Basis ermittelte Dosis-Wirkungs-Beziehungen handeln2B8. Grundlage für die Beurteilung des Störfallausschlusses sind die qualitativen und quantitativen Beschreibungen von auslösenden Ereignissen sowie die Auslegungsbeanspruchungen sicherheitstechnisch wichtiger Komponenten und Systeme. Ausgehend von dieser Wissensbasis hat der Störfallausschluß oder die Störfallbeherrschung gemäß dem Maßstab der praktischen Vernunft zu erfolgen. Die beschriebenen Kenntnisse haben dem Stand der Wissenschaft, d. h. hier: gemäß dem Stand der Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften, die sich auf eine empirische Datenbasis stützen, zu genügen. Verfahren der Datenerhebung für die Feststellung der Dosis-Wirkungs-Beziehungen, auslösenden Ereignisse und Auslegunsbeanspruchungen (kurz: der empirischen Datenbasis) sind toxikologische und experimentelle Untersuchungen, epidemiologische Erhebungen, In-vitro-Versuche an biologischem Material, Simulation, kasuistische Erfahrungen beim Menschen und Auswertung von Betriebserfahrungen. Diese Verfahren der Datenerhebung sind jedoch behaftet mit unüberwindlichen methodischen, d. h. systemgebundenen Schwierigkeiten. Die mittels dieser Verfahren der Datenerhebung gewonnene empirische Datenbasis kann nicht als zuverlässige Schätzung für die Dosis-Wirkungs-Beziehungen und Wissensbasis der realen Anlage angesehen werden, da die Irrtumswahrscheinlichkeit für diese Schätzung nach allgemeiner fachwissenschaftlicher Ansicht als inakzeptabel gilt. Die oben genannten empirischen Methoden der Datenerhebung sind Instrument der Erkenntnisgewinnung, sie werden jeweils im Kontext einer Erkenntnistheorie angewendet, existieren jedoch unabhängig von dieser, und zwar mitsamt den ihnen eigenen unüberwindlichen methodischen Schwierigkeiten.
2B8 In diesem Sinne etwa Rat, Umweltgutachten 1974, S. 15.
Zweites Kapitel
Der Stand der Wissenschaft aus erkenntnistheoretischer Sicht Wie oben gezeigt, hat die Genehmigungsbehörde bei der Schadensvorsorge den Stand der Wissenschaft und Technik zugrunde zu legen. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts nimmt hierzu in seinem sogenannten KalkarBeschluß wie folgt Stellung: "Mit der Bezugnahme auf den Stand der Wissenschaft übt der Gesetzgeber einen noch stärkeren Zwang dahin aus, daß die rechtliche Regelung mit der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung schritt hält. Es muß diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach den neuestenwissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird."1 Die enge Bindung der Schadensvorsorge an den Stand der Wissenschaft führt zu Fragen, deren Beantwortung für ein Verständnis dieser Formel unerläßlich ist. Nach Marburger enthalten die Gesetzesmaterialien zum AtomG "keinerlei Hinweis darauf, was unter dem Stand von Wissenschaft und Technik zu verstehen ist"2• Ferner ist er der Ansicht, es lassen sich ebensowenig "aus dem Systemzusammenhang, in dem sich die Vorschrift befmdet, Folgerungen für die Auslegung ableiten"3• Für ihn kommt es deswegen entscheidend auf die teleologische Interpretation an, beispielsweise auf die Frage nach dem Gesetzeszweck des§ 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG4• Hierbei übersieht Marburger, daß zu dem sogenannten "Systemzusammenhang", was wohl genauer als Stellung im Gefüge des Rechtssystems zu beschreiben wäre, jedenfalls auch die Stellung etwa des Atomrechts innerhalb der Grundrechte und der entsprechenden Verfassungsrechtsprechung gehört. Denn dem Grundrecht des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zufolge sind " ... Wissenschaft, Forschung und Lehre frei." Da Wissenschaft in diesem Umfang und ausnahmslos gilt, denn es sind keine Wissenschaften von diesem Grundrecht ausgeklammert, ist die Frage nach der Auslegung der rechtlichen Formel
1 2
3 4
BVerfG, NJW 1979, 362. Marburger, et 1984, 209. Marburger, et 1984, 209. Marburger, et 1984, 209.
68
Zweites Kapitel: Der Stand der WISSenschaft
Stand der Wissenschaft im Rahmen oder "Systemzusammenhang'' dieser Grundrechtsdogmatik zu beantworten. Wissenschaft i. S. d. Anlagenrechts ist, was zu zeigen sein wird, Erfahrungswissenschaft oder, was das gleiche ist, empirische Wissenschaft. Welche Erkenntnis als erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis gelten soll und somit zur Wissenschaft zählt, hängt ab von der Wahl der Methode der Erkenntnisgewinnung, d. h. von der maßgeblichen Erkenntnistheorie. Verschiedene Erkenntnistheorien legen dem Wissenschaftsprozeß voneinander abweichende Abgrenzungskriterien zugrunde. Das Abgrenzungskriterium beantwortet die Frage, welche Erkenntnis als empirische Erkenntnis gelten soll. Im folgenden werden die Induktion, Falsifikation und die Anerkennung der wissenschaftlichen Gemeinschaft im Kontext ihrer jeweiligen Erkenntnistheorie, das sind die induktive Erkenntnismethode, die hypothetisch-deduktive Erkenntnismethode oder Falsifikationismus und der wissenschaftshistorische Ansatz des Paradigma-Modells von Thomas S. Kuhn, exemplarisch in knapper Form dargestellt. Für ein grundsätzliches Verständnis dieser Methoden ist die Kenntnis der wesentlichen Einwände gegen diese Erkenntnismethoden erforderlich, weshalb auch diese in knapper Form präsentiert werden. Im Anschluß daran wird untersucht, ob und gegebenenfalls welchen Einfluß eine Erkenntnistheorie auf den "Stand" einer Wissenschaft ausübt. Ferner wird das Verhältnis von Wissenschaft und Staat angesprochen. Hier ist insbesondere die Frage zu erörtern, inwieweit der Staat in den Wissenschaftsprozeß eingreifen darf. Ob es etwa der Genehmigungsbehörde erlaubt sein soll, im Falle sich widersprechender Äußerungen der Sachverständigen zu dem "Stand" einer Wissenschaft, zu wissenschaftlichen Streitfragen Stellung zu nehmen, um so einen "Stand" durch staatlichen Eingriff zu markieren. Schließlich wird, ausgehend von der Einheitlichkeit des Technikbegriffs im Anlagenrecht, die Wissenschaft von der Technik abgegrenzt, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Hierdurch klärt sich insbesondere das Zuordnungsproblem der Ingenieurwissenschaften. Insgesamt versucht das zweite Kapitel eine Antwort auf die Frage, was unter der Formel Stand der Wissenschaft zu verstehen ist.
A. Die Wissenschaft als empirische Wissenschaft Es wurde hervorgehoben, daß das Anlagenrecht bei der gesetzlich geforderten Schadensvorsorge sowohl auf den Stand der Wissenschaft als auch auf den Stand der Technik abstellt. Indem das Anlagenrecht auf die Wissenschaft abstellt, d. h. insbesondere auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse, erklärt es
A Die Wissenschaft als empirische Wissenschaft
69
diese als vorrangig gegenüber der "alltäglichen Erkenntnis"5 für die Beurteilung der erforderlichen Schadensvorsorge. Der Normgeber stuft die gewöhnliche Wahrnehmung und alltägliche Erkenntnis jedenfalls genehmigungsrechtlich als ein Wissen niedrigeren Ranges ein. Ganz in diesem Sinne äußert sich auch Poppel, wenn er schreibt: "Denn die für uns wichtigste Art und Weise, in der unsere alltägliche Erkenntnis wächst und sich entwickelt, ist eben, daß sie zurwissenschaftlichen Erkenntnis wird." Schachtschneider7 bemerkt, daß das allgemeine Polizeirecht als Kenntnisse für die Beurteilung der Gefahrenabwehr prinzipiell das Wissen nach allgemeiner Lebenserfahrung, das ist die "alltägliche Erkenntnis", genügen läßt. Im Anlagenrecht genügt diese Kenntnis den Anforderungen der Gefahrenabwehr nicht mehr. Aus diesem Grund wird nach Schachtschneider der "allgemeinpolizeirechtliche Kenntnisbegriff .. durch die Formel 'nach dem Stand der Wissenschaft' für das Sonderpolizeirecht der Anlagensicherheit präzisiert"8• Zu dem Verständnis des in die Gesetze als gesetzliche Verweisung aufgenommenen Wissenschaftsbegriffs äußert sich der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem sogenannten Kalkar-Beschluß. Der Zweite Senat läßt keinen Zweifel daran, daß es sich bei der Wissenschaft i. S. d. Anlagenrechts um Erfahrungswissenschaft oder empirische Wissenschaft handelt. Mehrfach macht er deutlich, daß es auf "menschliches Erfahrungswissen" ankommt9. WtSSenschaftliche Erkenntnisse, d. h. Theorien/Hypothesen über Tatsachen (Wirklichkeit), die an die menschliche Erfahrung anknüpfen, sind konstitutiv für die Erfahrungswissenschaften oder empirischen Wissenschaften. Zu diesen gehören jedenfalls die Natur- und Ingenieurwissenschaften.
s Eine Unterscheidung der Erkenntnisse in wissenschaftliche und alltägliche findet man etwa beiPoppu, Logik, S. XVII f., und bei.Detel, Wissenschaft, S.174; diesen Unterschied nicht berücksichtigend setzt das Bundesverwaltungsgericht in seinem "Würgassen-Urteil", DVBI. 1972, 680, den Stand der Wissenschaft mit den "derzeitigen menschlichen Erkenntnissen" gleich, was nach Rittstieg, Konkretisierung, S. 31, heute der überwiegenden Ansicht entspricht; ebenfalls Weber, Kontrolldichte, S. 100; VG Koblenz, et 1984,721 m. w. N. 6 Poppu, Logik, S. XVIII. 7 Schachtschndder, Rechtsbegriff, S. 98 m. v. w. N. 8 SchachtschMidu, Rechtsbegriff, S. 98; i. d. S. auch P/ogmumn{Iietzsch, Stand, S. 7; auch für IWtschddt, et 1991, S. 686, ist das Recht der Überwachung kerntechnischer Anlagen im weitesten Sinne Polizeirecht. 9 BVerfG, NJW 1979, 363, passim.
Zweites Kapitel: Der Stand der WISSenschaft
70
B. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen Zur Wissenschaft im anlagenrechtlichen Sinne zählen die Erfahrungswissenschaften und folglich deren Erkenntnisse, das sind die erfahrungswissenschaftliehen oder empirischen Erkenntnisse. Die Aufgabe, ein Kriterium für die Abgrenzung von den Formalwissenschaften, etwa der Logik und der Mathematik, und den "metaphysischen Systemen" zu fmden, kann man mit Popper als "Abgrenzungsproblem" bezeichnen10• Nach Poppers Ansicht liegt die Lösung des Abgrenzungsproblems in der Wahl verbindlicher methodologischer Festlegungen, nach denen sich die empirische Wissenschaft bei der Erkenntnisgewinnunf. zu richten hat11• Die wissenschaftliche Methodenlehre ist Erkenntnistheorie 2• Die Lösung des Abgrenzungsproblems liegt in der Entscheidung für eine bestimmte Erkenntnistheorie. Die Wissenschaft ist in der Wahl ihrer Erkenntnistheorie autonom. Insbesondere ist es dem Staat verwehrt, wegen der in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG garantierten Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre, die Wissenschaft zu bevormunden oder gar durch Gesetze zu zwingen, eine bestimmte Erkenntnistheorie zu wählen13• Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG will nicht eine bestimmte Auffassung von der Wissenschaft oder eine bestimmte Wissenschaftstheorie schützen14• Seine Freiheitsgarantie erstreckt sich vielmehr aufjede wissenschaftliche Tätigkeit15 • In diesem Sinne auch Denninger: "Der Staat darf eine bestimmte Forschungsrichtung und ihre -methoden nicht unterdrücken, weil er sie für erfolglos und vielleicht schon im Ansatz für verfehlt hält."16 Die Wahl der Erkenntnistheorie ist eine autonome Defmition der Erfahrungswissenschaft durch die Wissenschaft17• Die Erkenntnistheorie gibt u. a. Auskunft darüber,
Vgl. Popper, Logik, S. 9, passim; ders., Ausgangspunkte, S. 52 ff., 108, passim. Vgl. Popper, Logik, S. 22 ff; Kriele, NJW 1976, 358, stellt hierzu fest, daß es sich um den uralten Grundsatzstreit zwischen Wissenschaft und Wissenschaftsdogmatismus handelt: "Die Wissenschaft ist für alle erreichbare Wahrheit offen und schöpft alle zugänglichen Erkenntnismittel aus. Der Wissenschaftsdogmatismus stellt Anforderungen an die Erkenntnismethode, die in der Tat zu gewissen Teilergebnissen führen, verlangt aber eine Beschränkung auf diese und verliert das übrige aus dem Blick." 12 Vgl. Popper, Logik, S. 22. 13 Leibholz!Rinck/Hesselberger, Kommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 1091; Denninger, Alternativkommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 14, 15; Scholz, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG Art. 5 Abs. 3 Rn. 91, 110, 111; zur Autonomie der Wissenschaft ebenfalls BVerfGE 35, 112 f. 14 Leibholz!Rinck/Hesselberger, Kommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 1091. 15 Leibholz!Rinck/Hesselberger, Kommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 1091. 16 Denninger, Altemativkommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 15. 17 Vgl. Popper, Logik, S. 12, 23. 10 11
8. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen
71
nach welchen Kriterien zu beurteilen ist, ob eine Erkenntnis als empirische Erkenntnis zu qualifiZieren ist. Im folgenden sollen verschiedene Lösungen des Abgrenzungsproblems, d. h. verschiedene Erkenntnistheorien, dargesteßt werden. Die Verschiedenen Ansätze werden jeweils knapp als Gesamtsystem beschrieben. Dem folgt eine eingehende DarsteUung und Diskussion der Kriterien, die vor dem Hintergrund einer bestimmten Erkenntnistheorie die erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis markieren. Da die Erkenntnistheorie nicht nur das Abgrenzungsproblem löst, sondern auch methodologische Regeln für die Wahl konkurrierender erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnisse gibt, löst sie zugleich das sogenannte Fortschrittsproblem, indem sie das "Fortschrittskriterium"18 liefert. Es ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit, die Frage der "richtigen" oder geeigneten Erkenntnistheorie zu beantworten. Insoweit wird die wesentliche Kritik an den einzelnen Ansätzen nur kurz referiert. Dies dient insbesondere einem besseren Verständnis derselben und ermöglicht eine Beurteilung ihrer augenblicklichen und historischen Bedeutung. Exemplarisch vorgestellt werden zwei Vertreter des "Rationalismus"19, das sind der Induktivismus und der Falsiftkationismus, und ein Vertreter des "Relativismus"20, das ist das ParadigmaModeO von Tbomas S. Kuhn. I. Induktion als Abgrenzungskriterium 1. Die induktive Erkenntnismetbode
Ein Versuch, das Abgrenzungsproblem zu lösen, besteht in der Anwendung der induktiven Erkenntnismethode21• Nach Popper22 gibt es keinen "wirklichen Unterschied zwischen der Idee der Induktion und der der Verifikation". Unter beiden wird das geiehe verstanden, nämlich die "Beweisbarkeit durch Beobachtungssätze" . Einer differenzierenden Siebtweise zufolge kann man unterscheiden zwischen der verfolgten Absicht, das ist der erfahrungswissenschaftliche Beweis einer Theorie oder Hypothese, und der verwendeten logischen Methode, das ist der induktive Schluß. Hiernach versteht man unter Verifikation ein Verfahren der empirischen Bestätigung von Hypothesen und
18 19
Vgl.Detel, Wissenschaft, S.193. Vgl. Chalmers, Wege, S.119 f.
20 Vgl. Chalmers, Wege, S. 119 f. 21 V gl. Popper, Ausgangspunkte, S. 108.
22
23
Popper, Ausgangspunkte, S. 110. Popper, Ausgangspunkte, S. 110.
Zweites Kapitel: Der Stand der WISSenschaft
Theorien mittels induktiver Schlüssez.c. Sofern es um den logischen Aspekt von Hypothesen und Theorien geht, und das wird ausschließlich der Fall sein, wird zwischen diesen beiden sprachlich nicht unterschieden, da es nach Popper2S keinenUnterschied gibt. Erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse setzen sich also zusammen aus Hypothesen und Theorien; sie stellen allesamt allgemeingültige Aussagen über Sachverhalte dar26• Gemäß der induktiven Erkenntnismethode zählen zu den erfahrungswissenschaftliehen Erkenntnissen alle Hypothesen und Theorien, die durch Beobachtungssätze beweisbar sind. Der Beweis erfolgt methodisch durch den induktiven Schluß. Die Verifikation einer allgemeinen Aussage muß methodisch möglich sein, andernfalls gilt sie nicht als wissenschaftliche Erkenntnis. Eine wesentliche Annahme, die der induktiven Methode zugrunde liegt, ist die Ansicht, daß empirische Wissenschaft auf Erfahrung beruht27• Der Übergang von Einzelaussagen, d. h. einer endlichen Menge von Beobachtungsaussagen, die sich auf eine unendliche Menge von Einzelergebnissen beziehen, aus denen sich die erfahrungswissenschaftliehen Erkenntnisse zusammensetzen, geschieht durch den sogenannten induktiven Schluß oder Induktionsschluß28• Voraussetzung für die Zulässigkeil des induktiven Schlusses ist die Erfüllung folgender Bedingungen29:
1. Die Verallgemeinerungen müssen auf einer großen Anzahl von Einzelaussagen beruhen. 2. Die Beobachtungen müssen unter einer großen Vielfalt von Bedingungen wiederholt worden sein.
3. Es darf keine Beobachtungsaussage im Widerspruch zu der entsprechenden allgemeinen Aussage stehen. Ist also unter hinreichender Berücksichtigung dieser Bedingungen beobachtet worden, daß Metall, wenn es erhitzt wird, sich ausdehnt, ist gemäß der induktiven Methode die Verallgemeinerung dieser Einzelaussage zu einer allgemeingültigen Aussage "Metalle dehnen sich aus, wenn sie erhitzt werden" zulässig und begründet30•
z.c Fuchs/Klima/Loutmann/Rammstedt/Wimold (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, S. 730. 2S Popper, AIISgangspunkte, S. 111.
26 27 28 29
Vy).. Chaltnen, Wege, S. 4. Vy).. Chaltnen, Wege, S. 4. Vy).. Chaltnen, Wege, S. 4; vgi. Popper, U!gik, S. 3. Vy).. Chalmen, Wege, S. 4.
B. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen
73
Chalmers31 erläutert diese Bedingungen folgendermaßen: Bedingung (1) gilt als notwendig, da eine einzelne Beobachtung oder wenige Beobachtungen, daß sich eine erhitzte Metallstange ausdehnt, für eine Verallgemeinerungnicht ausreichen. Die Möglichkeit, die Anzahl der Beobachtungen bei dem angeführten Beispiel zu erhöhen, d. h. einen einzigen Metallstab wiederholt zu erhitzen, verstößt gegen die 2. Bedingung. Anstatt einen Stab wiederholt zu erhitzen, müssen verschiedene Arten von Metallen erhitzt werden. Ferner sollten lange und kurze Eisenstangen, Silberstäbe und Kupferstäbe usw. unter hohem und niedrigem Druck, unter hohen und niedrigen Temperaturen usw. erhitzt worden sein. Die Vielfalt der Bedingungen muß sorgfältig hergestellt werden. Wenn sich in sämtlichen Fällen alle erhitzten Metallteile ausgedehnt haben, dann, und nur dann, ist es gerechtfertigt, aus der Menge der Beobachtungsaussagen eine allgemeingültige Aussage abzuleiten. Wenn nun ein bestimmtes Metallstück beobachtet wird, das sich bei der Erwärmung nicht ausdehnt, so ist es offensichtlich, daß die Verallgemeinerung ungerechtfertigt ist. Bedingung (3) gilt als unentbehrlich. l. Zusammenfassung der und Einwände gegen die induktive Erkenntnismetbode
Zusammenfassend kann das Verfahren der Verifikation mittels induktiven Schlusses folgendermaßen geschildert werden: Die oben beschriebene Art der Schlußfolgerung, die dazu berechtigt, von einer endlichen Menge von Einzelaussagen auf eine unendliche Menge von Fällen zu schließen, d. h. auf eine allgemeine Aussage oder einen Allsatz zu kommen, wird induktives Schließen genannt. Diesen Wissenschaftsprozeß nennt man Induktion. Das Induktionsprinzip faßt Chalmers32 wie folgt zusammen: "Wenn eine große Anzahl von A's unter einer großen Vielfalt von Bedingungen beobachtet wird, und wenn alle diese beobachteten A's ohne Ausnahme die Eigenschaft B besitzen, dann besitzen alle A's die Eigenschaft B." Die Einwände gegen die induktive Erkenntnismethode knüpfen an zwei grundlegende Problemlagen33 an: 1. wie läßt sich der Übergangvon singulären zu allgemeinen synthetischen Sätzen rechtfertigen? Oder in einer anderen Formulierung: Wie läßt sich die Induktion rechtfertigen? Diese Schwierigkeit wird traditionell als das "Induktionsproblem" bezeichnet34• 2. wie kann man von
30 Zu diesem und weiteren Beispielen siehe Chalmers, Wege, S. 4 f. 32
Chalmers, Wege, S. 4 f. Chalmers, Wege, S. 5.
33
In diesem Sinne Detel, Wissenschaft, S. 186.
31
74
Zweites Kapitel: Der Stand der WISSCnschaft
empirischen zu theoretischen Sätzen übergehen? Diese Schwierigkeit kann man als das "Problem der Beziehung von Theorie und Erfahrung" bezeichnen35. Nachfolgend werden beide Probleme einzeln behandelt. 3. Das Induktionsproblem
Wie gezeigt, kann die Induktion als ein Verfahren angesehen werden, allgemeine Behauptungen mittels endlich vieler singulärer synthetischer Sätze zu rechtfertigen, d. h. zu verifizieren. Mit Chalmers lautet das Induktionsprinzip36: ''Wenn eine große Anzahl von A's unter einer großen Vielfalt von Bedingungen beobachtet wird, und wenn alle diese beobachteten A's ohne Ausnahme die Eigenschaft B besitzen, dann besitzen alle A's die Eigenschaft B." Die Lösung des Induktionsproblems, d. h. die Rechtfertigung des Induktionsprinzips, kann entweder mit Hilfe der Logik oder der Erfahrung geschehen37. Im nächsten Abschnitt wird zunächst die logische Rechtfertigungsvariante erörtert. 4. Der Versuch, den induktiven Übergang als logische Folgerung zu deuten
"Gültige logische Beweise sind dadurch charakterisiert, daß, wenn ihre Voraussetzungen wahr sind, auch die Schlußfolgerungen wahr sein müssen.'o38 Der induktive Schluß erfüllt die Anforderungen dieser Beweischarakteristik nicht. So bemerkt Chalmers39, daß, wenn die Voraussetzungen eines Induktionsschlusses wahr sind, dies nicht bedeutet, daß auch die Schlußfolgerung wahr sein muß. Folglich sind induktive Beweise keine logisch gültigen Beweise40• Denn, so begründen etwa Detel und Chalmers4\ es ist offenbar nicht ausgeschlossen, daß die Prämissen sämtlich wahr sind, die Konklusion aber falsch ist - einfach weil die Konklusion durchweg "mehr" besagt als alle Prämissen zusammen. Wenn z. B.42 unter verschiedenen Bedingungen eine große Anzahl von Raben beobachtet wurde, und alle schwarz waren, dann ist der induktive Schluß
34
Vr). Detel, Wissenschaft, S. 186; Cholmers, Wege, S. 17; Popper, Logik, S. 3.
36
Cholmers, Wege, S. 15.
38
Cholmers, Wege, S. 16.
35 V f). ~1, Wissenschaft, S. 186. 37 Cholmers, Wege, S. 15 f. 39 Cholmers, Wege, S.16.
Cholmers, Wege, S. 16; Detel, Wissenschaft, S. 187; Popper, Logik, S. 3 f. Detel, Wissenschaft, S. 187; Chalmers, Wege, S. 16. 42 Beispiel nach Cholmers, Wege, S.16. 40 41
B. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen
75
"Alle Raben sind schwarz" völlig gerechtfertigt. Dennoch gibt der berechtigte Induktionsschluß keine logische Gewähr dafür, daß der nächste beobachtete Rabe auch schwarz sein wird. Es ist denkbar, daß der nächste beobachtete Rabe weiß ist. In diesem Falle wäre der Allsatz "Alle Raben sind schwarz" falsch. Der nach den Regeln einwandfrei zustandegekommene Induktionsschluß wäre falsch, obgleich alle Voraussetzungen der Induktion wahr waren. Weil die Konklusion mehr besagt als die Prämissen zusammen, besteht kein logischer Widerspruch zwischen der Aussage, daß Raben, die beobachtet wurden, schwarz waren und daß dennoch nicht alle Raben schwarz sind43• Eine logische Rechtfertigung des Induktionsprinzips ist nicht möglich44• S. Der Versuch, den induktiven Übergang aus der Erfahrung abzuleiten
Die Rechtfertigung des induktiven Übergangs knüpft an die Regelmäßigkeilen an, die in der Vergangenheit an endlich vielen Dingen beobachtet wurden, und unterstellt, daß dies auch in der Zukunft für weitere Dinge gelten werde45• So werden z. B. die Gesetze der Optik, die induktiv aus laborexperimentellen Befunden abgeleitet wurden, in vielfältiger Weise für gut funktionierende optische Geräte praktisch genutzt46• Nach der obigen Argumentation würden die erfolgreichen Vorhersagen und Erklärungen ein aus der Anwendungserfahrung resultierendes Vertrauen in die Geltung dieser optischen Hypothesen und Theorien entstehen lassen und damit zugleich den Induktionsschluß rechtfertigen. Detel47 bemerkt, daß dies nur durch die Einführung eines "Uniformitätsprinzips" ginge. Dies wäre aber kein analytisch wahrer, sondern ein synthetischer und zugleich allgemeiner Satz48• Dieser bedarf aber ebenfalls einer Rechtfertigung, die nach empirischer ÜberzeuFg nur induktiv erfolgen kann, was aber in einen unendlichen Regreß führt4 • Schon David Hume50 wies Mitte des 18. Jahrhunderts nach, daß die Rechtfertigung der Induktion durch Induktionsschluß zu einem Zirkelschluß führt, mithin nicht als Lösung des Induktionsproblems in Frage kommt. "Eine allgeVgl. Cholmers, Wege, S.16; i. d. S. auch Popper, Logik, S. 3 f. Vgl. Chalmers, Wege, S. 16 f.; Detel, Wissenschaft, S. 187 ff.; Popper, Logik, S. 3 ff. 45 Vgl. Detel, Wissenschaft, S. 187; Chalmers, Wege, S. 17. 46 Dieses und weitere Beispiele findet man bei Cha/mers, Wege, S. 17. 43 44
47
Detel, Wissenschaft, S. 187. V gl. Detel, Wissenschaft, S. 187. 49 V gl. Detel, Wissenschaft, S. 187. so Den Hinweis auf Hume findet man etwa bei Cha/mers, Wege, S. 17.
48
76
Zweites Kapitel: Der Stand der Wassenschaft
meine Aussage, die die Gültigkeit des Induktionsprinzips geltend macht, wird hier aus einer Anzahl einzelner Aussagen über vergangene, erfolgreiche Anwendungen des Prinzips abgeleitet. Der Beweis ist also induktiv und kann daher kaum angewandt werden, um das Induktionsprinzip zu rechtfertigen. Induktion kann nicht induktiv gerechtfertigt werden.',s1 Das in den letzten beiden Abschnitten geschilderte Begründungsdilemma führt zu dem Versuch, den induktiven Übergang wahrscheinlichkeitstheoretisch zu rechtfertigen. Dieser Versuch wird im nächsten Abschnitt weiter verfolgt. 6. Induktive Schlüsse als Wahrscheinlichkeitsschlüsse
Wie gezeigt, ist der induktive Übergang weder logisch noch durch die Erfahrung zu rechtfertigen. Die Gewißheit, d. h. strenge Gültigkeit, der durch das Induktionsprinzip gewonnenen allgemeinen Sätze ist jedenfalls objektiv-methodisch nicht aufrechtzuerhalten52• Ein Ausweg wird dadurch versucht, die Induktionsschlüsse als Wahrscheinlichkeitsschlüsse zu interpretieren53• Hiernach soll die Verallgemeinerung nicht mit strenger Gültigkeit, sondern nur noch mit hoher Wahrscheinlichkeit gelten54• Die wahrscheinlichkeitstheoretische Version lautet dann nach Chalmers55 folgendermaßen: "Wenn eine große Anzahl von A's unter einer großen Vielfalt von Bedingungen beobachtet wird, und wenn alle diese beobachteten A's ohne Ausnahme die Eigenschaft B besitzen, dann besitzen wahrscheinlich alle A's die Eigenschaft B.'' In der Literatur56 ist unbestritten, daß der Rückzug auf die Wahrscheinlichkeit das Induktionsproblem weder methodisch umgeht noch löst. Denn die Rechtfertigung der Wahrscheinlichkeitsaussage setzte ebenfalls die Einführung eines "Uniformitätsprinzips',s7 voraus, was seinerseits nur induktiv
C~, Wege, S. 17; i. d. S. Detel, Wissenschaft, S. 187; Popper,l..ogik, S. 3 ff. sz Vgl. Popper, Logik, S. 5; C~, Wege, S. 19.
51
53 Vgl. Popper, Logik, S. 5; 54 Vgl. Popper, Logik, S. 5;
C~, Wege, S. 19 f; Detel, Wissenschaft, S. 188. Chalrners, Wege, S. 19 f; Detel, Wissenschaft, S. 188.
ss C~, Wege, S. 20. 56 Vgl. Popper, Logik, S. 5; C~, Wege, S. 20; Detel, Wisenschaft, S. 188; wenig überzeugend deswegen Wmter/Schiifer, NVwZ 1985, 706 und Fn. 27 ebd. 57 Diesen Begriff verwendet Detel, Wissenschaft, S. 188; i. d. S. auch Clllllmers, Wege, S. 20; Popper, Logik, S. 5.
B. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen
77
begründet werden könnte. Es entsteht der gleiche, schon erwähnte Zirkelschluß58. Aus dem oben Gesagten zieht Detel folgendes Fazit: "Es ist sinnlos und überflüssig, nach Schlußformen zu suchen, mittels derer aus endlich vielen einzelnen Beobachtungssätzen auf weitere Beobachtungssätze oder sogar auf allgemeine Sätze geschlossen werden könnte."59 7. Das Problem der Beziehung von Theorie und Erfahrung
Der induktiven Methode zur Rechtfertigung erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnisse liegen zwei wesentliche Annahmen zugrunde(jQ. 1. wissenschaftliche Erkenntnis kann aus der Erfahrung oder Beobachtung abgeleitet werden. 2. die Beobachtung bietet eine sichere Erkenntnisgrundlage. Das Problem der Beziehung von Theorie und Erfahrung befaßt sich mit der 2. Annahme und stellt diese in Frage. Im folgenden sollen diese Einwände erörtert werden. Grundlage des Induktionsschlusses sind singuläre Beobachtungsaussagen oder sogenannte Protokollsätze61 • Sollen die allgemeinen wissenschaftlichen Aussagen, d. h. die theoretischen Sätze, vollständig durch die Beobachtung rechtfert~bar sein, dann dürfen die Protokollsätze nur Beobachtungsbegriffe enthalten . Beobachtungsbegriffe sind ausschließlich durch die sinnliche Wahrnehmung deflnierte Begriffe63• Nach allgemeiner Ansicht64 gilt dies als unerfüllbar, da Protokollsätze auch immer "Dispositionsbegriffe" enthalten und diese nicht ausschließlich durch die sinnliche Wahrnehmung erklärt werden können. Denn Dispositionen enthalten letztlich immer schon naturgesetzliehe und somit allgemeine Beziehungen zwischen Testbedingungen und Reaktionsweise65. So stellt Popper66 fest: "Es gibt keine reinen Beobachtungen: sie sind von Theorien durchsetzt und werden von Theorien und Problemen geleitet." "Dispositionsbegriffe" sind nach Detel67 Prädikatoren, die Dispositionen ausdrücken. "Dispositionen sind Eigenschaften von Gegenständen oder Orga58 Diesen Begriff verwendet /Jdel, Wissenschaft, S. 188; i. d. S. auch Chaitno's, Wege, S. 20; Popper, Logik, S. S. 59 Dael, Wissenschaft, S. 188. (;0 Chalmns, Wege, S. 25. 61
Diesen Begriff findet man etwa bei Detel, Wissenschaft, S. 189.
62
Vgi.Ddel, Wissenschaft, S. 189.
63 V gi.Ddel, Wissenschaft, S. 195 f. 64 Vgi.Dael, Wissenschaft, S. 189; Chalmers, Wege, S. 32 ff.; Popper, Logik, S. 76. 65 Vgi.Dael, Wissenschaft, S. 189. 66
Popper, Logik, S. 76.
78
Zweites Kapitel: Der Stand der WISSenschaft
nismen, aufgrund deren sie erst unter bestimmten Vorbedingungen in bestimmter Weise reagieren, z. B. Zerbrechlichkeit, Wasserlöslichkeit, Intelligenz oder Freundlichkeit: Ein Gegenstand ist wasserlöslich, wenn er sich auflöst unter der Vorbedingung, daß er in Wasser getaucht wird, oder ein Mensch ist intelligent, wenn er angegebene Probleme angemessen zu lösen vermag.'~ Die Einsicht in die Theorieabhängigkeit der Beobachtung (Wahrnehmung) hat sich allgemein durchgesetzt und zur Aufgabe der Annahme, erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis beginne mit der Beobachtung, geführt. An die Stelle dieser Annahme tritt die Erkenntnis, daß es sich bei Beobachtungsaussagen um eine "Mixtur',69 ausWahrnehmungund Theorie handelt. Nach Ansicht moderner Vertreter der induktiven Erkenntnismethode ist diese Annahme für die Lösung des Abgrenzungsproblems ohnehin entbehrlich70. Der Weg, auf dem man zu einerneuen allgemeinen Aussage gelangt, ist zu trennen von der Frage ihrer Geltung, d. h. der Methode der Verifikation der erfahrungswissenschaftliehen Aussage71• Denn zur erfahrungswissenschaftliehen Erkenntnis rechnet eine Hypothese oder Theorie nach Ansicht moderner Vertreter der induktiven Erkenntnismethode dann, wenn sie durch Beobachtungsaussagen beweisbar ist. Allgemeine Aussagen über Gegenstandsbereiche, die einer Beobachtung theoretisch (transzendentaler Bereich, etwa das gläubige Erkennen) und/oder praktisch (z. B. gesetzlich verbotener Bereich, etwa (unfreiwillige) Menschenversuche) nicht zugänglich sind, d. h. aufgrund theoretischer und/oder praktischer Unmöglichkeit, zählen nicht zu den erfahrungswissenschaftliehen Erkenntnissen - also zur Wissenschaft i. S. d. Anlagenrechts. 8. Zusammenfassung
Gemäß der induktiven Erkenntnismethode zählen zu den erfahrungswissenschaftliehen Erkenntnissen alle allgemeinen Aussagen, die durch Beobachtungssätze beweisbar sind. Der Beweis erfolgt methodisch durch den induktiven Schluß. Die Verifikation einer allgemeinen Aussage muß methodisch möglich sein, andernfalls gilt sie nicht als wissenschaftliche Erkenntnis. Allgemeine Aussagen über Gegenstandsbereiche, die einer Beobachtung theoretisch und/oder praktisch nicht zugänglich sind, d. h. aufgrund theoretischer
67
Detel, Wissenschaft, S. 189.
'8 Detel, Wissenschaft, S. 189. 69 Diesen Begriff verwendet Detel, Wissenschaft, S. 196 f. 70 In diesem Sinne etwa Chalmers, Wege, S. 39 f. 71 Vgl. Chalmers, Wege, S. 39 f.; so auch Popper, Logik, S. 6 f.
B. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen
79
und/oder praktischer Unmöglichkeit, zählen nicht zu den erfahrungswissenschaftliehen Erkenntnissen - also zur Wissenschaft i. S. d. Anlagenrechts. Stand der Wissenschaft im Induktivismus ist die verifizierte empirische Erkenntnis. Methodologische Probleme der Rechtfertigung des Induktionsprinzips führen zu dem sogenannten Induktionsproblem. Wesentliche Einwände gegen die induktive Erkenntnismethode knüpfen an das Induktionsproblem an. Der Versuch, den induktiven Übergang als logischen Übergang zu deuten, scheitert, da es nicht ausgeschlossen ist, daß die Prämissen sämtlich wahr sind, die Konklusion aber falsch ist, weil die Konklusion grundsätzlich "mehr" besagt als alle Prämissen zusammen. Auch der Versuch, den induktiven Übergang aus der Erfahrung abzuleiten, mißlingt. Denn dies erfordert die Einführung eines Uniformitätsprinzips, was ebenfalls nur induktiv möglich wäre. Die Rechtfertigung dei: Induktion durch Induktionsschluß führt jedoch zu einem Zirkelschluß. Ein Ausweg aus diesem Begründungsdilemma wird dadurch versucht, die Induktionsschlüsse als Wahrscheinlichkeitsschlüsse zu interpretieren. Dies setzt ebenfalls die Einführung eines Uniformitätsprinzips voraus, was jedoch zu dem schon erwähnten Zirkelschluß führt. Nach allgemeiner Ansicht kann das Induktionsproblem weder objektiv-methodisch gelöst noch durch Wahrscheinlichkeitsinterpretation umgangen werden. Ein grundsätzliches Problem aller erfahrungswissenschaftliehen Erkenntnis ist die Beziehung von Theorie und Erfahrung. Die Einsicht in die Theorieabhängigkeit der Beobachtung hat sich allgemein durchgesetzt und zu der Erkenntnis geführt, daß es sich bei Beobachtungsaussagen um eine "Mixtur" aus Wahrnehmung und Theorie handelt. II. Falsifikation als Abgrenzungskriterium 1. Die hypothetisch-deduktive Erkenntnismetbode
Der Falsifikationismus betrachtet erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse als Hypothesen oder Theorien, die falsifiziert werden können müssen72• "Die immer wechselnden, immer unabgeschlossenen Ergebnisse der kritischen Diskussion konstituieren das, was man jeweils als die Wissenschaft bezeichnen kann, als die Wissenschaft von heute."73 Die "kritische Diskussion"
72 73
Vgl. Popper, Logik, S. 31 ff. Popper, Ausgangspunkte, S. 119.
Zweites Kapitel: Der Stand der WJSSCnschaft
80
oder "Methode" der Wissenschaft besteht darin, "kühne Hypothesen aufzustellen und sie der schärfsten Kritik auszusetzen, um zu sehen, wo wir uns geirrt haben."74 Die "schärfste Kritik" besteht in dem Versuch, die Hypothesen, Theorien oder auch Vermutungen zu widerlegen, d. h. zu falsifizieren. Nach Popper75 ist eine Hypothese{l'heorie dann falsifizierbar, wenn die Menge der "Falsifizierungsmöglichkeiten" nicht leer ist. Die "Menge der Falsifizierungsmöglichkeiten" besteht aus der Summe derjenigen Basissätze, die mit der zu prüfenden Hypothesefl'heorie logisch in einem Widerspruch stehen76• Basissätze sind identisch mit den schon erwähnten Protokollsätzen oder Beobachtungsaussagen77. Basissätze beschreiben die aus Experimenten oder Beobachtungen gewonnenen Tatsachen, sie sind "Tatsachenfeststellungen"78• Jedoch implizieren diese Formulierungen die allgemeine Einsicht in die Theorieabhängigkeit der Beobachtung (Wahrnehmung), also die Erkenntnis, daß es sich bei den Beobachtungsaussagen stets um eine "Mixtur" aus Wahrnehmung und Theorie handelt19• Im Falsiftkationismus wird eine Hypothese dadurch widerlegt, d. h. falsifiziert, daß ein Basissatz gefunden wird, der reproduzierbare Tatsachen beschreibt und zu der Hypothese in logischem Widerspruch steht. Die Falschheit von allgemeinen Aussagen kann von entsprechenden Einzelaussagen abgeleitet werden80• Dieser logische Sachverhalt ist der Grundsatz des Falsiftkationismus81. Die Menge der Falsifizierungsmöglichkeiten einer Hypothese/ Theorie ist dann leer, wenn es keine Basissätze geben kann, die zu dieser Hypothese in einem Widerspruch stehen. Nachfolgend wird ein Beispiel für eine falsiflzierbare Hypothese{l'heorie gebracht; anschließend folgen drei Beispiele für solche Fälle, für die die Menge der widerlegenden Basissätze leer ist. Die Hypothese ''Wenn ein Lichtstrahl von einem ebenen Spiegel reflektiert wird, ist der Einfallswinkel gleich dem Ausfallswinkel" ist falsiftzierbar82• Diese
Popper, Ausgangspunkte, S. 118. Popper, Logik, S. 53. 76 Popper, Logik, S. 53. 77 Vgl. Claalrnen, Wege, S. 74. 78 Vgl. Claalrnen, Wege, S. 43 ff.; Popper, Logik, S. 52. 74
75
19
80
V gl. hierzu S. 77f. "Das Problem der Beziehung von Theorie und Erfahrung". Chalmer:s, Wege, S. 44.
81 Chalmers, Wege, S. 44.
B. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen
81
Hypothese ist deswegen falsifizierbar, weil es denkbar wäre, daß ein Lichtstrahl, der in einem schrägen Winkel auf den Spiegel trifft, im rechten Winkel zum Spiegel reflektiert wird83• Wenn wir einen solchen Vorgang entsprechend unserer Erfahrung nicht erwarten würden, ist es dennoch eine logisch mögliche Beobachtungsaussage, die mit der Hypothese unvereinbar wäre, und damit eine Falsifizierungsmöglichkeit84• In Anlehnung an Chalmers85 seien nachfolgend drei Hypothesenbeispiele gezeigt, die nicht falsifizierbar sind:
1. Entweder es regnet oder es regnet nicht. 2. Alle Punkte auf einem euklidischen Kreis befmden sich gleichweit vom Mittelpunkt entfernt. 3. Alle Junggesellen sind unverheiratet. Keine logisch mögliche Beobachtungsaussage könnte (1) widerlegen. Wie das Wetter auch wird, es steht niemals in einem Widerspruch zu dieser Aussage. Andererseits sind die Hypothesen (2) und (3) immer zutreffend. So ist der euklidische Kreis gerade so defmiert. Sind die Punkte auf einem Kreis nicht gleichweit von einem Fixpunkt entfernt, so handelt es sich eben nicht um einen euklidischen Kreis. Hypothe'Se (3) ist aus dem gleichen Grunde nicht falsifizierbar. Man sieht, daß die Falsiflzierbarkeit einer Hypothesetrheorie von deren logischer Form abhängt. Der Falsifikationsimus stellt also ganz bestimmte Anforderungen an die logische Form von Hypothesen. Der Frage nach der erforderlichen logischen Form von Hypothesen soll im folgenden Abschnitt nachgegangen werden. 2. Logische Aspekte der Falsifikation
Welche logische Form müssen die Hypothesen{fheorien haben, damit die Menge ihrer Falsiflzierungsmöglichkeiten nicht leer ist? Nach Popper86 müssen die erfahrungswissenschaftliehen Hypothesen{fheorien die logische Form von Allsätzen haben. Ein Allsatz ist ein Satz, der eine Aussage über unbegrenzt
82 Beispiel nach Chalmers, Wege, S. 45. 83
Beispiel nach CluJ/men, Wege, S. 45. Beispiel nach CluJ/men, Wege, S. 45. 85 CluJ/men, Wege, S. 45 f. 86 V gl. Popper, Logik, S. 39. 84
6 Lohse
Zweites Kapitel: Der Stand der Wissenschaft
82
viele Elemente enthält und dessen Elemente ausschließlich "Universalien" sind87• Sätze, in denen nur Universalien auftreten, werden als "universelle Sätze" bezeichnet88• Hierzu zählen neben den Allsätzen die universellen Es-gibtSätze, z. B. "Es gibt einen schwarzen Raben'.89. Logisch gleichwertig zu den Allsätzen sind die universellen Es-gibt-nicht-Sätze90• Die universellen Sätze sind raum-zeitlich nicht beschränkt, auf kein durch Individualien ausgezeichnetes Koordinatensystem bezogen91• Auf diese Eigenschaft ist die Nichtfalsiflzierbarkeit der universellen Es-gibt-Sätze zurückzuführen92. Man müßte eine unendliche Menge von Elementen ("die ganze Welt''93) absuchen, um zu beweisen, daß es etwas (das Behauptete) nicht gibt. Hieraus erklärt sich ebenfalls die Nichtveriflzierbarkeit der Allsätze94• Dennoch sind nach Popper9S sowohl die universellen Es-gibt-Sätze als auch die Allsätze eindeutig entscheidbar: "Wenn wir feststellen, daß es hier oder dort 'etwas gibt', so kann dadurch ein universeller Es-gibt-Satz veriflziert bzw. ein Allsatz falsiflziert werden." . Weil kein Beobachtungssatz mit einem universellen Es-gibt-Satz in einem Widerspruch stehen kann, ist die Menge der Falsifikationsmöglichkeiten leer, sie sind folglich nicht falsiflzierbar96• Kein Beobachtungssatz kann zu dem Satz "Es gibt weiße Rosen" in logischem Widerspruch stehen97• Nur ein Allsatz kann einem solchen Satzwidersprechen98• Popper bezeichnet deswegen aufgrund seines Abgrenzungskriteriums der Falsifikation die universellen Es-gibt-Sätze als "metaphysisch"99• Demzufolge sind universelle Es-gibt-Sätze keine wissenschaftlichen Hypothesen!l'heorien im Sinne des Falsiftkationismus. Sie gehören nicht zu den erfahrungswissen-
Vgi.Popper, Logik, S. 34 ff. Popper, Logik, S. 39. 89 Popper, Logik, S. 39. 90 Popper, Logik, S. 39 f., 68. 91 Popper, Logik, S. 40. 92 V gl. Popper, Logik, S. 40. 93 Popper, Logik, S. 40. 94 Popper, Logik, S. 40. 9S V gl. Popper, Logik, S. 40. 96 Vgi.Popper, Logik, S. 40. 97 V gl. Popper, Logik, S. 40. 98 V gl. Popper, Logik, S. 40. 99 V gl. Popper, Logik, S. 40. 87
88
B. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen
83
schaftliehen Erkenntnissen und können daher keinen Stand der Wissenschaft markieren oder verändern.
3. Metbodist:be Aspekte der Falsifikation
Popper hat die Falsiflzierbarkeit als Abgrenzungskriterium der erfahrungswissenschaftlichen Sätze gegenüber den metaphysischen eingeführt. Wann jedoch eine empirische Erkenntnis als falsifiziert oder bewährt anzusehen ist, muß durch Regeln bestimmt werden. Nach Popper100 gilt eine Theorie dann als falsifiziert, wenn Basissätze anerkannt werden, die ihr widersprechen. Basissätze oder Beobachtungssätze sind, wie schon erwähnt, "Sätze, die behaupten, daß sich in einem individuellen Raum-Zeit-Gebiet ein beobachtbarer Vorgang abspielt."101 Der Begriff "Vorgang" wird von Popperu12 durch folgende Defmition eingeführt: "Ein 'Vorgang (P)' ist die Klasse aller Ereignisse pt, PI···•die sich nur durch die Verschiedenheit der Individualien < der raum-zeitlichen Positionen; ... > unterscheiden. Wir werden also z. B. von dem Satz: 'Hier und je~ wird ein Glas Wasser umgeworfen' sagen, daß er ein Element des Vorganges 'Umwerfen eines Wasserglases' ist." Als "beobachtbar" gelten Vorgänge dann, wenn sie "intersubjektiv nachprüfbar" sind103• Es gibt weder einen absoluten noch einen letzten Basissatz. Weil es keine reine Beobachtung gbt, da Beobachtung theorieabhängig ist104, sind Basissätze ihrerseits fallibel1 • Wenn Basissätze selbst fallibel sind, dann kann es auch keine endgültig sicheren, d. h. absoluten Basisätze oder Beobachtungsaussagen geben. Es gibt keinen letzten Basissatz, weil, unter dem logischen Gesichtspunkt, jeder Basissatz neuerdings durch Deduktion anderer Basissätze überprüft werden kann106• "Dieses Verfahren findet niemals ein 'natürliches' Ende. Wenn wir ein Ergebnis erzielen wollen, bleibt uns also nichts anderes übrig, als uns an irgendeiner Stelle für befriedigt zu erklären."107
100 101
102 103 104
Popper, Logik, S. 54. Popper, Logik, S. 69. Popper, Logik, S. 57. Vgl. Popper, Logik, S. 68.
Siehe S. 77f. Vgl. etwaAnderson, Kritik, S. 98 ff., 183; Popper, Logik, S. 75 f. 106 Vgl. Popper, Logik, S. 69. 107 Popper, Logik, S. 69 f. 105
Zweites Kapitel: Der Stand der WISSCnschaft
84
Der unendliche Regreß auf mögliche Basissätze wird durch die Übereinkunft der Wissenschaftler, einen oder mehrere Basissätze vorläufig anzuerkennen, vermieden. Dies ist wesentlich für das Verständnis eines "Standes" der Wissenschaft. Die kritische wissenschaftliche Diskussion auf der Grundlage vorläufig anerkannter Basissätze ist Voraussetzung für die Veränderung eines Standes der Wissenschaft. Dies macht aber deutlich, daß der "Stand" einer Wissenschaft eine Art "Momentaufnahme" des Erkenntnisprozesses ist. Denn werden neue Hypothesen formuliert, neue Basissätze anerkannt und/oder die gemeinsame Anerkennung bislang akzeptierter aufgehoben, führt das zu einer erneuten oder weiteren kritischen wissenschaftlichen Diskussion, die an ihrem ''vorläufigen Ende" wieder einen neuen Stand der Wissenschaft markieren kann. Für die Falsifikation von Hypothesen reicht es jedoch nicht aus, wenn ihr anerkannte Basissätze widersprechen. Vielmehr muß es sich um reproduzierbare anerkannte Basissätze handeln108• Popper109 betont, daß nichtreproduzierbare Einzelereignisse für die Wissenschaft bedeutungslos sind, sie allein vermögen keine Hypothese zu falsifizieren. Aber auch reproduzierbare anerkannte Basissätze vermögen allein keine Hypothese zu falsiftzieren110• Eine Hypothese gilt erst dann als falsifiziert, wenn ein diese Hypothese widerlegender Effekt aufgefunden ist111• D. h., wenn eine (diesen Effekt beschreibende) empirische Hypothese von niedrigerer Allgemeinheitsstufe, die der Hypothese widerspricht, aufgestellt wird und sich bewährt112. Eine solche Hypothese nennt Popper113 "falsiftzierende Hypothese". Popper114 selbst gibt eine recht gute Zusammenfassung der oben geschilderten Zusammenhänge: "Die Basissätze spielen also zwei verschiedene Rollen: Einerseits ist das System aller logisch-möglichen Basissätze sozusagen ein Bezugssystem, mit dessen Hilfe wir die Form empirischer Sätze logisch kennzeichnen können; andererseits sind die anerkannten Basissätze Grundlage für die Bewährung von Hypothesen. Widersprechen anerkannte Basissätze einer Theorie, so sind sie
108 109
110
111
nz
113 114
Vgl. Popper, Logik, S. 54. Vgl. Popper, Logik, S. 54. Vgl. Popper, Logik, S. 54. Vgl. Popper, Logik, S. 54. V gl. Popper, Logik, S. 54. Vgl. Popper, Logik, S. 54. Popper, Logik, S. 55.
8. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen
85
nur dann Grundlage für deren Falsifikation, wenn sie gleichzeitig eine falsifizierende Hypothese bewähren." 4. Pragmatische Aspekte der Falsifikation
Gemäß der hypothetisch-deduktiven Erkenntnistheorie spricht man von einer erfahrungswissenschaftliehen Hypothese, wenn diese falsifizierbar ist. D. h., eine empirische Hypothese ist definiert durch ihr logisches Verhältnis zu möglichen Basissätzen. Logisch betrachtet setzt die Falsifikation die Falsifizierbarkeit voraus. Wenn FalsiflZierbarkeit möglich ist, und nur dann, können sich Hypothesen bewähren. Die Falsifazierungsmöglichkeit und Bewährungsmöglichkeit ergeben sich aus der nichtleeren Menge der logisch möglichen Basissätze und deren logische Beziehung zu empirischen Hypothesen. Empirische Hypothesen sind Allsätze und, wegen der prädikatenlogischen Äquivalenz zu diesen, universelle Es-gibt-nicht-Sätze. Popper selbst hebt neben diesem lofjschen Aspekt der FalsiflZierbarkeit auch den pragmatischen Aspekt hervor1 • Er sieht durchaus das Problem, daß eine logisch mögliche Falsiftkation wegen "unüberwindlicher Schwierigkeiten" unmöglich ist. Nach Popper11' bestehen "unüberwindliche Schwierigkeiten" etwa darin, daß die Falsiftkation einer erfahrungswissenschaftliehen Hypothesetrheorie auf ( erkenntnis)"praktische Unmöglichkeiten" stößt. Insoweit müssen die Anforderungen an eine empirische Hypothese wie folgt erweitert werden: Eine Hypothese ist genau dann erfahrungswissenschaftlich/ empirisch, wenn sowohl die Menge der logischen als auch die Menge der praktischen FalsiflZierungsmöglichkeiten nicht leer ist. Zur notwendigen Voraussetzung der logischen FalsiflZierbarkeit tritt die hinreichende der praktischen Falsifizierungsmöglichkeit hinzu. Ist es praktisch unmöglich, eine Hypothese zu falsifizieren, zählt sie nicht zu den erfahrungswissenschaftliehen Hypothesen. Sie zählt somit nicht zur Wissenschaft und kann insbesondere keinen Stand der Wissenschaft markieren und/oder einen solchen verändern. Wenn etwa erforderliche Experimente durch die Rechtsordnung verboten sind, können notwendige Beobachtungen realiter nicht gemacht werden. Die Menge der praktisch realisierbaren Beobachtungsaussagen ist leer, folglich ist
115 V r). Popper, Grundprobleme, S. 390.
116 Vr). Popper, Grundprobleme, S. 390; ders., Suche, S. 82, formuliert hier wie folgt: "Lö-
sungen werden vorgeschlagen und kritisiert. Wenn ein Lösungsversuch der sachlichen Kritik nicht zugänr)ich ist, so wird er eben deshalb als unwissenschaftlich ausgeschaltet, wenn auch vielleicht nur vorläufig."
Zweites Kapitel: Der Stand der WISSenschaft
86
auch die praktische Menge der Falsifizierungsmöglichkeiten und Bewährungsmöglichkeiten leer. Handelt es sich um ein grundgesetzliches Verbot, so ist die praktische Menge der Falsiftzierungsmöglichkeiten als "endgültig" leer anzusehen. In diesem Falle zählen die Hypothesen nicht zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen, da die "kritische Methode" auf diese nicht anwendbar ist. Nachdem die hypothetisch-deduktive Erkenntnismethode skizziert und einige für diese Untersuchungwesentliche Aspekte der FalsifJ.kation näher erörtert wurden, werden im folgenden einige hierauf zielende Einwände vorgestellt und diskutiert. S. Einwände gegen die Existenz einer Asymmetrie zwischen Verifikation und Falsifikation
Eine von Henke117 vorgebrachte Kritik bestreitet die Existenz einer Asymmetrie zwischen FalsifJ.kation und VerifJ.kation. Seiner Ansicht zufolge ist "das eine .. so unmöglich wie das andere"118• Für ihn kann es demnach keine hypothetisch-deduktive Erkenntnismethode geben, da es keine FalsifJ.kation gibt. Zu dieser Ansicht gelangt Henke über die Frage, "ob in der FalsifJ.kation nicht doch der gleiche Mangel steckt wie in der induktiven VerifJ.kation."119 Diesen glaubt er nun darin zu entdecken, "daß auch die FalsifJ.kation niemals mit Sicherheit festgestellt werden kann"11"0 • Denn, und dies in Übereinstimmung mit der Poppersehen Lehre, "Hypothesen können also nicht an Tatsachen scheitern, sondern allenfalls an Gegenhypothesen. Da aber die Richtigkeit beider Hypothesenungewiß bleibt, kann von einer Widerlegung oder dem Scheitern einer Hypothese niemals gesprochen werden."121 Aus diesem an sich richtig dargestellten Sachverhalt jedoch den Schluß zu ziehen, es bestehe keine Asymmetrie zwischen Verifikation und FalsifJ.kation, da das eine so unmöglich sei wie das andere, ist falsch. Er ist falsch, weil Henke den Begriff der Asymmetrie mißversteht. Für die Deduktion gilt logisch, daß, wenn die Prämissen wahr sind, die Konklusion ebenfalls wahr ist. Die Induktion ist deswegen kein logisch zulässiges Schlußverfahren, weil, selbst wenn die Prämissen wahr sind, die Konklusion nicht richtig sein muß, da sie mehr enthält, als alle Prämissen zusammen. Dieser Sachverhalt führt zur Annahme einer logischen Asymmetrie, die Seiffere22
Henlre, Rationalismus, S. 11. Henlre, Rationalismus, S. 11. 119 Henlre, Rationalismus, S. 11. 12ll Henlre, Rationalismus, S. 11. 121 Henlre, Rationalismus, S. 11. 117 118
B. Die Abgrenzung empirischer Erkcnntni~ von anderen
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prägnant wie folgt formuliert: "Zwischen Veriftzierung (Bestätigung) und Falsifizierung (Widerlegung) eines Allsatzes besteht eine Asymmetrie insofern, als ein Allsatz nie endgültig verifiziert, jedoch potentiell immer (durch Auffmdung eines einzigen Gegenfalles) falsifiZiert werden kann." Auch Popper123 sagt, daß die Asymmetrie "mit der logischen Form der allgemeinen Sätze zusammenhängt". Diese Asymmetrie behauptet nur, daß Verifikation und Falsifikation logisch möglich sind. Sie behauptet nicht, daß Verifikation und Falsifikation endgültig sind, mit ihnen insofern ein endgültiger (absoluter) Wahrheits- oder Richtigkeitsnachweis erfolgen kann. Letzteres scheint Henke irrtümlicherweise anzunehmen. Darüber hinaus hat Popper124 auch selbst niemals behauptet, es sei eine endgültige Falsifikation möglich. Diese Asymmetrie besagt also nur, daß allgemeine Sätze gemäß den Schlußregeln der Logik nie endgültig verifiZiert, jedoch potentiell immer falsifiZiert werden können. Während die Asymmetrie eine Falsiftzierungsmöglichkeit logisch einräumt, behauptet sie nicht, daß eine solche in jedem Falle endgültig ist, d. h., zu absolut richtigen oder falschen Aussagen führt. So hebt Popper125 selbst hervor, daß es aufgrundeines konsequenten Fallibilismus zu erwarten ist, daß Falsifikationen später auch zurückgezogen werden. 6. Falsifikation mit falliblen Prüfsätzen
Wissenschaftsphilosophische Kritik am Falsifikationismus, die auf der Fallibilität der Prüfsätze beruht, trifft nach Anderson126 nicht Popper. Diese Kritik geht davon aus, daß Prüfsätze sicher und die darauf gestützten Falsifikationen endgültig sind. Anderson zeigt, daß es ein Hauptanliegen Poppers war, deutlich zu machen, daß Prüfsätze fallibel und Falsifikationen deswegen eben nicht endgültigsind121• Anderson128 äußert die Ansicht, daß die Falsifikation begründungsphilosophisch mißverstanden wird, wenn man sie als absolut sichere Widerlegung auffaßt. Danach ist in einem konsequenten Fallibilismus eine solche Position nicht vertretbar, weil nicht nur allgemeine Hypothesen, sondern auch singuläre
122 Seiffert, Wissenschaftstheorie, S. 189.
123 Popper, Logik, S. 15 f., passim; ganz in diesem Sinne erwähnt Kuhn, Entstehung, S. 372, daß es sich um eine "logische Falsifikation" handelt. 124 Popper, Logik, S. 66; ebensoAnderson, Kritik, S. 110. 125
Popper, Logik, S. 66
127
Ander.son, Kritik, S. 99 ff., 109 f.
126 Vgl.Anderson, Kritik, S. 100. 128 Anderson, Kritik, S. 109.
Zweites Kapitel: Der Stand der WISSCIISChaft
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Prüfsätze und damit Falsifikationen fallibel sind129• "Auch die Behauptung, daß ein Prüfsatz zutreffe oder daß eine allgemeine Hypothese falsch sei, ist fallibel."130 Was ist aber die Falsifikation, wenn nicht eine faktisch zwingende Widerlegung? Auf diese Frage gibt Anderson folgende Antwort: "Sie ist eine bedingte Widerlegung, die behauptet: wenn gewisse Prüfsätze {Falsifikationsmöglichkeiten) wahr sind, dann ist eine allgemeine Theorie falsch." 131 Weiter heißt es: "Es ist logisch wahr, daß die allgemeine Theorie .. falsch ist, wenn die Falsifikationsmöglichkeit wahr ist; daß aber bestimmte faktische Falsifikationsmöglichkeiten wahr sind, kann nie mit absoluter Sicherheit behauptet werden. Deshalb sind die Falsifikationen genauso fallibel wie die bei der Falsifikation angenommenen Prüfsätze."132 Diese Ansicht formuliert Popper in "Logik der Forschung'' folgendermaßen: ''Wir betrachten also im allgemeinen eine (methodisch entsprechend gesicherte) intersubjektiv nachprüfbare Falsifikation als endgültig... Ein historisch späteres Bewährungsurteil ... kann zwar an die Stelle eines positiven Bewährungswertes einen negativen setzen, nie aber umgekehrt."133 Hierzu merkt Anderson134 an, daß es richtig ist, daß Falsifikationen im allgemeinen so betrachtet werden. Dagegen hält er es für falsch, daß negative Bewertungsurteile nie durch positive ersetzt werden können sollen. Er hält es im Gegenteil immer für möglich, daß Falsifikationen später zurückgenommen werden, wie dies aufgrundeines konsequenten Fallibilismus zu erwarten ist. Die Antwort auf die wissenschaftsphilosphische Kritik am Falsifikationismus lautet also: In Übereinstimmung mit der Poppersehen Vorstellung eines konsequenten Fallibilismus ist die Falsifikation grundsätzlich immer eine bedingte Widerlegung. Logisch zwingend ist nur die Wenn-dann-Aussage: Wenn eine Falsifizierungsmöglichkeit einer Theorie wahr ist, dann ist die Theorie falsch. "Auch wenn Revisionen von Falsifikationen in der Praxis selten sind, so sind sie vom Standpunkt eines konsequenten Fallibilismus aus immer möglich."135 Für Popper ist die Revidierbarkeit der Prüfsätze eine Folge ihrer Fallibilität136. Prüfsätze sind fallibel, weil es erstens keine letzten Prüfsätze gibt137
129
Andenon, Kritik, S. 109.
130 Andenon, Kritik, 5.109.
131 Arulerson, Kritik, S. 110.
132 Andenon, Kritik, S. 110. 133
Popper, Logik, S. 214.
134 Vgi.Ander.ron, Kritik, S. 110.
135 Arulerson, Kritik, S. 110.
8. Die Abgrenzung empirischer ErkeMtnissc von anderen
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und weil zweitens jede Beobachtung "theoriegeladen"138 ist und sich deswegen immer als falsch erweisen kann, da die Interpretation einer Beobachtung in der Form eines Prüfsatzes revidiert wird. Da, wie gezeigt, falsifizierende Schlüsse möglich sind, kann dies jedenfalls kein Ansatzpunkt für eine Kritik gegen eine falsiflkationistische Methodenlehre sein. 7. Wassenschaftshistorisc:her Einwand gegen die hypothetisch-deduktive Erkenntnismethode
Popper139 selbst sieht in der hypothetisch-deduktiven Erkenntnismethode einen normativen Entwurf, keine Beschreibung der Wissenschaftsgeschichte, vielmehr einen "Rat an die Wissenschaftler zur Verbesserung der Situation in der Wissenschaft". Der wissenschaftshistorische Einwand gegen die hypothetisch-deduktive Erkenntnismethode knüpft hieran an. Detel140 formuliert etwa: "Nachdem die Wissenschaftstheoretiker jahrzehntelang idealen, vorbildlichen und somit normativen Entwürfen der Struktur und Entwicklung wissenschaftlicher Theorien nachgejagt waren, stellte man endlich die naheliegende Frage, wie es denn faktisch in der bisherigen Wissenschaftsgeschichte zugegangen ist und ob die normativen Entwürfe der bisherigen Wissenschaftstheorie überhaupt mit denjenigen Regeln übereinstimmen, denen die Wissenschaftler tatsächlich gefolgt sind." Normativ orientierte Wissenschaftstheoretiker lehnen diese Art der Kritik ab141• Es ist nach ihrer Meinung methodologisch nicht zulässig, "die gängigen normativen Vorstellungen durch deskriptive Beschreibungen zu prüfen"142• "Wie sollte man denn das, was sein soll, daran prüfen können, was faktisch der Fall ist?" 143 Gegen diesen methodisch orientierten Einwand an einer Kritik des Falsifikationismus144 durch wissenschaftshistorische Einwände oder wissenschaftshi136 Ander.son, Kritik, S. 110. 137 Vgl.Popper, Logik, S. 20 f., 69 f.;Ander.son, Kritik, S. lOl. 138 ~1. Wissenschaft, S. 196; i. d. S. auchAndenon, Kritik, S. 93; Popper, Logik, S. 76. 139 Popper, in: Popper!Lormz, Zukunft, S. 59; i. d. S. auch Detel, Wissenschaft, S. 200; Chal~.Wege,S.lOS.
140
Detel, Wissenschaft, S. 200.
141 V gl. ~1, Wissenschaft, S. 200. 142 Vgl.~l. Wissenschaft, S. 200. 143
~1, Wissenschaft, S. 200.
Zu den normativ orientierten Wissenschaftstheorien zählt auch die "induktive Erkenntnismethode". Hier interessiert jedoch nur die Kritik am Falsifikationismus. 144
Zweites Kapitel: Der Stand der WISSenschaft
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storisch orientierte Wissenschaftstheorien bietet Detel folgende Lösung an: Die wissenschaftshistorisch orientierten Wissenschaftstheorien werden in normative Wissenschaftstheorien umgedeutet. Er glaubt, dadurch eine methodisch zulässige Kritik des Falsiftkationismus zu ermöglichen. Dazu Detel145 im Wortlaut: "Aber sie (die methodologische Kritik gegen die Vergleichbarkeit/d. Verf.) erweist sich sehr schnell als viel zu einfach; denn nicht nur orientieren sich ersichtlich auch die normativ orientierten Wissenschaftstheoretiker letztlich an Beispielen hervorragender wissenschaftlicher Theorien, sondern die historisch orientierten Wissenschaftstheoretiker können auch darauf verweisen, daß sie wie alle Wissenschaftstheoretiker bisher auch davon ausgehen, daß die neuzeitliche Wissenschaft im ganzen bislang ein erfolgreiches Unternehmen gewesen ist. Dann aber lassen sich die deskriptiven Beschreibungen der tatsächlichen Regeln, denen dieses Unternehmen folgte, als notwendige Bedingung dieses Erfolges durchaus auch als normative Vorschläge für das wissenschaftliche Vorgehen deuten und können somit sehr wohl als Prüfungsinstanz für die normativ orientierte Wissenschaftstheorie gelten." Unabhängig von der Frage, ob die "deskriptiven Beschreibungen der tatsächlichen Regeln" zutreffenH', ist leicht zu erkennen, daß es sich hier um einen induktiven Übergang, d. h. Induktionsschluß, handelt. In Analogie zu der von Chalmers147 vorgeschlagenen Formulierung des Induktionsprinzips lautet Detels Induktionsschluß dann folgendermaßen: Wenn eine große Anzahl von erfolgreichen wissenschaftlichen Unternehmungen unter einer großen Vielfalt von Bedingungen beobachtet wird, und wenn alle diese beobachteten erfolgreichen wissenschaftlichen Unternehmungen ohne Ausnahme nach den deskriptiven Beschreibungen der tatsächlichen Regeln durchgeführt sind, dann sind alle erfolgreichen wissenschaftlichen Unternehmungen nach den deskriptiven Beschreibungen der tatsächlichen Regeln durchgeführt. Wie oben gezeigt, ist das Induktionsproblem unlösbar. Logisch betrachtet gibt es keinen Induktionsschluß148• Detels Umdeutungsversuch kann logisch nicht begründet werden. Er kann den methodologischen Einwand gegen die
145
Detel, Wissenschaft, S. 200.
1"' Große Beachtung hat die "deskriptive Beschreibung der tatsächlichen Regeln" von Tho-
mas S. Kuhn, das sogenannte Paradigma-Modell, gefunden. Popper, in: Popper/Lormz, Zukunft, S. 58 f., behauptet jedoch, daß "Kuhn wissenschaftshistorisch Unrecht hat". Ein Beispiel folgtebd. 147 Chalmers, Wege, S. 15. 148 Diese Ansicht vertritt Detel selbst, Wissenschaft, S. 187: "Es ist klar, daß der induktive Übergang keine logische Folgerung sein kann".
8. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen
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Vergleichbarkeit des Falsiftkationismus mit historisch orientierten Wissenschaftstheoriennicht beseitigen. Der Falsiftkationismus wird von dieser Kritik folglich nicht getroffen. I. Zusammenfassuog
Der Falsiftkationismus betrachtet erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse als Hypothesen oder Theorien, die falsifiZiert werden können müssen. Nach Popper ist eine Hypothese{fheorie dann falsifiZierbar, wenn die Menge der FalsifiZierungsmöglichkeiten nicht leer ist. Die Menge der FalsifiZierungsmöglichkeiten besteht aus der Summe derjenigen Basissätze, die mit der zu prüfenden allgemeinen Aussage logisch in einem Widerspruch stehen. Basissätze beschreiben die aus Experimenten oder Beobachtungen gewonnenen Tatsachen, sie sind "Tatsachenfeststellungen". Im Falsiftkationismus wird eine Hypothese dadurch widerlegt, d. h. falsifiziert, daß ein Basissatz gefunden wird, der reproduzierbare Tatsachen beschreibt und zu der Hypothese in logischem Widerspruch steht. Damit die Menge der FalsifiZierungsmöglichkeiten nicht leer ist, müssen die Hypothesenffheorien die logische Form von Allsätzen haben. Logisch gleichwertig zu den Allsätzen sind die universellen Es-gibt-nicht-Sätze. Weil es keine reine Beobachtung gibt, da Beobachtung theorieabhängig ist, sind Basissätze ihrerseits fallibel. Aus diesem Grunde kann es auch keine endgültig sicheren, d. h. absoluten Basissätze oder Beobachtungsaussagen geben. Der unendliche Regreß auf mögliche Basissätze wird durch die Übereinkunft der Wissenschaftler, einen oder mehrere Basissätze vorläufig anzuerkennen, vermieden. Zur notwendigen Voraussetzung der logischen FalsifiZierbarkeit tritt die hinreichende der praktischen FalsifiZierungsmöglichkeit: Ist es praktisch unmöglich, eine Hypothese zu falsifiZieren, zählt sie nicht zu den erfahrungswissenschaftlichen Hypothesenffheorien. Sie zählt somit nicht zur Wissenschaft und kann insbesondere keinen Stand der Wissenschaft markieren oder verändern. Der Falsiftkationismus betrachtet die falsifiZierbare, bislang jedoch nicht falsifiZierte erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis, das ist die bewährte empirische Erkenntnis, als Fortschrittsbasis. Die bloße Falsifizierbarkeit genügt nicht; es wird vielmehr die Bewährung verlangt. Die Bewährung setzt immer den gescheiterten FalsifiZierungsversuch voraus. Der Stand der Wissenschaft ist identisch mit der Fortschrittsbasis.
92
Zweites Kapitel: Der Stand der WISSenschaft
Die von Henke vorgebrachte Kritik gegen die Existenz einer Asymmetrie zwischen Verifikation und Falsifikation verkennt, daß es sich um eine logische Falsifikation handelt, die aber weder absolut noch endgültig ist. Diese Asymmetrie besagt nur, daß allgemeine Sätze gemäß den Schlußregeln der Logik nie endgültig verifiziert, jedoch potentiell immer falsifiziert werden können. In Übereinstimmung mit der Poppersehen Vorstellung eines konsequenten Fallibilismus ist die Falsifikation grundsätzlich immer eine bedingte Widerlegung. Deswegen ist eine Falsifikation mit falliblen Prüfsätzen möglich. Die erste ausgearbeitete holistische und wissenschaftshistorisch orientierte Wissenschaftstheorie, die zugleich eine fundamentale Kritik des Falsifikationismus darstellt, ist das Paradigma-Modell von Kuhn. Es wurde gezeigt, daß die historisch orientierten Wissenschaftstheorien, also insbesondere das Kuhnsche Paradigma-Modell, nicht als normative Erkenntnistheorien anzusehen sind. Insbesondere macht dieser methodologische Einwand einen Vergleich auf dieser Ebene unmöglich. Das Paradigma-Modell ist kein normatives Modell, es kann insofern auch nicht als das bessere normative Modell den Falsifikationismus als Methode verdrängen.
111. Anerkennung der ''wissenschaftlichen Gemeinschaft" als Abgrenzungskriterium
1. Der wissenscbaftsbistoriscbe Ansatz des Paradigma-Modells von Tbomas S. Kubn
Wissenschaftshistorisch orientierte Erkenntnistheorien versuchen, durch eine historische Analyse der wissenschaftlichen Erkenntnisvorgänge diejenigen Regeln zu entdecken, nach denen diese Erkenntnisprozesse tatsächlich ablaufen. Nach Kuhn149 sind "Paradigmata" konstitutiv für die Wissenschaft. Die Mitglieder einer "wissenschaftlichen Gemeinschaft" geben sich durch die Anerkennung "ihres" Paradigmas zugleich eine Norm oder Deftnition der Wissenschaft150• Kuhn zufolge hängt die bloße Existenz der Wissenschaft davon ab, "daß die Vollmacht, zwischen Paradigmata zu wählen, den Mitgliedern einer besonderen Gemeinschaft übertragen ist"m. Die "wissenschaftliche Gemeinschaft" ist nach Kuhnsm Ansicht die allein kompetente professionelle Gruppe, der in Fragen fachwissenschaftlicher Leistungen die Rolle des
149 V gl. Kuhn, Struktur, S. 122. 150 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 159. 151 IWhn, Struktur, S.179. 152 Vgi.Kuhn, Struktur, S.175,180.
B. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen
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Schiedsrichters zusteht. Das Abgrenzungskriterium ist die "Entscheidung der wissenschaftlichen Gruppe"153• Die Zugehörigkeit zu den Erfahrungswissenschaften trifft die "wissenschaftliche Gemeinschaft" durch Entscheidung. Gemäß dieser konstitutiven Entscheidung sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse dieser Gruppe nunmehr erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse. Welche Erkenntnis als erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis angesehen werden soll, bestimmt die "wissenschaftliche Gemeinschaft" durch Entscheidung im Kontext ihres Paradigmas und den daraus abgeleiteten Regeln. Kuhn154 geht aus von einer Unterscheidung des Wissenschaftsprozesses in eine Phase vor-normaler, normaler und außerordentlicher Wissenschaft. Von normaler Wissenschaft spricht er dann, wenn eine grundlegende Forschungstradition mit einem grundlegenden Paradigma vorhanden ist155. Ein Paradigma bildet, solange es gilt, die Grundlage der Forschungstätigkeit in einer wissenschaftlichen Disziplin, und zwar im wesentlichen aufgrund zweier Merkmale: Es ist beispielhaft und gut genug, um eine beständige und große Gruppe von Anhängern zu gewinnen, und es ist offen genug, um der neuen Gruppe von Fachleuten alle möglichen ungelösten Probleme zu stellen156. Etabliert wird das Paradigma durch die allgemeine Anerkennung der wissenschaftlichen Gemeinschaft1S7. Die wissenschaftliche Gemeinschaft besteht nach Kuhn als soziologisch-empirische Gruppe aus den Vertretern eines wissenschaftlichen Spezialgebietes158. Die wissenschaftliche Gemeinschaft kann nach seiner Ansicht hinreichend durch empirische Kriterien deftniert werden159. Aufgrund dieser Kriterien können Wissenschaftler als solche erkannt und einer oder mehreren wissenschaftlichen Gemeinschaften zugeordnet werden160.
153 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 181. 154 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 19 f., 26, passim; ders., Entstehung, S. 416 Anm. 4, stellt hier klar,
daß die von ihm "vor-paradigmatisch" genannte Periode richtig als "vor-normalwissenschaftliche" bezeichnet werden muß. ISS Vgl. Kuhn, Struktur, S. 25 f. 156 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 25. 157 Vgl. Kuhn, Entstehung, S. 25. 158 Vgl. Kuhn, Entstehung, S. 390-392, insbesondere äußert er sich hier ausführlich zu den empirischen Kriterien. 159 Vgl. Kuhn, Entstehung, S. 390-392, insbesondere äußert er sich hier ausführlich zu den empirischen Kriterien. 160 Vgl. Kuhn, Entstehung, S. 390-392, insbesondere äußert er sich hier ausführlich zu den empirischen Kriterien.
Zweites Kapitel: Der Stand der Wissenschaft
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Kriterium für die allgemeine Anerkennung eines Paradigmas ist neben der "Tatsachenkonformität" die psychologische Überzeugung der Brauchbarkeit und Nützlichkeit bei der Bearbeitung bei den von der wissenschaftlichen Gemeinschaft als wichtig angesehenen Problemen161• Maßgeblich ist also ein Gemisch objektiver und subjektiver Faktoren162. Man kann mit Kreuzer163 sagen, "Wissenschaft ist das, was zwischen Wissenschaftlern ausgemacht wird..." Dieser Satz gilt in entsprechender Umwandlung insbesondere für die Erfahrungswissenschaften sowie die Geltung erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnisse. Ein Paradigma ist mehr als nur eine allgemein anerkannte vorbildliche Theorie im klassischen Sinne. Als Vorbild für die Tätigkeit einer bestimmten Gruppe von Wissenschaftlern, der auf ein Paradigma eingeschworenen Gemeinschaft, enthält es gemäß einer Zusammenstellung von Detel "mindestens die folgenden weiteren Elemente: metaphysische Thesen (z. B. über fundamentale Entitäten im Kosmos), formale Operationen (z. B. die Logik, Mathematik und die Regeln der Benutzung der Meßinstrumente), methodologische Festsetzungen (Prüfungsverfahren und Annahme- und Verwerfungskriterien für Theorien), Forschungsstrategien (Relevanz und Lösungsmethoden für die offenen Probleme)." 164 2. Normalwissenscbaftlicbe Forschung
Nach Kuhn16S besteht das Wesen der normalwissenschaftlichen Forschung in der "Erweiterung der Kenntnis der vom Paradigma als besonders aufschlußreich dargestellten Fakten", der "Verbesserung des Zusammenspiels dieser Fakten mit den Voraussagen des Paradigmas" (gegenseitige Anpassung von Fakten und Theorie) und in der "Artikulierung des Paradigmas selbst" (Ausarbeitung des Paradigmas). Normalwissenschaftliche Forschung bleibt eng an die Fragestellungen und theoretischen Voraussetzungen des Paradigmas gebunden166. "In keiner Weise ist es das Ziel der normalen Wissenschaft, neue
161
V gl. Kuhn, Entstehung, S. 421 ff.
163
Kreuzer, in: Popper/Lorenz, Zukunft, S. 58.
162 Vgl. Kuhn , Entstehung, S. 427.
164 Detel, Wissenschaft, S. 201; ausführlich zum Paradigma weiter unten. 16S Vgl. Kuhn, Struktur, S. 38, 47.
8. Die Abgrenzung empimcher Erkenntnisse von anderen
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Phänomene zu finden; und tatsächlich werden die nicht in die Schublade hineinpassenden überhaupt nicht gesehen ... Normalwissenschaftliche Forschung ist vielmehr auf die Verdeutlichung der vom Paradigma bereits vertretenen Phänomene und Theorien ausgerichtet."167 Das normalwissenschaftliche Forschungsproblem entspricht etwa einem wohldefinierten "Rätsel", von dem man weiß, daß es eine Lösung hat168. Chalmers169 bemerkt, daß die "Rätsel" sowohl theoretischer als auch experimenteller Natur sein können. Ein typisches theoretisches "Rätsel" sieht er etwa darin, "mathematische Techniken zu entwickeln, die sich auf die Bewegung der Planeten beZiehen, wie auch die Entwicklung geeigneter Vorstellungen zur Anwendung der Newtonsehen Gesetze auf die Bewegung von Flüssigkeiten."110 Als Beispiel für experimentelle "Rätsel" gibt er die Präzisierung teleskopischer Beobachtungen sowie die Entwicklung experimenteller Techniken, die imstande sind, verläßliche Messungen der Gravitationskonstante zu liefern, an111• Die Regeln, riüttels derer man die Lösungen des "Rätsels" fmdet, leiten sich aus dem Paradigma her172• Aber, so bemerkt Kuhn173, obwohl normale Wissenschaft eine höchst determinierte Tätigkeit ist, muß sie aber nicht restlos von Regeln determiniert sein. Die normalwissenschaftliche Forschung hat nach Kuhns Ansicht114 keinesfalls das Zie~ Theorien stets erneut kritisch zu diskutieren, hart zu testen und, wenn möglich, zu falsifizieren, wie dies der kritische Rationalismus von sich behauptet. Normalwissenschaftliche Forschung ist nicht darauf aus, neue Tatsachen oder Anomalien, das sind Tatsachen, die sich nicht in das Paradigma integrieren lassen, zu entdecken175 • Dennoch ist es gerade sie und ihre Bindung an ein scharf begrenztes Paradigma, die erst neue Tatsachen und Anomalien erkennen läßt176.
166 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 37 f., etwa die Bindung an metaphysische und methodologische Voraussetzungen, S. 55 ebd. mit Beispiel.
167 Kuhn, Struktur, S. 37, 49.
168 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 50 ff., 155. 169 Vgl. Chalmers, Wege, S. 108. 17° Chalmers, Wege, S. 108. 111
Vgl. Chalmers, Wege, S. 109.
112 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 56. 173 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 56.
174 175 176
Vgl. Kuhn, Struktur, S. 65, passim. Vgl. Kuhn, Struktur, S. 65. Vgl. Kuhn, Struktur, S. 65.
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Zweites Kapitel: Der Stand der WISSenschaft
Laut Kuhn führen in der Normalwissenschaft Abweichungen zwischen Voraussage und Beobachtung nicht dazu, daß Theorien vollständig aufgegeben werden. Deshalb behauptet er, daß anormale Erfahrungen nicht mit falsifizierenden gleichgestellt werden dürfen177• Die Existenz letzterer bezweifelt er sogar178• Hierzu bemerkt Anderson179, wenn Kuhn ''bezweifelt, daß falsifizierende Erfahrungen existieren, so kann er nicht meinen, daß ein logischer Widerspruch zwischen Prüfsätzen und Prognosen unmöglich ist. Eine solche Position wäre absurd. Statt dessen meint Kuhn, daß es keine Prüfsätze geben kann, die die vollständige Aufgabe einer Theorie (aus methodologischen Gründen) erzwingen". Überhaupt behauptet Kuhn, daß es immer ungelöste "Rätsel" und Unvollkommenheiten in der Anpassung von Theorie und Beobachtung gibt: ''Wenn jede einzelne Nichtübereinstimmung ein Grund für die Ablehnung einer Theorie wäre, müßten alle Theorien allezeit abgelehnt werden."180 Das Bewußtwerden einer Anomalie bedeutet nach Kuhn181 die Erkenntnis, daß die Natur in einer noch unbekannten Weise die von einem Paradigma erzeugten, die normalwissenschaftliche Forschung beherrschenden Erwartungen nicht erfüllt hat. Auftretende Anomalien werden von den Wissenschaftlern jedoch unterschiedlich behandelt. Kuhn182 ist der Ansicht, daß eine falsifikationistische Methodenlehre nicht erklären kann, warum Anomalien so unterschiedlich behandelt werden können. D. h., die logische Falsifikation einer Theorie ist für ihn kein hinreichendes Verwerfungskriterium. Seine eigene Erklärung ist, daß Anomalien in normalen Zeiten, in denen der Glaube an das Paradigma unerschüttert ist, als "Rätsel" betrachtet werden, und daß Anomalien in Krisenzeiten, in denen der Glaube an das Paradigma erschüttert ist, als Falsiflkatoren betrachtet werden183• Er kommt zu einer im wesentlichen psychologischen Erklärung184• Normalwissenschaft läßt sich also charaktLrisieren als ein Versuch, Standardprobleme mit Standardmethoden zu lösen. Gelingt es nicht, eine Lösung mit traditionellen Methoden zu fmden, ein "Rätsel" dadurch zu lösen oder eine 177 Kuhn, Struktur, S. 157 f. 178 Kuhn, Struktur, S. 157 f. 179 A1Uknon, Kritik, S. 44 Fn. 45, bezieht sich hier auf eine Äußerung von Kuhn in "Kopernikanische Revolution", Braunschweig und Wiesbaden 1980, S. 75 f., zitiert ebd. 180 Kuhn, Struktur, S. 157. 181 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 65 f., 90, 106 f., 156. 182 V gl. Kuhn, Struktur, S. 90; ders., Entstehung, S. 378 f. 183 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 90-103. 184 Vgi.Kuhn, Struktur, S. 99.
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Anomalie dadurch zu assimilieren, so schlägt dieser "Fehlschlag" der Forschung nicht auf das Paradigma, sondern auf den Wissenschaftler zurück, der nicht scharfsinnig genug war, eine Lösung mit dem vorhandenen Paradigma zu finden. Kuhn formuliert diesen Sachverhalt sehr scharfwie folgt: "Die Unfähigkeit, eine Lösuna1 zu fmden, diskreditiert nur den Wissenschaftler und nicht die Theorie."1 Anderson fügt hinzu: "Paradigmata zu verwerfen, die mit Anomalien konfrontiert sind, sei also in der Normalwissenschaft geradezu schlechter Stil."t86 3. Krise und Übergang zur außerordentlichen wissenschaftlichen Forschung
Zu jedem Paradigma sind Anomalien bekannt, die oft jahrzehntelang toleriert werden und einige der wichtigsten "Rätsel" des Paradigmas defmieren187. Stellt sich jedoch zunehmend Unzufriedenheit über den Problemlösungsgehalt und das Assimilierungsvermögen des Paradigmas unter den Wissenschaftlern ein, führt dies nach Kuhn zu einer Krise des Paradigmas, d. h. zu einer "Periode ausgesprochener fachwissenschaftlicher Unsicherheit"188. Wenn sich die Krise des Paradigmastrotz größerer Anstrengungen nicht beseitigen läßt, ist dies der Augenblick für einzelne Wissenschaftler, die normalwissenschaftliche Forschung zu verlassen und zur außerordentlichen wissenschaftlichen Forschung überzugehen. In dieser Phase der Wissenschaft wird also das alte Paradigma in Frage gestellt, ein neues ist aber noch nicht allgemein anerkannt. In der außerordentlichen wissenschaftlichen Forschung wird nun ein (oder werden auch mehrere) Paradigma (Paradigmen) ausgearbeitet. Beginnt sich ein neues Paradigma durchzusetzen, so sind die Meinungsunterschiede zu den alten und möglichen konkurrierenden Paradigmen nicht mit wissenschaftlichen Argumenten allein zu beseitigen, sondern entscheidend für die Wahl werden sowohl außerwissenschaftliche als auch irrationale Faktoren189. Kuhn190 behauptet, daß die Paradigmawahl nur aufgrundeines Glaubens an die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit des in Rede stehenden Paradigmas getroffen werden kann. Die Vertreter konkurrierender Paradigmata
185 Kuhn, Struktur, S. 93.
186 Anderson, Kritik, S. 43. 187 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 94 f. 188 Kuhn, Struktur, S. 80. 189 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 16, 106 f., 170. 190
Vgl. Kuhn, Struktur, S. 168.
7 Lohse
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verfügen nicht mehr über eine gemeinsame einheitliche Argumentationsbasis, von der aus die Verdienste und Nachteile der Paradigmata rational gegeneinander abgewogen werden können191• Nicht nur die Theorien, sondern auch Relevanz und Beschreibung der Beobachtung und der Experimente, metaphysische Überzeugungen und formale methodische Vorgehensweisen können sich geändert haben192. Nach Kuhn193 ist die Unvergleichbarkeil oder "lnkommensurabilität" verschiedener Paradigmata dafür verantwortlich, daß eine Wahl zwischen ihnen nicht allein nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgen und schon gar nicht allein durch Logik und Experiment entschieden werden kann. Die Normen oder Definitionen der Wissenschaft konkurrierender Paradigma-Anwärter weichen voneinander ab, so Kuhn194. Gerade weil der Paradigmawechsel ein Übergang zwischen inkommensurablen Dingen ist, kann er nach Kuhns195 Ansicht nicht Schritt um Schritt vor sich gehen, von Logik und Erfahrung eindeutig erwirkt. Er muß vielmehr, wie ein "Gestaltwandel", auf einmal (wenn auch nicht notwendigerweise in einem A~enblick) geschehen oder überhaupt nicht. In der Formulierung von Detel1 gleicht ein Paradigmawechsel "weniger einer Meinungsänderung als vielmehr einem 'holistischen' Gestaltwandel, wie ihn die Psychologen und Wahrnehmungsphysiologen im engeren Bereich unseres Wahrnehmungsapparates ausgemacht haben". Das neue Paradigma bildet nunmehr wieder die Basis normalwissenschaftlicher Forschung, die ihrerseits irgendwann in eine Krise dieses Paradigmas münden kann. 4. Logik oder Psychologie der Forschung?
In seinem Buch "Die Entstehung des Neuen" stellt Kuhn einem Kapitel die Frage voran, "Logik oder Psychologie der Forschung?"197. Die Antwort von ihm fällt klar aus: Er entscheidet sich für eine Psychologie der Forschung und versteht dies zugleich als Gegenthese zu Poppers "Logik der Forschung".
191 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 159-161. 192 Vgl. Ku.'m, Struktur, S. 159-161. 193 Vgi.Kuhn, Struktur, S.106 f., 159-161. 194 Vgi. Kuhn, Struktur, S.159. 195 Vgl. Kuhn, Struktur, S. 161. 196
Detel, Wissenschaft, S. 205.
197 Kuhn, Entstehung, S. 357.
B. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen
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Wie oben gezeigt, gelangt Kuhn zu der Ansicht, Wissenschaft "sei eher ein soziologischer Prozeß als ein logischer Prozeß oder ein kritischer Prozeß ..." 198 Chalmers199 äußert die Meinung, daß Kuhn zu den Relativisten zu rechnen ist, für die es keinen allgemeingültigen ahistorischen Maßstab der Rationalität gibt, mit dem sich beurteilen läßt, ob die eine Theorie besser ist als die andere. Im Sinne dieser These kritisiert Kuhn das ahistorische Kriterium der Rationalisten, die logische Falsifikation, mit folgenden Worten: " ... und deshalb wäre es eine Perversion, ein methodologisches Kriterium zu suchen, das davon ausgeht, daß der Wissenschaftler im voraus für jeden denkbaren Fall angeben könne, ob er seiner Theorie entspricht oder sie falsifiziert. Die expliziten und impliziten Kriterien, die ihm zur Verfügung stehen, ermöglichen die Beantwortung dieser Frage nur für die Fälle, die eindeutig theoriekonform oder irrelevant sind. Das sind die Fälle, die erwartet, und auf die seine Einsichten zugeschnitten sind. Stößt er auf etwas Unerwartetes, so muß er stets weitere Untersuchungen anstellen, um seine Theorie auf dem Gebiet, das soeben zum Problem geworden ist, weiter zu artikulieren. Vielleicht verwirft er sie dann und wählt eine andere, und das mit guten Gründen. Doch keine ausschließlich logischen Kriterien können die von ihm gezogene Schlußfolgerung eindeutig vorschreiben."200 Kuhn zufolge sollte "es bereits klar sein, daß die Erklärung (der Theorienwahl durch die Wissenschaftler/der Verf.) letzten Endes eine psychologische oder soziologische sein muß, das heißt, die Beschreibung eines Wertesystems oder einer Ideologie in Verbindung mit einer Analyse der Institutionen, durch die dieses System weitergegeben und durchgesetzt wird. Wenn man weiß, was die Wissenschaftler positiv bewerten, so kann man zu verstehen hoffen, welche Probleme sie bearbeiten und welche Wahl sie in bestimmten Konfliktsituationen treffen. Ich bezweifle, daß sich eine andere Antwort fmden läßt."201 5. Einwände gegen Kuhn
Der wissenschaftshistorische Ansatz von Kuhn versteht sich zugleich als grundlegende Kritik an der falsiflkationistischen Methodenlehre. Einwände gegen Kuhn kommen daher insbesondere von Vertretern des Falsiflkationismus. So behauptet Popper202, daß Kuhn wissenschaftshistorisch unrecht hat.
198 199 200 201
So etwa Sex/, in: Popper/Lorenz, Zukunft, S. 58; vgl. Kuhn, Entstehung, S. 357 ff. Vgl. Chalmers, Wege, S.121. Kuhn, Entstehung, S. 378 f. Kuhn, Entstehung, S. 381.
100
Zweita Kapitel: Der Stand der W"I5&Cnschaft
Darüber hinaus macht Popper geltend, daß es sich bei der falsiftkationistischen Erkenntnistheorie um einen normativen Ansatz handelt, nicht um eine Beschreibung der Wissenschaftsgeschichte:m. Insofern ist ein Vergleich des wissenschaftshistorischen Ansatzes mit dem Falsiftkationismus methodologisch unzulässig, da hier Unvergleichbares miteinander verglichen wird, nämlich das Empirische mit dem Normativen oder, mit anderen Worten, das Sein mit dem SoUen204• Eine Unterstützung der Poppersehen These findet man bei Anderson20S, dessen abschließendes Urteil hier wiedergegeben werden soU: "Die Untersuchung der wissenschaftsgeschichtlichen Herausforderung des Falsiftkationismus hat also ergeben, daß der Falsifikationismus der wissenschaftsgeschichtlichen Kritik, diesem Falsiftkationsversuch, gut stand gehalten hat, während die mit ihm konkurrierenden Lösungsvorschläge sowohl vom geschichtlichen als auch vom methodologischen Standpunkt her äußerst problematisch sind." Anderson206 äußert die Ansicht, daß die relativistischen Konsequenzen, die Kuhn aus der Theorieabhängigkeit der Erfahrung zieht, nicht notwendig sind. Anstalt zu einem tieferen Verständnis der Wissenschaftsgeschichte beizutragen, führen sie zu einer von holistischen und relativistischen Vorurteilen verzerrten Interpretation der Wissenschaftsgeschichte207• 6. Zusammenfassung
Was als erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis gelten soU, wird nach Kuhns Ansicht von den Wissenschaftlern der Erfahrungswissenschaften selbst bestimmt. Kriterium für die Anerkennung ist die Billigung durch die wissenschaftliche Gemeinschaft des entsprechenden Fachgebietes. Für die Entscheidung der Wissenschaftler sind logische Gesicl:.tspunkte aUein nicht hinreichend- schon gar nicht die logische Falsiftkation. Vielmehr treten psychologische und soziologische Aspekte hinzu.
202 V gl. Popper, in: Popper/Lorenz, Zukunft, S. 58 f.
:m
V gl. Popper, in: Popper/Lorenz, Zukunft, S. 58 f.
Siehe hierzu auch Detel, Wissenschaft, S. 200, und meine Kritik an Detel weiter oben. 20S Ander.son, Kritik, S. 194, der sich umfangreich mit der wissenschaftsgeschichtlichen Herausforderung der falsifikationistischen Wissenschaftstheorie befaßt. 206 Vgi.Andenon, Kritik, S.194. 207 Vgi.Andenon, Kritik, S. 194. 204
B. Die Abgrenzung empirischer Erkenntnisse von anderen
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Die Frage, was als empirische Erkenntnis zu gelten hat, ist vielmehr eine Frage der Bewertung sowohl rationaler als auch intuitiver Tatsachen, weswegen die Gewinnung empirischer Erkenntnisse primär als psychologischer und sozialer Prozeß anzusehen ist. Dieses Abgrenzungskriteriumgilt unterschiedslos für vor-normalwissenschaftliche, normalwissenschaftliche und außerordentliche wissenschaftliche Forschung. Das Abgrenzungskriterium fungiert zugleich als Fortschrittskriterium: Während das Abgrenzungskriterium klärt, welche Erkenntnis oder Theorie/Hypothese als erfahrungswissenschaftlich gelten soll, bestimmt das Fortschrittskriterium, welche erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis gegenüber anderen als besser, fortschrittlicher vorzuziehenist Nach alledem kann kein Zweifel daran bestehen, daß insbesondere die Billigung durch die wissenschaftliche Gemeinschaft den Stand der Wissenschaft markiert. "Trotzdem gibt es keine anderen Berufsgemeinschaften, in welchen die kreative Arbeit des einzelnen so ausschließlich an andere Mitglieder der Gruppe gerichtet ist und von diesen bewertet wird."208 Nicht zurwissenschaftlichen Gemeinschaft zählende Personen, etwa Behördenvertreter oder Richter, haben nicht die Kompetenz, in den wissenschaftlichen Prozeß einzugreifen, um etwa strittige Fragen zu klären, etwa bei sich widersprechenden Sachverständigengutachten, um einen "Stand" feststellen zu können. Denn: "Wissenschaft ist das, was zwischen Wissenschaftlern ausgemacht wird ..."'lfl) IV. Schlußbemerkung Die Erörterungen im vorangegangenen Abschnitt haben deutlich gemacht, daß sich hinter der Wissenschaft bzw. der erfahrungswissenschaftliehen Erkenntis höchst unterschiedliche methodisch abgesicherte Aussagen verbergen können. Wenn auch die Tatsachenkonformität niemals in Frage gestellt wird, so führen Abweichungen hiervon jedoch zu unterschiedlichen Konsequenzen. Insbesondere wird der Logik überhaupt keine einheitliche verbindliche Rolle zugesprochen. Vielmehr reicht die Spanne von der logisch zwingenden Folgerung über die logisch vollends unbegründete bis hin zur psychologisch motivierten Erklärung der Theorienwahl. Welche dieser Auffassungen jeweils zur Geltung kommt, bestimmt die Wissenschaft autonom.
208 '1fl)
Kuhn, Struktur, S. 175. Kreuzer, in: Popper/Lorenz, Zukunft, S. 58.
102
Zweites Kapitel: Der Stand der Wissenschaft
Die Spanne der Methoden der Erkenntnisgewinnung sowie die Offenheit ihrer Geltung müssen berücksichtigt werden, wenn über Umfang und Grenzen des Standes der Wissenschaft bei der Ermittlung der erforderlichen Schadensvorsorge gesprochen wird.
C. Der "Stand" einer Wissenschaft Oben wurde dargestellt, daß sich die Erfahrungswissenschaft durch die Methode der Erkenntnisgewinnung, d. h. durch die Wahl der Erkenntnistheorie, definiert. Es wurde exemplarisch gezeigt, daß Erkenntnistheorien unterschiedliche Anforderungen an eine Erkenntnis stellen, um sie als erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis qualiftzieren zu können. I. Der Stand der Wissenschaft als Fortschrittsbasis Unabhängig von der erkenntnistheoretischen Definition der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis ist die Feststellung, daß die wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf denen die Fortentwicklung der Wissenschaft basiert, den Stand einer Wissenschaft markieren210• Stand der Wissenschaft ist somit die Summe derjenigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die für die Beurteilung des wissenschaftlichen Fortschritts maßgeblich sind. Jeder wissenschaftliche Fortschritt etabliert somit einen neuen Stand der Wissenschaft. Maßstab für den Fortschritt in der Wissenschaft ist das sogenannte "Fortschrittskriterium"zn. II. Fortschrittsbasis und Erkenntnistheorie Wenn formell der Stand der Wissenschaft unabhängig ist von der Erkenntnistheorie, so ist er es materiell nicht. Oben wurde schon skizziert, daß die Erkenntnistheorien unterschiedliche Anforderungen an eine erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis stellen, soweit es etwa um die Beurteilung des ErkenntDisfortschritts einer Fachwissenschaft geht. Wurden oben die unterschiedlichen methodischen Anforderungen an eine empirische Erkenntnis herausgestellt, werden jetzt die erkenntnistheoretischen Kriterien gezeigt, die zusätzlich 210 In diesem Sinne etwa Schachlschneider, Rechtsbegriff, S. 111 m. w. N.; Sach.sse, Anthropologie der Technik, S. 124, zeigt dies für den Stand der Technik am Beispiel des Aufbaus der Patentschrift: "Ein en;ter Abschnitt schildert den Stand der Technik auf dem betreffenden Gebiet. Ein zweiter Abschnitt, eingeleitet mit den Worten 'Wir haben nun gefunden ...' erläutert den technischen Fortschritt des angemeldeten Verfahrens.'' 211 Vgl. Detel, Wissenschaft, S. 193.
C. Der "Stand" einer Wissenschaft
103
erfüllt werden müssen, damit eine empirische Erkenntnis als Fortschrittsbasis, d. h. als Stand der Wissenschaft, dienen kann. Fortschrittsbasis im Induktivismus ist die verifizierte erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis. Als verifiziert gilt eine empirische Erkenntnis dann, wenn sie hinreichend durch die Beobachtung bestätigt worden ist. Demhingegen betrachtet der Falsifikationismus die falsifizierbare, bislang jedoch nicht falsifiZierte erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis, das ist die bewährte empirische Erkenntnis (Hypothese(fheorie), als Fortschrittsbasis. Die bloße Falsifizierbarkeit genügt nicht; es wird vielmehr die Bewährung verlangt. Die Bewährung setzt immer den gescheiterten FalsifiZierungsversuch voraus. Portschrittsbasis im wissenschaftshistorischen Modell von Thomas S. Kuhn ist das von der wissenschaftlichen Gemeinschaft allgemein anerkannte Paradigma. Die allgemeine Anerkennung des Paradigmas ist kein ausschließlich rationaler oder logischer Vorgang. Dieser wird vielmehr stark bestimmt von psychologischen Faktoren der Mitglieder einer solchen Gemeinschaft. 111. Autonomie der Wissenschaft und Fortschrittsbasis Dem Grundrecht des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zufolge sind" ... Wissenschaft, Forschung und Lehre frei". Dieses Grundrecht "gewährleistet dem Wissenschaftler einen gegen Eingriffe des Staates geschützten Freiraum, der vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei dem Auffmden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe umfaßt."212 Der Wissenschaft steht es also insbesondere frei, ihre Fortschrittsbasis und damit den jeweiligen Stand der Wissenschaft zu bestimmen213 • Dies verkennt Marburger214, wenn er die Frage, welchen Grad an Gewißheit oder Rechtsverbindlichkeit ein wissenschaftliches Forschungsergebnis aufweisen muß, damit es dem Stand der Wissenschaft im Sinne des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG zugerechnet werden kann, nur unter Rückgriff auf die in § 1 AtomG festgelegten Regelungszwecke beantworten zu können glaubt. Überhaupt berücksichtigen Marburger u. a. bei ihren Auslegungsversuchen der rechtlichen Formel Stand der Wissenschaft die grundgesetzliche Offenheit
212 Klein, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar, Art. 5 Rn. 16; zur Autonomie der Wissenschaft ferner Leibholz!Rinck/Hesselberger, Kommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 1091; Denninger, Altemativkommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 14, 15; Scholz, in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG Art. 5 Abs. 3 Rn. 91; BVerfGE 35, 112 f. 213 Vgl. etwa Denninger, Alternativkommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 18; Wagner, NJW 1980, 667; ders., DÖV 1980, 272; Sommer, Richterliche Kontrolle, S. 39. 214 Marburger, et 1984, 210, 211.
104
Zweites Kapitel: Der Stand der WISSCnschaft
gegenüber konkurrierenden Erkenntnistheorien nicht. Sie berücksichtigen vielmehr, sofern sie auf erkenntnistheoretische Bezüge abstellen, fast ausschließlich die Poppersehe Erkenntnistheorie, d. h. denFalsifikationismus215• Wissenschaft im grundgesetzliehen und somit im anlagenrechtlichen Sinne ist mit Scholi16 vor allem zu verstehen als ein "eigengesetzlich bestimmter Lebenssachverhalt, der sich auf eine Fülle geistig-autonomer sowie kommunikativer Erkenntnis- und Vermittlungsprozesse gründet, diese sämtlich umfaßt und definitorisch selbst weitgehend offenbleibt (offenbleiben muß)". Wissenschaft wird konstituiert durch die Wissenschaftler. Wissenschaftler, d. h. Träger des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit, ist "jeder, der wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will"217• Wissenschaftsfreiheit ist ein "Jedermannsgrundrecht"218• Hiernach ist Wissenschaftler, wenn und soweit seine Tätigkeit als "wissenschaftlich", als "Forschung" oder "Lehre" von denjenigen, die von der Sache etwas verstehen, erkannt und anerkannt wird219• "Insofern bestimmt das 'System Wissenschaft' als e~rpetuier ter Kommunikationszusammenhang seine Grenzen jeweils selbst' . Wissenschaft ist auch nicht identisch mit der akademischen Wissenschaft, wenngleich letztere auch den wesentlichen Teil derselben ausmachf21• Die Autonomie der Wissenschaft ist insbesondere grundgesetzlich vor staatlichen Eingriffen geschützt, wenn es um die Klärung ''wissenschaftlicher Streitfragen" geht. Gerade diese können nur durch die betreffenden Fachwissenschaftler selbst geklärt werden. So hebt Denninger222 hervor, daß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG dem Staat verbietet, richtige von falschen Lehrmeinungen zu unterscheiden. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts äußert in seinem sogenannten Kalkar-Beschluß223 die Ansicht, daß bei sich widersprechenden Sach-
215 Vgl. etwa MarbUTF, et 1984, 210 f., passim; ders., Bewertung von Risiken, S. 30; ders., WiVerw. 1981, 2S8; Smidl, Vorsorge, S. 42 f.; Murswiek, Verantwortung, S. 388, passim; Schachlschndtkr, Reehtsbegriff, S. 98, 100, 105, passim; Mayinger, Restrisiko, S. 8, passim; wohl auch BVerfG, NJW 1979, 363, worauf Schachlschneükr, Reehtsbegriff, S. 100, hinweist; anders Wllller/ Schäfer, NVwZ 1985, 706, die auf die Verifizierbarkeil von Aussagen abstellen. 216 Schalz, in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG Art. 5 Abs. 3 Rn. 87. 217 Vgl. Scholz, in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG Art. 5 Abs. 3 Rn. 119; BVerfGE 15, 2S6 (263 f.); 35, 112. 218 Vgl. Denninger, Altemativkommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 27. 219 V gl. Denninger, Altemativkommentar, Art. 5 Abs. 3
Rn. 18. Denninger, Altemativkommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 18. 221 Vgl. Scholz, in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG Art. 5 Abs. 3 Rn. 105-108. 222 Dmninger, Altemativkommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 15. 220
C. Der "Stand" einer Wissenschaft
lOS
verständigengutachten zur Ermittlung des Standes der Wissenschaft die Behörde in der Regel nicht umhinkommt, zu "wissenschaftlichen Streitfragen" Stellung zu nehmen. Dies verstößt gegen die Autonomie der Wissenschaft, insbesondere auch die wissenschaftlichen Streitfragen zur Bestimmung des Standes der Wissenschaft selbst zu klären. Der behördlich festgelegte "Stand der Wissenschaft" kann im anlagenrechtlichen Sinne nicht maßgeblich werden, da es sich, wegen der oben dargestellten Mängel, gar nicht um einen Stand der Wissenschaft i. S. d. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG und insofern auch des Anlagenrechts handelt. Das Anlagenrecht erklärt das Wissen einer bestimmbaren224 Gruppe, der Wissenschaftler, deren Tätigkeit zudem grundgesetzlich insbesondere vor staatlichen Eingriffen geschützt ist, als für staatliches Handeln maßgeblich. Die staatlichen Genehmigungsbehörden, selbst wenn Mitglieder dieser Einrichtungen an der Wissenschaft teilnehmen, durch wissenschaftliche Mitarbeiter usw., verfügenjedoch nicht über die Kompetenz, für die Fachwissenschaft in verbindlicher Weise wissenschaftliche Streitfragen zu entscheiden und so einen für die Wissenschaft verbindlichen Stand der Wissenschaft zu markieren. Wissenschaftliche Streitfragen werden innerhalb des "Systems Wissenschaft" nach den von diesem autonom definierten Regeln geklärt, nicht jedoch durch den Staat, etwa durch die Genehmigungsbehörde. IV. Zusammenfassung Stand der Wissenschaft ist die Summe derjenigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die für die Beurteilung des wissenschaftlichen Fortschritts maßgeblich sind. Induktivismus, Falsifikationismus und das Paradigma-Modell von Kuhn stellen unterschiedliche Anforderungen an eine erfahrungswissenschartliehe Erkenntnis, damit diese einen Stand der Wissenschaft markieren und somit Fortschrittsbasis werden kann. Wissenschaft ist nicht identisch mit der akademischen Wissenschaft. Die Autonomie der Wissenschaft ist grundgesetzlich durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützt. Dieses Grundrecht verbietet es dem Staat, autonomiewidrig in den Wissenschaftsprozeß einzugreüen. Die Autonomie der Wissenschaft ist insbesondere grundgesetzlich vor staatlichen Eingriffen geschützt, wenn es um die Klärung wissenschaftlicher Streitfragen geht. Wissenschaftliche Streitfragen werden innerhalb des "Systems Wissenschaft" nach den von diesem autonom
223
BVerfG, NJW 1979, 362.
224 In diesem Sinne auch
tung von Risiken, S. 29 f.
NiclcJi.sch, BB 1981, 511, passim; a. A. hierzu Marburger, Bewer-
106
Zweites Kapitel: Der Stand der WJ.SSCnschaft
definierten Regeln geklärt, nicht jedoch durch den Staat, etwa die Genehmigungsbehörde.
D. Die Abgrenzung Wissenschaft I Technik Wie oben gezeigt, ist für die anlagenrechtlich geforderte Gefahrenabwehr maßgeblich auf den Stand der Wissenschaft abzustellen. Wurde im vorangegangenen Abschnitt die Formel Stand der Wissenschaft eingehend erörtert, ist jetzt der Frage nachzugehen, ob und gegebenfalls warum sich die Wissenschaft von der Technik abgrenzt. I. Die Einheitlichkeit des Technikbegriffs im Anlagenrecht Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts bezieht in seinem KalkarBeschluß in seine Erörterungen der atomrechtlichen Formel "Stand von Wissenschaft und Technik" zur Erschließung des Technikb;p:iffs ohne erkennbare Unterscheidung die Regelung des BlmSchG mit ein . Hiervon ausgehend kann es als zulässig angesehen werden, von einer einheitlichen Formel "Stand der Technik" im Anlagenrecht zu sprechen. Dieser Ansicht wird in Literatur und Rechtsprechung gefolgt226• Die Legaldefmition des § 3 Abs. 6 BlmSchG zum Stand der Technik lautet folgendermaßen: "Stand der Technik im Sinne dieses Gesetzes ist der Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen, der die praktische Eignung einer Maßnahme zur Begrenzung von Emissionen gesichert erscheinen läßt. Bei der Bestimmung des Standes der Technik sind insbesondere Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen heranzuziehen, die mit Erfolg im Betrieb erprobt worden sind." II. Abgrenzung Wissenschaft I Technik unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaftsfreiheit des Art. S Abs. 3 Satz 1 GG Das Problem der Abgrenzung der Wissenschaft von der Technik führt zu der Frage, ob der Technikbegriff die Ingenieurwissenschaften mit einschließt und die Legaldefmition des § 3 Abs. 6 BlmSchG insofern den Ingenieurwissenschaften vorschreibt, was Stand der Ingenieurwissenschaft ist, oder ob er aus-
2ZS BVerfG, NJW 1979, 362; so auch Feldmann, et 1984, 291.
226 Etwa Veith, StriSchV 1989, S. 23.
D. Die Abgrenzung Wissenschaft I Technik
107
schließlich die Ingenieurpraxis meint. Die immissionsschutzrechtliche Legaldefinition enthält wesentliche methodische, d. h. erkenntnistheoretische Festlegungen. So sagt der zweite Satz der Legaldefinition verbindlich, welche bisherigen Kenntnisse maßgeblich sind für die Beurteilung des Fortschritts. D. h., dieLegaldefinition legt die Fortschrittsbasis fest. Der erste Satz der Legaldefinition, insbesondere die Formulierung "gesichert erscheinen läßt", legt das Kriterium fest, nach dem zu beurteilen ist, welche derjenigen Kenntnisse, die über die im Betrieb erprobten hinausgehen, einen neuen Stand markieren sollen. D. h., die Legaldefinition legt das Fortschrittskriterium fest. Im Hinblick auf die oben vorgestellten Erkenntnistheorien ist durch diese Legaldefinition etwa die Poppersehe Erkenntnistheorie ausgeschlossen. Denn nach dieser vermag nur die neuere bewährte, d. h. nocht nicht falsifizierte Erkenntnis einen neuen Stand der Wissenschaft zu markieren. Nach allgemeiner Ansicht227 fordert die Formulierung "gesichert erscheinen läßt" nicht, daß der tatsächliche Nachweis der praktischen Eignung, etwa einer Emissionsminderungstechnik, durch den realen Betrieb einer solchen erfolgen muß. Es genügen vielmehr experimentelle Tests, die unter simulierten Betriebsbedingungen und bei vergleichbaren technologischen Verhältnissen durchgeführt werden müssen228• Der FalsifiZierungsversuch im Poppersehen Sinne ist der Betrieb der fraglichen Einrichtungen unter den üblichen, d. h. zu erwartenden Betriebsbedingungen. Der FalsiflZierungsversuch ist die Prüfung am Objekt. Genau dies fordert die Formulierung "gesichert erscheinen läßt" nicht zwingend. Die Formulierung "gesichert erscheinen läßt" läßt die falsiflzierbare Erkenntnis genügen. Somit zeigt sich, daß die Legaldefinition erkenntnistheoretisch nicht offen ist; sie enthält vielmehr methodologische Einschränkungen und greift damit in den Erkenntnisprozen ein. Das Grundrecht des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistet die Autonomie der Wissenschaft, es "gewährleistet dem Wissenschaftler einen gegen Eingriffe des Staates geschützten Freiraum, der vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei dem Auffmden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe umfaßt " 229•
121 228
EtwaMarburger, Regeln der Technik, S. 160, 163. Etwa Marburger, Regeln der Technik, S. 160, 163.
229 Klein, in: Schmidt-Bieibtreu/Klein, Kommentar, Art. 5 Rn. 16; Leibholz!Rinck/Hesselberger, Kommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 1091; Denninger, Altemativkommentar, Art. 5 Abs. 3 Rn. 14, 15; Scholz, in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG Art. 5 Abs. 3 Rn. 91; BVerfGE 35, 112 f.
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Zweites Kapitel: Der Stand der W"ISSCnschaft
Die Legaldefinition des § 3 Abs. 6 BlmSchG würde, wegen der staatlichen Ingerenz in den autonomen Wissenschaftsprozeß, gegen die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verstoßen, wenn man die Ingenieurwissenschaften unter den Technikbegriff subsumieren würde. Deswegen werden die Ingenieurwissenschaften als Erfahrungswissenschaften vielmehr durch den "Stand der Wissenschaft" im anlagenrechtlichen Sinne erfaßt230, so daß deren Autonomie des Wissenschaftsprozesses durch das Anlagenrecht unangetastet bleibt. Der Technikbegriff, mithin der Stand der Technik der Legaldefinition des § 3 Abs. 6 BlmSchG, erfaßt ausschließlich die Ingenieurpraxis, die nicht zur Wissenschaft rechnet und somit auch nicht teilnimmt an deren Grundrechtsschutz.
111. Zusammenfassung Im Bundes-Immissionsschutz- und Atomrecht, hier als Anlagenrecht bezeichnet, wird von einer einheitlichen Auffassung der Formel "Stand der Technik" ausgegangen. Maßgeblich ist die Legaldefinition des § 3 Abs. 6 BlmSchG. Die immissionschutzrechtliche Legaldefinition enthält wesentliche methodische, d. h. erkenntnistheoretische Festlegungen. Aus diesem Grunde ist die Legaldefinition erkenntnistheoretisch nicht offen. Etwa wird die Poppersehe Erkenntnistheorie ausgeschlossen. Die Formulierung "gesichert erscheinen läßt" läßt die falsiflzierbare Erkenntnis genügen, um einen neuen "Stand;, zu etablieren. Dies steht im Widerspruch zur falsiflkationistischen Methodenlehre, die die bewährte empirische Erkenntnis verlangt. Geht man von der These aus, daß der Gesetxgeber die grundgesetzlich geschützte Autonomie der Wissenschaft respektieren wollte, dann kann die Legaldefmition, wegen der methodischen Einschränkungen, nur den nichtwissenschaftliehen Technikbereich, das ist die Ingenieurpraxis, regeln. Die Ingenieurwissenschaften werden demnach durch die Formel "Stand der Wissenschaft" erfaßt.
E. Ergebnis Das Grundgesetz ist als ein dem Immissionsschutz- und Atomrecht übergeordnetes Recht bei dessen Auslegung zu beachten. Insbesondere ist bei der
230 So auch etwa Schochtschnmkr, Rechtsbegriff, S. 99 f; diesen Begriff der Ingenieutwissenschaften und dessen Abgrenzung zum Technikbegriff findet man auch bei Rllmp/, VDI-Z 111 (1969) Nr. 1-Januar(l), S. S, passim.
E.Ergcbnis
109
Auslegung der Formel "Stand der Wissenschaft" die durch das Grundgesetz in Art. 5 GG gewährte Wissenschaftsfreiheit interpretatorisch zu berücksichtigen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem sogenannten Kalkar-Beschluß deutlich gemacht, daß es sich bei der Wissenschaft im Sinne des Anlagenrechts um Erfahrungswissenschaft oder empirische Wissenschaft handelt. Hinter der Wissenschaft oder einer erfahrungswissenschaftliehen Erkenntnis können sich höchst unterschiedliche methodisch abgesichterte Aussagen verbergen. Wenn auch die Tatsachenkonformität niemals in Frage gestellt wird, so führen Abweichungen hiervon jedoch zu unterschiedlichen Konsequenzen. Insbesondere wird der Logik überhaupt keine einheitliche verbindliche Rolle zugesprochen. Vielmehr reicht die Spanne von der logisch zwingenden Folgerung über die logisch vollends unbegründete bis hin zur psychologisch motivierten Erklärung der Theorienwahl. Welche dieser Auffassungen jedoch zur Geltung kommt, bestimmt die Wissenschaft durch die autonome Wahl der Erkenntnistheorie. Der "Stand" einer Wissenschaft ist die Summe derjenigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die für die Beurteilung des wissenschaftlichen Fortschritts maßgeblich sind. Die Autonomie der Wissenschaft ist insbesondere vor staatlichen Eingriffen geschützt, wenn es um die Klärung wissenschaftlicher Streitfragen geht. Wissenschaftliche Streitfragen werden innerhalb des "Systems Wissenschaft" nach den von diesem autonom definierten Regeln geklärt, nicht jedoch durch den Staat, etwa die Genehmigungsbehörde. Im BimSchG und AtomG wird von einer einheitlichen Auffassung der Formel Stand der Technik ausgegangen. Maßgeblich ist die Legaldefinition des§ 3 Abs. 6 BimSchG. Der Stand derTechnikumfaßt ausschließlich den nichtwissenschaftliehen Technikbereich. Die Ingenieurwissenschaften werden durch die Formel Stand der Wissenschaft erfaßt.
Drittes Kapitel
Die normativ gebotene Gefahrenabwehr und der Stand der Wissenschall A. Die Auslegung der Formel in Literatur und Rechtsprechung Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, Plagemannffietzsch u. a.1 erfüllen die Formeln Stand der Wissenschaft und Stand der Technik, unabhängig davon, ob sie allein stehen oder als Kombination, wie etwa im Atomrecht, folgende Funktion bei der Sicherstellung der normativ gebotenen Gefahrenabwehr: Der Stand der Wissenschaft vermittelt die Kenntnis der Gefahr oder Gefahrenquelle (Erkennen der Gefahr}. Der Stand der Technik vermittelt das Wissen um das Machen mit Blick darauf, auf welche Weise die erkannte Gefahr abgewehrt werden kann (Möglichkeiten der Gefahrenabwehr). Lassen sich die erkannten Gefahren technisch noch nicht vermeiden, so darf die Genehmigung nicht erteilt werden; die erforderliche Vorsorge wird mithin nicht durch das Machbare begrenze. Die oben dargestellte Ansicht über die gesetzlich gebotene Auslegung der Formel wird beispielsweise vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts durch folgenden Satz in seinem sogenannten Kalkar-Beschluß3 ausgedrückt: "Es muß diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach den neuestenwissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird." Ausdrücklich hebt etwa Sommer4 hervor, daß der Stand der Wissenschaft ein Tatbestandsmerkmal ist und das bindende Wissen für die Beurteilung des Gefahrenausschlusses darstellt. Denn die Reaktorsicherheit hat der Gesetzge-
1 BVerfG, NJW 1979, 362; Plagmumn{l'ietzsch, Stand, S. 7, 9, passim; ebenso Martens, DVBI. 1981, 598, 602; zum Stand der Wissenschaft auch Sellner, Industrieanlagen, S. 22 f. Rn. 25, S. 29 Rn. 28, passim; Czajlco, DÖV 1982, 99; Obenhaus!IWclcuck, DVBI. 1980, 155, passim; Breuer, DVBI. 1978, 837; Sommer, Richterliche Kontrolle, S. 35 f.; Bender, NJW 1979, 1430; Abgrenzung der Ingenieutwissenschaft von der Technik i. d. S. auch Rumpf, VDI-Z 111 (1969} Nr. 1-Januar (1}, S. 5.; Fischerhof, Atomgesetz, Anm. zu§ 7 AtomG, S. 298; VG Koblenz, et 1984, 720 f. m. w. N.; Papier, Untersuchungen, S. 172. 2 Vgl. BVerfG, NJW 1979, 362. 3 BVerfG, NJW 1979, 362. 4 Sommer, Richterliche Kontrolle, S. 29, 55.
A. Die Auslegung der Formel in Literatur und Rechtsprechung
111
ber seiner Ansicht nach primär Wissenschaft und Technik anvertraut5• Auch für Breuer6 ist "es Sache der Wissenschaft, konkrete Sicherheitsbedürfnisse zu erkennen und entsprechende Postulate aufzustellen ... Die konkrete Entwicklung der Mittel ist Sache der Technik; die vorbereitende Grundlegung, die Analyse und die Kontrolle der Mittel obliegen der Wissenschaft." Ganz in diesem Sinne auch der Techniker Smidt', für den die nach § 7 AtomG erforderliche Schadensvorsorge durch den Stand der Wissenschaft und Technik defmiert wird. Dadurch erhalten nach Ansicht von Smidt und Sommer8 der Naturwissenschaftler und Techniker eine tragende Rolle im Genehmigungsverfahren. Nach ihrer Auffassung ist die Ermittlung des Risikos ein naturwissenschaftlicher Prozeß, denn das Risiko als Produkt aus Schadenswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß ist eine wissenschaftliche Größe. Ergänzend zu der von Smidt geäußerten Ansicht sei Feldmann9 erwähnt, der hervorhebt, daß "in wissenschaftlich-technischen Kreisen teilweise die Auffassung vertreten (wird), Wissenschaft und Technik seien allein dazu berufen, über die erforderliche Schadensvorsorge abschließend zu befmden und damit das Sicherheitsniveau kerntechnischer Anlagen festzulegen." Juristisch wird dieser Standpunkt von Schachtschneider und Nicktisch vertreten. Schachtschneider10 ist der Ansicht, die Sicherheit einer genehmigungsbedürftigen Anlage lasse sich allein durch ein "Verfahren der Erkenntnis" sicherstellen. "Eine Theorie der Sicherheitswirklichkeit der gefährlichen Anlagen zu erarbeiten, ist nicht nurangesichtsder Schwere atomarer und anderer zu besorgender Schäden unverzichtbar, sondern auch leistbar." 11 Den Begriff "Erkenntnis" gebraucht Schachtschneider im Sinne der "objektiven Erkenntnis" Karl Poppers12 und läßt somit keine Notwendigkeit für eine Bewertung der Exekutive, d. h. für einen Volitivakt, zu. Vielmehr kritisiert er solchen ausdrücklich als "verwaltungsmäßigen Dezisionismus" im Rahmen der Sicherstellung der Gefahrenabwehr13•
s Sommer, Richterliche Kontrolle, S. 29, 55. 6 Breuer, DVBI. 1978, 837; in diesem Sinne auch Obenhaus/Kuckuck, DVBI. 1980, 155 ff. 7 Smidl, Vorsorge, S. 39. 8 Vgl. Smidl, Vorsorge, S. 39; Sommer, Richterliche Kontrolle, S. 32, 55. 9 Feldmann, et 1983,387. 10 Vgl. ScluJchlschneider, Rechtsbegriff, S. 98 ff., passim, der dies ausführlich für das Atomrecht und Immissionsschutzrecht darlegt. 11 Schachlschneider, Rechtsbegriff, S. 99. 12 Vgl. Schachtschneider, Rechtsbegriff, etwa S.111 ff., passim. 13 Vgl. Schachtschneider, Rechtsbegriff, S. 103, passim.
Drittes Kapitel: Die Gefahrenabwehr und der Stand der W"I5SCIISChaft
112
Demgegenüber ist Nicldisch von der Notwendigkeit zusätzlicher Bewertungen überzeugt, die aber seines Erachtens von den Wissenschaftlern und Technikern getroffen werden müssen, da sie Bestandteil14 wissenschaftlich-technischer Standards sind. Nach seiner Meinung15 übernimmt die Rechtsnorm, indem sie etwa auf den Stand der Wissenschaft verweist, "Feststellungen von Tatsachen sowie von gegenwärtigen und zukünftigen Kausalverläufen (Prognosen)". Diese Rezeption von feststehenden wissenschaftlich-technischen Erkenntnissen und Erfahrungssätzen durch die Rechtsordnung ist aus Sicht von Nicldisch16 unproblematisch, da die Rechtsordnung auch sonst in vielen Fällen auf außerrechtliche Tatsachenbegriffe und Erfahrungssätze verweist und dadurch rezipiert. Ganz in diesem Sinne stellt das Bundesverwaltungsgericht in seinem Voerde-Urteil17 für die nach§ 5 Abs. 1 Nr. 1 BlmSchG sicherzustellende Abwehr schädlicher Umwelteinwirkungen und sonstiger Gefahren, erheblicher Nachteile und erheblicher Belästigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft folgendes fest: "Ob die Immissionen geeignet sind, die genannten Beeinträchtigungen (die Grundpflichten des§ 5 Abs. 1 Nr. 1 BimSchG/der Verf.) herbeizuführen, richtet sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung, insbesondere nach dem Stand der Wissenschaft." Auch Sellner18 vertritt die Ansicht, daß für die Sicherstellung der nach § 5 Abs.1 Nr. 1 BimSchG gebotenen Gefahrenabwehr der "aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand ... Grundlage der Behördenentscheidung (ist) und (der) in Teilbereichen zur Ermittlung der Schädlichkeitsgrenzen von Immissionen durch die Verwaltungsvorschriften- z. B. TA Luft und TA Lärm- konkretisiert (wird)". Demgegenüber äußert Murswiek19 die Auffassung, daß die Immissionsgrenzwerte der TA Luft keineswegs nur Erkenntnisse eines wissenschartliehen Erkenntnisaktes sind. Die bisher dargestellten Ansichten halten die Ermittlung des technischnaturwissenschaftlichen Sachverhaltes, der Wissensbasis und Grenzwerte, abschließend für eine rein wissenschaftliche Aufgabe. Für den Genehmigungsvorgang ist dieses Wissen verbindlich. Bewertungen z. B. der Exekutive im
14
V gl. NiclcJisch, NJW 1982, 2637 ff.
15 Vgl. Nicldi.sch, NJW 1982, 2637. 16 Nicldisch, NJW 1982, 2637 m. w. N. 17 BVerwGE 55, 250, 254 (Voerde-Urteil); zustimmend Breuer, DVBI. 1978, 598; Martmr,
DVBI. 1981, 598, 600; Obmhaus//Wckuck, DVBI. 1980, 155; i .d. S. auch OVG Liineburg, DVBI. 19'n, 347. 18 Sellner, Industrieanlagen, S. 22 f. Rn. 25. 19 Mur.swidc, Verantwortung, S. 375.
B. Die Genehmigunpgrundlage und der Stand der Wisse115Chaft
113
Rahmen eines Genehmigungsverfahrens haben sich auf die zu treffenden technischen Maßnahmen der Schadensvorsorge zu beschränken. In der Genehmigungspraxis, so berichtet Feldmann20, wird der Stand der Wissenschaft ebenfalls als Basis angesehen, von der aus die Exekutive Art, Ausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit etwaiger Schäden beurteilt. Denn die wissenschaftlich-technischen Fakten werden ergänzt durch Abschätzungen und Abwägungen der Exekutive, "da naturwissenschaftlich-technisches Wissen meistens nur Annäherungswissen ist und sich stets die Notwendigkeit der Bewertung verschiedener Alternativen stellt"21• Das Bestimmen der Wissensbasis und Grenzwerte ist hiernach keine abschließend von der Wissenschaft zu vollbringende Aufgabe. Die genehmigungsrechtlich relevante Wissensbasis und die Grenzwerte werden nicht mit dem Stand der Wissenschaft, der für die Sicherstellung der Gefahrenabwehr maß~blich ist, gleichgesetzt. Diesen Standpunkt vertreten gleichfalls etwa Ladeur , Murswiek23 u. a.24•
B. Die Genehmigungsgrundlage und der Stand der Wissenschaft Normativ ist der Wissenschaft und insbesondere dem Stand der Wissenschaft eine wesentliche Rolle bei der Gefahrenabwehr zugedacht. Maßgeblich für die Festlegung der Immissionsgrenzwerte sind also nicht wissenschaftliche Aussagen über Dosis-Wirkungs-Beziehungen, die die empirische Basis bilden, schlechthin, sondern nur jene, die einen Stand der Wissenschaft markieren. Dies gilt sinngemäß für den materiellen Beitrag, den der Stand der Wissenschaft zur Bestimmung der genehmigungsrechtlich maßgeblichen Wissensbasis liefern kann. Die Ansichten in Literatur und Rechtsprechung über die Funktion der Formel Stand der Wissenschaft als Genehmigungstatbestandsmerkmal wurden in Abschnitt A. des dritten Kapitels referiert. Die Kompetenz des Standes der Wissenschaft, und damit dessen Konkretisierungsbeitrag, hängt aus erkenntnistheoretischer Sicht ganz ent-
20
Vgl. Feldmann, et 1983,387. Feldmann, et 1983, 387. 22 Lodeur, Umweltrecht, S. 310 f., passim; ders., UPR 1993, passim. 23 Murswidc, Verantwortung, S. 378 ff., passim. 24 Vgl. für die Kerntechnik z. B. Sterze/, KJ 1987, 399; kritisch auch Wmter/Schäfer, NVwZ 1985, 706, passim; Vallendar, GewArch 1981, 283; für Immissionsgrenzwerte HD11ST11011n, Problematik, S. 298, passim; von Lersner, NuR 1990, 193, passim; Roßnagel, UPR 1993, passim; Papier, Untersuchungen, S. 172, passim. 21
8 Lohse
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Drittes Kapitel: Die Gefahrenabwehr und der Stand der WISSenschaft
scheidend davon ab, ob sich dieser auf die Gegenstandsbereiche oder ErkenntDisobjekte bezieht, die für die.Beurteilung der Gefahrenabwehr unmittelbar maßgeblich sind. Dieser Fragestellung soll im folgenden nachgegangen werden. Grundlage hierfür sind die Ausführungen des ersten Kapitels, insbesondere die dort herausgearbeiteten unüberwindlichen methodischen Schwierigkeiten der Verfahren der Datenerhebung, und die Begriffsbestimmung der Formel Stand der Wissenschaft, wie sie im zweiten Kapitel aus insbesondere erkenntnistheoretischer Sicht versucht wurde. Für die Sicherstellung der normalbetriebsbedingten Gefahrenabwehr ist das Schutzgut das Leben und die körperliche Unversehrtheil des Menschen, wie es dem Schutzzweck des Anlagenrechts gemäߧ 1 BimSchG und § 1 Nr. 2 AtomG entspricht. Genehmigungsrechtlich maßgebliches Erkenntnisobjekt ist der Mensch. Für die Sicherstellung der störfallbezogenen Gefahrenabwehr, die durch die Störfallauslegung realisiert wird, stellen die technisch-physikalischen Bedingungen der zu genehmigenden Anlage das Erkenntnisobjekt dar. I. Methodische Probleme der Verfahren der Datenerhebung unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten Im ersten Kapitel wurden die methodischen Probleme der Verfahren der Datenerhebung erkenntnistheoretisch unspeziflsch dargestellt. Daran anknüpfend erfolgt in diesem Abschnitt eine Erörterung der methodischen Probleme der Verfahren der Datenerhebung unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten mit Blick darauf, was dies für den genehmigungsrechtlich maßgeblichen Stand der Wissenschaft bedeutet. Ob etwa die MIK-Werte, radiologische Grenzwerte und die genehmigungsrechtlich relevante Wissensbasis abschließend durch die Wissenschaft zu bestimmen sind, also als genehmigungsrechtlich maßgeblicher Stand der Wissenschaft anzusehen sind. Denn das Verfahren der Datenerhebung ist Instrument der Erkenntnisgewinnung, es wird im Kontext einer Erkenntnistheorie angewendet, existiert jedoch unabhängig von dieser, und zwar gemeinsam mit seinen methodischen Mängeln. Mit Hilfe der Verfahren der Datenerhebung wird die empirische Datenbasis gewonnen, die Grundlage der erfahrungswissenschaftliehen Erkenntnisgewinnung ist. Wie im zweiten Kapitel gezeigt, bestimmt jede Erkenntnistheorie ihre inhaltlichen und methodischen Anforderungen an die wissenschaftliche Erkenntnis und den Stand der Wissenschaft nach den ihr eigenen Regeln. Die Wissenschaft ist in der Wahl ihrer Erkenntnistheorie autonom. Da sich Wissenschaft methodisch durch die autonom gewählte Erkenntnistheorie konstituiert, führen unterschiedliche Erkenntnistheorien möglicherweise zu unterschiedlichen Antworten auf die gestellte Frage. Aus diesem Grunde wird die obige Fragestellung exemplarisch für drei verschiedene Erkenntnistheorien
B. Die Genehmigunpgrundlage und der Stand der Wissenschaft
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behandelt, und zwar der Reihenfolge nach für den Induktivismus, den Falsifikationismus und das Paradigma-Modell von Kuhn. Nach diesen Betrachtungen wird sich klären lassen, welche Rolle der Stand der Wissenschaft bei der Fixierung der Immissionsgrenzwerte und der auslegungsrelevanten Wissensbasis spielen kann. Ferner läßt sich, ausgehend von dieser Erkenntnis, in Abschnitt C. des dritten Kapitels die Frage beantworten, welche Funktion der Stand der Wissenschaft bei der Sicherstellung der normativ gebotenen Gefahrenabwehr übernehmen soll. Schließlich wird in Abschnitt D . der Frage nachgegangen, ob das Bundesverfassungsgericht zutreffend die "Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens" als Grenze der Gefahrenabwehr ansieht. II. Methodische Probleme und Induktivismus 1. Vorbemerkung
Zu Beginn seien die wesentlichen methodischen Festlegungen der Erkenntnisgewinnung im Induktivismus noch einmal in Erinnerung gerufen, da sie Kriterien für die folgende Analyse sein werden. Gemäß der induktiven Erkenntnismethode zählen zu den erfahrungswissenschaftliehen Erkenntnissen alle allgemeinen Aussagen, die durch Beobachtungssätze b,eweisbar sind. Der Beweis erfolgt methodisch durch den induktiven Schluß. Die Erfüllung der Bedingungen 1 bis 3 ist Voraussetzung für die Zulässigkeil des induktiven Schlusses: 1. müssen die Verallgemeinerungen auf einer großen Anzahl von Einzelaussagen beruhen. 2. müssen die Beobachtungen unter einer großen Vielfalt von Bedingungen wiederholt worden sein. 3. darfkeine Beobachtungsaussage im Widerspruch zu der entsprechenden allgemeinen Aussage stehen. Die Verifikation einer allgemeinen Aussage muß methodisch möglich sein, andernfalls gilt sie nicht als wissenschaftliche Erkenntnis. Allgemeine Aussagen über Gegenstandsbereiche, die einer Beobachtung theoretisch und/oder praktisch nicht zugänglich sind, d. h. aufgrund theoretischer und/oder praktischer Unmöglichkeit, zählen nicht zu den erfahrungswissenschaftliehen Erkenntnissen, also zur Wissenschaft i. S. d. Anlagenrechts25• Stand der Wissenschaft im Induktivismus ist die verifizierte erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis. Als verifiziert gilt eine empirische Erkenntnis dann, wenn sie hinreichend durch die Beobachtung bestätigt worden ist. Während also der induktive Schluß auf der Basis einer "notwendig" großen Anzahl von Einzelaussagen zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis führt, wird dieselbe
25
Ausführlich hienu S. 71·79.
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Drittes Kapitel: Die Gefahrenabwehr und der Stand der Wissenschaft
erst zu einem Stand der Wissenschaft, wenn der induktive Schluß auf einer "hinreichend" großen Anzahl von Einzelaussagen beruhr'. 2. Toxikologische Untersuchungen
Methodische Schwierigkeiten der Datenerhebung mittels toxikologischer Untersuchungen sind die Tatbestände, daß 1. die Dosis-Wirkungs-Beziehung des reinen Schadstoffes analysiert wird, nicht jedoch ein reales Schadstoffkollektiv; daß 2. nicht der Mensch als Erfahrungsobjekt dient, sondern ein Ersatz, nämlich das Tier. Die in 1. und 2. genannten Probleme führen zu unüberwindlichen Schwierigkeiten der Datenerhebung. 3. führt die fehlende Standardisierung der Testverfahren dazu, daß durch die Gestaltung der Testanordnung durch den Forscher die Ergebnisse beeinflußt und in eine gewünschte Richtung gelenkt werden können. Die sich aus 3. ergebende Schwierigkeit scheint jedoch durch eine Standardisierung der Testverfahren überwindlich. Aus diesem Grunde wird das Augenmerk im folgenden auf die Konsequenzen von 1. und 2. gelegt. Wird beispielsweise die akute Inhalationstoxizität von SOz bei Tieren mittels einer toxikologischen Untersuchung an Tieren untersucht, so ergeben sich daraus Einzelaussagen über Dosis-Wirkungs-Beziehungen in bezugauf das Tier. Die Einzelaussagen über Dosis-Wirkungs-Beziehungen stellen Beobachtungsoder Protokollsätze dar und bilden die empirische Datenbasis für den induktiven Schluß. Voraussetzung für die Zulässigkeit des induktiven Schlusses ist die Erfüllung der Bedingungen 1 bis 3. Ist nun unter notwendiger Berücksichtigung der Bedingungen 1 bis 3 beobachtet worden, daß ein spezifiZiertes Tier, wenn es eine Dosis X an SOz inhaliert, eine bestimmte Wirkung zeigt, etwa stirbt, ist gemäß der induktiven Methode die Verallgemeinerung dieser Einzelaussage zu einer allgemeingültigen Aussage, d. h. zu einer wissenschaltIichen Erkenntnis, eine spezifiZierte Tierart stirbt, wenn sie eine Dosis X an so2 inhaliert, zulässig und begründet. Der induktive Schluß, der zu der oben genannten wissenschaftlichen Aussage führt, lautet dann wie folgt: Wenn eine notwendig große Anzahl einer spezifizierten Tierart unter einer großen Vielfalt von Bedingungen beobachtet wird, und wenn alle diese Tiere dieser spezifiSchen Tierart ohne Ausnahme nach der Inhalation einer Dosis X an SOz sterben, dann sterben alle Tiere dieser spezifizierten Tierart an dieser Dosis X SOz. Werden diese toxikologischen Untersuchungen gemäß den Regeln der induktiven Erkenntnismethode und
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Ausführlich hierzu S. 102 f.
8. Die Genehmigunpgrundlage und der Stand der Wissenschaft
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mit Erfolg für eine hinreichend große Anzahl von Tieren der spezifiZierten Tierart durchgeführt, wird mit dieser wissenschaftlichen Erkenntnis ein Stand der Wissenschaft etabliert. Die toxikologische Untersuchung des reinen Stoffes am Tier führt zu einem Stand der Wissenschaft bezogen auf den reinen Schadstoff. Genehmigungsrechtlich maßgeblich ist aber die Wirkung des realen Schadstoffes, d. h. des Schadstoffkollektivs, auf den Menschen, folglich ein Stand der Wissenschaft für das Schadstoffkollektiv bezogen auf den Menschen. Dies kann wegen der unüberwindlichen methodischen Schwierigkeit nicht geschehen. Auch hier gilt wieder, daß, will man von dem durch toxikologische Tieruntersuchungen mit reinem Schadstoff ermittelten Stand der Wissenschaft zu einem im genehmigungsrechtlich maßgeblichen Stand der Wissenschaft kommen, man die Erfahrungsgrundlage verlassen muß. Folglich fällt, wie oben, die Voraussetzung für die Gültigkeit des induktiven Schlusses fort, d. h., derselbe wird unzulässig und im anlagenrechtlichen Sinne unbegründet. 3. Experimentelle Untersuchungen
Ähnlich wie bei den toxikologischen Untersuchungen besteht auch bei den experimentellen Untersuchungen die unüberwindliche methodische Schwierigkeit der Datenerhebung darin, daß die Erfahrungsgrundlage oder das Erkenntnisobjekt der experimentellen Untersuchung nicht übereinstimmt mit dem genehmigungsrechtlich relevanten Gegenstandsbereich, den technischphysikalischen Bedingungen der zu genehmigenden Anlage. Insbesondere sind dies auch die Auslegungsbeanspruchungen der sicherheitstechnischen Komponenten und Systeme. Dies führt dazu, daß die maßgeblichen Erkenntnisse für die Anlagenauslegung im Genehmigungsverfahren nur mittels Analogieschluß auf die Verhältnisse der konkreten Anlage zu übertragen sind. Ferner wird die experimentelle QuantiflZierung der Auslegungsbedingungen, d. h., die Bestimmung der Auslegungsbeanspruchung etwa von Bauteilen, durch Komplexität und Unzugänglichkeit begrenzt oder verhindert. Wird beispielsweise das Großraumphänomen "Wasserverteilung im oberen Plenum bei heißseitiger Notkühleinspeisung in einem Druckwasserreaktor" in einem Kleinexperiment untersucht, so ergeben sich daraus Einzelaussagen über die Wirksamkeit einer Notkühlmaßnahme in bezug auf die Versuchseinrichtung und deren Längenabmessungen. Auch hier ist die Voraussetzung für die Zulässigkeil des induktiven Schlusses die Erfüllung der Bedingungen 1 bis 3. Ist unter notwendiger Berücksichtigung der Bedingungen 1 bis 3 beobachtet worden, daß sich für eine genau definierte Versuchseinrichtung, wenn eine
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Drittes Kapitel: Die Gefahrenabwehr und der Stand der Wissenschaft
festgelegte Notkühleinspeisungsrate zugeführt wurde, sich eine bestimmte Wasserverteilung im oberen Plenum einstellt, so ist gemäß der induktiven Methode die Verallgemeinerung dieser Einzelaussage zu einer allgemeingültigen Aussage, d. h. zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis, zulässig und begründet. Der induktive Schluß, der zu der oben genannten wissenschaftlichen Aussage führt, lautet dann wie folgt: Wenn eine notwendig große Anzahl von Notkühleinspeisungen unter defmierten Bedingungen in der Versuchseinrichtung ohne Ausnahme zu einer Wasserverteilung A im oberen Plenum mit den Verteilungsparametern a1 ... a.. geführt hat, dann führen alle Notkühlemspeisungen unter den definierten Bedingungen der Versuchseinrichtung zu einer Wasserverteilung A im oberen Plenum mit den Verteilungsparametern a1 ... a.,. Werden diese experimentellen Untersuchungen gemäß den Regeln der induktiven Erkenntnismethode und mit Erfolg für eine hinreichend große Anzahl von Experimenten durchgeführt, wird mit dieser wissenschaftlichen Erkenntnis ein Stand der Wissenschaft etabliert. Die Experimente führen zu einem Stand der Wissenschaft bezogen auf die Versuchseinrichtung und deren Längenabmessungen. Genehmigungsrechtlich maßgeblich sind aber die Erkenntnisse derjenigen Tatsachen, die den Längenabmessungen des zu genehmigenden Druckwasserreaktors entsprechen. Da aber, wie gezeigt, die vollständigen "Skalierungsgesetze" für das untersuchte Phänomen nicht bekannt sind, können die verbleibenden Skalierungsunsicherheiten bei der Übertragung der Ergebnisse des Experiments auf die Größenverhältnisse der zu genehmigenden Anlage nur durch Sicherheitszuschläge überbrückt werden. Dies genehmigungsrelevante Wissen ist jedoch nicht mehr unmittelbar durch die experimentelle Erfahrungsgrundlage abgedeckt. Folglich fällt die Voraussetzung für die Gültigkeit des induktiven Schlusses fort, d. h., bei der durch Extrapolation gewonnenen Wissensbasis handelt es sich nicht mehr um einen durch das beschriebene Experiment hervorgebrachten Stand der Wissenschaft.
4. In-vitro-Versucbe an biologischem Material und Simulation
Ebenso wie bei der toxikologischen Untersuchung besteht bei den In-vitroVersuchen an biologischem Material als Verfahren der Datenerhebung die unüberwindliche methodische Schwierigkeit darin, daß Versuche nicht am Menschen durchgeführt werden können, sondern nur an einem Ersatz-Erkenntnisobjekt. Erkenntnisobjekt der In-vitro-Versuche an biologischem Material sind biologische Organismus-Modelle. Analog ist das Problem bei der Simulation gelagert. Das Erkenntnisobjekt ist hier das mathematische Modell der interessierenden technisch-physikalischen Tatsachen der zu genehmigenden Anlage.
8 . Die Genehmigvnpgrundlage und der Stand der Wissenschaft
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Die Erfüllung der Bedingungen 1 bis 3, was Voraussetzung für die Zulässigkeit des induktiven Schlusses ist, ist mit den hier diskutierten Verfahren der Datenerhebung jedenfalls ohne unüberwindliche Schwierigkeiten praktisch und theoretisch möglich. Insoweit ist der induktive Schluß zulässig, wenn die jeweilige Erfahrungsgrundlage nicht verlassen wird. Ein so gewonnener Stand der Wissenschaft besitzt unmittelbaren Erkenntniswert nur für das Modell, auf dem er beruht. Die Konkretisierung der Genehmigungsanforderungen kann von diesem Wissen nur durch Extrapolation auf die genehmigungsrechtlich relevante Beurteilungsgrundlage hin Gebrauch machen. Das extrapolierte Wissen ist nunmehr keine Erkenntnis, die einen Stand der Wissenschaft darstellt, da durch die Übertragung die wissenschaftliche Erfahrungsgrundlage, und damit der wissenschaftliche Geltungsbereich, verlassen wird.
S. Zwischenergebnis
Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen der unüberwindlichen methodischen Schwierigkeiten bei toxikologischen und experimentellen Untersuchungen sowie bei In-vitro-Versuchen an biologischem Material und Simulation sind im Rahmen der induktiven Erkenntnismethode strukturell gleich. Alle oben genannten Verfahren der Datenerhebung sind geeignet, nach den methodischen Regeln des Induktivismus einen Stand der Wissenschaft hervorzubringen. Jedoch vermag ein solcher Stand der Wissenschaft keinen unmittelbaren Beitrag zur Konkretisierung der anlagenrechtlich gebotenen Gefahrenabwehr beizutragen, da die Erkenntnisobjekte der induktiven Erkenntnisgewinnung nicht übereinstimmen mit den Erfahrungsgrundlagen, die für die Beurteilung der Gefahrenabwehr unmittelbar maßgeblich sind. Dies sind für die normalbetriebsbedingte Gefahrenabwehr der Mensch und für die störfallbezogene Gefahrenabwehr die technisch-physikalischen Tatsachen der zu genehmigenden Anlage. Nur mittelbar, durch Extrapolation, leistet ein solcher Stand der Wissenschaft also einen Beitrag zur Konkretisierung der Genehmigungsanforderungen. Das extrapolierte Wissen ist nunmehr keine Erkenntnis, die einen Stand der Wissenschaft darstellt, da durch die Übertragung die wissenschaftliche Erfahrungsgrundlage, und damit deren wissenschaftlicher Geltungsbereich, verlassen wird.
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Drittes Kapitel: Die Gefahrenabwehr und der Stand der W"JSSenschaft
6. Epidemiologische Untersuchungen
Die epidemiologische Untersuchung als Verfahren der Datenerhebung führt zu der unüberwindlichen methodischen Schwierigkeit, daß die genaue Angabe der für eine Wirkung ursächlichen Faktoren unmöglich ist. Anders als bei den toxikologischen Untersuchungen ist bei epidemiologischen Untersuchungen die Erfahrungsgrundlage und damit Gegenstand der allgemeinen Aussage, d. h. der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem Stand der Wissenschaft, das hier maßgebliche und anlagenrechtlich geschützte Rechtsgut, der Mensch, selbst. Insoweit ist der induktive Schluß, der zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis im Sinne des Anlagenrechts führt, logisch möglich. Damit er jedoch auch zulässig wird, muß die Voraussetzung hierfür, das ist die Erfüllung der Bedingungen 1 bis 3, erfüllt werden. Die oben nachgewiesene unüberwindliche methodische Schwierigkeit betrifft jedenfalls die Verwirklichung der 2. Bedingung. Nach dieser müssen die Beobachtungen unter einer großen Vielfalt von Bedingungen wiederholt worden sein. Wiederholbarkeil setzt die genaue Kenntnis der Bedingungen, unter denen die epidemiologische Untersuchung stattfmdet, voraus. Die genannte methodische Schwierigkeit behauptet nun gerade, daß dies nicht möglich ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Bedingungen 1 und 3 erfüllt werden können. Denn der Nachweis der Unerfüllbarkeit der 2. Bedingung führt allein dazu, daß die Voraussetzung für den induktiven Schluß nicht gegeben ist. 7. Kasuistische Erfahrungen beim Menschen und Auswertung von Betriebserfahrungen
Kasuistische Erfahrungen beim Menschen und Auswertung von Betriebserfahrungen führen, ebenso wie die epidemiologischen Untersuchungen, zu der unüberwindlichen methodischen Schwierigkeit, daß die für eine beobachtete Wirkung ursächlichen Faktoren nicht vollständigerfaßbar sind und auch nicht auf einer großen Anzahl von Beobachtungen beruhen. Bei diesen Verfahren der Datenerhebung. die hier im Kontext der induktiven Erkenntnistheorie angewandt werden, stimmt das Erkenntnisobjekt überein mit der genehmigungsrechtlich maßgeblichen Beurteilungsgrundlage, dem Menschen und den technisch-physikalischen Tatsachen der zu genehmigenden Anlage. Insoweit ist der induktive Schluß, der zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis und damit zu einem Stand der Wissenschaft im Sinne des Anlagenrechts führt, logisch möglich. Damit dieser jedoch auch zuverlässig wird, muß die Voraussetzung hierfür, das ist die Verwirklichung der Bedingungen 1 bis 3, erfüllt werden. Bedingung 1 und 2 sind nicht erfüllbar. Die 1. Bedingung verlangt, daß die Verallgemeinerungen auf einer großen Anzahl von Einzelaussagen beruhen müssen. Kennzeichnend für die Verfahren der kasuistischen Erfahrungen
B. Die Genehmigungsgrundlage und der Stand der Wissenschaft
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beim Menschen und Auswertung von Betriebserfahrungen ist jedoch gerade, daß hier singuläre Fälle untersucht werden. Die Einmaligkeit der Beobachtung verhindert aber gerade, daß es zu der oben geforderten großen Anzahl kommen kann. Die 2. Bedingung verlangt, daß die Beobachtungen unter einer großen Vielzahl von Bedingungen wiederholt worden sind. Die hier vorausgesetzte Kenntnis der Bedingungen sowie die Wiederholbarkeil können nicht verwirklicht werden, und zwar ebenfalls aus dem oben genannten Grund, nämlich wegen der Einmaligkeit der Vorkommnisse. Gegenstand der Methode der kasuistischen Erfahrungen beim Menschen und Auswertung von Betriebserfahrungen sind singuläre, d. h. durch den Einzelfall geprägte und in der Schadenshistorie nur unvollständig oder gänzlich unbekannte Schadensereignisse bei Menschen und in Anlagen. Aus diesem Grunde kann mit Hilfe dieses Verfahrens der Datenerhebung kein Stand der Wissenschaft hervorgebracht werden.
8. Zwischenergebnis
Die erkenntnistheoretischen Folgen der unüberwindlichen methodischen Schwierigkeiten bei epidemiologischen Untersuchungen, kasuistischen Erfahrungen beim Menschen und Auswertung von Betriebserfahrungen im Rahmen der induktiven Erkenntnismethode sind strukturell gleich. Das Erkenntnisobjekt der hier besprochenen Verfahren der Datenerhebung stimmt überein mit der für die Konkretisierung der anlagenrechtlichen Gefahrenabwehr maßgeblichen Beurteilungsgrundlage; insoweit ist der induktive Schluß möglich. Weil aber mit den oben genannten Verfahren der Datenerhebung die Bedingungen 1 und 2 nicht zu verwirklichen sind, ist die Voraussetzung für den induktiven Schluß nicht gegeben. Der Induktionsschluß ist also nicht zulässig. Mit Blick auf den genehmigungsrechtlich maßgeblichen Stand der Wissenschaft bedeutet dies folgendes: Weil mit den oben genannten Verfahren der Datenerhebung die Voraussetzung für den induktiven Schluß unüberwindlich nicht zu verwirklichen ist, stellen die mittels dieser Verfahren gewonnenen Aussagen über Dosis-Wirkungs-Beziehungen und Auslegungsbeanspruchungen für genehmigungsrechtlich relevante Auslegungsstörfälle, kurz: Wissensbasis, gemessen an den Kriterien der induktiven Erkenntnismethode, keine wissenschaftlichen Erkenntnisse dar. Folglich können diese allgemeinen Aussagen auch keinen Stand der Wissenschaft im Sinne des Anlagenrechts bestimmen.
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Drittes Kapitel: Die Gefahrenabwehr und der Stand der Wissenschaft
111. Methodische Probleme und Falsifikationismus 1. Vorbemerkuq
Auch hier zunächst vorweg noch einmal die Zusammenstellung der wesentlichen methodischen Festlegungen der Erkenntnisgewinnung, die für die folgende Untersuchung als Kriterien dienen werden. Der Falsifikationismus betrachtet erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse als Hypothesen oder Theorien, die falsifiziert werden können müssen. Nach Popper ist eine Hypothese!fheorie dann falsifiZierbar, wenn die Menge der FalsifiZierungsmöglichkeiten nicht leer ist. Die Menge der FalsifiZierungsmöglichkeiten besteht aus der Summe derjenigen Basissätze, die mit der zu prüfenden allgemeinen Aussage logisch in einem Widerspruch stehen. Basissätze beschreiben die aus Experimenten gewonnenen Tatsachen, sie sind "Tatsachenfeststellungen". Im Falsifikationismus wird eine Hypothese dadurch widerlegt, d. h. falsifiziert, daß ein Basissatz gefunden wird, der reproduzierbare Tatsachen beschreibt und zu der Hypothese in logischem Widerspruch steht. Damit die Menge der FalsifiZierungsmöglichkeiten nicht leer ist, müssen die Hypothesen!fheorien die logische Form von Allsätzen haben. Logisch gleichwertig zu den Allsätzen sind die universellen Es-gibt-nicht-Sätze. Zur notwendigen Voraussetzung der logischen FalsifiZierbarkeit tritt die hinreichende der praktischen FalsifiZierungsmöglichkeit: Ist es praktisch unmöglich, eine Hypothese zu falsifizieren, zählt sie nicht zu den erfahrungswissenschaftliehen Hypothesen{fheorien. Sie rechnet somit nicht zur erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis27• Stand der Wissenschaft im Falsifikationismus ist die falsifizierbare, bislangjedoch nicht falsifiZierte erfahrungswissenschaftliehe Erkenntnis, also die bewährte empirische Erkenntnis. Die Bewährung setzt immer den gescheiterten FalsifiZierungsversuch voraus28•
.z. Toxikologische und experimentelle Untersuchungen Die methodischen Schwierigkeiten der Datenerhebung, wie sie für toxikologische und experimentelle Untersuchungen im Abschnitt zum Induktivismus kurz zusammengefaßt wurden, können hier voll übernommen werden. Auf eine wiederholte Darstellung an dieser Stelle wird deswegen verzichtet. Nachfolgend wird die erkenntnistheoretische Fragestellung beispielhaft für toxikologische Untersuchungen behandelt.
X1 28
Siehe S. 79-92. Siehe S. 79-92 und S. 102 f.
B. Die Genehmigungsgrundlage und der Stand der Wissenschaft
123
Wiederum sei die akute Inhalationstoxizität von SOz bei Tieren mittels einer toxikologischen Untersuchung an Tieren untersucht, woraus sich auf das Tier bezogene Einzelaussagen über Dosis-Wirkungs-Beziehungen ergeben. Gemäß der deduktiven Erkenntnistheorie ist das Motiv der toxikologischen Untersuchung die "Tatsachenfeststellung''. Die Dosis-Wirkungs-Beziehungen sind Basissätze im Sinne des Falsiftkationismus, sie stellen die methodisch erforderlichen FalsifiZierungsmöglichkeiten dar. Es sei also beispielsweise durch eine toxikologische Untersuchung entdeckt, daß ein spezifiZiertes Tier, wenn es eine Dosis X an SOz inhaliert, eine bestimmte Wirkung zeigt, etwa stirbt. Diese Experimente sind jederzeit unter gleichen Bedingungen wiederholbar, womit es sich um reproduzierbare Ergebnisse handelt. Der Basisatz beschreibt also reproduzierbare Tatsachen. Die der toxikologischen Untersuchung zugrundeliegende Hypothese lautet wie folgt: Alle Tiere, die einer spezifiSchen Tierart angehören, sterben, wenn sie eine Dosis X an SOz inhalieren. Diese Hypothese erfüllt die logische Form des Allsatzes. Die Voraussetzung der logischen FalsifiZierbarkeit ist somit erfüllt. Ferner zeigt die rechtmäßig und methodisch einwandfrei sowie reproduzierbar durchgeführte toxikologische Untersuchung, daß das Kriterium der praktischen FalsifiZierungsmöglichkeit ebenfalls erfüllt ist. Somit ist die oben formulierte Wirkungshypothese in der Form einer Dosis-Wirkungs-Beziehung eine falsifiZierbare Erkenntnis im Sinne der falsifikationistischen Erkenntnistheorie. Der logisch zulässige deduktive Schluß, der Bestandteil des FalsifiZierungsversuches ist, lautet nun wie folgt: Hypothese:
Alle Tiere, die einer spezifiZierten Tierart angehören, sterben, wenn sie eine Dosis X an S02 inhalieren. Randbedingung: Alle Tiere der toxikologischen Untersuchung gehören dieser Tierart an. Schlußfolgerung: Alle Tiere der toxikologischen Untersuchung sind gestorben. Das Resultat des deduktiven Schlusses widerspricht dem Basissatz nicht, es stimmt vielmehr mit diesem überein. Das bedeutet, daß der FalsifiZierungsversuch gescheitert ist. Die oben formulierte Wirkungshypothese kann nun als bewährte wissenschaftliche Erkenntnis im Sinne der hypothetisch-deduktiven Erkenntnismethode angesehen werden. Als bewährte Erkenntnis markiert sie zugleich einen Stand der Wissenschaft. Die toxikologische Untersuchung des reinen Stoffesam Tier führt zu einem Stand der Wissenschaft bezogen auf den reinen Schadstoff. Genehmigungsrechtlich maßgeblich ist aber die Wirkung des realen Schadstoffes, d. h. des
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Drittes Kapitel: Die Gefahrenabwehr und der Stand der Wissenschaft
Scbadstoffkollektivs, auf den Menschen, folglich ein Stand der Wissenschaft für das Schadstoffkollektiv bezogen auf den Menschen. Dies kann wegen der unüberwindlichen methodischen Schwierigkeit nicht geschehen. Auch hier gilt wieder, daß, will man von dem durch toxikologische Tieruntersuchungen am reinen Stoff ermittelten Stand der Wissenschaft zu einem im genehmigungsrechtlichen Sinne maßgeblichen Stand der Wissenschaft kommen, man die Erfahrungsgrundlage verlassen muß. Folglich fällt, wie oben, die Voraussetzung für die Gültigkeit des deduktiven Schlusses fort, d. b., derselbe wird unzulässig im anlagenrechtlichen Sinne und unbegründet. Für die experimentellen Untersuchungen läßt sich leicht ein Beispiel in Anlehnung an die entsprechenden Ausführungen im Abschnitt zum Induktivismus bilden. Das Ergebnis ist sinngemäß identisch mit demjenigen, wie es für die toxikologischen Untersuchungen ermittelt wurde.
3. In-vitro-Versuche an biologischem Material und Simulation
Eine kurze Zusammenfassung der allgemein methodischen Schwierigkeiten der Datenerhebung ist im entsprechenden Abschnitt zum Induktivismus nachzulesen. Mit der Metbode der In-vitro-Versuche an biologischem Material und der Simulation als Verfahren der Datenerhebung lassen sich methodisch einwandfrei und reproduzierbar Basissätze im Sinne der hypothetischdeduktiven Erkenntnismethode gewinnen. Damit ist auch insbesondere die Bedingung der praktischen Falsiftzi.erungsmöglichkeit erfüllt. Beispielsweise können die Dosis-Wirkungs-Beziehungen in der logischen Form des Allsatzes als Wirkungshypothese formuliert werden. Die Menge der Falsiftzi.erungsmöglichkeiten ist somit nicht leer, die Voraussetzung für den deduktiven Schluß ist gegeben. Erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis im Sinne des Falsifikationismus ist mit diesem Verfahren der Datenerhebung möglich. Ein so gewonnener Stand der Wissenschaft besitzt, wie auch im Induktivismus, unmittelbaren Erkenntniswert nur für das Modell, auf dem er beruht. Die Konkretisierung der tatbestandliehen Genehmigungsanforderungen kann von diesem Wissen nur durch Extrapolation auf die genehmigungsrechtlich relevante Beurteilungsgrundlage hin Gebrauch. machen. Das extrapolierte Wissen ist nunmehr keine Erkenntnis, die einen Stand der Wissenschaft darstellt, da durch die Übertragung in der Form einer spekulativen Verallgemeinerung die wissenschaftliche Erfahrungsgrundlage, und damit der wissenschaftliche Geltungsbereich, verlassen wird.
8 . Die Genehmigungspundlage und der Stand der Wiuenschaft
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4. Zwischenergebnis
Die unüberwindlichen methodischen Schwierigkeiten bei toxikologischen und experimentellen Untersuchungen, In-vitro-Versuchen an biologischem Material sowie bei der Simulation sind strukturell gleich. Erfahrungsgrundlage oder Erkenntnisobjekt und damit Gegenstand der Basissätze sowie der Wirkungshypothesen und also auch der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem Stand der Wissenschaft ist die spezifizierte Tierart, das biologische Material, d. h. das Organismus-Modell, und das (mathematische) Modell der interessierenden technisch-physikalischen Tatsachen der zu genehmigenden Anlage. Alle oben genannten Verfahren der Datenerhebung sind geeignet, nach den methodischen Regeln des Falsifikationismus einen Stand der Wissenschaft hervorzubringen. Wie schon für den Induktivismus festgestellt, leistet ein solcher Stand der Wissenschaft nur mittels Extrapolation einen Beitrag zur Konkretisierung der tatbestandliehen Anforderungen. Das extrapolierte Wissen selbst stellt hingegen keinen Stand der Wissenschaft im anlagenrechtlichen Sinne mehr dar, wenngleich es auch auf einem solchen beruht. S. Epidemiologische Untersuchungen, kasuistische Erfahrungen beim Menschen und Auswertung von Betriebserfahrungen - Zwischenergebnis
Die epidemiologische Untersuchung, kasuistische Erfahrungen beim Menschen und die Auswertung von Betriebserfahrungen als Verfahren der Datenerhebung führen zu der unüberwindlichen methodischen Schwierigkeit, daß die genaue Angabe der für eine Wirkung ursächlichen Faktoren unmöglich ist. Ferner handelt es sich um singuläre Beobachtungen, so daß eine Wiederholbarkeil ausgeschlossen ist. Im Gegensatz zu den toxikologischen und experimentellen Untersuchungen ist bei den oben genannten Verfahren der Datenerhebung die Erfahrungsgrundlage und damit der Gegenstand der allgemeinen Aussage, d. h. der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem Stand der Wissenschaft, identisch mit der für die Konkretisierung der anlagenrechtlichen Gefahrenabwehr maßgeblichen Beurteilungsgrundlage. Insofern wird der deduktive Schluß als logische Operation des Falsiflzierungsversuchs möglich, ohne die Erfahrungsgrundlage zu verlassen. Jedoch ist zu fragen, ob die so ermittelten Aussagen die Qualität von Basissätzen im Sinne des Falsifl.kationismus besitzen und infolge dessen die Menge der Falsiflzierungsmöglichkeiten nicht leer ist. Wie oben gezeigt, sind etwa die Dosis-Wirkungs-Beziehungen, da sie aus Einzelfallbeobachtungen resultieren, nicht reproduzierbar, weil die für eine beobachtete Wirkung ursächlichen
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Drittes Kapitel: Die Gefahrenabwehr und der Stand der WJSSenschaft
Faktoren gar nicht bekannt sind und auch nicht bekannt sein können. Daraus ergibt sich, daß die hier betrachteten Dosis-Wirkungs-Beziehungen keine Basissätze im Sinne des Falsifikationismus sind, die Menge der Falsiflzierungsmöglichkeiten also leer ist. Analog gilt dies für die übrigen Verfahren, die oben genannt sind. Die oben genannten Verfahren der Datenerhebung sind nicht in der Lage, Falsifizierungsmöglichkeiten in der Form von Basissätzen zu erzeugen. Aus diesem Grunde sind diese Verfahren im Kontext der hypothetisch-deduktiven Erkenntnismethode nicht anwendbar. Ein Stand der Wissenschaft im Sinne des Falsifikationismus kann nicht ermittelt werden.
IV. Methodische Probleme und das Paradigma-Modell von Kuhn 1. Vorbemerkung
Die Wirkungsforschung ist Normalwissenscbaft. Die Dosis-Wirkungs-Beziehungen werden im Kontext des Paradigmas der Wirkungsforschung ermittelt. Zu dem Paradigma gehören jedenfalls auch die Verfahren der Datenerhebung. Die Ermittlung der Dosis-Wirkungs-Beziehungen entspricht folglich dem Lösen eines "Rätsels" im Sinne des Kuhnschen Paradigma-Modells. Es stellt sichjetztjedoch die Frage, unterwelchen Umständen die durch die hier diskutierten Verfahren der Datenerhebung erzeugten Wirkungsaussagen als Lösung des Rätsels anerkannt werden, d. h. eine wissenschaftliche Erkenntnis darstellen. Kuhn akzeptiert weder einen ahistorischen Maßstab noch bloß rationale Kriterien, weswegen es keine methodisch zwingenden Schlüsse im Hinblick auf die Anerkennung vorgelegter Rätsellösungen gibt. Auch das Paradigma-Modell operiert mit Hypothesen. Anders als im Falsifikationismus gibt es jedoch keine methocl.isch bedingte zwingende Anerkennung oder Widerlegung einer Hypothese. Werden auch hier Hypothesen formuliert, die dann den Ergebnissen gegenübergestellt werden, die zuvor aus experimentellen Versuchen oder gegebenenfalls methodisch gleichwertigen Verfahren der Datenerhebunggewonnen wurden, führen abweichende Ergebnisse jedoch nicht zwingend zu einer Falsiflzierung der Hypothese, wie dies beim Falsifikationismus der Fall ist. Was als erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis gelten soll, wird nach Kuhns Ansicht von den Wissenschaftlern der Erfahrungswissenschaften selbst bestimmt. Kriterium für die Anerkennung ist die Billigung durch die wissenschaftliche Gemeinschaft des entsprechenden Fachgebietes. Für die Entscheidung der Wissenschaftler sind logische Gesichtspunkte allein nicht hinreichend- schon gar nicht die logische Falsifikation. Vielmehr treten psychologi-
B. Die Genehmigunpgrundlage und der Stand der Wissenschaft
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sehe und soziologische Aspekte hinzu. Die Frage, was als empirische Erkenntnis zu gelten hat, ist vielmehr eine Frage der Bewertung an Hand rationaler und intuitiver Kriterien, weswegen die Gewinnung empirischer Erkenntnisse primär als psychologischer und sozialer Prozeß anzusehen ist29• 2. Präzisierung des Kuhnschen Modells
Trotz des oben Gesagten kann das relativistische Anerkennungsverfahren von Hypothesen nicht dazu führen, daß jede beliebige Hypothese gelten könnte, sofern es die wissenschaftliche Gemeinschaft nur beschließen würde. Immerhin bekennt sich Kuhn auch zur "Tatsachenkonformität", welche jedoch vor dem Hintergrund des Problems von der Beziehung zwischen Theorie und Erfahrung auch nicht zu zwingender Anerkennung oder Widerlegung einer Hypothese führt. Zumindest wird man aber erwarten dürfen, daß für einen Vergleich mit einer Hypothese nur auf Vergleichbares abgestellt wird. D. h., das Erkenntnisobjekt der Hypothese muß übereinstimmen mit dem Erkenntnisobjekt, auf das sich die empirische Vergleichsaussage bezieht. Diese aussagenlogische Forderung bietet somit schon einen Maßstab für die erkenntnistheoretische Beurteilung der methodischen Probleme der Verfahren der Datenerhebung. Diese aussagenlogische Forderung sagt nur etwas aus über die formale oder logische Beschaffenheit der Schlußfolgerungsgrundlage. Sie sagt nichts darüber aus, nach welchen Kriterien die Schlußfolgerung zu erfolgen hat. Dacfurch wird insbesondere das von Kuhn vertretene psychologisch-soziologische Schlußfolgerungsverhalten nicht in Frage gestellt, d. h. das Paradigma-Modell materiell und formell nicht verändert, sondern lediglich präzisiert. Da Kuhn die Überprüfung der Hypothese durch das Experiment, das ist der Falsiftzierungsversuch, nicht schlechthin ablehnt, sondern nur die logisch zwingende Falsiftzierung, muß er an das Kriterium der Wiederholbarkeil von Experimenten und damit, als Voraussetzung dafür, an die Kenntnis der für eine experimentell ermittelte Wirkung ursächlichen Faktoren die gleichen Anforderungen stellen wie der Falsiftkationismus. 3. Zwischenergebnis
Unter der Voraussetzung, daß die obigen Präzisierungen des ParadigmaModells zutreffen, führt die Erörterung der methodischen Probleme der Ver-
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Siehe S. 92-101.
1.28
Drittes Kapitel: Die Gefahrenabwehr und der Stand der WJ.SSenschaft
fahren der Datenerhebung zu dem gleichen Ergebnis, wie es für den Falsifikationismus ermittelt wurde. Das für das Ergebnis wesentliche Grundproblem, die Beziehung zwischen den Erkenntnisobjekten von Hypothese und Experiment, ist identisch mit dem im Falsifikationismus. Insbesondere kommt es für das Ergebnis nicht darauf an, ob die logische Falsifikation methodisch zwingend ist oder nicht. Aus diesem Grunde kann auf die Argumentation und das Ergebnis für den Falsifikationismus verwiesen werden, da beides vollständig mit der Beurteilung des Paradigma-Modells übereinstimmt.
V. Ergebnis Wissenschaftliche Erkenntnis ist Erkenntnis, die nach den methodischen Regeln und Maßstäben einer Erkenntnistheorie gewonnen wird. Die Wissenschaft ist in der Wahl ihrer Erkenntnistheorie autonom. Um dieser Autonomie Rechnung zu tragen, wurden bei der Beantwortung der Frage, ob die DosisWirkungs-Beziehungen und die aus diesen hervorgegangenen Luftqualitätskriterien sowie die Aussagen über auslösende Ereignisse und Auslegungsbeanspruchungen Stand der Wissenschaft im genehmigungsrechtlichen Sinne sind, drei verschiedene Erkenntnistheorien behandelt. Es sind dies der Induktivismus, der Falsifikationismus und das Paradigma-Modell von Kuhn. Die Untersuchung der methodischen Probleme der Verfahren der Datenerhebung unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten führt zu dem Ergebnis, daß keines der genannten Verfahren geeignet ist, im Kontext einer der oben genannten Erkenntnistheorien einen Stand der Wissenschaft im Sinne des Anlagenrechts zu etablieren. Die oben genannten systemgebundenen unüberwindlichen Schwierigkeiten führen zu folgenden erkenntnistheoretischen Konsequenzen: Zum einen sind einige der hier diskutierten Verfahren der Datenerhebung generell nicht geeignet, einen Stand der Wissenschaft hervorzubringen, da diese Insturmente und die durch sie gewonnenen Daten die erkenntnistheoretischen Kriterien nicht erfüllen können. Zum anderen kann mit allen genannten Verfahren kein Stand der Wissenschaft bestimmt werden, der für die Beurteilung der Gefahrenabwehr unmittelbar, d. h. ohne Ausfüllen von Erkenntnislücken durch subjektives Expertenurteil maßgeblich ist, da sich der Stand der Wissenschaft auf ein anderes als für die Gefahrenabwehr im Sinne des Anlagenrechts maßgebliches Erkenntnisobjekt bezieht. Die methodischen Probleme zwingen vielmehr dazu, die ermittelten Aussagen über Dosis-Wirkungs-Beziehungen im Wege des Analogieschlusses auf
8. Die Genehmigunpgrundlage und der Stand der Wissenschaft
129
den Menschen zu übertragen30• Dies gilt entsprechend für die auf den Störfallausschluß hin orientierte Wissensbasis. Durch die Analogiebildung wird die empirische Datenbasis verlassen, da ein wesentliches Element der Analogiebildung die Spekulation des damit befaßten Experten ist. Denn: Im Analogieschluß werden aus der Ähnlichkeit zweier Dinge in gewissen Beziehungen Folgerungen auf ihre Ähnlichkeit in anderen geschlossen. Die oben beschriebenen methodischen Probleme der Datenerfassung zwingen zu diesem Rückgriff auf die Ähnlichkeit. Diese Ähnlichkeit kann der Experte aber nur annehmen, d. h., sie hat den Charakter einer nicht wissenschaftlich-methodisch abgesicherten Aussage. Im Sinne des Falsifikationismus handelt es sich beispielsweise um eine nicht empirisch überprüfte und überprüfbare Vermutung oder Hypothese, ist mithin in diesem Stadium spekulatives Wissen des Experten. Spekulatives Wissen folgt aus einem Denken, das versucht, durch Überlegung den Bereich der Erfahrung zu überschreiten31• Die materielle Genehmigungsgrundlage zur Sicherstellung der normalbetriebsbedingten und störfallbedingten Gefahrenabwehr stellt somit keinen Stand der Wissenschaft dar. Es handelt sich hier vielmehr, gemäß der oben getroffenen Unterscheidung, um Alltagserkenntnis oder -wissen, das, siehe oben, zum Teil mittels Analogiebildung aus wissenschaftlicher Erkenntnis (Stand der Wissenschaft) hervorgegangen ist. Die rechtliche Formel Stand der Wissenschaft als direkt anzulegender Maßstab für die Beurteilung und Sicherstellung der Gefahrenabwehr oder als Basis der tatbestandliehen Konkretisierung der Genehmigungsanforderungen ist somit ungeeignet. Schließlich bleibt festzustellen, daß bei der Beantwortung der Frage nach der Bedeutung der rechtlichen Formel Stand der Wissenschaft für die Konkretisierung der tatbestandliehen Genehmigungsanforderungen dieWahlder Erkenntnistheorie keine entscheidende Rolle spielt. Wenn auch die Bedeutung einer speziellen Erkenntnistheorie in den Hintergrund rückt, so werden vielmehr generelle Eigenschaften von Erkenntnistheorien ausschlaggebend: Erstens bezieht sich jede wissenschaftliche Erkenntnis auf das zugrundegelegte Erkenntnisobjekt; die Reichweite der Aussage wird dadurch eingeschränkt. Zweitens gründen sich wissenschaftliche Erkenntnisse niemals auf singuläre, nichtreproduzierbare Aussagen.
30 Vgl. Rat, Umweltgutachten 1987, S. 447, in dem der Rat wn Sach~JStändigen für Umweltfragen die Übertragungvm Ergebnissen aus TICtveiSUchen auf den Menschen als "Analogicschluß" bezeichnet 31 Vgl. hienu Hosemann, et 1993,406, wonach Ergebnisse von Hochrechnungen, solange der Kausalitätsnachweis fehlt, reine Spekulationen sind. 9 Lohse
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Drittes Kapitel: Die Gefahrenabwehr und der Stand der WISSenschaft
Verallgemeinerungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die den Geltungsbereich einer Aussage erweitern sollen, müssen in jedem Falle die Übertragbarkeit der Erkenntnisse nach den Regeln einer Erkenntnistheorie nachweisen. Dies ist, wie gezeigt, im Rahmen der hier diskutierten Fragestellungnicht möglich. Der Analogieschluß kann diese Anforderungen nicht erfüllen.
C. Die erkenntnistheoretisch orientierte Auslegung der Formel Die erkenntnistheoretische Untersuchung hat gezeigt, daß Grenzwerte und Wissensbasis, die Grundlage für die Sicherstellung der Gefahrenabwehr sind, keinen Stand der Wissenschaft darstellen und aus Gründen der erkenntnispraktischen Unmöglichkeit auch nicht darstellen können. Grenzwerte und Wissensbasis sind vielmehr ein durch Analogieschluß aus einem Stand der Wissenschaft hervorgegangenes Wissen. Mit der Extrapolation hat dieses Wissen jedoch seine Eigenschaft, einen Stand der Wissenschaft zu markieren, eingebüßt, da der Geltungsbereich der Aussagen auf Gegenstandsbereiche erweitert wurde, die nicht durch das Erkenntnisobjekt abgedeckt werden und demgemäß das Ergebnis der wissenschaftlich-methodischen Erkenntnisprüfung anhand des Abgrenzungskriteriums nicht mehr gile2• Wegen der erkenntnispraktischen Unmöglichkeit, das für den Gefahrenausschluß erforderliche Wissen durch einen Stand der Wissenschaft zu etablieren, überzeugt die überwiegende Auffassung in Literatur und Rechtsprechung zur Bedeutung des Standes der Wissenschaft im Hinblick auf die Gefahrenabwehr, die in der folgenden vielzitierten Fassung des Zweiten Senates des Bundesverfassungsgerichtes in seinem sogenannten Kalkar-Beschluß dargestellt wird, nicht: "Es muß diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird."33 Die Vertreter dieser Ansicht34 messendem Stand der Wissenschaft eine formale Kompetenz zu, die diesem aufgrund der fehlenden materiellen Kompetenz infolge der erkenntnispraktischen Unmöglichkeit nicht zukommen kann, was durch die oben angestellte erkenntnistheoretische Untersuchung gezeigt wurde.
32 Zu diesem Ergebnis kommt auch Murswiek, Verantwortung, S. 380, passim, der aus diesem Grunde den Volitivcharakter der lmmissionswertfestlegungen betont; i. d. S. wohl auch I...mkw, UPR 1986, 361, passim, der bezweifelt, daß "die Prüfung der Risiken der Kernenergie auf empirisch verifiZierbare naturwissenschaftliche Aussagen aufbauen kann". 33 BVerfG, NJW 1979, 362. 34 Siehe hienu umfassend erstes Kapitel.
D. Die Grenzen der Gefahrenabwehr
131
Dennoch darf der Stand der Wissenschaft nicht unberücksichtigt bleiben, da die Formel explizit in§ 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG genannt wird und implizit, wie im ersten Kapitel gezeigt, ebenfalls bei der Gefahrenabwehr gemäß § 5 Abs. 1 Nr.1 BlmSchG Bedeutung erlangt. Der normative Bezug auf die Formel besagt, daß diese materiell und formell voll ausgeschöpft werden muß. Dies wird sichergestellt, wenn man dieselbe zur Basis des Analogieschlusses macht. Die Extrapolation muß sich auf fachwissenschaftliche Aussagen, die einen Stand der Wissenschaft darstellen, beziehen. Dies verleiht der Grundlage und der Extrapolation selbst ein Höchstmaß an Rationalität. Der Analogieschluß selbst ist ein Volitivakt und fällt damit in den legislativen oder administrativen Zuständigkeitsbereich. Die maßgebliche Wissensbasis und Grenzwerte, die dem Gefahrenausschluß zugrunde zu legen sind und die eine materielle Konkretisierung der Tatbestandsmerlemale der anlagenrechtlichen Gefahrenabwehr darstellen, sirid durch einen Volitivakt aus dem einschlägigen Stand der Wissenschaft zu bestimmen35. Gemäß Feldmann34 stellt der Stand der Wissenschaft die Grundlage dar, von der aus die Exekutive Art, Ausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit etwaiger Schäden beurteilt. Damit ist auf die u. a. von Feldmann und Marburger37 gestellte Frage nach der Funktion des Begriffs "Stand der Wissenschaft" im Rahmen des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG eine Antwort versucht, die gleichermaßen für die immissionsschutzrechtliche Gefahrenabwehr im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BlmSchG geeignet erscheint.
D. Die Grenzen der Gefahrenabwehr Aus der Funktion, die das Bundesverfassungsgericht der Formel Stand der Wissenschaft im Rahmen der normativ gebotenen Gefahrenabwehr zuschreibt, leitet es zugleich die Grenzen der Gefahrenabwehr ab. Nach dieser Ansicht wird der Pflicht zur Gefahrenabwehr genüge getan, wenn der Stand der Wissenschlaft ausgeschöpft wird. Mehr verlangt das Gesetz nicht. Zutreffend hebt der Zweite Senat hervor, daß die neuestewissenschaftliche Erkenntnis jeweils heranreicht bis an die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens und diese ständigweiter vor sich herschiebt:
35 Wohl auch Lculeur, Umweltrecht, S. 310; ders., UPR 1993, passim; Murswiek, Verantwortung, passim; Feldmann, ct 1983, 387; Kutscheidl, et 1991, 687; für Immissionsgrenzwerte auch Hansmann, Problematik, S. 298 f., 302; von Lersner, NuR 1990, 193, passim; Roßnagr:l, UPR 1993, passim; Papier, Untersuchungen, S. 172, passim. 36 Feldmann, et 1983, 387; i. d. S. auch Lecheler, ZRP 1977, 243. 37 Feldmann, et 1983, 387; Marburgr:r, et 1984, 209.
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Drittes Kapitel: Die Gefahrenabwehr und der Stand der Wissenschaft
"Erfahrungswissen ...,selbst wenn es sich zur Form des naturwissenschaftlichen Gesetzes verdichtet hat, ist, solange menschliche Erfahrung nicht abgeschlossen ist, immer nur Annäherungswissen, das nicht volle Gewißheit vermittelt, sondern durch jede neue Erfahrung korrigierbar ist und sich insoweit immer nur auf dem neuestenStand unwiderlegten möglichen Irrtums befmdet. Vom Gesetzgeber im Hinblick auf seine Schutzpflicht eine Regelung zu fordern, die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen ausschließt, die aus der Zulassung technischer Anlagen und ihrem Betrieb möglicherweise entstehen können, hieße die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens verkennen und würde weithinjede staatliche Zulassung der Nutzungvon Technik verbannen." 38 Schachtschneidel9 hat zutreffend erkannt, daß der "unwiderlegte mögliche Irrtum" nichts anderes ist als die nicht falsifizierte, also. vorläufig bewährte Hypothese oder Theorie im Poppersehen Sinne. Das Maß an Unsicherheit, das nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts"" unentrinnbar verbleibt und in der Natur des menschlichen Erfahrungswissens begründet ist, muß insofern von allen Bürgern als sozialadäquate Last getragen werden. Demnach ist die "Grenze des menschlichen Erkenntnisvermögens" die erkenntnistheoretische Unmöglichkeit der Poppersehen Erkenntnistheorie, nicht mehr als "Annäherungswissen" vermitteln zu können. Die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens bestimmen nach dieser Argumentation die Grenzen der anlagenrechtlich gebotenen Gefahrenabwehr. Ergebnis der erkenntnistheoretischen Untersuchung ist jedoch, daß die tatsächliche Grenze menschlichen Erkenntnisvermögens aus der erkenntnispraktischen Unmöglichkeit resultiert, deren Ursache in den unüberwindlichen methodischen Problemen der Verfahren der Datenerhebung liegt. Das hieraus resultierende "Annäherungswissen" liegtjedenfalls unterhalb dessen, was bei Ausschöpfung der erkenntnistheoretischen Möglichkeiten zu erreichen wäre, erhöht also das oben genannte Maß an Unsicherheit. Denn die erkenntnispraktische Unmöglichkeit verbietet es, die erkenntnistheoretischen Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Ein Stand der Wissenschaft im Poppersehen Sinne kann, wie dargestellt, die genehmigungsrechtlichen Anforderungen der Gefahrenabwehr nicht konkretisieren. Die Konkretisierung geschieht vielmehr durch Extrapolation auf der Grundlage des Standes der Wissenschaft. Somit ergeben sich die Grenzen der
BVerfG, NJW 1979, 363. Schachtschneider, Rechtsbegriff, S. 100, mit Hinweisen auf Popper. "" BVerfG, NJW 1979,363. 38 39
E.Ergebnis
133
Gefahrenabwehr aus dem Volitivakt der Extrapolation und nicht, wie das Bundesverfassungsgericht meint, aus den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens. Die Grenzen der Gefahrenabwehr ergeben sich aus dem Wollen und nicht aus dem Erkennen. Im Ergebnis kann der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in seinem sogenannten Kalkar-Beschluß nicht zugestimmt werden. Da der Stand der Wissenschaft die erforderliche Schadensvorsorge nicht festlegen kann, sind aus dieser Formel auch nicht die Grenzen der Gefahrenabwehr abzuleiten.
E. Ergebnis § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG läßt die Errichtung und den Betrieb einer kerntechnischen Anlage nur zu, wenn die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Schadensvorsorge sichergestellt ist. Dies umschreibt nach allgemeiner Ansicht die polizeirechtliche Gefahrenabwehr für das Sonderpolizeirecht der Anlagensicherheit Unter Gefahr versteht man eine Sachlage, aus der heraus bei ungehindertem Fortgang mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden an einem geschützten Rechtsgut entsteht. Während das allgemeine Polizeirecht als Kenntnis der Schadensmöglichkeit die "allgemeine Lebenserfahrung" genügen läßt, verlangt das Sonderpolizeirecht der Anlagensicherheit als maßgebliches Wissen die Kenntnis nach dem "Stand der Wissenschaft". Aufgrund erkenntnispraktischer Unmöglichkeit kann der Stand der Wissenschaft allein keine hinreichende Kenntnis von der Schadensmöglichkeit vermitteln. Diese Kenntnis kann nur durch Extrapolation gewonnen werden. Der Extrapolation ist der Stand der Wissenschaft zugrunde zu legen, um ihr ein Höchstmaß an Rationalität zu verleihen. Die Extrapolation will das methodisch bedingte Nichtwissen durch Volitivakt beheben. Weil der Volitivakt nicht wissenschaftliche Erkenntnis ist, sind andere Institutionen als die Wissenschaft dazu berufen, diesen durchzuführen. Dies gilt sinngemäß für die nach§ 5 Abs. 1 Nr. 1 BimSchG sicherzustellende Gefahrenabwehr. Auch wenn das BimSchG nicht ausdrücklich die Maßgeblichkeil der Wissenschaft für die Gefahrenabwehr erklärt, wie dies im AtomG geschehen ist, so kann wegen des "staatlichen Sachlichkeitsprinzips" nichts anderes gelten. Im Gegensatz zur Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wird hier die Auffassung vertreten, daß die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens nicht erkenntnistheoretisch, sondern erkenntnispraktisch bedingt sind. Das erlangte Wissen bleibt somit systematisch hinter dem zurück, was bei Aus-
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Drittes Kapitel: Die Gefahrenabwehr und der Stand der Wissenschaft
schöpfung des erkenntnistheoretisch Möglichen zu erreichen wäre. Das verbleibende Maß an Unsicherheit ist somit höher als das vom Zweiten Senat behauptete. Die Grenzen der Gefahrenabwehr ergeben sich aus dem Wollen und nicht aus dem Erkennen.
Zusammenfassung Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" ist das wesentliche Tatbestandsmerkmal zur Sicherstellung der Gefahrenabwehr im Atomrecht und, wegen des "staatlichen Sachlichkeitsprinzips", ebenfalls im Immissionsschutzrecht. Die Konkretisierung der Genehmigungsanforderungen für die normalbetriebsbezogene Gefahrenabwehr erfolgt durch die Rechtsfigur des Grenzwertes, die für die störfallbezogene Gefahrenabwehr durch die Festlegung der auslösenden Ereignisse und Auslegungsbeanspruchungen für genehmigungsrechtlich relevante Auslegungsstörfälle (die Wissensbasis). Für die Festlegung der Grenzwerte und Wissensbasis ist der Stand der Wissenschaft maßgeblich, der sich auf eine empirische Datenbasis stützt. Die Anwendung der für die Ermittlung der empirischen Datenbasis zur Verfügung stehenden Verfahren der Datenerhebung stößt auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Wissenschaft im Sinne des Immissionsschutz- und Atomrechts ist identisch mit dem BegriffWissenschaft im Sinne des Grundrechts des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Die Auslegung der rechtlichen Formel "Stand der Wissenschaft" muß deswegen das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit auch interpretatorisch beachten. Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" wird, wie auch schon durch das Bundesverfassungsgericht im Kalkar-Beschluß, begrenzt auf die Erfahrungswissenschaft oder empirische Wissenschaft. Welche Erkenntnis als erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis gelten soll und somit zur Wissenschaft zählt, hängt von der maßgeblichen Erkenntnistheorie ab. Die Wissenschaft ist in der Wahl der Erkenntnistheorie autonom. Exemplarisch werden drei verschiedene Erkenntnistheorien diskutiert: der Induktivismus, der Falsifikationismus und das Paradigma-Modell von Thomas S. Kuhn. Die grundgesetzliehe Offenheit gegenüber verschiedenen Erkenntnistheorien wird in Literatur, Rechtsprechung und Genehmigungspraxis bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "Stand der Wissenschaft" kaum berücksichtigt. Wenn überhaupt erkenntnistheoretische Gesichtspunkte berücksichtigt werden, dann fast ausschließlich der Poppersehe Falsifikationismus. Der "Stand" der Wissenschaft ist die Summe derjenigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die für die Beurteilung des wissenschaftlichen Fortschritts maßgeblich sind. Der Stand der Wissenschaft ist identisch mit der Fortschrittsbasis. Verschiedene Erkenntnistheorien verwenden unterschiedliche Fortschrittskriterien. Wissenschaftliche Streitfragen werden innerhalb des "Systems
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Zusammenfassung
Wissenschaft" nach den von diesem autonom definierten Regeln geklärt. Dies verkennt das Bundesverfassungsgericht in seinem Kalkar-Beschluß, wenn es, wie es heute nach überwiegender Ansicht geschieht, den Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" aus seinem wissenschaftstheoretischen Bezug und damit auch aus der grundgesetzlich garantierten Wissenschaftsfreiheit herauslöst und ihn mit den "derzeitigen menschlichen Erkenntnissen" gleichsetzt. Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" schließt die Ingenieurwissenschaften mit ein. Der Stand derTechnikumfaßt ausschließlich die Ingenieurpraxis. Die Funktion des Standes der Wissenschaft und damit dessen Konkretisierungsbeitrag hängt aus erkenntnistheoretischer Sicht ganz entscheidend davon ab, ob sich dieser auf die Gegenstandsbereiche oder Erkenntnisobjekte bezieht, die für die Beurteilung der Gefahrenabwehr unmittelbar maßgeblich sind. Die Untersuchung der methodischen Probleme der Verfahren der Datenerhebung unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten hat gezeigt, daß dies erkenntnistheoretisch unmöglich ist. Die materielle Genehmigungsgrundlage zur Sicherstellung der normalbetriebsbedingten und störfallbedingten Gefahrenabwehr stellt deswegen keinen Stand der Wissenschaft dar. Die maßgebliche Wissensbasis und die Grenzwerte, die dem Gefahrenausschluß zugrunde zu legen sind, und die eine materielle Konkretisierung der anlagenrechtlichen Gefahrenabwehr darstellen, sind durch einen Volitivakt aus dem einschlägigen Stand der Wissenschaft zu bestimmen. Die Extrapolation muß sich, um ihr ein Höchstmaß an Rationalität zu verleihen, auf fachwissenschartliehe Aussagen, die einen Stand der Wissenschaft darstellen, beziehen. Die "Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens" sind nicht, wie es der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Kalkar-Beschluß behauptet, als Grenzen der Gefahrenabwehr anzusehen. Die Grenzen der Gefahrenabwehr sind Ergebnis administrativer Festlegung.
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ohne Verfasser, Mitteilung: Revidierte ICRP-Strahlenschutzempfehlungen, in: atw 1991,57
Schrifttumsven:eichnis
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Popper, Karl R./Lorenz, KoiU'ad, Die Zukunft ist offen, 2. Aufl., München 1985, (zit.: Bearbeiter, in: Popper/Lorenz, Zukunft)
Pott, Friedrich, Zur Frage der Grenzwertbemessung für krebserzeugende Stoffe, in: StaubReinhalt.Luft 44 (1984) Nr. 3, S. 123
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Roßnage~
Rumpf, Hans, Gedanken zur Wissenschaftstheorie der Technik-Wissenschaften, in: VDI-Z 111 (1969) Nr. 1-Januar 1, S.2
Schrifttumm:rr.eichnis
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Salzwetk~ lürgm,
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Schwarz, Ottmor/Grefen, Klaus, Die Richtlinienarbeit der VDI-Kommission Reinhaltung der Luft- Inhalte und Perspektiven-, in: Staub-Reinhalt.Luft 47 (1987) Nr. 3/4, 49 Seiffert, Helmut, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 1, 10. überarb. Auf!., München 1983, (zit.: Seiffert, Wissenschaftstheorie) Sellner, Dieter, Immissionsschutzrecht und Industrieanlagen, 2. neubearb. Aufl., in: NJWSchriftenreihe, Heft 31, München 1988, (zit.: Sellner, Industrieanlagen) Smidt, Dieter, Reaktorsicherheitstechnik; Sicherheitssysteme und Störfallanalysen für Leichtwasserreaktoren und schnelle Brüter, Berlin, Heidelberg, New York 1979, (zit.: Smidt, Reaktorsicherheitstechnik)
Die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden. Die Problematik aus der Sicht des Technikers, in: Blümel, W./Wagner, H. (Hrsg.), Technische Risiken und Recht, Karlsruhe 1981, (zit.: Smidt, Vorsorge) Somtner, Herben, Praktische Vernunft beim kritischen Reaktor, in: DÖV 1981, 654 Sommer, Wolf-Eclcort, Aufgaben und Grenzen richterlicher Kontrolle atomrechtlicher Genehmigungen - zugleich ein Beitrag zur Auslegung des Begriffes "Stand von Wissenschaft und Technik", Vortrag, gehalten am 08.11.1982 vor der juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe, (zit.: Sommer, Richterliche Kontrolle)
Zum Dosisgrenzwertkonzept des§ 45 StriSchV, in: DÖV 1983, 754 Sterze~ Dieter, Tschernobyl Stol~
und keine Rechtsfolgen, in: KJ 1987, 394
W./Beclcer, K., Ultragift Plutonium? in: atw 1989, 170
Teschendorff, Victor/Mir6, luon!Lerc~ Georg, Athlet - ein fortschrittlicher Systemcode zur Analyse thermohydraulischer Prozesse, in: GRS (Hrsg.), Forschung zur Erhöhung der Reaktorsicherheit, 12. GRS-Fachgespräch vom 3. - 4. November in Köln, Köln 1989, (zit.: Teschendorff!Mir6/Lerchl, Athlet)
VaUendar, Wüü, Ermittlung und Beurteilung von Immissionen nach der TA Luft- Statistische Methoden als Problem des Untersuchungsgrundsatzes, in: GewArch 1981 Veith, Hans-Michael, Strahlenschutzverordnung 1989. Zusammengestellt und mit einer erläuternden Einführung versehen, Köln 1989, (zit.: Veith, StriSchV 1989)
Schrifttumsverzeichnis
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Schadensvorsorge bei der Genehmigung umweltrelevanter Großanlagen, in: DÖV 1980, 269
Weber, Karl-Heinz, Regelungs- und Kontrolldichte im Atomrecht, in: Veröffentlichungen des Instituts für Energierecht an der Universität zu Köln, Bd. 52, Baden-Baden 1984, (zit.: Weber, Kontrolldichte)
Wuuer, Gerd/Schäfer, Rüdiger, Zur richterlichen Rezeption natur- und ingenieurwissenschaftlicher Voraussagen über komplexe technische Systeme am Beispiel von Kernkraftwerken, in: NVwZ 1985, 703
Wolt Rainer, Das Bundesverfassungsgericht- Hüter der Umwelt?, in: KJ 1984, 239 Der Stand der Technik: Geschichte, Strukturelemente und Funktion der Verrechtlichung technischer Risiken am Beispiel des Immissio115SChutzes, in: Beiträge zur sozialwissenschaftliehen Forschung, Bd. 75, Opladen 1986, (zit.: Wolf, Technik) Wolfert, Klaus/Riege~ Bemd!Sonnenburg, Heinz-Günther, Die Bedeutung von Großexperimenten für die Entwicklung und Verifikation von Thermohydraulik-Rechenprogrammen, in: GRS (Hrsg.), Forschung zur Erhöhung der Reaktorsicherheit, 12. GRS-Fachgespräch vom 3. - 4. November 1988 in Köln, Köln 1989, (zit.: Wolfert/Riegel/Sonnenbutg, Großexperimente) Zeschmar-Lahl, Barbara/Lah~ Uwe, Wie wissenschaftlich ist die Toxikologie - Zur Problematik der Grenzwertfindung, in: ZfU 1987/1, S. 43