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German Pages 389 Year 2010
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel
Band 177
Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren Anspruch und Wirklichkeit einer großen Errungenschaft
Herausgegeben von
Thomas Giegerich unter Mitwirkung von:
Berenike Schriewer
Duncker & Humblot · Berlin
Thomas Giegerich (Hrsg.)
Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel In der Nachfolge von Jost Delbrück herausgegeben von T h o m a s G i e g e r i c h und A l e x a n d e r P r o e l ß Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht
177
Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Christine Chinkin London School of Economics
Eibe H. Riedel Universität Mannheim
James Crawford University of Cambridge
Allan Rosas Court of Justice of the European Communities, Luxemburg
Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Rainer Hofmann Johann Wolfgang GoetheUniversität, Frankfurt a.M. Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis
Bruno Simma International Court of Justice, The Hague Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg
Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren Anspruch und Wirklichkeit einer großen Errungenschaft Herausgegeben von
Thomas Giegerich unter Mitwirkung von:
Berenike Schriewer
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchddruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 978-3-428-13418-2 (Print) ISBN 978-3-428-53418-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-83418-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Aus Anlass des 60. Verfassungstages führte das Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht am 15. und 16.5.2009 einen Workshop im Internationalen Begegnungszentrum der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel durch. Dieser Workshop versuchte keine Gesamtwürdigung des Grundgesetzes. Vielmehr konzentrierte er sich auf eine Errungenschaft, die es von seinen Vorgängern abhebt: eine dem Völker- und Europarecht gegenüber offene Verfassungsstaatlichkeit, welche das Grundgesetz dem reorganisierten deutschen Staat in die Wiege gelegt hat. Die überarbeiteten Manuskripte der Vorträge werden nachfolgend veröffentlicht. Der Workshop wurde dankenswerterweise von der Universitätsstiftung, der Landesregierung Schleswig-Holstein sowie der Gesellschaft zur Förderung der Forschung und Lehre am Walther-Schücking-Institut finanziell unterstützt.
Kiel, im Juli 2010
Thomas Giegerich
Inhaltsverzeichnis Einführung Thomas Giegerich Die Zähmung des Leviathan – Deutschlands unvollendeter Weg vom nationalen Machtstaat zum offenen und europäischen Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . .
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Traditionslinien der offenen Staatlichkeit in Deutschland Thilo Rensmann Die Genese des „offenen Verfassungsstaats“ 1948/49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Volker Röben Die Genese des „offenen Verfassungsstaats“ – Rückblick auf 1919 und 1871 – . .
59
Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes im Wandel der Anschauungen Andreas Paulus Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der politischen Praxis der deutschen Exekutive und Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
Felix Arndt Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der politischen Praxis des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
Susanne Wasum-Rainer Völkerrechtsfreundlichkeit in der politischen Praxis der deutschen Exekutive . . . 125 Frank Schorkopf Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
8
Inhaltsverzeichnis
Dagmar Richter Völkerrechtsfreundlichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Die unfreundliche Erlaubnis zum Bruch völkerrechtlicher Verträge – . . . 159 Alexander Proelß Die verfassungsrechtliche Berücksichtigungspflicht im Lichte des respectful consideration-Erfordernisses des U.S. Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes im Wandel der Anschauungen Werner Schroeder Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsskepsis in der politischen Praxis der deutschen Legislative und Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Claus Dieter Classen Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsskepsis in der politischen Praxis der deutschen Exekutive und Legislative – Kommentar zu den Überlegungen von Werner Schroeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Franz C. Mayer Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsskepsis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Franz Merli Europarechtsfreundlichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Vergleich zum österreichischen Verfassungsgerichtshof . . . . . . . . . . . . 273
60 Jahre internationale Offenheit – eine Bilanz Uwe Kischel Europarechtsfreundlichkeit oder Europarechtsskepsis, Unterwerfung oder Integration? Sprachliche Einkleidung und sachliche Probleme . . . . . . . . . . . . . . . .
285
Ulrich Fastenrath Souveräne Grundgesetzinterpretation – zum Staatsbild des Bundesverfassungsgerichts (Zweiter Senat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Rudolf Streinz Die Völker- und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . 327
Inhaltsverzeichnis Stephan Breitenmoser Das Verhältnis des Schweizer Verfassungsrechts zum Völker- und Europarecht
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333
Theo Öhlinger 367 Die Offenheit der österreichischen Bundesverfassung gegenüber dem Völkerrecht und dem Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung
Die Zähmung des Leviathan – Deutschlands unvollendeter Weg vom nationalen Machtstaat zum offenen und europäischen Verfassungsstaat Von Thomas Giegerich1
A. Die Diskreditierung des nationalen Machtstaats in Deutschland Im Mai 1945 war Deutschland physisch und psychisch am Ende – ein ausgeblutetes, militärisch zerstörtes, vollständig besetztes, zerteiltes, bankrottes und durch seine Verbrechen auch moralisch ruiniertes Land – ein international geächtetes Trümmerfeld, für das der Begriff Pariah-„Staat“ noch geschmeichelt gewesen wäre.2 Diskreditiert war hierzulande neben vielem anderen insbesondere auch die Konzeption des nationalen Machtstaats, die nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 vor allem durch Bismarck auch in Deutschland mit großem Eifer realisiert worden war3 und durch Hitler ihre ultimative Übersteigerung im Rassestaat mit Weltherrschaftsambitionen gefunden hatte. Ein nationaler Machtstaat bezeichnet archetypisch einen Staat, der autonom definierte nationale Interessen nach außen durch den Einsatz politischer, wirtschaftlicher und militärischer Macht rücksichtslos auf Kosten anderer durchzusetzen versucht.4 Völkerrechtliche Einhegungen 1
Überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner Einführung in die Tagung am 15.5.2009. Vgl. die Ansprache des Bundespräsidenten von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges am 8.5.1985, BullBReg. Nr. 52 (9.5.1985), 441 ff. 3 Vgl. Walter Pauly, Die Verfassung der Paulskirche und ihre Folgewirkungen, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 3. Aufl. 2003, 93 (120, Rn. 47). 4 Ich beschränke mich auf das Handeln des nationalen Machtstaats nach außen. Nach innen ist der Machtstaat zwar häufig stärker rechtlich eingehegt (er ist nicht denknotwendig zugleich ein Obrigkeitsstaat), doch stets droht die äußere Skrupellosigkeit auf die Binnenverhältnisse durchzuschlagen, wie man dies an den USA unter der Präsidentschaft von George W. Bush beobachten konnte. In Deutschland zumindest war der nationale Machtstaat stets mit dem Obrigkeitsstaat verbunden. 2
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Thomas Giegerich
seiner Machtmittel vermeidet bzw. bestreitet er, soweit möglich, oder verletzt sie, soweit dies nötig und nicht zu kostspielig ist.5 Die Diskreditierung des deutschen nationalen Machtstaats erfolgte objektiv in zwei Stufen durch die beiden Weltkriege, die maßgeblich von Deutschland ausund mit schwersten Völkerrechtsverletzungen einhergingen. Die Niederlage von 1918 wurde freilich hierzulande subjektiv ganz überwiegend nicht als eine solche Diskreditierung empfunden, anders hingegen die bedingungslose Kapitulation von 1945. Deshalb war der verfassungsrechtliche Neuanfang in den Westzonen des völlig daniederliegenden und unter Besatzungsherrschaft stehenden Deutschlands 1949 auch viel leichter als 1919 – man hatte nichts mehr zu verlieren, nur zu gewinnen: nationale Einheit, internationales Ansehen und politische Mitsprache in nationalen und internationalen Angelegenheiten. Die Abkehr vom nationalen Machtstaat (ebenso wie vom Obrigkeitsstaat) vollzog sich in der zweiten „Bonner Republik“ daher auch viel gründlicher als in der ersten Weimarer Republik. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes bevorzugten – übrigens ohne entsprechende ausdrückliche Vorgaben der Westalliierten – das Gegenmodell eines europäisch und global „offenen“ Verfassungsstaats.6 Dies ist ein Staat, der sich als gleichberechtigtes Glied des vereinten Europas und der Weltgemeinschaft definiert, bewusst entsprechende völker- und europarechtliche Bindungen nach außen eingeht, um einen Beitrag zur effektiven rechtlichen Einbindung der Machtpolitik in Europa und der Welt zu leisten, und der zugleich nach innen Vorsorge für die wirksame Erfüllung seiner übernommenen Verpflichtungen trifft. Carlo Schmid führte in der 9. Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates am 6.5.1949 unter großem Beifall Folgendes aus: „Unser Grundgesetz verzichtet darauf, die Souveränität des Staates wie einen ‚Rocher de bronze‘ zu stabilisieren, es macht im Gegenteil die Abtretung von Hoheitsbefugnissen an internationale Organe leichter als irgendeine andere Verfassung in der Welt; es macht die all5
Auch dies lässt sich an den USA der Ära George W. Bush zeigen (Philippe Sands, Lawless World: America and the Making and Breaking of Global Rules [2005]). Siehe demgegenüber jetzt die Ansprache des neuen State Department Legal Adviser Harold Hongju Koh auf der Jahrestagung der American Society of International Law am 25.3.2010: The Obama Administration and International Law, abrufbar unter http://www.state.gov/ s/l/releases/remarks/139119.htm (7.5.2010). 6 Im Generalvertrag (Deutschlandvertrag) von 1952/54 mit den drei Westmächten (BGBl. 1955 II, 305) wurde die europäische und atlantische Einbindung der Bundesrepublik Deutschland dann völkervertraglich festgeschrieben, vgl. näher Thomas Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß (2003), 1167 ff.
Deutschlands Weg zum offenen Verfassungsstaat
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gemeinen Regeln des Völkerrechts zu Bestandteilen des Bundesrechtes und sieht darüber hinaus in der umfassendsten Weise den Anschluß Deutschlands an ein System internationaler Schiedsgerichtsbarkeit und kollektiver Sicherheit vor. Mit der Annahme dieser Bestimmungen wird unser Volk zeigen, daß es entschlossen ist, mit einer europäischen Tradition zu brechen, die in der ungehemmten Entfaltung der Macht des Nationalstaates den eigentlichen Beweger der Geschichte und ihren letzten Sinn sah.“7 Die offene Verfassungsstaatlichkeit des Grundgesetzes erschöpft sich aus meiner Sicht nicht in der eher widerwilligen Erfüllung nur der harten Rechtspflichten aus dem Völker- und Europarecht, sondern sie verlangt entschiedenes Engagement für die Fortentwicklung der international rule of law und der europäischen Einigung als aktiven Dienst am Weltfrieden. Anzustrebendes Ziel ist die Herbeiführung und Sicherung einer friedlichen und dauerhaften rechtsbasierten Ordnung im politisch vereinten Europa und zwischen den Völkern der Welt.8 Die Vorstellungen der bundesrepublikanischen Gründergeneration gingen wesentlich weiter über den deutschen Nationalstaat hinaus, als sich viele Heutige träumen lassen. Man wollte bei der damals anstehenden Reorganisation Deutschlands die „Tore in eine neu gestaltete überstaatliche politische Welt weit öffnen“.9 So befürwortete der Deutsche Bundestag 1950 nahezu einstimmig die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in einen europäischen Bundesstaat, und zwar auf der Grundlage des lapidaren Art. 24 Abs. 1 GG.10 Verfassungsrechtliche Schranken dieses Integrationshebels hat nicht der Verfassungsgeber festgelegt, sondern erst das Bundesverfassungsgericht dem Grundgesetz unterlegt;11 der verfassungsändernde Gesetzgeber hat sie später dann bereitwillig in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG übernommen. Heute bemüht man sich sogar, eine Gewährleistung der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands in Art. 20 Abs. 1 oder Abs. 2 GG hineinzulesen, um Art. 79 Abs. 3 GG als Geschütz gegen bundesstaatliche Fortentwicklungen der EU 7
Zitiert nach Dieter S. Lutz, Krieg und Frieden als Rechtsfrage im Parlamentarischen Rat 1948/49 (1982), 111 f. 8 Vgl. Art. 24 Abs. 2 GG. Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wirkt Deutschland außerdem mit bei der „Entwicklung“ der EU hin zu dem in der Präambel des GG vorgedachten vereinten Europa. Vgl. auch Art. 21 Abs. 1 Satz 1 EUV i.d.F. des Vertrags von Lissabon vom 13.12.2007 (konsolidierte Fassung des EUV in ABl. 2010 Nr. C 83/13). 9 So Carlo Schmid im Plenum des Parlamentarischen Rates, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949: Akten und Protokolle, Bd. IX (1996), 40 f. Vgl. auch Thomas Oppermann, Deutschland in guter Verfassung?, Juristenzeitung (JZ) 2009, 481 (490). 10 Vgl. Giegerich (Anm. 6), 1404 f. m.w.N. 11 BVerfGE 37, 271.
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Thomas Giegerich
auffahren zu können.12 Darüber hätten vor sechzig Jahren die meisten den Kopf geschüttelt, denn ihnen galten die „Vereinigten Staaten von Europa“ als Verheißung von Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand für unseren Kontinent. Im Sommer 2009 hat nun auch das Bundesverfassungsgericht ohne Not in den Chor der europäischen Antiföderalisten eingestimmt. Ungeachtet seiner zutreffenden Feststellung, dass die Europäische Union auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon keinen europäischen Bundesstaat bilden wird, fügte es seinem Urteil folgendes obiter dictum an: „Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten.“13 Dieses unnötige (und an der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG nicht teilnehmende) Dictum ist unhistorisch, weil es die Frage gar nicht stellt, ob das Deutsche Volk ebendiesen Willen bereits mit dem Erlass des Grundgesetzes erklärt hat. Es ist falsch, weil ein Volk mit dem Eintritt in einen Bundesstaat sein Selbstbestimmungsrecht nicht aufgibt, sondern verwirklicht.14 Außerdem definiert es kurzerhand die europäischen Föderalisten – auch den Verfasser dieser Zeilen als Mitglied der Europa-Union – zu Feinden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung um.15 Ihre Vereinigungen richten sich plötzlich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und sind deshalb eigentlich schon von Verfassungs wegen verboten (Art. 9 Abs. 2 GG). Glücklicherweise wird dieser Verbotstatbestand einschränkend dahingehend ausgelegt, dass er nur Vereinigungen mit aggressivkämpferischer Haltung erfasst.16
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Vgl. Giegerich (Anm. 6), 1411 ff. m.w.N. Urteil vom 30.6.2009, 2 BvE 2/08 u.a., Rn. 228. Offen gelassen noch in BVerfGE 89, 155 (188). 14 Vgl. den 5. Grundsatz der Erklärung über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Sinne der UNCharta (Resolution 2625 [XXV] der UN-Generalversammlung vom 24.10.1970, Sartorius II Nr. 4). 15 Kritisch Thomas Giegerich, The Federal Constitutional Court’s Judgment on the Treaty of Lisbon – The Last Word (German) Wisdom Ever Has to Say on European Union?, German Yearbook of International Law (GYIL) 52 (2009), 9 (17 ff.). 16 Wolfram Höfling, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 9, Rn. 46. 13
Deutschlands Weg zum offenen Verfassungsstaat
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B. Epochenwandel 1989/90: Keine Rückkehr zu nationalem Machtstaatsdenken Infolge seiner epochalen Grundentscheidung für den offenen Verfassungsstaat existiert Deutschland zum ersten Mal in der Geschichte nicht mehr in einer bestenfalls instabilen, schlimmstenfalls feindlichen Umwelt, die durch wechselnde Allianzen immer neu in ein fragiles Gleichgewicht gebracht werden muss. Vielmehr lebt es mit seinen Nachbarn in rechtlich gesicherter Harmonie – seit 1949 mit den westlichen, seit 1989 auch mit den östlichen Nachbarn. Gemeinsam bauen wir an festen Grundlagen für eine immer engere Union der Völker Europas,17 weil wir nur mit vereinten Kräften die Chance haben, „Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt“ effektiv zu fördern.18 Als Deutschland 1989/90 jedenfalls äußerlich betrachtet wieder ein „normaler“ Nationalstaat wurde, stand es vor der Frage, ob seine Völker- und Europarechtsfreundlichkeit letztlich nur ein Ausdruck seiner Schwäche während der Teilung gewesen sein sollte. In der Tat hatte man im Parlamentarischen Rat die Notwendigkeit erkannt, gerade in einer Zeit der größten Schwächung Deutschlands auf das Völkerrecht zu setzen und seinen Primat zu betonen.19 Dies geschah aber nicht im Sinne einer Maske, mit deren Hilfe man die nationale Einheit und volle Souveränität wiedererlangen und die man nach getaner Schuldigkeit dann fallen lassen wollte, sondern in der Hoffnung, anderen – Stärkeren – ein Beispiel zu geben, um damit eine dauerhafte Veränderung in den internationalen Verhältnissen einzuleiten. Die Deutschen strebten nach Wiedererlangung ihrer Souveränität, um diese dann aus freien Stücken in ein politisch, ökonomisch und konstitutionell geeintes Europa einzubringen.20 Ihr Grundgesetz sollte ein Provisorium sein, nicht aber ihre Entscheidung für den offenen Verfassungsstaat. Glücklicherweise hat sich die Fesselung des nationalen Machtstaatsdenkens in Deutschland nicht als bloßes Übergangsphänomen erwiesen. Im Gegenteil ist das wiedervereinigte Deutschland zur treibenden Kraft der erheblichen Vertiefungen und Erweiterungen des europäischen Integrationsprojekts seit 1992 geworden. So beruht die Grundrechtecharta der Europäischen Union vor allem auf einer deutschen Initiative, die in das Mandat des Europäischen Rates in Köln von 1999 und die nachfolgende Einsetzung eines Konvents unter der Leitung des früheren 17
3. und 13. Erwägung der Präambel des EU-Vertrags. Das Zitat entstammt der 11. Erwägung der Präambel des EU-Vertrags. 19 Vgl. Carlo Schmid in der 12. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates am 15.10.1948, zitiert nach Lutz (Anm. 7), 39 f. 20 Vgl. die diesbezüglichen Stellungnahmen Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat, wiedergegeben bei Giegerich (Anm. 6), 1400. 18
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Thomas Giegerich
Bundespräsidenten Roman Herzog mündete.21 Maßgebliche Anstöße zur Ausarbeitung einer „Verfassung für Europa“ gingen von Deutschland aus.22 Die „Hinüberrettung“ der wesentlichsten Bestandteile des gescheiterten europäischen Verfassungsprojekts von 200423 in den Vertrag von Lissabon von 200724 ist vor allem den Anstrengungen der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 zu verdanken. Auch auf universell-völkerrechtlicher Ebene hat Deutschland im positiven Sinne, d.h. im Sinne einer Synthese seiner nationalen Interessen mit denjenigen der internationalen Gemeinschaft, agiert: beispielsweise durch seinen Einsatz für rechtliche Vorgaben gegen den Klimawandel, die Mitbegründung einer allgemeinen internationalen Strafgerichtsbarkeit,25 seine lange überfällige (wenngleich noch durch zahlreiche Ausnahmen durchlöcherte)26 Unterwerfung unter die obligatorische Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs gemäß Art. 36 Abs. 2 des IGH-Statuts27 sowie sein ziviles und militärisches Engagement beim Wiederaufbau zerfallener oder instabiler Staaten. Selbst die deutsche Beteiligung am 21 Matthias Knecht, Präambel GRC, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar (2. Aufl. 2009), 2199, Rn. 7 f. 22 Vgl. insbesondere die Rede des damaligen Bundesaußenministers Joschka Fischer vom 12.5.2000, abrufbar unter http://www.zeit.de/reden/europapolitik/200106_20000512_ fischer?page=all (7.5.2010). 23 Vertrag über eine Verfassung für Europa vom 29.10.2004 (ABl. 2004 Nr. C 310/1). 24 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13.12.2007 (ABl. 2007 Nr. C 306/1). 25 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17.7.1998 (BGBl. 2000 II, 1394). 26 Das Ministerkomitee des Europarats hat in seiner Empfehlung CM/Rec(2008)8 vom 2.7.2008 den Regierungen der in dieser Hinsicht noch säumigen Mitgliedstaaten nicht nur die Anerkennung der obligatorischen Zuständigkeit des IGH empfohlen, sondern in der Präambel auch ganz zutreffend darauf hingewiesen „… that there is no requirement to make any reservations when accepting the jurisdiction of the International Court of Justice, and that some member states of the Council of Europe have indeed made declarations accepting the Court’s jurisdiction without reservations“. 27 Vgl. die entsprechende Unterrichtung des Deutschen Bundestages durch die Bundesregierung (BT Drs. 16/9218 vom 5.5.2008). Näher Christian J. Tams/Andreas Zimmermann, „[T]he Federation Shall Accede to Agreements Providing for General, Comprehensive and Compulsory International Arbitration“ – The German Optional Clause Declaration of 1 May 2008, GYIL 51 (2008), 391 ff., die auf den jahrzehntelang unerfüllt gebliebenen Verfassungsauftrag des Art. 24 Abs. 3 GG hinweisen, welcher sich allerdings seinem Wortlaut (wenngleich nicht seinem Geiste) nach auf eine (in der angesprochenen Form nie errichtete) internationale Schiedsgerichtsbarkeit beschränkt.
Deutschlands Weg zum offenen Verfassungsstaat
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NATO-Militäreinsatz zugunsten des Kosovo mag man positiv zum Beispiel für gelebte Verantwortungsethik wenden, denn sie erfolgte nicht zugunsten der Ausdehnung hegemonialer Einflusssphären, sondern im Sinne einer „responsibility to protect“.28 Freilich bleiben als negativer Aspekt erhebliche völkerrechtliche Zweifelsfragen, denen das Bundesverfassungsgericht ausweichen konnte,29 die aber möglicherweise der Internationale Gerichtshof im derzeit anhängigen Gutachtenverfahren klären wird.30 Es verwundert kaum, dass die deutsche politische Praxis auch kritikwürdige Seiten aufweist, die dem Bild des völker- und europarechtsfreundlichen Verfassungsstaats nicht gänzlich gerecht werden. Außer dem vorerwähnten negativen Aspekt des Kosovo-Einsatzes gehört hierher die widersprüchliche Haltung der Bundesregierung zur Aggression der USA und ihrer „Koalition der Willigen“ gegen den Irak von 2003, die man zwar nach außen ablehnte, intern indessen logistisch unterstützte.31 Weiterhin fällt eine Geringschätzung der völkerrecht28
Vgl. §§ 138 ff. der Resolution 60/1 der UN Generalversammlung vom 16.9.2005 (sog. World Summit Outcome), die in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs der UN-Mitgliedstaaten zusammentrat. Näher Andreas von Arnauld, Souveränität und responsibility to protect, Die Friedens-Warte 84 (2009), 11 ff. 29 Mit Beschluss vom 25.3.1999 hat es den Antrag einer Oppositionsfraktion gegen die von der Bundestagsmehrheit gebilligte deutsche Mitwirkung an den NATO-Operationen gegen Restjugoslawien im Organstreitverfahren mangels Antragsbefugnis als unzulässig verworfen (2 BvE 5/99): Das Organstreitverfahren diene „dem Schutz der Rechte der Staatsorgane im Verhältnis zueinander, nicht einer allgemeinen Verfassungsaufsicht“ (Absatz-Nr. 13 der Internet-Version, abrufbar unter www.bverfg.de) – und auch keiner allgemeinen Völkerrechtsaufsicht, wie man ergänzen mag. Vgl. auch den weiteren Beschluss vom 13.10.2009 (2 BvE 4/08), der die Bundesregierung nicht für verpflichtet hielt, nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo für den dortigen Bundeswehreinsatz einen erneuten konstitutiven Bundestagsbeschluss einzuholen. 30 Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence by the Provisional Institutions of Self-Government of Kosovo – Request for an Advisory Opinion transmitted to the Court pursuant to UN General Assembly resolution A/RES/63/3 of 8 October 2008. 31 Vgl. die Entscheidung des Generalbundesanwalts, mangels Anfangsverdachts kein Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der Bundesregierung wegen der Vorbereitung eines Angriffskrieges (§ 80 StGB) einzuleiten, JZ 2003, 908 ff. mit Anmerkung von Claus Kreß. Vgl. auch BVerwGE 127, 302: Unverbindlichkeit eines Befehls im Zusammenhang mit der möglicherweise rechtswidrigen deutschen Unterstützung für den Irak-Krieg infolge einer entgegenstehenden Gewissensentscheidung des Soldaten. Das BVerfG lehnte eine einstweilige Anordnung gegen den Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen zum Schutz des türkischen Luftraums vor möglichen irakischen Gegenschlägen zwar ab (BVerfGE 108, 34), hielt den Hauptsacheantrag dann aber fünf Jahre später für begründet (BVerfGE 121, 135).
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Thomas Giegerich
lichen Gewährleistungen von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten durch die deutsche Politik ins Auge, wie sie sinnfällig wird in der langjährigen Vernachlässigung der Europäischen Sozialcharta und ihrer Protokolle32 und ganz entsprechend der Nichtzeichnung des Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.33 Auch die zahlreichen deutschen Vorbehalte und Erklärungen zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes,34 die Ablehnung des 12. Protokolls zur EMRK,35 das den Schutz gegen Diskriminierungen verbessern soll, sowie die zögerliche und halbherzige Umsetzung der EG-Antidiskriminierungsrichtlinien36 zähle ich hinzu. Vor der internationalen Durchsetzung von Diskriminierungsverboten hat Deutschland sich in einem Fall sogar durch die Einlegung eines wegen Unvereinbarkeit mit dem Ziel und Zweck des betreffenden Vertrages unwirksamen Vorbehalts vergeblich zu schützen versucht.37 Schließlich hat der verfassungsändernde Gesetzgeber Fortschritte bei der europäischen Integration durch das Erfordernis verfassungsändernder Mehrheiten in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG entgegen der bewussten Entscheidung des Parlamentarischen Rats38 erschwert. Immerhin hat er damit zugleich die verfassungsrechtliche Legitimationsgrundlage der deutschen Europapolitik verstärkt, und zwar unter dem Eindruck von Verwerfungen im 32
Thomas Giegerich, Menschenrechtsübereinkommen des Europarats, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1 (2010), § 148, Rn. 104 f. 33 Vom 10.12.2008 (Res. 63/117 der UN-Generalversammlung). Das Fakultativprotokoll führt eine Individualbeschwerde gegen Verletzungen der im Internationalen Pakt gewährleisteten Rechte ein, die auch für Deutschland verbindlich sind. Es wurde am 24.9.2009 zur Zeichnung aufgelegt und ist noch nicht in Kraft. 34 Vom 20.11.1989 (BGBl. 1992 II, 122). Die deutschen Erklärungen sind in BGBl. 1992 II, 990 veröffentlicht. Kritisch auch Christian Tomuschat, Verwirrung über die Kinderrechte-Konvention der Vereinten Nationen, in: F. Ruland/H.-J. Papier/B. Baron von Maydell (Hrsg.), Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats – Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag (1998), 1143 ff. 35 Vom 4.11.2000 (CETS No. 177). 36 Vgl. Michael Holoubek, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 13 EGV, Rn. 18. Der EuGH hat Deutschland wegen nicht fristgerechter Umsetzung zweimal im Vertragsverletzungsverfahren verurteilt. 37 Buchst. c des Vorbehalts zu Art. 5 des Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966 (BGBl. 1994 II, 311). Dazu Thomas Giegerich, Völkerrechtliche Grundlagen des europäischen und deutschen Antidiskriminierungsrechts, in: Ursula Rust/Josef Falke (Hrsg.), AGG (2007), 33 (49, Rn. 65). 38 Hermann von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz (1953), Art. 24, Anm. 1, 3: Besonderes Gewicht sei bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat darauf gelegt worden, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten durch einfaches Gesetz erfolgen könne.
Deutschlands Weg zum offenen Verfassungsstaat
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deutschen Verfassungsgefüge infolge der Integration, die der Parlamentarische Rat nicht vorausgesehen hatte.
C. Karlsruher Begleitmusik: Die Europa- und Weltoffenheit des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat den außen- und europapolitisch Verantwortlichen in Exekutive und Legislative den erforderlichen verfassungsrechtlichen Spielraum gelassen, ohne den sie die deutsche Eingliederung in die EU und die Weltgemeinschaft nicht hätten verwirklichen können. In den einschlägigen Verfahren erlegt es sich regelmäßig große Zurückhaltung auf. Beispielsweise beanstandet es die völkerrechtlichen Rechtsauffassungen der zuständigen Organe der auswärtigen Gewalt nur, wenn diese willkürlich, d.h. unter keinem auch außenpolitisch vernünftigen Gesichtspunkt mehr verständlich sind.39 Die Bundesregierung ist auch weitgehend befugt, an der Fortbildung völkerrechtlicher Verträge unterhalb der Schwelle förmlicher Vertragsänderungen mitzuwirken, ohne jeweils eine erneute Ermächtigung durch den Bundesgesetzgeber gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG einholen zu müssen.40 Das Gericht erkennt an, dass die Resultate internationaler Verhandlungen wegen der notwendigen Einigung mit den Vertragspartnern nicht in gleicher Weise am Maßstab des Grundgesetzes gemessen werden können wie von den deutschen Organen autonom gesetzte Akte.41 In Bezug auf Einschränkungen der außenpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland hat es das Bundesverfassungsgericht unter besonderen Umständen sogar hingenommen, dass ein völkerrechtlicher Vertrag mit Grundrechten unvereinbar war, wenn der durch ihn geschaffene Rechtszustand jedenfalls „näher beim Grundgesetz“ lag als der vorhergehende.42 Bereitwillig hat die Karlsruher Rechtsprechung zur effektiven Durchsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen des deutschen Staates beigetragen. Insbesondere können Betroffene mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde Verletzungen allgemeiner Regeln des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG in Verbindung mit dem ein39
BVerfGE 55, 349 (367 f.). Thomas Giegerich, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt im europäisch-atlantischen Verfassungsstaat, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 57 (1997), 409 (459 ff.). 40 BVerfGE 104, 151. In BVerfGE 90, 286 (359 ff.) war es in dieser Hinsicht noch zu einem Stimmengleichstand im Sinne von § 15 Abs. 4 Satz 3 BVerfGG gekommen. 41 BVerfGE 68, 1 (107); 77, 170 (231 f.). Vgl. auch BVerfGE 92, 26. 42 BVerfGE 95, 39. Die Gleichsetzung des betr. Vertrages mit denjenigen, die eine besatzungsrechtliche Ordnung abbauten, erscheint wenig überzeugend. Vgl. Giegerich (Anm. 39), 538 ff.
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schlägigen Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht des Grundgesetzes zulässigerweise rügen.43 Gleiches gilt für die Missachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte44 und für die Nichtberücksichtigung der Entscheidungen anderer völkervertraglich geschaffener internationaler Gerichte.45 Obwohl völkerrechtliche Verträge nach Maßgabe des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG in der deutschen Rechtsordnung nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes einnehmen, prüft das Bundesverfassungsgericht deren Auslegung und Anwendung durch die Fachgerichte eingehend nach. Damit weicht es von der sonst üblichen „Heck’schen Formel“ ab, nach der fachgerichtliche Entscheidungen nur auf die Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts“ kontrolliert werden.46 Denn es sieht sich in der Verantwortung, Völkerrechtsverletzungen durch deutsche Gerichte, die eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands begründen könnten, nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen.47 Nicht nur das einfache Recht, sondern sogar das Grundgesetz selbst sei, soweit irgend möglich, völkerrechtskonform auszulegen.48 All dies erklärt das Bundesverfassungsgericht zum Ausfluss der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes.49 Die europäische Integration hat das Bundesverfassungsgericht u.a. gefördert durch die Zurücknahme seiner Grundrechtsprüfung gegenüber Sekundärrechtsakten der EG/EU in der Solange II-Rechtsprechung,50 die Anerkennung des Europäischen Gerichtshofs als gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG51 sowie zuletzt dadurch, dass es der lange etablierten Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ausdrücklich dessen Europarechtsfreundlichkeit an die 43
BVerfGE 31, 145 (177); 66, 39 (64); BVerfG (Kammer), Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2008, 878 (879). 44 BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (315 ff.). 45 BVerfG (Kammer), Beschluss vom 19.9.2006 (2 BvR 2115/01 u.a.), Absatz-Nr. 43 (betr. IGH). 46 BVerfGE 111, 307 (328). 47 Ebd. m.w.N. 48 Vgl. z.B. BVerfGE 111, 307 (317); BVerfG (Kammer), Beschluss vom 19.9.2006 (2 BvR 2115/01 u.a.), Absatz-Nr. 54. Alexander Proelß, Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG, in: Hartmut Rensen/ Stefan Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2009), 553 ff. 49 Mehrdad Payandeh, Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip, Jahrbuch des öffentlichen Rechts n.F. 57 (2009), 465 ff. 50 BVerfGE 73, 339; 102, 147; Urt. v. 13.3.2007 (1 BvF 1/05). Im Grundansatz vergleichbar die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Urt. v. 30.6.2005 (No. 45036/98) – Bosphorus. 51 BVerfGE 75, 223.
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Seite stellte – im selben Urteil, in dem es die Fortentwicklung der EU zum europäischen Bundesstaat auf der Grundlage des Grundgesetzes ausschloss.52 Zugunsten der europäischen Integration geradezu über seinen eigenen Schatten gesprungen ist das Gericht im Urteil zum Kommunalwahlrecht für Ausländer.53 Dort leitete es zunächst die Beschränkung des Wahlrechts in Bund, Ländern und Gemeinden auf Deutsche i.S. von Art. 116 Abs. 1 GG aus einer geschlossen-nationalstaatlichen Interpretation der Art. 20 Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG ab. In einem obiter dictum verneinte es dann aber ausdrücklich die nicht fernliegende Schlussfolgerung, dass die Einführung eines Kommunalwahlrechts für EU-Ausländer an Art. 79 Abs. 3 GG scheitern müsse.54 Ganz konsequent ist das Bundesverfassungsgericht in seiner Völker- und Europarechtsfreundlichkeit allerdings nicht. Beispielsweise interpretiert es Art. 25 GG unnötig restriktiv, indem es allein die Regeln des universellen, nicht aber des regional-europäischen Völkergewohnheitsrechts als „allgemein“ anerkennt und auch den erstgenannten keinen Verfassungsrang, sondern nur einen Zwischenrang unter dem Grundgesetz und über den einfachen Bundesgesetzen zubilligt.55 Weiterhin entnimmt es dem Grundgesetz eine Öffnung der innerstaatlichen Rechtsordnung für das Völkerrecht und die internationale Zusammenarbeit nur in den Formen einer „kontrollierten Bindung“.56 Dementsprechend hält es die deutschen Entscheidungsträger nur für verpflichtet, Völkerrechtsverletzungen „nach Möglichkeit“ zu vermeiden.57 Wann aber sollte diesen ein völkerrechtsgemäßes Verhalten „unmöglich“ sein – letztlich doch nur, wenn es die Verfassung selbst verbietet, mit anderen Worten: falls das Bundesverfassungsgericht die bewusste Entscheidung träfe, das Grundgesetz in einen Konflikt mit dem Völkerrecht zu bringen. Wenn das Gericht betont, das Grundgesetz nehme sowohl dem Völkerrecht als auch dem Europarecht gegenüber das „letzte Wort“ in Anspruch, dann meint es in Wirklichkeit sein eigenes letztes Wort.58 Geht es am Ende weni52
Urt. v. 30.6.2009 (2 BvE 2/08 u.a.), Absatz-Nr. 225. BVerfGE 83, 37. 54 Ebd., 59. Vgl. Thomas Giegerich, Unionsbürgerschaft, in: Reiner Schulze/Manfred Zuleeg/Stefan Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 9, Rn. 64. 55 BVerfGE 111, 307 (318 – obiter dictum). Vgl. demgegenüber die Stellungnahme zugunsten eines Überverfassungsrangs der allgemeinen Völkerrechtsregeln im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates, zit. nach Rudolf Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl. 2009, 152. Nach Hermann von Mangoldt sollte sich der Vorrang des Völkerrechts am Grundgesetz selbst, z.B. an Art. 1 GG, brechen, ders., (Anm. 38), Art. 25, Anm. 3. 56 BVerfGE 112, 1 (25). 57 BVerfGE 112, 1 (26). 58 BVerfGE 111, 307 (318 f.); 112, 1 (25 f.); Urt. v. 30.6.2009 (2 BvR 2/08 u.a.), Absatz-Nr. 240 ff. 53
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ger um die Sache als um einen Machtkampf der nationalen mit den internationalen und supranationalen Eliten? Mitunter gewinnt man den Eindruck, das Bundesverfassungsgericht stehe dem immer noch lückenhaften Völkerrecht aufgeschlossener gegenüber als dem viel stärker durchgebildeten Europarecht. Der europäischen Integration hat es eine für völkerrechtliche Vertragsbeziehungen unbekannte prozessuale Hürde errichtet, indem es auf der Grundlage des Art. 38 GG Popularverfassungsbeschwerden aller Deutschen gegen jedwede Integrationsvertiefung zulässt.59 Zu dieser Überdehnung des Art. 38 GG tritt neuerdings eine europaskeptische Aufladung der Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG, die anscheinend als Instrument zu einer Feinsteuerung der deutschen Europapolitik genutzt werden soll.60 Umgekehrt steht die Verfassungsbeschwerde zur europafreundlichen Durchsetzung der Grundfreiheiten des Binnenmarktes nicht zur Verfügung: Das Europarecht ist verfassungsprozessual damit schlechter bewehrt als das allgemeine Völkerrecht.61 Inhaltlich öffnet das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte, grundrechtsgleichen Gewährleistungen und rechtsstaatlichen Prinzipien des Grundgesetzes zwar bereitwillig den Einflüssen der Menschenrechte und Grundfreiheiten der EMRK in ihrer Interpretation durch den Straßburger Gerichtshof,62 bisher aber nur zögerlich den Marktfreiheiten und Grundrechten des EU-Rechts in ihrer Interpretation durch den Luxemburger Gerichtshof. So hätte es sich im Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der Tariftreuepflicht nach Berliner Landesrecht angeboten, Vorgaben der Dienstleistungsfreiheit (Arts. 56 ff. AEUV) im Lichte der EuGH-Rechtsprechung63 in die Interpretation des Art. 12 GG einzubeziehen; dies ist aber nicht geschehen.64 Demgegenüber wird im Urteil zum Sportwettenmonopol der Gleichklang der Anforderungen aus der Dienstleistungsfreiheit und aus Art. 12 Abs. 1 GG betont.65 Zuletzt hat das Gericht neben der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch Art. 13 EGV (jetzt Art. 19 AEUV) und Art. 21 Abs. 1 der 59
BVerfGE 89, 155; weitergeführt im Urt. v. 30.6.2009 (2 BvR 2/08 u.a.). Ob auf dieser Grundlage Verfassungsbeschwerden sogar gegen europapolitische Einzelentscheidungen (z.B. die Griechenland-Hilfe) zulässig sind, ist noch nicht geklärt, vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.5.2010 (2 BvR 987/10), Absatz-Nr. 24. 60 BVerfG, Urt. v. 30.6.2009 (2 BvR 2/08 u.a.). 61 BVerfGE 110, 141 (154 f.). Kritisch bereits Thomas Giegerich, Die Verfassungsbeschwerde an der Schnittstelle von deutschem, internationalem und supranationalem Recht, in: Christoph Grabenwarter u.a. (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft (1994), 101 (117 ff.). 62 BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (315 ff.). 63 Urteil vom 3.4.2008 (Rs. C-346/06 – Rüffert). 64 BVerfGE 116, 202. 65 BVerfGE 115, 276 (316 f.).
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EU-Grundrechtecharta angeführt, um zu begründen, dass Ungleichbehandlungen auf Grund der sexuellen Orientierung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG einer strengen Kontrolle unterliegen.66 Während mit allgemeinen Regeln des Völkerrechts unvereinbare Bundesgesetze zugleich gegen Art. 25 GG verstoßen und deshalb nichtig sind, wird ein entsprechender Verstoß europarechtswidriger Bundesgesetze gegen Art. 23 Abs. 1 GG nicht angenommen, nicht einmal für solche, die das Primärrecht verletzen.67 Hängt dies damit zusammen, dass es relativ wenige allgemeine Regeln des Völkerrechts, aber sehr viele Regeln des (primären) Europarechts gibt? Oder liegt es daran, dass das Bundesverfassungsgericht über die Völkerrechtswidrigkeit selbst entscheiden kann,68 während es für den Europarechtsverstoß – von actes clairs abgesehen – den Gerichtshof der EU einschalten müsste?69 Wenig europafreundlich sind auch die Drohgebärden einiger bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen gegenüber dem Gerichtshof der Europäischen Union, insbesondere der Popanz des „ausbrechenden Rechtsakts“ oder neuerdings ultravires-Akts.70 Für die europäischen Verträge und das Grundgesetz sind nur solche EU-Akte ultra vires ergangen, die vom hierfür allein zuständigen Gerichtshof der EU wegen Verstoßes gegen das Primärrecht für nichtig erklärt worden sind.71 Weist der Gerichtshof entsprechende Angriffe gegen einen EU-Akt ab, ist dieser europaweit wirksam. Gegenüber Andeutungen des Bundesverfassungsgerichts, EuGHEntscheidungen könnten selbst „ausbrechen“ und damit unverbindlich sein, ist auf Folgendes hinzuweisen: Nichtige Gerichtsentscheidungen sind zwar theoretisch vorstellbar, kommen aber praktisch in Luxemburg genauso häufig vor wie in Karlsruhe. Von Seiten des Bundesverfassungsgerichts bisher nicht ausreichend erfüllt worden ist das dem Gerichtshof der EU gegebene Kooperationsversprechen.72 Erweisen müsste es sich am Vorabentscheidungsverfahren als der Schnittstelle zwischen nationaler und europäischer Gerichtsbarkeit (Art. 267 AEUV). Hier hat das Bundesverfassungsgericht Prozessparteien zwar die Möglichkeit eröffnet, Verletzungen der Vorlagepflicht durch letztinstanzliche Fachgerichte unter Beru66 Urteil vom 7.7.2009 (1 BvR 1164/07), Absatz-Nr. 88. Dagegen Christian Hillgruber, Anmerkung, JZ 2010, 41 (43 f.). 67 BVerfGE 110, 141 (154 f.). 68 Vgl. Art. 100 Abs. 2 GG. 69 Art. 267 Abs. 3 AEUV. 70 BVerfGE 89, 155 (188); Urt. v. 30.6.2009 (2 BvE 2/08 u.a.), Absatz-Nr. 240 f. Kritisch Giegerich (Anm. 15), 25 ff. 71 Art. 263, 264 und 267 AEUV. 72 BVerfGE 89, 155 (175).
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fung auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu rügen. Sein Prüfungsmaßstab läuft aber auf eine bloße Willkürkontrolle hinaus und ist so grobmaschig, dass derartige Verfassungsbeschwerden kaum jemals Aussicht auf Erfolg haben.73 Damit bleiben zahlreiche Verstöße gegen die Vorlagepflicht in Deutschland ungeheilt. Wieso sieht es das Bundesverfassungsgericht als seine besondere Verantwortung an, Völkerrechtsverstöße durch die Fachgerichte zu reparieren,74 nicht hingegen Europarechtsverstöße? Mehr noch: Wenn das Bundesverfassungsgericht die entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV vorgenommene eigenmächtige Interpretation des Europarechts durch das Fachgericht ebenso eigenmächtig auf ihre Vertretbarkeit prüft, verletzt es seinerseits die Vorlagepflicht. Überdies bringt es sich in eine unangenehme Situation, wenn seine manchmal seitenlangen eigenen Auslegungskünste durch eine spätere anders lautende Entscheidung des Gerichtshofs der EU als ungenügend entlarvt werden.75 Bei alledem fällt auf, dass das Bundesverfassungsgericht Verletzungen der Vorlagepflicht aus Art. 100 Abs. 2 GG viel strikter ahndet, wenn sie ihm mittels einer auf denselben Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gestützten Verfassungsbeschwerde unterbreitet werden.76 Sollte ihm der Schutz des eigenen Entscheidungsmonopols, das dem Interesse an der Einhaltung des Völkerrechts dient, mehr am Herzen liegen als der Schutz des Entscheidungsmonopols des Gerichtshofs der EU, das im Interesse an der Einhaltung des Europarechts besteht? Dass das Bundesverfassungsgericht selbst bisher kein einziges Vorabentscheidungsersuchen an die Luxemburger Kolleginnen und Kollegen gerichtet hat, sei ebenfalls vermerkt. Zuletzt hat es eine Vorlage in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung für unnötig erklärt.77 Es trifft zwar formal betrachtet zu, dass die einschlägige EG-Richtlinie dem deutschen Gesetzgeber hinreichenden Spielraum belässt, um sie im Einklang mit den vom Bundesverfassungsgericht näher definierten Vorgaben aus den Grundrechten des Grundgesetzes umzusetzen. Die Frage ist jedoch, welche gegebenenfalls weitergehenden Vorgaben die Grundrechte des europäischen Primärrechts machen und ob die Richtlinie möglicherweise ganz oder teilweise mit diesen unvereinbar und deshalb (insoweit) nichtig
73
BVerfGE 82, 159 (195 f.); BVerfG, NVwZ-Rechtsprechungsreport 2008, 658. Kritisch zuletzt Wolfgang Roth, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der Vorlagepflicht an den EuGH, NVwZ 2009, 345 ff. Strikter jetzt BVerfG (Kammer), NJW 2010, 1268 (1269). 74 Siehe oben Text bei Anm. 47. 75 Vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 1.4.2008 (Rs. C-267/06 – Maruko) gegen BVerfG (Kammer), Beschl. v. 20.9.2007 (2 BvR 855/06). 76 BVerfGE 23, 288; 100, 209 (211); BVerfG (Kammer), NVwZ 2008, 878 (879). 77 Urteil vom 2.3.2010 (1 BvR 256/08 u.a.), Absatz-Nr. 185 ff.
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ist.78 Eine Klärung dieser Frage durch den Gerichtshof der EU war auch für das Bundesverfassungsgericht entscheidungserheblich, weil ihre Beantwortung über das Bestehen und die genaue Reichweite der deutschen Umsetzungspflicht und damit auch die europarechtlichen Rücksichtnahmepflichten des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die genaue Tenorierung seines eigenen Urteils mitentschieden hätte.79 In „wettbewerbspolitischer“ Perspektive wollte das Bundesverfassungsgericht die Grundrechtsfragen möglicherweise vor dem Luxemburger Gerichtshof klären, um für dessen zukünftige Entscheidung einen Akzent zu setzen. Den bisherigen Tiefpunkt bildet freilich das bundesverfassungsgerichtliche Urteil zum Europäischen Haftbefehl mit seiner Aussage zur demokratischen Legitimation von Rechtsakten in der früheren dritten Säule der EU. Diese soll sich gerade daraus ergeben, dass die mitgliedstaatlichen Legislativorgane ihnen die Umsetzung zwar unter Verstoß gegen den Vertrag, aber mangels Zuständigkeit des EuGH ungestraft, verweigern könnten.80 Für mich ist diese „Legitimation durch Rechtsbruch“ eine Verhöhnung des Rechtsstaatsgedankens.81 Dieses Urteil ist noch aus einem weiteren Grund kritikwürdig. Denn es erklärte das deutsche Umsetzungsgesetz zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl ohne Not für insgesamt nichtig, um den Gesetzgeber „abzustrafen“, der aus Karlsruher Sicht zu unbekümmert über Art. 16 Abs. 2 GG hinweggegangen war. Keine Rücksicht nahm der Senat darauf, dass Deutschland dadurch seine Verpflichtungen aus Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV (a.F.) bis zum Erlass eines neuen verfassungsmäßigen Umsetzungsgesetzes notwendigerweise verletzte. Während dieser Umstand aber damals wenigstens noch in zwei abweichenden Meinungen kritisiert wurde,82 kommt das entsprechende Problem bei der Nichtigerklärung der deutschen gesetzlichen Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung, die auf einer EG-Richtlinie beruhten, gar nicht mehr zur Sprache, weder im Urteil selbst noch in den abweichenden Meinungen.83
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Der EuGH hatte in seinem Urteil vom 10.2.2009 (Rs. C-301/06) in Bezug auf die nämliche Richtlinie nur die Kompetenzfrage zugunsten der EG geklärt, nicht jedoch die grundrechtliche Problematik (Rn. 57). 79 s.u. Text bei Anm. 82 ff. 80 BVerfGE 113, 273 (301). 81 Vgl. treffend die abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff zum vorgenannten Urteil (ebd., 327 [336]): „Wo man demokratische Legitimation in der Freiheit des Parlaments zum Verstoß gegen Unionsrecht aufsuchen zu müssen glaubt, liegt etwas im Argen.“ 82 Dagegen die abweichenden Meinungen von Lübbe-Wolff und Gerhardt, BVerfGE 113, 273 (338 f. und 347 f.). 83 Urteil vom 2.3.2010 (1 BvR 256/08 u.a.).
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Die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes hält im Zusammenspiel mit dem Loyalitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 EUV das Bundesverfassungsgericht zumindest dazu an, auf die europarechtlichen Verpflichtungen des deutschen Mitgliedstaates Rücksicht zu nehmen und seine Tenorierungen folglich möglichst so zu fassen, dass Deutschland nicht in die Vertragsverletzung getrieben wird. Zur Verfügung steht ihm hierfür ggf. die Erklärung der Unvereinbarkeit des Umsetzungsgesetzes mit dem Grundgesetz, verbunden mit der Setzung einer Frist zu seiner verfassungskonformen Änderung und der Anordnung, das an sich verfassungswidrige Gesetz bis dahin (u.U. modifiziert) weiter anzuwenden. Diese Instrumente verwendet das Bundesverfassungsgericht sonst, wenn die Nichtigerklärung eines Gesetzes von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter wegführen würde als der derzeitige Zustand.84
D. Mehr Offenheit wagen – Völker- und Europarechtsfreundlichkeit ernst genommen Keiner dieser politischen und verfassungsgerichtlichen Wermutstropfen ist verfassungsrechtlich unabdingbar; alle sind sie Ausfluss (rechts- und verfassungs-) politischer Entscheidungen zuungunsten der internationalen und europäischen Offenheit. Warum lautet die Devise der deutschen Entscheidungsträger in allen drei Gewalten nicht stattdessen, so völker- und europarechtsfreundlich wie möglich zu handeln? Dafür bietet das Grundgesetz praktisch unbegrenzten Spielraum. Warum bezieht man z.B. die Völker- und Europarechtsfreundlichkeit nicht über das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG)85 in die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG ein und macht damit die Erfüllung aller völker- und europarechtlichen Verpflichtungen zu einem Bestandteil der deutschen Staatsräson? Zweifelsohne ist das Grundgesetz nicht auf die Abschaffung des deutschen Nationalstaats angelegt. Im Gegenteil war die Selbstbestimmung des Deutschen Volkes im Nationalstaat den Verfassungsvätern und -müttern von 1948/49 ein wichtiges, erst 1990 erfülltes Anliegen.86 Dieses Anliegen sollte allerdings von vornherein nur im Rahmen des Völkerrechts und der europäischen Integration verwirklicht werden, weil es nur in diesem Rahmen realisiert werden konnte und 84
Vgl. Eckart Klein, in: Ernst Benda/Eckart Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 1267 ff. 85 Art. 5 Abs. 4 der Schweizerischen Bundesverfassung von 1999 zählt die Beachtung des Völkerrechts durch Bund und Kantone zu den Grundsätzen rechtsstaatlichen Handelns. 86 Vgl. das Wiedervereinigungsgebot in der ursprünglichen Fassung der Präambel des GG; dazu BVerfGE 36, 1.
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kann. Die nationale Selbstbestimmung und Verfassungsautonomie endet deshalb auch aus Sicht des Grundgesetzes an den bindenden Normen des internationalen und des supranationalen Rechts. Denn allein in diesem normativen Rahmen vermag Deutschland als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt verlässlich zu dienen, wie es ihm die Präambel vorschreibt. Daher setzt das Grundgesetz seine Verfassungswerte auch keineswegs absolut, sondern verlangt vom deutschen Verfassungsleben, sich im Rahmen des Völkerund Europarechts und in Wechselwirkung mit diesem zu entwickeln, und nicht in Opposition dazu.87 Das erste Gebot einer offenen Verfassungsordnung an die verfasste Gewalt lautet: „Du sollst selbst in deine grundlegenden Verfassungswerte keinen Gegensatz zum Völker- oder Europarecht hineininterpretieren.“ Dementsprechend muss Deutschland zwar im Sinne seiner grundgesetzlichen Werte auf den Inhalt völkerund europarechtlicher Normen Einfluss nehmen. Im Vorfeld rechtskräftiger Entscheidungen zuständiger internationaler und supranationaler Gerichte, welche im Europarecht die Regel, im Völkerrecht dagegen die Ausnahme sind, dürfen und müssen deutsche Staatsorgane den völker- oder europarechtlichen Normen möglichst einen mit den grundgesetzlichen Werten vereinbaren Inhalt zuschreiben. Liegt der Inhalt des internationalen oder supranationalen Rechts aber einmal auch für Deutschland rechtskräftig fest, so gewährt das Grundgesetz dagegen kein „Widerstandsrecht“ im Sinne eines Aktes der nationalen Selbstbehauptung, zumal die deutschen Verfassungswerte durchweg völker- und europarechtskonform interpretiert werden können.88 Das Grundgesetz sieht das sich verdichtende Geflecht des Völker- und Europarecht nicht als Gefahr für den deutschen Nationalstaat und seine Verfassungsordnung an, sondern als Mittel zu seiner Sicherung und Fortentwicklung. Vor sechzig Jahren war angesichts des Scheiterns der Weimarer Reichsverfassung auch die Fähigkeit des Deutschen Volkes diskreditiert, aus eigener Kraft einen stabilen demokratischen Verfassungsstaat zu errichten und zu bewahren. Deshalb erschienen externe Sicherungen durch eine völker- und europarechtliche Nebenverfassung unabdingbar. Für einen in 60 Jahren gereiften deutschen Verfassungsstaat sind diese sicherlich weit weniger dringlich. Aber die Ereignisse in den USA seit 2001 zeigen,
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Zur Relativität des deutschen Verfassungsstaats Giegerich (Anm. 6), 1393 f. Vgl. demgegenüber Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit (2007), 254 ff., der die „nationale Selbstbehauptung“ als notwendiges Korrektiv einer überstaatlichen Gewaltenbalance ansieht. 88
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dass auch reife demokratische Verfassungsstaaten gut daran tun, sich vor dem Sirenengesang der Unmenschen beizeiten an einen stabilen Mast zu binden.89 Völker- und Europarecht ist für Deutschland kein oktroyiertes fremdes, sondern mitgestaltetes gemeinschaftliches Recht. Entgegen den Vorstellungen mancher Dualisten besteht deshalb auch keine Notwendigkeit, vor den angeblich verderblichen Einflüssen einer feindlichen Rechtsumwelt die Zugbrücke hochzuziehen. Im Gegenteil kommt nach bisheriger Erfahrung aus dem Völker- und Europarecht manches Ungewohnte, nicht selten Heilsames, aber niemals verfassungsrechtlich Unerträgliches in die deutsche Rechtsordnung. Demgegenüber haben verfassungsrechtliche Sonderwege wie z.B. der monarchische Konstitutionalismus Deutschland wenig Segen gebracht. Selbst des Grundgesetzes „liebstes Kind“, die Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG, ist in Wahrheit ein Adoptivkind aus der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.90 Lediglich ihre Ausgestaltung zum Individualgrundrecht91 stellt eine deutsche Spezialität dar.92 Einen ersten echten Konfliktfall zwischen Völkerrecht und Grundgesetz hätten allerdings die individualisierten Sanktionen des UN-Sicherheitsrats heraufbeschwören können, doch hat uns davor das Kadi-Urteil des EuGH bewahrt:93 Es bildet ein Beispiel dafür, dass die Europäische Union grundlegende Verfassungswerte nicht gefährdet, sondern mit vereinten Kräften nach außen schützt.94 Freilich schmeckt 89
Vgl. auch die abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff zum Urteil des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl (BVerfGE 113, 273 [327, 336]): „… Sinn dieser Bestimmung [d.h. des Art. 79 Abs. 3 GG] ist es, einen Rückfall unseres Landes in Diktatur und Barbarei auszuschließen, und nichts dient diesem Ziel mit höherer Wahrscheinlichkeit als Deutschlands Integration in die Europäische Union.“ Zur Notwendigkeit einer völkerrechtlichen Nebenverfassung Christian Tomuschat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII (1992), § 172, Rn. 73. 90 Quellen sind die 2. Erwägung der Präambel der UN-Charta vom 26.6.1945 (Sartorius II Nr. 1) und die 1. Erwägung der Präambel sowie Art. 1 und Art. 23 Ziff. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 (Sartorius II Nr. 15). Näher Daniel Eberhardt, Der Einfluss der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf die Grundrechtsberatungen des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat, MenschenRechtsMagazin 2009, 162 (166 f.). 91 Matthias Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, Rn. 29 m.w.N. (Mai 2009). 92 Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin in der Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen), Slg. 2004, I-9609, 9632 ff. 93 Urt. v. 3.9.2008 (Rs. C-402/05 P u.a.). Vgl. aber auch BVerfGE 30, 1, wo Sicherheitsinteressen elementaren Rechtsschutzinteressen übergeordnet worden waren. 94 Das Schweizerische Bundesgericht hat eine vergleichbare Klage am 14.11.2007 abgewiesen (1A.45/2007, BGE 133 II 450, abrufbar unter http://www.bger.ch/index/
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man einen Wermutstropfen auch hier, denn der vom EuGH zugrunde gelegte dualistische Ansatz für das Verhältnis von EU-Recht und Völkerrecht macht Völkerrechtsverletzungen nicht nur der EU, sondern auch ihrer Mitgliedstaaten wahrscheinlicher.95 Schließlich wollte die Europäische Gemeinschaft mit der für nichtig erklärten Verordnung doch völkerrechtliche Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten aus Art. 25 der UN-Charta in Verbindung mit dem Sanktionsbeschluss des Sicherheitsrats nach Art. 41 der UN-Charta erfüllen. Immerhin hielt der Gerichtshof die Wirkungen der Verordnung vorläufig aufrecht und wahrte damit die Möglichkeit, eine Verletzung der UN-Charta zu vermeiden – eine Gelegenheit, die von der Europäischen Kommission genutzt wurde, indem sie die Beanstandungen des EuGH nachträglich auszuräumen versuchte.96 Im Übrigen erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, eine stellvertretende Gerichtsbarkeit regionaler Gerichte über die Völkerrechtmäßigkeit von Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats zu konstruieren, solange diese keiner effektiven Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs unterliegen.97 Immerhin hat das Kadi-Urteil auf UN-Ebene einen Prozess des Umdenkens hin zu besserem Grundrechtsschutz gegenüber individualisierten Sanktionsbeschlüssen eingeleitet.98 Im Gegensatz zu nationalstaatsromantischen Vorstellungen ermöglicht es die völker- und europarechtliche Einbindung dem deutschen Staat, in der Mitentscheidung Souveränität wiederzugewinnen, die er für nationale Alleingänge faktisch längst verloren hat. Zudem bietet sie ihm die Chance, andere Staaten von deutschen Verfassungswerten zu überzeugen und diesen durch ihre Rezeption in das internationale oder supranationale Recht europa- oder sogar weltweite Wirkkraft zu verleihen. Nationale Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung erfolgt heute überwiegend in der Form gleichberechtigter Eingliederung in überstaatliche Gemeinschaften. Der Staat ist der Güter höchstes längst nicht mehr, weil seine Fähigkeit zur Gewährleistung des Gemeinwohls allenthalben an immer deutlichere juridiction.htm). Die Individualbeschwerde des unterlegenen Klägers ist derzeit beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig. 95 Kritisch z.B. Bardo Fassbender, Triepel in Luxemburg, Die Öffentliche Verwaltung 2010, 333 ff. 96 Verordnung (EG) Nr. 1190/2008 vom 28.11.2008 (ABl. Nr. L 322/25). 97 Thomas Giegerich, The Is and the Ought of International Constitutionalism, German Law Journal vol. 10 no. 1 (2009), 31 (57 f.). 98 Durch Resolution 1904 (2009) vom 17.12.2009 hat der UN-Sicherheitsrat als ersten kleinen Schritt eine unabhängige Ombudsstelle eingerichtet, an die sich betroffene Individuen wenden können. In den selbstkritischen Begründungserwägungen ihrer Präambel heißt es: „Taking note of challenges, both legal and otherwise, to the [individualized sanctions] implemented by Member States … and expressing its intent to continue efforts to ensure that procedures are fair and clear“.
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Grenzen stößt. So bleibt die nationalstaatliche Verfasstheit von Völkern eine zwar weiterhin notwendige, sie ist aber längst keine hinreichende Bedingung mehr für ein Leben in Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Abgewehrt werden muss deshalb auch der Versuch, die (demokratische) Legitimität des Völker- und Europarechts zu minimieren oder gar zu negieren, um seine Missachtung in das rosige Licht eines national-demokratischen Elementarrechts zu tauchen.99 Denn die Selbstbehauptung des Deutschen Volkes und das Überleben der Menschheit insgesamt hängen an der international rule of law. Völker- und Europarecht sind entscheidende Grundlagen für die Bewahrung und den Ausbau dieser Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen. Wir dürfen sie nicht delegitimieren, sondern müssen ihre gewiss verbesserungsbedürftige Legitimation mit aller Kraft zu stärken suchen.100 Die Alternative zur international rule of law liegt nämlich in der weit weniger legitimen und gerade von den europäischen Kleinund Mittelstaaten jeweils für sich nur bedingt steuerbaren international rule of power. Selbst in der Schweiz, wo die direkte Demokratie eine weltweit beispiellose Bedeutung hat, sind Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung von der Bundesversammlung für ungültig zu erklären, soweit sie zwingende Bestimmungen des Völkerrechts (jus cogens) verletzen: Allgemeingültiges Recht setzt sich gegenüber partikulärer Demokratie durch.101 Wir Menschen können es uns nicht leisten, die Herrschaft des Völkerrechts erst an dem Tag beginnen zu lassen, an dem eine demokratische Weltrepublik gegründet wird. Da die Machtpolitik aus den internationalen Beziehungen bisher aber leider nicht verschwunden ist, kann auch Deutschland nicht ganz auf sie verzichten. Hierher gehört etwa sein Streben nach einer ständigen Mitgliedschaft im UNSicherheitsrat,102 solange die vorzugswürdige ständige Mitgliedschaft der EU 99
Vgl. BVerfG (Kammer), Beschluss vom 29.5.2007 (2 BvR 695/07), Absatz-Nr. 35, wo angedeutet wird, dass der Sofortvollzug eines kommunalen Bürgerentscheids als authentische Ausdrucksform direkter Demokratie schwerer wiegen könnte als entgegenstehende völkervertragliche Pflichten aus dem UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt vom 23.11.1972 (BGBl. 1977 II, 213). BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, wo das Europäische Parlament als Mitgesetzgeber der EU mangels Wahlrechtsgleichheit bei den Europawahlen – die auf absehbare Zeit schlechterdings nicht herstellbar ist – demokratisch delegitimiert wird (Absatz-Nr. 282 ff.). 100 Vgl. auch Heike Krieger, Die Herrschaft der Fremden – Zur demokratietheoretischen Kritik des Völkerrechts, Archiv des öffentlichen Rechts 133 (2008), 315 ff. 101 Art. 139 Abs. 2 der Bundesverfassung von 1999 in der Fassung von 2003. Siehe auch Robert Kolb, Völkerrecht und Völkerpolitik: Gedanken zur Minarettinitiative, Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht 2009, 467 ff. 102 Vgl. die Rede des Ständigen Vertreters Deutschlands bei den Vereinten Nationen vor der 64. Generalversammlung am 28.9.2009, Vereinte Nationen 2009, 279 (281).
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insgesamt nicht realistisch erscheint. Freilich verpflichtet das Prinzip der offenen Verfassungsstaatlichkeit die deutschen Entscheidungsträger, Machtpolitik nur innerhalb der völker- und europarechtlich zulässigen Grenzen zu betreiben. Aber es verlangt noch mehr: dass sie sich bemühen, den Herrschaftsbereich des Rechts gegenüber der Macht in den internationalen Beziehungen möglichst auszuweiten. Wie ist nun das Verhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit des offenen Verfassungsstaats in Deutschland? Unsere Tagung wird nach meiner Prognose ein gemischtes Bild ergeben: Anspruch und Wirklichkeit sind natürlich auch hier nicht deckungsgleich. Wie weit sie auseinander klaffen, hängt nicht nur von der „Tiefe“ der Realität, sondern auch von der „Höhe“ des Anspruchs ab. Obwohl ich selbst diesen sehr hoch ansetze, wage ich vorsichtigen Optimismus: Die deutsche Staatspraxis kommt der grundgesetzlichen Theorie recht nahe, weil alle Verantwortlichen letztlich wissen, dass sie in der globalisierten Welt vernünftigerweise gar keine andere Wahl haben. Denn ein im Weltmaßstab allenfalls mittelgroßer Staat wie Deutschland kann wirksam nur als Glied der Europäischen Union und Mitglied der Weltgemeinschaft sowie verlässlicher Freund der Völkerrechtsordnung seine Interessen wahren und seinen Verfassungswerten global zu stärkerer Geltung verhelfen.103 Ungeachtet aller Wermutstropfen, welche die Realität beisteuert, hat sich die Hoffnung, die Konrad Adenauer bei der Verkündung des Grundgesetzes zum Ausdruck brachte, im Wesentlichen erfüllt: Der Geist und Wille, der aus seiner Präambel spricht – als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen – ist im Deutschen Volk dauerhaft lebendig geblieben.104 Mir scheint darüber hinaus, dass Deutschland ein Versprechen nach wie vor im Großen und Ganzen einlöst, welches es seinen Nachbarn und der Welt im Prozess seiner Wiedervereinigung gegeben hat: „Wir wollen nicht ein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland schaffen.“105 Mein Eindruck bestätigt sich darin, dass die Europa- und Weltoffenheit des Grundgesetzes in der Debatte „60 Jahre Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ im Deutschen Bundestag von mehreren Rednern auch im Sinne eines Zukunftsauftrags betont wurde.106 Die gegenüber Europa und der Welt offene Verfassungsstaatlichkeit des Grundgesetzes 103
Vgl. Art. 21 Abs. 1 EUV. Vgl. Schlusswort am 23.5.1949, zit. nach Michael F. Feldkamp (Hrsg.), Die Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland 1949 (1999), 199 (202). 105 Eingangserklärung des Bundesaußenministers bei der ersten Runde der Zwei-plusVier-Verhandlungen am 5.5.1990, BullBReg. Nr. 54 (8.5.1990), 422; fast wortgleich in seiner Rede vor der 45. Generalversammlung der Vereinten Nationen am 26.9.1990, BullBReg. Nr. 115 (27.9.1990), 1201 (1202). Die Erklärung knüpfte an Thomas Mann an (Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen [1997], 395). 106 Vgl. Plenarprotokoll der 222. Sitzung am 14.5.2009. 104
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stellt eine große Errungenschaft dar, deren Ansprüche zu verwirklichen für die heutige Generation weiterhin auch im nationalen Interesse liegt: „[N]ur der ist ein wahrer Patriot, der durch die Freiheit seines engeren Vaterlandes hindurch das große Vaterland will, dass das Vaterland von unser aller Vaterländern ist … und das da heißt: Europa!“107
107 Carlo Schmid in der 6. Sitzung des Parlamentarischen Rats am 20.10.1948, Stenographischer Bericht, 71.
Traditionslinien der offenen Staatlichkeit in Deutschland
Die Genese des „offenen Verfassungsstaats“ 1948/49 Von Thilo Rensmann
A. Einleitung Wenn wir heute auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zurückblicken, um den genetischen Code des „offenen Verfassungsstaats“ zu entschlüsseln, so wird unsere Wahrnehmung zwangsläufig durch das Prisma der Hamburger Antrittsvorlesung des damals noch jungen Privatdozenten Klaus Vogel gebrochen, die 1964 unter dem Titel „Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit“ veröffentlicht worden ist.1 Denn die Kategorie der „offenen Staatlichkeit“ war den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nicht geläufig, auch wenn die Metaphorik der Öffnung des Staates gegenüber dem Völkerrecht in den Beratungen des Parlamentarischen Rates bereits gelegentlich aufschien.2 Als eigenständiges verfassungsrechtliches Strukturprinzip ist die „offene Staatlichkeit“ erst von Klaus Vogel geprägt und entfaltet worden.3 Seitdem gehört sie in verschiedenen Spielarten zum Gemeingut des verfassungsrechtlichen Diskurses in Deutschland.4 Suchen wir also in den travaux préparatoires zum Grundgesetz
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K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit (1964). 2 Siehe unten Anm. 36. 3 Vogel (Anm. 1), 33, 42. 4 Vgl. insbesondere U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten (1998); B. Fassbender, Der offene Bundesstaat (2007); P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, in: Festschrift für Helmut Schelsky (1978), 141 ff.; S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz (1998); V. Röben, Außenverfassungsrecht (2007); F. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit (2007); K.-P. Sommermann, Offene Staatlichkeit – Deutschland, in: A. v. Bogdandy/P. Cruz Villalón/P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II (2008), § 14; C. Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII (1992), § 172. Siehe zum europäischen Ausland P. M. Huber, Offene Staatlichkeit – Vergleich, in: Handbuch Ius Publicum Europaeum, a.a.O., Bd. II, § 26 sowie die Länderberichte, ebenda, §§ 15–25.
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nach den Spuren „offener Staatlichkeit“, so müssen wir uns im „Klassikertext“5 zunächst vergewissern, was mit dieser Kategorie gemeint ist. Für Klaus Vogel hatte der Parlamentarische Rat nicht weniger als einen neuen Idealtypus des Staates geschaffen und damit eine neue Entwicklungsstufe in der Genese der modernen Verfassungsstaatlichkeit erklommen.6 Vor allem in Art. 24 und 25 GG erblickte Vogel eine beispiellose Relativierung des Geltungsanspruches des nationalen Verfassungsrechts durch das Völkerrecht.7 Die durch diese Verfassungsnormen angeordnete Ein- und Unterordnung in die internationale Staatengemeinschaft lasse sich nicht mehr mit den überkommenen Kategorien der Staatstheorie erfassen, wie sie im Zeitalter der Nationalstaaten geprägt worden waren.8 Die staatliche Souveränität sei nicht mehr absolut, der Staat nicht mehr „undurchdringlich“,9 Staats- und Völkerrecht nicht mehr im Sinne des Triepelschen Dualismus10 strikt voneinander getrennt.11 Diese Hinwendung oder „Öffnung“ zur internationalen Gemeinschaft12 markiere die radikale Abwendung vom „selbstherrlichen Nationalismus“, wie er in Fichtes „Geschlossenem Handelsstaat“13 seinen paradigmatischen Ausdruck gefunden habe.14 Die von Klaus Vogel so eindrucksvoll gezeichnete kopernikanische Wende, mit der der Parlamentarische Rat den „offenen Verfassungsstaat“ konstituiert hat, birgt aber in einem doppelten Sinne die Gefahr einer gewissen Idealisierung und Verklärung der unbestritten großen Leistung der Väter und Mütter des Grundgesetzes.15 Zum einen suggeriert die Deutung der „Verfassungsentscheidung für eine ‚offene‘ Staatlichkeit“16 als radikale Abwendung vom „geschlossenen“ Nationalstaat, dass es primär die Reaktion auf das Scheitern des Nationalstaats in Deutschland und Europa war, die den Parlamentarischen Rat zum visionären Gegenmodell des „offenen Verfassungsstaates“ gedrängt hat. Sicher spielte der Wille, mit einer Tradition zu brechen, die – wie es Carlo Schmid formulierte – „in der ungehemmten Entfaltung der Macht des Nationalstaates den eigentlichen Beweger der Geschichte 5
Vgl. P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben (1981). Vogel (Anm. 1), 24 ff. 7 Vogel (Anm. 1), 8 ff. 8 Vogel (Anm. 1), 10. 9 Vogel (Anm. 1), 19 im Anschluss an K. V. Fricker, Vom Staatsgebiet (1867), 17. 10 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht (1899). 11 Vogel (Anm. 1), 24 ff. 12 Vgl. Vogel (Anm. 1), 33, 42. 13 J. G. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat (1800). 14 Vogel (Anm. 1), 14 f. 15 Ebenso in diesem Sinne, wenn auch mit etwas anderer Akzentsetzung, Schorkopf (Anm. 4), 25 ff. 16 Vogel (Anm. 1), 14 f. 6
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und ihren letzten Sinn sah“,17 eine nicht unerhebliche Rolle. Die „offene Staatlichkeit“ war aber nicht nur als Abkehr von der Vergangenheit, sondern auch als Strategie zur Überwindung der politischen Realitäten der Jahre 1948/49 konzipiert. Die Protokolle der Beratungen des Herrenchiemseer Verfassungskonvents und des Parlamentarischen Rates vermitteln sogar den Eindruck, dass dieses pragmatische, instrumentelle Verständnis der „offenen Staatlichkeit“, das Erlösung von Besatzung, Teilung und wirtschaftlicher Not verhieß, viel stärker war als die idealistische Zuwendung zur Paneuropäischen Bewegung18 und zu „One World“-Visionen.19 Die Vogelsche Dichotomie von „offener“ und „geschlossener“ Staatlichkeit kann zum anderen leicht das Missverständnis aufkommen lassen, dass der im Grundgesetz konstituierte „offene Verfassungsstaat“ in der Evolution moderner Verfassungsstaatlichkeit durch einen Urknall entstanden ist. Die travaux préparatoires offenbaren jedoch, dass zentrale Elemente der „offenen Staatlichkeit“ an deutsche Traditionslinien und ausländische Vorbilder anknüpften. Die eigentlich innovative Dimension der Öffnung des Verfassungsstaats, die Fundierung des westdeutschen Teilstaates im menschenrechtlichen Wertesystem der internationalen Gemeinschaft, wird in Vogels „Klassikertext“ hingegen völlig ausgeblendet. Vor diesem Hintergrund soll der Versuch unternommen werden, in den Protokollen des Verfassungskonvents und des Parlamentarischen Rates noch einmal den Motiven nachzuspüren, die die Väter und Mütter in den Jahren 1948/49 zu ihrer „Verfassungsentscheidung“ bewegt haben. Dabei soll drei Aspekten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden: Zunächst sollen die besonderen Zeitumstände in Erinnerung gerufen werden, die die Beratungen im Alten Schloss auf Herrenchiemsee und in der Pädagogischen Akademie in Bonn geprägt haben (B.). In einem zweiten Schritt soll die Spur der Vorbilder und Traditionslinien verfolgt werden, an die die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei der Ausarbeitung der Verfassungsbestimmungen über das Verhältnis zum internationalen Recht angeknüpft haben (C.). Schließlich soll die weder bei Klaus Vogel noch im gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs mit gebührendem Gewicht behandelte Verbindung zwischen der „offenen Staatlichkeit“ und dem Menschenwürde- und Menschenrechtsbekenntnis des Grundgesetzes herausgearbeitet werden (D.).
17 C. Schmid, 9. Sitzung des Plenums (6.5.1949), Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949 – Akten und Protokolle, Bd. 9 (1996), 443. 18 Hierzu M. Bermanseder, Die europäische Idee im Parlamentarischen Rat (1998). 19 Vgl. W. Willkie, One World (1943).
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B. Das instrumentelle Verständnis der „offenen Staatlichkeit“ Deutschland, das durch den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hatte,20 war in den Jahren 1948/49 besetzt, geteilt und durch Kriegsfolgen und Demontage wirtschaftlich am Boden. Die Charta der Vereinten Nationen, das hoffnungsvolle Manifest einer neuen Weltordnung, war aus deutscher Perspektive ein Dokument der Demütigung. Deutschland war als „Feindstaat“ aus dem Kreis der Kulturvölker ausgeschlossen, der Schutzschild des Gewaltverbots und der kollektiven Sicherheit wurde ihm vorenthalten.21 Was konnte das Völkerrecht dem deutschen Volk, dessen westlicher Teil sich im Parlamentarischen Rat konstituierte, in dieser Situation bieten? Carlo Schmid, der prononcierteste Verfechter der „offenen Staatlichkeit“ im Parlamentarischen Rat, hatte scharfsinnig erkannt, dass das Völkerrecht für das „ohnmächtige“ deutsche Volk22 ein wichtiges politisches Instrument bildete: Die einzige wirksame Waffe des ganz Machtlosen ist das Recht, das Völkerrecht … Daher sollten wir Deutsche, gerade weil wir heute so machtlos sind, mit allem Pathos, das uns zu Gebote steht, den Primat des Völkerrechts betonen.23
Auf kurze Sicht sah Schmid das Völkerrecht als Mittel zur rechtlichen Einhegung der Besatzungsmacht an: Die Verrechtlichung … des Politischen kann die einzige Chance in der Hand des Machtlosen sein, die Macht der Übermächtigen in ihre Grenzen zu zwingen.24
Damit hob er auf die Übermacht der Alliierten ab, deren Besatzungsregime er mehrfach in den Beratungen des Verfassungskonvents und des Parlamentarischen Rates als völkerrechtswidrig geißelte.25
20 Vgl. Präambel, Abs. 1 der Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945, BGBl. 1973 II, 431. 21 Art. 53, 107 UN-Charta. Vgl. auch C. Schmid, 2. Sitzung des Plenums (8.9.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 9 (1996), 45: „Ein geeintes demokratisches Deutschland, das seinen Sitz im Rat der Völker hat, wird ein besserer Garant des Friedens und der Wohlfahrt Europas sein als ein Deutschland, das man angeschmiedet hält wie einen bissigen Kettenhund!“ 22 H. Weber, 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 321. 23 C. Schmid,12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 321. 24 Ebenda. 25 Siehe etwa C. Schmid, 2. Sitzung des Plenums (8.9.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 9 (1996), 27.
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Das Völkerrecht enthielt aber auch das Versprechen des Selbstbestimmungsrechts der Völker26 und der souveränen Gleichheit der Staaten.27 Die Hinwendung zum Völkerrecht verlieh somit dem Verlangen nach Wiedervereinigung und Wiederherstellung der vollen Souveränität Legitimität und normativen Rückhalt. So standen auch in der ursprünglichen Präambel des Grundgesetzes das Wiedervereinigungsgebot, das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, die Gleichberechtigung als souveräner Staat und das Bekenntnis zur „offenen Staatlichkeit“ in einem untrennbaren Zusammenhang.28 Das Bekenntnis zum Völkerrecht wurde unter einem weiteren Aspekt als Schlüssel zur Wiedervereinigung angesehen. Im Parlamentarischen Rat befürchtete man, dass eine bedingungslose „Westintegration“ den Weg zur Wiedererlangung der staatlichen Einheit versperren würde.29 Trotz aller durch den Ost-West-Konflikt aufgerissenen ideologischen Gräben war im Völkerrecht der normative Konsens zwischen den großen Machtblöcken noch nicht völlig auseinandergebrochen. Dies hatte vor allem die ohne Gegenstimme am 10. Dezember 1948 im Pariser Palais de Chaillot angenommene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte30 eindrucksvoll dokumentiert. In diesem Sinne muss die Tatsache, dass der Parlamentarische Rat im Grundrechtskatalog jede einzelne Bestimmung akribisch mit der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen abglich, auch als ein Versuch der ideologischen Emanzipation von den Westmächten verstanden werden.31 Hermann von Mangoldt erläuterte die dahinter stehende Motivation mit folgenden Worten: Bei unserer starken Berührung mit dem Osten und dessen Gesetzen würde es sich vielleicht doch empfehlen, ähnliche Sätze wie der [Menschenrechts-]Entwurf der Vereinten Nationen in unser Grundgesetz aufzunehmen.32 26
Art. 1 Nr. 2 und Art. 55 UN-Charta. Beachte allerdings die Auseinandersetzung zwischen H. v. Mangoldt und G. A. Zinn um die Frage, in welchem Umfang das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der UN-Charta verankert ist, 9. Sitzung des Grundsatzausschusses (12.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 244. 27 Art. 2 Nr. 1 UN-Charta. 28 „… von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk … dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. … Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ 29 Anders die Einschätzung bei Schorkopf (Anm. 4), 30 f. 30 GA Res. 217 A (III), UN GAOR, III, Resolutions, 71. 31 Hierzu m.w.N. T. Rensmann, Wertordnung und Verfassung (2007), 25 ff. Siehe auch unten V. 32 H. v. Mangoldt, 24. Sitzung des Grundsatzausschusses (23.11.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/II (1993), 643. Der von v. Mangoldt angesprochene Entwurf wurde in deutscher Übersetzung als eigene Drucksache unter den Mitgliedern des Parla-
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Das Völkerrecht und die internationale Zusammenarbeit boten aus Sicht des Parlamentarischen Rates auch die einzige Möglichkeit, die nationale Sicherheit Deutschlands zu gewährleisten. Eine „Wiederbewaffnung“ war aus der Warte der Jahre 1948/49 nicht denkbar. Nur die Eingliederung in ein völkerrechtliches System kollektiver Sicherheit auf regionaler oder internationaler Ebene erschien als eine realistische Perspektive.33 Dass diese 1949 noch kühne Vorstellung nur ein Jahr später mit der schließlich gescheiterten Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft fast politische Realität geworden wäre,34 zeigt mit welchem Scharfsinn die Mitglieder des Parlamentarischen Rates die Zukunftsperspektiven Deutschlands entwickelt hatten. Den Vätern und Müttern des Grundgesetzes erschien die internationale Zusammenarbeit auf der normativen Grundlage des Völkerrechts darüber hinaus als unabdingbare Voraussetzung für die Bewältigung der massiven wirtschaftlichen Probleme, mit denen Deutschland in den ersten Nachkriegsjahren zu kämpfen hatte. „Wir wollen uns doch nichts vormachen“, deklamierte Carlo Schmid in der zweiten Sitzung des Plenums des Parlamentarischen Rates, „in dieser Zeit gibt es kein Problem mehr, das ausschließlich mit nationalen Mitteln gelöst werden könnte“.35 Schon darum müsse der Parlamentarische Rat, die „Tore in eine neugegliederte überstaatliche politische Welt weit öffnen“.36
mentarischen Rates zirkuliert, Drucksache 144 v. 7.10.1948, abgedruckt in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949 – Akten und Protokolle, Bd. 5/I (1993), 220 ff. Vgl. in diesem Kontext auch C. Schmid, 2. Sitzung des Plenums (8.9.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 9 (1996), 56: „In der Präambel dieser Erklärung [scil. der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte] ist ausdrücklich gesagt worden, dass diese Menschenrechte für alle Völker und Nationen verbindlich sein sollen, dass sie nicht nur in den Gebieten der Mitgliedstaaten zu gelten haben, sondern auch in den Gebieten, die unter der Verwaltung der Mitgliedstaaten stehen. Ich glaube, dass … wir auch als deutsches Volk in dem neuzugründenden Staatsgebilde dieselben Ansprüche erheben werden, wie sie in dieser Erklärung der Menschenrechte für Kolonien und Mandate festgelegt sind, dass also diese Menschenrechte für unsere Gebiete, die unter der Verwaltung von Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen stehen, gelten müssen.“ 33 Vgl. etwa C. Schmid, 2. Sitzung des Plenums (8.9.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 9 (1996), 41. 34 Hierzu M. Herdegen/T. Rensmann, Is There a Specific German Approach to the Prohibition of the Use of Force?, German Yearbook of International Law 50 (2007), 349 (353 ff.). 35 C. Schmid, 2. Sitzung des Plenums (8.9.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 9 (1996), 41. 36 C. Schmid, 2. Sitzung des Plenums (8.9.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 9 (1996), 40 f.
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Es wäre sicher nicht zutreffend, die „Verfassungsentscheidung“ des Parlamentarischen Rates für die „offene Staatlichkeit“ ausschließlich in diesem instrumentellen Sinne zu verstehen. Das Völkerrecht wurde von den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates auch als „ethischer Kernbestand des … Rechts, das für alle Menschen gemeinsam ist“,37 oder „als Ausdruck des Zivilisationsstandes [unserer] Epoche“38 angesehen. In den beiden ersten Absätzen des Art. 1 GG, die in sprachlich nur leicht modifizierter Form das Menschenwürde- und Menschenrechtsbekenntnis aus der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte rezipieren,39 hat der Parlamentarische Rat der universalistisch-ethischen Dimension des Völkerrechts ihren prägnantesten Ausdruck verliehen.40 Mit dem Bekenntnis zum Völkerrecht, zum Gewaltverzicht und zur Bereitschaft, auf regionaler und internationaler Ebene im Dienste des Friedens zu kooperieren, sollte ein Kontrapunkt zur Barbarei und Kriegstreiberei der Nazi-Diktatur gesetzt werden. Insofern maß man den Artikeln 24 bis 26 GG durchaus auch eine edukatorische Wirkung nach innen bei.41 Primär sollten diese Artikel aber, wie es Fritz Eberhard im Parlamentarischen Rat formulierte, „Visitenkarte nach außen“42 und damit Eintrittskarte in die internationale Gemeinschaft sein. Ein letzter Aspekt verdient im Hinblick auf die Rahmenbedingungen der „Verfassungsentscheidung“ für die „offene Staatlichkeit“ besondere Hervorhebung. Aufgrund der alliierten Vorbehalte, wie sie in den Frankfurter Dokumenten niedergelegt waren, erstreckte sich die Handlungsfähigkeit der entstehenden Bundesrepublik nicht auf die auswärtigen Beziehungen.43 Daher hatten jedenfalls diejenigen 37
A. Süsterhenn, 5. Sitzung des Hauptausschusses (18.11.1948), Parlamentarischer Rat/ Abwicklungsstelle (Hrsg.), Verhandlungen des Hauptausschusses 1948/1949, 65 f. 38 C. Schmid, Verfassungskonvent, 2. Sitzung des Unterausschusses I (18.8.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 2 (1981), 206, Anm. 61. 39 In der dem Parlamentarischen Rat vorliegenden Übersetzung (vgl. oben Anm. 32) lautete die entsprechenden Passage der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „In der Erwägung, dass die Achtung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde sowie ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte das Fundament der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet, … proklamiert die Generalversammlung die vorliegende Erklärung der Menschenrechte.“ Siehe im Einzelnen zum entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Art. 1 Abs. 1 und 2 GG und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Rensmann (Anm. 31), 25 ff. 40 Hierzu auch unten IV. 41 F. Eberhard, 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 316. 42 Ebenda. 43 Büro des Ministerpräsidenten des amerikanischen, britischen und französischen Besatzungsgebiets (Hrsg.), Dokumente betreffend die Begründung einer neuen staatlichen Ordnung (1948), 15–17, Dokument III, A. und B.
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Normen, die auf die internationale Zusammenarbeit angelegt waren, zunächst nur virtuellen Charakter. Sie waren, wie Herbert Kraus es kurz nach Inkrafttreten des Grundgesetzes formulierte, eine „Fiktion“,44 aber – wie die weitere Entwicklung Deutschlands zeigen sollte – eine „Fiktion mit stetig sich erweiterndem Richtigkeitskern“.45 Das Bewusstsein der durch die alliierten Vorbehalte beschränkten Souveränität des westdeutschen Teilstaats relativierte damit in erheblichem Maße das „Souveränitätsopfer“, das der Parlamentarische Rat mit der „Verfassungsentscheidung“ für die „offene Staatlichkeit“ erbrachte: Bei saldierender Betrachtung konnte dieses Opfer schließlich nur mit einem Souveränitätszuwachs einhergehen.
C. Traditionslinien und Vorbilder der „offenen Staatlichkeit“ I. Anknüpfung an das Weimarer Bekenntnis zur „offenen Staatlichkeit“ Einen geeinten, freien nationalen Staat wollen wir organisieren, aber nicht in nationalistischer Abschließung. Wie einst die jungen Vereinigten Staaten von Nordamerika in den Kreis der alten Staatenwelt eintraten mit dem Bekenntnis zur bindenden Kraft des internationalen Rechts, so bekennt sich die junge deutsche Republik … zur Geltung des Völkerrechts.46
Dieses passionierte Bekenntnis zur „offenen Staatlichkeit“ wurde nicht im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee oder im Parlamentarischen Rat in Bonn, sondern in der Nationalversammlung in Weimar ausgesprochen. Hugo Preuß begründete mit diesen Worten den unter seiner Federführung formulierten Artikel 4 der Weimarer Reichsverfassung (WRV),47 demzufolge „[d]ie allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts … als bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts“ gelten sollten. Die Weimarer Reichsverfassung erhob die „offene Staatlichkeit“, verstanden als die „Einfügung des Reichs … in die Völkerrechtsgemeinschaft“,48 zu einem fundamentalen Strukturprinzip des von ihr konstituierten demokratischen Rechts44
H. Kraus, Die auswärtige Stellung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Bonner Grundgesetz (1950), 15. 45 Ebenda. 46 H. Preuß, Verhandlungen der Nationalversammlung, Protokoll der 14. Sitzung (24.2.1919), Stenographischer Bericht, Bd. 326, 286A. 47 Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.8.1919, RGBl. 1919, 1383 ff. 48 Vgl. H. Preuß, Reich und Länder – Bruchstücke eines Kommentars zu Verfassung des Deutschen Reiches (1928), 82.
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staats.49 Hugo Preuß begriff die „offene Staatlichkeit“ dabei nicht als revolutionäre Neuerung des modernen Verfassungsstaates, sondern als Rezeption eines durch die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika bereits fest etablierten Wesensmerkmals demokratischer Rechtsstaatlichkeit.50 Allerdings sprach Art. VI Abs. 2 der US-amerikanischen Verfassung, auf den sich Preuß bezog, ausdrücklich nur die von den Vereinigten Staaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge als „supreme law of the land“ an. Art. 4 WRV hingegen inkorporierte als erste moderne demokratische Verfassung explizit die allgemeinen Regeln des Völkerrechts in das nationale Recht.51 Mit der verfassungsrechtlichen Festschreibung der althergebrachten angloamerikanischen Maxime, dass „the law of nations … part of the law of the land“52 ist, machten sich Hugo Preuß und seine Mitstreiter zugleich die diesem Prinzip zugrundeliegende universalistische Vision des Völkerrechts zu Eigen.53 Der Einzelne, dessen Beziehungen zur internationalen Gemeinschaft bislang absolut mediatisiert waren, komme nunmehr in unmittelbaren Kontakt mit dem Völkerrecht.54 Art. 4 WRV verlieh, wie Alfred Verdross in einem für die Entstehung dieser Vorschrift einflussreichen55 Beitrag schrieb, dem „neuen Rechtsgedanken“ Ausdruck, dass sich „eine internationale Norm dann, wenn sie sich ihrer Bedeutung nach an Behörden und einzelne wendet, diese unmittelbar berechtigen und verpflichten kann, ohne dass ein besonderer staatlicher Durchführungsbefehl erlassen wird“.56 Im Schrifttum und der gerichtlichen Spruchpraxis nach 1919 hingegen wurde die „Verfassungsentscheidung“ für die „offene Staatlichkeit“ vielfach dadurch missachtet, dass die Wendung der „allgemein anerkannten Regeln des Völker49 Im ursprünglichen Entwurf der Weimarer Reichsverfassung waren das demokratische Prinzip, die Gliederung in Reich und Länder sowie das Bekenntnis zur Bindung an die allgemeinen Regeln des Völkerrechts in einem gemeinsamen Artikel zusammengefasst, vgl. Preuß (Anm. 48), 81 f. 50 Preuß (Anm. 48), 86 ff. 51 Vgl. Preuß (Anm. 48), 88: „So tut denn die deutsche Republik in ihrer Verfassung einen weiteren Schritt auf dem Wege, auf dem die nordamerikanische Republik in ihrer Verfassung den ersten Schritt getan hat.“ 52 W. Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Vol. IV (1769), Ch. V. 53 Vgl. B. Simma, The Contribution of Alfred Verdross to the Theory of International Law, EJIL 6 (1995), 33 (41 ff.). 54 Preuß (Anm. 48), 86 f. 55 Hierzu Simma (Anm. 53), 41 ff. 56 A. v. Verdross, Reichsrecht und internationales Recht – Eine Lanze für Artikel 3 des Regierungsentwurfes der deutschen Verfassung, Deutsche Juristen-Zeitung 1919, 291 (292 f.). Siehe auch Preuß (Anm. 48), 86 f.
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rechts“ als Erfordernis der spezifischen Zustimmung des Reiches zu dem jeweils in Rede stehenden Völkerrechtssatz interpretiert wurde.57 Damit war de facto die Triepelsche Transformationslehre wiederhergestellt worden.58 Die Weimarer Auslegungspraxis verkannte jedoch, dass die Formulierung der „allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts“ im internationalen Sprachgebrauch zu jener Zeit schlicht die völkerrechtlichen Rechtsquellen nichtvertraglichen Ursprungs bezeichnete.59 Somit war es also durchaus denkbar, dass kraft Art. 4 WRV eine völkergewohnheitsrechtliche Norm ohne Anerkennung durch das Reich in der deutschen Rechtsordnung Wirkung entfalten konnte.60 Wenn Carlo Schmid im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat den heutigen Art. 25 GG als ein „Novum“61 und als „entscheidenden Bruch“62 mit der Weimarer Tradition charakterisierte, so konnte sich diese Aussage somit ausschließlich auf das unzutreffende Verständnis des Art. 4 WRV in der Auslegungspraxis nach 1919 beziehen.63 Denn in seinem Kern ist der heutige Art. 25 GG lediglich eine Rekonstruktion der „Verfassungsentscheidung“ 57 Vgl. H. Nawiasky, Verfassungskonvent, 2. Sitzung des Unterausschusses I (18.8.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 2 (1981), 206, Anm. 61. Siehe die Nachweise zur Rechtsprechung und Lehre bei L. Preuss, International Law in the Constitutions of the Länder in the American Zone in Germany, American Journal of International Law 41 (1947), 888 (892 f.). 58 Siehe C. Schmid, 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 317 f. 59 Vgl. Art. 7 des XII. Haager Abkommen betreffend die Errichtung eines internationalen Prisenhofs vom 18.10.1907, 205 Consolidated Treaty Series 381. Siehe zum Zusammenhang dieser Norm mit Art. 4 WRV Schorkopf (Anm. 4), 37–40. 60 Beachte allerdings, dass H. Preuß in der Nationalversammlung die Ansicht vertrat, dass eine gewohnheitsrechtliche Norm nicht ohne die Anerkennung der Großmächte als „allgemein anerkannt“ gelten könne, Verhandlungen der Nationalversammlung, Protokolle, 3. Sitzung des Verfassungsausschusses (1919), 8. Anders aber Preuß (Anm. 48), 96: Dort beschränkt er diese Aussage auf „durch Vereinbarung gesetzte allgemeine Völkerrechtsnormen“. Für das Gewohnheitsrecht könne „diese Frage kaum aufgeworfen werden; denn eine ausdrückliche Anerkennung der Völkergewohnheit durch die Staaten findet in der Regel nicht statt“. 61 C. Schmid, Verfassungskonvent, 2. Sitzung des Unterausschusses I (18.8.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 2 (1981), 206, Anm. 61. 62 C. Schmid, 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 320. 63 Nur in diesem Sinne ist zu verstehen, dass der von C. Schmid im Verfassungskonvent vorgeschlagene erste Entwurf des heutigen Art. 25 GG noch die Weimarer Formel der „allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts“ enthielt, vgl. Verfassungskonvent, 2. Sitzung des Unterausschusses I (18.8.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 2 (1981), 206, Anm. 61.
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der Weimarer Nationalversammlung für die „offene Staatlichkeit“. Die Abweichungen vom Wortlaut des Art. 4 WRV sollten vor allem dafür Sorge tragen, dass sich diesmal der original intent von Weimar in der Praxis durchsetzen würde. Den durch Art. 4 WRV aufgeworfenen Streitfragen, die nach der Einschätzung des Herrenchiemseer Verfassungskonvents in der Weimarer Zeit eine „verhängnisvolle Rolle“ gespielt hatten,64 sollte durch zwei Modifikationen der Boden entzogen werden. Zum einen wurde das Attribut „anerkannt“ gestrichen, zum anderen wurde ausdrücklich festgeschrieben, dass die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts … Rechte und Pflichten unmittelbar für alle Bewohner des Bundesgebietes“ erzeugen.65 Der von Carlo Schmid angeführte Versuch, auf diese Weise das Preußsche Bekenntnis zur bindenden Kraft einer universalistisch verstandenen Völkerrechtsordnung zu reanimieren, stieß im Parlamentarischen Rat auf den erbitterten Widerstand von Hermann von Mangoldt. Es kam zu einem wahren „Showdown“ zwischen den beiden Völkerrechtsexperten im Parlamentarischen Rat, in dem Carlo Schmid schließlich obsiegen sollte. Im Wesentlichen wurden dabei dieselben Argumente wieder aufgegriffen, die dreißig Jahre zuvor bereits in Weimar ausgetauscht worden waren.66 Hinter den widerstreitenden Positionen zur Inkorporation der allgemeinen Regeln des Völkerrechts verbargen sich vor allem völlig unterschiedliche Visionen der Völkerrechtsordnung. Hermann von Mangoldt beharrte auf der Beibehaltung der in der Weimarer Praxis geforderten Anerkennung als Voraussetzung für die innerstaatliche Geltung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts.67 Für ihn bildete das Völkerrecht einen Fremdkörper,68 dessen ungefiltertes Eindringen in die innerstaatliche Rechtsordnung zwangsläufig zu rechtsstaatlich bedenklichen Verwerfungen führen musste. Besorgt richtete er an die anderen Mitglieder des Parlamentarischen Rates die Frage, ob die eigenen Bürger in Zukunft statt an das deutsche Gesetz an fremde Rechtsauffassungen gebunden sein sollten.69 Später sollte er noch deutlicher werden: „[K]ein Kulturstaat kann bereit sein, aus fremden Rechtskreisen stammende Rechtssätze an die Stelle seiner eigenen, in einer langen Geschichte 64
Verfassungskonvent, Bericht des Unterausschusses I, Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 2 (1981), 206. 65 Ebenda. 66 Vgl. die Darstellung bei Schorkopf (Anm. 4), 43–46 (zur Weimarer Nationalversammlung) und 53–58 (zum Parlamentarischen Rat). 67 Siehe etwa seine Äußerungen in der 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10. 1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 318 ff. 68 H. v. Mangoldt, 27. Sitzung des Hauptausschusses (15.12.1948), Verhandlungen (Anm. 37), 328 f. 69 H. v. Mangoldt, 5. Sitzung des Hauptausschusses (18.11.1948), Verhandlungen (Anm. 37), 64.
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gewachsenen Rechtssätze zu setzen, ohne dass er vorher geprüft hätte, ob und wie das mit der eigenen rechtlichen und kulturellen Entwicklung zu vereinbaren ist.“70 Carlo Schmid argumentierte hingegen in der universalistischen Tradition, mit der bereits Blackstone erläutert hatte, warum „the law of nations … part of the law of the land“ sein müsse. England, so Blackstone in seinen Commentaries, würde ohne dieses Bekenntnis zum universellen Recht „cease to be part of the civilised world“.71 Ganz in diesem Sinne formulierte Schmid im Parlamentarischen Rat, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts „ein stillschweigendes Übereinkommen der Menschen unseres abendländischen Rechtskreises“ seien, „unterhalb eines bestimmten rechtlichen Zivilisationsstandards nicht leben zu wollen“.72 Er betrachtete das Völkerrecht „nicht als Recht, das nur den Staat … verpflichtet, sondern als universelles Recht, das durch die Staatskruste hindurch bis zum Einzelnen geht“.73 Es ging darum sicherzustellen, wie Adolf Süsterhenn hervorhob, dass das positive Gesetz nie wieder mit den ethischen Kernpunkten des Völkerrechts in Widerspruch stehen könne.74 Deshalb müsse „die Verfassung dem Einzelnen das Recht geben, unmittelbar auf die Grundsätze des Völkerrechts zu rekurrieren“.75 Die Einwirkung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in das innerstaatliche Recht sollte einen „heilsamen Zwang“ auf Gesetzgebung und Justiz ausüben.76 Mit den Zivilisationsstandards der internationalen Gemeinschaft sind materiell vor allem die Menschenrechte angesprochen, die nach Art. 1 Abs. 2 GG „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“ sind.77 In diesem Sinne bildet Art. 25 GG für die internationalen Menschenrechte eine Komplementärnorm zu Art. 1 Abs. 3 GG, der die unmittelbare Bindung aller staatlichen Gewalt, einschließlich des Gesetzgebers, an die im Grundgesetz positivierten Grundrechte anordnet. Fritz Eberhard, 70
H. v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz (1953), 168. Blackstone (Anm. 52). Siehe auch C. Schmid, 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 317 f.: „[D]as Völkerrecht war für … [die Engländer] nur eine Elongatur des Common Law. … England … hat überall dort, wo es sich um völkerrechtliches Gemeinrecht handelte, das Individuum unmittelbar berechtigt und verpflichtet.“ 72 C. Schmid, 5. Sitzung des Hauptausschusses (18.11.1948), Verhandlungen (Anm. 37), 65. 73 C. Schmid, Verfassungskonvent, 2. Sitzung des Unterausschusses I (18.8.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 2 (1981), 206, Anm. 61. 74 A. Süsterhenn, 5. Sitzung des Hauptausschusses (18.11.1948), Verhandlungen (Anm. 37), 65 f. 75 Ebenda. 76 C. Schmid, 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 321. 77 Hierzu unten IV. 71
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der im Ausschuss für Grundsatzfragen den ursprünglichen Entwurf des heutigen Art. 25 GG formuliert hatte, hob diese Parallelität ausdrücklich hervor: „Art. 4 der Weimarer Verfassung … hatte keine erhebliche praktische Bedeutung, während wir hier ähnlich wie bei den Grundrechten klar aussprechen, dass sich unmittelbar Rechte und Pflichten für alle Bewohner des Bundesgebiets ergeben …“.78 Damit ist zugleich die Frage des normativen Ranges der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung angesprochen. Die intendierte Bindung des Gesetzgebers an die allgemeinen Regeln des Völkerrechts ließ sich nämlich nur verwirklichen, wenn sie „als Bestandteil des Bundesrechts“ mit einem höheren Rang versehen wurden als einfache Bundesgesetze. In den Beratungen des Parlamentarischen Rates war die Rangfrage zunächst durch die Grundsatzdiskussion über das Anerkennungserfordernis in den Hintergrund gedrängt worden. Erst nach der ersten Lesung im Hauptausschuss griff der Redaktionsausschuss die Problematik des Rangverhältnisses zum Gesetzesrecht auf und schlug vor, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu „Bestandteilen des Bundesverfassungsrechts“ zu erheben.79 Nachdem sich von Mangoldt dieser von der Mehrheit des Hauptausschusses befürworteten Rangerhöhung zunächst heftig widersetzte,80 nahmen die Beratungen im Parlamentarischen Rat eine wundersame Wendung. Hermann von Mangoldt schlug nun plötzlich für die CDU die heutige Fassung des Art. 25 GG vor, der in Satz 1 zwar wieder von „Bundesrecht“ statt „Bundesverfassungsrecht“ spricht, zugleich aber in Satz 2 den unbedingten Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts vor den Gesetzen anordnet.81 Der Entwurf der CDU sollte sicherstellen, wie von Brentano zur Begründung ausführte, dass auch der verfassungsändernde Gesetzgeber sich nicht über die allgemeinen Regeln des Völkerrechts hinwegsetzen konnte.82 Damit gingen von Mangoldt und seine Parteifreunde sogar über den von Carlo Schmid und seinen Mitstreitern propagierten Verfassungsrang hinaus. Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, dass der Vorschlag der
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F. Eberhard, 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 317 (Hervorhebung vom Verfasser). Vgl. zur Parallele zwischen der unmittelbaren Geltung der Grundrechte und der allgemeinen Regeln des Völkerrechts auch Preuß (Anm. 48), 92 f. 79 Parlamentarischer Rat, Allgemeiner Redaktionsausschuss, Stellungnahme zur 1. Lesung des Hauptausschusses, Drucksache 370 (Hervorhebung vom Verfasser). 80 H. v. Mangoldt, 27. Sitzung des Hauptausschusses (15.12.1948), Verhandlungen (Anm. 37), 328 f. 81 Parlamentarischer Rat, Drucksache 761 (3.5.1949). 82 H. v. Brentano, 27. Sitzung des Hauptausschusses (5.5.1949), Verhandlungen (Anm. 37), 749 f.
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CDU die einhellige Zustimmung des Parlamentarischen Rates fand.83 Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten damit die allgemeinen Regeln des Völkerrechts in den änderungsfesten Verfassungskern eingestellt. Diese Rangerhöhung war gegenüber der Weimarer Reichsverfassung in der Tat ein „Novum“. In der Weimarer Nationalversammlung ging man im Einklang mit dem anglo-amerikanischen Referenzmodell84 noch davon aus, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts keinen Vorrang vor Parlamentsgesetzen genießen sollten.85 Indem der Parlamentarische Rat die Parlamentssouveränität, ja sogar den pouvoir constituant constitué dem Primat der allgemeinen Regeln des Völkerrechts unterordnete, trieb er die Öffnung des modernen Verfassungsstaates ein wesentliches Stück voran. Allerdings sollten sich die Interpreten des Grundgesetzes nach seinem Inkrafttreten der vom Verfassungsgeber gewollten Zuspitzung der „offenen Staatlichkeit“ verweigern. Die herrschende Lehre86 und die Rechtsprechung87 wollen den allgemeinen Regeln des Völkerrechts nach wie vor keinen Überverfassungsrang zuweisen. Auch in dieser bewussten Missachtung des original intent setzt sich ein Stück Weimarer Verfassungstradition fort.
II. Rezeption der französischen und italienischen „Verfassungsentscheidung für eine internationale Zusammenarbeit“ Bei der Ausarbeitung der Art. 24 und 26 GG wurde der Parlamentarische Rat maßgeblich durch die französische Verfassung von 1946 inspiriert. Fritz Eberhard, der im Parlamentarischen Rat die erste Fassung der heutigen Art. 24 und 26 GG vorgelegt hatte, räumte bei der Vorstellung seines Entwurfs freimütig ein, dass Frankreich das Urheberrecht gebührte. „Hier [ist] es … nicht deutsches Recht, das vorangeht. Hier klingt ein Satz der französischen Verfassung von 1946 an.“88
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27. Sitzung des Hauptausschusses (5.5.1949), Verhandlungen (Anm. 37), 750. Vgl. R. Jennings/A. Watts (Hrsg.), Oppenheim’s International Law, Vol. 1 (1992), 61. 85 E. v. Simson, Verhandlungen der Nationalversammlung, Protokoll der 36. Sitzung, Stenographischer Bericht, Bd. 326, 406. Vgl. zum Meinungsspektrum in der Weimarer Staatsrechtslehre, das vom Untergesetzesrang bis zum Überverfassungsrang reichte, W. Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht (1967), 242. 86 Siehe M. Herdegen, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz (Stand: 55. Ergänzungslieferung 2009), Art. 25, Rn. 42 m.w.N. 87 Vgl. etwa BVerfGE 111, 307 (318). 88 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (12.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 322. In dieser Äußerung bezieht sich F. Eberhard allerdings nur auf den heutigen Art. 24 GG. 84
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Eberhard bezog sich auf die Präambel der Verfassung der IV. Republik, in der es heißt: Die Französische Republik … wird nie einen Eroberungskrieg führen und ihre Streitkräfte niemals gegen die Freiheit irgendeines Volkes einsetzen. Unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit stimmt Frankreich den zur Organisation und Verteidigung des Friedens notwendigen Einschränkungen seiner Souveränität zu.89
Ähnlich hatte es wenig später die italienische Republik in Art. 11 ihrer Verfassung vom 27.12.1947 formuliert, die den Mitgliedern des Verfassungskonvents und des Parlamentarischen Rates ebenso wie die französische Verfassung in deutscher Übersetzung vorlag:90 Italien lehnt den Krieg als Mittel des Angriffes auf die Freiheit anderer Völker und als Mittel zur Lösung internationaler Streitigkeiten ab; unter der Bedingung der Gleichstellung mit den übrigen Staaten stimmt es den Beschränkungen der staatlichen Souveränität zu, sofern sie für eine Rechtsordnung nötig sind, die den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Völkern gewährleistet; es fördert und begünstigt die auf diesen Zweck gerichteten überstaatlichen Zusammenschlüsse.91
Die Beratungen in Herrenchiemsee und Bonn folgten eng dem französischen und italienischen Vorbild. Hier wie dort bildete der Gewaltverzicht den Ausgangspunkt für die Überlegungen zur Einschränkung der nationalen Souveränität zugunsten der internationalen Zusammenarbeit. Im Bericht des für das Verhältnis von Völkerrecht und Bundesrecht zuständigen Unterausschusses des Verfassungskonvents wurde der in Frankreich und Italien vorexerzierte Dreischritt von Gewaltverzicht, kollektiver Sicherheit und Souveränitätsbeschränkung authentisch abgebildet:
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„La République française … n’entreprendra aucune guerre dans des vues de conquête et n’emploiera jamais ses forces contre la liberté d'aucun peuple. Sous réserve de réciprocité, la France consent aux limitations de souveraineté nécessaires à l'organisation et à la défense de la paix.“ Siehe zur Entstehungsgeschichte T. de Berranger, L’alinéa 15 du Préambule de 1946, in: G. Conac/X. Pretot/G. Teboul (Hrsg.), Le Préambule de la Constitution de 1946 (2001), 357 (358 ff.). 90 Den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates lag eine von der US-amerikanischen Zivilverwaltung ausgearbeitete deutschsprachige Sammlung bundesstaatlicher Verfassungen vor, vgl. Office of Military Government for Germany US, Civil Administration Division (Hrsg.), Bundesstaatliche Verfassungen (September 1948). In dieser Sammlung waren sowohl die französische als auch die italienische Verfassung abgedruckt. Siehe hierzu auch Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 33, Anm. 16. 91 „L’Italia ripudia la Guerra come strumento di offesa alla libertà degli altri popoli e come mezzo di risoluzione delle controversie internazionali; consente, in condizioni di parità con gli altri Stati, alle limitazioni di sovranità necessarie ad un ordinamento che assicuri la pace e la giustizia fra le Nazioni; promuove e favorisce le organizzazioni internazionali rivolte a tale scopo.“ Vgl. zur Entstehungsgeschichte C. Panera, Offene Staatlichkeit – Italien, in: Handbuch Ius Publicum Europaeum (Anm. 4), § 18, Rn. 15.
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Thilo Rensmann Das deutsche Volk ist gewillt, künftighin auf den Krieg als Mittel der Politik zu verzichten und hieraus die Folgerungen zu ziehen. Um aber nicht wehrlos fremder Gewalt preisgegeben zu sein, bedarf es der Aufnahme des Bundesgebietes in ein System kollektiver Sicherheit, das ihm den Frieden gewährleistet. … [D]er Bund [sollte] bereit sein, im Interesse des Friedens und einer dauerhaften Ordnung der europäischen Verhältnisse in die sich aus einem solchen System ergebenden Beschränkungen seiner Hoheitsverhältnisse einzuwilligen.92
Weder im Verfassungskonvent noch im Parlamentarischen Rat konnte man sich dazu entschließen, eine allgemeine Kriegsverzichtsklausel nach französischem und italienischem Vorbild aufzunehmen.93 Man wollte im Grundgesetz keine bloßen Programmsätze oder „Deklamationen“, sondern „geltendes Recht“ mit „unmittelbarer Verfassungskraft“94 formulieren.95 Die Ächtung des Krieges als Mittel der Politik wurde daher schlicht vorausgesetzt, um dann die daraus folgenden konkreten Rechtsfolgen im Verfassungstext zu verankern. Friedensstörende Handlungen, insbesondere die Vorbereitung eines Angriffskrieges, wurden in Art. 26 GG für verfassungswidrig erklärt und die Grundlage für ihre strafrechtliche Verfolgung geschaffen. Hier war man in der Tat, wie Carlo Schmid bemerkte, einen kleinen Schritt weiter gegangen als in Frankreich und Italien, da man schon im Vorfeld akuter bewaffneter Auseinandersetzungen den Anfängen wehren wollte.96 Der Vorstoß des Grundsatzausschusses, die Vorbereitung eines jeden Krieges verfassungsrechtlich zu ächten und sich nicht wie im französischen und italienischen Vorbild auf „Angriffskriege“ zu beschränken,97 fand im Parlamentarischen Rat schließlich keinen Rückhalt. Die Mehrheit der Delegierten wollte keine komplette Demilitarisierung und Neutralisierung, sie wollte dem westdeutschen Teilstaat nicht das „naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung“98 aus der Hand 92
Verfassungskonvent, Bericht des Unterausschusses I, Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 2 (1981), 207. 93 Siehe den von H. Kaufmann (CDU) formulierten Vorschlag: „Der Krieg als Mittel der Auseinandersetzung zwischen der Völkern wird abgelehnt“, 30. Sitzung des Grundsatzausschusses (12.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/II (1993), 852. Vgl. auch einen entsprechenden Änderungsantrag von H. Renner, 29. Sitzung des Hauptausschusses (5.1.1949), Verhandlungen (Anm. 37), 347. 94 H. v. Mangoldt, 29. Sitzung des Hauptausschusses (5.1.1949), Verhandlungen (Anm. 37), 347. 95 H. v. Mangoldt, 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 331; 29. Sitzung des Hauptausschusses (5.1.1949), Verhandlungen (Anm. 37), 347. 96 C. Schmid, 29. Sitzung des Hauptausschusses (5.1.1949), Verhandlungen (Anm. 37), 349. 97 Vgl. Art. 31 der vom Grundsatzausschuss in zweiter Lesung angenommenen Artikel, abgedruckt in: Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/II (1993), 553. 98 Art. 51 UN-Charta.
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schlagen.99 Primär sollte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland auf übernationaler Ebene in einem „System kollektiver Sicherheit“ gewährleistet werden. In Art. 24 Abs. 1 und 2 GG wollte der Parlamentarische Rat, ebenso wie in Frankreich und Italien, die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die mit der Eingliederung in ein solches kollektives Sicherheitssystem verbundenen Souveränitätsbeschränkungen schaffen. Auch hier waren der Verfassungskonvent und der Parlamentarische Rat bemüht, weitgehend in den Bahnen der ausländischen Mustertexte zu bleiben und die Türen zur überstaatlichen Welt nicht unnötig weit zu öffnen. Dies manifestierte sich besonderes deutlich in der intensiven Diskussion über die Frage, ob man den Beitritt nach französischem Vorbild nur „unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit“ zulassen sollte.100 Obwohl die meisten Vertreter im Parlamentarischen Rat das Erfordernis der Gegenseitigkeit rechtlich als redundant erachteten und ihm allenfalls „politisch-psychologische“101 Bedeutung beimaßen, wurde es schließlich – wenn auch lediglich in der heutigen adjektivischen Form – beibehalten. Diese Bedingung sei wünschenswert – so Hermann von Mangoldt – „weil sie auch in der französischen Verfassung von 1946 steht“.102 Der Parlamentarische Rat wollte auf Augenhöhe mit den französischen Nachbarn bleiben, es ging, wie es im italienischen Referenztext heißt, um die Bewahrung der „Gleichstellung mit den übrigen Staaten“. Auf den Streit um das Erfordernis der Gegenseitigkeit war es auch zurückzuführen, dass der heutige Absatz 1 des Art. 24 GG vor die Klammer gezogen worden ist. Vor allem Carlo Schmid hatte darauf gedrängt, dass die internationale Zusammenarbeit außerhalb der kollektiven Sicherheit, anders als in Frankreich, nicht der Bedingung der Gegenseitigkeit unterstellt werden sollte.103 Der wichtigste Beitrag, den der Parlamentarische Rat mit Art. 24 GG zur Weiterentwicklung der „offenen Staatlichkeit“ geleistet hat, liegt in der in Absatz 1 getroffenen Klarstellung, dass Hoheitsrechte durch einfaches Gesetz auf 99
H. v. Brentano, 6. Sitzung des Hauptausschusses (19.11.1948), Verhandlungen (Anm. 37), 71; T. Dehler, 48. Sitzung des Hauptausschusses (9.2.1949), Verhandlungen (Anm. 37), 626. 100 Vgl. hierzu die Diskussion in der 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 322 ff. 101 T. Heuss, 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 323. 102 12. Sitzung des Grundsatzausschusses (15.10.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 5/I (1993), 324. 103 Vgl. insoweit zu den Beratungen im Unterausschuss I des Verfassungskonvents Schorkopf (Anm. 4), 63–65.
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zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden können.104 In dieser Hinsicht waren die französischen und italienischen Mustertexte nicht eindeutig. Dies sollte sich später in der höchstrichterlichen Rechtsprechung manifestieren, die trotz weitgehend übereinstimmendem Textbefund in dieser Frage zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen kamen. Während die italienische Corte Costituzionale Art. 11 der italienischen Verfassung ebenso wie Art. 24 Abs. 1 GG als ausreichende Ermächtigung ansieht, kraft einfachen Gesetzes Hoheitsrechte zu übertragen,105 ging der französische Conseil Constitutionnel zunächst davon aus, dass die französische Verfassung von 1946 nur Souveränitätsbegrenzungen erlaubt und die Übertragung von Hoheitsrechten daher eine Verfassungsänderung voraussetzt.106 Nur in Art. 24 Abs. 3 GG ging der Parlamentarische Rat deutlich über das französische und italienische Modell hinaus. Mit der Statuierung einer Pflicht zur Unterwerfung unter eine „allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit“ eilte die visionäre Kraft der Väter und Mütter der Realität aber so weit voraus, dass Art. 24 Abs. 3 GG bis heute weitgehend toter Buchstabe geblieben ist.107
104 C. Schmid, 5. Sitzung des Hauptausschusses (19.11.1948), Verhandlungen (Anm. 37), 69: „Wir waren der Meinung, dass durch dieses Grundgesetz … zum Ausdruck gebracht werden soll, dass dieses Land grundsätzlich bereit ist, zwischenstaatlichen Einrichtungen beizutreten, also die Internationalisierung der Wirklichkeit möglichst aktiv zu fördern. Wir wollten die Bereitschaft insbesondere dadurch zum Ausdruck bringen, dass wir für diesen Fall gerade kein verfassungsänderndes Gesetz verlangen, sondern ein einfaches Gesetz als genügend ansehen wollen. Die Entscheidung vom Rang einer Verfassungsbestimmung soll nicht bei den einzelnen Akten, sondern schon in dem Augenblick, in dem wir das Grundgesetz beschließen, als eine Entscheidung allgemeiner und fundamentaler Art getroffen werden.“ 105 Corte Costituzionale, Frontini c. Amministrazione delle finanze, Nr. 183/73, Urteil vom 27.12.1973, deutsche Übersetzung in Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1975, 311. Vgl. hierzu Panera (Anm. 91), Rn. 17 ff. 106 Conseil Constitutionnel, Urteil Nr. 76–71 DC vom 30.12.1976, Recueil C.C. 15. Erst in seiner ersten Maastricht-Entscheidung (Nr. 92-308 DC vom 11.4.1992, Recueil C.C. 55) hat der Conseil Constitutionnel eine Übertragung von Hoheitsrechten ohne Verfassungsänderung für zulässig erachtet, da sie als bloßer „transfert de compétences“ von einem „transfert de souveraineté“ unterschieden werden könne. Vgl. hierzu etwa J. Scheffler, Das französische Verfassungsverständnis angesichts der Anforderungen des EG/EU-Recht, ZaöRV 67 (2007), 43 (67). 107 Vgl. zur programmatischen Dimension des Art. 24 Abs. 3 GG Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht, Bericht einer Studiengruppe zur Anerkennung der Gerichtsbarkeit des IGH gemäß Art. 36 Abs. 2 IGH Statut (Juli 2007), 2 f., abrufbar unter: www.dgvr.de/Gruppe 36BerEndg.pdf.
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Angesichts seiner großen Tragweite ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass Art. 24 GG im Unterschied zu der ihm nachfolgenden Vorschrift über die allgemeinen Regeln des Völkerrechts bei den Beratungen im Verfassungskonvent und im Parlamentarischen Rat kaum ernsthafte Kontroversen ausgelöst hat. Dies lag wohl vor allem daran, dass wegen der beschränkten Souveränität des westdeutschen Teilstaates Art. 24 GG zunächst nur virtuelle, symbolische Bedeutung zukam. Carlo Schmid wusste jedoch um die Kraft dieser Symbolik und schien bereits zu ahnen, welch explosives normatives Potential in ihr enthalten war: Ich glaube, dass dieses Grundgesetz durch eine solche Bestimmung lebendig zum Ausdruck bringen würde, dass das deutsche Volk zum mindesten entschlossen ist, aus der nationalstaatlichen Phase seiner Geschichte in die übernationalstaatliche Phase einzutreten.108
D. Die Grundlegung der „offenen Staatlichkeit“ im menschenrechtlichen Wertsystem der internationalen Gemeinschaft Der Parlamentarische Rat hat die Verfassungsentscheidung für die „offene Staatlichkeit“ nicht erst in den Artikeln 24 bis 26 GG, sondern bereits in Art. 1 GG getroffen.109 Erstaunlicherweise wird in Klaus Vogels „Klassikertext“ überhaupt nicht gewürdigt, dass hier, in Art. 1 Abs. 1 und 2 GG, der archimedische Punkt der „offenen Staatlichkeit“ liegt. Dies hat dazu geführt, dass im staatsrechtlichen Diskurs die menschenrechtliche Grundlegung der „offenen Staatlichkeit“ bislang nicht das ihr gebührende Maß an Aufmerksamkeit erlangt hat.110 108 C. Schmid, 2. Sitzung des Plenums (8.9.1948), Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 9 (1996), 40. 109 Siehe Rensmann (Anm. 31), 27 f. Vgl. auch Herdegen (Anm. 86), Art. 1 Abs. 2, Rn. 3 („das menschenrechtliche Fundament offener Staatlichkeit“). 110 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird Art. 1 Abs. 2 GG erstmals in der Spanier-Entscheidung im Zusammenhang mit der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ erwähnt (BVerfGE 31, 58 [57 f.]). Später wird die „offene Staatlichkeit“ aber wieder ausschließlich auf die Art. 24 bis 26 GG gestützt (BVerfGE 63, 343 [370]). Erst seit BVerfGE 108, 238 wird Art. 1 Abs. 2 GG regelmäßig in die Reihe der die Völkerrechtsfreundlichkeit fundierenden Normen aufgenommen, vgl. hierzu F. Schorkopf, Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in diesem Band. Beachte allerdings, dass das Bundesverfassungsgericht gerade in der Görgülü-Entscheidung, die Art. 1 Abs. 2 GG als normativen Schlüssel zur Begründung der menschenrechtskonformen Auslegung der Grundrechte anerkannt hat (BVerfGE 111, 307 [329]), die Menschenrechtsklausel bei der dogmatischen Ableitung der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ des Grundgesetzes unerwähnt lässt, BVerfGE 111, 307 (317 f.). Der fundamentale Zusammenhang zwi-
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Die beiden ersten Absätze des Art. 1 GG, die aus der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte entlehnt sind,111 sprechen die Menschenwürde und die Menschenrechte nicht nur als „oberste Konstitutionsprinzipien“ des Grundgesetzes, sondern zugleich als Fundamentalnormen der internationalen Gemeinschaft an. Das menschenrechtliche Wertsystem, wie es sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus der Würde des Menschen entfaltet,112 wird damit zum Telos des Grundgesetzes erhoben. Diese „Verfassungsentscheidung“ für das Wertsystem der internationalen Gemeinschaft“ sollte nach dem Willen des Parlamentarischen Rates, wie Art. 79 Abs. 3 GG ausweist, conditio sine qua non der Verfassung des westdeutschen Teilstaates sein. Im so verstandenen Menschenwürde- und Menschenrechtsbekenntnis des Art. 1 GG findet die „offene Staatlichkeit“ ihren Grund und ihre Legitimation. Die internationale Gemeinschaft, die sich in der Charta der Vereinten Nationen neu verfasst hat, stellt nicht mehr den Staat und seine Souveränität, sondern „Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“113 in den Mittelpunkt der Völkerrechtsordnung. Auch das Völkerrecht ruht somit seit 1945 auf einer anthropozentrischen Vision des Staates, die der Herrenchiemseer Verfassungskonvent für die neue deutsche Verfassung in die schlichten Worte gefasst hatte: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“114 Durch diese anthropozentrische Wende wandelt sich auch die normative Struktur der Völkerrechtsordnung. Völkerrecht ist nicht mehr ausschließlich zwischenstaatliches Recht, „law of nations“, es greift in seinem Regelungsanspruch nunmehr auch – wie es Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat formulierte – „durch die Staatskruste hindurch“ auf den Einzelnen zu.115 Für „die Bewohner des Bundesgebietes“ findet dieser fundamentale Strukturwandel in Art. 25 Satz 2 GG seinen staatsrechtlichen Ausdruck. Der Verfassungskonvent und der Parlamentarische Rat haben diese anthropozentrische Wende mit visionärer Klarheit erkannt. Mit ihrer „Verfassungsentscheidung“ für die „offene Staatlichkeit“ zogen sie die staatsrechtliche Konsequenz aus der zuvor in der UN-Charta initiierten völkerrechtlichen Öffnung der Staatlichkeit. schen dem Menschenwürdebekenntnis in Art. 1 Abs. 1 GG und der „Verfassungsentscheidung“ für die „offene Staatlichkeit“ wird vom Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht thematisiert. 111 Siehe oben Anm. 39. 112 Hierzu Rensmann (Anm. 31), 9 ff. 113 Präambel, Abs. 2 der Charta der Vereinten Nationen. 114 Art. 1 Abs. 1 des Entwurfs des Herrenchiemseer Konvents, abgedruckt in: Akten und Protokolle (Anm. 17), Bd. 2 (1981), 580. 115 Siehe oben Anm. 73.
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Der in Art. 1 Abs. 1 und 2 GG ausgesprochene teleologische Gleichlauf von Grundgesetz und Völkerrechtsordnung bildet zugleich die Legitimationsgrundlage – oder normativ formuliert: die verfassungsrechtliche „Struktursicherungsklausel“ – der „offenen Staatlichkeit“. Nur solange das übernationale Recht mit der Menschenwürdegarantie und den Menschenrechten in Einklang steht, kann es in die durch das Grundgesetz verfasste Ordnung eindringen.
E. Schluss Die im Grundgesetz „getroffene Verfassungsentscheidung“ für die „offene Staatlichkeit“ hat, wie schon Klaus Vogel in seinem „Klassikertext“ klar herausgearbeitet hat, eine aktive und eine passive Komponente. Einerseits ist sie auf die kooperative Verwirklichung der Staatszwecke auf regionaler und universaler Ebene, also auf „internationale Zusammenarbeit“ gerichtet.116 In diesem Sinne markiert der Übergang von der „geschlossenen“ zur „offenen Staatlichkeit“ das staatsrechtliche Pendent zu dem auf völkerrechtlicher Ebene von Wolfgang Friedmann diagnostizierten Strukturwandel vom klassischen „international law of coexistence“ zu einem neuen „international law of co-operation“.117 Die „Verfassungsentscheidung“ für eine „offene Staatlichkeit“ bedeutet aber auch und vor allem, dass sich der Staat rechtlich in die internationale Gemeinschaft einordnet und sich ihr insoweit auch unterordnet.118 Diese Facette der „offenen Staatlichkeit“ ist wesentlich anspruchs- und voraussetzungsvoller. Die Einordnung des Grundgesetzes und des von ihm verfassten Staates in engere und weitere Staatengemeinschaften rührt in fundamentaler Weise an die staatlichen Legitimationsgrundlagen und ist damit auf eine komplementäre Vision des Völkerrechts ausgerichtet, die sich viel radikaler als Friedmanns „international law of co-operation“ von der überkommenen Struktur der Völkerrechtsordnung entfernt. Die durch die Öffnung der nationalen Verfassungsordnung gerissene Legitimationslücke kann nur durch eine überstaatliche Rechtsordnung kompensiert werden, die selbst materielle Verfassungselemente in sich aufnimmt, ein Vorgang, der heute sowohl auf europäischer als auch auf universaler Ebene als „Konstitutionalisierung“ bezeichnet wird.119 Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich mit dem Bekenntnis zur Menschenwürde und zu den Menschenrechten als „Grundlage jeder menschlichen 116 117 118 119
Vogel (Anm. 1), 42. W. Friedmann, The Changing Structure of International Law (1964), 60 ff. Vogel (Anm. 1), 42. Hierzu Rensmann (Anm. 31), 329 ff., 360 ff m.w.N.
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Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“120 konsequent der Vision einer materiellen Konstitutionalisierung der internationalen Gemeinschaft verschrieben. Damit waren sie in den Jahren 1948/49 sicher „dem Zustand unserer Welt mit kühnem Griff voraus[geeilt]“.121 Der Parlamentarische Rat hat dabei nicht nur den von ihm verfassten Staat, sondern bereits den Prozess der Verfassungsgebung für die materielle Verfassung der internationalen Gemeinschaft geöffnet. Denn er unternahm es, im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes auch für die Gemeinschaft der Deutschen, so weit wie unter den damaligen Rahmenbedingungen möglich, den in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geronnenen internationalen Wertekonsens abzubilden.122 Mit der genetischen und teleologischen Ausrichtung der Grundrechte auf die internationalen Menschenrechtsstandards ließ der Parlamentarische Rat das menschenrechtliche Wertsystem der internationalen Gemeinschaft am Vorrang der Verfassung teilhaben. Mit dieser in den drei Absätzen des Art. 1 GG versinnbildlichten untrennbaren Verbindung des programmatischen Bekenntnisses zur Menschenwürde und den internationalen Menschenrechten einerseits und der strikten Normativität der Verfassung andererseits, hat der Parlamentarische Rat einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des modernen Verfassungsstaates geleistet. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes konnten in den Jahren 1948/49 nicht ahnen, dass sie damit die Grundlage für einen neuen Idealtypus des modernen Verfassungsstaates geschaffen hatten, der schon bald die USamerikanische Verfassung als internationales Referenzmodell ablösen sollte.123
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Art. 1 Abs. 2 GG. H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz (1950), 38. 122 Vgl. m.w.N. zur Entstehungsgeschichte Rensmann (Anm. 31), 25 ff. 123 Hierzu Rensmann (Anm. 31), 243 ff., 266 ff.; ders., The Constitution as a Normative Order of Values – The Influence of International Human Rights Law on the Evolution of Modern Constitutionalism, in: P.-M. Dupuy/B. Fassbender/M. N. Shaw/K.-P. Sommermann (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung – Common Values in International Law, Festschrift für Christian Tomuschat (2006), 259 ff. 121
Die Genese des „offenen Verfassungsstaats“ – Rückblick auf 1919 und 1871 – Von Volker Röben
A. Einleitung Thilo Rensmann ist darin zuzustimmen, dass Herrenchiemseer Konvent und Parlamentarischer Rat die Regelungen des Grundgesetzes über das Völkerrecht und seine innerstaatliche Wirksamkeit, internationale Zusammenarbeit und Friedensstaatlichkeit sowie internationalisierten Grund- und Menschenrechtsschutz als intrinsische Wertentscheidungen, aber auch als pragmatisch-instrumentale Konstruktion in einem bestimmten internationalen Kontext verstanden. Diesen bildete 1949 die greifbare politische Schwäche des neu zu verfassenden Staates, darüber hinaus aber auch eine Einschätzung der langfristigen Strategie eines mittelgroßen Staates im Herzen Europas. Bereits die Mitglieder des Herrenchiemseer Konvents hatten die klare Einsicht, dass Deutschland auf internationaler Ebene mitwirken und mitgestalten müsse, in verfassungsrechtlich operablen Bestimmungen formuliert.1 Aus der historischen Erfahrung der Weimarer Republik in die Zukunft extrapolierend ergab sich für den historischen Verfassungsgeber: Werden alle wesentlichen Interessen und internen Entwicklungen des Staates durch internationale Entwicklungen entscheidend beeinflusst, so muss der Staat, will er seine Interessen und Werte wahren, sich gleichsam präventiv nach außen wenden und auf diese internationalen Entwicklungen in seinem Sinne Einfluss nehmen können. Die neue Verfassung sollte dies ermöglichen, sie sollte einen nach außen handlungsfähigen Staat verfassen. Zugleich ging es darum, diese Handlungsfähigkeit an die verfassungsrechtliche Grundarchitektur rückzubinden. Diese doppelte Aufgabe setzten bereits der Konvent und ihm insoweit folgend der Parlamentarische Rat konstruktiv an wichtigen Hebelstellen einer Verfassung um: Die Bestimmungen des ursprünglichen Grundgesetzes über die Effektivität und Legitimität auswärtigen Handelns (Art. 24, 59 GG) und innerstaatliche Wirksamkeit des Völkerrechts 1 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz der westlichen Besatzungszonen (Hrsg.), Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August (o.J.).
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(Art. 24, 25, 59 GG), die institutionalisierte internationale Zusammenarbeit und schließlich die Friedensstaatlichkeit mit verfassungsunmittelbarer Bindung an bestimmte völkerrechtliche Grundsätze (Art. 24 bis 26, auch Art. 1 Abs. 2 GG) sind insoweit Ausdruck konkreter Verfassungsentscheidungen des Jahres 1949. Diese Bestimmungen hatte bereits der Herrenchiemseer Konvent im Wesentlichen formuliert; der Parlamentarische Rat vervollständigte das Bild einer auch für das auswärtige maßgeblichen Verfassung, indem er diese Bestimmungen aus der systematischen Isolierung des Herrenchiemseer Entwurfs löste und sie in die sachlich entsprechenden Abschnitte des Grundgesetzes integrierte. Sie stehen aber auch in einem verfassungshistorischen Kontext. Kontextualisiert man die äußeren Verfassungsentscheidungen historisch, werden Strukturen und Problemlösungen des Grundgesetzes in ihren Kontinuitäten und Diskontinuitäten klarer. Dabei darf man nicht bei der Erfahrung des sog. Dritten Reiches und des von ihm entfesselten Angriffskrieges stehen bleiben, so wichtig dies natürlich war, sondern muss sich längeren Entwicklungslinien zuwenden, die auf 1848 und 1919 zurückweisen.
B. Effektivität und Legitimität auswärtigen Handelns: Die auswärtige Kompetenzordnung in Kontinuitätslinien von 1848 und 1919 Effektivität und Legitimität auswärtigen Handelns sind Gegenstand der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung. Die Kontinuitätslinien des Grundgesetzes zu dieser Strukturfrage reichen bis 1848 zurück. Die verfassungsrechtliche Grundnorm für die Gestaltung der auswärtigen Angelegenheiten, die sich heute in Art. 59 GG findet, geht so bereits auf die sog. Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 zurück. Abschnitt 3 „Das Reichsoberhaupt“ enthält den folgenden Art. III: § 75. Der Kaiser übt die völkerrechtliche Vertretung des deutschen Reiches und der einzelnen deutschen Staaten aus. Er stellt die Reichsgesandten und die Consuln an und führt den diplomatischen Verkehr. § 76. Der Kaiser erklärt Krieg und schließt Frieden. § 77. Der Kaiser schließt die Bündnisse und Verträge mit den auswärtigen Mächten ab, und zwar unter Mitwirkung des Reichstages, insoweit diese in der Verfassung vorbehalten ist. § 78. Alle Verträge nicht rein privatrechtlichen Inhalts, welche deutsche Regierungen unter sich oder mit auswärtigen Regierungen abschließen, sind dem Kaiser zur Kenntnißnahme, und insofern das Reichsinteresse dabei betheiligt ist, zur Bestätigung vorzulegen.
Diese Entscheidung der Paulskirchenverfassung, die die Gestaltung der völkerrechtlichen Verhältnisse an die Verfassungsordnung rückbindet, findet sich in der
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Struktur in allen deutschen Verfassungen seit 1848, in der Bismarckschen Reichsverfassung von 1871 (Art. 11)2 ebenso wie in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 (Art. 45).3 Die Paulskirchenverfassung erweist sich hier wie in anderen Bereichen als eine wesentliche Quelle modernen Verfassungsdenkens.4 Indem Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG die gesetzförmige Zustimmung von Bundestag und Bundesrat zum Abschluss von politischen oder sich auf die Bundesgesetzgebung beziehenden Verträgen regelt, ist wiederum ein § 77 Art. III Abschnitt 3 Paulskirchenverfassung funktionsäquivalentes Ergebnis erzielt: Die Exekutivspitze des Föderalstaates bedarf der Mitwirkung von Föderalparlament und der Vertretung der Länder. Der offene Verfassungsstaat des Grundgesetzes verortet sich so auch in einer transatlantischen Verfassungsentwicklung. Die Verfasser der Paulskirche waren ja stark von dem Modell der US-Verfassung von 1787 beeinflusst, und auch Art. III zeigt klare Parallelen zu Art. I cl. 4 US-Verfassung.5 Diese Normen genüg2
Art. 11 Reichsverfassung von 1871:
„Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt. Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen. Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist die Zustimmung des Bundesrathes erforderlich, es sei denn, daß ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt. Insoweit die Verträge mit fremden Staaten sich auf solche Gegenstände beziehen, welche nach Artikel 4. in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, ist zu ihrem Abschluß die Zustimmung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die Genehmigung des Reichstages erforderlich“. 3 Art. 45 WRV: „Der Reichspräsident vertritt das Reich völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Reichs Bündnisse und andere Verträge mit auswärtigen Mächten. Er beglaubigt und empfängt die Gesandten. Kriegserklärung und Friedensschluß erfolgen durch Reichsgesetz. Bündnisse und Verträge mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung des Reichstags.“ In der Praxis wurden auch Abkommen, welche im weiteren Sinne der Friedenssicherung dienten, dem Parlament „aus politischen Gründen“ vorgelegt. 4 Zur Kontinuität zwischen Paulskirchenverfassung, Bismarckscher und Weimarer Reichsverfassung siehe M. Kloepfer, Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung. Zur Verfassungsgebung im vereinten Deutschland, Schriftenreihe Öffentliche Vorlesungen Humboldt-Universität zu Berlin Bd. 31, 1993, 9 f. 5 Die theoretische Begründung für diese gemeinsame Verantwortung von Legislative und Exekutive für die auswärtige Gewalt ist bereits in den Federalist Papers ausdrücklich erörtert worden, reicht also auf den Beginn moderner Verfassungsstaatlichkeit zurück. Danach verfügt die Exekutive zwar in besonderem Maße über die institutionellen Voraussetzungen für die wirksame Gestaltung der auswärtigen Beziehungen. Doch kann sie nicht allein zuständig sein. Denn auswärtiges Handeln birgt Gefahren für die Stabilität der
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ten jedenfalls im 19. Jahrhundert für die effektive Teilnahme am völkerrechtlichen Verkehr.
C. Internationale institutionalisierte Zusammenarbeit und Rezeption des Völkerrechts in der Weimarer Zeit: Verfassungsrecht und Verfassungspraxis Der II. Abschnitt des Grundgesetzes über den Bund und die Länder regelt die Prinzipien der allgemeinen Staatsstruktur und die Prinzipien für die institutionalisierte internationale Kooperation in den Art. 24 Abs. 1 bis 3 und dann in Art. 23 n.F. GG. Diese Vorschriften sind in dieser Form eine Innovation. Doch stehen sie bei näherer Betrachtung in einer Kontinuitätslinie zur Weimarer Reichsverfassung und vor allem zur Weimarer Praxis der 1920er Jahre, die bereits darauf abzielte, die Anforderungen des damals im Entstehen begriffenen modernen Völkerrechts an die verfassungsrechtliche Einfassung seiner Gestaltung zu bewältigen.
I. Die Weimarer Reichsverfassung Die Weimarer Reichsverfassung war auf das Völkerrecht geradezu verwiesen. Das Ziel des Völkerfriedens war in der Präambel verankert.6 Der Versailler Vertrag sah nach Völkerrecht und Verfassungsrecht (Art. 178 Abs. 2 Satz 2 WRV)7 tief greifende Bindungen der deutschen Staatsgewalt vor. Art. 178 WVR begründete so auch bereits eine verfassungskräftige Bindung an die Satzung des Völkerbundes als Bestandteil des Versailler Vertrags unabhängig von der Mitgliedschaft Deutschlands.8 Art. 4 WRV begründete die Bindung an das Völkerrecht im Allgemeinen.9 internen Ordnung und muss daher der Kontrolle durch die Legislative unterliegen. Gewaltenteilung erzeugt Machtbegrenzung und damit Wettbewerb um die Loyalität der Bürger. Das Zusammenwirken der Organe verhindert Klientelpolitik, weil potentiell alle Interessen repräsentiert sind, J. Jay, Federalist No. 64, in: C. Rossiter (Hrsg.), The Federalist Papers, 1961. 6 „Das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben“ (Hervorhebung durch Verf.). 7 „Die Bestimmungen des am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichneten Friedensvertrages werden durch die Verfassung nicht berührt“. 8 Ein zentrales Instrument für eine friedliche zwischenstaatliche Ordnung sollte die zwischenstaatliche Regelung sozialer Gerechtigkeit durch die ILO als Teil des Versailler Vertrags sein. Dazu bestimmte Art. 162 WRV: „Das Reich tritt für eine zwischenstaatliche
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Mit diesen Regelungen sollte der Abschied von imperialem Anspruch des Kaiserreiches markiert werden.10 Sie waren nicht bloße regulative Idee, sondern als unmittelbar geltende Verfassungshebel für die internationale Zusammenarbeit gedacht. Allerdings haben Nationalversammlung und ihr folgend die Rechtspraxis insbesondere den Gedanken des Art. 4 WRV durch die Interpretation geschwächt, dass das Attribut „anerkannt“ im Sinne einer Anerkennung durch alle Mächte, einschließlich Deutschlands zu verstehen sei, also das Völkervertragsrecht ausschloss.11 Art. 4 WRV hat deswegen und weil er nicht als Adressatenwechsel verstanden wurde, es also nur wenig innerstaatlich anwendbares Völkerecht gab, keine wirkliche praktische Bedeutung erlangt.12 Besonders fühlbar ist das Fehlen einer allgemeinen Regelung zur Hoheitsrechtsübertragung bzw. -beschränkung auf internationale Organisationen und damit eines verfassungsgeprägten Modells für eine moderne auswärtige Gewalt, obwohl bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Rheinschifffahrtsakte die entsprechenden Modelle bekannt waren. Die Weimarer Reichsverfassung stellte über die Inbezugnahme des Versailler Vertrags und die Sonderregelung der Rheinschifffahrtsakte13 hinaus kein positives allgemeines Deutungsmuster bereit.14 Die Verfassung der Weimarer Republik ist Regelung der Rechtsverhältnisse der Arbeiter ein, die für die gesamte arbeitende Klasse der Menschheit ein allgemeines Mindestmaß der sozialen Rechte erstrebt“. 9 Art. 4 WRV bestimmte: „Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bindende Bestandteile des deutschen Reichrechts“. 10 C. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1999, 179. Der zugrunde liegende allgemeinere Gedanke der Öffnung für das Völkerrecht wurde im zeitgenössischen Schrifttum allerdings verengt verstanden und als unangemessen angesehen. Der sicher im Übrigen republikanische Anschütz etwa sah in der Anerkennung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts als deutsches Reichsrecht „grundloses wie würdeloses paterpeccavi, indem die Vorschrift, daß das Völkerrecht fortan für das Reich ‚maßgebend‘ sein solle, den Anschein erweckte, als habe man diese Maßgeblichkeit nicht anerkannt und wolle nun, die hinreichend bekannten Anklagen unserer damaligen Feinde zugestehend, Reue und Besserung geloben“, G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl., 1933, 61. Im Übrigen erkannte Anschütz aber die bewusste Anordnung der innerstaatlichen Geltung ausdrücklich an, ebenda, 62. 11 Art. 25 GG versucht bekanntlich, diesen Mangel zu beheben, indem er auf die Voraussetzung der „anerkannten“ Regeln verzichtet. Allerdings ist die praktische Relevanz dieser Vorschrift geringer geblieben, auch weil das Bundesverfassungsgericht sie auf Völkergewohnheitsrecht bezieht. 12 Allerdings wendeten deutsche Gerichte im Übrigen wie bereits im Kaiserreich Völkerrecht an. Siehe hierzu M. Fleischmann, in: G. Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, 209, 218 ff. 13 Zur Rheinschifffahrtsakte siehe Art. 354 Versailler Vertrag. 14 Die Weimarer Verfassung ließ deshalb Deutungen Raum wie beispielsweise der Verfassungslehre von Carl Schmitt, in der der „Bund“ eine überragende Rolle einnimmt
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hinsichtlich der internationalen Öffnung danach insgesamt ambivalent. Sie stellt einen verfassungsrechtlichen Versuch dar, den Staat international handlungsfähig zu machen. Sie stand einer internationalen Öffnung nicht im Wege, die verfassungsrechtliche Lage ist letztlich offen.
II. Internationale Öffnung in der Praxis der Weimarer Republik Im Rahmen dieser Weimarer Verfassungsnormen hat sich aber jedenfalls eine intensive internationale Zusammenarbeit der Weimarer Republik vollzogen. Es ist ein wenig beachteter Aspekt des Weimarer Verfassungsrechts mit Langzeitwirkung für das Grundgesetz, dass sich die Republik Mitte der 1920er Jahre international öffnete – einschließlich der Übertragung bzw. Beschränkung von Hoheitsrechten. Die lebenswichtige Reparationsfrage war 1923 mit dem Londoner Abkommen, das den sog. Dawes-Plan in Recht goss, geregelt worden. Der Völkerbundsbeitritt wurde 1926 vollzogen. Beide Verträge wirkten intensiv nach innen. Das Londoner Abkommen verlangte eine Hoheitsrechtsbeschränkung in Form der Beteiligung der Alliierten an der Verwaltung der Reichsbahn. Dies galt als Beschränkung deutscher Hoheitsgewalt, und damit war das Abkommen eine Verfassungsänderung, die nach Art. 76 WRV eine Zweidrittelmehrheit im Reichstag voraussetzte.15 Diese konnten die Parteien der Weimarer Koalition nur mit Mühe besorgen, weil sie dafür auf die DNVP angewiesen waren. Das (letztlich erfolglose) Volksbegehren „Freiheitsgesetz“ sah in der Sache das gesetzliche Verbot für die Reichsregierung vor, den nachfolgenden Young-Plan auszuhandeln oder auszuführen; bei der Auslegung des Art. 73 Abs. 3 WVR zum Volksentscheid wurde insoweit ausschließlich auf die Gesetzesform abgestellt. Der Young-Plan verlangte u.a. die Räumung des Rheinlands. Beim Völkerbund war streitig, ob sein Sanktionssystem (Art. 16) eine materielle Kriegserklärung und damit eine materielle Änderung von Art. 46 Abs. 2 enthielt, auch wenn dies letztlich verneint wurde. Hätte man den Sanktionsmechanismus als materielle Kriegserklärung verstanden, wofür etwa Carl Schmitt eintrat, wäre die Satzung als materielle Änderung von Art. 45 Abs. 2 WRV anzusehen
und mit Voraussetzungen aufgeladen wird, die die realen Veränderungen in der Umwelt des Staates, insbesondere den Völkerbund, auf das rein Zwischenstaatliche reduziert. Diese zweiwertige Logik schließt die praktische Öffnung des Staates für und durch internationale Integration aus. 15 Art. 76 lautete auszugsweise: „Die Verfassung kann im Wege der Reichsgesetzgebung geändert werden … Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich“.
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gewesen, mit der Folge, dass auch hier eine Zweidrittelmehrheit erforderlich gewesen wäre.16 Verfassungsrecht und vor allem Verfassungspraxis der Weimarer Republik haben damit wichtige Weichen auch für das Grundgesetz gestellt. Im Grunde waren die Parameter seit den 1920er Jahren damit klar: die Möglichkeit zur institutionalisierten, tief in die inneren Verhältnisse eingreifenden internationalen Zusammenarbeit und die Einbettung dieser Öffnungsermächtigung in die allgemeinen Verfassungsstrukturprinzipien, namentlich die parlamentarische Demokratie und konkret die Mitwirkungsrechte des Parlaments.
D. Friedensstaatlichkeit Die intensivste Form internationaler völkerrechtsgestützter Zusammenarbeit ist Friedensstaatlichkeit, namentlich der Verzicht auf den einseitigen Einsatz staatlicher Machtmittel, im Grundgesetz verankert in Art. 24 Abs. 2, 26 GG. Die Verfassung der Weimarer Republik verweist auf dieses Ziel in der Präambel. In ihren operativen Bestimmungen enthält sie die bereits erwähnte Bezugnahme auf den Versailler Vertrag sowie, wie bereits die Paulskirchenverfassung, im Übrigen nur Kompetenzvorschriften über den Krieg und Friedensschluss. Auch hier weist aber die Praxis der Weimarer Republik wiederum über den Verfassungstext hinaus, war die Republik doch den friedenssicherndem Vertrag von Locarno17 und auch dem kriegsächtenden Briand-Kellog-Pakt18 beigetreten. Die rechtliche und zwar individualrechtliche Wirksamkeit des Briand-Kellog-Paktes war dann bekanntlich Grundlage für die Entscheidungen des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals zu Verbrechen gegen den Frieden.
E. Die Entscheidung des Grundgesetzes für den offenen Verfassungsstaat im Kontext der deutschen Verfassungsgeschichte Wie das Grundgesetz insgesamt ist die Verfassungsentscheidung für den offenen Staat durch den unmittelbar bindendes Recht darstellenden Grundrechtskatalog, der sich um die Menschenwürde gruppiert, die repräsentativ-parlamentarische Verfassung mit der dem Parlament verantwortlichen handlungsfähigen Regierung, und 16 17 18
Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, 366. RGBl. 1925 II, 975. RGBl. 1929 II, 97.
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ausgeprägte Rechtsstaatlichkeit mit einer klar getrennten unabhängigen Justiz, einem starken Verfassungsgericht mit der Stellung eines Verfassungsorgans, das namentlich über die Verfahrensart der Verfassungsbeschwerde verfügt, charakterisiert. Diese Grundentscheidungen werden dann auf den auswärtigen Bereich erstreckt, also auf die Kompetenzordnung, die internationale institutionalisierte Zusammenarbeit und Rolle des Völkerrechts, die Friedenstaatlichkeit sowie Grundund Menschenrechtsschutz. Der ursprüngliche Text des Grundgesetzes und vielleicht noch wichtiger seine diesbezügliche Architektur haben dann in der Folgezeit eine gleichsam pfadabhängige Entfaltung durch Verfassungsgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit erfahren, die in einer bestimmten historischen Kontinuitätslinie erscheint. Die konkrete Entscheidung, die das Grundgesetz zur institutionalisierten internationalen Zusammenarbeit, kurz zur Integration, getroffen hat, wird erst auf dieser verfassungshistorischen Folie voll erkennbar. Es geht zum einen um die Möglichkeit, Hoheitsrechte zu beschränken oder zu übertragen als praktischen Ausdrucks des Ziels einer Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Völkerrechtsgemeinschaft, in ein kollektives Sicherheitssystem und in die Europäische Gemeinschaft. Von herausragender Bedeutung war dabei die Integrationsermächtigung in Art. 24 Abs. 1 GG. Eine entscheidende Lehre des historischen Bonner Verfassungsgebers aus Weimar und zugleich Bestätigung der Weimarer Praxis liegt hier weniger in der Klarstellung, dass Souveränitätsrechte übertragen oder beschränkt werden können, sondern darin, diese materielle Verfassungsänderung ausdrücklich auf Verfassungsebene zu regeln und sie durch einfaches Gesetz – also mit einfacher Mehrheit im Parlament zu bewirken. Diese Feststellung ist nicht trivial und sie wird auch nicht dadurch entwertet, dass empirisch in der bundesrepublikanischen Geschichte in den Parlamenten regelmäßig auch größere als die einfachen Mehrheiten für Integrationsverträge vorhanden waren.19 Konzeptionell sichert sie jedenfalls der Regierung die perspektivische Möglichkeit, ihre auswärtige Politik notfalls allein mit der Kanzlermehrheit parlamentarisch durchzusetzen. Hinzu tritt die Nichtverfügbarkeit direktdemokratischer Instrumente. Das Grundgesetz setzte ursprünglich damit auch nach außen auf Stabilität einer offenen und aktiven politischen und rechtlichen Gestaltung der auswärtigen Verhältnisse, indem das Erpressungspotenzial von Minderheitsparteien (modern gesprochen die Transaktionskosten von Holdouts) – wie etwa der DNVP der Weimarer Zeit – reduziert wird. Wenn man also in institutionellen Vorschriften des Grundgesetzes als Lektion von Weimar eine Betonung der Stabi19 Aber etwa nicht im Falle des Beitritts zu den UN 1973, der wegen des gleichzeitigen Beitritts der ehemaligen DDR nur von der sozialliberalen Regierungsmehrheit getragen wurde.
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lität parlamentarischer Mehrheitsregierungen sehen kann, so gilt dies auch für die äußere Stabilität. Es ist eine Konsequenz des Erfolgs des ursprünglichen, auf Effektivität zielenden Ansatzes, dass das Grundgesetz nach 1990 die breite parlamentarische Legitimation in den Vordergrund rücken konnte. Zum einen, indem Art. 23 Abs. 1 Satz 2, 3 n.F. GG ratifizierungsbedürftige (formelle) Änderungen der Verträge über die europäische Integration nunmehr als materielle Verfassungsänderung qualifiziert und sie den Voraussetzungen einer Verfassungsänderung unterwirft.20 Zum anderen, indem das Parlament auch an nichtratifizierungsbedüftigen europäischen Vertragsfortentwicklungen gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 n.F. GG und konkreten Vertragsanwendungen auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 2 n.F. GG21 und sowohl bei der nichtratifizierungsbedürftigen Fortentwicklung kollektiver Sicherheitssysteme im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG22 als auch ihrer konkreten Anwendung durch Einsatz der Bundeswehr im Rahmen solcher Systeme23 zu beteiligen ist. Weil nur der pouvoir constituant über eine überstaatliche europäische Staatsgründung durch Vertrag entscheiden können soll,24 erfährt auch die direkte Demokratie eine Rolle. Die Entscheidung für die institutionalisierte internationale Zusammenarbeit, die Art. 24 GG enthält, hat sich in der Verfassungspraxis auch als dominantes Instrument zur Realisierung der Friedensstaatlichkeit des Grundgesetzes erwiesen. Diese Friedensstaatlichkeit ist mannigfach verankert. Art. 24 Abs. 2, Art. 26 und Art. 9 Abs. 2 GG sind der normative Grundbestand der Verfassungsentscheidung, wobei nach dem Willen des Konvents diese Bestimmungen mit unmittelbarer Geltung ausgestattet sein sollten. Sie waren als verfassungsunmittelbare Festschreibung eines Friedensgebots im Sinne eines machtstaatlichen Gewaltverzichts gewollt, nicht nur als Bekenntnis.25 Die Verfassungsbestimmungen haben sich in der Verfassungspraxis als hinreichend flexibel erwiesen, um die Wiederbewaffnung Deutschlands und den Streitkräfteeinsatz zu ermöglichen. Die unmittelbare verfassungsrechtliche Rezeption von friedenssicherndem Völkerrecht durch Art. 24 Abs. 2 und Art. 26 GG und der 20
Allerdings ohne das Zitiererfordernis des Art. 79 Abs. 2 GG. Das Grundgesetz kehrt damit zur Verfassungsdurchbrechung – Verfassungsänderung ohne Wortlautänderung – Weimarer Prägung zurück. 21 Hierzu nunmehr BVerfGE 123, 267 (386 f., 390 f., 395). 22 BVerfGE 105, 141. 23 St. Rspr. seit BVerfGE 90, 286 (387 f.). 24 Hierzu nunmehr BVerfGE 123, 267 (398). 25 Vgl. BVerfGE 104, 155 (210). Hierzu u.a. V. Röben, Außenverfassungsrecht, 2006, 74 ff.
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dadurch bewirkte einseitige dauerhafte Verzicht auf die traditionellen Instrumente des Machtstaates bilden zugleich den Garanten dafür, dass die parallele Entscheidung für die internationale Öffnung des vom Grundgesetz verfassten Staates dauerhaft ohne Alternative ist. Der Einsatz der Streitkräfte ist solchen Verfassungsstrukturen unterworfen, die letztlich auch für die zivile Zusammenarbeit gelten. Das Grundgesetz versteht danach das Militärische wie alles andere auswärtige staatliche Handeln als völkerrechts- und verfassungsrechtsgebunden. Diese Integration des Militärischen ist so vollständig gelungen, dass sich dieser Bereich wiederum zum Vorreiter für verfassungsrechtliche Entwicklungen im zivilen Bereich entwickeln konnte. Prominentes Beispiel sind die parlamentarischen Mitwirkungsrechte, die von Art. 24 Abs. 2 GG nach Art. 23 n.F. GG in der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil migriert sind. Aber auch die allgemeine Rezeption des Völkerrechts als Regelungsressource über das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte26 ordnet sich in diese Entwicklungslinie ein. Das Grundgesetz verfasst einen offenen, seine internationale Verantwortung ernst nehmenden Staat, so dass Völkerrecht und innerstaatliches Verfassungsrecht zunehmend kongruent sind. Das illustrieren wiederum die Auslandseinsätzen der Bundeswehr, bei deren rechtlicher Steuerung Völkerrecht und Staatsrecht engst verknüpft sind. So hat das Bundesverfassungsgericht im Oktober 2009 die völkerrechtliche Rechtslage nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo gespiegelt im konstitutiven Parlamentsvorbehalt für die Bundeswehrbeteiligung an der KFOR im Kosovo erörtert.27 In dem Organstreitverfahren stellte es fest, dass das Parlament bestimmte völkerrechtlicher Voraussetzungen zur notwendigen Bedingung seiner Einsatzzustimmung machen könne. Bei Anlegung des gebotenen Evidenzmaßstabes gelte die UN-Sicherheitsratsresolution 1244 auch nach der Unabhängigkeitserklärung jedenfalls insoweit fort, als sie die Grundlage für die Anwesenheit fremder Truppen bilde. Damit bestehe die völkerrechtliche Grundlage der ursprünglichen Parlamentszustimmung fort. Das Parlament als Herr seiner Zustimmungsentscheidung könne darüber hinaus, so der Zweite Senat, aber sein politisches und rechtliches Ermessen hinsichtlich völkerrechtlicher Entwicklungen durch eine freie Rückholentscheidung nach § 8 ParlBG ausüben; das sei Ausdruck der gemeinsamen Verantwortung von Regierung und Parlament bei der völkerrechtskonformen Gestaltung der auswärtigen Beziehungen. Wie inzwischen fast alle grundlegenden völkerrechtlichen Entwicklungen, so hat auch die Staatswerdung des Kosovo28 Implikationen für das deutsche Staatsrecht. 26
BVerfGK 9, 174. Vgl. BVerfG, 2 BvE 4/08 vom 13.10.2009. 28 Zur völkerrechtlichen Seite siehe das vor dem Internationalen Gerichtshof anhängige Gutachtenverfahren „Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of 27
Die Genese des „offenen Verfassungsstaats“
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Für einen Staat der geographischen Lage und Größe Deutschlands gibt es zu einer Öffnung nach außen keine Alternative, das hat bereits der historische Verfassungsgeber klar erkannt, wobei die Erfahrung der Weimarer Verfassungspraxis der 1920er Jahre für die führenden Köpfe eine prägende Rolle gespielt haben dürfte. Ihnen ging es darum, geeignete Verfassungsbestimmungen zur Umsetzung einer Verfassungsentscheidung zu schaffen, die aus den beiden Elementen Öffnung für effektives Handeln im Raum jenseits des Staates und Erstreckung der Verfassung auf auswärtiges Handeln in diesem Raum besteht. Die Weimarer Praxis zeigte dabei bereits die entscheidenden Problemkonstellationen auf: Wie kann die Verfassung auf das auswärtige Handeln sinnvoll erstreckt werden, wenn dieses in seiner Regelungsintensität innerstaatlichem Handeln nahe kommt? Die verfasste parlamentarische Demokratie ist durch eine Entscheidung für die staatliche Offenheit dazu genötigt, ihre Funktionalität durch die Schaffung geeigneter Instrumente parlamentarischer Mitwirkung zu wahren. Vor allem im Falle dynamischer, institutionalisierter Verträge stellt sich dieses Problem der effektiven Mitwirkung des Parlaments an der Gestaltung des Vertrags durch die Exekutive. Eine zweite Problematik ist die Kooperation zwischen internationalen und nationalen Organen bei der Auslegung und Anwendung solcher Verträge.29 Dieser Entscheidung des Grundgesetzes für die umfassende Rezeption des internationalen Rechts in eine geordnete innerstaatliche Rechtsordnung kommt Vorbildfunktion für die Familie der posttotalitären Verfassungen zu, die die Entwicklungslinien des Grundgesetzes dann weiter ausziehen. Jüngstes Beispiel ist die Verfassung des Kosovo vom Juni 2008. In der allgemeinen Struktur ersichtlich vom Grundgesetz beeinflusst,30 sind zwei strukturelle Fortentwicklungen dieser Verfassung hervorzuheben: Die starke Stellung des Völkerrechts, dem die Verfassung zur Gänze Vorrang vor nationalem Recht einräumt, und die konsequente Nutzung menschen- und minderheitenrechtlicher völkerrechtlicher Standards als Independence by the Provisional Institutions of Self-Government of Kosovo“, http://www. icj-cij.org/docket/index.php?p1=3&p2=4&code=kos&case=141&k=21. 29 Eine Antwort auf diese Frage gibt der Görgülü-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 111, 307. Indem es den Kern der EMRK-Rechte in die Grundrechte des Grundgesetzes zieht, erstreckt es seine Zuständigkeit auf die innerstaatliche Interpretation und Durchsetzung der EMRK-Rechte. Auf diese Weise ist ein auf die EMRK bezogener Dialog zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR möglich. 30 Die detaillierten Verfassungsbestimmungen normieren vielfach den in Deutschland und im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention erzielten verfassungsrechtlichen Konsens, etwa über die Struktur des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der Schrankendogmatik, über die Rolle des Eigentumsschutzes, die einzelnen Funktionen der Verfassungsorgane und die Finanzverfassung sowie die Struktur einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung.
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Regelungsressource. Die Europaratsübereinkommen zum Minderheitenschutz, nämlich: Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, Europäische Charta der Minderheitensprachen und Charta der kommunalen Selbstverwaltung werden auf verfassungsrechtlicher Ebene en detail rezipiert; damit wird ein funktionaler, vor allem auf die Sicherung der kulturellen Identitäten der Gemeinschaften zielender Schutz ermöglicht.
Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes im Wandel der Anschauungen
Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der politischen Praxis der deutschen Exekutive und Legislative Von Andreas Paulus*
A. Einleitung: Völkerrechtsfreundlichkeit und politische Praxis Das – an sich ja nicht wirklich „runde“ – 60. Jubiläum des Grundgesetzes gibt Anlass zu einer Analyse des Verhältnisses der theoretischen Völkerrechtsfreundlichkeit zur politischen Praxis. Warum erst jetzt, könnte man fragen. Nun, gerade jetzt, wäre die Antwort. Beim 10., 20., ja auch noch 30. und 40. Jahrestag des Grundgesetzes wäre die Frage nach der Völkerrechtsfreundlichkeit in der Praxis nur sehr begrenzt sinnvoll gewesen. Noch beim 40. Jubiläum im Mai 1989 war Deutschland eine geteilte Nation, die mit der Berufung auf das Völkerrecht die Perspektive der Wiedervereinigung in der Schwebe halten wollte, selbst wenn dafür – wie durch die gleichzeitige Behauptung von Dach- und Identitätsthese1 – die Gesetze der Logik strapaziert werden mussten. Wenn und solange die Bundesrepublik den Anspruch auf freie Selbstbestimmung des gesamten Deutschlands aufrechterhalten wollte, musste sie sich – mangels anderer Mittel – des Rechts bedienen, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands. Innerstaatlich war hier das Staatsrecht angesprochen, um gegen die steigende Zahl der Realisten – der Honecker-Besuch von 1987 gab dem bildhaften Ausdruck – den Anspruch des Grundgesetzes zu vertreten, wie es in dem Text der Präambel seinerzeit hieß, auch die Aspirationen jener wiederzugeben, „denen mitzuwirken versagt war“. Weiter hieß es – und das Jubiläum gibt Anlass, daran zu erinnern: „Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Freiheit und Einheit Deutschlands zu vollenden.“ Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Text der Präambel im Grundlagenurteil * Für seine umfangreiche Hilfe bei der Erstellung der Fußnoten bin ich Herrn Matthias Lippold zu Dank verpflichtet. Die Verantwortung für alle Fehler liegt allein beim Verfasser. 1 Siehe dazu nur R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2. Aufl. 1994, 46 ff.; M. Schweitzer, Staatsrecht III, 2. Aufl. 1990, 190 ff.
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bekanntlich die Dignität eines echten Verfassungsrechtssatzes zugesprochen,2 auch wenn die politische Praxis dem langsam, aber scheinbar unaufhaltsam zu entgleiten drohte. Doch das Grundgesetz konnte nur den innerstaatlichen Akteuren entgegengehalten werden. Nach außen konnte es allenfalls dazu dienen, die Grenzen der bundesdeutschen Bereitschaft festzulegen, auf die Ansprüche der DDR auf volle Souveränität einzugehen, wie dies im Brief zur deutschen Einheit beim Moskauer Vertrag3 und Grundlagenvertrag4 sowie in der Rechtsverwahrung beim Beitritt zu den Vereinten Nationen5 der Fall war. Vielmehr mussten sich die deutschen Staatsorgane völkerrechtlicher Mittel bedienen, wie sie eben skizziert worden sind; einerseits die Geltendmachung des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts; andererseits vertraglicher Vorbehalte und Rechtsverwahrungen wie bei Grundlagenvertrag, Ostverträgen und UN-Beitritt. Völkerrechtsskepsis hätte bedeutet, diese Rechte infrage zu stellen – in dieser Perspektive waren die Befürworter der Aufgabe des Anspruchs auf Wiedervereinigung die wahren Völkerrechtsskeptiker. Seit der Wiedervereinigung ist das anders geworden. Die Bundesrepublik besitzt nicht nur die Rechte eines souveränen Staates in den inneren und äußeren Angelegenheiten, wie es der Deutschlandvertrag noch ausgedrückt hatte,6 sondern ist seit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag ein voll souveräner Staat ohne territoriale Ansprüche nach außen,7 ein Staat, der in die Völkerrechtsgemeinschaft und in Europa integriert ist und damit das Ziel seiner Geschichte, wenn es so etwas gibt, erreicht hat, nämlich: Einheit in Freiheit. Als Mitglied der NATO ist Deutschland nicht mehr primär Sicherheitsnehmer, der die Unterstützung der atlantischen Allianz für die Bewahrung seiner Unabhängigkeit und territorialen Integrität weit überproportional in Anspruch nimmt, wie noch vor 1989, sondern Sicherheits2
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 36, 1 (28). Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 12. August 1970, Nr. 107, 1057–1058. 4 Brief zur Deutschen Einheit v. 12.8.1970 (zum Moskauer Vertrag), Bulletin der Bundesregierung Nr. 109 vom 17.8.1970, 1094, abgedruckt in: D. Rauschning (Hrsg.), Rechtsstellung Deutschlands, Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte, 2. Aufl. 1989, 123. 5 BT-Drs.7/154, 42 Abschnitt II; siehe auch: U. Beyerlin/W. Strasser, Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1973, Zeitschrift für ausländisches und öffentliches Recht (ZaöRV) 35 (1975), 768 (802–803). 6 BGBl. 1955 II, 306–320, Art. 5 I. 7 Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland (Zwei-plus-VierVertrag) vom 12.9.1990, BGBl. II, 1317, Art. 7 II: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten“. 3
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geber, der zusammen mit seinen Bündnispartnern international Frieden hält oder schafft, bis hin zum Hindukusch. Seitdem ist Deutschland als unabhängiger internationaler Akteur gefragt und kann es sich auch leisten, selbst zur Weiterentwicklung des Völkerrechts beizutragen. Bis zum 50. Jubiläum des Grundgesetzes im Mai 1999 waren die politischen Akteure der Bundesrepublik damit beschäftigt, die Folgerungen aus dieser Entwicklung zu ziehen. Das Blauhelm-Urteil von 19948 war wohl der wichtigste, wenn auch nicht der einzige Einschnitt in diese Richtung. Aber im Mai 1999 war völlig unklar, wie der Kosovo-Krieg ausgehen würde, mit all den unabsehbaren Folgen, die ein damals nicht auszuschließendes Scheitern der NATO mit sich gebracht hätte. Als eigenständiger Völkerrechtsakteur hatte Deutschland allerdings bereits Erfolge vorzuweisen; das Römische Statut für den Internationalen Strafgerichtshof9 stellt wahrscheinlich den bisher größten völkerrechtspolitischen Erfolg der Bundesrepublik dar, den sie seit dem Zwei-plus-Vier Vertrag gegen die Völkerrechtsskepsis auch vieler ihrer Verbündeter durchgesetzt hat. Wenn der eine oder die andere in Bundesregierung oder Bundestag dabei Zweifel an der Effektivität und Effizienz des Völkerrechts besass, behielten sie diese weitgehend für sich; anders als bei den meisten Verbündeten unterstützte auch das Verteidigungsministerium die deutsche Verhandlungsposition. Der Kosovo-Krieg wurde denn auch trotz seiner völkerrechtlichen Fragwürdigkeit – mit der Unterstützung des bundesdeutschen Hausphilosophen Jürgen Habermas10 – nicht etwa als Ausdruck von Völkerrechtsskepsis, sondern als Beitrag zu dessen Fortentwicklung verkauft; bis hin zur Rechtfertigung der Intervention mit einem drohenden Genozid angesichts der Blutspur von Milosevic und Konsorten im Balkan. Zehn Jahre später scheint dieser Enthusiasmus verflogen. Der Irak-Konflikt hat Fragen aufgeworfen, einschließlich derjenigen, ob Bündnistreue über den Buchstaben der Verträge hinaus in Konflikt zum allgemeinen Völkerrecht stehen kann. Andererseits führen die rechtlichen wie tatsächlichen Probleme mit dem AntiPiraterie-Einsatz vor der Küste Somalias11 uns vor Augen, dass die Mitwirkung bei der Durchsetzung des Völkerrechts sich unter Umständen schlecht mit den verfassungsrechtlichen Grenzen verträgt, die das Grundgesetz in einer restriktiven Auslegung jedem internationalen Einsatz zieht – schon der erste aktive Waffen8
BVerfGE 90, 286. Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, UNTS 2187, 3; BGBl. 2000 II, 1394. 10 J. Habermas, Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral, in: R. Merkel (Hrsg.): Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht (2000), 51–65. 11 T. Treves, Piracy, Law of the Sea, and Use of Force: Developments off the Coast of Somalia, European Journal of International Law (EJIL) 20 (2009), 399–414. 9
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gebrauch deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg während der Rettungsaktion in Albanien hatte diese Frage aufgeworfen. Der Auftrag, den mir die Tagungsorganisatoren gegeben haben, ist für einen Juristen untypisch. Die Analyse von Gerichtsurteilen kommt uns nicht nur inhaltlich, sondern auch wegen der Begrenzung des Materials auf die jeweiligen Fälle mehr entgegen. So hat das Bundesverfassungsgericht das Verhältnis von Exekutive und Legislative im außen- und verteidigungspolitischen Bereich mehr als einmal grundlegend geprägt, von der Exekutivfreundlichkeit der Pershing-Entscheidung12 bis zur Parlamentsfreundlichkeit des AWACS-Türkei-Urteils vom Mai letzten Jahres13 und dem Lissabon-Urteil.14 Eine umfassende und vollständige zeithistorische Analyse zu Völkerrechtsfreundlichkeit und -skepsis in der deutschen Politik können Sie von mir daher nicht erwarten. Wer innerhalb der Exekutive welche Position zur Nützlichkeit des Völkerrechts einnahm, ist zudem von außen nur schwer zu bestimmen, jedenfalls wenn es um aktuelle Vorgänge geht. Schließlich werde ich den Gegenstand weitgehend auf den Gebrauch militärischer Gewalt beschränken – einmal, weil eine gewisse Beschränkung des Materials unvermeidbar ist, aber auch, weil sich nirgends so wie beim Einsatz militärischer Gewalt die Völkerrechtsfreundlichkeit oder -skepsis bewähren muss. Die aktuellen Debatten über die Unterstützung der Koalitionstruppen beim Angriff auf den Irak – bis hin zum Untersuchungsausschuss des Bundestages – haben das gezeigt. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die Praxis von Exekutive und Legislative in unserem Bereich nur schwer trennbar ist – wie ja überhaupt im parlamentarischen Regierungssystem in der Regel Regierung und Opposition und nicht, wie in der klassischen Gewaltenteilung, Exekutive und Legislative einander gegenüberstehen.15 Dazu kommt, dass die offizielle Politik aller Akteure die Völkerrechtsfreundlichkeit kaum in Frage stellt; in der Regel streiten sich Teile der Opposition mit der Regierung auf Grundlage völkerrechtlicher Argumente – gegenwärtig ist es vor allem die Linksfraktion, die das Völkerrecht als Argumentationsgrundlage gegen die Regierung zu nutzen bemüht ist. Es ist wenn überhaupt der Subtext mancher Äußerungen, der eine Völkerrechtsskepsis einzelner Akteure erkennen lässt.
12
BVerfGE 68, 1. BVerfGE 121, 135. 14 BVerfGE 123, 267. 15 H. H. Klein, Aufgaben des Bundestages, in: J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 40, Rn. 7; W. Zeh, Gliederung und Organe des Bundestages, ebd., § 42, Rn. 18 m.w.N. 13
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Im Folgenden werde ich zunächst auf einige grundlegende Veränderungen im Verhältnis von Exekutive und Legislative in der Außenpolitik hinweisen, um anschließend auf die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Politik bis zur Wiedervereinigung einzugehen. Vor einer kurzen Schlussfolgerung werde ich anhand einiger Beispiele darstellen, wie sich seit 1989 das entsprechende Kräftefeld verändert hat.
B. Die Ausgangslage: Die auswärtige Gewalt zwischen Primat der Exekutive und „gemischter Gewalt“ Lassen Sie mich zunächst kurz auf die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive auf dem Gebiet der Auswärtigen Gewalt eingehen, weil die Gewaltenteilung sich nicht nur seit Entstehung des Grundgesetzes gewandelt hat – weniger durch die Änderungen des Grundgesetzes als durch Veränderungen der Rechtsprechung des BVerfG – sondern auch den Spielraum für die Völkerrechtspolitik beider Gewalten bestimmt und eingrenzt. Dabei zeigt sich eine allmähliche Verschiebung von Regierung zum Parlament, wie sie insbesondere die Rechtsprechung zu den Streitkräfteeinsätzen mit sich gebracht hat. Die Ausführungen der Kollegen Röben und Rensmann zur Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und seiner Stellung in der deutschen Verfassungsgeschichte16 möchte ich hier nur insofern ergänzen, als das Verhältnis beider Staatsorgane zueinander im Grundgesetz keineswegs klar geregelt war. Dies kam zum ersten Mal im sog. „Kampf um den Wehrbeitrag“ zum Tragen, als die SPDOpposition eine verfassungsrechtliche Grundlage für die Wiederbewaffnung der Bundeswehr verlangte, während die Regierung eine solche nicht für erforderlich hielt.17 Durch die Zweidrittelmehrheit der Regierung Adenauer zu Beginn der 2. Legislaturperiode löste sich das Problem insofern von selbst, als nun auf dem Weg einer Verfassungsänderung die Grundlage für die Wiederbewaffnung verfassungsrechtlich (keineswegs politisch) außer Streit gestellt werden konnte.18 Allerdings erscheint es dennoch nicht als bloßes juristisches Glasperlenspiel, sich noch heute die Frage zu stellen, welche der beiden Seiten damals im Recht war. So konnte sich die Regierung auf die deutsche Verfassungsgeschichte berufen (jedenfalls auf ein größeres Recht als das Bundesverfassungsgericht im Blauhelmurteil). Dennoch: Es erscheint jedenfalls aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, ohne eine Bestimmung des Grundgesetzes nur auf der Grundlage der Staatlichkeit 16 17 18
In diesem Band. Siehe dazu F.A.v.d. Heydte (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag, 1952–1958. Siehe 4. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes, BGBl. 1954 I, 45.
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der Bundesrepublik Streitkräfte aufzustellen und zu unterhalten. Paradoxerweise schuf der politische Erfolg Adenauers bei der zweiten Bundestagswahl die Grundlage für die Konstitutionalisierung und auch Parlamentarisierung der Bundeswehr; so entstammen die Regelungen der Kommandogewalt, zur Bundeswehrverwaltung, aber auch zu Wehrbeauftragten und Verteidigungsausschuss dem 7. Gesetz zur Ergänzung des GG von 1956.19 Die rudimentäre Regelung des Verteidigungsfalls sah grundsätzlich seine Feststellung durch Parlamentsbeschluss vor (Art. 59 a GG a.F.) – übrigens wie später beim Parlamentsvorbehalt zu den Auslandseinsätzen ein bloßer Parlamentsbeschluss. Die Weiterentwicklung dieser Ansätze durch die Notstandsverfassung änderte an dieser Grundkonstellation recht wenig, zumal die Einsatzbefugnisse im Inneren durch Art. 87a Abs. 3 und 4 so eng gezogen wurden, dass sie in der bisherigen Praxis der Bundesrepublik (zum Glück) bisher als solche nicht relevant waren. Noch heute wird – in Nachfolge der Regierungsargumentation aus dem Kampf um den Wehrbeitrag – zum Teil vertreten, Auslandseinsätze seien als Grundfunktion der Streitkräfte von Art. 87a Abs. 2 nicht erfasst20 – eine Position, die den Gesetzes- bzw. Verfassungsvorbehalt im Ausland in einer m.E. nur schwer vertretbaren Weise zurückdrängt.21 Jedenfalls hat das BVerfG diesen gordischen Knoten 1994 durchhauen und über Art. 24 Abs. 2 GG den Gebrauch militärischer Mittel im Rahmen multilateraler Vereinbarungen zur Erfüllung von Völkerrechts- und Integrationsfreundlichkeit des GG freigemacht.22 Der „eingebildete Kranke“23 19
(7.) Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes, BGBl. 1956 I, 111. Zuvor waren kompetenzielle Grundfragen und die Verfassungsmäßigkeit des EVG-Vertrages geklärt worden, siehe 4. Gesetz zur Ergänzung des GG, BGBl. 1954 I, 45. 20 So J. Kokott, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 87a, Rn. 10–13 m.w.N.; vermittelnd F. Kirchhof, Verteidigung und Bundeswehr, in: J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 4, 3. Aufl. 2006, § 84, Rn. 57, 58 (Einsatz nur zur Verteidigung, aber keine Anwendung des Ausdrücklichkeitserfordernisses in Art. 87a II bei Auslandeinsätzen); T. Stein, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an Friedenstruppen der Vereinten Nationen, in: J. Frowein/T. Stein (Hrsg.), Rechtliche Aspekte einer Beteiligung der Bundeswehr an Friedenstruppen der Vereinten Nationen, 1990, 17 (24–26). 21 C. Tomuschat, 11. September 2001, Europäische Grundrechtezeitschrift 28 (2001), 544 f.; ders., in: R. Dolzer et al. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung (Stand März 2010), Art. 24, Rn. 187; ebenso M. Baldus, in: H. v. Mangoldt et al. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Art. 87a, Rn. 30–33; W. Heun, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2008, Art. 87a, Rn. 16; K. Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 1477. 22 BVerfGE 90, 286 (321). 23 D.-E. Khan/M. Zöckler, Germans to the Front? or Le malade imaginaire, EJIL 3 (1992), 163.
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musste wider Willen gesunden und zu einem Staat werden, der wie andere auch militärische Mittel im Ausland einsetzt, wenn es seine eigenen Interessen, die des Bündnisses oder die Allgemeininteressen der Völkergemeinschaft erfordern – wobei ich diese beiden Begründungen weder im notwendigen Widerstreit zueinander sehe, noch im Widerspruch zum Grundgesetz, wie das neulich behauptet wurde.24 Schon der allererste Satz der Präambel spricht bekanntlich eine ganz andere Sprache.25 Gleichzeitig aber nahm das BVerfG mit der Einbeziehung des Bundestags Stellung zu einer bis heute nicht vollständig gelösten Frage des Verfassungsrechts, die seit den 1950er Jahren diskutiert wird, nämlich die der Zuordnung der auswärtigen Gewalt zur Exekutive oder gemeinsam zu Exekutive und Legislative. Bekanntlich stritten sich auf der Staatsrechtslehrertagung von 1954 – was waren das noch für Zeiten, als man auf Staatsrechtslehrertagung noch über die Verfassung stritt – Wilhelm Grewe und Eberhard Menzel über den exekutivischen oder gemischten Charakter der auswärtigen Gewalt;26 drei Jahre später sprach Ernst Friesenhahn von einer „Verantwortung zur gesamten Hand“.27 Bis heute vermeidet das BVerfG eine klare Stellungnahme, scheint aber für die allgemeine Außenpolitik ersterer Auffassung zuzuneigen, für die Wehrverfassung letzterer.28 Während also die allmähliche Erweiterung des NATO-Vertrages – trotz des Erfordernisses der Parlamentszustimmung zu den vertraglichen Grundlagen gemäß Art. 59 Abs. 2 GG – den NATO-Konzept- und Tornado-Entscheidungen zufolge29 rein exekutivisch sein soll, wird das Parlament mit dem Zustimmungserfordernis beim Streitkräfteeinsatz getröstet, das nach dem AWACS-Türkei-Urteil parlamentsfreundlich auszulegen ist.30 Ob das noch Verfassungsrechtsprechung im eigentlichen Sinn ist, erscheint mehr als zweifelhaft; aber die Kompensation mangelnder Vertragsauslegungs- und Vertragssteuerungskompetenz durch die Parlamentsbeteiligung bei der Streitkräfteentsendung bietet immerhin eine tragfähigere dogmatische Grundlage für die Parlamentsbeteiligung als die ursprüngliche Verkleisterung des reinen Dezisio24
O. Depenheuer, ,Was wir verteidigen‘, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 26.2.2009, 8. Wir verteidigen eben auch die Interessen der internationalen Gemeinschaft, die auch die unseren sind. 25 „[A]ls gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt … dienen“. 26 Siehe W. Grewe, Auswärtige Gewalt, Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 12 (1954), 135 (174 et passim). 27 E. Friesenhahn, Parlament und Regierung, VVDStRL 16 (1957), 38. 28 Siehe dazu AWACS-Türkei (Anm. 13), 143 f.; Lissabon, (Anm. 14), 360 f. 29 Strategisches Konzept der NATO, BVerfGE 104, 151, 209; Tornado, BVerfGE 118, 244, 260. 30 AWACS-Türkei (Anm. 13), 162 f.
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nismus in der AWACS/Somalia-Entscheidung durch eine zweifelhafte Geschichtsinterpretation und angreifbare Analogiebildung. Jedenfalls passte, wie wir gleich sehen werden, die exekutivische Auslegung des Grundgesetzes, deren Höhepunkt die Pershing-Entscheidung von 1986 zur Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen darstellte,31 zu den politischen Erfordernissen der Zeit zwischen Gründung der Bundesrepublik und Wiedervereinigung.
C. Völkerrecht als Mittel der Integration Deutschlands in die Staatengemeinschaft bis zur Wiedervereinigung Die deutsche Nachkriegspolitik folgt im Wesentlichen den vom Grundgesetz vorgezeichneten Weg der internationalen Integration; beim häufig so empfundenen Zielkonflikt zwischen Wiedervereinigung und Westintegration entschied sich die Regierung Adenauer bekanntlich für letztere, während die Regierungen Brandt, Schmidt und Kohl das eine zu tun versuchten, ohne das andere zu lassen. Auch wenn für eine kurze Zeit nach dem Honecker-Besuch 1987 die Wiedervereinigung aus dem Blick zu geraten drohte, behielten doch die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten durch das Beharren der Regierungen Schmidt/ Genscher und Kohl/Genscher auf einem klaren Nein zu den Geraer Forderungen Honeckers – u.a. nach Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und Aufwertung der Ständigen Vertretungen zu Botschaften – ihren besonderen Charakter.32
I. West- und Ostintegration Letztlich beruhten all diese Strategien auf der Politik der jeweiligen Bundesregierungen, die im Wesentlichen von den jeweiligen Koalitionsfraktionen getragen wurden. Das bedeutet keineswegs, dass sie unstrittig waren; während die Westintegration und insbesondere die Wiederbewaffnung auf den anfänglichen 31
Pershing (Anm. 12). Siehe Honecker in Gera, Deutschland-Archiv 1980, 1220 (1225 f.): Die vier Forderungen bezogen sich auf die volle Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, die Auflösung der „Zentralen Erfassungsstelle“ Salzgitter zur Erfassung von Straftaten in der DDR, die Aufwertung der Ständigen Vertretungen zu Botschaften sowie die Grenzziehung in der Elbmitte statt am DDR-Ufer. Insbesondere die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und die Aufwertung der Ständigen Vertretung war der Bundesregierung schon durch ihre verfassungsrechtliche Bindung an das Urteil des BVerfG zum Grundvertrag, BVerfGE 36, 1 (8. + 9. Ls., 18 ff., 31), unmöglich. Siehe dazu auch den Teso-Beschluss des BVerfG von 1987, BVerfGE 77, 137 (149 ff.) (Erwerb der Staatsbürgerschaft der DDR führt in den Grenzen des ordre public zur gesamtdeutsche Staatsbürgerschaft). 32
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Widerstand der SPD traf, konnte sich die CDU/CSU-Opposition größtenteils nur schwer mit den Ostverträgen abfinden, insbesondere was die Oder/Neiße-Grenze anlangte. Die Politik der Wiederbewaffnung war auch in den Regierungsfraktionen umstritten und führte 1950 zum Rücktritt Gustav Heinemanns;33 in der SPD flirteten viele mit der Neutralitätspolitik, wie sie die Stalin-Note auszunutzen versuchte.34 Später versuchte die FDP, in der Deutschlandpolitik den Boden für eine Wende weg von der Hallstein-Doktrin zu bereiten.35 Dennoch: All diese politischen Unterschiede drücken keine Völkerrechtsfreundlichkeit auf der einen, Völkerrechtsskepsis auf der anderen Seite aus. Es handelte sich um politische, nicht zuvörderst rechtliche Fragen. Bei der Aufnahme von Beziehungen zu der Sowjetunion nahm Adenauer 1955 das Parlament ausdrücklich mit und stellte seine Abreden mit Moskau unter den Vorbehalt parlamentarischer Zustimmung.36 Die Bundesregierung selbst betrachtete die Frage im Wesentlichen als eine politische, nicht als eine juristische.37 Der Bundestag billigte das Ergebnis 33
R. G. Foerster, 1. Sicherheitsinitiative des Bundeskanzlers vom August 1950 im Spiegel der Innenpolitik, in: Foerster et al. (Hrsg.), Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1956, Band 1, 1982, 520. 34 Vgl. G. W. Heinemann mit Blick auf die Reaktion der Bundesregierung zur StalinNote und zum erneuten Angebot vom 23.10.1954: „Ich erachte es als die historische Schuld der CDU, daß sie bis zum Jahre 1954 in dieser leichtsinnigen Weise die damaligen Möglichkeiten ausgeschlagen hat, denen wir heute nachtrauern müssen.“ Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, 9. Sitzung, 23.1.1958, Stenographische Berichte, Bd. 39 (1957), 403. Vgl. aber auch in derselben emotional geführten Bundestagsdebatte T. Dehler (FDP), der in seiner Generalabrechnung mit der Außenpolitik Konrads Adenauer dessen Ablehnung der Stalin-Note ohne Verhandlung kritisierte: „Und das schlimmste war: man hat nicht einmal darüber debattiert; man hat nicht einmal versucht, ein Wort zu wechseln (…) Meine Schlussfolgerungen aus dem, was damals geschah: Hier fehlte der Wille, das mögliche zu tun, eine Chance zu ergreifen“, ebd., 393–394. 35 Vgl. Süddeutsche Zeitung, 24. 2.1965. „FDP: Hallstein-Doktrin fortentwickeln“; vgl. auch Anfrage Dr. Kohuts (FDP), ob die Hallstein-Doktrin eine Belastung der diplomatischen Beziehung ist, der Alleinvertretungsanspruch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen erschwert und nicht eine differenzierende Anwendung dieser Doktrin geboten ist, in: Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, 170. Sitzung, 10.3.1965, Stenographische Berichte Bd. 57 (1965), 8507–8509. Vgl. auch die Regierungserklärung der sozialliberalen Koalition, in welcher Brandt die Existenz zweier deutscher Staaten anerkennt: „Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung kann nicht in Betracht kommen. Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein“, Text in Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 131 (1969). 36 Siehe Stenographisches Prot., 101. Sitzung, 22.9.1955, 5644 A. 37 Siehe W. Grewe, Interview, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung v. 13.12.1955, Nr. 233, 1993.
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einstimmig, obwohl die grundsätzlichen Unterschiede weiterbestanden: Ollenhauer wollte Wiedervereinigung mit Neutralität jetzt, Adenauer Westintegration vor Wiedervereinigung. In Art. 7 Abs. 2 des Deutschlandvertrages gelang es, die Westmächte auf das Ziel der Wiedervereinigung zu verpflichten.38 Natürlich war die Hallstein-Doktrin39 zum Abbruch diplomatischer Beziehungen zu Staaten, welche die DDR anerkannten, mit Ausnahme der Sowjetunion Gegenstand politischer Diskussionen, aber keiner der beiden Seiten war „völkerrechtsfeindlich“. Vielmehr hielten die einen die Hallstein-Doktrin für völkerrechtspolitisch geboten, um den bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruch trotz Aufnahme der Beziehungen zu Moskau zu untermauern, die anderen hielten sie für unzweckmäßig (und behielten Recht). Nämliches gilt für die Ostverträge.40 Hier verwendete die Regierung Brandt/ Scheel die Verträge als Mittel, um das politische Ziel der Annäherung zwischen den Paktsystemen – oder, in den so berühmten wie umstrittenen Worten Egon Bahrs, des „Wandels durch Annäherung“41 – zu verwirklichen; gleichzeitig wurde die Rechtsposition zur deutschen Einheit – so theoretisch sie manchem zu sein schien – ebenfalls mit völkerrechtlichen Mitteln, nämlich den Briefen zur deutschen Einheit und der Rechtsverwahrung beim Beitritt zu den Vereinten Nationen,42 aufrechterhalten. Die Opposition war – gerade aus rechtlichen Grün38
Artikel 7 Abs. 2 Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten (Deutschlandvertrag), BGBl. 1955 II, 301, UNTS 331, 327. 39 Siehe dazu ebd., sowie Botschafter-Konferenz des Auswärtigen Amtes, 8.– 10.12.1955, BArch, Nachlass Herbert Blankenhorn, N 1351/41a, Bl. 29, 41–59, http:// www.bundesarchiv.de/bestaende_findmittel/editionen/dzd/01307. 40 Siehe Moskauer Vertrag, BGBl. 1972 II, 354 ff.; Warschauer Vertrag, BGBl. 1972 II, 362 ff. 41 E. Bahr, Wandel durch Annäherung, Rede in der Evangelischen Akademie Tutzing, 15.7.1963, http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/stichwort/tutzinger_rede.pdf. 42 Brief zur Deutschen Einheit v. 12.8.1970 (zum Moskauer Vertrag), Bulletin der Bundesregierung Nr. 109 vom 17.8.1970, 1094, abgedruckt in: Rauschning (Anm. 4.), 123: „… beehrt sich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland festzustellen, daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“, siehe dazu auch die Entschließung des Deutschen Bundestages zu dem Vertrag vom 12.8.1970 v. 17.5.1972, Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 187. Sitzung, 17.5.1972, Stenographische Berichte, Bd. 8, 10960, Anl. 6 (Umdruck 287), abgedruckt ebd., 139; Brief der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zur deutschen Einheit an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 21.12.1972, abgedruckt ebd., 165; die Rechtsverwahrung beim Beitritt zu den Vereinten Nationen findet sich in BT-Drs.7/154, 42 Abschnitt II; siehe auch: U. Beyerlin/W. Strasser, Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre
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den, nämlich der Ablehnung eines vollen völkerrechtlichen Status der DDR und wegen des Erhalts des Anspruchs auf die Ostgebiete – gegen diese Politik, enthielt sich aber bei der Abstimmung, nachdem nach dem Scheitern des Misstrauensvotums gegen Willy Brandt eine Zusammenarbeit von Regierung und Opposition unumgänglich geworden war.43 Mit den Mitteln der Opposition erreichte sie Klarstellungen der Bundesregierung in ihrem Sinne.44 Der Brief zur deutschen Einheit und ähnliche Dokumente machten die Akzeptanz des Grundlagenvertrags durch das Bundesverfassungsgericht erst möglich.45 Auf der anderen Seite betrachtete ein Teil der Bundesregierung das Grundlagenvertrag-Urteil offenbar in der Praxis als eher lästig, konnte es aber aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht ignorieren.46 Der Beitritt zu den Vereinten Nationen machte deutlich, dass sich beide Staaten nach außen – aber nicht untereinander – als souveräne Völkerrechtssubjektive neben anderen verhielten und das Auftreten der anderen Seite zu akzeptieren bereit waren. Menschenrechte waren ein weiteres Mittel, die eigene Strategie völkerrechtlich zu stärken.47 Die DDR und die sozialistischen Staaten versuchten, die westliche Menschenrechtsoffensive als Verstoß 1973, ZaöRV 35 (1975), 768 (802–803); M. Knapp, Eine erfolgreiche außenpolitische Emanzipation. Drei Jahrzehnte deutsche Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen, Vereinte Nationen 2003, 207 (207 f.). 43 Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode, 187. Sitzung, 17. 5.1972, Stenographische Berichte, Bd. 80, 10933 (Abstimmungsergebnis: 10939–10941). 44 Siehe z.B. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betreffend die Deutschland- und Außenpolitik v. 11.11.1971, Drs. 1971, VI/2828, abgedruckt bei Rauschning (Anm. 4), 132 ff. 45 Grundlagenvertrag (Anm. 2), 24. 46 Siehe die insoweit übereinstimmenden bundesdeutschen und DDR-Mitschriften der Begegnungen von Bundeskanzler Helmut Schmidt und DDR-Staatsrats- und SED-Parteichef Erich Honnecker, BArch, B 136/20632, http://www.bundesarchiv.de/imperia/md/ content/abteilungen/abtg/dzd/190.pdf, bzw. BArch, DL 2 KoKo/1131, Bl. 98, http://www. bundesarchiv.de/imperia/md/content/abteilungen/abtg/dzd/189.pdf. 47 Vgl. O. Luchterhand, Die staatliche Teilung Deutschlands, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 10, Rn. 144 f; die Haltung der Bundesrepublik zu Menschenrechten wird als nicht weitgehend genug bewertet bei G. Zieger, Die deutsch-deutschen Beziehungen in Hinblick auf Möglichkeiten von Politik und Wirtschaft zur Verwirklichung von Menschenrechte, in: D. Blumenwitz/G. Zieger (Hrsg.): Menschenrechte und wirtschaftliche Gegenleistungen- Aspekte ihrer völkerrechtlichen Verknüpfung (1987), 29–41: „Zieht man aus dem Gesagten ein knappes Fazit, so bieten sich bei hinlänglicher Phantasie und Handlungsbereitschaft durchaus Mittel und Wege, durch Kanäle der stillen Diplomatie durch autonome Maßnahmen wie durch Gespräche und Verhandlungen, zur Verbesserung der Situation der Deutschen im geteilten Deutschland beizutragen“.
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gegen das völkerrechtliche Interventionsverbot zu charakterisieren.48 Letztlich aber war die Strategie des Westens erfolgreich, den Ostblock auf die Beachtung der Menschenrechte zu verpflichten und damit seine Glaubwürdigkeit nach innen und außen zu erschüttern. Die Schlussakte von Helsinki mit ihren verschiedenen „Körben“49 war Ausdruck dieser Politik. Helmut Kohl akzeptierte – trotz Vorbehalten in seiner Fraktion – in der Sache die Strategie des „Wandels durch Annäherung“ mittels völkerrechtlicher und quasi-völkerrechtlicher Vertragsbeziehungen bis hin zum Empfang Erich Honeckers in der Bundesrepublik 1987, in deren Vorfeld selbst das deutsche Strafanwendungsrecht geändert wurde.50 Der Wiedervereinigung ging die Herstellung völkerrechtlicher Übereinstimmung zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion Michail Gorbatschows voraus. In der Gemeinsamen Erklärung anlässlich des offiziellen Besuchs Gorbatschows am 13. Juni 2009 bekannten sich beide Seiten zum „Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten.“ Gleichzeitig betonten sie den „Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik“.51 Der sozialistische Block unter Einschluss der DDR konnte das Bekenntnis zu einem universellen Völkerrecht und zu Menschenrechten über die Blockgrenzen hinweg auf Dauer nicht überleben. Insgesamt war das Völkerrecht unbestrittene Grundlage deutscher Wiedervereinigungspolitik. Im Nachhinein ist dieser etwas doppeldeutige Umgang mit der deutschen Souveränität aufgegangen; das bedeutet aber keineswegs, dass der Weg unstrittig oder frei von Risiken war.
48
U. Beyerlin, Menschenrechte und Intervention- Analyse der west-östlichen Menschenrechtskontroverse von 1977/1978, in: B. Simma/E. Blenk-Knocke (Hrsg.): Zwischen Intervention und Zusammenarbeit (1979), 157–199 (insbesondere 191). 49 Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Helsinki, 1. August 1975, in: U. Fastenrath (Hrsg.), Dokumente der Konferenz und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Loseb.-Ausg., Kap. A.1. 50 Siehe die Neufassung von § 20 GVG durch G. v. 17. 7. 1984, BGBl. I 990. Siehe a. BGHSt 33,97 zu einer Anzeige gegen Honecker aus dem gleichen Jahr. 51 Gemeinsame Erklärung von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow vom 13. Juni 1989, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung v. 15.6.1989, 543. Letztlich beruhte diese Wendung auf Gorbatschows Aufgabe der sozialistischen Völkerrechtsdoktrin und der Hinwendung zum Vorrang der allgemeinmenschlichen Werte und des universellen Völkerrechts, zumal im „Gemeinsamen Haus Europa“, siehe Luchterhand (Anm. 47), Rn. 172–75 m.w.N. Zur sozialistischen Völkerrechtsdoktrin umfassend T. Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht? (1979).
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II. Die Verwirklichung der deutschen Einheit als Stunde der Exekutive Ähnliches gilt für die Wiedervereinigungspolitik: Die Exekutive betrieb eine engagierte und sehr geschickte Vertragspolitik, um die Wiedervereinigung international abzusichern oder überhaupt erst zu ermöglichen. Die Idee, allein mit den vier Hauptsiegermächten einen Quasi-Friedensvertrag über die „abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ abzuschließen, der von den beiden deutschen Staaten ausgehandelt, aber vom wiedervereinigten Deutschland ratifiziert wurde,52 kann nur als Geniestreich bezeichnet werden. Der Grenzvertrag mit Polen,53 so bitter er für die Heimatvertriebenen und ihre Nachkommen auch gewesen sein mag, war der unvermeidliche Preis dafür. Nicht gelingen konnte jedoch der Versuch, unter der Berufung auf ein „Recht auf Heimat“ den Verlust der deutschen Ostgebiete rückgängig zu machen.54 Schon die getrennten Verträge der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, die jeweils die Oder-Neiße Grenze für sich anerkannt hatten,55 standen dem entgegen, und die Berufung auf die Vier-Mächte-Rechte scheiterte schon daran, dass diese selbst von der Endgültigkeit der Grenze ausgingen, zu deren Anerkennung die beiden deutschen Staaten und das wiedervereinigte Deutschland denn auch in Art. 1 Abs. 1 Zwei-plus-Vier-Vertrag56 verpflichtet wurden. 52
Siehe Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland v. 12.9.1990, BGBl. 1990 II, 1318; zur Ratifikation siehe BGBl. 1990 II, 1317. Dazu M. Kilian, Der Vorgang der deutschen Wiedervereinigung, in: Isensee/Kirchhof (Anm. 47), § 12, Rn. 58 ff. 53 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze v. 14.11.1990, BGBl. 1991 II, 1329; siehe zuvor schon die gemeinsame Entschließung von Bundestag und DDR-Volkskammer zur Unveränderlichkeit der polnischen Westgrenze, BT-Drs. 11/7465 (1990), dazu Kilian (Anm. 52), Rn. 62. Siehe aber auch den in die Zukunft gerichteten sog. Nachbarschaftsvertrag, Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit v. 17.6.1991, BGBl. 1991 II, 1315. 54 Zum Recht auf Heimat siehe R. Laun, Das Recht auf die Heimat, Schroedel, Hannover 1951; O. Kimminich, Das Recht auf die Heimat, 3. Aufl. 1989. Siehe auch G. Gornig/D. Murswiek (Hrsg.), Das Recht auf die Heimat, 2006. Vgl. die Skepsis bei F. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt (1974), Bd. 1, 515. 55 Siehe Abkommen über die Markierung der Oder-Neiße-Grenze zwischen der DDR und Polen v. 6.7.1950, abgedruckt bei Rauschning (Anm. 4), 261; Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (Warschauer Vertrag) v. 7.12.1970, BGBl. 1972 II, 362; zur Position der Bundesrepublik siehe Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion, oben Anm. 44, ebd., 133 f. Im Rückblick erscheint die Position der Bundesregierung durchaus fadenscheinig. 56 Siehe Kilian (Anm. 52).
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Der Zwei-plus-Vier Vertrag ersetzte den in Art. 7 avisierten umfassenden Friedensvertrag.57 Der Verzicht auf einen „echten“ Friedensvertrag mit allen ehemaligen Kriegsgegnern war zwar nicht kostenfrei zu haben, wie u.a. die nachfolgenden Verfahren vor dem IGH bezeugen,58 aber letztlich alternativlos. Die völkervertragliche Lösung der mit der Wiedervereinigung zusammenhängenden Probleme in so kurzer Zeit bleibt ein Meisterwerk deutscher (und alliierter) Diplomatie im Einklang mit dem Völkerrecht. Während der Bundestag am 9. November 1989 das Deutschlandlied anstimmen,59 bestimmte die Exekutive, insbesondere Helmut Kohl, aber auch HansDietrich Genscher und Wolfgang Schäuble, die operative Politik.60 Die übergroße Mehrheit im Bundestag – den Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine und einen Teil der westdeutschen Linken ausgenommen, von den Nachfolgern der SED zu schweigen – folgte ihr. Ein gewisses Eigengewicht mochte der Bundestag zugunsten des Grenzvertrags mit Polen einnehmen, wobei es auch hier gegenläufige Stimmen gab.61 Dennoch gilt: In der hektischen Periode zwischen dem 9. Novem57
Art. 7 Abs. 1 Deutschlandvertrag, siehe Anm. 38. Siehe insbes. Certain Property (Liechtenstein v. Germany), ICJ Rep. 2005, 6; der Kontext kam vor allem in der – den Bogen ziemlich weit spannenden – Dissenting Opinion des Judge ad hoc F. Berman zum Ausdruck, ibid.,70 (79, 81), Z. 23, 29. Der Fall, bei dem der Verfasser als Adviser der deutschen Seite diente, handelte um die Rechte neutraler Staaten, war aber in Wirklichkeit die Folge des Fehlens eines Friedensvertrags Deutschlands und Liechtensteins mit Tschechien. Relevanter noch ist der Fall Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy), Application of 23 Dec. 2008, der derzeit vor dem Gerichtshof ist und sich mit den Entscheidungen italienischer Gerichte beschäftigt, gegen deutsches Vermögen in Italien zur Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen zu vollstrecken, siehe Application Z. 7 ff., www.icj-cij.org. 59 Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 174. Sitzung, 9.11.1989, 13223, Stenographische Berichte Bd. 151, 173–186. Sitzung 1989. 60 Zum Zehn-Punkte-Plan siehe H. Kohl, Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 174. Sitzung, 9.11.1989, Stenographische Berichte Bd. 151, 13510–13514. 61 Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode 50. Sitzung, 17.10.1991, Stenographische Berichte, Bd. 158, 4076–4099 ff. Siehe auch ebd., 4199–4200, die Erklärung einiger Unionsabgeordneter, die dem Grenzvertrag ihre Zustimmung verweigerten: „Dem Vertrag über die Bestätigung der bestehenden Grenze können wir nicht zustimmen, da wir uns (…) für eine in die Zukunft gerichtete Lösung aller offenen deutsch-polnischen Fragen eingesetzt haben … Dabei werden wir entschieden darauf hinwirken, in einem Geist der Verständigung … berechtigte Anliegen der deutschen Heimatvertriebenen und der jenseits von Oder und Neiße lebenden Deutschen schrittweise zu verwirklichen, für die im Vertrag noch keine befriedigende Lösung gefunden werden konnten. Dies gilt insbesondere für die Verwirklichung des Rechts auf Heimat sowie für eine einvernehmliche und dem ökonomischen und ökologischen Wiederaufbau dienenden Regelung der durch den Vertrag offen gebliebenen Eigentums- und Vermögensfragen“. 58
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ber – oder eigentlich dem August 1989 – bis zum Inkrafttreten des Zwei-plus-VierVertrages im März 199162 bestimmte nicht der Bundestag, sondern die Bundesregierung und die internationalen Verhandlungen den Lauf der Dinge, gelegentlich unter dem starkem Druck von Wahlurne und Straße sowie von Ausreisewilligen in der DDR.63 Dem hatte die Legislative wenig entgegenzusetzen; aber sie wollte es wohl auch nicht. Im Gegenteil – die Vorbehalte gegen die Regierung Kohl, die ihn kurz zuvor dem Sturz nahegebracht hatten, erschienen wie weggeblasen. Der Tatbestand lässt sich wohl verallgemeinern: Die Exekutive hat in der Zeit des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung die deutsche Außenpolitik im Allgemeinen und die Völkerrechtspolitik im Besonderen geprägt, während das Parlament weitgehend auf die Diskussion beschränkt war. Eine eigenständige Rolle des Parlaments, wie z.B. in Bezug auf die parlamentarische „Präambel“ des Vertrags mit Frankreich,64 blieb die Ausnahme.
D. Von der defensiven zur aktiven Völkerrechtspolitik Mit der Wiedervereinigung hat Deutschland seine Sonderstellung in der Weltgemeinschaft ebenso verloren wie im westlichen Bündnis. Gesteigerten Anforderungen stehen gesteigerte Möglichkeiten gegenüber, deutsche Vorstellungen in die Weltpolitik einzubringen; der Internationale Strafgerichtshof wurde ja schon genannt. Damit stellt sich aber auch die Frage, ob die exekutivische Sicht der auswärtigen Gewalt noch zeitgemäß ist. Im Europarecht gehört sie bereits seit dem Maastricht-Urteil und erst recht seit dem Lissabon-Urteil der Vergangenheit an.65 Gleichzeitig bringt mehr internationale Verantwortung auch einen größeren Test für die Völkerrechtsfreundlichkeit mit sich. Ein Staat, der mehr und mehr international auftritt und Truppen in weit entfernte Staaten wie Afghanistan entsendet, ist auch stärkeren Versuchungen ausgesetzt, völkerrechtliche Restriktionen zu umgehen oder auch nur völkerrechtliche Anforderungen zu verfehlen. Andererseits sollte nicht vergessen werden, dass die Grundlage für den Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland ebenfalls das Völkerrecht ist, von UN-Resolutionen bis zu
62
Der Vertrag trat am 15.3.1991 in Kraft, BGBl. 1991 II, 587; die Vier-Mächte-Rechte wurden von der Wiedervereinigung am 3.10.1990 an ausgesetzt, siehe Erklärung zur Aussetzung der Wirksamkeiten der Vier-Mächte-Rechte und Verantwortlichkeiten v. 1.10.1990, BGBl. 1990 II, 1331. 63 Siehe die Darstellung bei Kilian (Anm. 52), Rn. 42–45, 53–62, 79–88 m.w.N. 64 Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, 77. Sitzung, 16. Mai 1963, Stenographische Berichte, Bd. 53, 3744–3754. 65 Maastricht, BVerfGE 89, 155 (172, 185 f.); Lissabon (Anm. 14), 358 f.
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Truppenstationierungs- und Truppenstellerabkommen.66 Dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht den Streitkräfteeinsatz im Ausland auf Art. 24 Abs. 2 GG gestützt hat,67 ist ein Einsatz ohne die Einbindung in UN, NATO oder – spätestens seit dem Lissabonner Vertrag – EU68 jedenfalls politisch ausgeschlossen.
I. Von der Exekutive zur Gemischten Gewalt? Zwei Entwicklungen haben den traditionellen Vorrang der Exekutive, wie er in Reinform vor allem im Pershing-Urteil69 zum Ausdruck kommt, seitdem in Zweifel gezogen: Nach Wiedervereinigung und Erlangung voller Souveränität durch den Zweiplus-Vier-Vertrag kann sich Deutschland nicht mehr hinter den Sonderproblemen seiner Rechtslage verstecken. Deutschlands Einordnung ist seitdem eher mehr und nicht weniger gefragt, einschließlich der Stellung von Soldaten für weltweite Einsätze, vom Balkan bis zum Hindukusch. Gleichzeitig hat Deutschland zahlreiche neue Einwirkungsmöglichkeiten; es kann eine eigene Völkerrechtspolitik gestalten. Diesen Spielraum hat die Bundesregierung mit Unterstützung des Parlaments durchaus genutzt, insbesondere in Bezug auf die Etablierung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs. Bei diesen Gestaltungsaufgaben benötigt die Politik einen festen Halt in der Legislative, die gemäß Art. 59 Abs. 2 GG jedenfalls dann zustimmen muss, wenn es um den Abschluss wichtiger Ver66
Für Afghanistan, siehe die Resolutionen des Sicherheitsrats S/RES/1386 (2001); S/RES/1510 (2003); S/RES/1890 (2009); dazu die Anträge der Bundesregierung in BTDrs. 14/7930; BT-Drs. 16/10473; BT-Drs. 17/39; Military Technical Agreement Between the International Security Assistance Force (ISAF) and the Interim Administration of Afghanistan v. 4. Jan. 2002, International Legal Materials 41 (2002) 1032. 67 AWACS-Somalia (Anm. 22), 355 f.; die Frage, ob Art. 87a Abs. 1 und 2 auf Auslandseinsätze anwendbar ist und damit Einsätze außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit ausschließt, ist offen geblieben und führt in der Praxis in der Regel dazu, dass solche Einsätze nicht stattfinden; für den in dieser Hinsicht fraglichen Albanien-Einsatz vgl. M. Baldus, Rettung eigener Staatsangehöriger, in: I. Erberich et al. (Hrsg.), Frieden und Recht, Assistententagung Öffentliches Recht (1998), 259 (273–75). Zur Diskussion um die Anwendbarkeit des Art. 87a Abs. 2 GG auf Auslandseinsätze siehe die Nachweise in Anm. 20. 68 Zur Rechtslage nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages siehe die weitgehende Beistandsklausel in Art. 42 Abs. 2 EUV sowie die Kommentierung des inhaltsgleichen Art. I-41 des nicht in Kraft getretenen Verfassungsvertrags durch H. J. Cremer, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union (2006), Art. I-41, Rn. 18–20. 69 Pershing (Anm. 12).
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träge geht. Andererseits hat es das BVerfG bisher immer abgelehnt, Art. 59 Abs. 2 auch auf nichtvertragliche Akte zu erstrecken – äußerst knapp noch im AWACS/ Somalia-Urteil,70 eindeutig in der Strategisches Konzept der NATO-Entscheidung und in dem AWACS-Türkei-Urteil.71 Die Integration in die Europäische Union führt ebenfalls zu einem stärkeren Bedürfnis nach Beteiligung des Parlaments an der Außen- und Völkerrechtspolitik. Während klassische intergouvernementale Organisationen kaum in die Gesetzgebungsprärogative des Parlaments eingriffen, sind solche Übergriffe heute nicht auf die Europäische Union beschränkt, sondern reichen vom Welthandelsrecht bis zu den sog. legislativen Resolutionen des Sicherheitsrats.72 Eine Ablehnung nach Aushandlung eines solchen multilateralen Vertragswerks erscheint demnach kaum noch möglich, jedenfalls für eine Mittelmacht und Exportweltmeister. Der Verlust an politischen Entscheidungsbefugnissen des Parlaments in der Innenpolitik ruft nach mehr Kompetenzen in der Außenpolitik. Die AWACS/Somalia-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war denn auch, was die Beziehungen der Gewalten angeht, von gänzlich anderem Geist geprägt als die Pershing-Entscheidung, und das selbst bei der sie tragenden Hälfte des 2. Senats, von den Dissentern ganz zu schweigen. Auch das Umfeld hatte sich gewandelt; das Maastricht-Urteil werden wir ja noch behandeln. Zwar hat das BVerfG seitdem die Mitwirkung des Bundestags auf die Wehrverfassung beschränkt, während es in bezug auf den Vertragsabschluss an seiner engen Auslegung von Artikel 59 Abs. 2 GG festzuhalten scheint – auch davon werden wir noch reden – aber der Parlamentsvorbehalt bei der Streitkräfteentsendung weist ebenso wie die Europapolitik den Weg zu einer „gemischten Gewalt“ im Sinne Friesenhahns und Menzels.73
70
AWACS/Somalia (Anm. 22), 358. Strategisches Konzept der NATO (Anm. 29), 209; AWACS-Türkei (Anm. 13), 158 f. 72 Zu diesen siehe befürwortend S. Talmon, The Security Council as World Legislature, American Journal of International Law (AJIL) 99 (2005), 175 (192); kritisch A. Zimmermann/B. Elberling, Grenzen der Legislativbefugnisse des Sicherheitsrates – Resolution 1540 und abstrakte Bedrohungen des Weltfriedens, Vereinte Nationen 2004, 71 ff. 73 Siehe Anm. 27. 71
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II. Militäreinsätze von deutschem Territorium und die politischen Gewalten: Völkerrechtsfreundlichkeit im Grundsatz, Indifferenz in der Praxis? Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Haltung Deutschlands im militärischen Bereich, weil sie in der öffentlichen Diskussion am sichtbarsten waren und sind; aber auch, weil hier der Parlamentseinfluss wegen der Karlsruher Rechtsprechung am stärksten ist. Dabei soll aber nicht unter den Tisch fallen, dass Deutschlands Völkerrechtspolitik keineswegs auf den Einsatz von Streitkräften und das Völkerstrafrecht beschränkt ist; insbesondere die aktive Rolle Deutschlands bei der Kodifizierung des Völkerrechts im Rahmen der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen als auch die Umweltpolitik mit dem Kyoto-Prozess kommen in den Sinn. Allerdings ist die deutsche Völkerrechtspolitik vielfach von der Europäischen Union geprägt. Generell fällt es mir allerdings schwer, hier zwischen Bundestag und Bundesregierung oder auch zwischen Regierungsparteien und Opposition wesentliche Unterschiede zu entdecken. Wahrscheinlich ist es sogar umgekehrt: Mit Ausnahme der Linksfraktion ist der Konsens im Bundestag hinsichtlich des Völkerrechts stärker ausgeprägt als in der Innenpolitik. Der beste Beweis hierfür ist wohl der gemeinsame Entschließungsantrag aller Fraktionen außer der Linksfraktion zur Stärkung der Vereinten Nationen von 200174 sowie die Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit des IGH von 2008, die den Wunsch der vier Fraktionen von 2001 in die Tat umsetzt.75 Die Wehrverfassung ist aber auch deshalb von besonderem Interesse, weil hier Anspruch und Wirklichkeit einer völkerrechtsfreundlichen Politik am weitesten auseinander fallen können. Das ist am meisten während des Irak-Kriegs sichtbar geworden; und der umfassende Streitkräftevorbehalt in der Unterwerfungserklärung, der sich auch auf die Nutzung deutschen Territoriums für die Einsätze Dritter bezieht,76 zeigt, dass diese Erfahrungen Spuren in der deutschen Völkerrechtspolitik hinterlassen haben. Schon zuvor haben die Operation Libelle in Albanien und der Kosovo-Krieg schwierige völkerrechtliche Fragen aufgeworfen.77 74
Die Vereinten Nationen an der Schwelle zum neuen Jahrtausend, BT-Drs. 14/5243 v. 7.2.2001. 75 Siehe dazu C. Eick, Die Anerkennung der obligatorischen Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs durch Deutschland, ZaöRV 68 (2008) 763 (aus der Sicht des Leiters des Völkerrechtsreferats). 76 BT-Drs. 16/9218 v. 5.5.2008, 2. 77 Zur völkerrechtlichen Rechtfertigung des Albanieneinsatzes vgl. Baldus (Anm. 67), 273–75; V. Epping, Evakuierung deutscher Staatsangehöriger, AöR 124 (1999), 457–467; C. Kreß, Rettungsoperation der Bundeswehr in Albanien, ZaöRV 57 (1997), 331–349; B. Simma, NATO, the UN and the Use of Force, EJIL 10 (1999), 22.
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Die Haltung Deutschlands zum Irak-Krieg wird heute häufig als ein Meisterstreich betrachtet, und sie wurde seinerzeit mit gewissen Einschränkungen auf Seiten der CDU/CSU – der Besuch der damaligen Oppositionsführerin Merkel bei George Bush ist vielleicht noch in Erinnerung – und der Linksfraktion in Bezug auf die Verwendung deutschen Territoriums durch die Kriegskoalition – allgemein unterstützt. Joschka Fischers „I am not convinced“ wurde jedoch charakteristischerweise nicht im UN-Sicherheitsrat oder vor dem Bundestag vorgetragen, sondern auf der Münchener Sicherheitskonferenz,78 von den Wahlkampfreden des Bundeskanzlers Gerhard Schröder ganz zu schweigen. Der Bundeskanzler ließ sich bewusst nicht auf eine völkerrechtliche Einschätzung des Irakkriegs ein79 und preschte unabhängig nicht nur von Bush, sondern auch von den Vereinten Nationen mit einer „Ohne-mich“-Politik Deutschlands vor, die das Bündnis spaltete. Die fehlende völkerrechtliche Festlegung ermöglichte ihm andererseits die Zustimmung zum AWACS-Einsatz über der Türkei, deren Tarnung als Routinemaßnahme nicht verdecken konnte, dass es sich im Kern um die Verteidigung eines Angreifers handeln sollte, und daher um Mitwirkung an dem Angriff auf den Irak, nicht die Verteidigung eines schuldlosen Opfers. Bekanntlich hat das Bundesverfassungsgericht in seiner einstweiligen Anordnung diese List gegen den Widerstand der damaligen FDP-Opposition gedeckt,80 sie mit seiner Entscheidung vom Mai 2008 jetzt aber – m.E. mit Recht – in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen.81 Ähnliches gilt für die Gewährung von Überflugrechten. Während der Kommentar der Völkerrechtskommission zur Staatenverantwortlichkeit die Haltung der Bundesregierung von 1958, derzufolge „die Regierung der Bundesrepublik Deutschland … niemals Aggressionsakte gebilligt oder begünstigt“ und „das Territorium der Bundesrepublik für solche Akte niemals zur Verfügung gestellt“ habe,82 als Beleg für ein völkerrechtliches Beihilfeverbot wertet, scheint die Bundesregierung jetzt die Gewährung von Überflugrechten nicht als solche anzusehen, und der Generalbundesanwalt ist ihr offenbar darin gefolgt.83 Der Hin78
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 9.2.2003, 1. Siehe z.B. Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 34. Sitzung, 19.3.2003, Stenographische Berichte, Bd. 216, 2727C: „Es geht in erster Line – immer noch und immer wieder – um die Frage, was wir dabei tun können, und nicht um die Diskussion über unterschiedliche Meinungen – die es nun einmal gibt – zu Fragen des Völkerrechts“. 80 Bewaffnete Bundeswehreinsätze, BVerfGE 108, 34. 81 AWACS-Türkei (Anm. 13). 82 H. Alexy, Völkerrechtliche Praxis BR Deutschland 1958, ZaöRV 20 (1959/60), 664. 83 Ablehnungsbescheid des Generalbundesanwalts bezüglich einer Strafanzeige gegen Bundeskanzler Gerhard Schröder u.a. wegen Vorbereitung eines Angriffkrieges, Aktenzeichen 3 ARP 193/99-3, zitiert nach: D. Lutz, Der Kosovo-Krieg-Rechtliche und ethische 79
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weis auf eine Pflichtenkollision mit dem NATO-Aufenthaltsvertrag von 195484 geht offensichtlich fehl, und zwar nicht nur, weil der Vertrag selbst nur den Aufenthalt und den Transit von und zu NATO-Staaten und Österreich betrifft, nicht aber den Überflug zu völkerrechtswidrigen Zwecken, sondern auch, weil das völkerrechtliche Gewaltverbot gemäß Art. 103 der UN-Charta Vorrang genießt – unabhängig von der wohl zu bejahenden Frage, ob es sich nicht sowieso um zwingendes Völkerrecht (jus cogens) handelt.85 Auch wer – wie Georg Nolte und Helmut Aust – die Beihilfe dann nicht als wissentlich und damit im Sinne der Kodifikation der Staatenverantwortlichkeit verboten ansehen will,86 wenn die Völkerrechtsgemäßheit der Haupthandlung völkerrechtlich lediglich vertretbar, wenn auch vielleicht abzulehnen ist, muss für das Aggressionsverbot eine Ausnahme machen, jedenfalls wenn man die Aggressionsdefinition der Vereinten Nationen zugrundelegen will, die in Art. 3 f die Duldung der Nutzung des Hoheitsgebiets durch einen anderen Staat für eine Angriffshandlung gegen einen Drittstaat ausdrücklich selbst als Aggressionshandlung einstuft.87 Angesichts von Art. 26 GG und seiner unvollkommenen Umsetzung in § 80 StGB – auch ein frühes Zeichen einer gewissen Völkerrechtsskepsis – ist das keineswegs eine akademische Frage, sondern entscheidet über die Strafbarkeit der deutschen Staatsführung nach deutschem und vielleicht bald auch nach internationalem Strafrecht.88 Der Bundestag agiert dabei nicht wesentlich völkerrechtsfreundlicher als die Regierung. So spielte im Untersuchungsausschuss zur Rolle des BND im IrakKonflikt89 die völkerrechtliche Einschätzung des Irak-Kriegs eine untergeordnete Rolle. Auf die Beantwortung der Frage nach einer Beteiligung der Bundesrepublik am Irak-Krieg stellte die den Abschlussbericht tragende Ausschussmehrheit aus Aspekte (1999/2000), 331; siehe auch C. Kreß, Anmerkung, Juristenzeitung 18 (2003), 911–917. 84 So z.B. Eick (Anm. 75), 772. 85 Siehe dazu C. Tomuschat, Article 2(3), Rn. 16, in: B. Simma (Hrsg.) The Charter of the United Nations, 2. Aufl. 2002. 86 Siehe J. Crawford (Hrsg.), The International Law Commission’s Articles on State Responsibility (2002), Art. 16, Rn. 8. 87 So auch H. Aust/G. Nolte, Equivocal Helpers- Complicit States, Mixed Messages And International Law, International and Comparative Law Quarterly 85 (2009), 5–6, 18. 88 Zum Diskussionsstand zum Aggressionsverbrechen siehe die Beiträge zu A. Paulus (Hrsg.), Symposium: The Codification of the Crime of Aggression, EJIL 20 (2009), 1101 ff. 89 Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes, Berlin, 18.06.2009, eingesetzt durch den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 7. April 2006 – Bundestagsdrucksache 16/1179.
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CDU/CSU und SPD fest, dass auch Meldungen militärischen Inhalts an USTruppen weitergegeben wurden, welche, wie der ehemalige Außenminister FrankWalter Steinmeier bestätigte, sicherlich in deren geheimdienstliches Lagebild einflossen.90 Gleichwohl seien die Meldungen weder bestimmt noch geeignet gewesen zur konkreten Zielzuweisung für die operative Ebene. Die Ausschussmehrheit kommt zum Ergebnis, dass Deutschland sich nicht unmittelbar an den Kampfhandlungen beteiligt habe.91 Innerhalb der Ausschussmehrheit war allerdings umstritten, ob nicht die Übermittlung von Informationen militärischen Inhalts ausreicht, um eine indirekte Beteiligung zu bejahen.92 Allerdings scheint der Maßstab bezüglich der Annahme einer indirekten Beteiligung vor allem die Außendarstellung der damaligen Bundesregierung zu sein, und weniger das Völkerrecht.93 Auch die SPD konzentriert sich auf die Selbstdarstellung der Regierung als Maßstab für eine Kriegsbeteiligung, wenn sie argumentiert, dass „keine mittelbare Beteiligung an operativen Kriegshandlungen erfolgt ist, die die Grenzen öffentlich zugesagter Unterstützung der USA überschritten hat“.94 In anderem Zusammenhang wurde Deutschland selbst ja bereits – mangels Zuständigkeit erfolglos – vor dem IGH wegen des Einsatzes gegen Jugoslawien verklagt,95 den nach wohl überwiegender Meinung – in der Formulierung des jetzigen deutschen IGH-Richters Bruno Simma – eine zwar dünne, aber doch jedenfalls rote Linie von der völkerrechtlichen Legalität trennte.96 Es bleibt mir angesichts dieser Erfahrungen offen gestanden schleierhaft, warum gerade die Bundesrepublik die Einfügung einer Definition des Aggressionsverbots in das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs betreibt, die sich nach jetzigem Stand an die Definition der Aggression durch die Generalversammlung anlehnt.97 90
BT-Drs. 16/13400, 411. Ebd., 414. 92 So die CDU/CSU, ebd., 414. Insgesamt drückt sich die Mehrheit vor einer klaren Aussage: „Ob ein mittelbarer Beitrag Deutschlands vorgelegen hat, ist eine Wertungsfrage, die unterschiedlich beurteilt wird“, ebd., 405. 93 Vgl. insbesondere das Sondervotum der FDP-Fraktion, ebd., 465: „Nicht dieser Einsatz [der BND-Agenten] als solcher steht im Zentrum der Kritik der FDP, sondern das Auseinanderfallen von Realität und Selbstdarstellung der damaligen Bundesregierung“. 94 Ebd., 405. 95 Legality of Use of Force (Serbia and Montenegro v. Germany), Preliminary Objections, Judgment, ICJ Reports 2004, 720. 96 B. Simma, NATO, the UN, and the Use of Force: Legal Aspects, EJIL 10 (1999) 1 (22). 97 Siehe Report of the Special Working Group on the Crime of Aggression vom 20.2.2009, Doc. ICC-ASP/7/SWGCA/2. Dazu kritisch A. Paulus, Second Thoughts on the Crime of Aggression, EJIL 20 (2009), 1117 (1119–1124). 91
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Die deutsche (Nicht-)Haltung zur Völkerrechtsgemäßheit sowohl des Kosovoals auch des jüngsten Irakkriegs belegt jedenfalls eine gewisse Skepsis, ob das völkerrechtliche Gewaltverbot angesichts der in diesen beiden Fällen erneut zutage getretenen Unschärfen in seiner derzeitigen Fassung als Grundlage für eine politische Verweigerung der Mitwirkung politisch trägt. Das Parlament, das sich sicherlich gern als „Hüter des Völkerrechts“ (Volker Röben98) bezeichnen lässt, hat das mit Ausnahme der Linksfraktion auch nicht gerügt. Der Parlamentsvorbehalt trägt zu einer nochmaligen Überprüfung der politischen und völkerrechtlichen Gemengelage bei und stellt sie auf breitere Schultern. Das kann, muss aber nicht zu einer stärkeren Beachtung des völkerrechtlichen Kriegsverbots führen, wie dies von den Anhängern der Lehre vom demokratischen Frieden erwartet wird;99 und dies trotz der durchaus beachtlichen völkerrechtlichen Qualität mancher Bundestagsdebatten.100 Allerdings mag das Zögern der Bundesregierung, den Bundestag in Sachen Kosovo noch einmal und in Sachen AWACSEinsatz in der Türkei überhaupt zu befassen, Ausfluss der Einschätzung gewesen sein, jedenfalls über eine eigenständige Regierungsmehrheit nicht zu verfügen.101 Jedenfalls im zweiten Fall wäre dann auch klar gewesen, dass schon allein wegen der konstitutiven Parlamentsbeteiligung mehr als das passive Verhalten der Bundesregierung, die USA auf der Grundlage bestehender NATO-Verträge gewähren zu lassen, gegen das Parlament nicht durchsetzbar gewesen wäre. Hier führte eine Parlamentsbeteiligung offenbar zu einer gewissen Einsatzbremse – wie übrigens auch in der Türkei vor dem Irak-Krieg 2003.102 Ob der Einsatzwillen der Bundes98 V. Röben, in: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, 15. Wp., Prot. G 25 v. 17.6.2004, 4. 99 Siehe dazu M. Doyle, Kant, Liberal Legacies, and Foreign Affairs, Philosophy and Public Affairs 12 (Sommer/Herbst 1983), 205ff; B. Russet, Grasping the Democratic Peace, 119; A.-M. Slaughter, International Law in a World of Liberal States, EJIL 6 (1995), 503–538 (509); vgl. A. Paulus, Die Internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, 60 m.w.N. 100 Zur Qualität der ursprünglichen Kosovo-Debatte aus der Sicht eines Völkerrechtlers siehe Simma, (Anm. 77), 12 f.: „In these debates, the international legal issues involved were discussed at great length and in considerable depth. The respect for UN Charter law demonstrated throughout the debates was remarkable“. 101 A. Paulus, Die Parlamentszustimmung zu Auslandseinsätzen nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz, in: D. Weingärtner (Hrsg.), Einsatz der Bundeswehr im Ausland (2007), 81 (88, 92). 102 Siehe nur Türkei sagt ab, Amerika setzt Aufmarsch fort, FAZ v. 3.3.2003, 1; siehe aber auch Ankara öffnet Luftraum für amerikanische Flugzeuge, FAZ v. 22.3.2003, 4. Mit der Öffnung des Luftraums für US-Flugzeuge war die Türkei schließlich doch in den IrakKrieg „verstrickt“, wenn auch nicht durch die Zulassung von Bodentruppen. Damit ist noch nichts zu der Frage der türkischen Eingriffe im Nordirak gesagt, die offenbar unabhängig von den USA unternommen wurden.
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regierung ohne das Parlament weiter gegangen wäre, ist reine Spekulation. Maßgeblich ist, dass der Einfluss des Parlaments auch im Vorfeld von Entscheidungen Teil des außenpolitischen Kalküls geworden ist, da in der Regel zumindest die Opposition Auskunft über die völkerrechtliche Beurteilung eines Einsatzes verlangen wird. Damit stärkt der Parlamentsvorbehalt die Beachtung des Völkerrechts. Allerdings stellt auch das Parlament nicht notwendigerweise die Erfüllung der völkerrechtlichen Pflichten sicher, zumal wenn die Regierung einen gewissen Opportunismus an den Tag legt. Ein Beispiel dafür ist die bisherige Weigerung des Bundestags, in Erfüllung der menschen- und humanitärvölkerrechtlichen Pflichten eine effektive eigene Wehrstrafgerichtsbarkeit für Auslandseinsätze bereitzustellen. Zwar ist strittig, ob eine völkerrechtskonforme Auslegung von Art. 96 Abs. 2 GG, der die Einrichtung solcher Gerichte nur für deutsche Soldaten zu ermöglichen scheint, zur Erfüllung der völkerrechtlichen Pflichten ausreicht, die sich aus Art. 82 und 84 Abs. 1 der III. Genfer Konvention sowie aus dem Auslieferungsverbot bei drohender Folter103 ableiten, oder ob eine klarstellende Grundgesetzänderung erforderlich wäre.104 Aber eine solche sollte bei dem großen rhetorischen Konsens des Bundestags ins Sachen Völkerrechtsfreundlichkeit doch wohl zu bekommen sein; zumal die Befürchtungen über eine Wiedereinführung der Wehrmachtsjustiz wohl kaum angebracht sind. Nicht viel anders gehen Bundesregierung und BND-Untersuchungsausschuss mit der Beachtung der Menschenrechte um. Das Völkerrecht wird zwar gern zur Bewertung des Verhaltens anderer Staaten herangezogen, weniger aber als Kriterium zur Bewertung des eigenen Verhaltens. Hier dient der Begriff zur Rechtfertigung. So hob der damalige Außenminister Steinmeier vor dem BNDUntersuchungsausschuss hervor, dass das Ziel des Dialogs auf EU-Ebene mit den USA eine effektive Terrorbekämpfung ohne Verletzung des Völkerrechts sei. Zu diesem Zweck habe er Außenministerin Rice angeboten, über das unterschiedliche Verständnis völkerrechtlicher Prinzipien einen Dialog zu führen.105 In diesem Zusammenhang kritisierte die Bundesregierung auch die US-Praktiken auf Guantánamo als rechtsstaats- und völkerrechtswidrig, wies aber auch darauf hin, 103
So die Rspr. des EGMR seit Soering, Urteil v. 26.1.1989, Series A no. 161; Chahal v. UK, Urteil v. 15.11.1996, Reports 1996-V, 1832 (153, 55), §§ 73, 79 f.; zuletzt Saadi v. Italy, Urteil v. 28.2.2008, Appl. No. 37201/06. 104 Siehe dazu B. Pieroth, in: H. D. Jarass/B. Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 10. Aufl. 2009, Art. 96, Rn. 2; A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt (Anm. 21), Art. 96, Rn. 15. Für die Erstreckbarkeit auf fremde Kombattanten ohne Grundgesetzänderung S. Deterbeck, in: M. Sachs (Anm. 20), Art. 96, Rn. 10. 105 BND-Bericht, oben Anm. 89, 66.
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dass zum fraglichen Zeitpunkt Foltervorwürfe noch nicht bekannt gewesen seien.106 Richtigerweise wird darauf hingewiesen, dass die Türkei völkerrechtlich verpflichtet sei, ihren auf Guantánamo inhaftierten Staatsbürger Murat Kurnaz aufzunehmen, und nicht Deutschland, wo er geboren und aufgewachsen war. Die „quasikonsularische“ Betreuung von Kurnaz erscheint demgegenüber als eine Sonderleistung ohne jegliche Rechtspflicht.107 Hingegen findet eine irgendwie geartete völkerrechtliche Bewertung des Einsatzes zweier BND-Soldaten in Bagdad sowie der Weitergabe von Informationen an die Amerikaner nicht statt. In diesem Teil des Berichts fällt als Leitmotiv immer wieder die Hervorhebung auf, dass der Einsatz der BND-Agenten dazu diente, einen Beschuss „kriegsvölkerrechtlich geschützter Ziele“ zu verhindern.108 In Bezug auf das eigene Verhalten wird weder eine Völkerrechtswidrigkeit festgestellt, noch überhaupt der Einsatz zweier BND-Soldaten völkerrechtlich bewertet. Allenfalls wird wiederholend darauf verwiesen, dass der Beschuss kriegsvölkerrechtlich geschützter Ziele verhindert werden sollte. Bezogen auf das eigene Verhalten dient der Begriff des Völkerrechts also der Rechtfertigung oder Legitimation, nicht als möglicherweise einschränkender Maßstab für das eigene Handeln. Im Ergebnis zeigt sich hier beispielhaft, dass Regierung und Parlament sich zwar rhetorisch in ihrer Völkerrechtsfreundlichkeit schwer übertreffen lassen, aber sich nicht immer in der Lage sehen, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Aber das ist wohl unvermeidlich. Immerhin beweisen die deutsche Unterwerfungserklärung unter die Zuständigkeit des IGH und ihre Unterstützung durch das Parlament, dass die politischen Staatsorgane durchaus bereit sind, Risiken für die Einhaltung des Völkerrechts in Kauf zu nehmen. So war es der Deutsche Bundestag, der die Unterwerfungserklärung mit einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen außer der Linksfraktion 2001 angeregt hat.109 Dabei ist vermieden worden, die – in der Tat nicht über alle Zweifel erhabene110 – deutsche Praxis in der Flüchtlingspolitik von der Unterwerfung auszunehmen und somit einen Völkerrechtsverstoß geradezu einzugestehen. Allerdings muss hier auf die zentrale Ausnahme von Streitkräfteaufenthalt und -stationierung hingewiesen werden. Diesbezüglich wartet der Verfassungsauftrag 106
Siehe ebd., 134 ff., insbes.162; siehe auch ebd., 362 in Sachen Kurnaz. Ebd., 207. 108 Ebd., 277, 281, 287, 289, 291, 327. 109 BT-Drs. 14/5243, 14/5855. 110 E. Benvenisti, Reclaiming Democracy: The Strategic Uses of Foreign and International Law by National Courts, AJIL 102 (2008), 241 (267). 107
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des Art. 26 GG auf seine Erfüllung, bevor ernsthaft international auf eine Strafbarkeit der Aggression vor dem IStGH gedrungen werden sollte; ganz abgesehen davon, dass diese geeignet ist, mit dem ständigen Internationalen Strafgerichtshof die wohl größte Errungenschaft deutscher Völkerrechtspolitik seit der Wiedervereinigung zu gefährden.
E. Resümee Resümierend ist die generelle Völkerrechtsfreundlichkeit der Bundesregierungen aller Couleur und trotz wechselnder parlamentarischer Mehrheiten bemerkenswert. Sie hat sich auch nach Erfüllung der Einheit in Freiheit grundsätzlich fortgesetzt. Allerdings zeigt gerade die Friedenspolitik, wie problematisch das Bestehen auf völkerrechtlichen Pflichten gegenüber humanitären Anliegen, aber auch den – wirklichen oder vermeintlichen – Ansprüchen der Verbündeten sein kann. Auch in der Bundesrepublik ist somit die Völkerrechtskonformität ein wichtiger, aber nicht immer der ausschlaggebende Parameter für außenpolitische Entscheidungen. Die Bundesregierung bleibt bei alledem auch nach der größeren Parität zwischen Regierung und Parlament in der Wehrverfassung seit der AWACS/Somalia-Entscheidung das entscheidende Staatsorgan für die Verwirklichung des Völkerrechts. Das Aushandeln großer Vertragswerke ist Sache der Bundesregierung; der Parlaments- und insbesondere der Oppositionseinfluss ist begrenzt auf Antreiben und Nachfragen. Der Bundestag kann mahnen, kontrollieren, anregen, aber letztlich in den meisten Fällen die Einhaltung des Völkerrechts durch die Exekutive nicht garantieren. In diesem Zusammenhang sollte in Erinnerung gerufen werden, dass das Parlament – und seine Fraktionen in Prozessstandschaft – nicht über das Recht verfügt, die Beachtung des Völkerrechts an sich vor dem Bundesverfassungsgericht einzuklagen, sondern die Völkerrechtsmäßigkeit nur inzident im Organstreitverfahren geltend machen kann, um die Zustimmungspflichtigkeit bestimmter Einsätze zu begründen. Allerdings hat das BVerfG angedeutet, das Friedensgebot könnte auf ähnliche Weise zum Gegenstand der Überprüfung von Einsätzen werden.111 Es bleibt die Aufgabe von Öffentlichkeit und Rechtswissenschaft, auch weiterhin die politischen Gewalten zur Einhaltung der eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen anzuhalten. Auch in seiner Völkerrechtsfreundlichkeit ist das Grundgesetz nur so gut, wie Staatsorgane und Bürger es mit Leben erfüllen.
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Tornado, BVerfGE 118, 244 (261).
Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der politischen Praxis des Deutschen Bundestages Von Felix Arndt*
A. Einleitung Andreas Paulus hat in seinem Beitrag herausgearbeitet, dass die deutsche Wiedervereinigung eine entscheidende Zäsur auch in der Völkerrechtspolitik markiert.1 Vergleichbares lässt sich für die Rolle, die das Völkerrecht im parlamentarischen Raum spielt, zeigen. Die veränderte Rolle, die das wiedervereinigte Deutschland in der Weltpolitik spielte, führte auch zu neuen Diskussionen über die Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Einsätzen im Rahmen eines Mandats des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Diese Entwicklung hat ihre Wurzel allerdings nicht nur in der Wiedervereinigung, sondern findet ihren Kontext auch in der Ende der 1980er-Jahre beginnenden Diskussion über eine Reform der Vereinten Nationen im Zuge der sich andeutenden Ost-West-Entspannung.2 Für den Bundestag brachte diese Entwicklung mit der Parlamentarisierung des Streitkräfteeinsatzes durch die AWACS-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur eine der bedeutendsten Verschiebungen im Kräfteverhältnis zwischen Regierung und Parlament mit sich. Mit der neuen Aufgabe rückten zugleich spezifische völkerrechtliche Fragen stärker in den Fokus des parlamentarischen Raums. Dieser Beitrag konzentriert sich auf eine Untersuchung des parlamentarischen Umgangs mit völkerrechtlichen Fragen nach der Wiedervereinigung. Eine Bemerkung zu der Zeit davor sei jedoch gemacht. Die von Andreas Paulus konstatierte Dominanz der deutschen Frage in den auswärtigen Beziehungen und der damit *
Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Ansicht des Autors wieder. A. Paulus (in diesem Band), Gliederungspunkt A. 2 Dies wird nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass die für die weitere Debatte wegweisende Heidelberger Tagung bereits im August 1989 stattfand, J. Frowein/T. Stein (Hrsg.), Rechtliche Aspekte einer Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an den Friedenstruppen der Vereinten Nationen, 1990. 1
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verbundenen Frage der Integration in die Staatengemeinschaft lässt sich auch für die Arbeit der Parlamentarier aufzeigen. Insbesondere in der Arbeit des Auswärtigen Ausschusses in den ersten sechs Legislaturperioden bildeten diese Themen die Schwerpunkte der Beratungen.3 Das Interesse an der deutschen Frage reichte zudem über die parlamentarische Arbeit im engeren Sinne heraus. In diesem Zusammenhang könnte es eine interessante Forschungsfrage sein, in welchem Umfang die deutsche Frage gerade in den Kontexten internationaler parlamentarischer Zusammenarbeit Gegenstand war. Neben der parlamentarischen Versammlung des Europarats kommen hier auch informellere Foren wie die Deutsch-Englische Gesellschaft in Betracht.4 Vor der Untersuchung der politischen Praxis sind einige theoretische Aspekte des Themas zu beleuchten (B.). Dem Topos „Völkerrechtsfreundlichkeit“ liegen Prämissen zugrunde, wenn er nicht als dogmatische Figur, sondern in Verbindung mit einer politischen Institution gebraucht wird. Damit verbunden ist schließlich die Frage nach Ziel und Funktion des rechtlichen und politischen Argumentierens mit der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. In einem nach dem Verhältniswahlrecht konstituierten Parlament bilden sich die Kräfteverhältnisse der politischen Parteien ab.5 In einem Fünfparteiensystem geht dies mit nicht unerheblicher Vielfalt einher. Vor diesem Hintergrund bildet ein Parlament nur schwerlich einen einheitlichen Untersuchungsgegenstand, sondern ähnelt eher einem Mosaik, in dem sich verschiedene Bausteine und Aspekte zu einem Bild zusammenfügen. Dies gilt auch für die Bedeutung des Völkerrechts für die parlamentarische Arbeit. Will man in dieser Perspektive unterschiedliche Facetten im parlamentarischen Umgang mit dem Völkerrecht untersuchen, gilt es in einem ersten Schritt zu klären, welche Akteure im außenpolitischen Bereich arbeiten (C.). Diese Akteursperspektive ermöglicht es zugleich, verschiedene Funktionen des Völkerrechts bei der parlamentarischen Arbeit zu beleuchten. Eine andere Perspektive, um das Bild zu erschließen, bilden dann ausgewählte völkerrechtliche Themen und die Bedeutung, die sie im Parlament besitzen (D.).
3
Eindrücklich zeigen dies die Untersuchungen von W. Hölscher/J. Wintzer, Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages, Sitzungsprotokolle, Bd. 13/III (1957– 1961), 2003, LVIII ff., Bd. 13/V (1965–1969), 2006, XLVIII, XCIII, Bd. 13/VI (1969– 1972), 2007, XLII. 4 Zur Bedeutung der Deutsch-Englischen Gesellschaft für die deutsche Frage, A. Abmeier, Königswinter und die deutsche Frage. Deutsch-englische Gespräche in der Ära Adenauer (1950–1961), Manuskript 2009. 5 H. Meyer, § 45 – Demokratische Wahl und Wahlsystem, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 3, 3. Auflage 2005, 521–542 (Rn.6).
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B. Völkerrechtsfreundlichkeit als Topos I. Welches Völkerrecht? Wenn aus dem Verhalten von Institutionen in bestimmten Situationen abgeleitet werden soll, wie sich der Anspruch der Völkerrechtsfreundlichkeit und die Wirklichkeit zueinander verhalten, bedarf es Kriterien für die Verallgemeinerungsfähigkeit dieser Beispiele. Der Frage nach Völkerrechtsfreundlichkeit oder -skepsis liegt die unausgesprochene Prämisse zugrunde, dass für den politischen Raum jeweils sicher erkennbar ist, wie sich die völkerrechtliche Lage darstellt. Gerade in politisch aufgeladenen Situationen ist der sichere Grund aber manchmal nicht so einfach zu entdecken. Nun ließe sich nicht ganz zu Unrecht einwenden, dass in juristischen Fragen allgemein vieles umstritten ist. Aber mit Blick auf das Völkerrecht verschärft sich das Problem dadurch, dass es oftmals an einer Gerichtsinstanz fehlt, die für Zwecke der politischen Diskussion eine „herrschende“ Meinung6 etablieren und so die Komplexität reduzieren kann.7 Besonders problematisch erscheint dies, wenn Normen des Völkergewohnheitsrechts und deren Wandel in Rede stehen.8 Besonders schwer zu lösen sind Situationen, in denen jeweils hochrangige Rechtsgüter für unterschiedliche völkerrechtliche Ansichten streiten. Ein eigenständiger und differenzierter Beitrag zur völkerrechtlichen Debatte ist von einem politischen Organ unter diesen Umständen wohl kaum zu erwarten. Als Illustration hierzu mögen die Diskussionen über die Rechtmäßigkeit des Kosovo-Einsatzes dienen, die nicht nur im rechtswissenschaftlichen Raum intensiv geführt worden sind.9 Vor diesem Hintergrund sind Dilemma-Situationen nicht nur wenig geeignete Ausgangspunkte für rechtsphilosophische Konstruktion oder problematische Fälle
6
Zur Kritik des Topos der herrschenden Meinung, U. Wesel, hM, Kursbuch 56 (1979), 88–109. 7 Eine wichtige Ausnahme mag insofern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sein. 8 Diese Unschärfe mag einer der Gründe sein, warum eine Änderung von Art. 87a Abs. 2 GG dahingehend, dass nach dem Völkerrecht zulässige Einsätze erlaubt werden, im politischen Raum auf verbreitete Skepsis stößt. 9 Zum Einfluss der Völkerrechtswissenschaft auf die Praxis G. Nolte, Kosovo und Konstitutionalisierung: Zur humanitären Intervention der NATO-Staaten, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 59 (1999), 941–960 (958 f.). Zur politischen Aufbereitung der völkerrechtlichen Argumente B. Simma, NATO, the UN, and the Use of Force: Legal Aspects, European Journal of International Law 10 (1999), 1–22 (12 f.).
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für die Schaffung von Präzedenzfällen.10 Sie erscheinen auch als schwierige Beispiele für die Beurteilung des allgemeinen Umgangs einer Institution mit dem Völkerrecht, jedenfalls wenn man das Ergebnis ihrer Willensbildungsprozesse mit dem eigenen Verständnis des geltenden Völkerrechts vergleicht. Eine ähnliche Problematik ergibt sich in Situationen, in denen verschiedene völkerrechtliche Regime in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen.11 Ob im Thematisieren einer solchen Problemlage Freundlichkeit oder Skepsis gegenüber dem Völkerrecht oder schlichtweg innenpolitische Erwägungen12 zum Ausdruck kommen, wird sich oft einer einfachen Antwort entziehen und ist noch schwerer auf eine allgemeine Formel zu bringen. Nicht das Ergebnis der politischen Willensbildung sollte wohl als Indiz für Völkerrechtsfreundlichkeit oder -skepsis dienen, sondern die Rolle des Völkerrechts im Willensbildungsprozess. Als ein Gradmesser mag insofern herangezogen werden, wie die völkerrechtliche Diskussionslage politisch aufgearbeitet wird und inwieweit überhaupt die Notwendigkeit einer rechtlichen Begründung gesehen wird. Wichtig ist in dieser Perspektive zudem, wie die politischen und institutionellen Strukturen des Parlaments verfasst sind. Diese bilden die Voraussetzung dafür, dass das Parlament seine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung ausüben und so seine Grundhaltung zum Völkerrecht überhaupt zur Geltung bringen kann.
II. Funktion und Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit Für die Zwecke dieses Beitrags sollen vier Ziele unterschieden werden, denen das Argument der Völkerrechtsfreundlichkeit dienen kann. Diese vier Aspekte erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sollen die Kontexte, in denen im politischen Raum auf das Völkerrecht rekurriert wird, verdeutlichen. Zunächst lässt sich unter Völkerrechtsfreundlichkeit das Bestreben nach der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen verstehen. Dies steht beispielsweise im Vordergrund, wenn die Verhandlung und Ratifizierung neuer völkerrechtlicher Verträge durch das Parlament gefordert wird. Zweitens umfasst Völkerrechtsfreundlichkeit 10
E. Denninger, Normalfall oder Grenzfall als Ausgangspunkt rechtsphilosophischer Konstruktion?, ARSP Beiheft 84 (2002), 37–50; S. Augsberg, Denken vom Ausnahmezustand her, in: Arndt u.a. (Hrsg.), Freiheit – Sicherheit – Öffentlichkeit, 2009, 17–39; sprichwörtlich O. W. Holmes, Northern Securities Co v. United States, 193 US 197, 400 (1904) (Justice Holmes dissenting). 11 Zur Fragmentierung des Völkerrechts S. Oeter, Zur Zukunft des Völkerrechts in Deutschland, ZaöRV 67 (2007), 675–693 (678 f.). 12 G. Roelleke, Diskussionsbeitrag, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 56 (1997), 102–103 (103).
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das Bestreben, nicht gegen bestehende Regelungen zu verstoßen. Ein dritter Aspekt ist die Kooperationsfähigkeit Deutschlands auf der internationalen Ebene, die möglicherweise eine gewisse Flexibilität verlangt, um in der Gesamtschau den Zielen des Grundgesetzes so gut wie möglich Rechnung tragen zu können. Schließlich kann das Argument der Völkerrechtsfreundlichkeit aber auch eingesetzt werden, um auf der verfassungsrechtlichen Ebene Befugnisse dort zu begründen, wo das Völkerrecht Handlungsmöglichkeiten einräumt, aber jedenfalls keine konkreten Handlungspflichten normiert.
C. Akteure und Funktionen von Völkerrecht im Deutschen Bundestag Analysiert man den Umgang mit dem Völkerrecht unter dem Aspekt der Handelnden, trifft man auf die bekannten parlamentarischen Akteure, die im Bereich der auswärtigen Beziehungen allerdings eine spezifische Gestalt besitzen. Neben den von Andreas Paulus besonders hervorgehobenen Regierungsfraktionen lassen sich eine Reihe anderer Akteure identifizieren. Aus einer politischen Perspektive sind zunächst die Oppositionsfraktionen relevant, trotz des im Bereich der Außenpolitik stärkeren Konsenses zwischen den Fraktionen mit Ausnahme der Fraktion Die Linke. Dieser fraktionsübergreifende Konsens manifestiert sich regelmäßig in interfraktionellen Anträgen, die insbesondere bei als wichtig angesehenen Themen angestrebt werden. Zudem vereint die politischen Akteure wohl eine gemeinsame Grundmelodie im Verhältnis zum Völkerrecht, nach der die Völkerrechtsfreundlichkeit im Sinne einer Beachtung des Völkerrechts zum grundsätzlichen Selbstverständnis gehört. Bei allen Meinungsverschiedenheiten über das, was das Völkerrecht im Einzelfall verlangen mag, dürfte eine Position, die das Völkerrecht strukturell ignorieren will, politisch wenig aussichtsreich sein.13
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Ungeachtet dieses allgemeinen Befunds finden sich Beispiele für das bewusste Ausblenden der völkerrechtlichen Fragen, vgl. nur das von Paulus (Beitrag in diesem Band, Anm. 79) angeführte Beispiele aus der Debatte über die Überflugrecht für die USA während des Irakkriegs. Welchen Erkenntniswert der Bericht des BND-Untersuchungsausschuss als Beleg für die vermutete Völkerrechtsskepsis besitzt (vgl. Paulus, Text bei Anm. 89 ff.) erscheint vor diesem Hintergrund allerdings zweifelhaft. Die besondere Perspektive eines Untersuchungsausschusses, in der es gerade nicht um das Ausrichten aktueller operativer Entscheidungen am Völkerrecht geht, ist wohl weniger geeignet, völkerrechtliche Streitfragen aufzuwerfen. In Untersuchungsausschüssen dürfte es vielmehr allgemein eine Tendenz geben, dass die politische Bewertung eines Sachverhalts im Vordergrund steht.
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Neben die politische Perspektive soll im Folgenden ein eher organisatorischinstitutioneller Blickwinkel treten. Aus diesem lässt sich zum einen der Umgang mit Völkerrecht in den außenpolitisch besonders relevanten Ausschüssen, zum anderen die Bedeutung der internationalen Vernetzung des Bundestags für die parlamentarische Arbeit erhellen.
I. Die politische Perspektive: Zur Rolle der Fraktionen 1. Parlamentarische Rückbindung des Regierungshandelns: Die Regierungsfraktionen Wichtig sind hier zunächst die Regierungsfraktionen. Sie verfügen nicht nur über die Mehrheit im Plenum und in den Ausschüssen und können so die Beschlüsse des Bundestages entscheidend gestalten. Sie verfügen auch über weiche Kontrollmechanismen, die im Vorfeld einer Entscheidung ansetzen. Die Einflussnahme im Vorfeld ist insbesondere im außenpolitischen Bereich von überragender Bedeutung, da die Willensbildung auf internationaler Ebene im Nachhinein nicht mehr verändert werden kann.14 Andere klassische Instrumente des Parlaments wie das Gesetzgebungsverfahren können hier vergleichsweise wenig Bedeutung entfalten. Ein in seiner Bedeutung für die parlamentarische Rückbindung von Regierungshandeln besonders wichtiges Forum sind vor diesem Hintergrund die fachlich zuständigen Arbeitsgruppen in den Regierungsfraktionen, die in Sitzungswochen des Bundestags jeweils am Dienstagvormittag beraten. An den Sitzungen dieser Arbeitsgruppen nehmen regelmäßig auch Regierungsvertreter, insbesondere auch aus dem Kanzleramt, teil und berichten über aktuelle außenpolitische Fragen. Daher können Parlamentarier in diesen internen Runden in gewissem Umfang Einfluss auf die Willensbildung der Regierung nehmen, deren Ergebnisse dann nach außen möglichst geschlossen dargestellt werden sollen. Die Frage nach der völkerrechtlichen Lage wird in diesem Kontext regelmäßig als legitim anerkannt und setzt den Fragesteller anders als eine primär politische Argumentation nicht dem Verdacht der subversiven Kritik aus. Gleiches gilt für die Diskussion in den Fraktionssitzungen, insbesondere für Fragen, die nicht von jeweiligen Fachleuten gestellt werden.
14 R. Wolfrum, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), 38–66 (43, 47); C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005, 371 f., 373 f.; F. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, 289.
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Im Einzelfall können profilierte Abgeordnete der Regierungsfraktionen eine Regierungsposition auch bei außenpolitischen Projekten maßgeblich beeinflussen. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der Abgeordnete Herrmann Scheer, dessen Arbeit dazu beigetragen hat, dass Deutschland eine führende Rolle bei der Gründung der Internationalen Organisation für Erneuerbare Energien (International Renewable Energy Agency – IRENA) gespielt hat.15
2. Völkerrecht als Instrument politischer Kritik und Kontrolle: Die Oppositionsfraktionen Auch im Bereich der Auswärtigen Beziehungen ist die Rolle der Opposition von hoher Wichtigkeit.16 Unter dem Gesichtspunkt des Völkerrechts ragen dabei zwei Aspekte heraus. Zum einen sind die verschiedenen Oppositionsfraktionen von besonderer Bedeutung, wenn sie im Organstreitverfahren die Kontrolle des Regierungshandelns durch das Bundesverfassungsgericht erwirken.17 Zwar kann grundsätzlich auch eine Regierungsfraktion als Antragstellerin im Organstreitverfahren auftreten, dies ist aber ein Einzelfall geblieben.18 Zu unterstreichen ist, dass dieses Instrument der Kontrolle in der Folge der grundlegenden AWACSEntscheidung insbesondere im sicherheitspolitischen Bereich zur Anwendung kommt.19 Die Perspektive des Parlamentsvorbehalts kann sogar Verfahren beeinflussen, in denen es politisch um etwas anderes geht. Prominentes Beispiel hierfür ist der Organstreit im Zusammenhang mit der Anerkennung des Kosovo.20 15
Zur parlamentarischen Begleitung der Verhandlungen vgl. BT-Drs. 16/9597. Das Zustimmungsgesetz zum Statut der IRENA ist veröffentlicht unter BGBl. 2009 II 21/634. Inzwischen haben 142 Staaten und die Europäische Union das Statut gezeichnet (Stand Februar 2010). Weitere Beispiele, in denen das Parlament die Vertragspolitik Deutschlands wegweisend beeinflusst hat, bei Wolfrum (Anm. 14), 47 f. 16 Allgemein zu Funktionen der Oppositionsfraktionen, P. Cancik, Parlamentarische Opposition in den Landesverfassungen, 2000, 146 f. 17 BVerfGE 90, 286 – Awacs; 104, 151 – NATO-Strategie I; 117, 359 – ISAF; 121, 135 – Luftraumüberwachung Türkei; Beschluss vom 13.10.2009, 2 BvE 4/08 – Kosovo. Zur Bedeutung dieser Rechtsprechungslinie für das Verhältnis von Regierung und Parlament H. Sauer, Das Verfassungsrecht der kollektiven Sicherheit, in: H. Rensen/S. Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, 585–620 (616 ff.). 18 BVerfGE 90, 286, 338 ff., kritisch dazu das Sondervotum der Richter Böckenförde und Kruis, BVerfGE 90, 286, 390 ff. 19 Paulus (Anm. 1), Abschnitt II. am Anfang. 20 BVerfG, Beschluss vom 13.10.2009, 2 BvE 4/08. Zum politischen Streit um die Anerkennung des Kosovo vgl. die Vereinbarte Debatte zum Kosovo, Plenarprotokoll (PlPr.) 16/144, 15189–15208 und die Befragung der Bundesregierung PlPr. 16/147, 15487–15493.
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Zum anderen verwenden die Oppositionsfraktionen völkerrechtliche Argumentationen bzw. die Frage nach der Völkerrechtskonformität als Instrument politischer Kritik des Regierungshandelns. Dies zeigt sich zum Beispiel an der Häufigkeit, in der im Rahmen Kleiner Anfragen nach der Vereinbarkeit einer Praxis mit dem Völkerrecht gefragt wird. Eine vergleichbare Kritikfunktion besitzen völkerrechtliche Positionen, wenn sie als Ausgangspunkt für Anträge der Oppositionsfraktionen genutzt werden. Häufige Beispiele lassen sich hierzu in menschenrechtsrelevanten Bereichen, wie dem Flüchtlingsrecht, oder im Umweltrecht finden.21 Besondere Bedeutung besitzen insofern auch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die im politischen Raum rezipiert werden.22 Ist ein Verstoß gegen die EMRK durch Deutschland festgestellt worden, steht dabei die politische Auseinandersetzung über die EMRK-konforme Gestaltung im Vordergrund. Aber auch Urteile gegen andere Vertragsstaaten bieten nicht selten den Anlass, die Frage nach der Vereinbarkeit der deutschen Rechtslage mit der EMRK mit politischem Nachdruck zu stellen.23 Auf andere Weise werden Völkerrechtsfreundlichkeit und Kritik miteinander verbunden, wenn eine Opposition die Fortentwicklung des Völkerrechts verlangt, in dem die Unterzeichnung und die Ratifikation von völkerrechtlichen Verträgen sowie die Rücknahme von Vorbehalten zum Thema gemacht werden.24
3. Die Wahrung des außenpolitischen Konsenses: Interfraktionelle Arbeit Bei der Formulierung interfraktioneller Anträge steht die Demonstration des außenpolitischen Konsenses im Vordergrund. Die gemeinsame Urheberschaft erleichtert es den Fraktionen, einem Antrag zuzustimmen. Dementsprechend wird diese Form häufig eingesetzt, um die Position der Bundesregierung bei internationalen Verhandlungen zu stärken.25 Ebenfalls häufig sind interfraktionelle An21 Antrag der Fraktion B’90/Die Grünen, BT-Drs. 16/10341; Antrag der Fraktion B’90/Die Grünen, BT-Drs. 16/9103 und die Schriftliche Frage des MdB Steenblock, BTDrs. 16/10945, Nr. 94. Vgl. auch Antrag der Fraktion der FDP, BT-Drs. 16/8903. 22 Inwiefern dies auch für die Kontrollmechanismen der universellen Menschenrechtsabkommen gilt, bedürfte einer genaueren Untersuchung. 23 Vgl. im Nachgang zu EGMR, Große Kammer, 43546/02 – E.B. v. Frankreich, Urteil vom 22.1.2008, die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, BT-Drs. 16/8465 sowie die Schriftliche Frage des MdB Heilmann, BT-Drs. 16/7965, Nr. 18. 24 Antrag der FDP, BT-Drs. 16/3145; Große Anfrage B’90/Die Grünen, BT-Drs. 16/ 11603, Fragen 17–20; Kleine Anfrage der FDP, BT-Drs. 16/11603. 25 Prominente Beispiele sind die Beschlüsse zum Internationalen Strafgerichtshof, BTDrs. 15/5363, und zur Reform der Vereinten Nationen, BT-Drs. 14/5243 und 5855; vgl.
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träge, wenn allgemeine menschenrechtliche Entschließungen gefasst werden sollen, etwa aus Anlass der regelmäßigen Debatte zum Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Steht wie in diesen Fällen von Beginn an fest, dass zu einem Thema eine interfraktionelle Vorgehensweise erstrebenswert ist, verläuft die Willenbildung und Abstimmung des Textes bereits im informellen Vorfeld. Nicht selten rücken aber auch zunächst Anträge einzelner Fraktionen bestimmte Themen in den Vordergrund der Aufmerksamkeit und führen im Laufe der Ausschussberatungen zu einem interfraktionellen Antrag. In der 16. Wahlperiode stammten 14 der insgesamt 363 Anträge und Entschließungsanträge aus dem Sachgebiet „Außenpolitik und Internationale Beziehungen“ von mindestens vier Fraktionen. Neben Kerngehalten deutscher Außenpolitik (Existenzrecht Israels, 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Abschaffung der Todesstrafe) finden sich insbesondere Beschlüsse zu parlamentsnahen Themen (Wahlen im Iran und in Belarus, Wahlbeobachtung durch die OSZE), zu menschenrechtlichen Fragen (Humanitäre Situation in Sri Lanka, Rechtsstaatlichkeit in Russland, Gewalt in Nord-Uganda, Laogai-Lager in China). Inwieweit diese Zahlen durch die Sondersituation der Großen Koalition beeinflusst sind, bedürfte einer weiteren vergleichenden Untersuchung.
II. Die institutionelle Perspektive: Ausschussarbeit und internationale Kooperation 1. Zur Rolle der Ausschüsse in der auswärtigen Politik Auch im Bereich der auswärtigen Politik bilden die Ausschüsse das Rückgrat des Parlaments auf der Arbeitsebene. Das Gewicht der Ausschüsse resultiert nicht zuletzt aus der notwendigen Arbeitsteilung in einem Parlament. Eine gewisse Spezialisierung und ein teilweise über viele Jahre gesammeltes Erfahrungswissen können dazu führen, dass die Parlamentarier trotz des mitunter hohen Zeitdrucks effektive Beiträge zur Kontrolle der Regierung leisten. Eine Spezialisierung auf außenpolitische Fragen ist im Bundestag schon in den frühen Legislaturperiodennachweisbar, insbesondere auch bei der Opposition.26 Sie ist also nicht erst ein Kennzeichen eines durch Globalisierungsprozesse veränderten parlamentarischen Betriebs. auch V. Pilz, Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages und die Mitwirkung des Parlaments an der auswärtigen und internationalen Politik, 2008, 120. 26 Zur Spezialisierung der Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses innerhalb der SPDFraktion in der 3. WP J. Wintzer, Einleitung, in: Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages, Sitzungsprotokolle, Bd. 13/III (1957–61), XXXII f.
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Für die Arbeitsweise der Ausschüsse besitzt das Selbstbefassungsrecht (§ 62 Abs. 1 Satz 3 GOBT) eine besondere Bedeutung. Es befähigt sie im Grundsatz, die jeweils korrespondierenden Ministerien frühzeitig zu kontrollieren.27 Nicht zu unterschätzen sind die mittelbaren Wirkungen, die die Behandlung einer Frage in einem der Ausschüsse des Bundestags auslöst. Sie signalisiert unabhängig von der Parteizugehörigkeit des Ausschussvorsitzenden, dass ein Thema politische Relevanz bekommt und damit möglicherweise auch in das Licht der öffentlichen Wahrnehmung geraten kann. Dies hat Rückwirkungen auf die Prioritätensetzung im Ministerium. Für die Arbeitsebene ist das Interesse eines Ausschusses regelmäßig Anlass, die Leitungsebene des Ministeriums stärker einzubinden bzw. einen Vorgang sogar als ministerrelevant anzusehen.28 Über die Einbindung der Leitungsebene stärkt die Ausschussbefassung daher mittelbar die parlamentarische Verantwortlichkeit des Regierungshandelns. Gleich zwei Ausschüsse, die im weiteren Sinne für die außenpolitischen Beratungen zuständig sind, werden in Art. 45a GG erwähnt: Der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und der Ausschuss für Verteidigung. Spezifische Aspekte des Völkerrechts spielen zudem im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe eine Rolle.29
a) Auswärtiger Ausschuss Der Auswärtige Ausschuss gehört zu den größten Ausschüssen des Bundestages. In der 17. WP gehören ihm 37 ordentliche Mitglieder an.30 Er tagt als geschlossener Ausschuss, zu dem der Zutritt nicht allen Mitgliedern des Bundestags möglich ist, um die vertrauliche Beratung auch sensibler außenpolitischer Fragen zu ermöglichen.31 Eine Besonderheit in der Zusammensetzung des Ausschusses liegt in der Dauer der Zugehörigkeit seiner Mitglieder zum Bundestag, die in der
27
G. Dürig/H. Klein, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 45a, Rn. 28; Pilz (Anm. 25), 89. 28 Diesen Hinweis verdanke ich meinem Heidelberger Kollegen Jochen von Bernstorff. 29 Zu nennen ist insofern noch der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, auf den im Folgenden nicht näher eingegangen wird, da er sich schwerpunktmäßig weniger mit genuin völkerrechtlichen Fragen beschäftigt. 30 BT-Drs. 17/17. In der 16. WP waren es 36 Mitglieder, BT-Drs. 16/76. Größer ist nur der Haushaltsausschuss mit 41 Mitgliedern. Vgl. auch Pilz (Anm. 25), 72, 90. 31 § 69 Abs. 2 GO-BT, dazu E. Münzing/V. Pilz, Aufgaben, Organisation und Arbeitsweise des Auswärtigen Ausschusses, in: H. Oberreuter/U. Krahnenpohl/M. Sebaldt (Hrsg.), Der Deutsche Bundestag im Wandel, 2. Auflage 2002, 63–86 (73).
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Regel deutlich über dem Durchschnitt anderer wichtiger Ausschüsse liegt.32 Aus den Reihen des Ausschusses werden nach Regierungswechseln nicht selten wichtige außenpolitische Funktionen in der Regierung besetzt.33 Das Prestige des Auswärtigen Ausschusses wird auch dadurch unterstrichen, dass in ihm häufiger der jeweils verantwortliche Bundesminister selbst vorträgt als in anderen Ausschüssen.34 Zudem gehört er zu den wenigen herausgehobenen Ausschüssen, in denen die Bundeskanzlerin ungefähr einmal pro Jahr die Grundlinien ihrer Außenpolitik erörtert. Kennzeichnend für die Arbeit des Auswärtigen Ausschusses ist vordringlich die kontinuierliche Aussprache über den außenpolitischen Kurs. Dagegen spielt die Beratung von Gesetzesvorlagen von Beginn an eine untergeordnete Rolle.35 Ausdruck dieser Arbeitsweise ist nicht zuletzt, dass bisher, soweit ersichtlich, lediglich ein einziger völkerrechtlicher Vertrag, der dem Bundestag vorgelegt wurde, keine Zustimmung erhalten hat.36 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass zum Zeitpunkt der Beratungen über ein Zustimmungsgesetz die Verhandlungen auf internationaler Ebene in der Regel gelaufen sind. Dieser Befund sollte allerdings nicht dazu verleiten, den Einfluss des Ausschusses zu unterschätzen.37 Verhandlungen zu Verträgen, zu denen später eine parlamentarische Zustimmung erforderlich ist, oder wichtige Strategieänderungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr sind regelmäßig bereits im Vorfeld Gegenstand der Diskussionen im Ausschuss oder auf informeller Ebene.38 Ebenso wird eine Regierung einen Entwurf für ein Zustimmungsgesetz erst dann vorlegen, wenn dessen Annahme keine politischen Hindernisse mehr im Wege stehen. Auf eine mögliche Stärkung des parlamentarischen Einflusses auf der internationalen Ebene zielen Vorschläge, Mitwirkungsrechte des Auswärtigen Ausschusses auf eine ausdrückliche verfas32
Ebenda, 67 f. Aktuelle Beispiele sind die Ernennungen von Eckart von Klaeden zum Staatsminister im Kanzleramt und von Werner Hoyer zum Staatsminister im Auswärtigen Amt. Umgekehrt werden in der Praxis Minister, die während der Legislaturperiode aus ihrem Amt scheiden, regelmäßig Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses. 34 Die regelmäßigen Unterrichtungen erfolgen üblicherweise durch die Staatsminister im Auswärtigen Amt bzw. die parlamentarischen Staatssekretäre oder durch hochrangige Beamte der betroffenen Ministerien. 35 Vgl. bereits Wintzer (Anm. 26), LVI. Aus neuerer Sicht Pilz (Anm. 25), 68. 36 Zum deutsch-französischen Grenzvertrag vom 31.07.1962 J. Wintzer, Einleitung, in: Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages, Sitzungsprotokolle, Bd. 13/V, 2006, XCVI ff. 37 Ausführlicher zum Einfluss des Auswärtigen Ausschusses auf die Außenpolitik allgemein Münzing/Pilz (Anm. 31), 81 ff.; Pilz (Anm. 25), 123 ff. 38 Pilz (Anm. 25), 69. 33
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sungsrechtliche Grundlage zu stellen sowie Ausschussmitglieder in die Verhandlungsdelegationen bei wichtigen internationalen Konferenzen einzubinden.39 Ob solche Anregungen in der politischen Praxis Bedeutung entfalten werden, dürfte nicht zuletzt davon abhängen, ob es zum einen gelingt, anhand überzeugender, verallgemeinerungsfähiger Kriterien die Fragen zu identifizieren, in denen eine Beteiligung von Parlamentariern einen Mehrwert verspricht. Zum anderen müsste geklärt werden, in welcher Form eine solche Einbindung effektiv umgesetzt werden kann. Ein wichtiger Aspekt für den politischen Einfluss des Ausschusses liegt in der Entscheidung, welche der zahlreichen außenpolitischen Fragen einer intensiveren parlamentarischen Begleitung und Kontrolle bedürfen. Der Ausschuss tagt in Sitzungswochen regelmäßig mittwochs von 9–13 Uhr, so dass drei bis vier Tagesordnungspunkte vertieft diskutiert werden können. Die daher unabdingbare politische Prioritätensetzung erfolgt durch die Obleute. Diesen kommt auch unter einem anderen Aspekt eine wichtige Rolle für die parlamentarische Begleitung der Außenpolitik zu. Zu wichtigen aktuellen Fragen erfolgt nicht selten auch eine vorrangige Unterrichtung der Obleute durch die Regierung, insbesondere wenn Vertraulichkeitsgründe für eine weitere Begrenzung des Personenkreises sprechen.40
b) Verteidigungsausschuss Die Arbeit des Verteidigungsausschusses war nach der Gründung der Bundeswehr lange Zeit weniger durch völkerrechtliche Aspekte, sondern vor allem durch Fragen der Aufstellung und Durchführung des Verteidigungshaushalts geprägt.41 Auch im bündnis- und sicherheitspolitischen Bereich liegt der Schwerpunkt der politischen Beratungen beim Auswärtigen Ausschuss. Seinen Ausdruck findet dies 39
S. Kadelbach, Die parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns bei der Beschlussfassung in internationalen Organisationen, in: R. Geiger (Hrsg.), Neuere Probleme der parlamentarischen Legitimation im Bereich der auswärtigen Gewalt, 2003, 41–57 (54); siehe auch W. Kahl, Parlamentarische Steuerung der internationalen Verwaltungsvorgänge, in: H. Trute (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – Tragfähigkeit eines Konzeptes, 2008, 71–106 (93 ff.). 40 Pilz (Anm. 25), 76, 82. 41 Der Verteidigungsausschuss ist zum einen an der Aufstellung des Einzelhaushaltsplans für das Bundesministerium der Verteidigung beteiligt (dazu N. Achterberg/M. Schulte, in: v. Mangoldt u.a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 5. Auflage 2008, Art. 45a, Rn. 21). Zum anderen hat sich eine Parlamentspraxis herausgebildet, dass bedeutende Beschaffungsvorhaben und insbesondere Beschaffungsvorhaben mit einem Kostenvolumen über 25 Mio. Euro auch dem Verteidigungsausschuss zur Beratung und Zustimmung vorgelegt werden.
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unter anderem darin, dass die Beratung der Mandate für Auslandseinsätze der Bundeswehr federführend im Auswärtigen Ausschuss stattfindet.42 Gleiches gilt für die Erweiterung der NATO.43 Eine Kontrollfunktion übt der Verteidigungsausschuss hingegen in der kontinuierlichen Begleitung der Auslandseinsätze der Bundeswehr aus. So steht am Anfang einer Sitzung regelmäßig eine Unterrichtung durch die Bundesregierung über die aktuelle Lage in den Einsatzgebieten. Dieser spezifische Blickwinkel dürfte auch Rückwirkungen auf die Behandlung völkerrechtlicher Fragestellungen haben. Nicht nur dürften Fragen des Rechts der bewaffneten Konflikte und der Friedensmission unter dem Mandat der Vereinten Nationen im Vordergrund des Interesses stehen. Die Perspektive dürfte zudem vergleichsweise stark durch praktisch relevante Detailfragen im Einsatz vor Ort geprägt sein, so zum Beispiel durch die Frage nach den Befugnissen der Soldaten.44 Eine weitere Besonderheit des Verteidigungsausschusses kann auch Auswirkungen darauf haben, welchen Stellenwert das Völkerrecht für seine Arbeit besitzt. Der Verteidigungsausschuss ist der einzige ständige Ausschuss des Bundestages, der sich selbst als Untersuchungsausschuss konstituieren kann (Art. 45a Abs. 2 GG). Führt man sich zum Beispiel den Gegenstand des ersten Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode vor Augen, so darf man annehmen, dass auch zahlreiche völkerrechtliche Fragen Bedeutung für die Bewertung der Ereignisse am Kundus-Fluss vom 4. September 2009 besitzen.45
c) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Eine besondere Bedeutung für die Rolle des Völkerrechts im Bundestag kommt dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu. Dies zeigt schon seine institutionelle Geschichte. Als eigenständiger Ausschuss wurde er erstmals 42
Vgl. nur die Überweisung des Antrags zur Verlängerung des ISAF-Mandats im November 2009, PlPr 17/7, 349. 43 Vgl. die Überweisung des Entwurfs für ein Gesetz zu den Protokollen vom 26. März 2003 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien, der Republik Estland, der Republik Lettland, der Republik Litauen, Rumäniens, der Slowakischen Republik und der Republik Slowenien, PlPr. 15/44, 3676. 44 Dazu nun H. Frister/M. Korte/C. Kreß, Die strafrechtliche Rechtfertigung militärischer Gewalt in Auslandseinsätzen auf der Grundlage eines Mandats der Vereinten Nationen, Juristenzeitung 2010, 10–18. 45 M. Bothe, Krieg oder nicht, Süddeutsche Zeitung vom 15.12.2009; C. Kreß/G. Nolte, Im ungleichen Krieg, FAZ vom 31.12.2009; D. Thym, Zwischen „Krieg“ und „Frieden“: Rechtsmaßstäbe für operatives Handeln der Bundeswehr im Ausland, Die Öffentliche Verwaltung 2010, i. E.
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zu Beginn der 14. Wahlperiode eingesetzt, nachdem zuvor ein Unterausschuss des Auswärtigen Ausschusses sich mit diesen Fragen beschäftigte. Die institutionelle Aufwertung zu einem eigenständigen Ausschuss lässt sich als Ausdruck für eine gesteigerte politische Aufmerksamkeit für Menschenrechtsfragen deuten. Sieht man die menschenrechtliche Perspektive als einen zentralen Aspekt des modernen Völkerrechts, ist die Einrichtung des Ausschusses ein Zeichen für Völkerrechtsfreundlichkeit. Der Ausschuss gehört mit 18 ordentlichen Mitgliedern zu den kleinen Ausschüssen des Bundestags. Gewicht und Einfluss erhält er allerdings auch darüber, dass die Mehrheit seiner Mitglieder auch anderen wichtigen Ausschüssen angehört, insbesondere dem Auswärtigen Ausschuss, dem Rechtsausschuss und dem Verteidigungsausschuss.46 Insofern bildet sich in den Mitgliedschaften ab, dass Menschenrechte ein Querschnittsthema sind. Die Bundesregierung wird im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe häufig auf der Arbeitsebene vertreten. Zu herausgehobenen Fragen trägt der zuständige Abteilungsleiter vor. Insofern machen sich die Wurzeln des Ausschusses als Unterausschuss noch bemerkbar. Für die parlamentarische Kontrolle muss dies jedoch kein Nachteil sein. Nicht selten ist der Austausch mit der Arbeitsebene aufschluss- und detailreicher als die politisch aufgeladene Debatte mit dem Minister oder Parlamentarischen Staatssekretär bzw. Staatsminister. Diese Form der Diskussion mit der Bundesregierung lässt sich insofern auch als wirkungsvolle Ergänzung des parlamentarischen Kontrollinstrumentariums verstehen. Im Vergleich zu anderen Ausschüssen nutzt der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zwei Instrumente besonders intensiv zur Erörterung menschenrechtlicher Fragen. Zum einen werden relativ häufig Anhörungen von Experten zu aktuellen völkerrechtlichen Fragestellungen durchgeführt.47 Beispiele aus der 16. Wahlperiode sind Anhörungen zur „Responsibility to Protect“ und zu extraterritorialen Staatenpflichten, in der insbesondere die Geltung von Grundund Menschenrechten bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr ein Thema war.48 Zum anderen werden zu den Menschenrechtsberichten der Bundesregierung regelmäßig in öffentlicher Sitzung Nichtregierungsorganisationen angehört. Die Stär46
Der Vorsitzende des Ausschusses, Tom Koenigs, ist zugleich Mitglied im Verteidigungsausschuss, die Obleute von CDU/CSU und SPD sind Mitglieder im Rechtsausschuss, die Obfrau der FDP Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. 47 Zur Bedeutung solcher Anhörungen Schorkopf (Anm. 14), 292. Zur Praxis des Auswärtigen Ausschusses vgl. Pilz (Anm. 25), 92 ff. 48 Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Anhörung vom 11.2.2009 (Responsibility to Protect), Protokoll Nr. 16/79 und Anhörung vom 17.12.2008, Protokoll Nr. 16/75 (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und extraterritoriale Staatenpflichten).
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kung von Nichtregierungsorganisationen im Völkerrecht findet insoweit ihre Entsprechung im parlamentarischen Raum.49
2. Internationale Vernetzung Zu einer effektiven Kontrolle des außenpolitischen Regierungshandelns kann auch die internationale Zusammenarbeit zwischen Parlamentariern beitragen. Ein wichtiges Instrument hierfür sind zunächst die parlamentarischen Versammlungen.50 Der Bundestag entsendet Delegationen zu den parlamentarischen Versammlungen des Europarats, der WEU, der NATO und der OSZE, sowie zur Ostseeparlamentarierkonferenz und zur Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung. Ein entscheidender Faktor für den Einfluss dieser Gremien ist, inwieweit die Parlamentarier in der Lage sind, ihr Doppelmandat zu nutzen, um die Erkenntnisse aus der internationalen Kooperation in ihrem nationalen Parlament zur Geltung zu bringen.51 So können beispielsweise Debatten in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats einen Anlass bieten, die Ratifikation eines Europaratsabkommens zu fordern und so völkerrechtliche Themen in den Blickpunkt des Bundestags rücken. Auch im Bereich der parlamentarischen Zusammenarbeit ist die Regierung allerdings nicht ohne faktischen Einfluss. So beruht die Vorbereitung auf die Sitzung einer Parlamentarischen Versammlung regelmäßig auch auf vom Auswärtigen Amt zu den jeweiligen Themen erstellten Sachständen. Daneben unterhält der Bundestag Außenkontakte, die als Ausfluss seines Selbstorganisationsrechts unbeschadet der völkerrechtlichen Vertretungsbefugnis des Bundespräsidenten auf einer eigenständigen Zuständigkeit für internationale Belange beruhen.52 Ein wichtiges multilaterales Forum bietet hierfür die Interparlamentarische Union (IPU), die sich zu einer spezifischen Art der internationalen Organisation der nationalen Parlamente entwickelt hat.53 Ein weiteres Instrument 49 M. Wagner, Non-State Actors, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online www.mpepil.com, Rn. 20 ff.; S. Charnovitz, Nongovernmental Organisations and International Law, American Journal of International Law 100 (2006), 348–372 (352 ff.). 50 F. Arndt, Parliamentary Assemblies, International, in: Wolfrum (Anm. 49). 51 C. Walter, Vereinte Nationen und Weltgesellschaft: Zur Forderung nach Einrichtung einer parlamentarischen Versammlung (UNPA), in: v. Schorlemer (Hrsg.), Globale Probleme und Zukunftsaufgaben der Vereinten Nationen, 2006, 218–237 (235); S. Marschall, Transnationale Repräsentation in Parlamentarischen Versammlungen, 2005, 332–335; Arndt (Anm. 50), Rn. 11. 52 G. Kretschmer, in: B. Schmidt-Bleibtreu u.a. (Hrsg), Kommentar zum Grundgesetz, 11. Auflage 2008, Art. 45a, Rn. 13. 53 F. Arndt, Inter-Parliamentary Union, in: Wolfrum (Anm. 49).
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internationaler Vernetzung, das auf die Initiative der IPU zurückgeht, bilden die bi- und multilateralen Parlamentariergruppen, die derzeit mit Abgeordneten aus 54 Staaten bestehen.54 Weiterhin bestehen bilaterale Beziehungen unter anderem des Auswärtigen Ausschusses mit den korrespondierenden Ausschüssen anderer Parlamente.55 Auch die Fraktionen pflegen Kontakte zu Partnern in den Parlamenten anderer Staaten.56
D. Völkerrechtliche Themen in der parlamentarischen Praxis Dem Bundestag stehen nur begrenzte Zeitkapazitäten für die Behandlung völkerrechtlicher Themen zur Verfügung. Neben einiger Empirie zur Vertragsgesetzgebung, die quasi die routinehafte „Pflichtaufgabe“ darstellt, sollen für die Themen, bei denen der Bundestag relativ eigenständig Schwerpunkte setzen kann, drei Kategorien gebildet werden. Die erste Gruppe bilden dabei Themen, die im parlamentarischen Raum über lange Zeit relativ kontinuierlich eine Rolle spielen. Ein zweiter Typus sind Themen, die eher punktuell Beachtung finden, ohne längerfristig diskutiert zu werden. Zur dritten Kategorie schließlich gehören die Themen, die keine nennenswerte parlamentarische Aufmerksamkeit erhalten. Aus diesen Kategorien lassen sich jeweils einige Beispiele zur Illustration vorstellen.
I. Das Pflichtprogramm: Vertragsgesetzgebung Dass die Vertragsgesetzgebung nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG einen ganz erheblichen quantitativen Anteil an der Gesetzgebung ausmacht, ist seit der Untersuchung von Helmuth Schulze-Fielitz zur 9. Wahlperiode bekannt.57 Auch nach der Wiedervereinigung bestätigt sich dieses Bild. So waren in der 14. WP 156 der 549 verkündeten Gesetze Vertragsgesetze, ein Anteil von 28 %. In der 15. Wahlperiode betrug der Anteil 25 % (96 von 385 verkündeten Gesetzen). In der im Folgenden näher untersuchten 16. Legislaturperiode wurden 109 Zustimmungs-
54
Pilz (Anm. 25), 165 f.; vgl. auch den Bericht über die internationalen Aktivitäten und Verpflichtungen des Deutschen Bundestages 2008/2009, BT-Drs. 16/14145, 20 ff. 55 Bericht über die internationalen Aktivitäten und Verpflichtungen des Deutschen Bundestages (Anm. 54), 6. 56 S. Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, 609 f. 57 H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, 79 ff.: 37,5 %.
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gesetze zu völkerrechtlichen Verträgen verabschiedet.58 Dass Vertragsgesetze aufgrund der vorgelagerten internationalen Ebene eine besondere Kategorie in der Gesetzgebung darstellen, ist keine neue Erkenntnis. Eine Analyse ihrer Strukturen kann dennoch Mosaikbausteine zum Umgang mit dem Völkerrecht im Bundestag beitragen. Als Parameter werden dabei die Abstimmungsergebnisse, die Dauer des Gesetzgebungsverfahrens und die Häufigkeit von Plenardebatten herangezogen. Die Analyse des Abstimmungsverhaltens unterstreicht die Veränderungen der politischen Lage im Bereich der Außenpolitik, die durch das Auftreten neuer Fraktionen im Bundestag entstanden ist. Waren in der 9. Wahlperiode noch die übergroße Mehrheit der Vertragsgesetze einstimmig verabschiedet worden,59 trifft dies in der 16. Wahlperiode nur noch auf 49 % (53 von 109 Gesetzen) zu. Der außenpolitische Konsens wird dabei am wenigsten von der Fraktion Die Linke mitgetragen. Diese stimmte 44 % der Vertragsgesetze nicht zu.60 Demgegenüber stimmten die Fraktion B’90/Die Grünen 75 % und die Fraktion der FDP über 90 % der Vertragsgesetze zu.61 Die Dauer der Gesetzgebungsverfahren im Bundestag illustriert den Routinecharakter der Vertragsgesetzgebung und verdeutlicht indirekt den Vorrang anderer Kontrollmechanismen im Bereich der Außenpolitik. Der ganz überwiegende Anteil der Verfahren dauerte höchstens 90 Tage von der Einbringung des Gesetzesentwurfs bis zur Schlussabstimmung (87 %).62 Die Hälfte der Vertragsgesetze wurde sogar innerhalb von 42 Tagen oder weniger beschlossen.63 Nicht selten wird ein Gesetz bereits in der auf die Einbringung folgenden Sitzungswoche abschließend beraten. Eine Ausnahme bildete in der 16. WP das Gesetz zu dem Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend
58 Die folgenden Zahlen beruhen auf einer Auswertung der Gesetzgebungsverfahren von Gesetzen der 16. WP, die ausweislich der Datenbank DIP21 im BGBl. II veröffentlicht wurden. Hinzugenommen wurden fünf Investitionsschutzabkommen, die in der Datenbank fälschlich unter dem BGBl. I zugeordnet sind. 59 Schulze-Fielitz (Anm. 57), 81. 60 Zu 28 Gesetzen wurde mit Nein gestimmt, in 20 Fällen enthielten sich die Abgeordneten der Fraktion. 61 B’90/Die Grünen: Enthaltungen zu 17 Gesetzen, Nein-Stimmen zu 10 Gesetzen; FDP: Enthaltungen zu 5 Gesetzen, Nein-Stimmen zu 4 Gesetzen. 62 Bei Verfahren, die länger dauerten, ist dies zudem häufig auf eine Sommerpause zurückzuführen. 63 Der Vertrag von Lissabon gehört insofern mit 56 Tagen zwischen Einbringung und Schlussabstimmung eher in die Gruppe der Vertragsgesetze, für die relativ viel Zeit zur Verfügung stand.
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den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie,64 dessen parlamentarisches Verfahren 582 Tage in Anspruch nahm. Ein weiterer Beleg für den Routinecharakter der Vertragsgesetzgebung lässt sich gewinnen, wenn untersucht wird, wie häufig Vertragsgesetze Gegenstand von Plenumsdebatten in erster und/oder zweiter Lesung waren. Nur in 29 Verfahren sind Reden in erster oder zweiter Lesung verzeichnet, häufig sind diese dabei lediglich zu Protokoll gegeben worden. Plenumsberatungen in beiden Lesungen gab es lediglich zu zehn Vertragesgesetzen. Diese gesteigerte Form der politischen Aufmerksamkeit haben neben dem Vertrag von Lissabon insbesondere wichtige multilaterale Verträge erhalten,65 aber auch einige bilaterale Verträge, die öffentlichkeitswirksame Themen betrafen.66 Als Erklärung für die „deliberationslose Routine“ ist unter anderem angeführt worden, dass viele Verträge ihrem Inhalt nach Routineangelegenheiten betreffen, so zum Beispiel, wenn einem Abkommen im Steuer- oder Investitionsschutzrecht ein Mustervertrag zugrunde liegt.67 In der 16. WP fielen die 30 Doppelbesteuerungs- und Investitionsschutzabkommen mit diversen Staaten in diese Kategorie. Vergleichbares gilt wohl für die Gesetze zu den Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen der EG und ihrer Mitgliedstaaten und diverser Drittstaaten. Dass dieser Erklärungsansatz jedoch nicht durchgängig trägt, wird dadurch deutlich, dass fünf Doppelbesteuerungsabkommen Gegenstand einer Plenumsberatung waren.68 Umgekehrt waren auch nicht unbedeutende menschenrechtliche Instrumente wie das Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen nicht Gegenstand von Plenumsdebatten. Der verallgemeinerungs64
BT-Drs. 16/3440. Protokoll Nr. 14 zur EMRK, BT-Drs. 16/42; Konvention zum Verbot Streumunition, BT-Drs. 16/12226; Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, BTDrs. 16/10808; Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter, BT-Drs. 16/8249; Abkommen mit den USA über Fluggastdaten, BT-Drs. 16/6750. 66 Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika über die Vertiefung der Zusammenarbeit bei der Verhinderung und Bekämpfung schwerwiegender Kriminalität, PlPr. 16/224, 24750A–24755A, PlPr. 16/231, S. 26215A–26216C; Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark über eine Feste Fehmarnbeltquerung, PlPr. 16/208, 22537A–22543C, PlPr. 16/227, 25197D–25208A. 67 Schulze-Fielitz (Anm. 57), 82. Zu der Bedeutung der Musterabkommen vgl. M. Goldmann, Der Widerspenstigen Zähmung, oder: Netzwerke dogmatisch gedacht, in: S. Boysen u.a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, 225–246 (226 ff.). 68 Ein Grund hierfür mag die in den letzten Jahren verstärkte allgemeine Diskussion über Steueroasen sein, die für diese Abkommen dann die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments aktualisiert. 65
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fähigere Erklärungsansatz für die Strukturen bei der Beratung von Vertragsgesetzen dürfte insofern eher bei der Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments zu suchen sein.
II. Themen mit kontinuierlicher Bedeutung Ein klassisches Thema, das über die Jahre in vielen Facetten Gegenstand der Beratungen im Bundestag gewesen ist, sind die Vereinten Nationen. Zunächst dominierte der Aspekt der Rückkehr Deutschlands in die Staatengemeinschaft. Nach Ende der Blockkonfrontation nahmen die Frage der Reform der Vereinten Nationen und das deutsche Interesse an einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat breiten Raum ein. Dies ist ein Beispiel für Themen, in denen ein weitgehender Interessengleichlauf zwischen Regierung und jedenfalls einer breiten Mehrheit des Bundestages besteht. Dies gilt auch für ein weiteres zentrales Thema der deutschen Außenpolitik der 1990er Jahre, die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Diese ist auch im parlamentarischen Raum intensiv begleitet worden.69 In der Folge ist auch die bisherige Arbeit des IStGH wahrgenommen worden.70 Auch über eine Erweiterung des IStGH-Statuts ist bereits debattiert worden.71 Nicht zuletzt findet nun die Ende Mai 2010 anstehende Überprüfungskonferenz in Kampala parlamentarische Aufmerksamkeit. Einen weiteren schon klassischen Schwerpunkt bilden die Bemühungen zur Rüstungskontrolle, die nicht zuletzt im Rahmen der Jahresabrüstungsberichte der Bundesregierung Gegenstand parlamentarischer Debatte sind.72 Zuletzt wurde dies auch im Zusammenhang mit der Konvention zum Verbot von Streumunition unterstrichen, die sowohl Gegenstand von Anträgen der Regierungsfraktionen73 und der Oppositionsfraktionen74 war. Zudem wurde in der Fragestunde zu völkerrechtlichen Zusammenhängen nachgefragt.75 In institutioneller Hinsicht zeigt die
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Vgl. nur die Entschließung in BT-Drs. 13/5363, Nr. 5; allgemein zur Entwicklung der deutschen Position G. Werle, Von der Ablehnung zur Mitgestaltung: Deutschland und das Völkerstrafrecht, in: P.-M. Dupuy u.a. (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung: Festschrift für Christian Tomuschat, 2006, 655–669. 70 Vgl. z.B. die Kleine Anfrage der Fraktion B’90/Die Grünen, BT-Drs. 16/9397. 71 Antrag der Fraktion der FDP, BT-Drs. 16/11186. 72 Jahresabrüstungsbericht 2008, BT-Drs. 16/11690; PlPr. 16/203, 21987C–22006D. 73 Antrag BT-Drs. 16/11216; Antrag BT-Drs. 16/1995. 74 Anträge der Fraktion B’90/Die Grünen, BT-Drs. 16/8909 und 2749; der Fraktion der FDP, Bt-Drs. 16/2780 sowie der Fraktion Die Linke, BT-Drs. 16/7767. 75 MdB Höger, Dringliche Frage, PlPr. 16/144, 15174B-D; MdB Ströbele, Schriftliche Frage, BT-Drs. 16/9960, Nr. 5.
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Einrichtung des Unterausschusses für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung die relativ enge Begleitung des Themas durch den Bundestag.76 Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr kann es kaum überraschen, dass dieser Themenkomplex den Bundestag auch in völkerrechtlicher Hinsicht beschäftigt. Der Bundestag kommt insofern der ihm zugeschriebenen Aufgabe auch (völker-) rechtlicher Kontrolle der Regierung nach.77 Die konkreten Themen entwickeln sich dabei vor allem situationsgebunden. Zudem lässt sich jeweils eine gewisse Tendenz beobachten, dass zunächst die Frage nach der grundsätzlichen Legitimation eines Einsatzes gestellt wird. Im Laufe eines Einsatzes erhalten dann Detailfragen der Durchführung mehr Aufmerksamkeit, die wiederum den Blick auf weitere grundsätzliche Fragen lenken. Manche dieser grundlegenderen Aspekte, wie die Frage, an welche Grund- und Menschenrechte die Bundeswehr bei ihren Auslandseinsätzen gebunden ist und was dies für die Einsatzpraxis bedeutet, kehren regelmäßig wieder. Eine gewichtige Rolle spielt insoweit der mit dem Topos Völkerrechtsfreundlichkeit verbundene Aspekt der Kooperationsfähigkeit deutscher Streitkräfte.78 Dem entspricht auch ein Wandel in den Anfragen, die von den Mitgliedern des Bundestags an den außenpolitischen und völkerrechtlichen Fachbereich der Wissenschaftlichen Dienste gestellt werden. Standen früher die außenpolitischen Aspekte im Vordergrund, nehmen nunmehr explizit völkerrechtliche Fragen breiten Raum ein. Fragen im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr bilden dabei einen kontinuierlichen Schwerpunkt. Ein weiteres Thema, das fortlaufend von einigen Fraktionen in der parlamentarischen Arbeit präsent gehalten wird, ist die Praxis der Rückübernahmeabkommen, die Deutschland mit verschiedenen Staaten geschlossen hat. Im Vordergrund steht dabei oftmals die Frage nach der menschenrechtlichen Dimension dieser Praxis, die eine kritische Kontrolle des Regierungshandelns ermöglicht.79 Ein inzwischen fast klassisches Thema ist die Rücknahme der Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention.80 Der Bundestag hat diese bereits wiederholt gefordert, 76
Der Unterausschuss besteht im Kern seit der 5. Wahlperiode, Pilz (Anm. 25), 100. V. Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, 291. 78 Zur rechtlichen Problematik Schorkopf (Anm. 14), 125 ff.; G. Nolte, Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, VVDStRL 67 (2008), 129–159 (144, 150). 79 Vgl. statt vieler zuletzt die Anträge der Fraktion B’90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. zum Deutsch-Syrischen Rückübernahmeübereinkommen, BT-Drs. 17/570. 80 Zu diesen C. Tomuschat, Verwirrung über die Kinderrechte-Konvention der Vereinten Nationen, in: F. Ruland/B. v. Maydell/H.-J. Papier (Hrsg.), Verfassung, Theorie und 77
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die Kinderkommission des Bundestags sogar einstimmig. Eine Umsetzung scheitert bisher wohl am Widerstand der Länder.81 Seitdem sind Anträge, in denen die Bundesregierung zur Rücknahme der Vorbehalte aufgefordert wird, in jeder Legislaturperiode gestellt worden.82 Besondere Aufmerksamkeit hat das Thema auch über eine Große Anfrage in der 16. Wahlperiode erhalten.83 Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Deutschland betreffen, stoßen im parlamentarischen Raum regelmäßig auf Resonanz. Gleiches gilt für die großen Linien der Diskussion um eine Reform des Gerichtshofs, um seine Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Die Detailfragen der Entlastung, ihrer Instrumente und deren Wirksamkeit werden demgegenüber nur von wenigen Spezialisten diskutiert oder erblicken gar nicht das Licht der öffentlichen Auseinandersetzung. So hat, soweit ersichtlich, die Frage nach der Schaffung eines eigenen Rechtsbehelfs bei Verstößen gegen Art. 6 EMRK durch überlange Verfahrensdauern, die das Urteil Sürmeli aufgeworfen hatte, keinen nachhaltigen Niederschlag in der öffentlichen Parlamentsarbeit gefunden.84
III. Themen mit punktueller Aufmerksamkeit: Das Beispiel der Pirateriebekämpfung Die Diskussion über die Rechtsgrundlage der Pirateriebekämpfung durch die deutsche Marine bietet ein Beispiel für ein völkerrechtliches Thema, das zu einem bestimmten Zeitpunkt hohe parlamentarische Aufmerksamkeit erhält. Ein Grund hierfür dürfte auch in den Resolutionen des Sicherheitsrats, die das Thema international auf die Tagesordnung brachten, und in den damit zusammenhängenden Diskussionen innerhalb der Bundesregierung liegen.85 Die Debatte ist zudem ein Praxis des Sozialstaats, Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 1998, 1143; H. Cremer, Der Anspruch des unbegleiteten Kindes auf Betreuung und Unterbringung nach Art. 20 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes, 2006, 186 ff. 81 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage von B’90/Die Grünen, BT-Drs. 16/6076, 3. 82 Zuletzt in den Anträgen der Fraktion der SPD, BT-Drs. 17/57, der Fraktion Die Linke, BT-Drs. 17/59 und der Fraktion B’90/Die Grünen, BT-Drs. 17/61, sowie im Antrag der Regierungsfraktionen, BT-Drs. 17/257, 5, II Nr. 7. 83 Große Anfrage der Fraktion B’90/Die Grünen, BT-Drs. 16/4205. 84 EGMR, Entscheidung vom 8. Juni 2006, Nr. 75529/01, Sürmeli v. Deutschland, Rn. 139; dazu J. A. Frowein, The Binding Force of ECHR Judgments and its Limits, in: S. Breitenmoser/B. Ehrenzeller (Hrsg.), Human rights, Democracy and the Rule of Law, Liber amicorum Luzius Wildhaber, 2007, 261–269 (265 f.). 85 Unterschwellig existierte die Debatte bereits einige Zeit zuvor, vgl. J. A. Frowein, Leserbrief, FAZ v. 24.11.2007, 8.
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Beispiel für die politische Nutzung des Arguments der Völkerrechtsfreundlichkeit, um aus völkerrechtlichen Handlungsmöglichkeiten verfassungsrechtliche Befugnisse zu begründen.86 Die in der Praxis gefundene pragmatische Lösung über Art. 24 Abs. 2 GG zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie die Bewertung des Sicherheitsrats zum Zusammenhang von Weltfrieden und den Ursachen der Piraterie vor der Küste Somalias anerkennt.87 Als zusätzliche Absicherung der Rechtsgrundlage dient, dass der Einsatz der Deutschen Marine über eine Gemeinsame Aktion der EU legitimiert wird.88 Die EU wird insofern von der Staatspraxis als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG angesehen.89 Bemerkenswert sind auch die Beratungen darüber, welches Forum für die Strafverfolgung von Akten der Piraterie zuständig sein soll. Die Argumentation der Bundesregierung, dass hierfür die Schaffung eines eigenen internationalen Gerichtshofs wünschenswert sei, ist in weiten Teilen des Parlaments auf Zustimmung gestoßen.90 Diese Diskussion ist ein Beispiel für den großen Vertrauensvorschuss, den institutionelle Lösungen auf internationaler Ebene im Parlament nicht selten
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MdB Stinner (FDP), PlPr 16/172, 18383B; MdB Kramer (SPD), PlPr 16/172, 18444B; zur völkerrechtlichen Lage A. Proelß, Maritime Sicherheit im Blickfeld von Völker- und Verfassungsrecht, in: A. Zimmermann/C. Tams (Hrsg.), Seesicherheit vor neuen Herausforderungen, 2008, 69–78 (70). 87 S/RES/1816 (2008); skeptisch zur Anwendbarkeit von Art. 24 Abs. 2 GG Röben (Anm. 77), 294 f. 88 Zu Zweifeln, wie weit die durch den Sicherheitsrat geschaffene Rechtsgrundlage trägt, A. Zimmermann, Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe am 17.12.2008, Protokoll 16/75, 14–17 (15). 89 Daran sollte sich trotz der missverständlichen Formulierungen im Lissabon-Urteil des BVerfG, nach denen die EU noch kein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit sei (BVerfGE 123, 267 (361, 425 f.)), nichts geändert haben. Liest man die entsprechenden Passagen im Kontext, wird deutlich, dass sie der Absicherung des Parlamentsvorbehalts dienen. Vor diesem Hintergrund wird der Begriff des Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit in einem engen Sinne benutzt, um einen hoch integrierten Streitkräfteverbund zu beschreiben, in dem die Herrschaft über die eigenen Streitkräfte fraglich werden könnte. Eine andere Lesart würde unterstellen, dass das BVerfG eine Abkehr von der eigenen Rechtsprechung zur NATO vollzogen hätte, ohne dies kenntlich zu machen. 90 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion B’90/Die Grünen, BT-Drs. 16/12648, Nr. 6; MdB Kolbow (SPD), PlPr. 16/195, 21066A; MdB Mützenich (SPD), PlPr. 197/21342C; MdB Homburger (FDP), PlPr. 16/197, 21344B/C; MdB Polenz (CDU/CSU), PlPr. 16/197, 21354A/B.
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genießen. Dieses Vertrauen besteht zunächst auch in Bereichen, in denen dies bei Völkerrechtswissenschaftlern mit guten Gründen eher auf Skepsis stößt.91 Den Hintergrund für die Forderung nach einem internationalen Gerichtshof für die Verfolgung von Piraterie liegt in der Zurückhaltung gegenüber einer Verfolgung durch die eigenen staatlichen Gerichte. Akte der Piraterie können jedoch nach dem Universalitätsprinzip von jedem Staat verfolgt werden (Art. 105 SRÜ). Ein Anknüpfungspunkt im Sinne eines Inlandsbezugs ist aus völkerrechtlicher Sicht nicht erforderlich. Die Verfolgung von Piraterie außerhalb der Hoheitsgewässer eines Staates gilt insoweit als das klassische Beispiel einer echten, unbedingten Geltung des Universalitätsprinzips.92 Insofern ließe sich eine skeptische Haltung gegenüber völkerrechtlichen Regelungen darin erblicken, wenn eine Verfolgung von Akten der Piraterie kategorisch an die Verletzung deutscher Rechtsgüter geknüpft wird.93
IV. Themen mit wenig Aufmerksamkeit: Das Beispiel der Unterwerfungserklärung unter die Gerichtsbarkeit des IGH Schließlich sei exemplarisch noch auf ein Thema eingegangen, das im Bundestag wenig Aufmerksamkeit erhalten hat, wenngleich es völkerrechtspolitisch von erheblicher Bedeutung ist: Die Abgabe der Unterwerfungserklärung Deutschlands unter die Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs (IGH) nach Art. 36 IGHStatut. In der Völkerrechtswissenschaft hatte die anstehende Entscheidung der Bundesregierung durchaus Aufmerksamkeit und somit auch eine gewisse Öffentlichkeit erhalten.94 Eine Befassung des Bundestags im Vorfeld der Entscheidung fand hingegen nicht statt. Die Bundesregierung hat den Bundestag von der Abgabe 91
R. Wolfrum, Interview in: Das Parlament 52/2008, 2; F. Arndt/L. Appell, Internationale Strafgerichte, Der Aktuelle Begriff Nr. 96/09, http://www.bundestag.de/dokumente/ analysen/2009/internationale_strafgerichte.pdf. 92 I. Shearer, Piracy, in: Wolfrum (Anm. 49), Rn. 22; vgl. schon das Sondervotum des Richters Moore zur Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, Lotus (Frankreich v. Türkei), PCJI Series A No 10, 70, und das Sondervotum des Präsidenten des IGH Guillaume, Arrest Warrant (Democratic Republic of Congo v. Belgium), ICJ Reports 2002, 35, 37 f. 93 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion B’90/Die Grünen, BT-Drs. 16/11383, Nr. 34. 94 M. Bothe/E. Klein, Bericht einer Studiengruppe zur Anerkennung der Gerichtsbarkeit des IGH gemäß Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut, ZaöRV 67 (2007), 825–841. Aus Sicht des Völkerrechtsreferats des Auswärtigen Amts, C. Eick, Die Anerkennung der obligatorischen Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs durch Deutschland, ZaöRV 68 (2008), 763 m.w.N.
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dieser Erklärung lediglich im Nachhinein unterrichtet.95 Soweit ersichtlich ist dieses Verfahren jedenfalls in den formellen Zusammenhängen nicht kritisiert worden. Dies mag überraschen, da der von der Bundesregierung angebrachte Vorbehalt, der die Zuständigkeit des IGH für Streitigkeiten im Zusammenhang mit Einsätzen der Bundeswehr ausschließt, einen wichtigen Bereich der parlamentarischen Mitverantwortung der auswärtigen Gewalt betrifft.96 Aus dem Fehlen einer parlamentarischen Zustimmung zu der konkreten Formulierung der Unterwerfungserklärung sollte hingegen nicht vorschnell geschlossen werden, dass im Bundestag eine solche Zustimmung allgemein für entbehrlich gehalten wird. Zwar wird die Abgabe einer Unterwerfungserklärung von einer Ansicht im juristischen Schrifttum als einseitiger Akt qualifiziert, der Art. 59 Abs. 2 GG nicht unterfalle. Dagegen lässt sich einwenden, dass die Zuständigkeit des IGH nach dem Konzept des Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen geschaffen wird. Daher besteht eine hinreichende Nähe zu einer vertraglichen Vereinbarung, um eine analoge Anwendung von Art. 59 Abs. 2 GG zu begründen.97 Aus parlamentarischer Sicht dürfte daher die Annahme überzeugender sein, dass die Zustimmung zu der Unterwerfungserklärung bereits mit der Zustimmung zum IGH-Statut selbst erteilt worden ist.98 Aus politischer Sicht mag ein Grund für die geringe aktuelle Aufmerksamkeit für die Unterwerfungserklärung darin gelegen haben, dass die Abgabe der Unterwerfungserklärung im Grundsatz schon seit langem auf eine breite parlamentarische Unterstützung gestoßen ist.99 Zudem dürfte der Umfang der Vorbehalte bei realistischer Betrachtung durch parlamentarischen Einfluss nur schwerlich reduzierbar sein. Eine Rücknahme der abstrakt erteilten Zustimmung hätte wohl nur dazu geführt, dass keine Unterwerfungserklärung abgegeben worden wäre. Jedenfalls darf aufgrund der ausführlicheren Debatten von anderen Aspekten des Verhältnisses Deutschlands zum IGH angenommen werden, dass der Grund nicht in einem generellen Desinteresse gegenüber diesem liegt.100 95
BT-Drs. 16/9218. Zu den Bedenken gegen diesen Vorbehalt Bothe/Klein (Anm. 94), 836 ff. 97 Zum Streitstand Bothe/Klein (Anm. 94), 828. Vor dem vorschnellen Verweis auf die Einseitigkeit eines Aktes warnte schon das Sondervotum des Richters Mahrenholz in der Nachrüstungsentscheidung, BVerfGE 68, 1, 111 (127 f.). 98 Wolfrum (Anm. 14), 60. Eine spezifische gesetzliche Grundlage mag hingegen notwendig sein, wenn die Möglichkeit einer Individualbeschwerde eröffnet werden soll. 99 Zuletzt den Antrag der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, FDP und B’90/Die Grünen, BT-Drs. 14/5243, S. 4 und 14/5855, 6. Siehe auch die Antwort auf die Frage der Abg. Leonhard (SPD), PlPr. 13/177, S. 15948 B/C. 100 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang das Bemühen der damaligen Opposition, die Bundesregierung aufzufordern, im Rahmen des Gutachtenverfahrens zum 96
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E. Ausblick: Der Bundestag und die Internationalisierung von Hoheitsgewalt In der Völkerrechtswissenschaft wird in jüngerer Zeit der Blick auf die sich verstärkende Bedeutung internationaler Organisationen in wichtigen Politikfeldern gelenkt. Dabei zeichnet sich eine Entwicklung ab, die sich als eine Ausübung von Hoheitsgewalt durch internationale Organisationen deuten lässt.101 Durch diese Internationalisierung steht der Bundestag vor Herausforderungen, die jedenfalls in wichtigen Grundstrukturen schon aus der Diskussion zur Europäisierung bekannt sind. Ein zentraler Aspekt dürfte darin bestehen, aus der Vielfalt und Menge der auf internationaler Ebene behandelten Gegenstände rechtzeitig diejenigen zu identifizieren, die parlamentarischer Aufmerksamkeit bedürfen und sich für eine Einflussnahme eignen.102 Ein vielversprechender Ansatz könnte dahin gehen, das Agieren der internationalen Akteure strukturierter zu erfassen und im Sinne einer Handlungsformenlehre zu systematisieren.103 Dies würde es ermöglichen, aus dem Wirkungsmodus der jeweiligen Handlungsform Erkenntnisse über den Grad der Einwirkung der internationalen Entscheidungen auf die nationale Rechtsordnung abzuleiten und die innerstaatlichen Verfahren entsprechend anzupassen. Wie diese Herausforderung angegangen und bewältigt wird, dürfte in der Zukunft als ein wichtiges Indiz für das Verhältnis von Völkerrechtsfreundlichkeit und -skepsis in der politischen Praxis des Bundestags herangezogen werden können.
Einsatz von Atomwaffen gegenüber dem IGH nicht nur die Mehrheitsansicht darzustellen, Antrag der Fraktion der SPD, BT-Drs. 13/1879. 101 Wegweisend E. Schmidt-Aßmann, Die Herausforderung der Verwaltungsrechtwissenschaft durch die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen, Der Staat 45 (2006), 315–338 sowie ausführlich A. v. Bogdandy u.a. (Hrsg.), The Exercise of Public Authority by International Institutions: Advancing International Institutional Law, 2010; vgl. zuvor schon die Beiträge in: C. Möllers/A. Voßkuhle/C. Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007, C. Möllers, Transnationale Behördenkooperation, ZaöRV 65 (2005), 351–389; Schorkopf (Anm. 14), 288 f. 102 Zu Informationspflichten der Bundesregierung in diesem Zusammenhang Kadelbach (Anm. 39), 54; Kahl (Anm. 39), 87, 89 f. 103 Zu den Funktionen der Handlungsformen und ihren demokratischen und rechtsstaatlichen Gehalten E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage, 2004, 2 ff., 250 ff.; A. von Bogdandy/J. Bast/F. Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht, ZaöRV 62 (2002) 77–161 (78 f.).
Völkerrechtsfreundlichkeit in der politischen Praxis der deutschen Exekutive Von Susanne Wasum-Rainer
A. Herzlichen Dank an Andreas Paulus für einen brillanten, inspirierenden Vortrag. Als Beauftragte des Auswärtigen Amts für Fragen des Völkerrechts habe ich die Einladung zu einer kurzen Kommentierung des Vortrags und der Thesen zum Thema „Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der politischen Praxis“ gerne angenommen. Zunächst möchte ich feststellen, dass der Begriff der „Völkerrechtsskepsis“ nicht nur dem Grundgesetz (GG), sondern auch der politischen Praxis der Bundesrepublik Deutschland fremd war und ist. Die politische Praxis der deutschen Exekutive war und ist völkerrechtsfreundlich. Diese Bewertung scheint mir insbesondere auch bei Anlegung eines internationalen rechtsund politikvergleichenden Maßstabs richtig. Es entspricht der Haltung dieser wie aller früherer Bundesregierungen, dass die Respektierung des Völkerrechts eine Notwendigkeit jenseits strategischer Überlegungen ist. Die Respektierung des Völkerrechts begründet nach dieser Auffassung die Legitimität außenpolitischen Handelns, sichert seine Stabilität und Vorhersehbarkeit und schafft die Grundlage einer stabilen internationalen Ordnung. Das Eintreten Deutschlands für einen „effektiven Multilateralismus“ und eine „normengestützte internationale Ordnung“ sind lediglich operative Folge dieser Haltung. Die Thesen von Herrn Paulus, wonach Deutschland bis zur Wiedervereinigung „nur eine vorsichtige Völkerrechtspolitik“ betrieben habe und erst der Zwei-PlusVier-Vertrag den Weg „für eine offensivere Völkerrechtspolitik“ frei gemacht habe, gibt das Bild meines Erachtens nicht vollständig wieder. Trotz eingeschränkter Handlungsfähigkeit ist Deutschland bis zur Wiedervereinigung Partei von rund 690 multilateralen und über 3000 bilateralen völkerrechtlichen Verträgen geworden. Seit der Wiedervereinigung sind knapp 130 multilaterale und über 1900 bilaterale Verträge hinzugekommen. Die große völkerrechtliche Kunst bestand darin, dass bis 1990 jeweils Lösungen gefunden werden mussten, die dem komplexen völkerrechtlichen Statuts Deutschlands gerecht wurden. Insoweit scheint
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mir die deutsche Völkerrechtspolitik vor 1990 eher innovativ und „offensiv“ als diejenige, die Deutschland als gewöhnliches Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft seit Wiedererlangung der vollen völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit im Jahr 1990 betrieben hat. Auch die These, wonach bis heute die „Kosten“ der Strategie der vorsichtigen Völkerrechtspolitik in Deutschland zu spüren seien, scheint mir kein vollständiges Bild zu zeichnen. Es entsprach keiner bewusst von der allgemeinen Völkerrechtspraxis abweichenden deutschen Strategie, dass ein umfassender Friedensvertrag nicht geschlossen wurde. Vielmehr hat das Auseinanderbrechen der Koalition der Siegermächte das Zustandekommen eines derartigen Vertrags verhindert. In den nachfolgenden Jahrzehnten begründeten jedoch alle 60 ehemaligen Kriegsgegner normale Beziehungen mit den dafür bestehenden Mitteln des Friedensvölkerrechts mit Deutschland. Mit dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag von 1990 hat dieser Prozess seinen Abschluss gefunden. Die Frage eines förmlichen Friedensvertrags hat sich da nicht mehr gestellt.
B. Es mag unterschiedliche Auffassungen vom Inhalt des Begriffs der Völkerrechtsfreundlichkeit geben. Nach Auffassung der Bundesregierung hat die völkerrechtsfreundliche Ausrichtung des Grundgesetzes heute zwei ganz konkrete Inhalte: zum einen die Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit und der friedlichen Streitbeilegung, zum anderen die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Diese beiden Zielsetzungen hat die Bundesregierung zuletzt bei Abgabe der Erklärung zur Anerkennung der obligatorischen Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs (IGH) nach Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut, die bedauerlicherweise erst im vergangenen Jahr erfolgen konnte, bekräftigt.1 Mit der Anerkennung des IGH nach Art. 36 Abs. 2 sende sie auch, so erklärte sie „ein starkes und positives Signal der Stärkung des Völkerrechts in die internationale Gemeinschaft“.2 Das Eintreten für eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen bestimmt das internationale Auftreten Deutschlands auf ganz unterschiedliche Weise. Ich möchte drei Beispiele dafür nennen: 1 BT Drs. 16/9218 vom 05.05.2008, Erklärung über die Anerkennung der obligatorischen Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs nach Art. 36 Abs. 2 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs. 2 Ebenda.
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Erstens, die Bereitschaft, neue völkerrechtliche Abkommen durch Ratifizierung für Deutschland schnell wirksam werden zu lassen, auch um den Preis notwendiger innerstaatlicher Rechtsänderungen (z.B. schnelle Änderung des Art. 16 GG bei Ratifizierung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), um die Überstellung von deutschen Staatsangehörigen an den IStGH und andere internationale Tribunale zu ermöglichen); zweitens, das Eintreten Deutschlands für das Völkerrecht im internationalen Diskurs als zentralem Handlungsrahmen für alle internationalen Akteure. Beispielhaft sei an dieser Stelle der intensive Dialog der Bundesregierung mit den USA über die völkerrechtlichen Regeln beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus erwähnt. Es gibt viele andere Beispiele auch völlig anderer Natur, wie etwa das Eintreten Deutschlands für völkerrechtliche Regelungen in der Folge des technologischen Fortschritts, zum Beispiel im Bereich des Klonens; drittens, das deutsche Eintreten für eine verstärkte Prüfung, wie das Völkerrecht über die Funktion des zwischenstaatlichen Interessenausgleichs hinaus in die traditionell abgeschirmten Bereiche nationaler Rechtsordnungen und Rechtsdefizite hinein wirken könnte, beispielsweise bei innerstaatlichen Rechtsdefiziten mit grenzüberschreitenden Wirkungen wie Staatsverfall, Privatisierung der Gewalt, organisiertes Verbrechen.
C. Die aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit folgenden Verpflichtungen sind, darauf ist Herr Paulus in seinem Vortrag bereits eingegangen, vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einer Reihe von Entscheidungen nachdrücklich verdeutlicht worden.3 Das BVerfG hat unterstrichen, dass das Grundgesetz bestimmte Einrichtungen und Rechtsquellen der internationalen Zusammenarbeit und des Völkerrechts hervorhebt. Gemeint sind die Art. 23 bis 26, Art. 59 Abs. 2 GG und der bereits erwähnte Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG – die Überstellung Deutscher an einen internationalen Gerichtshof. Mit diesen Bestimmungen wird, so das BVerfG, durch das Grundgesetz die Entstehung von Völkerrecht unter Beteiligung 3
Zum Beispiel BVerfG, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2007, 159; BVerfGE 111, 307 ff.; BVerfGE 112,1 ff. Siehe auch Mehrdad Payandeh, Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip, Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 2009, 465 ff.; Albert Bleckmann, Die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, Die Öffentliche Verwaltung 1979, 309 ff.; Daniel Lovric, A Constitution Friendly to International Law: Germany and its Völkerrechtsfreundlichkeit, The Australian Year Book of International Law 2004, 75 ff.
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Deutschlands erleichtert. Für die Praxis von Regierung und Parlament von großer Bedeutung sind insbesondere die Art. 23 und 24 GG und die darin enthaltene ausdrückliche Entscheidung des Grundgesetzes zugunsten der internationale Zusammenarbeit und der Integration in internationale Organisationen. Von größter praktischer Relevanz ist ferner die durch die parlamentarische Zustimmung zu einem völkerrechtlichen Vertrag erfolgte Ermächtigung der Regierung, diesen Vertrag in den Formen des Völkerrechts fortzuentwickeln. Ob aus dem Demokratieprinzip gefolgert werden muss, dass die „Wesentlichkeitstheorie“, die zu Recht Maßstab der Kompetenzen des innerstaatlichen Gesetzgebers ist, ohne weiteres auf außenpolitische Aktivitäten der Exekutive (zum Beispiel auf der Grundlage einer parlamentarischen Ermächtigung durch Zustimmungsgesetz) zu übertragen ist – so die These von Herrn Paulus –, ist meines Erachtens zweifelhaft. Daher kann ich auch den „verfassungsrechtlichen Makel“ an der „rein exekutive(n) Unterwerfung“ unter die Gerichtsbarkeit des IGH – so die These von Herrn Paulus – nicht erkennen. Bei der Erklärung gemäß Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut handelt es sich um eine einseitige Erklärung, vergleichbar mit einer einseitigen Erklärung zur Anerkennung fremder Staaten oder zur Kündigung eines völkerrechtlichen Vertrags, die alle nicht der Zustimmung des Bundestags unterliegen. Auch das BVerfG hat klargestellt, dass eine Erweiterung der dem Bundestag durch Art. 59 Abs. 2 bei völkerrechtlichen Verträgen eingeräumten Mitwirkungsbefugnisse auf einseitige Erklärungen einen „Einbruch in zentrale Gestaltungsbereiche der Exekutive“ darstellen würde und der grundgesetzlichen Gewaltenteilung zuwider liefe.4 Für die völkerrechtliche Praxis Bedeutung gewonnen haben, auch da stimme ich mit Herrn Paulus völlig überein, die Entscheidungen des BVerfG, die die Kompetenzen von Exekutive und Legislative bei völkerrechtlich relevanten Vorgängen voneinander abgrenzen. Dies gilt vor allem für die richtungweisende Entscheidung des BVerfG vom 12. Juli 1994.5 Mit dieser Entscheidung verlangte das BVerfG für jeden Einzelfall eines von der Bundesregierung im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit vorgeschlagenen Auslandseinsatzes der Bundeswehr die konstitutive Zustimmung des Bundestages. Das Urteil hat sich in der Praxis seit langem bewährt. Für die deutsche Völkerrechtspraxis hat es zur Folge, dass völkerrechtlich zulässige Einsätze von Streitkräften im Ausland außerhalb eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit – etwa auf Einladung eines anderen Staates in Not zu einer einseitigen Unterstützung – nicht vorkom4 BVerfGE 68, 1 (1. Leitsatz); Christophe Eick, Die Anerkennung der obligatorischen Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs in Deutschland, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2008, 763. 5 BVerfGE 90, 286.
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men. Ein Umstand, den ich lediglich referiere, jedoch keinesfalls als Kritik missverstanden wissen möchte! Im übrigen führt der Grundsatz der konstitutiven Zustimmung des Bundestags auch bei Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte, die im Rahmen der Vereinten Nationen, der NATO oder der Europäischen Union erfolgen, in aller Regel zu einer engen Auslegung des erteilten Mandats. Dadurch entstehen für die deutschen Streitkräfte immer wieder Situationen, in denen die verfassungsrechtlich zulässigen Handlungsoptionen im Vergleich zum völkerrechtlichen Rahmen eingeschränkt sind. Die Völkerrechtsmäßigkeit der von den kollektiven Sicherheitssystemen – VN, NATO, EU – mandatierten militärischen Operationen ist selbstverständlich eine Bedingung sine qua non einer Beteiligung deutscher Streitkräfte. Sie wird in der Praxis sowohl von den befassten internationalen Organisationen und deren Mitgliedstaaten als auch von Bundesregierung und Bundestag vor jeder Beteiligung an einer solchen Operation in jedem Einzelfall außerordentlich sorgfältig geprüft. Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an einer Operation von VN, NATO oder EU, der der Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit gemacht werden könnte, so die These von Herrn Paulus, ist meines Erachtens kaum möglich.
D. Das Verständnis der Bundesregierung von den Anforderungen des Gebots der Völkerrechtsfreundlichkeit lässt sich an verschiedenen aktuell diskutierten Fällen zeigen. Stichwortartig möchte ich hier nur vier aktuelle Themen nennen: die verfassungsrechtliche Ermächtigung für die Pirateriebekämpfung durch die Bundeswehr, die Klage Deutschlands gegen Italien vor dem IGH, Festnahmen und Übergaben an dritte Staaten etwa bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr und schließlich die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit nach dem Universalitätsprinzip.
Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Von Frank Schorkopf
A. Einleitung Als der Parlamentarische Rat in seinem Ausschuss für den Verfassungsgerichtshof und die Rechtspflege über die Völkerrechtsklausel, den späteren Art. 25 GG, beriet, spitzte sich die Diskussion auf die Entscheidung zu, wer über den materiellen Gehalt des Völkerrechts bestimmt.1 Die Bedeutung von Streitigkeiten aus dem überstaatlichen Recht und die Überlegung, dass bei der Entscheidung über die Völkerrechtsfragen letztlich über Verfassungsfragen entschieden werde, gaben den Ausschlag, dem Bundesverfassungsgericht – und nicht dem Obersten Bundesgericht – die Zuständigkeit für die völkerrechtliche Normenverifikation zu übertragen.2 Dass über diese Frage überhaupt kontrovers beraten wurde, kann 60 Jahre nach dem In-KraftTreten des Grundgesetzes irritieren. In der Zuständigkeitsfrage konkretisierten sich jedoch die allgemeinen Zweifel im Parlamentarischen Rat an der neuen Institution „Verfassungsgerichtsbarkeit“ und zugleich das Vertrauen in die von Berufsrichtern getragene Fachgerichtsbarkeit. Das Quorum für die Besetzung der Karlsruher Richterbänke – in jedem Senat müssen mindestens drei Bundesrichter sitzen3 – bewahrt bis in die Gegenwart einen Rest dieser skeptischen Haltung. Bei einer bilanzierenden Rückschau hängt es vom Vorverständnis und vom Standpunkt ab, ob der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit dem Völkerrecht jene Zweifel bestätigt oder widerlegt. War es nicht bereits ein historisches Missverständnis des Parlamentarischen Rates, die Entscheidung über Völkerrechtsfragen 1
Der Parlamentarische Rat, Akten und Protokolle, 5. Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege vom 10. November 1948, Bd. 13/II, 1318 ff. sowie 7. Sitzung vom 6. Dezember 1948, ebenda, 1377: W. Laforet: „Es war sehr interessant, wie sich die Anschauungen der beiden Völkerrechtslehrer im Hauptausschuß gegenübergestanden haben. Das ist die crux der Hereinziehung des Völkerrechts. Nun kommen wir zur bedeutsamen Entscheidung: wer bestimmt?“. 2 Art. 100 Abs. 2 GG. 3 Art. 94 Abs. 1 Satz 1 GG, § 2 Abs. 3 BVerfGG.
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als Entscheidung über Verfassungsfragen einzuordnen? Verbarg sich hinter dieser Überzeugung möglicherweise eine unreflektierte dualistische Sichtweise auf das Verhältnis von Völkerrecht und staatlichem Recht? Andererseits nahm das Gericht seine Arbeit 1951 unter den besonderen Bedingungen eines unter Besatzungsrecht stehenden demilitarisierten Teilstaates auf, mit einer Verfassung, die von den äußeren Umständen gedrängt, aber in derselben Weise reflektiert und gezielt auf das Völkerrecht und die internationale Zusammenarbeit setzt.4 Hatte das Bundesverfassungsgericht nicht schon in den 1950er Jahren eine Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes festgestellt und diese in der weiteren Rechtsprechung stetig betont? Die Völkerrechtslage beim Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai 1949 war Rechtstatsache für den reorganisierten westdeutschen Teilstaat. Das Völkerrecht war in demselben Moment aber auch Gestaltungsinstrument für die deutschen Staatsorgane zur Bewältigung der Nachkriegsprobleme und der Rechtsrahmen, um die deutsche Einheit zu bewahren. Die Diskussion über den völkerrechtlichen Fortbestand des Deutschen Reichs nach der Kapitulation ist das wohl bekannteste Thema in diesem Zusammenhang.5 Bereits der erste Band der amtlichen Sammlung des Bundesverfassungsgerichts enthält fünf von insgesamt 49 Entscheidungen, die einen grundlegenden Bezug zum Völkerrecht haben.6 Dass Karlsruhe seitdem in erheblichem Umfang mit Völkerrechtsfragen befasst war und bis heute ist,7 zeigen die mehr als 120 Bände der Entscheidungssammlung. Doch welche Gesamtaussage über die Motive des Gerichts, über sein Verständnis von Wesen, Inhalt und Funktion des Völkerrechts lässt sich aus den Entscheidungen herauslesen? Sieht es das Völkerrecht als eine legitime und leistungsfähige Rechtsordnung an, deren normativer Gehalt staatliche Organe bindet und die von diesen befolgt und durchgesetzt werden muss? Oder ist das 4
F. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, 48 ff. G. Ress, Die Rechtslage Deutschlands nach dem Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1973, 1978; B. Diestelkamp, Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte. Historische Betrachtungen zur Entstehung und Durchsetzung der Theorie vom Fortbestand des Deutschen Reiches als Staat nach 1945, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 7 (1985), 181 ff.; BVerfGE 36, 1 (14 f.) – Grundlagenvertrag, m.w.N. 6 BVerfGE 1, 10 ff. – Besatzungsrecht; 74 ff. – Münchener Abkommen (Eilverfahren); 322 ff. – Münchener Abkommen; 351 ff. – Petersberger Abkommen; 372 ff. – DeutschFranzösisches Wirtschaftsabkommen; 396 ff. – Deutschlandvertrag. 7 Es ist deshalb eine entscheidende Lücke, wenn die Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Grundgesetzes, anders als ihre Vorgängerin, keine Würdigung der völkerrechtlichen Entscheidungspraxis enthält. Der Beitrag von J. A. Frowein, Europäisierung des Verfassungsrechts, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2002, 209 ff., befasst sich allein mit der Bedeutung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. 5
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Völkerrecht eher ein Faktum internationaler Lagen, das nicht ignoriert werden kann, mit dem man leben muss, dessen man sich aber auch für eigene Zwecke bedienen kann? Ist das Bundesverfassungsgericht dem Völkerrecht freundlich zugewandt, steht es ihm skeptisch gegenüber, möglicherweise beides zur gleichen Zeit, oder nimmt es in seiner Rechtsprechung vielleicht altdeutsche Rechtstraditionen auf, indem es dem Völkerrecht ablehnend, sogar feindlich gegenüber steht? Der Beitrag nähert sich in drei Gedankenschritten dem Thema der Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Im ersten Teil wird eine empirische Grundlage erarbeitet und die verfassungsgerichtliche Praxis zum Völkerrecht nach Zeitabschnitten aufbereitet (B.). Der zweite Teil ist der Frage zugewandt, welche Funktion die Völkerrechtsfreundlichkeit als dogmatisches Argument hat und welche Rechtsfolgen aus ihr gezogen werden (C.). Der dritte Teil ist dem Völkerrechtsbild des Bundesverfassungsgerichts gewidmet. In ihm wird auch auf den durch die Überschrift des Referats plakatierten vermeintlichen Gegensatz von Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis eingegangen (D.).
B. Rechtsprechungszeiträume: Völkerrecht als Argument Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in der das Völkerrecht nicht nur Gegenstand einer Entscheidung, sondern ein in erster Linie weichenstellendes Argument in den Entscheidungsgründen ist, lässt sich in drei Zeiträume gliedern: In den Zeitabschnitten von 1952 bis 1964, von 1971 bis 1995 und von 2001 bis in die Gegenwart hat das Gericht jeweils verstärkt mit der Bedeutung des Völkerrechts für die deutsche Rechtsordnung argumentiert.
I. 1952 bis 1964 1. Der Leitgedanke der Völkerrechtsfreundlichkeit erscheint erstmals, so ist es vielerorts nachzulesen und so wird es durch den Textbefund bestätigt, im Jahr 1957 in den Gründen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Die Bundesregierung behauptete vom Niedersächsischen Schulgesetz, es verstoße gegen das Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich8 und verletze damit das Recht des Bundes auf Respektierung der für ihn verbindlichen internationalen Verträge.9 Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Normenkontrollantrag 8 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich vom 20. Juli 1933, RGBl. 1933 II, 679 ff. 9 BVerfGE 6, 309 (319) – Reichskonkordat.
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ab, erklärte jedoch ausdrücklich, dass dieses Ergebnis im Einklang „mit der in Art. 25 GG zum Ausdruck gebrachten Völkerrechtsfreundlichkeit stehe“.10 Zwar gelte das Reichskonkordat auch für die Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz überlasse die Erfüllung bestehender völkerrechtlicher Vertragspflichten jedoch der Verantwortung des zuständigen Gesetzgebers. Die deutsche Verfassungsrechtsordnung habe sich trotz ihrer Völkerrechtsfreundlichkeit nicht dafür entschieden, den Gesetzgeber an das innerstaatliche Transformationsrecht zu binden, um die Einhaltung von Völkervertragsrecht zu sichern. „Der Gesetzgeber hat […] die Verfügungsmacht über den Rechtsbestand auch dort, wo eine vertragliche Bindung besteht, sofern sie nicht allgemeine Völkerrechtssätze zum Gegenstand hat.“11 Mit anderen Worten: Der Landesgesetzgeber darf seine legislativen Zuständigkeiten ausüben, auch wenn dadurch die Rechtsordnung in Widerspruch zu den völkerrechtlichen Pflichten des Gesamtstaates gerät. Diese Aussagen und der Blick in die zeitgenössische Rezeption der Entscheidung führen zu der Frage, ob das Konkordatsurteil nicht zugleich auch der archimedische Punkt für die behauptete Völkerrechtsskepsis des Bundesverfassungsgerichts ist. Denn der Zweite Senat bewegt sich in seiner Argumentation nicht nur in der dualistischen Konzeption von Völkerrecht und staatlichem Recht, nach der beide Rechtsordnungen grundsätzlich voneinander zu trennen und nur über Brückenklauseln normativ miteinander verbunden sind. Der Senat verwarf zudem die bis dahin herrschende Meinung zur Auslegung von Art. 123 Abs. 2 GG, der die Fortgeltung vorkonstitutionellen Rechts, insbesondere der vom Deutschen Reich abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge regelt.12 So merkte Joseph Kaiser in der Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht an: „Die notorische Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, wie sie unter anderem in dem oft berufenen Art. 25 zum Ausdruck kommt, hätte den entgegengesetzten Schluss nahelegen müssen: Die Erfüllung der Verträge des Reiches bleibt, solange sie völkerrechtlich verbindlich sind, staatliche Aufgabe, unabhängig davon, ob ihr Gegenstand heute in die Zuständigkeit des Bundes oder in die der Länder fällt.“13 10
Ebenda, 362. Ebenda, 363. 12 Die Dokumentation des Konkordats-Verfahrens (F. Giese/F. A. v. Heydte (Hrsg.), Der Konkordatsprozeß, 3. Bd., München 1957–59), in dem die Schriftsätze, die Gutachten und das Protokoll der mündlichen Verhandlung enthalten sind, enthält keinen Hinweis auf die Herkunft des Begriffs der Völkerrechtsfreundlichkeit. Hans F. Zacher, der seit November 1956 als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zweiten Senats an dem Verfahren beteiligt war, konnte auf Nachfrage diese Einzelheit ebenfalls nicht weiter aufklären (Brief vom 8. Mai 2009 an den Verf.). 13 J. H. Kaiser, Die Erfüllung der völkerrechtlichen Verträge des Bundes durch die Länder, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 18 11
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2. Zu dieser Wahrnehmung passt dann vielleicht auch eine noch frühere Entscheidung des Gerichts, nämlich der Beschluss des Ersten Senats vom Mai 1952, mit dem die innerstaatlichen Rechtsfolgen des Münchener Abkommens von 1938 im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts aufrechterhalten wurden.14 Da das Völkerrecht keine allgemeinen Grundsätze über den Wechsel der Staatsangehörigkeit im Falle einer Staatensukzession enthalte, könne jeder Staat nach eigenem Ermessen diese Rechtsfrage entscheiden. Aus der Unwirksamkeit der Gebietsannexionen durch das Deutsche Reich seit dem 1. Januar 1938 könne auf Grund der gesamten Umstände, so das Gericht, nicht die Folgerung gezogen werden, dass alle mit den Annexionen zusammenhängenden Zwangsverleihungen deutscher Staatsangehörigkeit als nichtig zu betrachten seien.15 Doch der argumentative Zwischenschritt mit dem Ziel, die innerstaatliche Rechtswirkung des nichtigen Münchener Abkommens aufrecht zu erhalten – dies entspricht bis heute der bundesrepublikanischen Staatspraxis –, darf auch nicht zu voreiligen Fehlschlüssen verleiten. In jener Entscheidung aus dem ersten Band, in der es um die Auslieferung eines zwangseingebürgerten Deutschen nach Österreich ging, war das Völkerrecht der Prüfungsmaßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung der angegriffenen Auslieferungsentscheidung. Der Senat bezog sich auf Standardliteratur zum Völkerrecht, um die Übereinstimmung seines dogmatischen Ansatzes mit dem internationalen Recht darzulegen.16 3. Dass sich Völkervertragsrecht gegenüber der nationalen Verfassungsordnung sogar durchsetzen kann, war zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden. Das SaarStatut zwischen Frankreich und der Bundesrepublik hatte die Frage aufgeworfen, ob „bei Abschluss völkerrechtlicher Verträge […] durch die Bundesrepublik Deutschland nur solche Vereinbarungen als verfassungsmäßig anzuerkennen sind, die dem Grundgesetz voll entsprechen […]“.17 Der Zweite Senat reflektierte zunächst über seine Zuständigkeit, völkerrechtliche Verträge am Grundgesetz zu messen. Die politische Ausgangslage, aus der der Vertrag erwachsen sei, die politischen Realitäten, die zu gestalten oder zu ändern er unternähme, dürften nicht aus dem Blick geraten. Dann folgte die Antwort, dass ein Vertrag auch dann verfassungsgemäß sein könne, wenn die im Vertrag vorgesehenen Maßnahmen mit dem Willen unternommen worden seien und die Tendenz in sich trügen, dem (1957), 526 (553); weitere zeitgenössische Anmerkungen zu dem Urteil sind nachgewiesen in Anm. 3, ebenda., siehe insbesondere W. Geiger, Das Bund-Länder-Verhältnis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, BayVBl. 1957, 301, 337 (342). 14 BVerfGE 1, 322 ff. – Staatsangehörigkeit. In dem Verfahren wurde eine einstweilige Anordnung erlassen, vgl. BVerfGE 1, 14 ff. 15 BVerfGE, 1, 322, Ls. 16 BVerfGE 1, 322 (328 ff.) unter Hinweis auf A. Verdross, Völkerrecht, 2. Aufl.1950. 17 BVerfGE 4, 157 (168 f.) – Saar-Statut.
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voll verfassungsmäßigen Zustand wenigstens so weit, wie es politisch erreichbar sei, näher zu kommen, seiner Erreichung vorzuarbeiten.18 Die Annäherungsthese war geboren,19 die sicherlich der besonderen völkerrechtlichen Lage Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg geschuldet war,20 die es aber seitdem ermöglicht, der binären Codierung nach „verfassungsmäßig-verfassungswidrig“ in überstaatlichen Sachverhalten zu entgehen: Das Schlechte darf dem Besserem nicht weichen, weil das Beste nicht zu erreichen ist. Karlsruhe wendet sich bereits 1955 gegen einen „verfassungsrechtlichen Rigorismus“ und erkennt damit an, dass Verfassungsrecht nicht dauerhaft kontrafaktisch sein kann. Es ist mit dieser Auffassung, die endet, wo „unverzichtbare Grundprinzipien des Grundgesetzes klar verletzt würden, also etwa die in Art. 79 Abs. 3 oder Art. 19 Abs. 2 GG bezeichneten Grundsätze“, bis in neueste Verfahren hinein auf der Höhe der Zeit.21 4. Es ist wieder eine Entscheidung zum Auslieferungsrecht, die für das Ende dieses ersten Zeitraumes der Verfassungsrechtsprechung zur Völkerrechtsfreundlichkeit steht. Die Entscheidung aus dem Jahr 1964 über die Verfassungsmäßigkeit des Deutsch-Französischen Auslieferungsvertrages vereint – ohne dies ausdrücklich zu benennen – die vorgenannten Argumente. Der Vertrag war vor das Bundesverfassungsgericht gebracht worden, weil er Frankreich gestattete, gegen einen Ausgelieferten die Todesstrafe zu vollstrecken.22 Der Bundestag hatte trotz verfassungsrechtlicher Bedenken, die sich an der konstitutionalisierten Abschaffung der Todesstrafe (Art. 102 GG) festmachten, dem Vertrag zugestimmt, weil die Mehrheit den so erreichten Fortschritt im Rechtsverhältnis zwischen der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland für groß hielt. Das Gericht lehnte unter Hinweis auf „die völkerrechtsfreundliche Grundhaltung des Grundgesetzes“ eine Auslegung der Verfassung ab, die gegenüber völkerrechtlichen Verträgen „Vorrangcharakter und absolute Geltung“ beanspruche. Der völkerrecht18
BVerfGE 4, 157 (168 f.). P. Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Vorstellung der „Annäherung“ an den verfassungsgewollten Zustand, Die öffentliche Verwaltung (DöV) 24 (1971), 721; V. Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, 205 f. 20 Vgl. auch die Friedensvertragsklausel in Art. 79 Abs. 1 Satz 2 GG. 21 BVerfGE 4, 157 (170); der Satz lautet im Original: „Wollte man nur eine dem Grundgesetz voll entsprechende vertragliche Regelung als verfassungsmäßig gelten lassen, so hieße das, einen verfassungsrechtlichen Rigorismus vertreten, der sich in den Satz verdichten ließe: Das Schlechte darf dem Besseren nicht weichen, weil das Beste (oder von diesem Standpunkt aus: das allein Gute) nicht erreichbar ist. Das kann vom Grundgesetz nicht gewollt sein.“ Vgl. zur „Kontrafaktizität“ die mündliche Verhandlung des Zweiten Senats zum Vertrag von Lissabon am 10. und 11. Februar 2009, U. Karpenstein/S. Neidhardt, Bericht, Berlin/Brüssel 2009. 22 BVerfGE 18, 112 ff. – Deutsch-Französischer Auslieferungsvertrag. 19
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liche Vertrag, der in einem deliberativen, die widerstreitenden Ansichten ausgleichenden Verhandlungsprozess zustande kommt, steht danach für die legitimen Interessen und Rechtsanschauungen der Vertragsparteien als Kern des politisch Möglichen.23 Das Gericht sieht im Grundgesetz ausdrücklich das Gebot verankert, fremde Rechtsordnungen und Rechtsanschauungen zu achten. Es wird einige Jahrzehnte später in einer Hoch-Zeit der Völkerrechtsfreundlichkeit bei der Todesstrafe in Auslieferungsfällen allerdings eine strengere Bewertung vornehmen.24 Ob dies der mittlerweile auch im Völkerrecht sich wandelnden Rechtsauffassung über die Zulässigkeit der Todesstrafe25 oder der normalisierten Völkerrechtslage des wiedervereinigten Deutschlands geschuldet ist, sei an dieser Stelle dahin gestellt.
II. 1971–1995 Der zweite für das Verhältnis von Verfassungs- und Völkerrecht bedeutsame Zeitraum in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beginnt im Jahr 1971 und reicht bis zur Mitte der 1990er Jahre. 1. Am Anfang steht die „kopernikanische Wende“ im internationalen Privatrecht – die so genannte Spanier-Entscheidung.26 Ein deutsches Standesamt verweigerte einer geschiedenen Deutschen und einem ledigen Spanier die Eheschließung, weil das für den Bräutigam anwendbare spanische Familienrecht die Ehescheidung der Braut nicht anerkannte. Der Erste Senat hob die Gerichtsentscheidungen, die das behördliche Handeln bestätigt hatten, wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 GG auf. Da es sich um eine Stattgabe handelte, musste sich der Senat insbesondere mit dem Anwendungsausschluss des spanischen Rechts auseinander setzen. Eine ausländische Rechtsordnung, deren Fachrecht durch das deutsche Kollisionsrecht für anwendbar erklärt wurde, sollte im konkreten Fall außer Acht bleiben, weil das Ergebnis mit der in den Grundrechten verkörperten Wertordnung unvereinbar war. Ausdrücklich weist das Gericht darauf hin, dass aus der „völkerrechtsfreundlichen Tendenz“ des Grundgesetzes keine Verpflichtung zur uneingeschränkten Anwendung fremden Rechts durch inländische Hoheitsträger auf Sachverhalte mit Auslandsbezug und erst recht kein genereller Vorbehalt zu Lasten der Grundrechte 23
BVerfGE 18, 112 (120 f.). BVerfGE 113, 154 (156 f.) – Auslieferung USA; 109, 133 ff. – Auslieferung Indien; zweifelnd bereits BVerfGE 60, 348 (354 f.) – Auslieferung Libanon. 25 Zur rechtlichen Einhegung des Verbots der Todesstrafe in Europa vgl. R. Alleweldt, Abschaffung der Todesstrafe, in: R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 28, Rn. 6 ff. m.w.N. 26 BVerfGE 31, 58 ff. – Spanier. 24
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folge. Die Thematik des Rangverhältnisses konkurrierender staatlicher Rechtsordnungen wird zugunsten der deutschen Grundrechte aufgelöst, weil sie das Bekenntnis zu unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten als der Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1 Abs. 2 GG) konkretisierten.27 Die Spanier-Entscheidung ist aus unserer Blickrichtung auch deshalb von Interesse, weil sich das Bundesverfassungsgericht um die bessere Ableitung der „völkerrechtsfreundlichen Tendenz“ des Grundgesetzes bemühte: Sowohl die Präambel und die Art. 1 Abs. 2, Art. 24 und 25 GG als auch die das Verfassungssystem insgesamt kennzeichnenden Prinzipien des Pluralismus und der Toleranz lassen erkennen, daß die Verfassung andere Staaten als gleichberechtigte Glieder der Völkerrechtsgemeinschaft anerkennt und deren eigenständige Rechtsordnung respektiert (vgl. BVerfGE 18, 112 (116 ff.)).28
Es war der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, der „Grundrechtssenat“, der diese Entscheidung traf. In dem vorgenannten Abschnitt bezog er sich nicht auf die Leitentscheidung zum Reichskonkordat des für das Völkerrecht zuständigen Zweiten Senats,29 sondern zitierte seinen eigenen Beschluss aus dem Jahr 1964 zum Deutsch-Französischen Auslieferungsvertrag. War jene Entscheidung noch durch eine erhebliche Zugewandtheit gegenüber den Einwirkungen völkerrechtlicher Normen auf die deutsche Verfassungsrechtsordnung geprägt, zog das Gericht im SpanierBeschluss eine bis heute sichtbare,30 von Teilen der Literatur eingeforderte Grenze. 2. Das Normenkontrollverfahren zum Deutschlandvertrag nimmt der Zweite Senat 1973 zum Anlass, das methodische Bemühen um den materiellen Gleichlauf von Verfassungs- und Völkerrechtsordnung zu betonen. Bei der verfassungsrechtlichen Prüfung eines völkerrechtlichen Vertrages sei unter mehreren möglichen Auslegungen diejenige zu wählen, nach der der Vertrag vor dem Grundgesetz Bestand habe.31 Bei der Auslegung von außenbezogenem Verfassungsrecht müsse zudem ein „Spielraum für die politische Gestaltung“ berücksichtigt werden. 27
BVerfGE 31, 58 (75 f.). Ebenda. 29 Eine solche Bezugnahme erfolgte allerdings im Jahr 1975 in dem Verfahren zur Verfassungsbeschwerde über die Gemeinschaftsschule. Die Beschwerdeführer hatten vorgetragen, dem Landesgesetzgeber sei es durch das Grundgesetz verwehrt, vom Reichskonkordat abzugehen. Dieses Argument wies der Erste Senat mit dem Hinweis auf die entsprechende Argumentation des Zweiten Senats zurück, vgl. BVerfGE 41, 88 (120 f.) – Gemeinschaftsschule. 30 Vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 12. September 2006 – Sorge für Minderjährige, BVerfGK 9, 155 ff. 31 BVerfGE 36, 1 (13 f.) – Grundlagenvertrag, unter Hinweis auf BVerfGE 4, 157 (168) – Saar-Statut. 28
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In seiner Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde Rudolf Hess’ nimmt der Zweite Senat diese Thematik wieder auf und erweitert den nicht justiziablen Handlungsfreiraum der für die auswärtigen Beziehungen zuständigen Organe – also insbesondere der Bundesregierung – bis an die Grenze des Gutdünkens. Erst wenn sich eine Rechtsauffassung als Willkür gegenüber dem Bürger darstelle, das heißt unter keinem, auch außenpolitischen, vernünftigen Gesichtspunkt mehr zu verstehen sei, seien Gerichte zur Durchsetzung der Verfassungsordnung berechtigt.32 3. In den zweiten Zeitraum fällt auch eine neue Argumentationslinie, die in neuerer Zeit – im Zusammenhang mit der europäischen Integration – größere Bedeutung erlangt hat und die deshalb hier erwähnt werden soll. Diese findet sich in einer Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde, die die Vollstreckung eines österreichischen Abgabenbescheides in Deutschland betraf. Der Beschwerdeführer hatte vorgetragen, dass die Rechtshilfe verfassungswidrig sei, weil der ausländische Abgabentitel nicht ausreichend demokratisch legitimiert gewesen sei. Der Zweite Senat wandte sich gegen das Argument und verwies auf eine andernfalls drohende Unfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, sich am internationalen Rechtshilfeverkehr zu beteiligen, ja überhaupt ausländisches Recht durch deutsche Behörden und Gerichte anzuwenden. Das Grundgesetz gehe vielmehr von der Eingliederung des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengesellschaft aus. Der Senat nimmt in einem Klammerzusatz auf die Präambel und die Art. 24 bis 26 GG Bezug. „Auch das Demokratieprinzip ist im Lichte dieser Einordnung zu sehen“, fügt er ausdrücklich hinzu.33 4. Die Formulierung, nach der der vom Grundgesetz verfasste Staat in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft eingeordnet ist, wird wieder aufgenommen von der Entscheidung zur ne bis in idem-Geltung im Auslieferungsverkehr. Der Beschluss aus dem Jahr 1987 verknüpft mit dieser Formulierung eine weitere, bereits eingeführte Formel: Gegenüber der Pflicht, fremde Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten, muss sich die deutsche Rechtsordnung nur dann durchsetzen, wenn zwingende, unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze betroffen sind.34 In dem zu entscheidenden Sachverhalt hatten demnach die deutschen Vorstellungen von „maß- und sinnvollen Strafen“ zurückzustehen. Doch die Phase seit Mitte der 1980er Jahre ist von einer anderen Entwicklung 32
BVerfGE 55, 345 (367 f.) – Hess; vgl. auch BVerfGE 36, 1 (13) – Grundlagenvertrag: „In dieser Begrenzung setzt das Grundgesetz jeder politischen Macht, auch im Bereich der auswärtigen Politik, rechtliche Schranken; das ist das Wesen einer rechtsstaatlichen Ordnung, wie sie das Grundgesetz konstituiert hat. Die Durchsetzung dieser Verfassungsordnung obliegt letztverbindlich dem Bundesverfassungsgericht.“ 33 BVerfGE 63, 343 (370) – Deutsch-Österreichische Rechtshilfe. 34 BVerfGE 75, 1 (17) – ne bis in idem.
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geprägt. Nahezu zeitgleich mit der zitierten Entscheidung veröffentlichte das Gericht einen Beschluss zur Unschuldsvermutung, der Anlass bot, das Verhältnis zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und deren normativer Prägekraft für das Grundgesetz zu bestimmen.35 Der Zweite Senat schlussfolgerte aus dem Umstand, dass das Fachgericht die Unschuldsvermutung unter Bezugnahme auf Art. 6 Abs. 2 EMRK definiert hatte, dass die Konvention in ihrer Ausprägung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte als Auslegungshilfe diene, um Inhalt und Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Garantien des Grundgesetzes zu bestimmen.36 Die lex posterior-Regel gelte nur im Falle eines ausdrücklichen legislatorischen Abweichens von der völkervertraglich gebotenen Rechtslage. Das Bundesverfassungsgericht widmete sich mit dieser Entscheidung dem Verhältnis der Grundrechte des Grundgesetzes mit den verwandten Menschenrechten der Konvention. Zu diesem Zeitpunkt war bereits seit gut eineinhalb Jahren die als Pakelli-Beschluss bekannt gewordene Entscheidung in der Welt, in der ein Dreierausschuss des Senats angedeutet hatte, dass Verstöße von Handlungen deutscher Hoheitsgewalt gegen die EMRK auch unter Art. 2 Abs. 1 GG prozessual berücksichtigt werden könnten.37 5. Den Abschluss dieses zweiten Zeitraumes bildet wieder eine Entscheidung zum internationalen Privatrecht. Mit einem Zweitregister für deutsche Handelsschiffe wollte der Gesetzgeber die Ausflaggung deutscher Kauffahrteischiffe stoppen. Durch die Änderung der nationalen Vorschriften für das internationale Individualarbeits- und Tarifrecht ist für den Heuervertrag nicht mehr die Flagge des Handelsschiffs, sondern der Wohnsitz des Seemannes ausschlaggebender Anknüpfungspunkt. Außerdem wurde ausdrücklich der Abschluss von Tarifverträgen zwischen deutschen Reedern und ausländischen Gewerkschaften zugelassen. Diese Anknüpfungsregeln verletzten, so der Senat, Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG offensichtlich nicht. Dass die Heimatrechtsordnungen der ausländischen Seeleute 35
BVerfGE 74, 358 ff. – Unschuldsvermutung. Ebenda, 370; bestätigt in BVerfGE 83, 119 (128) in Bezug auf das Verbot der Zwangsarbeit (Art. 12 Abs. 2 und 3 GG, Art. 4 Abs. 2 und 3 EMRK) und im Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2000 – 2 BvR 591/00 – in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip; Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK), Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2001, 2245; vgl. auch Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats – Abschiebung Türkei, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NvwZ) 2004, 852 ff., und Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 2006 – Jagdgenossenschaft, NVwZ 2007, 808 ff. 37 Beschluss (Vorprüfungsausschuss) des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Oktober 1985 – 2 BvR 336/85, ZaöRV 46 (1986), 289 ff., mit Anmerkungen von J. A. Frowein, ebenda, 286 ff.; vgl. auch H. Steinberger, Entwicklungslinien in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu völkerrechtlichen Fragen, ZaöRV 48 (1988), 1 ff. 36
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ausbeuterische Vertragsgestaltungen zuließen, brauche der deutsche Gesetzgeber bei der Schaffung von Regelungen des internationalen Privatrechts grundsätzlich nicht in Rechnung zu stellen. Selbst wenn er dies getan hätte, stünde dies mit der internationalen Offenheit und Völkerrechtsfreundlichkeit nicht in Einklang38 – eine der internationalen Arbeitsteilung und überstaatlichen Sachlagen zugewandte, wenn auch möglicherweise arbeitnehmerunfreundliche Entscheidung.
III. 2001 bis in die Gegenwart Der dritte Zeitraum in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in dem Völkerrecht als Argument eine Rolle spielt, reicht vom Jahr 2001 bis in die Gegenwart. Er ist geprägt von wiederkehrenden Maßstabsformeln, die in Einzelheiten verändert werden, und von einem Bemühen, die affirmative Verknüpfung von Grundgesetz und Völkerrecht eingehender zu begründen. 1. Der Zeitraum beginnt im Jahr 2001 mit einem Kammerbeschluss aus dem Ersten Senat zur ostdeutschen Bodenreform. Die Kammer erinnert daran, dass der „Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit“ keine allgemeine Regel des Völkerrechts sei und lediglich gegenüber der Rechtsordnung noch existierender Staaten – also nicht gegenüber dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik – Regelungswirkung habe. Der Grundsatz wird auf die Präambel, Art. 1 Abs. 2 sowie auf die Art. 24 bis 26 GG gestützt und durch den Verweis auf einen Kompaktkommentar zum Grundgesetz abgesichert.39 Zwei Jahre später nimmt der Zweite Senat die Formel von der Eingliederung des verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft auf, erweitert jedoch die Normenkette, aus der diese Entscheidung des Grundgesetzes rückgebunden wird: Ausdrücklich genannt werden nunmehr auch Art. 9 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2 und Art. 23 GG. In zwei Senatsentscheidungen, zur Auslieferung nach Indien40 und im Eilverfahren zur Sammelklage gegen Bertelsmann,41 geht es um das Gebot, fremde Rechtsordnungen und -anschauungen zu achten, auch wenn diese im Einzelnen nicht mit innerstaatlichen deutschen Anschauungen übereinstimmen. In einer dritten Entscheidung aus dem Jahr 2003, in der es um die Auslieferung von zwei des Terrorismus verdächtigen Jemeniten in die USA ging, erscheint so38
BVerfGE 92, 26 (48 f.) – Zweitregister. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, Zeitschrift für Vermögens- und Immobilienrecht 2001, 114 f., unter Hinweis auf H. Jarass/B. Pieroth, GG-Kommentar, 5. Aufl. 2000, Art. 25, Rn. 4. 40 BVerfGE 108, 129 (137) – Auslieferung Indien. 41 BVerfGE 108, 238 (247) – Bertelsmann. 39
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dann ein neuer Gedanke. Die „Völkerrechtsoffenheit des Grundgesetzes“ wird mit einem prozessualen Element, dem völkerrechtlichen Normenverifikationsverfahren, verbunden. Es sei der primäre Zweck des Verifikationsverfahrens, Verletzungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Normen durch deutsche Gerichte lägen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands begründen könnten, nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen. Aus der Sicht des Zweiten Senats dient das Verfahren außerdem dazu, die staatenübergreifende Einheitlichkeit und Verlässlichkeit der Völkerrechtsregeln zu sichern.42 Es folgt eine Überlegung, die zweifelsohne zu den klarsten Bekenntnissen des Gerichts zum überstaatlichen Recht gehört: Das Bundesverfassungsgericht stellt sich damit mittelbar in den Dienst der Durchsetzung des Völkerrechts und vermindert dadurch das Risiko der Nichtbefolgung internationalen Rechts. Deshalb hat das Fachgericht in diesem Verfahren keinen Vertretbarkeitsspielraum bei der Würdigung objektiv ernstzunehmender Zweifel.43
Die Durchsetzung des Völkerrechts veranlasst das Bundesverfassungsgericht, den Prüfungsmaßstab für judikatives Handeln zu verschärfen, sich von der Willkürkontrolle ab- und einer weitreichenden Rechtmäßigkeitskontrolle zuzuwenden. 2. Der neue Eichpunkt für die Bedeutung des Völkerrechts in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der im Jahr 2004 ergangene Görgülü-Beschluss: Ein Vater bemüht sich um das Umgangs- und Sorgerecht für seinen Sohn, den die Mutter – ohne Wissen des Vaters – kurz nach der Geburt zwecks späterer Adoption in eine Pflegefamilie gegeben hatte. Vor deutschen Gerichten erfolglos, wendet sich der Vater nach Straßburg und bekommt auf seine Individualbeschwerde hin vom Gerichtshof bescheinigt, dass er in jedem Fall wenigstens ein Umgangsrecht erhalten müsse.44 Der Zweite Senat nimmt den Fall zum Anlass, das Verhältnis der Verfassung zur EMRK zu vermessen und die Völkerrechtsfreundlichkeit argumentativ zu entfalten. Das Grundgesetz fördere die Betätigung staatlicher Souveränität durch Völkervertragsrecht und internationale Zusammenarbeit sowie die Einbeziehung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts und sei deshalb nach Möglichkeit so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht.45 Aus einem positivistischen, am Wortlaut der Verfassung orientierten Zugang heraus wird abgeleitet, dass die Völkerrechtsfreundlichkeit nur Wirkung im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes entfalte. Dem Grundgesetz liege 42 BVerfGE 109, 13 (23 f.); 109, 38 (49 f.) – Jemeniten, unter Hinweis auf BVerfGE 96, 68 (77 f.) – DDR-Botschafter. 43 BVerfGE 109, 13 (24); 109, 38 (50) – Jemeniten. 44 EGMR, No. 74969/01, Urteil vom 26. Februar 2004 – Görgülü, Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) 31 (2004), 700 ff. 45 BVerfGE 111, 307 (317) – Görgülü.
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deutlich die klassische Vorstellung zu Grunde, dass es sich bei dem Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht um ein Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise handele und dass die Natur dieses Verhältnisses aus der Sicht des nationalen Rechts nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden könne. Dann folgt ein Absatz, der in der Literatur in erheblichem Umfang kritisiert wurde46 und der als Ausdruck der Völkerrechtsskepsis gelten könnte: Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität. Insofern widerspricht es nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist.47
Dem Bekenntnis zu einer weitgehenden Völkerrechtsfreundlichkeit, zu grenzüberschreitender Zusammenarbeit und politischer Integration „in eine sich allmählich entwickelnde internationale Gemeinschaft demokratischer Rechtsstaaten“ wird die Notwendigkeit der verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle dieses Prozesses an die Seite gestellt. Das Neue dieser Entscheidung ist ihre Diktion. Wir haben bereits gesehen, dass die unabdingbaren Grundsätze der Verfassung eine absolute Grenze der internationalen Zusammenarbeit sind, und dass – abgesehen von der Sonderlage der Besatzungszeit – das Grundgesetz einen harten normativen Kern hat.48 Jenseits dieses Kerns haben die staatlichen Organe die Judikate interna-
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M. Breuer, Karlsruhe und die Gretchenfrage: Wie hast du’s mit Straßburg?, NVwZ 24 (2005), 412 ff.; H.-J. Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, EuGRZ 31 (2004), 683 (699); R. Hofmann, The German Federal Constitutional Court and Public International Law, German Yearbook of International Law (GYIL) 47 (2004), 9 (37); H.-H. Kühne, Europäische Methodenvielfalt und nationale Umsetzung von Entscheidungen Europäischer Gerichte, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 152 (2005), 195 (208); R. C. van Ooyen, Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts und Europa, 2006, 33; I. Pernice, BVerfG, EGMR und die Rechtsgemeinschaft, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 15 (2004), Editorial; L. Wildhaber, Europäischer Grundrechtsschutz aus der Sicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, EuGRZ 32 (2005), 689 ff.; S. Schmahl, Europäischer und internationaler Menschenrechtsschutz: Die Beachtlichkeit des Völkerrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung, in: Jahrbuch des Föderalismus 2005, 2005, 290 ff.; mit prozessualem Schwerpunkt F. Hoffmeister, Germany: Status of European Convention on Human Rights in Domestic Law, International Journal of Constitutional Law 4 (2006), 722 ff.; ausführliche Synthese bei T. Linke, Die Offenheit des Grundgesetzes für völkerrechtliche Konstitutionalisierungsprozesse am Beispiel der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950, in: C. Tietje/K. Nowrot (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Dimensionen des Internationalen Wirtschaftsrechts, 2007, 253 (257 ff.). 47 BVerfGE 111, 307 (318) – Görgülü. 48 Vgl. BVerfGE 75, 1 (17) ne bis in idem.
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tionaler Gerichtshöfe49 zu berücksichtigen, das heißt sie haben deren Aussagen zur Kenntnis zu nehmen und deren Regelungsinhalten grundsätzlich zu folgen. In der Sache Görgülü führten die zahlreichen Entscheidungen der Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit im Ergebnis übrigens dazu, dass der Vater sowohl das Umgangs- als auch das Sorgerecht erhalten hat.50 Dem konkreten Anliegen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte – dies wird in der Fachöffentlichkeit eher am Rande wahrgenommen – ist demnach Rechnung getragen worden. Vielleicht ist die literarische Kritik gerade auch aus dem Umstand zu erklären, dass es weniger um den Einzelfall, als vielmehr um die Metaebene des Rechts ging – zahlreiche Beobachter haben wohl das Grundsätzliche dieser Entscheidung erspürt. 3. Nahezu zeitgleich mit der vorgenannten Entscheidung veröffentlichte der Zweite Senat den Beschluss über die Vereinbarkeit der so genannten Ostenteignungen und ihrer bundesrepublikanischen Abwicklung mit dem Völkerrecht. Die Entscheidung wird dadurch herausgehoben, dass sie mit systematisierender Absicht die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes konkretisiert. Die aus dem Freundlichkeitstopos folgende Pflicht, das Völkerrecht zu respektieren, habe drei Elemente: (i) Die Staatsorgane müssen die Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen befolgen und Verletzungen nach Möglichkeit unterlassen; (ii) der Gesetzgeber hat zu gewährleisten, dass durch eigene Staatsorgane begangene Völkerrechtsverstöße korrigiert werden können und (iii) – dies ist bemerkenswert – können deutsche Staatsorgane verpflichtet sein, das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich zur Geltung zu bringen, wenn andere Staaten es verletzen.51 Das letztgenannte Element steht unter einem weiteren Konkretisierungsvorbehalt, nimmt aber den bereits eingeführten Gedanken des Sich-in-Dienst-Stellens wieder auf. Das Gericht sieht den Verfassungsstaat und seine Organe in einem Funktionszusammenhang, für den die Theorie der funktionellen Verdoppelung (doublement fonctionnel) seit längerem eine Blaupause geschaffen hat.52 4. Ein zweiter Eichpunkt für den neueren verfassungsgerichtlichen Zugang zum völkerrechtlichen Argument ist die Entscheidung zur Berücksichtigung von
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Die Berücksichtigungspflicht erstreckt sich nicht auf Judikate der Gerichte von EMRK-Vertragsparteien, vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 2006 – Jagdgenossenschaft, NVwZ-Rechtsprechungsreport (NVwZ-RR) 2007, 808 ff. 50 Vgl. Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Juni 2005 zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung von § 1696 Abs. 1 BGB, NJW 2005, 1765 ff. 51 BVerfGE 112, 1 (26 f.) – Ostenteignungen. 52 G. Scelle, Manuel de droit international public, 1948, 21; H. Wiebringhaus, Der Gedanke der funktionellen Verdoppelung, 2. Aufl.1955.
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Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs.53 Doch indem an dieser Stelle das Wort „berücksichtigen“ verwendet wird, wird deutlich, dass der Beschluss, der zudem nur von einer Kammer des Zweiten Senats getroffen wurde, auf dem mit der Görgülü-Entscheidung eingeschlagenen Weg fortschreitet. Der Sachverhalt des Falles ist dem des La Grand-Verfahrens vor dem Internationalen Gerichtshof, in dem Deutschland die USA verklagt hatte, vergleichbar.54 Ausländische Beschuldigte wurden von deutschen Strafverfolgungsbehörden nicht über ihr Recht aus Art. 36 Abs. 2 Halbsatz 2 Wiener Konsularrechtskonvention belehrt, das ihnen ein Recht auf Kontaktaufnahme mit dem Konsulat ihres Heimatstaates gibt. Die Kammer nimmt den Fall zum Anlass, die für das Verhältnis des Grundgesetzes zur EMRK entwickelten Maßstäbe auf Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs zu erstrecken. Die Fachgerichte seien aus der „Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ in Verbindung mit der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht verpflichtet, die relevante IGH-Rechtsprechung – auch über die res iudicata hinaus – zu berücksichtigen. Den Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes wird eine normative Leitfunktion beigemessen, an der sich die Vertragsparteien bei ihrer Staatspraxis auch dann zu orientieren hätten, wenn sie nicht Beteiligte des konkreten Streitverfahrens gewesen seien. Die Kammer begründet diese „Auslegungsbindung“55 mit dem Hinweis, dass Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands und dem nationalen Recht von den „nach außen blickenden Verfassungsbestimmungen“ jedoch gerade vermieden werden sollen.56 Zugleich betont die Kammer, dass es keinen allgemeinen Geltungsvorrang der Völkerrechtsordnung vor dem Verfassungsrecht gibt – die Leitfunktion wird deshalb nur Judikaten zugestanden, die auf der Grundlage eines für Deutschland geltenden Vertrages und einer anerkannten internationalen Gerichtsbarkeit ergangen sind.57 53
BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. September 2006, BVerfGK 9, 172 ff. = NJW 2007, 499 ff.; zum Respekt gegenüber dem Streitbeilegungssystem der Welthandelsorganisation siehe den Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 20. September 2006, BVerfGK 9, 203 ff. = Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht 2006, 2105 ff. 54 D. Richter, Does International Jurisprudence Matter in Germany?, GYIL 49 (2006), 51 (53 ff.). 55 H. Sauer, Die innergemeinschaftlichen Wirkungen von WTO-Streitbeilegungsentscheidungen, Europarecht 39 (2004), 463 (472 f.); M. Payandeh, Die verfassungsrechtliche Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit, Archiv des Völkerrechts 45 (2007), 244 (250 ff.). 56 BVerfG, NJW 2007 (Anm. 53), 502, unter Hinweis auf BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung und 111, 307 (318) – Görgülü. 57 Abgelehnt wurde die „Auslegungsbindung“ gegenüber Veröffentlichungen eines Vertragsorgans, in den entschiedenen Fällen des Hochkommissars der Vereinten Nationen
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5. Aus dem dritten Zeitraum ließen sich einige weitere Entscheidungen berichten, die aber – aus meiner Sicht – die eingeführten Formeln bekräftigen und der gefestigten Rechtsprechung allenfalls Einzelheiten hinzufügen. So weist das Urteil zum Europäischen Haftbefehl darauf hin, dass das „völkerrechtsfreundliche Grundgesetz“ gegen den überstaatlichen Trend, eigene Staatsangehörige auszuliefern, keine unübersteigbaren Hürden errichte. In den Gründen wird sodann auf die Resolutionen des Sicherheitsrates zu den Ad-hoc-Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda hingewiesen, die auch eine Auslieferung eigener Staatsangehöriger vorsähen.58 Der Abschnitt ließe sich auch so lesen, dass das Grundgesetz nicht um jeden Preis den Konflikt mit der überstaatlichen Ebene sucht, wenn verfassungsfeste Rechte herausgefordert sind. Es verteidigt eben nur die unabdingbaren Grundsätze. Erwähnenswert ist noch die Kammerentscheidung, mit der die Verfassungsbeschwerde eines deutschen Eisenbahners zurückgewiesen wurde, der seinen Dienst im Baseler Bahnhof, auf schweizerischem Boden, versah.59 Der Dienst des deutschen Beamten in der Schweiz war durch ein Verwaltungsabkommen zwischen Deutschland und der Eidgenossenschaft geregelt worden, das eine Besoldung in Schweizer Franken vorsah. Als der Beamte in den Ruhestand trat, wurde der als Kaufkraftausgleich gedachte Zuschlag nicht weitergezahlt. Das Abkommen ist jedoch nicht in das deutsche Recht umgesetzt worden. Im Zusammenhang mit dem Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung verweist die Kammer darauf, dass das Gericht die fachgerichtliche Anwendung und Auslegung grundsätzlich nur am Willkürmaßstab prüfe. Die Kammer führt ein weiteres Argument ein, dessen Aussage und Tragweite sich nicht vollständig abschätzen lässt: Eine verfassungsunmittelbare Pflicht der staatlichen Organe zur Berücksichtigung des Völkerrechts, deren Verletzung vor dem Bundesverfassungsgericht in vollem Umfang gerügt werden könnte, ist indes nicht unbesehen für jede beliebige Bestimmung des Völkerrechts anzunehmen, sondern nur, soweit dies dem in den Art. 23 bis Art. 26 GG sowie in den Art. 1 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG niedergelegten Konzept des Grundgesetzes entspricht (vgl. BVerfGE 112, 1 (25)).60
Dieser Absatz, der aus der Entscheidung zur Ostenteignung übernommen wurde, bezog sich dort auf die freiheits- und friedensschützende Konzeption des Grundgesetzes und die daraus abgeleitete responsive Öffnung der Verfassungsrechtsordnung für überstaatliches Recht. Damit ist unter anderem gemeint, dass Völkerrecht in die für Flüchtlinge, vgl. BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, Beschlüsse vom 26. und 28. September 2006, 2 BvR 2048/04 und 2 BvR 1731/04 – Ausweisung Serbien und Montenegro. 58 BVerfGE 113, 273 (296) – Europäischer Haftbefehl. 59 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Dezember 2006 – Frankenbesoldung, NVwZ-RR 2007, 266 ff. 60 Ebenda, 268.
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innerstaatliche Rechtsordnung einbezogen worden sein muss. Dies wird in der Kammerentscheidung zur Frankenbesoldung im weiteren Begründungsverlauf auch als Argument herangezogen, allerdings ohne eine entsprechende Verbindung zu dem zitierten Absatz. Die jüngste Entscheidung vom Januar 2009, die kurz zu erwähnen ist, zur Vollstreckung eines französischen Strafurteils gegen den Geschäftsmann Dieter Holzer nimmt noch einmal das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht auf. Der Beschwerdeführer hatte unter Hinweis auf die Entscheidung zum Europäischen Haftbefehl vorgetragen, dass die Strafaussetzung in einem Rechtshilfeverfahren schon deshalb von Verfassungs wegen geboten sei, weil sie nach der völkervertraglichen Rechtsgrundlage für die Vollstreckungsübernahme möglich sei. Die Kammer weist die Präjudizierung der nationalen Rechtsordnung durch den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit zurück und formuliert – der Kritiker Karlsruhes wird einen ironischen Unterton vermuten – die Denkwürdigkeit: „Nicht alles, was völkerrechtlich erlaubt ist, ist auch verfassungsrechtlich geboten.“61
C. Bestimmte Normativität: Gebot und Methode Die Durchmusterung der Rechtsprechung soll nicht nur dazu dienen, einen systematischen Überblick über die Verfassungsrechtspraxis zu liefern. Sie soll vielmehr auch eine Antwort auf die Frage ermöglichen, worum es sich bei der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ – und auch ihres vermeintlichen Gegenstücks – rechtsdogmatisch handelt, welche Inhalte sich aus ihr ergeben und wie die Argumentationsfigur hergeleitet wird.
I. Herleitung und Regelungsinhalte der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ 1. Eine bekannte Kritik an der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes verweist darauf, dass diese allenfalls als Beschreibung dem Text der Verfassung entnommen werden könne.62 In der Kritik schwingt der unausgesprochene Vorwurf mit, das Bundesverfassungsgericht habe aus dem Grundgesetz etwas nicht Vorhandenes herausgelesen, es greife auf etwas Überpositives zurück und überschreite 61
BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Januar 2009, 2 BvR 1492/08 – Vollstreckungsübernahme, Ziff. 30. 62 C. Hillgruber, Dispositives Verfassungsrecht, zwingendes Völkerrecht, Jahrbuch des öffentlichen Rechts (JöR) n.F. 54 (2006), 57 (111 f.); ders., Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2006, § 32, Rn. 125.
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damit seine Zuständigkeiten. Die Lektüre des Grundgesetzes, die heute zielsicher von elektronischen Suchfunktionen unterstützt wird, bestätigt in der Tat den Befund: Von Völkerrechtsfreundlichkeit ist an keiner Stelle die Rede. Doch damit ist selbstredend nur ein erster Schritt getan. Denn an welcher Stelle im Grundgesetz finden sich Ausführungen zum konstitutiven Parlamentsvorbehalt beim Auslandseinsatz der Streitkräfte, zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung und – um eine andere Kategorie zu wählen – zur verfassungskonformen Auslegung? Sicherlich widerlegen diese Hinweise nicht die Kritik, könnte es sich bei den genannten Beispielen doch ihrerseits um verfassungsgerichtliche „Entdeckungen“ handeln, die die Wortlautgrenze und damit die äußerste Begrenzungslinie für verfassungsmäßiges Organhandeln überschreiten. Die juristische Hermeneutik setzt gleichwohl auf den Gesamtzusammenhang eines normativen Textes und kommt durch systematische, an Sinn und Zweck sowie der Entstehungsgeschichte ausgerichteten Wertungen zu Meta-Aussagen, die sich nicht unmittelbar aus dem Geschriebenen ableiten.63 Das Bundesverfassungsgericht ordnet die Völkerrechtsfreundlichkeit in seiner Konkordatsentscheidung aus dem Jahr 1959 als Eigenschaft des Grundgesetzes ein, die in Art. 25 GG zum Ausdruck gebracht werde. Das Gericht wählt damit in seiner ersten einschlägigen Entscheidung diejenige Vorschrift als normativen Anker aus, die vom Parlamentarischen Rat als die Kernvorschrift für die überstaatliche Einbindung des westdeutschen Teilstaates eingeordnet wurde, die die sichtbare Unterscheidung zu den entsprechenden Regelungen in den historischen deutschen Bundesverfassungen treffen sollte.64 Dem Wortlaut des Art. 25 GG allein ist diese Emphase nicht zu entnehmen, handelt es sich doch zunächst nur um eine Brückennorm, die das Verhältnis von staatlichem Recht und Völkerrecht adressiert – wenngleich das Völkergewohnheitsrecht für im Grundsatz unmittelbar anwendbar erklärt wird. Hinzu kommen die Zeitumstände Anfang der 1950er Jahre, in denen das Gewohnheitsrecht auf internationaler Ebene eine noch weitaus größere Bedeutung als das Völkervertragsrecht hatte. Die Zeit der Kodifikation und der Ausbreitung des Vertragsrechts, die wir bis heute beobachten, stand noch bevor.65 Bis in die Gegenwart bleibt Art. 25 GG eine der Vorschriften, in denen die Völkerrechtsfreundlichkeit rückgebunden wird. Doch bereits in der SpanierEntscheidung aus dem Jahr 1971 werden zusätzlich die Präambel, Art. 1 Abs. 2 und Art. 24 GG als Beleg der „völkerrechtsfreundlichen Grundhaltung des Grundge63 Vgl. K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, 622 f.; F. Reimer, Verfassungsprinzipien, 2001, 384 ff. 64 Schorkopf (Anm. 4), 53 ff. 65 S. Rosenne, Codification Revisited After 50 Years, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2 (1998), 1 ff.
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setzes“ und seiner „völkerrechtsfreundlichen Tendenz“ zitiert. Weiterhin beschreibt das Bundesverfassungsgericht mit dem Wort „Völkerrechtsfreundlichkeit“ den Charakter des Grundgesetzes. Der Erste Senat verknüpft die Emphase mit den das Verfassungssystem insgesamt kennzeichnenden Prinzipien des Pluralismus und der Toleranz.66 Eine weitere Veränderung in der Ableitungsgrundlage nimmt die Entscheidung zur Deutsch-Österreichischen Rechtshilfe vor. Die dem Grundgesetz zugrunde liegende Eingliederung des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengesellschaft wird auf die Präambel sowie auf Art. 24 bis 26 GG gestützt.67 Diese Kette wird in der folgenden Zeit regelmäßig verwendet, wobei auffällt, dass das Wort „Völkerrechtsfreundlichkeit“ selbst kaum verwendet wird und die Normenkette erst mit dem Kammerbeschluss aus dem Ersten Senat aus dem Jahr 2001 erweitert wird. Schließlich werden zusätzlich Art. 1 Abs. 2, mit der Bertelsmann-Entscheidung des Zweiten Senats aus dem Jahr 2003 dann sogar Art. 9 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2 und Art. 23 GG und in einer weiteren Entscheidung Art. 100 Abs. 2 GG zusätzlich in das Zitat aufgenommen.68 2. Eine neue Grundlage für die Herleitung der „Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ schafft der Görgülü-Beschluss aus dem Jahr 2004. In einem längeren Abschnitt werden Art. 23 bis 26 GG, teilweise getrennt nach Absätzen und Sätzen, erläutert; sodann wird Art. 59 Abs. 2 GG in den Blick genommen. Es ist deutlich, dass das Gericht die Existenz der nach außen gerichteten Vorschriften des Grundgesetzes in ihrer das überstaatliche Recht bejahenden Aussage als Anknüpfungspunkt für seine Charakterbeschreibung der deutschen Verfassungsrechtsordnung nimmt. Handelt es sich überhaupt noch um eine Charakterbeschreibung des Grundgesetzes, das heißt um eine deskriptive Kategorie ohne Rechtsverbindlichkeit? Mit dem bereits erwähnten Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats zur Bodenreform aus dem Jahr 2001 tritt eine semantische Veränderung im Begründungsduktus ein, die Beachtung verdient: Die Entscheidungsgründe sprechen von dem „Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ und aus dem weiteren Zusammenhang wird deutlich, dass mit der Kategorie „Grundsatz“ eine Rechtsnorm gemeint ist.69 Seitdem ist immer wieder in Entscheidungen vom „Grundsatz der
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BVerfGE 31, 58 (75) – Spanier. BVerfGE 63, 343 (370) – Deutsch-Österreichische Rechtshilfe. 68 BVerfGE 108, 238 (247) – Bertelsmann; Art. 9 Abs. 2 und Art. 23 GG bereits in der um wenige Tage jüngeren Entscheidung BVerfGE 108, 129 (137) – Auslieferung Indien; Art. 100 Abs. 2 GG in BVerfGE 109, 13 (23 f.); 38 (49 f.) – Jemeniten. 69 BVerfG (Anm. 39), 114 f. 67
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Völkerrechtsfreundlichkeit“ die Rede,70 ohne dass es eine semantische Stringenz geben würde. Denn zugleich wird in anderen Entscheidungen auf die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung Bezug genommen. Eine weitere Entscheidungsexegese ist an dieser Stelle nicht sinnvoll, weil das Bundesverfassungsgericht auf der Sprachebene keinen roten Faden erkennen lässt, der es bei dem argumentativen Rückgriff auf Ideen der Völkerrechtsfreundlichkeit leitet. 3. Der Rechtsprechungspraxis sind eine Reihe von Aussagen zu Regelungsinhalten der Völkerrechtsfreundlichkeit zu entnehmen, die in drei Fallgruppen zusammengefasst werden können: – Das Gericht verpflichtet die hoheitliche Gewalt, fremde Rechtsordnungen und -anschauungen zu achten. Dieses Gebot lässt sich als das nationale Gegenstück zum völkerrechtlichen Grundsatz der Nichteinmischung einordnen,71 bezieht sich das Achtungsgebot doch in erster Linie auf andere staatliche Rechtsordnungen. Es gilt allerdings zugleich auch für überstaatliches Recht. Bei diesem Zugang wird deutlich, dass eine „Europarechtsfreundlichkeit“ nur eine spezielle, eben auf das Recht der Europäischen Union bezogene Variante der Völkerrechtsfreundlichkeit ist.72 Der primäre Bezug zu staatlichen Rechtsordnungen macht dieses Gebot vor allem bedeutungsvoll für Sachverhalte im Bereich der zwischenstaatlichen Rechtshilfe und des internationalen Privatrechts. – Die zweite Gruppe folgt aus dem Gebot, im Rahmen des hoheitlichen Handelns einen normativen Gleichklang zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht herzustellen. Die prinzipiell getrennten Rechtsordnungen können synchronisiert werden durch (i) entsprechende Auslegung des anzuwendenden Rechts, (ii) zielgerichtete Rechtsetzung, (iii) die Korrektur von Verstößen gegen das Völkerrecht auf staatlicher Ebene und (iv) die subsidiäre Durchsetzung des Völkerrechts mittels der staatlichen Hoheitsgewalt. Das verfassungsrechtliche Problem dieser Fallgruppe ist die finale Programmierung des Gebots auf einen Gleichlauf von Völkerrecht und staatlichem Recht. Sie sieht 70 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. September 2006 – 2 BvR 2368/04, BVerfGK 9, 198 ff.; Beschluss vom 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01, 2 BvR 2132/01 und 2 BvR 348/03, BVerfGK 9, 172 ff. = NJW 2007, 499 (500). 71 G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, Band I/3, 2. Aufl. 2002, § 168 mit weiteren Nachweisen; zu modernen Ansätzen der Begrenzung des Nichteinmischungsprinzips F. Schorkopf, Politische Herrschaft als verantwortete Selbstbestimmung, Die Friedens-Warte 84 (2009), 89 (93 ff.). 72 Siehe jetzt BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08 und 2 BvR 182/09, Ziff. 225, 240 f. und 340 sowie Leitsatz 4.
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die bestehenden Unterschiede und rechtlichen Maßstäbe als strukturelles Hindernis auf dem Weg zur Zielerreichung. – Die dritte Gruppe knüpft an das Völkervertragsrecht an und fasst das Gebot zusammen, den normativen Anspruch der deutschen Verfassung in völkerrechtlichen Sachlagen zu reflektieren und auch zurückzunehmen. Hierzu zählt auch die Akzeptanz der Dynamik der Völkerrechtsordnung, die in den Entscheidungen zur internationalen Gerichtsbarkeit herausgearbeitet wurde. Letztendlich steht hinter dem Gebot die Bereitschaft, die Anwendung des Grundgesetzes zu relativieren – wenngleich diese beunruhigende Aussage ihrerseits eingeschränkt werden muss, weil spätestens seit dem GörgülüBeschluss des Zweiten Senats deutlich geworden ist, dass es einen absoluten Verfassungskern gibt.73 Die aktuelle Diskussion verläuft entlang der Argumentationslinie, in welchem Maß der normative Anspruch der Verfassung zurückzunehmen ist. Dieser Versuch einer Systematisierung, der die bereits im ersten Abschnitt aufbereitete Rechtsprechung mit einem veränderten Raster betrachtet, führt schließlich zu der Frage, in welche normative Kategorie die Völkerrechtsfreundlichkeit eingeordnet werden kann.
II. Normative Kategorie und das Problem der Normenkontrolle 1. Der Begriff „Völkerrechtsfreundlichkeit“ hat zunächst eine beschreibende Dimension. Wer sich dem Völkerrecht gegenüber freundlich zeigt, sich dem Völkerrecht mit Empathie zuwendet, der hat ein allgemein anerkanntes und erstrebtes Ziel.74 Das Grundgesetz erkennt das Völkerrecht als Rechtsordnung an und fügt den deutschen Verfassungsstaat in den völkerrechtlichen Rahmen der Staatengemeinschaft.75 Die mit dem Begriff einhergehende suggestive Kraft teilt die Völkerrechtsfreundlichkeit mit der offenen Staatlichkeit.76 73
BVerfGE 111, 307 ff. Siehe etwa die Ausgangslage in der dualistischen Rechtsordnung Australiens D. Lovric, A Constitution Friendly to International Law: Germany and its Völkerrechtsfreundlichkeit, The Australian Yearbook of International Law 25 (2006), 75 (89 ff.); M. Payandeh, Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip, JöR n.F. 57 (2009) , 465 (481 f.). 75 H. Mosler, Völkerrecht als Rechtsordnung, ZaöRV 36 (1976), 6 ff.; siehe über die hier behandelte Fragestellung hinaus für die Schnittstellen zum Völkerrecht A. Zimmermann, Die Rezeption völkerrechtlicher Begriffe durch das Grundgesetz, ZaöRV 67 (2007), 297 ff. 76 K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964; ausführlich zu dieser Idee und ihrer Kritik Schorkopf (Anm. 4), 13 ff. und 221 ff. 74
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Der Begriff „Völkerrechtsfreundlichkeit“ hat darüber hinaus aber auch eine normative, das heißt eine auf ein anordnendes Sollen gerichtete Dimension. Dies belegen die erste und zweite Fallgruppe, die Rechtsordnungen im Ergebnis widerspruchsfrei koordinieren wollen. Die Staatsorgane sollen hoheitliche Gewalt in einer Weise ausüben, dass fremdes Recht in seinem normativen Anspruch zur Kenntnis genommen und grundsätzlich respektiert wird und dass in einem konkreten Sachverhalt möglichst eine Übereinstimmung zwischen staatlichem Recht und Völkerrecht hergestellt wird. Diese Allgemeinheit der Norm, die die Verwirklichung eines Ziels einfordert, ohne ein spezielles Verhalten zu erzwingen, spricht für die Einordnung der Völkerrechtsfreundlichkeit als Grundsatz.77 Möglicherweise hat der neuere Sprachgebrauch in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts seinen Grund in diesem kategorialen Zugang. Die in diesem Beitrag gewählte Zuordnung der Völkerrechtsfreundlichkeit in die Rechtsnormkategorie des Grundsatzes beruht auf der im ersten Abschnitt entwickelten Gesamtschau der einschlägigen Rechtsprechung.78 Das Ziel des Gleichklangs der Rechtsordnungen ist konkret unter anderem durch eine nationale Korrektur möglicher Völkerrechtsverstöße herzustellen. Die konkretisierenden Regeln lauten: (i) Das Völkergewohnheitsrecht ist in der deutschen Rechtsordnung anwendbar und hat an der von Art. 20 Abs. 3 GG ausgesprochenen Bindungswirkung teil und (ii) das Friedensgebot ist zwingende Vorgabe für deutsches Staatshandeln. Der Grundsatz ist zum anderen von der Vorgehensweise abzugrenzen, nach der eine Rechtsnorm auf einen Sachverhalt angewendet wird. Eine solche Auslegungsregel ist die Alternative für die kategoriale Verortung der Völkerrechtsfreundlichkeit. Die Fallgruppen zeigen, dass das Ziel eines harmonischen Rechtsordnungsverbundes im Wesentlichen über die völkerrechtsfreundliche oder völkerrechtskonforme Auslegung des staatlichen Rechts erreicht wird. Dieser Befund steht für mich jedoch nicht in einem Widerspruch zu der Einordnung als Rechtsgrundsatz, weil die 77
Da es in diesem theoretischen Bereich der Rechtswissenschaft keinen einheitlichen Sprachgebrauch gibt, könnte auch von einem Prinzip gesprochen werden; vgl. U. Penski, Rechtsgrundsätze und Rechtsregeln, Juristenzeitung 1989, 105 (107). Zur Einordnung als „Prinzip“ in dem Sinne des hier verwendeten „Grundsatzes“ siehe Payandeh (Anm. 71), 468 f. 78 Zur Ableitung eines Gebots der völkerrechtsfreundlichen Auslegung aus der Systematik des Grundgesetzes C. Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII; 1992, § 172, Rn. 27; R. Bernhardt, Bundesverfassungsgericht und völkerrechtliche Verträge, in: C. Starck (Hrsg.), Festgabe aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. II, 1975, 154 (160); K. Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, 475 f.; A. Bleckmann, Die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, DöV 32 (1979), 309 (312 ff.).
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weitreichenden normativen Folgen, die der Grundsatz hat, mit einer Methodenregel allein nicht zu erklären sind. Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit wird nicht allein durch konkrete, primäre Rechtsregeln, sondern zusätzlich auch durch eine methodische sekundäre Regel spezifiziert.79 Eine Schlussfolgerung aus dieser Doppelbedeutung ist, dass es sich bei der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ nicht um einen eindeutigen Begriff handelt. 2. Die Annahme, dass „Völkerrechtsfreundlichkeit“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch als Chiffre für eine Auslegungsregel steht, wirft Folgefragen, insbesondere die Frage nach einer weiteren Systematisierung auf. Es liegt nahe, in diesem Fall die Parallele zur verfassungskonformen Auslegung zu ziehen.80 Sie wird überwiegend als Teil der systematischen Auslegung aus dem klassischen Kanon verstanden, wenngleich dieser Zuordnung auch widersprochen wird.81 Dieser Widerspruch erschließt eine neue Reflexionsebene, weil die vermeintliche kanonische Kongruenz von völkerrechtsfreundlicher und systematischer Auslegung auf der Grundlagenebene zu bemerkenswerten Weiterungen führt. Die angenommene Nähe von verfassungskonformer Auslegung und systematischer Auslegung beruht auf der Einsicht, dass dem systematischen Zugang der Einheitsgedanke zugrunde liegt.82 Rechtsnormen einer Rechtsordnung lassen sich über den Gesetzestext hinaus im Gesamtzusammenhang möglichst widerspruchsfrei auslegen, weil die einzelnen Normen das gemeinsame Ganze einer Rationalität, die Wertungen eines Systems teilen. Im Fall der völkerrechtskonformen Auslegung können Normen des einfachen Gesetzesrechts demnach am Maßstab der Verfassung, in derselben Weise können aber auch staatliche Rechtsnormen am Maßstab des Völkerrechts ausgelegt werden. Die zweite Möglichkeit, die völkerrechtskonforme Auslegung staatlichen Rechts am Maßstab des Völkerrechts, sorgt für Irritation. Beruht ein solcher Zugang nicht auf einer monistischen Konstruktion des Verhältnisses von staatlichem Recht und Völkerrecht?83 Und widerspräche diese Konstruktion nicht der 79
Reimer, Anm. 63, 283. Zuletzt BVerfGE 118, 212 (234 f.) – Strafzumessung; aus der neueren Literatur A. Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 125 (2000), 177 (180 f.) m.w.N. 81 C. Höpfner/B. Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, Archiv für civilistische Praxis 209 (2009), 1 (23). 82 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, 11 ff.; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, 7 ff. und 187 ff. 83 In der Rezeption der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ wird diese Nähe zum Monismus durchaus wahrgenommen, vgl. Lovric (Anm. 71), 89 f. 80
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Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der universelles und partikulares Recht in einem gemäßigt dualistischen Verhältnis zueinander stehen? Hat sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Argument der Völkerrechtsfreundlichkeit – ohne es zu merken – möglicherweise in Widersprüche verwickelt? Das Gericht hat in seinem Görgülü-Beschluss deutlich ausgesprochen, dass die Berücksichtigung von Judikaten internationaler Gerichtshöfe im Wege der völkerrechtsfreundlichen Auslegung deutschen Rechts an eine Grenze stößt.84 Gerade diese Entscheidung zeigt, dass die völkerrechtsfreundliche Auslegung eine Doppelnatur hat, die bereits der verfassungskonformen Auslegung eigen ist. Bei dieser Form der Auslegung soll nämlich nicht allein ein Normtext erschlossen werden, um einen Normzweck zu ermitteln. Es soll darüber hinaus und zugleich die Vereinbarkeit der Norm mit anderem Recht – Verfassungs- oder Völkerrecht – geprüft werden, das heißt die völkerrechtsfreundliche wie die verfassungskonforme Auslegung sind immer auch eine Normkontrolle. Aus diesem Blickwinkel ist die Völkerrechtsfreundlichkeit der untechnische Begriff für die Koordination der staatlichen Rechtsordnung mit dem Völkerrecht. Die völkerrechtsfreundliche Auslegung dient dazu, diejenige Normvariante zu finden, die den Konflikt im Mehrebenensystem nach Möglichkeit vermeidet.85
D. Wahrheitsansprüche: Das Völkerrechtsbild des Bundesverfassungsgerichts Die Existenz von Grenzen der völkerrechtsfreundlichen Auslegung weist den Weg, worum es sich bei der bislang von mir vernachlässigten Völkerrechtsskepsis handeln könnte: Die „Völkerrechtsskepsis“ steht für die änderungsfesten Verfassungsinhalte, die vom Bundesverfassungsgericht mit dem „letzten Wort“ verteidigt werden,86 und steht aus methodischem Blickwinkel für die Wortlautgrenze bei der Auslegung. Im Görgülü-Beschluss des Zweiten Senats heißt es dazu: 84 Vgl. U. Fastenrath/T. Groh, in: K. H. Friauf/W. Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: XII/2007, C Art. 59, Rn. 9, für die das Bundesverfassungsgericht einen Mittelweg zwischen Dualismus und Monismus eingeschlagen hat. 85 Röben (Anm. 19), 207; C. Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, 220. 86 Tomuschat (Anm. 75), § 172, Rn. 53, nennt unter Hinweis auf Art. 79 Abs. 3 GG die Bindung an die Grundrechte, Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat. „Vorrangige Prinzipien des Verfassungsrechts“, die dem Völkerrecht in jedem Fall vorgehen, erkennt selbst A. Bleckmann, Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, DöV 49 (1996), 137 (141) an, der dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit im Übrigen erhebliche Rechtsfolgen für die deutsche Rechtsordnung einräumt, ebenda, 141 ff.
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Zur Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gehört die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung.87
Die Antworten sind aber möglicherweise vorschnell gegeben. Denn mit ihnen wird akzeptiert, dass so etwas wie „Völkerrechtsskepsis“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts neben der allgemein anerkannten „Völkerrechtsfreundlichkeit“ überhaupt besteht. Das Gegenüber von Freundlichkeit und Skepsis setzt voraus, dass es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Aussagen zum Völkerrecht – oder auch zum Europarecht – gibt, die sich entweder der einen oder der anderen Seite zuordnen lassen. Diese Aussagen können direkt sein, etwa indem das Gericht Möglichkeiten des Rechtsschutzes auf überstaatlicher Ebene ausreichen lässt, um die Beschränkung innerstaatlichen Grundrechtsschutzes zu rechtfertigen. Diese Aussagen können aber auch indirekt sein, etwa wenn in demselben Bereich der überstaatliche Rechtsschutz an Äquivalenzgesichtspunkten gemessen wird, wodurch mittelbar ausgesprochen ist, dass er freiheitlichen Maßstäben nicht genügen könnte.88 Ist die erste Aussage freundlich und die zweite Aussage skeptisch? Eine Antwort beruht auf dem Bild, das der Beobachter von „Skepsis“ hat. Skepsis kann eine kritische, zurückhaltende Betrachtungsweise – im negativen wie im positiven Sinne – sein. Mit Skepsis kann aber auch das Prüfen von Wahrheitsansprüchen durch ein systematisches Infragestellen gemeint sein. Wer das Bundesverfassungsgericht auf der Linie eines solchen erkenntnistheoretischen Skeptizismus’ sieht, der sich in der Nähe zum Relativismus bewegt, der wird jedes kritische Wort zum Völkerrecht möglicherweise darauf abhorchen, ob in ihm die Tendenz zur Völkerrechtsleugnung aufscheint.89 Stellt Karlsruhe den Wahrheitsanspruch des Völkerrechts in Frage und setzt es den des Grundgesetzes, also letztlich seinen eigenen Anspruch dagegen? 87
BVerfGE 111, 307, Ls 1 – Görgülü (Hervorhebung vom Verf.). Diese Aussage gilt auch für die europarechtskonforme Auslegung, vgl. BVerfGE 75, 223 (240); 93, 37 (81), was vom Europäischen Gerichtshof für die richtlinien- und rahmenbeschlusskonforme Auslegung ausdrücklich anerkannt ist, vgl. EuGH, Rs. C-212/04 – Adeneler, Slg. 2006, I-6057, Rn. 110; Rs. C-105/03 – Pupino, Slg. 2005, I-5285, Rn. 44 und 47. 88 BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 4. April 2001 – 2 BvR 2368/99, NJW 2001, 2705 (2706); Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 2006, NVwZ 2006, 1403 (1404), jeweils zu Entscheidungen des europäischen Patentamts; vgl. auch BVerfGE 73, 339 (375 f.) – Solange II; 102, 147 (162 f.) – Bananenmarktordnung. 89 W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte. 2. Aufl. 1988, 592 ff.; zu den Vertretern der realistischen Schule der internationalen Beziehungen als möglichen Widergängern vgl. A. L. Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, 2001, 48 ff.
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Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit entwickelt, um das Nebeneinander von Rechtsordnungen zu koordinieren. Indem es bestimmte Auslegungen des staatlichen Rechts verbietet und andere gebietet, will es den Konflikt in einer konkreten Sachfrage vermeiden. Sind mehrere Normvarianten denkbar, soll diejenige gewählt werden, die dem Völkerrecht entspricht oder diesem an nächsten kommt. Der Leitgedanke, der diesem Ansatz zugrunde liegt, ist die Überzeugung des prinzipiellen Selbststandes der beteiligten Rechtsordnungen. Mit anderen Worten, die dualistische Konstruktion des Mehrebenensystems setzt notwendig die Existenz einer Differenz zwischen den Ordnungen voraus. Diese Differenz muss definierbar und sichtbar sein, soll die Konstruktion sich nicht in Semantik erschöpfen. Es ist deshalb, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, nicht möglich, mit dem Argument der Völkerrechtsfreundlichkeit den fehlenden Rechtsanwendungsbefehl der staatlichen Rechtsordnung zu ersetzen, um – wie im Rechtsstreit über die Waldschlösschenbrücke – wünschenswertes Völkervertragsrecht anwenden zu können.90 Im Bereich des Völkergewohnheitsrechts und des Völkervertragsrechts definieren spezielle Vorschriften des Grundgesetzes den Rahmen für die weitere verfassungsrechtliche Auslegung.91 Nochmals in den Gründen des Görgülü-Beschlusses heißt es dazu: Dem Grundgesetz liegt deutlich die klassische Vorstellung zu Grunde, dass es sich bei dem Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht um ein Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise handelt und dass die Natur dieses Verhältnisses aus der Sicht des nationalen Rechts nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden kann; dies zeigen die Existenz und der Wortlaut von Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG. Die Völkerrechtsfreundlichkeit entfaltet Wirkung nur im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes.92
Die Völkerrechtsfreundlichkeit setzt die Existenz von mindestens zwei Subjekten voraus, die miteinander in ein freundschaftliches Verhältnis treten können. In einer Rechtsordnung hat es wenig Sinn, davon zu sprechen, dass eine „Gesetzesfreundlichkeit“ oder eine „Verfassungsfreundlichkeit“ besteht.93 Normkonflikte in einer Ordnung werden durch ein Rangverhältnis und durch Kollisionsregeln gelöst. Es spricht deshalb vieles dafür, dass die Völkerrechtsfreundlichkeit den Dualismus 90 In diese Richtung argumentieren dennoch A. v. Bogdandy/D. Zacharias, Zum Status der Weltkulturerbekonvention im deutschen Rechtsraum, NVwZ 26 (2007), 527 (530); U. Fastenrath, Der Schutz des Weltkulturerbes in Deutschland, DöV 59 (2006), 1017 (1022 ff.); Bleckmann (Anm. 75), 314; siehe auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29.5.2007 – 2 BvR 695/07, NVwZ 2007, 1176 (1177). 91 Vgl. Tomuschat, (Anm. 75), § 172, Rn. 28, mit vorsichtiger Einschränkung in Bezug auf die EMRK und die Charta der Vereinten Nationen; R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl. 2008, § 34, 190. 92 BVerfGE 111, 307 (318) – Görgülü. 93 Siehe aber J. Lüdemann, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, Juristische Schulung 2004, 27 (28 f.) m.w.N.
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voraussetzt und ein „Weichzeichner“ ist, der die Differenz im Rechtsalltag verwischt. Unter dem Begriff „Völkerrechtsskepsis“ lassen sich demnach die Aussagen zusammenfassen, die diese Differenz zwischen den Rechtsordnungen zu Tage treten lassen. Letztendlich beruht die Annahme, dass das Bundesverfassungsgericht dem Völkerrecht skeptisch gegenüber steht, auf dem Missverständnis, dass die „Völkerrechtsfreundlichkeit“ die unbedingte Affirmation überstaatlichen Rechts meint.
E. Schluss Wie ist also die Entscheidung des Parlamentarischen Rates, das Bundesverfassungsgericht auch mit Blick auf Völkerrechtsfragen mit wichtigen Zuständigkeiten auszustatten, 60 Jahre später zu beurteilen? Aus den Überlegungen ist deutlich geworden, dass Karlsruhe der Völkerrechtsordnung mit erheblicher Empathie begegnet, wenn es auch Schwankungen in der völkerrechtlichen Aktivität des Gerichts gibt. Die Kritik, die weniger an übermäßiger Skepsis und zu geringer Freundlichkeit festzumachen ist, richtet sich gegen ein zu statisches Verständnis der Völkerrechtsordnung. Aus dem Begriff der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ selbst lässt sich auch herauslesen, dass das Völkerrecht eben das andere, das zu unterscheidende Subjekt ist, dem die nationale Rechtsordnung freundlich zugewandt begegnet. Das Gericht droht hierbei zu übersehen, dass es mit seiner Rechtsprechung die Rolle Deutschlands als Völkerrechtsakteur prägt, dass es selbst Staatenpraxis generiert, wenn es über Sachverhalte mit völkerrechtlichen Bezügen entscheidet. Karlsruhe ist unter bestimmten Bedingungen nicht nur Notar, sondern entscheidet selbst, was die Inhalte des Völkerrechts sind und wie es zu verstehen ist. Doch das sind Erwägungen auf der Metaebene des Rechts, die eine andere Form finden müssen.
Völkerrechtsfreundlichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Die unfreundliche Erlaubnis zum Bruch völkerrechtlicher Verträge – Von Dagmar Richter
A. Die Machtfrage Mit Aussagen zu Geltung und Rang des Völkerrechts im deutschen Recht entscheidet das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über seine eigene Bedeutung. Auch wenn das Verhältnis zu anderen Akteuren, insbesondere der internationalen Gerichtsbarkeit, dabei nur selten direkt angesprochen ist,1 schwingt „die Machtfrage“ doch in jeder Positionsbestimmung mit. Hier soll die Praxis des Bundesverfassungsgerichts noch einmal2 anhand des „härtesten Falles“ kritisiert und eine andere Problemlösung vorgeschlagen werden. Gemeint ist die Option des Gesetzgebers, völkerrechtliche Verträge durch nachfolgende Gesetzgebung zu brechen.3 Die zugrunde liegende Frage lautet: Soll nicht nur die rechtsanwendende, sondern auch die rechtsetzende Staatsgewalt an Völkervertragsrecht gebunden sein? Sie entscheidet sich gerade im Völkervertragsrecht, weil Art. 25 GG eine Bindung des
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Siehe z.B. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 89, 155 (175) – Maastricht: „Kooperationsverhältnis“ mit dem EuGH, wonach dem EuGH im Rahmen seiner Zuständigkeit die Einzelfallarbeit, dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hingegen die Überwachung der Einhaltung der unabdingbaren Grundrechtsstandards obliege. Siehe auch BVerfG, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2009, 2267, 2272 – Lissabon: Dem BVerfG obliege die Einforderung der „Integrationsverantwortung im Fall von ersichtlichen Grenzüberschreitungen“, d.h. ultra vires-Feststellungen (Überschreitung der durch den EG-Vertrag übertragenen Kompetenzen) und Feststellungen einer Verletzung der Verfassungsidentität (anhand Art. 23 Abs. 1 S. 3, 79 Abs. 3 GG) im Rahmen einer Identitätskontrolle. 2 Siehe den Beitrag von F. Schorkopf zum selben Thema in diesem Band. 3 Siehe zur Frage, ob und wieweit ein innerstaatliches Gesetz überhaupt den „Bruch“ völkerrechtlicher Verträge bewirken kann, noch unten B.I.
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einfachen Gesetzgebers nur an die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts,4 aber eben nicht an das Völkervertragsrecht anordnet, und beides auch nicht in eins gesetzt werden kann.5 Billigt das BVerfG dem Grundgesetz „das letzte Wort“ gegenüber völkerrechtlichen Verträgen zu, verschafft es nicht nur dem Gesetzgeber Freiräume, sondern auch sich selbst als Hüter der Verfassung die letztendliche Entscheidungsmacht. Denn anders als der beiseite gedrängte völkerrechtliche Vertrag und das zu seinem innerstaatlichen Vollzug erlassene Vertragsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG)6 unterliegt das hiervon abweichende spätere Gesetz keinem eingeschränkten Regime der Überprüfbarkeit, insbesondere keiner „Näher-am-Grundgesetz-Doktrin“7 und keinem „judicial self-restraint“ in außenpolitischen Angelegenheiten.8 Zwar lagen dem BVerfG Fälle, in denen sich der deutsche Gesetzgeber tatsächlich bewusst über einen bindenden völkerrechtlichen Vertrag hinweggesetzt hätte, bislang noch gar nicht vor; doch erwähnt es diese Möglichkeit mehrmals,9 als ob ihr eine prinzipielle Bedeutung zukäme. Das Gericht weiß: Wer sich die Entscheidungsmacht oder „Integrationsverantwortung“10 für den Ernstfall vorbehält, gestaltet auch die Normallage zu seinen Gunsten.11
4 Eingehend H. Steinberger, Allgemeine Regeln des Völkerechts, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII: Normativität und Schutz der Verfassung – Internationale Beziehungen, 1992, 525 ff. 5 s.u. C.III. (m.w.N.). 6 Eingehend R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht mit Europarecht, 4. A. 2009, 141, 156 ff. 7 BVerfGE 4, 157 (170) – Saarstatut. Dazu V. Röben, Außenverfassungsrecht – Eine Untersuchung zur auswärtigen Gewalt des offenen Staates, 2007, 205 ff. 8 Siehe zur besonderen Weite des politischen Gestaltungsermessens im auswärtigen Bereich z.B. BVerfGE 36, 1 (13 f.) – Grundlagenvertrag; 55, 349 (365) – Hess. Zutreffend betont Röben (Anm. 7), 204, dass damit nicht Injustiziabilität gemeint ist (m.w.N.). 9 Siehe unten B.II. m.w.N. 10 Siehe BVerfG (Anm. 1) – Lissabon. 11 Vgl. C. Schmitts, Politische Theologie, 1922, Satz 1 („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“) sowie S. 21 („Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; …“). Trotz politischer Diskreditierung beruht die nachhaltige Sprengkraft dieser Aussage auf der richtigen Beobachtung, dass der Ausnahmefall die Normalität vorprägt. Einen vergleichbaren Gedanken enthält z.B. BVerfGE 84, 9 ff. (Ehenamen): Eine Regelung, wonach der Mannesname Ehename wird, wenn sich die Eheleute nicht einigen können (§ 1355 Abs. 2 BGB a.F.), schwächt schon im Vorfeld dessen Bereitschaft, sich auf die Vorstellungen der Gegenseite einzulassen.
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B. Der „Bruch“ völkerrechtlicher Verträge durch nachfolgendes Gesetzesrecht in der Rechtsprechung des BVerfG I. Die Kollision zwischen völkerrechtlichem Vertrag und innerstaatlichem Gesetz – eine Präzisierung Ist das Verhältnis zwischen Völker- und Landesrecht dualistisch angelegt, wie z.B. für völkerrechtliche Verträge nach den Maßstäben des Art. 59 Abs. 2 GG, begründet die inhaltliche Unvereinbarkeit zwischen einem völkerrechtlichen Vertrag und einem Gesetz nicht ohne Weiteres auch die Verletzung des Völkerrechts. Aus völkerrechtlicher Warte ist dies vielmehr erst dann der Fall, wenn der Staat durch die Gesetzgebung zugleich eine ihm obliegende spezifisch völkerrechtliche Pflicht verletzt.12 Eine solche Pflichtverletzung liegt vor, wenn der völkerrechtliche Vertrag z.B. gesetzgeberische Umsetzungsmaßnahmen vorsieht, welche das fragliche Gesetz konterkariert, oder wenn die Anwendung des Gesetzes die Durchführung des Vertrages beeinträchtigt. Das bedeutet, dass einem späteren Gesetz die Unvereinbarkeit mit einem bestehenden völkerrechtlichen Vertrag nicht stets auf die Stirn geschrieben ist. Wenn daher im Folgenden vom „Bruch“ des völkerrechtlichen Vertrags die Rede ist, so soll dies denkbar weit zu verstehen sein, d.h. im Sinne einer Entfernung des späteren Gesetzes von den Zielen und Zwecken des völkerrechtlichen Vertrages, aus der dann leicht eine Völkerrechtsverletzung resultieren kann. Bewertet man denselben Befund nach den Maßstäben innerstaatlichen Rechts, so bietet sich ein anderes Bild: Das Vertragsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) erteilt nicht nur die Zustimmung zum völkerrechtlichen Vertrag, sondern auch den „Befehl“ zu seiner Anwendung13 im innerstaatlichen Recht. Trägt der völkerrechtliche Vertrag in seiner jeweils aktuellen Gestalt den Mantel des deutschen Gesetzes, wird ihm
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Siehe Art. 2 lit. b der Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts (2001) der International Law Commission, der bestehendes Völkergewohnheitsrecht wiedergibt. 13 Während die Vollzugstheorie früher terminologisch sorgfältig von der Transformationstheorie unterschieden wurde, hängt die neuere Rechtsprechung des BVerfG unterschiedlichen Positionen, teilweise sogar innerhalb derselben Entscheidung, an. Siehe z.B. BVerfGE 111, 307 (316/317) – Görgülü: „Der Bundesgesetzgeber hat den genannten Übereinkommen jeweils mit förmlichem Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt (Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten …). Damit hat er sie in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt.“
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vermittels dieser Einkleidung auch der Rang eines einfachen Bundesgesetzes14 zuteil. Damit kommt dem Vertragsgesetz einerseits wie jedem Gesetz die Bindungswirkung des Art. 20 Abs. 3 GG zugute, andererseits wird es aber – soweit man die allgemeinen Regeln für uneingeschränkt anwendbar hält – auch dem Grundsatz lex posterior derogat legi priori ausgesetzt. Dementsprechend geht das spätere Bundesgesetz dem früheren Gesetz zur innerstaatlichen Umsetzung eines völkerrechtlichen Vertrages vor. Dass dies zu misslichen Ergebnissen im internationalen Verkehr führen kann, nämlich zum Bruch völkerrechtlicher Verträge mit der Folge der Staatenverantwortlichkeit, ist das typische und erwartbare Problem aller Staaten, die wie die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtliche Verträge in die Gesetzesform gießen. So verwundert es nicht, dass jener Kreis von Staaten seit den frühen neunziger Jahren kreative Lösungen gefunden hat, um solchen Folgen der lex posterior-Regel zumindest bei bestimmten völkerrechtlichen Verträgen zu entgehen.15
II. Die Position des Bundesverfassungsgerichts Das BVerfG hat einerseits den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit zu einem Instrument mit rechtsverbindlicher Kraft (genauer: Verfassungsrang) ausgebaut, andererseits aber schon immer Vorbehalte erklärt und Grenzen gesetzt.16 Diese kreisen um den „ewigen Kern“ des Grundgesetzes, d.h. die in Art. 79 Abs. 3 GG bezeichneten Fundamentalgrundsätze. In der neueren Rechtsprechung tritt die Freiheit des Gesetzgebers, völkerrechtliche Verträge durch nachfolgende Gesetzgebung zu missachten, eher selten in Erscheinung. So erläutert das BVerfG z.B. in seiner Entscheidung zur Frankenbesoldung (2002), dass das GG im Unterschied zur französischen Verfassung keine Vorrangregelung für völkerrechtliche Verträge kenne, „weshalb die abweichende 14
Geiger (Anm. 6), 161 m.w.N. zur insoweit std. Rspr. des BVerfG. Siehe unten C. 16 F. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit. Konflikt und Harmonie in den auswärtigen Beziehungen Deutschlands, 2007, 244 ff., 253, 302 f., sieht gerade im Spannungsverhältnis zwischen der Normativität der Verfassung und der offenen Staatlichkeit bzw. im Erhalt der „Konfliktbereitschaft“ des Verfassungsstaates nach außen und dessen Beharren auf Partikularität die Stärke des (so interpretierten) Grundgesetzes und zugleich die Zukunft des Völkerrechts. Der Besorgnis, ein sich unitarisch entwickelndes Völkerrecht, dem die Staaten weniger an verfassungsrechtlichen Vorbehalten und Eigentümlichkeiten entgegensetzten, würde das Völkerrecht am Dissens über die materiellen Inhalte (Wertvorstellungen) scheitern lassen (ebd., 303), ist zu entgegnen, dass die Annahme einer universellen „rule of law“ gerade die langsam fortschreitende Harmonisierung bestimmter materieller Inhalte konstatiert. 15
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Regelung eines später erlassenen Gesetzes nicht von vornherein ausgeschlossen“ sei.17 Das führe aber nicht zu untragbaren Ergebnissen, denn das Kollisionsrisiko werde ja durch völkerrechtskonforme Auslegung „nach Möglichkeit“ vermieden. Danach seien Gesetze „im Rahmen geltender methodischer Standards“ im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, selbst wenn sie zeitlich später erlassen worden sind. Denn es sei nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, „sofern er dies nicht klar bekundet“ habe, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen wolle.18 Die völkerrechtskonforme Auslegung funktioniert demnach bis zur äußersten Grenze des Wortlauts, welche der Gesetzgeber durch seinen explizit erklärten Willen zur Kollision setzt. Auszuloten, wie dehnbar der Wortlaut in dieser Beziehung ist, ob sich der Gesetzgeber also hinreichend explizit von einem völkerrechtlichen Vertrag abgewandt hat, obliegt dem BVerfG. Im Görgülü-Beschluss (2004) betont das BVerfG die Einbindung Deutschlands in die „Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten“.19 Man verzichte deshalb aber nicht auf „die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“. Es widerspreche nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit, „wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden“ sei.20 Das bedeutet zunächst, dass es das BVerfG für sich in Anspruch nimmt, dieses „letzte Wort“ der deutschen Verfassung zu konkretisieren. Die hier gebrauchte Formulierung ist aber auch noch aus einem anderen Grunde verräterisch. Denn sie suggeriert eine Verbindung zwischen dem verdienstvollen Mitwirken an der Friedlichkeit und Rechtsstaatlichkeit in der Welt und der berechtigten Verteidigung eigener Souveränität, die in dieser Koppelung geradezu als Unterpfand der Fähigkeit zur Mitwirkung in der Staatengemeinschaft erscheint. So spricht ein Staat, der seine Souveränität nach 1945 erst nach langjähriger Bewährung in der Staatengemeinschaft mühevoll zurückgewinnen konnte. Das „letzte Wort“ über die 17 Auch zum Folgenden: BVerfG (Kammer), Neue Zeitschrift für VerwaltungsrechtRechtsprechungs-Report 2007, 266 (267) – Frankenbesoldung. Siehe auch folgende Anm. 18 Gleichlautend bereits BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung: „Auch Gesetze – hier die Strafprozeßordnung – sind im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, selbst wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtlicher Vertrag; denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will.“ 19 BVerfGE 111, 307 (319) – Görgülü. 20 Ebd.
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Einhaltung jedes einzelnen Vertrages im eigenen Rechtsraum zu behalten, ist allerdings keine notwendige Bedingung staatlicher Souveränität. Denn diese vermag der Staat ja gerade durch völkerrechtlichen Vertrag und die Entscheidung, diesem Vorrang zu gewähren (z.B. Frankreich,21 Niederlande22), einzuschränken. Staaten, die kein letztes Wort beanspruchen, haben daher nicht auf ihre Souveränität „verzichtet“, sondern nur den Gleichklang zwischen völkerrechtlicher Außenwelt und verfassungsrechtlicher Innenwelt gesucht und sich dementsprechend verlässlich nach außen hin festgelegt. Ihr Souveränitätsverständnis ist, wie es die vertraglich vernetzte, interdependente Welt erwartet, nicht absolut.23 Es beschränkt sich vielmehr auf jenes hinreichende Maß an Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit nach innen und außen,24 das die Möglichkeit zur Selbstbeschränkung durch völkerrechtliche Verträge ohne Weiteres umfasst. Wer dem Souveränitätsvorbehalt des BVerfG in der Sache Görgülü auf den Grund gehen will, muss die Frage stellen: Wie ist es eigentlich möglich, in eine Situation zu geraten, in der nur noch mithilfe der Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrages ein „Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung“ abgewendet werden kann? Das erscheint besonders rätselhaft, wenn es sich dabei wie im Görgülü-Beschluss um die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) handelt. War der Hinweis auf die Fundamentalgrundsätze der Verfassung im konkreten Fall womöglich entbehrlich, gab es andere, verdeckte Gründe für diesen Hinweis? Mehrere Erklärungen kommen in Betracht: Das BVerfG könnte seine eigene Position gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) machtbewusst bekräftigt haben. Es könnte ihm aber auch um künftige Gefahren aus dem internationalen Raum, also um Vorbeugung, gegangen sein. Vielleicht war man mit den völkerrechtlichen Mechanismen, sich von einem Vertrag oder einzelnen Verpflichtungen wieder zu lösen, nicht vertraut 21
Siehe unten C.I. Gemäß Art. 94 der Verfassung des Königreichs der Niederlande (nlVerf) vom 17.2.1983 werden innerhalb des Königreichs geltende gesetzliche Vorschriften „nicht angewandt“, wenn die Anwendung mit allgemeinverbindlichen Bestimmungen von Verträgen nicht vereinbar sind. Allgemeinverbindlich sind gemäß Art. 93 nlVerf solche Vertragsbestimmungen, die dies ihrem Inhalt nach sein können. 23 Vgl. L. Wildhaber, The Impact of Tomorrow’s International Law on the Framework of the Constitution, in: Faculté de droit et des sciences économiques de l’Université de Neuchâtel (ed.), Le droit international demain, 1974, 91 (100): „The old theory of absolute sovereignty may have fitted in with the actual conditions of prior centuries, but it is totally incompatible with the present-day interdependence and solidarity of states, peoples and individuals. …“ 24 Siehe Art. 1 und 3 der interamerikanischen Konvention von Montevideo (Convention on Rights and Duties of States) vom 26.12.1933 (L.N.T.S. No. 165, 19), die universell gültige Kriterien der Staatseigenschaft wiedergibt. 22
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oder hatte kein Vertrauen in sie. Aber vor allem gab es das Motiv, eine für den Gesetzgeber belastende, implizite Aussage des BVerfG abzuschwächen. Diese lautet: Wenn der Gesetzgeber völkerrechtliche Verträge durch nachfolgende Gesetze unterläuft, kann das BVerfG diese Gesetze in aller Regel wegen Verletzung des Verfassungsprinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit für verfassungswidrig erklären – nur dann eben nicht, wenn es sich um ein „Gesetz zur Verteidigung der Fundamentalgrundsätze der Verfassung“ handelt und der Gesetzgeber dies auch ganz klar gestellt hat. Wie real ist aber die Gefahr, nur noch durch die einkalkulierte Völkerrechtsverletzung den Verstoß gegen Fundamentalprinzipien der Verfassung abwenden zu können? Es muss sich um eine Situation handeln, in der Art. 79 Abs. 3 GG den Gesetzgeber dazu zwingt, ein „Gesetz zur Verteidigung der Fundamentalgrundsätze der Verfassung“ so präzise auf den Vertragsbruch hin zu formulieren, dass keine völkerrechtskonforme Auslegung diesen Bruch mehr ausschließen kann – und ja gerade auch nicht soll. Da die tragenden Grundsätze der Verfassung allerdings seit 1949 unverändert gelten, muss man sich fragen, warum Deutschland einen so gefährlichen völkerrechtlichen Vertrag jemals abgeschlossen hat. So betrachtet transportieren die Ausführungen des BVerfG ganz unvermeidlich auch die Botschaft mit, es sei dem deutschen Gesetzgeber zuzutrauen, erst das Vertragsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag nach Art. 59 Abs. 2 GG zu beschließen, um später dann die Fundamentalgrundsätze (!) der Verfassung per „Reparaturgesetz“ vor diesem Vertrag retten zu müssen. Eine andere Deutungsmöglichkeit eröffnet sich allerdings, wenn man miteinbezieht, dass durch völkerrechtlichen Vertrag auch internationale Organisationen mit supranationalem Charakter oder Spruchkörper mit Kompetenz zur dynamischen Vertragsauslegung gebildet werden können. Sollte das BVerfG glauben, dass diese im Laufe der Zeit entgleisen, „ausbrechende Rechtsakte“25 produzieren und zum Angriff auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie übergehen könnten, müsste es dem in der Tat vorbeugen. Eine solche Einstellung erklärt ohne Weiteres den sorgenvollen Vorbehalt des letzten Wortes. Doch wie viel Skepsis, Pessimismus klingt in solchen Passagen an: Leitend ist nicht die Vorstellung, dass hoch integrierte Wertegemeinschaften wie Europäische Gemeinschaft und Europarat jeden Vertragsstaat bestimmungsgemäß vor dem Absinken unter das vereinbarte hohe Niveau bewahren müssen, sondern umgekehrt steht die Bedrohung gerade durch diese Wertegemeinschaften im Vordergrund. Es mag kein Zufall sein, dass diese skeptische Grundeinstellung besonders in Staaten wie Deutschland vorzufinden ist, die mit Blick auf einen erst spät erreichten Standard an Rechtsstaatlichkeit, der bereits anfänglich sehr hoch war und so immer als besonders 25
BVerfGE (Anm. 1), 188.
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hoch empfunden wurde, den Mindeststandard einer größeren Staatengemeinschaft fürchten.26 Dabei hat aber gerade der Fall Görgülü gezeigt, dass auch Deutschland gelegentlich ein höheres europäisches Niveau an Grundrechtsschutz abverlangt werden muss. Denn in diesem Fall der völligen Kappung familiärer Beziehungen eines Kindes zu seinem Vater nahm das BVerfG die Sache nicht einmal zur Entscheidung an, während der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zur Verurteilung Deutschlands gelangte.27 Eine solche Konstellation lässt sich vereinzelt, im Fall Jalloh aber sogar für den Bereich des Art. 3 EMRK (unmenschliche Behandlung) nachweisen.28 Weit zahlreicher sind jedoch die Fälle, in denen das BVerfG die Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurückwies, während der EGMR eine Verletzung der EMRK feststellte.29 Sie sollten die Sichtweise ein wenig relativieren. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als habe sich in der Rechtsprechung des BVerfG und einem Großteil der rechtswissenschaftlichen Lehre eine Selbstzufriedenheit oder auch Überlegenheitshypothese etabliert, die Rechtsvergleichung vielfach meidet30 und Kritik am deutschen Grundrechtsstandard als Angriff eines gegnerischen, internationalen Lagers begreift. Je mehr die Bereitschaft aber abnimmt, einen Entwicklungsvorsprung im informierten Wettbewerb mit anderen Systemen zu sichern, umso mehr droht die dogmatische Erstarrung. Diese Gefahr erscheint umso größer, wenn man einbezieht, dass speziell die Grundrechte, 26
Es gibt gewisse Anhaltspunkte für die Annahme, dass Staaten, die z.B. bei der Einführung der Demokratie (USA, Schweiz) die Vorreiterrolle übernommen haben, besonders zurückhaltend im Hinblick auf den Beitritt zu stark integrierenden internationalen Organisationen sind. 27 EGMR, Beschwerdenr. 74969/01, § 48 – Görgülü v. Germany (2004): „The Court of Appeal’s decision rendered any form of family reunion and the establishment of any kind of further family life impossible. In this context, the Court recalls that it is in a child’s interest for its family ties to be maintained, as severing such ties means cutting a child off from its roots, which can only be justified in very exceptional circumstances (…). There is no evidence of such exceptional circumstances in the present case“. Zum Beschluss des BVerfG (Kammer) vom 31.7.2001 (Nichtannahme zur Entscheidung), EGMR, ebd., § 28. Siehe nun auch EGMR, Beschwerdenr. 22028/04, § 12 – Zaunegger (2009). 28 BVerfG (Kammer), Neue Zeitschrift für Strafrecht 2000, 96: Nichtannahme wegen Unzulässigkeit, und EGMR (Große Kammer), NJW 2006, 3117 – Jalloh; BVerfG (Kammer), 1 BvR 2257/03 vom 20.11.2003 (www.bverfg.de), und EGMR, Beschwerdenr. 3545/04, Urt. v. 28.5.2009 (http://cmiskp.echr.coe.int) – Brauer. 29 Siehe beispielhaft BVerfGE 101, 361 ff., und EGMR, NJW 2001, 2647 ff. zum Fall Caroline von Hannover sowie EGMR, Beschwerdenr. 19359/04, § 27 – M. v. Germany (2009). 30 Ausnahmen stellen Entscheidungen wie z.B. BVerfGE 117, 141 ff. (Argentinisches Botschaftskonto) dar.
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flankiert von der Verfassungsbeschwerde, von Beginn an eine identitätsbildende und -stützende Funktion für Deutschland übernommen hatten. Die seit 1949 gerade damit erreichte Vorreiterrolle hat einen so hohen Identifikationswert für Staat und Gesellschaft erlangt,31 dass neue, von außen einströmende Entwicklungen teilweise unbegreiflich heftig abgewehrt werden.32 So mag man im Vorbehalt des Bruchs völkerrechtlicher Verträge letztlich auch einen „Akt der Selbstvergewisserung“ sehen, der jene Vorbildrolle des Grundgesetzes in gleichsam ritueller Form beschwört.
C. Die Bereitschaft zum Bruch völkerrechtlicher Verträge in rechtsvergleichender Perspektive Die Aussagen des BVerfG zum verfassungsrechtlich erlaubten, ja gebotenen Vertragsbruch verlangen geradezu nach einem Blick über die Grenzen. Ist die deutsche Praxis in der Staatenwelt verbreitet, oder ist sie vielmehr „pathologisch“? Hier muss sich die Betrachtung auf einige wenige Staaten konzentrieren, vor allem auf die französische Rechtslage, die das BVerfG ausdrücklich als Kontrastmodell angesprochen hat.33
I. Frankreich Gemäß Art. 55 der Verfassung der Französischen Republik34 haben völkerrechtliche Verträge vorbehaltlich der Gegenseitigkeit einen grundsätzlich höheren Rang als innerstaatliche Gesetze. Erst 1989 zog der Conseil d’État (CE) jedoch Konsequenzen aus dieser scheinbar klaren Bestimmung: Im berühmten Fall Nicoló,35der die Vereinbarkeit des französischen Gesetzes zu den Europawahlen mit dem EG31 Grundlegend D. Sternberger, Verfassungspatriotismus (1979 und 1982), in: ders., Schriften, Bd. X, 1990, 13 ff., 17 ff. 32 Siehe insbes. die Beiträge zu den Entscheidungen des EuGH im Bereich der Altersdiskriminierung, z.B. A. Bauer, Auf „Junk“ folgt „Mangold“, – Europarecht verdrängt deutsches Arbeitsrecht, NJW 2006, 6 (12): EuGH mache aus der Richtlinie 2000/78/EG eine „explosive Mischung“, die Rechtsprechung sei „unhaltbar“. 33 BVerfG (Anm. 17). 34 Art. 55 der Verfassung der Französischen Republik (Constitution de la République Française) vom 4.10.1958 lautet: „Les traités ou accords régulièrement ratifiés ou approuvés ont, dès leur publication, une autorité supérieure à celle des lois, sous réserve, pour chaque accord ou traité, de son application par l’autre partie.“ 35 Conseil d’État, 20.10.1989, Recueil 1989, 190. Deutsche Übersetzung in: Europarecht 1990, 63.
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Vertrag betraf, prüfte der CE zum ersten Mal ein später erlassenes Gesetz anhand des vorgängigen völkerrechtlichen Vertrages. Seither gilt Art. 55 frVerf als Kompetenznorm, welche alle Gerichte ermächtigt, Gesetze nicht anzuwenden, die bestehenden völkerrechtlichen Verträgen widersprechen. Karin Oellers-Frahm hat zu Recht betont, wie bedeutend dieser Schritt für Frankreich war, wo das Gesetz als Ausdruck der volonté générale seit frühester Neuzeit als „heilig“ galt.36 Man tat ihn hier, ohne laut von seiner „Völkerrechtsfreundlichkeit“ zu sprechen. Doch gibt die französische Rechtsordnung die Völkerrechtsfreundlichkeit an dieser Stelle auch sehr viel klarer vor, als dies im deutschen Recht der Fall ist.
II. Italien Die italienische Verfassung von 1947 ist der deutschen insoweit vergleichbar, als auch hier nur die allgemeinen Regeln des Völkerrechts einfachen Gesetzen vorgehen.37 Dagegen müssen Verträge durch staatlichen Rechtsakt (Gesetz) in die eigene Rechtsordnung transformiert bzw. für innerstaatlich anwendbar erklärt werden.38 Im Zusammenhang mit einem italienischen Gesetz, das vom früheren Warschauer Abkommen zum internationalen Luftverkehr von 1929/1955 abwich, stellte sich auch der Corte Costituzionale die Frage, ob die lex posterior-Maxime diesen Konflikt angemessen lösen könnte.39 Sie bejahte das im Ergebnis,40 betonte aber auch, dass das missliche Ergebnis – Italien würde Völkerrecht verletzen – zumeist vermieden werden könne (und müsse), indem man das frühere Vertragsgesetz mit seinem spezifisch völkerrechtlichen Inhalt als lex specialis qualifiziert41 36
K. Oellers, Die Beachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen in Frankreich, in: H.-J. Cremer/T. Giegerich/D. Richter/A. Zimmermann (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts: Festschrift für Helmut Steinberger, 2002, 863 (878). 37 Siehe zur entsprechenden Auslegung des an Art. 4 WRV angelehnten Art. 10 Abs. 1 der Verfassung der Italienischen Republik (Costituzione della Repubblica Italiana) vom 27.12.1947 Corte Costituzionale, N. 48 (Sentenza 12 Giugno 1979) – Russel, Gazzetta Uffiziale n. 175 del 27 giugno 1979, abrufbar unter: http://www.cortecostituzionale.it/ giurisprudenza/pronunce/pronunce.asp (Abfrage vom 28.7.2009). 38 Dazu A. Vallone, Corte Costituzionale v. 1989 und 1993 – Warschauer Abkommen und EMRK/IPBPR, in: J. Menzel/T. Pierlings/J. Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, 2005, 228 (228–233). 39 Corte Costituzionale, N. 323 (Sentenza 18 maggio 1989) – Convenzione di Varsavia [Warschauer Abkommen], Gazzetta Uffiziale del 14 giugno 1989, abrufbar unter: http:// www.cortecostituzionale.it/giurisprudenza/pronunce/pronunce.asp (Abfrage vom 28.7.2009). 40 Siehe i. E. Vallone (Anm. 38), 229–230. 41 Dieser Ansatz wird zum Teil auch in der deutschen Literatur vertreten. Vgl. R. Bernhardt, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge (§ 174), in: J. Isensee/
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und damit – nach freilich umstrittener Auffassung42 – schon das Eingreifen der lex posterior-Maxime verhindert. Die entscheidende Wende vollzog die italienische Rechtsprechung aber erst 1993, als eine Norm des italienischen Strafprozessrechts von 1989 sich als unvereinbar mit Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK und Art. 14 Abs. 3 lit. a und f des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) erwies. Letztere Bestimmungen waren durch früheres einfaches Gesetz in die italienische Rechtsordnung übernommen worden, so dass sie grundsätzlich durch nachfolgendes Gesetzesrecht überlagert werden konnten. Nun bekannte sich die Corte Costituzionale zum neuartigen Ansatz, die lex posterior-Regel überhaupt nicht mehr zulasten von EMRK und IPBPR anzuwenden: Deren Normen stammten nämlich aus einer Quelle, die sich auf eine „atypische Kompetenz“ zurückführen lasse, weshalb sie weder der Abschaffung noch Änderung durch einfaches Gesetz zugänglich seien.43 Obwohl das Wesen der geheimnisvollen „competenza atipica“ im Dunkeln blieb, wird die Rechtsprechung inzwischen so verstanden, dass zunächst die Verfassung im Lichte des Völkerrechts (völkerrechtsfreundlich) auszulegen ist, so dass diese dann kraft höheren Rangs das spätere Gesetz im Sinne des Völkerrechts überformt.44
III. Schweiz Die „monistische“ Schweiz ist für die These von der innerstaatlichen Legitimität des Vertragsbruchs deshalb interessant, weil die Option des Gesetzgebers, bewusst von früheren Verträgen abzuweichen, hier zeitweise kultiviert wurde. Nach Art. 190 der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) von 1999 sind völkerrechtliche Verträge zwar ausdrücklich nur „für das Bundesgericht und die anderen rechts-
P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, 590 (Rn. 29); C. Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit (§ 172), in: Isensee/Kirchhof, ebd., 503/504 (Rn. 35); Geiger (Anm. 6), 161. Die beiden erstgenannten Autoren weisen darauf hin, dass es wegen des spezielleren Charakters der völkerrechtlichen Verpflichtung regelmäßig nicht zur Verdrängung durch ein nachfolgendes Gesetz kommt. 42 Eingehend E. Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior – Zur Rechtsnatur der „Konfliktlösungsregeln“, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 65 (2005), 391 (402–403 m.w.N.). Siehe auch Art. 30 WVK. 43 Corte Costituzionale Nr. 10 vom 12.1.1993, RDI 1993, 255 (261): „… perché si tratta di norme derivanti da una fonte riconducibile a una competenza atipica e, come tali, insuscettibili di abrogazione o di modificazione da parte di disposizioni di legge ordinaria“. 44 Vgl. Vallone (Anm. 38), 233 m.w.N.
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anwendenden Behörden maßgebend“.45 Doch sieht man darin keine Aussage zur Frage, ob sich völkerrechtliche Verträge auch gegenüber dem Gesetzgeber behaupten, wenn sich das spätere Gesetz nicht völkerrechtskonform interpretieren lässt. Grundsätzlich hat sich zwar der Primat des Völkerrechts gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht und wohl sogar gegenüber dem Verfassungsrecht etablieren können;46 das gilt aber nicht uneingeschränkt: Im berühmten Entscheid Schubert aus dem Jahre 1973 stellte das Bundesgericht klar, dass ein späteres Gesetz ausnahmsweise maßgebend bleibe, wenn der Gesetzgeber „bewusst“ (consapevole), also in Kenntnis der Unvereinbarkeit mit einem die Schweiz bindenden völkerrechtlichen Vertrag, gehandelt habe.47 Die Prüfung des Gesetzes anhand des Staatsvertrags habe dann zu unterbleiben, weil es dem Bundesgericht unter solchen Umständen nicht anstehe, den demokratisch legitimierten Gesetzgeber zu beschränken. Diese Schubert-Praxis, deren Aufnahme in die Verfassung noch in den späten neunziger Jahren erwogen worden war, geriet unter heftiger Kritik ins Wanken.48 So soll sich der Wille des Gesetzgebers, bewusst von einem Staatsvertrag abzuweichen, jedenfalls nicht allein aus den Gesetzesmaterialien ergeben können.49 1999 erklärte das Bundesgericht dann die Schubert-Praxis für schlechterdings unanwendbar, soweit sie zur bewussten Missachtung der EMRK führen würde.50 Sie galt nie in Bezug auf zwingendes Völkerrecht. Und heute stellt sich sogar die Frage, ob das Bundesgericht sie überhaupt noch aufgreifen bzw. die Schweizerische Bundesversammlung eine explizite Absage an das Völkerrecht à la „Schubert“ politisch riskieren würde.
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Art. 190 BV (Massgebendes Recht) lautet: „Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.“ Im Unterschied dazu Art. 113 Abs. 3 BV a.F.: „In allen diesen Fällen sind jedoch die von der Bundesversammlung erlassenen Gesetze und allgemeinverbindlichen Beschlüsse sowie die von ihr genehmigten Staatsverträge für das Bundesgericht massgebend.“ 46 Eingehend zur Verfassungspraxis M. Kayser, Grundrechte als Schranken der schweizerischen Verfassunggebung, 2001, 140 ff. 47 Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts (BGE) 99 Ib 39 (44 f.); im Internet abrufbar unter: http://www.bger.ch. Gegenstand des italienisch gefassten Entscheids war der Niederlassungsvertrag zwischen der Schweiz, Österreich und Ungarn von 1875: Während dieser die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen der genannten Staaten beim Grundstückserwerb vorsah, führte ein Bundesbeschluss 1961 die Bewilligungspflicht für Österreicher beim Grundstückserwerb in der Schweiz ein. 48 Zum Entwurf der Verfassungskommission des Nationalrats von 1997 und zur Kritik hieran Kayser (Anm. 46), 143/144 mit Anm. 46. 49 BGE 119 V 171 (177) nimmt Bezug auf die entsprechende Literaturmeinung, ohne dass sich das Gericht selbst festlegt. 50 BGE 125 II 417 (424 f.); anders noch 125 III 209 (215 f.).
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Aufschlussreich sind die Erwägungen des Bundesgerichts im grundlegenden Urteil von 1999, das die Einziehung von Propagandamaterial der PKK betraf.51 Der entsprechende Beschluss der Schweizerischen Regierung durfte nach damaligem Landesrecht keiner gerichtlichen Überprüfung unterworfen werden, während Art. 6 Ziff. 1 EMRK just dieses von der Schweiz verlangte. Das nationale Gesetz war also keiner völkerrechtskonformen Auslegung im Sinne des Art. 6 EMRK zugänglich. In dieser Situation argumentierte das Gericht: 1. Es ist ausgeschlossen, zwei sich widersprechende Normen – seien sie bundesgesetzlicher oder staatsvertraglicher Natur – zugleich anzuwenden. 2. Der Konflikt ist unter Rückgriff auf die allgemein anerkannten Grundsätze des Völkerrechts zu lösen, nämlich den Grundsatz „pacta sunt servanda“ (Art. 26 Wiener Vertragsrechtskonvention [VRK]) und den Grundsatz „keine Berufung auf abweichendes innerstaatliches Recht“ (Art. 27 VRK). 3. Diese Grundsätze sind als Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrecht in der schweizerischen Rechtsordnung unmittelbar anwendbar und für alle Staatsorgane verbindlich. 4. Aus diesen Grundsätzen ergibt sich, dass im Konfliktfall das Völkerrecht dem Landesrecht prinzipiell vorgeht, so dass eine völkerrechtswidrige Norm des Landesrechts im Einzelfall nicht angewendet werden darf. 5. Das gilt zumindest dann, wenn die völkerrechtliche Norm dem Schutz der Menschenrechte dient. Das Bundesgericht erklärt uns nicht, warum „pacta sunt servanda“ gerade menschenrechtliche Verträge wie die EMRK privilegieren soll. Hier interessiert aber vor allem die Frage, ob nicht auch das BVerfG den Konflikt mithilfe völkerrechtlicher Grundsätze lösen müsste. Es hat in der Tat auch in Deutschland Versuche gegeben, „pacta sunt servanda“ als allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts so anzuwenden, dass auch der einzelne völkerrechtliche Vertrag kraft Art. 25 S. 2 GG Übergesetzesrang erhält.52 Das überzeugt aber nicht, weil nur die Kollisionsregel selbst, also der Grundsatz „pacta sunt servanda“ durch die Verfassung einen solchen Rang erhält.53 Den Grundsatz stellt die deutsche Praxis, ausnahmsweise den Vertragsbruch innerstaatlich zu erlauben, aber nicht als solchen infrage. Wäre der unbedingte Vorrang nachfolgender Gesetze dagegen die Regel, wäre eine 51
BGE 125 II 417 (424 f.). Siehe etwa W. Grewe, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL 12 (1954), 129 (149, 176); zu dieser Frage auch BVerfGE 117, 141 (158 ff.) – Argentinisches Botschaftskonto. 53 Ebenso im Ergebnis R. Pfeffer, Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, 2009, 170 ff. (m.w.N. zum Diskussionsstand). 52
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Sperrwirkung des Art. 25 GG ernsthaft zu erwägen. Auch könnte man unter Hinweis auf Art. 1 Abs. 2 GG in Deutschland leichter als in der Schweiz begründen, warum man speziell menschenrechtliche Verträge nicht bricht, wenn sie zugleich Völkergewohnheitsrecht widerspiegeln. Doch kann die Prämisse des Schweizerischen Bundesgerichts, es könne nun einmal nicht zwei sich widersprechende Normen, das staatliche Gesetz und Art. 6 EMRK, zugleich anwenden, nicht auf Deutschland übertragen werden. Denn sie steht für ein monistisches Verständnis des Verhältnisses von Landesrecht und Völkerrecht. Dieses teilt die deutsche Rechtsordnung im Bereich der völkerrechtlichen Verträge gerade nicht mit der Schweiz. Deshalb stellt sich dem BVerfG hier auch nicht die Frage, wie es mit zwei sich unauflösbar widersprechenden Normen verfahren soll, sondern nur, welche von beiden im Kollisionsfall maßgeblich ist.
IV. USA Aus den USA stammen einige der Grundgedanken zum Thema, so dass diese Rechtsordnung wichtige Hinweise auf die Entstehungsgeschichte gibt. Völkerrechtliche Verträge werden hier durch den Präsidenten mit 2/3-Mehrheit des Senats (Art. 2, Section 2, Subsection 2 der US-Verfassung von 1787) angenommen. Das bedeutet, dass das Repräsentantenhaus in aller Regel – außerhalb des Anwendungsbereichs der sogenannten „congressional-executive agreements“54 – zugunsten des Senats entmachtet ist. Dem entsprechend brisant ist auch die Frage, ob der Kongress (Senat und Repräsentantenhaus) unerwünschte völkerrechtliche Verträge durch nachfolgende Gesetzgebung unterlaufen kann. Hieran ist vor allem das Repräsentantenhaus interessiert, das nicht über den Abschluss des völkerrechtlichen Vertrags mitbestimmen konnte, aber auch ein Senat, in dem sich zwischenzeitig die Mehrheitsverhältnisse geändert haben. Nach der sogenannten „Supremacy Clause“ (Article 6, Section 2) der USVerfassung haben völkerrechtliche Verträge der USA Vorrang vor dem Recht der Bundesstaaten. Denn sie zählen wie Bundesgesetze zum „supreme law of the land“. Die Supremacy Clause gibt aber keine Auskunft darüber, welches Rangverhältnis zwischen verschiedenartigen „supreme laws“, also völkerrechtlichen Verträgen und Bundesgesetzen, besteht. Demnach gilt auch hier grundsätzlich die „last in time rule“, also die lex posterior-Maxime. Bis heute gültige Maßstäbe hatte bereits die Entscheidung des U.S. Supreme Court aus dem Jahre 1804 zum Streit um die Beschlagnahme des Schooners „Charming Betsy“ gesetzt. In diesem Fall führte der U.S. Supreme Court (Chief 54
Dabei handelt es sich vor allem um Handelsverträge.
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Justice Marshall) wohl erstmals überhaupt den Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung in das innerstaatliche Recht ein: [A]n act of Congress ought never to be construed to violate the law of nations if any other possible construction remains …55
Tragend für diese Entscheidung war die auch von Thomas Jefferson geteilte Auffassung, dass die globale Legitimität und Akzeptanz einer aufstrebenden Handelsnation wie der USA wesentlich davon abhängen, dass sich deren eigenes Recht im Rahmen des Völkerrechts hält.56 Dies stand wiederum im Kontrast zu George Washingtons Sorge vor den „insidious wiles of foreign influence“, welche Menschen dazu brächten, ihre ureigensten Interessen an fremde Mächte auszuliefern.57 Schon Charming Betsy lässt deshalb erkennen, dass die völkerrechtsfreundliche Auslegung Grenzen hat; denn nur wenn eine andere Auslegungsmöglichkeit bleibt, muss der Völkerrechtsverstoß auch vermieden werden. Die spannende Frage lautet hier: Wann bleibt keine andere Möglichkeit? Sie stellt sich dem U.S. Supreme Court, der den Kongress nach wie vor für ermächtigt hält, Gesetze zu erlassen, die mit bestehenden völkerrechtlichen Verträgen unvereinbar sind. So formulierte er z.B. in McCulloch v. Sociedad Nacional de Marineros de Honduras (1963) unter Bekräftigung von Charming Betsy: We therefore conclude, as we did in Benz,58 that for us to sanction the exercise of local sovereignty under such conditions in this „delicate field of international relations there must be present the affirmative intention of the Congress clearly expressed“.59
Der Kongress, nicht der Supreme Court, soll also die Macht haben, eine so bedeutende „Policy“-Entscheidung wie die über den Bruch eines völkerrechtlichen Vertrags zu treffen. Dagegen beschränke sich die Rolle des Supreme Court darauf, eine klare Intention des Kongresses zum Vertragsbruch („a clear statutory intent“) 55
U.S. Supreme Court, Murray v. The Schooner Charming Betsy, 6 U.S. (2 Cranch) 64, 118 (1804). 56 Eingehend R. P. Alford, Foreign Relations as a Matter of Interpretation: The Use and Abuse of Charming Betsy, Ohio State Journal 67 (2006), 1339 (1340, 1352). Siehe auch H. A. Blackmun, The Supreme Court and the Law of Nations, Yale Law Journal 104 (1994), 39 (49): „… is appropriate to remind ourselves that the United States is part of the global community … and that courts should construe our statutes, our treaties, and our Constitution, where possible, consistently with the ‚customs and usages of civilized nations‘“. 57 Washington’s Farewell Address (Sept. 17, 1796), A Compilation of the Messages and Papers of the Presidents, Vol. I, Part 1, 1897, 205, 214, auch abrufbar unter: http://www. gutenberg.org/dirs/1/1/3/1/11314/11314.txt (zuletzt besucht am 19.11.2009). 58 U.S. Supreme Court, Benz v. Compania Naviera Hidalgo, S.A., 353 U.S. 112 (1957). 59 U.S. Supreme Court, McCulloch v. Sociedad Nacional de Marineros de Honduras, 372 U.S. 10, 21–22 (1963). Siehe zu den späteren Entscheidungen statt vieler U.S. Supreme Court, Weinberger v. Rossi, 456 U.S. 25, 32 (1982).
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festzustellen – wenn eine völkerrechtskonforme Auslegung überhaupt in Betracht kommt. So meint der Supreme Court einen Weg gefunden zu haben, welcher weder die Souveränität des Landes noch die Macht des Kongresses unzulässig beschränkt. Dieser Weg setzt auf das Demokratieprinzip und akzentuiert zugleich die Gewaltentrennung.60 Kritisiert wird diese Rechtsprechung dennoch, soweit spätere Gesetze multilaterale völkerrechtliche Verträge, insbesondere Menschenrechtskonventionen, das Welthandelssystem und ähnliche bedeutsame Abkommen von allgemeiner Geltung aushebeln. In diesen Kollisionsfällen werde nämlich nicht bloß der völkerrechtliche Vertrag, sondern auch der „internationale Konsens aufgekündigt, welchen Präsident und Senat mithalfen zu erreichen“.61
D. Reflexion Dass sich der staatliche Gesetzgeber über bestehende völkervertragliche Verpflichtungen hinwegsetzen kann, stellt in der Staatenpraxis nichts Außergewöhnliches dar. Eine solche Möglichkeit räumen sowohl „monistische“ (z.B. USA, Schweiz) als auch „dualistische“ (z.B. Deutschland, Italien) Systeme ein. Sie ist praktisch immer mit der Vermutung gekoppelt, dass der Gesetzgeber sich grundsätzlich völkerrechtskonform verhalten will. Das zwingt den Gesetzgeber zum unangenehm klaren Bekenntnis des Völkerrechtsbruchs und die Rechtsprechung zur äußerst völkerrechtsfreundlichen Auslegung der Gesetze. In der Rechtspraxis der hier berücksichtigten Staaten lassen sich nur wenige Fälle finden, in denen sich der Gesetzgeber tatsächlich klar von einer völkervertraglichen Bindung abgewendet und die Rechtsprechung dieses gebilligt hat. Ausnahmen stellen der bekannte Entscheid Schubert62 des Schweizerischen Bundesgerichts und vereinzelte Judikate z.B. unterinstanzlicher deutscher Gerichte63
60 Eingehend C. A. Bradley, The Charming Betsy Canon and Separation of Powers: Rethinking the Interpretive Role of International Law, Georgetown Law Journal 86 (1998), 479 ff. 61 L. Henkin, Foreign Affairs and the U.S. Constitution, 2nd ed. 1996, 210–211: „Particularly as regards multilateral treaties of general applicability which establish universal standards – on human rights, international trade or finance, the law of the sea, protection of intellectual property (…) – inconsistent legislation by Congress not only violates international obligations but ruptures international consensus which the President-and-Senate helped achieve.“ 62 s.o. C.III. 63 VG Karlsruhe, 10 K 891/03. Urt. v. 29.11.2004. Dazu H.-J. Cremer, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2006, 341 ff.
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dar. Doch hat, wie gezeigt wurde, auch schon die bloße Möglichkeit zur Abweichung ihre besondere Bedeutung. Andererseits gibt es Anzeichen für eine Eindämmung dieser Option, nämlich eine noch schwache, aber systemübergreifende Tendenz, bestimmte Arten völkerrechtlicher Verträge, vor allem die großen multilateralen Menschenrechtsverträge und Welthandelsverträge, für unantastbar durch den einfachen Gesetzgeber zu erklären.64 Diese Form der Problemlösung schlägt sich bislang zwar nur in der Rechtsprechung weniger Staaten65 und in der Literatur66 nieder; dabei wird die Superiorität z.B. menschenrechtlicher Verträge gegenüber gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen auch weniger begründet als behauptet. Allein das Aufkommen dieser Unterscheidung belegt jedoch ein Bedürfnis, neuartige Kategorien der Normenhierarchie67 im Völkerrecht zugunsten bestimmter völkerrechtlicher Verträge zu etablieren, deren Verletzung durch innerstaatliche Rechtsakte unbedingt verhindert werden soll. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Vertragsarten setzt dabei auf der völkerrechtlichen Ebene an, zielt aber auf den innerstaatlichen Bereich und schlägt bestimmungsgemäß auf diesen durch. Es handelt sich um Verträge, die entweder mit einem internationalen Beschwerdemechanismus verbunden sind (z.B. EMRK, WTO), oder um Verträge, die aus Gründen der Gegenseitigkeit im eigenen Interesse peinlichst genau eingehalten werden müssen. Weicht der Gesetzgeber z.B. von Bestimmungen der EMRK ab, muss er damit rechnen, dass insbesondere Individuen erfolgreich als Hüter des Völkervertragsrechts agieren werden (Art. 34 EMRK), so dass jede Form der Abweichung sich als von vornherein unvernünftig erweist. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel anzunehmen, dass immer mehr Staaten menschenrechtliche Verträge auch mit Wirkung für ihre innerstaatliche Rechtsordnung für grundsätzlich unantastbar halten, ihnen aus diesem Bedürfnis heraus einen erhöhten Rang innerhalb des Völkerrechts zuordnen werden und so in der Tat eine Art Grundrechteteil künftigen Weltverfassungsrechts68 entstehen könnte.
64 Schweizerisches BG (Anm. 50); Corte Costituzionale (Anm. 43), Teile der USamerikanischen Literatur (Anm. 61). Zur deutschen Diskussion über einen besonderen Rang der EMRK T. Giegerich, Kap. 2: Wirkung und Rang der EMRK, in: R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2006, 61 ff.; Pfeffer (Anm. 53), 175 ff.; jeweils m.w.N. 65 s.o. C.II. und III. m.w.N. 66 Siehe Anm. 61. 67 Bisher beschränkt sich die Normenhierarchie im Völkerrecht im Wesentlichen auf ius cogens (Art. 53, 64 WVK) und Art. 103 der UNO-Charta. 68 Speziell zur EMRK als völkerrechtlichem „Vertrag mit Verfassungselementen“: C. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 59 (1999), 961 ff., insbes. 971.
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Dagmar Richter
In Deutschland hat das BVerfG die Eindämmung der lex posterior-Regel zwar auch gerade anhand der EMRK entwickelt, da diese als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten dienen soll.69 Auch benennt das BVerfG ausdrücklich „diese verfassungsrechtliche Bedeutung eines völkerrechtlichen Vertrages, der auf regionalen Menschenrechtsschutz zielt“.70 Eine exklusive Stellung der EMRK im Verhältnis zu allen anderen völkerrechtlichen Verträgen lässt sich daraus allein aber selbst unter Rückgriff auf Art. 1 Abs. 2 GG nicht ableiten.71 Im Gegenteil nimmt das BVerfG auch insoweit eine ganz nach innen gerichtete Perspektive ein, wenn es ausführt, dass das Verhältnis zwischen Völker- und Landesrecht aus der Sicht des nationalen Rechts nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden könne, da es sich um zwei unterschiedliche Rechtskreise handele.72 Diese Begründung überzeugt allerdings nicht. Denn tatsächlich ist auch der Grundsatz des völkerrechtsfreundlichen Verhaltens Bestandteil des innerstaatlichen Verfassungsrechts. In dieser Eigenschaft geht er mit materiellen Rechtspflichten (insbesondere Vermeidung und Behebung von Verstößen gegen das Völkerrecht, Achtung fremder Rechtsordnungen) einher, deren Wirkung weit über die einer bloßen Methoden- bzw. Kollisionsregel hinausreicht.73 Es trifft zu, dass sich der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit nur in den Grenzen der deutschen Verfassungsordnung entfaltet; doch was völkerrechtsfreundlich, -skeptisch oder -unfreundlich ist, kann uns kraft Natur der Sache eben nur das Völkerrecht sagen – so wie auch nur dem Völkerrecht entnommen werden kann, welche Bedeutung eine Norm des Völkerrechts hat.74 Schon deshalb greift jede rein innerstaatliche Perspektive zu kurz. Unbestritten ist auch, dass die Zusage Deutschlands an die Weltgemeinschaft, Verträge zu halten (pacta sunt servanda), dem Willen des Verfassungsgebers entsprechend gerade nicht durch einen automatischen Vorrang völkerrechtlicher Verträge eingelöst werden soll. Doch ändert dies nichts daran, dass der Verfas69
Std. Rspr.: BVerfGE 64, 135 (157); 74, 358 (370); 83, 119 (128); BVerfG (Kammer), NJW 2001, 2245 (2246). 70 BVerfGE 111, 307 (317) – Görgülü. 71 Siehe A. Proelß, Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG, in: H. Rensen/St. Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, 553 (570, 572); Pfeffer (Anm. 53), 175 ff. 72 BVerfGE 111, 307 (318) – Görgülü. 73 So auch Schorkopf (Anm. 2), m.w.N.; Röben (Anm. 7), 207, spricht zutreffend von einem „Entscheidungsprinzip“; zurückhaltender Proelß (Anm. 71). 74 Eingehend dazu D. Richter, Does International Jurisprudence Matter in Germany? – The Federal Constitutional Court’s New Doctrine of „Factual Precedent“, German Yearbook of International Law 49 (2006), 51 (71–73).
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sungsgrundsatz des völkerrechtsfreundlichen Verhaltens, der gerade auch die Einhaltung bindender Verträge verlangt, seinerseits Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) ist und somit auch seitens des Gesetzgebers nicht ignoriert werden darf. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat in seiner Görgülü-Entscheidung verdeutlicht, dass die Nichtbeachtung von Völkervertragsrecht überhaupt nur in Betracht kommt, wenn sie erforderlich ist, um einen Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden.75 Man könnte das sogar so verstehen, als ob sich in allen Normalfällen, die sich noch außerhalb der tragenden Grundsätze bzw. des Art. 79 Abs. 3 GG bewegen, völkervertragliche Verträge automatisch (!) gegenüber nachfolgendem Gesetzesrecht behaupten sollen. Doch erscheint zurzeit noch unklar, ob das BVerfG solch weitreichende Konsequenzen wirklich ziehen wird. Die Lösung kann nicht darin bestehen, irgendeinen Automatismus anzuerkennen, und es geht auch nicht darum, „die unbedingte Affirmation überstaatlichen Rechts“76 zu predigen, sondern darum, die anerkannten Regeln verfassungsrechtlicher Dogmatik konsequent auf das Verfassungsprinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit anzuwenden. Das heißt, dass dieses Prinzip nur durch gleichrangige (kollidierende) Verfassungsgüter zurückgedrängt werden kann, denen zudem im Einzelfall das größere Gewicht zukommen muss. Diese Anforderungen erfüllt die bloße Entscheidung des einfachen Gesetzgebers, einen Vertrag durch nachfolgendes Gesetz auszuhebeln, aber selbst dann nicht, wenn sie unausweichlich klar ist. Es folgt aus der Verfassungsentscheidung gegen den automatischen Vorrang völkerrechtlicher Verträge nämlich nicht, dass der Gesetzgeber kraft offen erklärten Gutdünkens entscheiden müsste bzw. dürfte, ob er einen bindenden Vertrag durch nachfolgendes Gesetz bricht. Die Konsequenz dieser Überlegung ist, dass einem solchen Gesetz die Anerkennung dann versagt werden muss,77 wenn im konkreten Fall dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit nach Abwägung aller Umstände Vorrang vor der Bindung aller Staatsgewalt an ein späteres Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. lex posterior) einzuräumen ist. Dabei kommt der Einhaltung des völkerrechtlichen Vertrages (in Gestalt des früheren Vertragsgesetzes) das größere Gewicht zu, 75
Anm. 20 mit Originalzitat im Haupttext. Schorkopf (Anm. 2). 77 So unter Hinweis auf das nach außen gegebene Wort K. Vogel, Wortbruch im Verfassungsrecht, Juristenzeitung 1997, 161 (166 f.); ders., Keine Bindung an völkerrechtswidrige Gesetze im „offenen Verfassungsstaat“, in: A. Blankenagel/H. Schulze-Fielitz/I. Pernice (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, Festschrift für Peter Häberle, 2004, 481 (499). Siehe auch F. Becker, Völkerrechtliche Verträge und parlamentarische Gesetzgebungskompetenz, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2005, 289 (291), wonach der Gesetzgeber gehindert sei, eine vertragswidrige lex posterior zu erlassen. 76
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wenn Deutschland den Völkerrechtsbruch mit völkerrechtlichen Mitteln (z.B. durch Vorbehalt, interpretative Erklärung, Rücktritt, Kündigung oder Neuverhandlung) hätte vermeiden können. Denn die vermeidbare Völkerrechtsverletzung kann niemals Vorrang in der Güterabwägung genießen. Unter diesen Umständen wird die Gesetzesgeltung und -bindung hinsichtlich des neuen Gesetzes kraft des Verfassungsgrundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit aufgehoben und zugleich hinsichtlich des früheren Vertragsgesetzes gefestigt, indem die Anwendbarkeit der lex posterior-Regel zulasten des Letzteren ausgeschlossen wird.78 Erbringt die Abwägung dieses Ergebnis, muss das spätere Gesetz wegen Verstoßes gegen die Verfassungspflicht zur Völkerrechtsfreundlichkeit für verfassungswidrig gehalten und gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vorgelegt werden. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die dualistische Konstruktion des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht setzt nicht „notwendig die Existenz einer Differenz zwischen beiden Ordnungen voraus“,79 zumindest keine inhaltliche Differenz. Vielmehr gebietet der Grundsatz des völkerrechtsfreundlichen Verhaltens auch dem dualistischen System, das Vertragsgesetze schafft (Art. 59 Abs. 2 GG), eine völkerrechtliche Lösung: Er verpflichtet die Staatsorgane, sich primär nach den Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention bzw. des allgemeinen Völkerrechts von unzuträglichen Verträgen zu lösen bzw. sich Abweichungen von vornherein durch Vorbehalte offen zu halten anstatt das vertraglich gegebene Wort ohne zwingende Notwendigkeit „bewusst und gewollt“ durch nachfolgende Gesetzgebung zu brechen. Darin liegt die wahre Völkerrechtsfreundlichkeit.
78
Demgegenüber gelangt Becker (Anm. 77), 291, zu dem Schluss, dass der deutsche Gesetzgeber durch Eingehen der völkerrechtlichen Verpflichtung partiell über seine Gesetzgebungshoheit verfügt habe; seine Bindung sei „in der deutschen Rechtsordnung, in Art. 59 II 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit“ begründet. Damit würde allerdings in jedem Vertragsabschluss eine potentielle Übertragung von Hoheitsrechten (Art. 23, 24 GG ) liegen. 79 So aber Schorkopf (Anm. 2).
Die verfassungsrechtliche Berücksichtigungspflicht im Lichte des respectful consideration-Erfordernisses des U.S. Supreme Court Von Alexander Proelß
Als „neuer Eichpunkt für die Bedeutung des Völkerrechts in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ (Schorkopf) hat der Görgülü-Beschluss in erheblichem Maße Kritik erfahren.1 Unklarheiten bestanden und bestehen insbesondere im Hinblick auf die normative Grundlage, Reichweite und Konsequenzen der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) postulierten2 verfassungsunmittelbaren Pflicht der deutschen staatlichen Organe, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auch über den konkreten Streitgegenstand hinaus zu berücksichtigen.3 Die folgenden Ausführungen unternehmen den Versuch einer rechtsvergleichenden Annäherung an diese – für das Verständnis des offenen Verfassungsstaats durchaus zentrale – Pflicht. Der bereits in den Beiträgen von Frank Schorkopf und Dagmar Richter diskutierte Vorwurf der in der Rechtsprechung des BVerfG angeblich zum Ausdruck kommenden Völkerrechtsskepsis soll so einer kritischen (freilich nur punktuellen) Analyse unterzogen werden. Für eine Fokussierung auf die Rechtsprechung des Supreme Court of the United States of America (U.S. Supreme Court) spricht dabei, dass das BVerfG in seinem Beschluss zum Wiener Konsularrechtsübereinkommen, in dem es die Berücksichtigungspflicht auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des IGH anerkannte, ausdrücklich auf die Entscheidung im Fall Sanchez-Llamas v. Oregon Bezug nahm.4 1
Vgl. nur J. A. Frowein, Die traurigen Missverständnisse. BVerfG und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, in: K. Dicke u.a. (Hrsg.), Weltinnenrecht, Liber amicorum J. Delbrück, 2005, 279 ff. 2 BVerfGE 111, 307 (324, 329). 3 Dazu A. Proelß, Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG, in: H. Rensen/S. Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, 553 (564 ff.). 4 Die einschlägige Passage wurde im Entscheidungsabdruck in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) 2007 (499 ff.) weggelassen; siehe http://www.bundesverfassungs
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Alexander Proelß
Nach dieser Entscheidung ist den Urteilen des IGH in der nationalen amerikanischen Rechtsordnung „respectful consideration“ entgegenzubringen.5 In seinem Sondervotum hatte Justice Breyer auf die seinerzeit mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 7. November 2001 hingewiesen.6 Insofern lässt der im konkreten Zusammenhang zu konstatierende deutsch-amerikanische „transnational discourse of courts“7 eine Analyse des respectful consideration-Erfordernisses mit Blick auf die im vorliegendem Band (auch) thematisierte Rechtsprechung des BVerfG als besonders lohnenswert erscheinen. Eine nähere Befassung mit der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court erscheint ferner deshalb geradezu geboten, weil die Vorbildfunktion des Gerichtshofs für die Schaffung des BVerfG nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – ungeachtet der eingeschränkten Verfügbarkeit der Protokolle des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege des Parlamentarischen Rates – letztlich außer Zweifel steht.8 Von Bedeutung ist zudem, dass gemäß der sog. Supremacy Clause des Art. VI (2) der Constitution of the United States (U.S. Constitution) all Treaties made, or which shall be made, under the Authority of the United States, shall be the supreme Law of the Land; and the Judges in every State shall be bound thereby; any Thing in the Constitution or Laws of any State to the Contrary notwithstanding.
Hiernach gelten völkerrechtliche Verträge, die von den zuständigen Organen der USA geschlossen werden, innerstaatlich wie in der Bundesrepublik Deutschland
gericht.de/entscheidungen/rk20060919_2bvr211501.html, Rn. 19 f. Kritisch zu der Entscheidung D. Richter, Does International Jurisprudence Matter in Germany? The Federal Constitutional Court´s New Doctrine of „Factual Precedent“, German Yearbook of International Law 49 (2006), 51 ff. 5 Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S.Ct. 2669, 2683 (2006); zu der Entscheidung etwa M. J. Larson, Calling All Consuls: U.S. Supreme Court Divergence from the International Court of Justice and the Shortcomings of Sanchez-Llamas v. Oregon, Emory International Law Review 22 (2008), 317 ff. 6 Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S.Ct. 2669, 2697, 2708 (2006) (J. Breyer, dissenting). 7 J. Gogolin, Avena and Sanchez-Llamas Come to Germany – The German Constitutional Court Upholds Rights under the Vienna Convention on Consular Relations, German Law Journal (GLJ) 8 (2007), 261 (276). 8 Vgl. nur H. Wilms, Die Vorbildfunktion des United States Supreme Court für das BVerfG, NJW 1999, 1527 ff.; M. Kau, United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht, 2007, passim; zu Unterschieden bezüglich der gerichtlichen Aufgaben siehe den Statusvergleich bei W. Graf Vitzthum, Annahme nach Ermessen bei Verfassungsbeschwerden?, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 53 (2005), 319 (334 ff.).
Berücksichtigungspflicht und respectful consideration-Erfordernis
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grundsätzlich im Range eines einfachen Bundesgesetzes.9 In der Normenhierarchie stehen sie über dem Recht der Einzelstaaten. Unmittelbar an die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und die ihr gewidmete Rechtsprechung des BVerfG erinnert schließlich die auf eine Entscheidung des U.S. Supreme Court zurückgehende Charming Betsy-Doktrin, der zufolge nationale Gesetze nach Möglichkeit so auszulegen sind, dass Verletzungen der völkerrechtlichen Bindungen der USA vermieden werden.10 Die in der Folgeentscheidung Cook v. United States getroffene Feststellung, dass „[a] treaty will not be deemed to have been abrogated or modified by a later statute, unless such purpose on the part of Congress has been clearly expressed“,11 erscheint in nahezu wortlautidentischer Form, wenn auch ohne ausdrückliche Bezugnahme, in dem Satz des BVerfG, wonach „nicht anzunehmen [ist], dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will“.12
A. Die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zur innerstaatlichen Wirkung völkerrechtlicher Verträge Die jüngere Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zur innerstaatlichen Wirkung völkerrechtlicher Verträge hat manchen dazu veranlasst, über eine Abkehr der Vereinigten Staaten von der internationalen Gemeinschaft zu spekulieren.13 Im Vordergrund stand zuletzt vor allem das Urteil vom 25. März 2008 in Sachen José Ernesto Medellín, Petitioner v. Texas, in welchem der Gerichtshof sich mit der Frage der Bindungswirkung eines gegen die Vereinigten Staaten gerichteten IGHUrteils in der innerstaatlichen Rechtsordnung auseinandersetzen musste. Der Kläger Medellín gehörte zu den 51 mexikanischen Staatsangehörigen, hinsichtlich derer der IGH in seiner Avena-Entscheidung eine Verletzung von Art. 36 Abs. 1 lit. b des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen (WÜK)14 festgestellt
9
Siehe nur Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S.Ct. 2669, 2680 (2006); vgl. auch Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States, vol. 1, 1987, § 111, Reporters’ Note 2. 10 Murray v. Schooner Charming Betsy, 6 U.S. (2 Cranch) 64, 118 (1804). Siehe dazu auch den Beitrag von D. Richter in diesem Tagungsband. 11 Cook v. United States, 288 U.S. 102, 120 (1933). 12 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370). 13 N. Petersen, Abkehr von der internationalen Gemeinschaft? Preprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods, 2009/5. 14 BGBl. 1969 II, 1587 ff.
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hatte.15 Er argumentierte u.a., dass das Urteil des IGH über die Supremacy Clause des Art. VI (2) U.S. Constitution die nationalen amerikanischen Gerichte und Behörden binde. Die Parallelen zur innerstaatlichen Bindungswirkung der gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Entscheidungen internationaler Gerichte gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG liegen auf der Hand. In seinem Urteil stellte der U.S. Supreme Court zunächst fest, dass [n]o one disputes that the Avena decision – a decision that flows from the treaties through which the United States submitted to ICJ jurisdiction with respect to Vienna Convention disputes – constitutes an international law obligation on the part of the United States. But not all international law obligations automatically constitute binding federal law enforceable in United States courts. The question we confront here is whether the Avena judgment has automatic domestic legal effect such that the judgment of its own force applies in state and federal courts.16
Die Antwort auf die insofern entscheidende Frage nach der innerstaatlichen Bindungswirkung machte der Gerichtshof davon abhängig, ob das IGH-Urteil, vermittelt über die entsprechenden Vorgaben der UN-Charta, self executing, d.h. unmittelbar anwendbar, sei: This Court has long recognized the distinction between treaties that automatically have effect as domestic law, and those that – while they constitute international law commitments – do not by themselves function as binding federal law. […] [W]hile treaties ‚may comprise international commitments […] they are not domestic law unless Congress has either enacted implementing statutes or the treaty itself conveys an intention that it be ‚self-executing‘ and is ratified on these terms‘.17
Nur wenn ICJ judgments were […] regarded as automatically enforceable domestic law, they would be immediately and directly binding on state and federal courts pursuant to the Supremacy Clause.18
Letztlich lehnte der U.S. Supreme Court die unmittelbare Anwendbarkeit des IGH-Urteils unter Hinweis auf den Wortlaut von Art. 94 Abs. 1 UN-Charta und die von Abs. 2 der Norm vorgesehene Reaktion auf die Nichtbefolgung eines IGHUrteils ab.19 Aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung folge die vorrangige Kompetenz der Exekutive und Legislative, darüber zu befinden, wie ein nicht unmittelbar
15 Case concerning Avena and other Mexican Nationals (Mexico v. USA), ICJ Reports 2004, 12, 53 f. 16 José Ernesto Medellín, Petitioner v. Texas, 128 S.Ct. 1346, 1356 (2008), Hervorhebungen im Original. 17 Ebd. 18 Ebd., 1360. 19 Ebd., 1358 ff.
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anwendbarer Vertrag in innerstaatliches Recht umgesetzt werden solle.20 Die gegenteilige Ansicht, die Richter Breyer in seiner Dissenting Opinion vertrat, would assign to the courts – not the political branches – the primary role in deciding when and how international agreements will be enforced. To read a treaty so that it sometimes has the effect of domestic law and sometimes does not is tantamount to vesting with the judiciary the power not only to interpret but also to create the law.21
Insofern drückt die Herangehensweise des U.S. Supreme Court ein restriktives Verständnis der funktionell-rechtlichen Grenzen der eigenen Gerichtsbarkeit aus. Es überrascht nicht, dass das Medellín-Urteil im wissenschaftlichen Schrifttum ganz überwiegend, gerade auch seitens amerikanischer Juristen, für seine gegenüber dem Völkerrecht zurückhaltende Grundhaltung kritisiert wurde.22 Im vorliegenden Kontext interessiert freilich allein der Grund für die Ablehnung der innerstaatlichen Bindungswirkung des IGH-Urteils. Diesbezüglich machte der U.S. Supreme Court, ohne dies ausdrücklich festzustellen, offenbar die Anwendung der Supremacy Clause des Art. VI (2) U.S. Constitution von der unmittelbaren Anwendbarkeit der in Rede stehenden völkervertraglichen Norm abhängig. Dabei konnte er sich auf einen Präzedenzfall aus dem Jahre 1829 berufen,23 in dem der Gerichtshof festgestellt hatte, dass die amerikanische Verfassung declares a treaty to be the law of the land. It is consequently to be regarded in courts of justice as equivalent to an act of the legislature whenever it operates of itself, without the aid of any legislative provision. But when the terms of the stipulation import a contract, when either of the parties engage to perform a particular act, the treaty addresses itself to the Political, not the Judicial, Department, and the Legislature must execute the contract before it can become a rule for the Court.24
Andere Stimmen vertreten demgegenüber die Ansicht, Art. VI (2) U.S. Constitution differenziere schon dem Wortlaut nach nicht zwischen unmittelbar anwendbaren Vertragsnormen und solchen Bestimmungen, bei denen dies nicht der Fall sei, und müsse daher ausnahmslos zur Anwendung gelangen.25 20
Ebd., 1362 f. Ebd., 1363. 22 Siehe etwa F. L. Kirgis, International Law in the American Courts – The United States Supreme Court Declines to Enforce the IJC´s Avena Judgment Relating to a U.S. Obligation under the Convention on Consular Relations, GLJ 9 (2008), 619 ff.; J. J. Paust, Medellín, Avena, the Supremacy of Treaties, and Relevant Executive Authority, Suffolk Transnational Law Review 31 (2008), 301 ff.; zustimmend hingegen R. P. Alford, Federal Courts, International Tribunals, and the Continuum of Deference, Virginia Journal of International Law (VJIL) 43 (2003), 675 (694 f.). 23 Vgl. José Ernesto Medellín, Petitioner v. Texas, 128 S.Ct. 1346, 1356 (2008). 24 Foster & Elam v. Neilson, 27 U.S. (2 Pet.) 253, 254 (1829), Hervorhebung hinzugefügt. 25 Vgl. etwa Paust (Anm. 22), 301. 21
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Die verschiedenen Sichtweisen im US-amerikanischen Schrifttum beruhen auf Meinungsunterschieden zum Verhältnis des nationalen Rechts zum Völkerrecht.26 Während die Anhänger eines monistischen Verständnisses die Supremacy Clause generell für einschlägig erachten, gehen die – sich heute klar in der Mehrheit befindenden27 – Vertreter eines dualistischen Ansatzes vor dem Hintergrund der Grundsätze der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung davon aus, dass das Völkervertragsrecht und die auf ihm basierenden Entscheidungen der internationalen Gerichtsbarkeit in der Regel nicht unmittelbar anwendbar seien.28 Diese Erwägung basiert auf der Prämisse, dass das Völkervertragsrecht und die internationale Gerichtsbarkeit letztlich nicht hinreichend demokratisch legitimiert seien.29 In der Tat sieht Art. VI (2) U.S. Constitution – anders als Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG – das Erfordernis einer Umsetzung völkerrechtlicher Verträge durch Bundesgesetz, das jedenfalls mittelbar die demokratische Legitimation des inkorporierten Völkervertragsrechts gewährleisten würde, nicht vor, auch wenn der Abschluss völkerrechtlicher Verträge nach Art. II (2) U.S. Constitution die Zustimmung des Präsidenten und von 2/3 der Mitglieder des Senats voraussetzt. Andererseits ist es aus monistischer Perspektive nicht haltbar, einige Normen des internationalen Rechts (nämlich die nicht unmittelbar anwendbaren) nur im Außenverhältnis als verbindlich anzusehen. Dies erklärt den Vorwurf, der restriktive Ansatz des U.S. Supreme Court
26
Siehe nur M. A. Rogoff, Application of Treaties and the Decisions of International Tribunals in the United States and France: Reflections on Recent Practice, Maine Law Review 58 (2006), 406 (427 ff.). 27 Zu den Hintergründen der zurückhaltenden Rezeption der Entscheidungen internationaler Gerichte durch die Organe der Vereinigten Staaten A. L. Paulus, From Neglect to Defiance? The United States and International Adjudication, European Journal of International Law (EJIL) 15 (2004), 783 ff.; vgl. andererseits die positivere Einschätzung der gerichtlichen Praxis des U.S. Supreme Court bei H. H. Koh, International Law as Part of Our Law, American Journal of International Law (AJIL) 98 (2004), 43 ff. 28 Vgl. etwa J. C. Yoo, Treaties and Public Lawmaking: A Textual and Structural Defense of Non-Self-Execution, Columbia Law Review (CLR) 99 (1999), 2210 (2240); C. A. Bradley, International Delegations, the Structural Constitution, and Non-Self-Execution, Stanford Law Review (SLR) 55 (2003), 1557 (1558 f.); J. G. Ku, Sanchez-Llamas v. Oregon: Stepping Back from the New World Court Order, Lewis & Clark Law Review 17 (2007), 17 (19). 29 Siehe M. L. Movsesian, Judging International Judgments, VJIL 48 (2007), 65 (97 ff., 109). Eine ähnliche – im Einzelnen womöglich zu weitgehende – Fokussierung auf das demokratische Prinzip lässt sich mit Blick auf die europäische Integration auch für die Rechtsprechung des BVerfG konstatieren. Vgl. BVerfGE 89, 155 (207 ff.); BVerfG, NJW 2009, 2267 (2269 [Rn. 216], 2273 [Rn. 244 ff.]).
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„would bring a serious erosion of the Constitution’s Supremacy Clause provision on treaties“.30 Art. VI (2) U.S. Constitution steht einer dualistischen Sichtweise wohl insoweit nicht entgegen, als der Begriff „Treaty“ auch auf diejenigen Verträge beschränkt werden kann, die self executing sind.31 Eine nähere Begründung für ein solchermaßen restriktives Verständnis der Supremacy Clause wird von den Vertretern des Dualismus indes, soweit ersichtlich, nicht gegeben.32 Wird Art. VI (2) U.S. Constitution überhaupt erwähnt, berufen sich die Anhänger einer einschränkenden Auslegung wiederum auf die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court, nach welcher die Norm als „permissive in nature“33 zu qualifizieren sei. Letztlich fußt so die Argumentationslinie der Dualisten auf der im kontinentaleuropäischen Recht nicht anerkannten Doktrin vom bindenden Präzedenzfall. Da mit Blick auf die Rechtslage in Deutschland überdies davon auszugehen ist, dass die unmittelbare Anwendbarkeit der Normen des Völkervertrags- wie Völkergewohnheitsrechts keine Voraussetzung für ihre innerstaatliche Geltung ist, lässt sich den Erwägungen des U.S. Supreme Court im Fall Medellín hinsichtlich der Frage der innerstaatlichen Bindung der deutschen staatlichen Organe an die in Verfahren unter deutscher Beteiligung ergangenen Entscheidungen des IGH nichts entnehmen. Das BVerfG ist denn auch, anders als der U.S. Supreme Court, durchaus von einer innerstaatlichen Bindungswirkung ausgegangen.34
30
J. Quigley, Must Treaty Violations Be Remedied? A Critique of Sanchez-Llamas v. Oregon, Georgia Journal of International and Comparative Law 36 (2008), 355 (379). 31 Vgl. C.A. Bradley. Intent, Presumptions, and Non-Self-Executing Treaties, AJIL 102 (2008), 540 (550). Siehe auch Restatement (Second) of the Foreign Relations Law of the United States, 1965, § 141, cmt. a: „Such a treaty has immediate domestic effect as the supreme law of the land under Article VI, Clause 2 of the Constitution only if it is selfexecuting.“ Abweichend H. Bungert, Einwirkung und Rang von Völkerrecht im innerstaatlichen Rechtsraum, Die öffentliche Verwaltung 1994, 797 (800): Art. VI (2) U.S. Constitution folge der Adoptionstheorie. 32 Kritisch zur gerichtlichen Praxis Rogoff (Anm. 26), 428 f. 33 C. A. Bradley, Breard, Our Dualist Constitution, and the Internationalist Conception, SLR 51 (1999), 529 (540). 34 BVerfG, NJW 2007, 499 (502). Für die Lage nach US-amerikanischem Recht ebenso L. Henkin, Provisional Measures, U.S. Treaty Obligations, and the States, AJIL 92 (1998), 679 (680): „Under international law, and under the U.S. Constitution, the Court’s Order had the same character and status as a U.S. treaty obligation as does the Statute of the Court underlying the Order.“
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B. Die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zu den innerstaatlichen Wirkungen der Entscheidungen internationaler Gerichte Als fruchtbarer für die Annäherung an die verfassungsunmittelbare Berücksichtigungspflicht könnte sich eine Analyse der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zu den innerstaatlichen Wirkungen der IGH-Entscheidungen im Zusammenhang mit der Auslegung eines im nationalen Gerichtsverfahren relevanten völkerrechtlichen Vertrags erweisen. In Medellín grenzte der U.S. Supreme Court diese – auf einen anderen Streitgegenstand bezogene – Situation von der Frage der innerstaatlichen Bindungswirkung eines zum konkreten Streitgegenstand gegen die Vereinigten Staaten ergangenen IGH-Urteils ab. Er verwies auf seine Entscheidungen in den Fällen Breard und Sanchez-Llamas und führte aus, dass es zweifelhaft sei, whether that principle [to give respectful consideration to the jurisprudence of an international court] would apply when the question is the binding force of ICJ judgments themselves, rather than the substantive scope of a treaty the ICJ must interpret in resolving disputes.35
Allerdings leitete der U.S. Supreme Court das begrifflich und konzeptionell an die deutsche Berücksichtigungspflicht erinnernde Gebot, den Entscheidungen des IGH „respectful consideration“ entgegenzubringen, auch in der Sanchez-LlamasEntscheidung (die, anders als Medellín, keine der im Avena-Urteil des IGH genannten Personen betraf) nicht aus dem Text der Verfassung ab. In der relevanten Passage seines Urteils stellte er lediglich unter Hinweis auf Breard fest, dass [a]lthough the ICJ’s interpretation deserves ‚respectful consideration‘, […] we conclude that it does not compel us to reconsider our understanding of the Convention in Breard.36
In Breard v. Greene hatte der Gerichtshof diesbezüglich ausgeführt, dass while we should give respectful consideration to the interpretation of an international treaty rendered by an international court with jurisdiction to interpret such, it has been recognized in international law that, absent a clear and express statement to the contrary, the procedural rules of the forum State govern the implementation of the treaty in that State.37
Das WÜK hatte er zwar als von Art. VI (2) U.S. Constitution erfasst (und damit offenbar als self executing) betrachtet, war jedoch anschließend davon ausgegangen, dass das Übereinkommen von zeitlich später beschlossenem Gesetzesrecht
35 36 37
José Ernesto Medellín, Petitioner v. Texas, 128 S.Ct. 1346, 1361 (note 9) (2008). Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S.Ct. 2669, 2683 (2006) (Fußnote weggelassen). Breard v. Greene, Warden, 523 U.S. 371, 375 (1998).
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verdrängt werde.38 Dies läuft auf eine erhebliche Relativierung der Charming Betsy-Doktrin39 hinaus.40 Fasst man die einschlägige Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zusammen, ist festzustellen, dass der Gerichtshof das respectful consideration-Konzept nicht im Text der Verfassung verankerte, obwohl dies in Anbetracht der Supremacy Clause durchaus nahegelegen hätte.41 Es bleibt offen, ob es sich dabei überhaupt um eine Rechtspflicht oder um den bloßen Ausdruck einer „inconsequential politeness“42 handelt, die in ihren verfahrensrechtlichen Anforderungen noch unterhalb des nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Durchsetzung der Urteile von Gerichten anderer Staaten durch die U.S.-Gerichtsbarkeit zur Anwendung gelangenden Maßstabs („comity“) bleibt.43 Auch die fehlende Bindungswirkung der Auslegung des WÜK durch den IGH begründete der U.S. Supreme Court nicht im Wege der Interpretation von Art. VI (2) U.S. Constitution, sondern unter Bezugnahme auf die verfassungsrechtliche Ausformung der richterlichen Gewalt. Diese liege nach Art. III (1) U.S. Constitution „in one Supreme Court, and in such inferior courts as the Congress may from time to time ordain and establish“. Die Zuständigkeit der Gerichte erstrecke sich dabei gemäß Art. III (2) U.S. Constitution auf „all cases, in law and equity, arising under this Constitution, the laws of the United States, and treaties made, or which shall be made, under their authority“.44 Ähnlich wie die Entscheidung im Fall Medellín stieß das Urteil des U.S. Supreme Court in Sanchez-Llamas auch innerhalb der USA auf Bedenken.45 So wurde 38
Ebd., 376. Siehe Anm. 10. 40 Paulus (Anm. 27), 804. 41 Ebenso wenig wie das Grundgesetz enthält die U.S. Constitution eine Rechtsnorm, die sich unmittelbar mit den innerstaatlichen Wirkungen der Entscheidungen internationaler Gerichte befasst; siehe S. Djajic, The Effect of International Court of Justice Decisions on Municipal Courts in the United States: Breard v. Greene, Hastings International and Comparative Law Review 23 (1999), 27 (48). 42 Paulus (Anm. 27), 804. 43 Hilton v. Guyot, 159 U.S. 113, 163 f. (1895). Art. IV U.S. Constitution, wonach „[f]ull Faith and Credit shall be given in each State to the public Acts, Records, and judicial Proceedings of every other State“, ist nur auf die Entscheidungen der Gerichte anderer Gliedstaaten, nicht aber auf die Entscheidungen internationaler Gerichte oder die Entscheidungen fremder Staaten anwendbar. Vgl. Aetna Life Ins. Co. v. Tremblay, 223 U.S. 185, 190 (1912). 44 Beide Zitate Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S.Ct. 2669, 2684 (2006). 45 Vgl. etwa S. A. Koh, „Respectful Consideration“ after Sanchez-Llamas v. Oregon: Why the Supreme Court Owes More to the International Court of Justice, CLR 93 (2007), 243 ff. Zustimmend hingegen Movsesian (Anm. 29), 108 ff. 39
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gefragt, ob der Gerichtshof nicht doch der Auslegung von Art. 36 WÜK durch den IGH hätte Rechnung tragen müssen. In diesem Sinne hatten sich mehrere als Sachverständige (Amici Curiae) angehörte amerikanische Völkerrechtler im Vorhinein dahingehend eingelassen, dass LaGrand and Avena clarify treaty obligations of the United States which are the supreme law of the land (U.S. Const. Art. VI) and binding on all state courts, and the legal obligations of the United States to abide by the interpretations in those cases likewise arise from binding treaty undertakings.46
Begründet wurde die Annahme einer streitgegenstandsunabhängigen Bindungswirkung unter Hinweis darauf, dass [w]hen the ICJ interprets a multilateral treaty, as it has done in LaGrand and Avena, its decision addresses the objective meaning of the treaty, which necessarily must apply throughout the treaty space and not as some special rule between litigants.47
Diese nicht auf Ebene des innerstaatlichen Rechts, sondern letztlich bei der Stellung des IGH als Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen ansetzende Begründung erinnert an die Argumentation, mit der das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) die normative Leitfunktion der Rechtsprechung des EGMR für die deutschen Gerichte hergeleitet hat.48 Sie ignoriert die auf den konkreten Streitgegenstand beschränkte Rechtskraft der Urteile des IGH (vgl. Art. 59 IGH-Statut). Die Annahme einer objektiven Bindungswirkung zöge letztlich die Gefahr einer Missachtung der souveränen und legitimen Entscheidung einer Vertragspartei des WÜK, dem die Zuständigkeit des IGH für Streitigkeiten auf dem Gebiet des Konsularrechts begründenden Fakultativprotokoll nicht beizutreten, nach sich. Auch ein monistisches Verständnis des Verhältnisses von innerstaatlichem Recht und Völkerrecht rechtfertigt es nicht, die eindeutigen völkerrechtlichen Vorgaben zur inter partes-Wirkung der Entscheidungen des IGH zu umgehen, mag ihre faktische Relevanz auch erheblich sein. 46
Brief of International Court of Justice Experts as Amici Curiae in Support of Petitioners, Sanchez-Llamas v. Oregon, 548 U.S. 331 (2006), abrufbar unter http://www.debe voise.com/publications/pdf/ICJExpertsAmicusBrief.pdf, 20; siehe auch ebd., 11 („[…] once having given consent to both the Vienna Convention and the designated forum for dispute settlement, the United States is obligated to comply with the Convention, as interpreted by the ICJ.“) und 13 mit Anm. 16 („Where a tribunal has been accepted by the U.S. political branches as the forum for binding settlement of treaty disputes, deference to its conclusions is not just advisable but required as a matter of treaty law.“) 47 Ebd., 27. 48 BVerwGE 110, 203 (210): „Diese Beachtenspflicht rechtfertigt sich aus dem besonderen Charakter der Konvention als Menschenrechtsvertrag, dessen zwischenstaatliche Zielsetzung in erster Linie darin zu sehen ist, den Rechtsunterworfenen im innerstaatlichen Rechtsraum aller Vertragsstaaten bestimmte Grundrechte gegenüber der jeweils eigenen Staatsgewalt zu gewährleisten.“
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Trotz der vergleichsweise scharfen Kritik am Umgang der Mehrheit der Richter des U.S. Supreme Court mit dem respectful consideration-Erfordernis übernahm Richter Breyer in seiner abweichenden Meinung zum Urteil in Sanchez-Llamas v. Oregon die Ansicht der Amici Curiae zu Recht nicht und lehnte eine streitgegenstandsunabhängige Bindung an die sachlich einschlägige Rechtsprechung des IGH ab.49 Eine überzeugende Begründung der Rechtsgrundlage des – nach seiner Ansicht unzweifelhaft normativen50 – Gebots, den Entscheidungen des IGH „respectful consideration“ entgegenzubringen, blieb freilich auch Richter Breyer schuldig. Er erinnerte insoweit lediglich daran, dass der U.S. Supreme Court sich in der Vergangenheit bei zahlreichen Anlässen an der Judikatur des IGH orientiert habe, und verwies darauf, dass ‚respectful consideration‘ reflects the understanding that uniformity is an important goal of treaty interpretation. […] And the ICJ’s position as an international court specifically charged with the duty to interpret numerous international treaties (including the Convention) provides a natural point of reference for national courts seeking that uniformity.51
In der Bezugnahme auf Praktikabilitätserwägungen und die Natur der Sache („natural point of reference“) kann, jedenfalls nach deutschem Verständnis, kein dogmatisch tragfähiges Fundament für das respectful consideration-Erfordernis gesehen werden. Auch die abweichende Meinung von Richter Breyer ist daher als letztlich auf der Doktrin vom bindenden Präzedenzfall beruhend zu verstehen.52 Weitaus mehr noch als im Zusammenhang mit der Berücksichtigungspflicht des BVerfG bleibt auf der Grundlage des Urteils des U.S. Supreme Court im Fall Sanchez-Llamas v. Oregon undeutlich, welchen Anforderungen die untergeordneten Gerichte künftig zu entsprechen haben.53 In seinem abweichenden Votum konkretisierte Richter Breyer „respectful consideration“ dahingehend, dass we must read the opinions in light of the Convention’s underlying language and purposes and ask whether, or to what extent, they require modification of a State’s ordinary procedural rules.54 49
Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S.Ct. 2669, 2700 (2006) (Breyer J., dissenting). Vgl. ebd., 2703: „[…] to provide in practice the ‚respectful consideration‘ that we all believe the law demands“ (Hervorhebung hinzugefügt). 51 Ebd., 2700. 52 Siehe die Auflistung von Fällen, in denen sich der U.S. Supreme Court in völkerrechtlichen Fragen von der Rechtsprechung des IGH habe leiten lassen; Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S.Ct. 2669, 2701 (2006) (J. Breyer, dissenting). – Zur Achtung der Präzedenzien in der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court vgl. W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987, 430 ff. 53 Koh (Anm. 27), 245; siehe auch Alford (Anm. 22), 677: „[S]uch a formulation invites lower courts to misunderstand and misuse international tribunal decisions.“ 54 Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S.Ct. 2669, 2703 (2006) (J. Breyer, dissenting). 50
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Angesichts der unstreitig fehlenden Bindungswirkung der IGH-Urteile über den konkreten Streitgegenstand hinaus und vor dem Hintergrund der am restriktiven Ansatz der Richtermehrheit geäußerten Kritik55 läuft die Aussage Breyers auf ein Verständnis hinaus, wonach nationale Gerichte sich in aller Regel an den Entscheidungen des IGH orientieren sollen.56 Wollen sie der Entscheidung eines internationalen Gerichts nicht folgen, müssen sie jedenfalls substantiiert begründen, warum die relevante Norm des innerstaatlichen Rechts abweichend zu interpretieren ist.57 Ob dergleichen Darlegungsanforderungen auch nach Auffassung der Richtermehrheit erforderlich sind, oder ob es ausreicht, die relevante Entscheidung lediglich zur Kenntnis zu nehmen,58 lässt sich angesichts der fehlenden Konkretisierung des respectful consideration-Erfordernisses im Urteil des U.S. Supreme Court nicht eindeutig beantworten. Allerdings setzte sich der Gerichtshof in seiner Entscheidung durchaus mit den Schlussfolgerungen des IGH im AvenaUrteil auseinander und lehnte diese unter Hinweis auf die Besonderheiten der USamerikanischen Rechtsordnung als einem generell – auch im Strafprozess – auf der Dispositionsmaxime beruhenden Regime ab: This reasoning [of the ICJ] overlooks the importance of procedural default rules in an adversary system, which relies chiefly on the parties to raise significant issues and present them to the courts in the appropriate manner at the appropriate time for adjudication.59
Dies rechtfertigt den Schluss, dass der Unterschied zwischen der Position der Richtermehrheit und der abweichenden Meinung von Richter Breyer weniger in der Ausprägung der verfahrensrechtlichen Anforderungen, als im Ergebnis der Anwendung des respectful consideration-Erfordernisses auf den konkreten Einzelfall zu sehen ist.
55 Siehe ebd., 2702: „The majority’s argument […] overlooks what the ICJ actually said, overstates what it actually meant, and is inconsistent with what it actually did.“ 56 Siehe aber Alford (Anm. 22), 682 ff., der sieben Modelle für die innerstaatlichen Wirkungen der Entscheidungen internationaler Gerichte in der US-amerikanischen Rechtsordnung unterscheidet und diskutiert. Welches Modell im Einzelfall einschlägig sei, richte sich primär nach den Vorgaben des Bundesrechts. Die Verfassung treffe insoweit keine Entscheidung, sondern gehe vielmehr von der Zulässigkeit aller Modelle aus. 57 Siehe auch J. S. Martinez, Towards an International Judicial System, SLR 56 (2003), 429 (466); Koh (Anm. 27), 272. 58 So C. Hoppe, Implementation of LaGrand and Avena in Germany and the United States: Exploring a Transatlantic Divide in Search of a Uniform Interpretation of Consular Rights, EJIL 18 (2007), 317 (330). 59 Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S.Ct. 2669, 2685 (2006), Hervorhebung im Original.
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C. Berücksichtigungspflicht und respectful consideration-Erfordernis Im Vergleich mit der verfassungsunmittelbaren Berücksichtigungspflicht, der die deutschen staatlichen Organe nach Ansicht des BVerfG zu entsprechen haben, sind die von den US-amerikanischen Gerichten gegenüber den Entscheidungen der internationalen Gerichtsbarkeit zu wahrenden Anforderungen weniger streng. Insbesondere erfordert das respectful consideration-Erfordernis kein Bestehen auf einem Verfassungsrang der eine abweichende Auslegung ggf. rechtfertigenden Rechtsgüter. Im Unterschied zum Grundgesetz, dass in den Art. 1 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2 Satz 2 und Art. 23 bis 26 bestimmte Einrichtungen und Normen des Völkerrechts – darunter gemäß Art. 24 Abs. 3 GG den IGH – besonders hervorhebt (und damit konkludent die normativen Grundlagen der Berücksichtigungspflicht statuiert),60 enthält die amerikanische Verfassung neben der Supremacy Clause lediglich eine weitere Norm, in der allgemein, d.h. unabhängig von der Frage der Zuständigkeit für den Abschluss und die Auslegung völkerrechtlicher Verträge (Art. II [2] U.S. Constitution), auf das internationale Recht Bezug genommen wird.61 Bei dem betreffenden Art. I (8) U.S. Constitution handelt es sich indes um eine bloße Ermächtigungsnorm zugunsten des Kongresses, aus der keine weitergehenden Rechtsfolgen ableitbar sind.62 Der verfassungsrechtliche Spielraum für Abweichungen von der Rechtsprechung eines internationalen Gerichts ist in der U.S.-amerikanischen Rechtsordnung demnach deutlich größer. Der „offenere“ Charakter des deutschen Außenverfassungsrechts lässt sich auch an der unterschiedlichen Reichweite des Grundsatzes der völkerrechtsfreundlichen Auslegung demonstrieren. Zwar erfährt der Umstand, wonach „the United States has a vital interest in complying with international law“,63 in der Charming BetsyDoktrin64 seinen sinnfälligen Ausdruck. Diese Doktrin, die das BVerfG in seiner Solange II-Entscheidung auch mit Blick auf die deutsche Rechtsordnung für verbindlich erklärte, wird im Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States wie folgt zusammengefasst:
60
Vgl. BVerfGE 112, 1 (25). Zu den Anforderungen des Grundgesetzes A. Proelß, Bundesverfassungsgericht und internationale Gerichtsbarkeit, 2010 (im Druck), Ms., 133 ff. 61 Vgl. auch Boos v. Barry, 485 U.S. 312, 323 (1988). 62 Die relevante Passage von Art. I (8) U.S. Constitution lautet: „The Congress shall have power […] [t]o define and punish Piracies and Felonies committed on the high Seas, and Offenses against the Law of Nations.“ 63 Boos v. Barry, 485 U.S. 312, 323 (1988). 64 Murray v. Schooner Charming Betsy, 6 U.S. (2 Cranch) 64, 118 (1804).
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Where fairly possible, a United States statute is to be construed so as not to conflict with international law or with an international agreement of the United States.65
Wie im deutschen Recht66 findet die völkerrechtsfreundliche Auslegung insofern ihre Grenze im eindeutigen Wortlaut der anzuwendenden Rechtsnorm („where possible“),67 im ggf. abweichenden Willen des Gesetzgebers (soweit dieser klar bekundet wurde)68 und in den Vorgaben der Verfassung.69 Ebenso wie im deutschen Recht gründet das Gebot, das nationale Recht, soweit möglich, in Übereinstimmung mit dem anwendbaren Völkerrecht zu interpretieren, überdies auf Belangen des Verfassungsrechts. Als Belang in diesem Sinne ist im US-amerikanischen Recht, anders als in der deutschen Rechtsordnung,70 primär jedoch nicht die Völkerrechtsfreundlichkeit der nationalen Rechtsordnung, sondern der Grundsatz der Gewaltenteilung zu qualifizieren.71 So haben die Gerichte nach Ansicht des U.S. Supreme Court den Primat der Exekutive und Legislative auf dem sensiblen Feld der internationalen Beziehungen zu respektieren.72 Dies erklärt, warum die im deutschen Recht aus dem Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung folgende Konsequenz der Nichtanwendbarkeit des lex posterior-Grundsatzes in der US-amerikanischen Rechtsordnung nicht gezogen wird.73 Im Gegenteil hatte der U.S. Supreme Court bereits im Jahre 1888 im Fall Whitney v. Robertson ausgeführt, dass [b]y the Constitution, a treaty is placed on the same footing, and made of like obligation, with an act of legislation. Both are declared by that instrument to be the supreme law of the land, and no superior efficacy is given to either over the other. When the two relate to the same subject, the courts will always endeavor to construe them so as to give effect to both, if that can be done without violating the language of either; but if the two are inconsistent, the one last in date will control the other, provided always the stipulation of the treaty on the subject is self-executing.74 65
Restatement of the Law (Anm. 9), § 114. Eingehend Proelß (Anm. 60), 46 ff., 51 ff., 53 ff. 67 Siehe auch Whitney v. Robertson, 124 U.S. 190, 194 (1888). 68 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370). 69 Reid v. Covert, 354 U.S. 1, 16 (1957). 70 Proelß (Anm. 60), 46 ff. 71 Alford (Anm. 22), 733 f.; allgemein zum Verhältnis von U.S. Supreme Court einerseits und Legislative und Exekutive andererseits H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, 546 ff. 72 EEOC v. Arabian American Oil Co., 499 U.S. 244, 248 (1991); McCulloch v. Sociedad Nacional de Marineros de Honduras, 372 U.S. 10, 20 ff. (1963). – Auch insofern drängen sich Parallelen zur Rechtsprechung des BVerfG auf (vgl. nur BVerfGE 68, 1 [96 f.]; andererseits BVerfGE 121, 135 [168 f.]), die näherer Analyse bedürften. 73 Gegen eine Ausweitung der Charming Betsy-Doktrin etwa Bradley (Anm. 33), 546 ff.; für das entstehungsgeschichtlich substantiierte Gebot, bei der Bezugnahme auf den lex posterior-Grundsatz „starke Zurückhaltung“ zu üben, hingegen Bungert (Anm. 31), 805. 74 Whitney v. Robertson, 124 U.S. 190, 194 (1888), Hervorhebung hinzugefügt. 66
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In Reid v. Covert bestätigte er, dass […] an Act of Congress, which must comply with the Constitution, is on a full parity with a treaty, and that, when a statute which is subsequent in time is inconsistent with a treaty, the statute to the extent of conflict renders the treaty null.75
Die Völkerrechtsfreundlichkeit der U.S. Constitution in ihrer Auslegung durch den U.S. Supreme Court bleibt nach alledem – ebenso wie die Rechtsklarheit hinsichtlich ihrer Grundlagen und Reichweite – hinter derjenigen des Grundgesetzes, wie es vom BVerfG interpretiert wird, zurück.
75 Reid v. Covert, 354 U.S. 1, 18 (1957); siehe auch Chae Chan Ping v. United Nations (Chinese Exclusion Case), 130 U.S. 581, 600 (1889); Breard v. Greene, Warden, 523 U.S. 371, 376 (1998).
Die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes im Wandel der Anschauungen
Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsskepsis in der politischen Praxis der deutschen Legislative und Exekutive Von Werner Schroeder
A. Einführung Analysen eines Wissenschaftlers zur Europafreundlichkeit und Europarechtsskepsis in der politischen Praxis sind zwangsläufig problematisch, da er hierfür auf Informationen zurückgreifen muss, die ihm nur die Praxis liefern kann. Wie groß diese Europafreundlichkeit ist, lässt sich jedoch vielleicht an der Haltung des Auswärtigen Amts ablesen, das die Bitte um eine Dokumentation der entsprechenden europapolitischen Praxis der deutschen Legislative und Exekutive für wissenschaftliche Zwecke lediglich mit dem Hinweis auf seine allgemeine Broschüre „Zur Rolle Deutschlands im Entscheidungssystem der EU“ beantwortete. Der folgende Beitrag versteht sich nicht als Chronik, die dokumentiert, wie sich die Einstellung der Legislative und Exekutive zu Europa in den letzten Jahrzehnten geändert hat. Er analysiert vielmehr schlaglichtartig, wie die deutschen Staatsorgane auf die Verdichtung der EU-Rechtsordnung und ihrer Einwirkung auf das deutsche Recht reagiert haben.
I. Vorranganspruch des EU-Rechts Bekanntlich beansprucht das EU-Recht uneingeschränkten Vorrang vor nationalem Recht. Dieser Vorrang ist nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in den Verträgen selbst als ungeschriebene Strukturnorm verankert.1 Der Vorrang ist von allen Einrichtungen der Mitgliedstaaten, die im Anwendungsbereich des EU-Rechts handeln, zu beachten. Dies betrifft zunächst den staatlichen Gesetzgeber. Zwar werden staatliche Vorschriften, die EU-Recht widersprechen, aufgrund des Vorrangs unanwendbar. Gleichwohl trifft den Gesetzgeber eine Pflicht zur Rechtsbereinigung, und zwar durch Anpassung der betroffenen na1
EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1251 (1269 f.).
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tionalen Vorschriften.2 Nationale Verwaltungsbehörden sind ebenfalls von Amts wegen verpflichtet, nationale Vorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit EU-Recht zu prüfen und soweit sie mit diesen kollidieren, nicht anzuwenden.3 An den Vorrang knüpft die Loyalitätspflicht gemäß Art. 10 EGV die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das EU-Recht durchzuführen.4 Da somit das Verhältnis von EU-Recht und deutschem Recht eines von Über- und Unterordnung ist,5 zeigt sich die Europarechtsfreundlichkeit der deutschen Legislative und Exekutive primär daran, wie effektiv diese das EU-Recht in Deutschland durchführen und dadurch dazu beitragen, die Ziele des EU-Rechts zu verwirklichen.6
II. Regelungen über die innerstaatliche Zusammenarbeit der deutschen Staatsorgane Die Regelung der innerstaatlichen Zusammenarbeit zwischen Regierung und Legislative bzw. Bund und Ländern bei der Erstellung von europapolitischen Positionen bzw. der Vorbereitung der Meinungsbildung der deutschen Ratsvertreter hat deshalb im Grunde nichts mit der Europafreundlichkeit der deutschen Praxis zu tun. Sie können schließlich die Wirkung von EU-Recht in Deutschland nicht relativieren. Auf die Einzelheiten der innerstaatlichen Zusammenarbeit zwischen Regierung und Legislative bzw. Bund und Ländern wird deshalb hier nicht eingegangen. Gleichwohl kann eine solche Zusammenarbeit Rückwirkungen auf die Qualität der Durchführung von EU-Recht durch die deutschen Staatsorgane haben. Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon durch den deutschen Gesetzgeber artikuliert. Es sieht im Zustimmungsgesetz selbst keinen Verstoß gegen Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG, trotz aller Bedenken gegen das Demokratiedefizit der EU. Eine Verletzung der durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 GG geschützten deutschen Verfassungsidentität im Zusammenhang mit dem In-KraftTreten des Vertrags von Lissabon könne verhindert werden, indem vor dessen Ratifizierung wirksame Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat geschaffen 2
EuGH, Rs. C-290/94, Kommission/Griechenland, Slg. 1996, I-3285, Rn. 29. EuGH, Rs. 103/88, Fratelli Constanzo, Slg. 1989, 1839, Rn. 30; Rs. C-431/92, Kommission/Deutschland (Großkrotzenburg), Slg. 1995, I-2189, Rn. 40. 4 EuGH, verb. Rs. 205 bis 215/82, Deutsche Milchkontor, Slg. 1983, 2633, Rn. 17. 5 Vgl. bereits H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 298, der von „Unterwerfung“ sprach. 6 EuGH, Rs. C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 34, in Bezug auf die Exekutive; EuGH, Rs. C-433/93, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-2303, Rn. 24, in Bezug auf die Legislative. 3
Europarechtsfreundlichkeit und -skepsis in der politischen Praxis
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würden, so dass diese ihre von Art. 23 Abs. 1 GG vorgesehene „Integrationsverantwortung“ wahrnehmen könnten.7 Das Gericht fordert deshalb die vorherige Einschaltung des deutschen Parlaments im Wege des Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, sofern die Bundesregierung als deutsche Vertreterin im Europäischen Rat oder im Rat an Beschlüssen über die Anwendung (1) des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 48 Abs. 6 EUV n.F., (2) der allgemeinen Brückenklausel bezüglich des Übergangs vom Einstimmigkeitsprinzip zum Mehrheitsprinzip oder vom besonderen zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Art. 48 Abs. 7 EUV n.F., (3) von speziellen Brückenklauseln wie Art. 81 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV sowie (4) der Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV mitwirken will. In Bezug auf die Anwendung weiterer spezieller Brückenklauseln wie z.B. Art. 31 Abs. 3 EUV n.F., Art. 153 Abs. 2 UAbs. 4 und Art. 192 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV fordert das Gericht lediglich einen einfachen Parlamentsbeschluss von Bundestag bzw. Bundesrat, soweit Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind. Da das deutsche Begleitgesetz zum Zustimmungsgesetz, das neue Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der EU, diesen Anforderungen nicht genügte, wurde es vom BVerfG für verfassungswidrig (Art. 23 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 GG) erklärt. Diese Rechtsprechung hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Anwendung des EU-Rechts und insbesondere des Vertrags von Lissabon in Deutschland. Sie begrenzt lediglich die Handlungsbefugnis der Bundesregierung als deutsche Vertreterin im Rat, wenn es um das Zustandekommen von EU-Recht geht, und erschwert damit faktisch die Gesetzgebungstätigkeit der EU soweit Einstimmigkeit erforderlich ist. Man könnte es zwar als nicht „europafreundlich“ oder gar „europaskeptisch“ betrachten, wenn das deutsche Parlament die Bundesregierung als Ratsvertreter in Detailfragen der EU-Gesetzgebung binden kann. Letztlich handelt es sich dabei jedoch um Aspekte der internen Willensbildung jedes Ratsvertreters, die dem Einfluss der EU und des EU-Rechts von vornherein entzogen sind. Interessant ist jedoch im Hinblick auf das hier behandelte Thema der Europafreundlichkeit und Europaskepsis in der Praxis der Legislative und der Exekutive, dass das BVerfG – welches selbst im Lissabon-Urteil erstmals den Begriff der Europafreundlichkeit des GG benutzt8 – offenbar der Ansicht ist, das deutsche Parlament sei seiner „Integrationsverantwortung“ bisher nicht gerecht geworden. Es bescheinigt diesem, die in Art. 23 GG verfassungsrechtlich verankerte und in Art. 5 Abs. 2 und Art. 10 EGV EU-rechtlich vorausgesetzte Arbeitsteilung zwischen dem EU-Gesetzgeber und dem deutschen Gesetzgeber nicht wahrzunehmen. Das bekannteste Beispiel zeigte sich 7 BVerfG, 2 BvR 2/08 u.a., Lissabon, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2009, 2267 (2271 f.); siehe hierzu die Kritik von C. D. Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokustesbett?, Juristenzeitung (JZ) 2009, 881 (883 ff.). 8 Der Begriff wird erstmals in BVerfG, Lissabon (Anm. 7), 2270, verwendet.
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an der Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl durch das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 21. Juli 2004 (Europäisches Haftbefehlsgesetz – EuHbG). Hier machte die Verhandlung über die Verfassungsbeschwerde von Darkanzli gegen das EuHbG deutlich, dass der deutsche Gesetzgeber die ihm durch den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl eröffneten Spielräume nicht für eine möglichst grundrechtsschonende Umsetzung des Rahmenbeschlusses in nationales Recht ausgeschöpft hatte, weil er sich des vorhandenden Entscheidungsspielraums gar nicht bewusst war.9 Auch diesem Urteil lässt sich eine Kritik am Bundestag entnehmen. Es wurde daraus zu Recht abgeleitet, dass der Bundestag seine Kontroll- und Gesetzgebungsaufgaben nicht nur beim Zustandekommen von EU-Recht, sondern auch bei dessen Durchführung besser und aktiver wahrnehmen müsse.
III. Zur Europafreundlichkeit des GG in Bezug auf die Durchführung von EU-Recht Die Frage der Beziehung zwischen EU-Recht und deutschem Recht ist im GG nicht angesprochen, ebenso wenig die Durchführung von EU-Recht durch deutsche Einrichtungen. Die h.M. geht davon aus, dass sich die Zuständigkeiten zur normativen Durchführung von EU-Recht aus den allgemeinen Regelungen über die Gesetzgebungskompetenzen in Art. 70 ff. GG ergibt.10 In Bezug auf die Vollziehung von unmittelbar anwendbarem EU-Recht durch deutsche Behörden sollen die Art. 83 ff. GG analog zur Anwendung kommen.11 Über die Art und Weise der Durchführung von EU-Recht durch deutsche Hoheitsträger, d.h. in welcher Weise und mit welchem Ziel sie erfolgen soll, sagt das GG jedoch nichts aus.12 9
BVerfGE 113, 273 (284 f.), Darkazanli; vgl. hierzu W. Schroeder, Neues vom Rahmenbeschluss, Europarecht (EuR) 2007, 349 (351 f. und 362). 10 C. D. Classen, in: H. von Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Aufl. 2005, Art. 23 GG, Rn. 57, der zutreffend darauf hinweist, dass die Forderung nach einer stets bundeseinheitlichen Durchführung keine Forderung des EU-Rechts ist. Dieses ist nur an einer effektiven Verwirklichung der angestrebten Normziele interessiert. 11 Siehe ausführlich M. Schweitzer, Föderalismusreform und Vollziehung von Gemeinschaftsrecht, in: H. Butzer u.a. (Hrsg.), Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat, Festschrift für Friedrich E. Schapp zum 70. Geburtstag, 2008, 288 (289 ff. m.w.N.), der selbst jedoch für eine Anwendung von Art. 30 GG votiert. 12 Vgl. auch S. Hölscheidt, Probleme bei der Durchsetzung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten, Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2009, 341 (344), zum Inhalt einer möglichen „Spiegelvorschrift“ zu Art. 10 EGV im GG.
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Verfassungsrechtlich hat das Europarecht durch Art. 24 Abs. 1 GG aus zweiter Hand gelebt,13 bis anlässlich des Vertrages von Maastricht durch den Art. 23 Abs. 1 GG klargestellt wurde, dass es sich bei der Übertragung von Hoheitsrechten an die EU mit verfassungsändernder Mehrheit und damit auch bei der Ausübung dieser Hoheitsrechte um Vorgänge handelt, die zumindest verfassungsrechtlichen Status genießen.14 Man könnte darin zwar auch einen Rückschritt sehen, weil bis dahin Hoheitsrechtsübertragungen auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) unproblematischer durch einfaches Gesetz möglich waren.15 Meines Erachtens hat die Frage der Regelung im GG dennoch eine positive Signalwirkung. Sie ist wichtig für die Akzeptanz des EU-Rechts in Legislative und Exekutive – und wurde dennoch in Deutschland erst nach über 40 Jahren Mitgliedschaft geschaffen. Art. 23 GG ist als operative Europavorschrift des GG der wichtigste verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkt für die Öffnung der Verfassung gegenüber dem EU-Recht und die Verpflichtung der Staatsorgane zu einer europafreundlichen Haltung – die verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die Mitwirkung an der europäischen Integration selbst ist ja bereits in der Präambel verankert.16 Sie enthält das Staatsziel Europa, eine Mitwirkungspflicht der deutschen Verfassungsorgane und im Übrigen Mitwirkungsrechte der deutschen Verfassungsorgane in Bezug auf EU-Angelegenheiten. Sie beantwortet jedoch nicht, von wem und auf welche Weise EU-Recht in Deutschland durchgeführt wird und wie dabei auftretende innerstaatliche Rechts- und Kompetenzkonflikte gelöst werden. Insofern stellt sich durchaus die Frage, ob das GG aus der Mitgliedschaft Deutschlands in einem Europäischen Verfassungsverbund – einem aus europäischem und nationalem Verfassungsrecht zusammengesetzten Verfassungssystem, das eine materielle Einheit bildet17 – die nötigen Konsequenzen gezogen und eine europafreundliche 13
„Mager“ findet H. Jarass, in: H. Jarass/B. Pieroth (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl. 2009, Art. 23 GG, Rn. 1, diese Regelung. 14 Vgl. K. Schmalenbach, Der neue Europaartikel 23 des Grundgesetzes im Lichte der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, 1996, passim. 15 Vgl. den Beitrag von T. Rensmann. 16 R. Streinz, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 23 GG, Rn. 1; BVerfGE 73, 339 (386), Solange II; beide Aspekte nennt BVerfG, Lissabon (Anm. 7), 2270, gleichrangig. 17 Grundlegend I. Pernice, Bestandssicherung der Verfassungen: Verfassungsrechtliche Mechanismen zur Wahrung der Verfassungsordnung, in: Bieber/Widmer (Hrsg.), L’espace constitutionnel européen. Der europäische Verfassungsraum. The European constitutional area, 1995, 225 (261 ff.); ders., Die Dritte Gewalt im Europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, 27 (30 f.); kritisch hierzu M. Jestaedt, Der Europäische Verfassungsverbund – Verfassungstheoretischer Charme und rechtstheoretische Insuffizienz einer Unschärferelation, in: R. Krause/W. Veelken/K. Vieweg, Recht der Wirtschaft und der Arbeit in Europa, Gedächtnisschrift für Blomeyer, 2004, 638 ff.
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Durchführung des EU-Rechts durch die deutsche Legislative und Exekutive ermöglicht hat. Nun kann diese europarechtsfreundliche nationale Gesetzgebung und Vollziehung – jedenfalls im Sinne der Normkonformität – mit Hilfe des Vorrangs und den daran anknüpfenden Instrumenten (Art. 10 und 226 ff. EGV) EU-rechtlich erzwungen werden. „Europafreundlicher“ wären jedoch Lösungen durch das GG selbst, das schließlich durch seine Präambel und Art. 23 GG die Europäisierung in sich trägt.18 Wo ist jedoch eine solche Verpflichtung der deutschen Staatsorgane zur Durchführung und Beachtung des EU-Rechts verfassungsrechtlich verankert? Denkbar wäre eine Anknüpfung an die in Art. 23 Abs. 1 S. 1, 1. Hs. GG angesprochene verfassungsrechtliche Mit letztlich als Verfassungsbestimmung an alle Staatsorgane wendet.19 Ansatzpunkt ist zusätzlich das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 GG und die Bindung von Legislative und Exekutive an Recht und Gesetz, wozu auch die Bindung an das vorrangige EURecht gehört, denn unter „Gesetz und Recht“ fällt auch jegliches EU-Recht.20 Letztlich greifen beide Aspekte ineinander: Dem in Art. 23 Abs. 1 GG in Bezug genommenen Integrationsprogramm21 ist zu entnehmen, dass die Beachtung und EU-rechtskonforme Durchführung des EU-Rechts nicht nur eine formale Frage des Vorrangs, sondern auch eine Frage der Rechtsstaatlichkeit ist.22 Konstruktiv lässt sich dies damit begründen, dass sich die Bindung der Exekutive an Gesetz und Recht auch auf das EU-Recht erstreckt und die Bindung der Legislative an die Verfassung aufgrund der verfassungsrechtlich unterfütterten Übertragung von Hoheitsrechten über Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auch die Bindung an die EU-Verfassung umfasst. Dieses „Hineinlesen“ des wirkungspflicht Deutschlands in EU-Angelegenheiten, die sich EU-Rechts in den Verfassungsbegriff des Art. 20 Abs. 3 GG könnte mit der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für Europa, Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG und dem daraus resultierenden „Verbundcharakter“ der deutschen und europäischen Verfassung gerechtfertigt werden.23
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I. Härtel, Demokratie im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2007, 431. Vgl. auch Classen (Anm. 10), Rn. 10. 20 V. Nessler, Europäisches Richtlinienrecht, 1994, 96. 21 Begriff in BVerfGE 89, 155 (172), Maastricht. 22 Ähnlich F. Schoch, Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 1995, 109 (111). 23 Oder gar mit der „Europafreundlichkeit“ des GG selbst, vgl. Classen (Anm. 7), 882, der die Aussage in BVerfG, Lissabon (Anm. 7), 2270, von der „Europafreundlichkeit“ des GG so interpretiert, dass das BVerfG grobe Fehler bei der Anwendung des EU-Rechts durch deutsche Staatsorgane als unvereinbar mit Art. 23 GG beanstanden muss. 19
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Man kann also das Problem der europakonformen und -freundlichen Durchführung von EU-Recht durch die deutsche Legislative und Exekutive verfassungsrechtlich lösen. Allerdings enthält das GG keine eindeutigen Hinweise auf die mögliche europafreundliche Lösung. Auch aufgrund dieser unklaren Rechtslage ist – trotz der Grundentscheidung des GG für eine europäische Offenheit – der Vorrang des EU-Rechts mit all seinen Implikationen (Verpflichtung zur Beachtung und effektiven Durchführung durch die deutschen Staatsorgane, Gewährung von entsprechendem Rechtsschutz, Haftung etc.) „im breiteren Bewusstsein und auch bei Teilen der Rechtsanwender (…) offenkundig nicht verankert“, wie zutreffend konstatiert wurde24 – und das nach über 50 Jahren Mitgliedschaft in der E(W)G bzw. EU. Dies erscheint als ein echtes Manko angesichts des Umstandes, dass die EU ihre Politik durch Rechtssetzung betreibt und deshalb der Erfolg der Integration letztlich von ihrer effektiven Durchführung in den Mitgliedstaaten abhängt.25 Auch vor diesem Hintergrund wäre eine ausdrückliche Regelung über die Durchführung von EU-Recht durch deutsche Staatsorgane im GG sinnvoll.
B. Europafreundliche oder -skeptische Durchführung von EU-Recht in Deutschland Wie wird das EU-Recht in Deutschland durchgeführt?
I. Begriff der Durchführung von EU-Recht Der Begriff der Durchführung wird nachfolgend als Oberbegriff für die planmäßige Ausführung des EU-Rechts durch Rechtsnormen (Umsetzung) und für seine Anwendung durch rechtliche Einzelakte (Vollziehung) verstanden.26 Der EGV in Art. 2, 4 Abs. 2, Art. 202, 3. Spiegelstrich und Art. 211, 4. Spiegelstrich EGV sowie der Gerichtshof in seiner Judikatur sprechen in diesem Zusammenhang von Durchführung.27 Die Aufteilung der Durchführungsmaßnahmen in die 24
R. Streinz/Ch. Herrmann, Der Anwendungsvorrang und die „Normverwerfung“ durch deutsche Behörden, Bayerische Verwaltungsblätter 2008, 1. 25 Mitteilung der Kommission über die Anwendung des Gemeinschaftsrechts, KOM (2007), 502 endg., Ziff. I. 26 M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, 47 f., der weiter zwischen einzelfallbezogener Anwendung und gesetzlicher Ausführung unterscheidet. 27 Vgl. EuGH, Rs. 23/75, Rey Soda, Slg. 1975, 1279, Rn. 25/26; verb. Rs. 205 bis 215/82, Deutsche Milchkontor, Slg. 1983, 2633 ff., Rn. 17; Rs. 175/84, Krohn/Kommission,
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Umsetzung durch den Gesetzgeber bzw. die Vollziehung durch die Verwaltung erfolgt aus der innerstaatlichen Perspektive, die sich an der durch das GG vorausgesetzten Gewaltenteilung orientiert. Die Perspektive des EU-Rechts ist hingegen eine andere. Sie ist primär darauf bedacht, dass die durch den Vertrag angestrebten Ziele mit Hilfe von verbindlichen Maßnahmen der Mitgliedstaaten durchgesetzt werden und grundsätzlich indifferent gegenüber den innerstaatlichen Strukturen und Instrumenten, die der Durchführung von EU-Recht dienen.28
II. Hinweise auf die Europafreundlichkeit oder -skepsis der deutschen Praxis Wie „europafreundlich“ führt Deutschland EU-Recht durch? Die Europafreundlichkeit oder -skepsis der deutschen Staatsorgane ist in der Praxis nur schwer zu messen. Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland sind hierfür nur ein Indiz, denn 85 % der Rechtsstreitigkeiten zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten wegen unterbliebener oder fehlerhafter Durchführung von EU-Recht werden abgeschlossen, bevor die Kommission die nach Art. 226 EGV erforderliche förmliche Stellungnahme abgibt und Vertragsverletzungsklage beim EuGH erhebt.29 Diese Zahl impliziert, dass es in der Praxis zahlreiche Versäumnisse der deutschen Legislative und Exekutive bei der Durchführung von EU-Recht gibt, die nach außen nicht sichtbar sind, weil sie nicht in einem formellen Verfahren behandelt werden. Außerdem zeigt sich die Missachtung von EU-Recht durch Gesetzgebung und Verwaltung nicht nur in Vertragsverletzungsstatistiken der Kommission. Sie wird auch in Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH sichtbar, die in keiner Statistik über die Vertragstreue der Staatsorgane genannt werden.30 Slg. 1986, 753, Rn. 19; vgl. W. Schroeder, Nationale Maßnahmen zur Durchführung von EG-Recht und das Gebot der einheitlichen Wirkung – Existiert ein Prinzip der „nationalen Verfahrensautonomie“?, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 2004, 3; Hölscheidt (Anm. 12), 341, spricht demgegenüber von „Durchsetzung“. 28 Was zu der Vorstellung einer „nationalen Verfahrensautonomie“ geführt hat, vgl. T. von Danwitz, Die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten für die Durchführung von Gemeinschaftsrecht, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 1998, 421 (429); a.A. Schroeder (Anm. 27), 11 ff.; EuGH, verb. Rs. C-392/04 und C-422/04, i-21 u.a., Slg. 2006, I-8559, Rn. 57, erwähnt erstmals den „Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten“, der jedoch nur „mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung“ besteht. 29 Vgl. Mitteilung der Kommission über die Anwendung des Gemeinschaftsrechts, KOM (2007) 502 endg., Ziff. II; vgl. auch Übersichten bei Hölscheidt (Anm. 12), 342 f. 30 Vgl. z.B. die in EuGH, Rs. C-353/06, Grunkin und Paul, Slg. 2008, I-7639, Rn. 21 ff., mit dem EGV für unvereinbar erklärte Praxis des deutschen Namensrechts in Bezug auf
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Trotz dieser Vorbehalte gegenüber Statistiken erscheint es bemerkenswert, dass Deutschland in einer Dokumentation der Vertragsverletzungsverfahren – die allerdings für die einzelnen Mitgliedstaaten pauschal und ohne Differenzierung zwischen Verstößen der Gesetzgeber und der Verwaltungen geführt werden – im Jahre 2009 den viertletzten Platz mit insgesamt 90 offenen Verfahren belegt. Diese Position innerhalb der Gruppe der Mitgliedstaaten hält es in den letzten Jahren relativ konstant. Im Jahr 2008 wurde Deutschland vor dem EuGH sechsmal wegen Vertragsverletzungen verurteilt. Ähnlich sind die Zahlen aus den Jahren davor. Diese Verurteilungen beziehen sich auf die Missachtung der verschiedensten Aspekte des Umwelt-, Steuer-, Arbeits- und Sozialrechts sowie des Binnenmarktrechts der EU.31 Konzentriert man die Untersuchung der Vertragsverletzung auf den Binnenmarktbereich, den quantitativ umfangreichsten Sektor der EU-Gesetzgebung, so liegt Deutschland regelmäßig im Mittelfeld.32 Es wird im Hinblick auf seine Vertragsdisziplin weder positiv erwähnt wie z.B. Dänemark, die Niederlande oder Slowenien – es wird allerdings auch nicht ausdrücklich gerügt wie z.B. Griechenland, Polen oder Portugal.33 Dieser Eindruck verändert sich jedoch, wenn man die Inhalte der nicht oder nicht richtig umgesetzten Richtlinien untersucht. Die EU selbst hat im Binnenmarkt Score Board so genannte „Schlüssel-Richtlinien“ identifiziert,34 die verspätet umgesetzt wurden, z.B. die Biopatent-Richtlinie, die Richtlinien über die Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen, diverse Richtlinien im Bereich der elektronischen Kommunikation, Richtlinien über die Anerkennung beruflicher Qualifikationen sowie Richtlinien zur Anwendung des Gleichbehanddie Nichtanerkennung von im Geburts- und Wohnsitzstaat erworbenen Namen von Unionsbürgern oder die in EuGH, Rs. C-237/07, Janecek/Freistaat Bayern, Slg. 2008, I-6221, Rn. 34 ff., behandelte Pflicht der Behörden zur Erstellung von Aktionsplänen zur Bekämpfung der Feinstaubproblematik nach der Richtlinie 96/62/EG. 31 Kommission, Commission Staff Working Document accompanying the 25th Annual Report on Monitoring the Application of Community Law (2007), SEC (2008), 2854. 32 Wobei Deutschland allerdings wie die meisten Mitgliedstaaten die vom Europäischen Rat von Stockholm von 2001 angepeilte Grenze von unter 1 % der geltenden BinnenmarktRichtlinien, die nicht fristgerecht umgesetzt wurden, eingehalten hat, Jahresberichte der Binnenmarktanzeiger/SOLVIT und CSS vom 19.2.2009/IP/09/297; vgl. zu diesem Ziel H. Dossi, Der Vollzug in Bundesstaaten – am Beispiel Österreichs, in: E. Busek/W. Hummer (Hrsg.), Die Konstitutionalisierung der Verbandsgewalt in der (neuen) Europäischen Union, 2006, 197 (198). 33 Mitteilung der Kommission über die Anwendung des Gemeinschaftsrechts, KOM (2007) 502 endg. 34 Vgl. etwa Internal Market Scoreboard 2004, MEMO/04/176 vom 13.7.2004; siehe auch die Situation in einzelnen Sektoren, Kommission, Staff Working Document, SEC (2008) 2854 und 2855.
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lungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder ethnischen Herkunft bzw. zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Deutschland gehörte meist zu der kleinen Gruppe der Mitgliedstaaten, die diese Rechtsakte nicht rechtzeitig oder nicht richtig umgesetzt hatten.35 Das Bild von der „Europarechtsfreundlichkeit“ in der Praxis ist also durchwachsen – insbesondere wenn man berücksichtigt, dass Deutschland Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaften und der EU ist und über 50 Jahre Gelegenheit hatte, die innerstaatliche Durchführung von supranationalem Recht zu organisieren. Es kann daher nicht beruhigen, dass massive Verstöße der deutschen Legislative und Exekutive gegen EU-Recht dabei mittlerweile die Ausnahme sind. Schließlich hat sich angesichts des inzwischen in Art. 228 Abs. 2 EGV36 und der Staatshaftungsjudikatur des EuGH37 verankerten Sanktionssystems die Durchführungsdisziplin aller Mitgliedstaaten gebessert. Wenn der politische Preis hoch genug ist, dann finden sich auch in der Praxis der deutschen Legislative und Exekutive noch entsprechende Beispiele für eine vorsätzliche Missachtung von EU-Recht.38
III. Bundesstaatlichkeit Bekanntermaßen können sich im Hinblick auf die bundesstaatliche Struktur Deutschlands spezifische Probleme bei der Durchführung von EU-Recht durch die deutsche Legislative und Exekutive ergeben. Die Behebung von entsprechenden Durchführungsdefiziten bei der Gesetzgebung und Vollziehung mit den allgemeinen Instrumenten des Bundesstaates sind ein Thema für sich.39 Sie können hier 35
Weitere Beispiele für Umsetzungsdefizite in Bezug auf wichtige Rechtsakte nennt auch Hölscheidt (Anm. 12), 343 f. 36 Vgl. EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I-6263, Rn. 80 ff. 37 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Brasserie du Pêcheur, Slg. 1996, I-1029, Rn. 20. 38 Beispiel aus der legislativen Praxis: Streit über das Gesetz über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung in private Hand, letzte Fassung Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1970 I, 1149 (VW-Gesetz); dazu EuGH, Rs. C-112/05, Kommission/Deutschland, Slg. 2007, I-8995; Änderung des VW-Gesetzes durch Gesetz vom 8.12.2008, BGBl. 2008 I, 2369; vgl. auch C. Teichmann, Das VW-Urteil des EuGH und seine Folgen, Betriebs-Berater 2007, 2577 ff. 39 Vgl. bereits H. P. Ipsen, Als Bundesstaat in der Gemeinschaft, in: E. v. Caemmerer/ H.-J. Schlochauer/E. Steindorff (Hrsg.), Probleme des europäischen Rechts: Festschrift für Walter Hallstein zu seinem 65. Geburtstag, 1966, 248 ff.; aus neuerer Zeit C. Baier, Bundesstaat und Europäische Integration, 2006, 137 ff., speziell zu Problemen bei der Durchführung durch die Länder.
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nicht im Detail erörtert werden. Interessanterweise hat der Verfassungsgesetzgeber erst sehr spät und nur unzureichend auf entsprechende Probleme reagiert. Es wurde lediglich für den Fall, dass dem Bund aus der fehlerhaften oder unzureichenden Durchführung von EU-Recht durch die Länder als Folge des neuen Sanktionssystems der EU finanzielle Schäden entstehen können, mit der Föderalismusreform im Jahre 2006 in Art. 109 Abs. 5 und Art. 104 a Abs. 6 GG eine Kompensationsregelung geschaffen. Danach sind Bund und Länder verpflichtet, sich die aus einer Verletzung EU-rechtlicher Verpflichtungen ergebenden Lasten nach dem Verursacherprinzip zu teilen.40 Indessen können auch Probleme nichtfinanzieller Art entstehen, wenn die Länder innerstaatlich die Durchführungskompetenz besitzen, aber ihrer Verpflichtung zur gesetzgeberischen Durchführung von EU-Recht nicht nachkommen. Damit die juristische Zwangslage, in der sich ein Bundesstaat in einer solchen Situation befindet, beseitigt werden kann, besteht eine Verpflichtung der zuständigen Bundesländer gegenüber dem Bund zur ordnungsgemäßen Durchführung aus Gründen der Bundestreue i.V.m. der Verpflichtung zu EU-freundlichem Verhalten aus Art. 23 Abs. 1 GG, die sogar mit den Mitteln des Bundeszwanges nach Art. 37 GG durchgesetzt werden könnte.41 In Deutschland gibt es jedoch kein verfassungsrechtliches Instrument der Ersatzvornahme durch den Bund. Anders verhält es sich in Österreich, wo Art. 23d Abs. 5, 1. Hs. B-VG die Länder ausdrücklich dazu verpflichtet, in ihrem Wirkungsbereich das EU-Recht umzusetzen. Missachten die zuständigen Länder ihre Verpflichtung zum Vollzug von EU-Recht und wird deshalb durch den EuGH eine Vertragsverletzung Österreichs i.S.v. Art. 226 EGV festgestellt, so geht innerstaatlich die Kompetenz zur Durchführung gemäß Art. 23d Abs. 5, 2. Hs. B-VG auf den Bund über.42 Tatsächlich hat es in beiden Staaten jedoch noch keine verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen zwischen dem Bund und den Ländern wegen der Durchführung von EU-Recht gegeben.
IV. Institutionelle Vorkehrungen? Wie europafreundlich die deutschen Staatsorgane tatsächlich sind, lässt sich möglicherweise auch daran erkennen, inwieweit sie institutionelle Vorkehrungen 40
Vgl. näher R. Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rn. 541. A. Fisahn, Probleme der Umsetzung von EU-Richtlinien im Bundesstaat, DÖV 2002, 239 (241); siehe näher Baier (Anm. 39), 212 ff. 42 Vgl. T. Öhlinger, Verfassungsrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 149; C. Ranacher, Die Funktion des Bundes bei der Umsetzung des EU-Rechts durch die Länder, 2002, 161 ff. und 343 ff. Eine solche Regelung wurde auch für das GG diskutiert; siehe Baier (Anm. 39), 205 m.w.N. 41
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geschaffen haben, um eine reibungslose Durchführung des EU-Rechts zu gewährleisten. Obwohl sich die Pflicht zur Schaffung solcher Instrumente letztlich aus der Mitwirkungspflicht der Staatsorgane in Bezug auf die europäische Integration in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ableiten ließe, kommt der Anstoß hierzu von der EU selbst. Die Europäische Kommission fordert in ihrer Empfehlung 2005/309/EG zur Umsetzung binnenmarktrelevanter Richtlinien in innerstaatliches Recht43 die Mitgliedstaaten dazu auf, Maßnahmen zur Verbesserung der Durchführung von EU-Recht zu ergreifen, z.B. Entsprechungstabellen in Bezug auf die Umsetzung von Richtlinien zu führen, Informationen auf amtlichen Websites über nationale Umsetzungsmaßnahmen zu veröffentlichen, Stellen zu benennen, die für die Umsetzungsbilanz verantwortlich sind, eine nationale Koordinierungsstelle für Umsetzungsgespräche mit der Kommission zu schaffen, eine nationale Datenbank in Bezug auf Umsetzungsakte einzurichten, Umsetzungsleitlinien zu schaffen, eine Liste der nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinien zu veröffentlichen usw. Ob Deutschland all diese Maßnahmen ergriffen hat, die zu einer europafreundlichen Gesetzgebung und Anwendung von EU-Recht beitragen, ist zu bezweifeln. Jedenfalls sind dazu keine Informationen von offizieller Seite erhältlich. In Deutschland regelt § 75 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) vom 21.7.2009 wie innerstaatlich die Befassung der Staatorgane mit EU-Recht koordiniert wird.44 Federführend ist jeweils das fachlich am Stärksten betroffene Ministerium. Es hat die Aufgabe, innerhalb der Bundesregierung eine abgestimmte Position herbeizuführen. Die Ministerien haben Europabeauftragte, die sich regelmäßig oder ad hoc treffen und abstimmen. Wichtigstes Koordinierungsinstrument ist die Runde der Europa-Abteilungsleiter der Bundesministerien.45 Den Vorsitz in der Runde führen das Auswärtige Amt und das Bundeswirtschaftsministerium gemeinsam. Darüber thront der Staatssekretärsausschuss für Europafragen unter dem Vorsitz des Staatsministers für Europa aus dem Auswärtigen Amt, der strittige und grundlegende Fragen behandelt. Wie in allen Politikbereichen hat das Bundeskanzleramt auch in der Europapolitik eine koordinierende Funktion: Der Leiter der Europaabteilung nimmt an den Sitzungen der Europaabteilungsleiter teil. In der Europaabteilung gibt es eine EU-Koordinierungsgruppe, die ständig in Kontakt mit den europäischen Institutionen steht und die Konfliktpotential zwischen der Bundesregierung und der EU aufdecken und beheben helfen soll. Diese Schil43
ABl. 2005, Nr. L 98/47. GMBl. 2009, 694. 45 Kritisch zur mangelnden Koordinierung F. C. Mayer, Nationale Regierungsstrukturen und europäische Integration, Europäische Grundrechtezeitschrift (EuGRZ) 2002, 111 (114 f.). 44
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derung macht deutlich, dass es eine ganze Reihe von Koordinierungsmaßnahmen auf Bundesebene gibt. Allerdings bezwecken die genannten Mechanismen nicht unbedingt eine europafreundliche Durchführung von EU-Recht durch die deutschen Staatsorgane, sondern eine effektive Durchsetzung deutscher Positionen auf EUEbene, d.h. im Grunde zielen sie in die umgekehrte Richtung. Ob sie in der Praxis auch für die Durchführung genutzt werden und dadurch die Europafreundlichkeit der Gesetzgebung und Rechtsanwendung in Deutschland steigern, ist unklar. Das von der EU geforderte Monitoring der Durchführung durch nationale Maßnahmen, das z.B. in Österreich zentral durch das Bundeskanzleramt sichergestellt wird, stößt in Deutschland aufgrund des dezentralen Ressortansatzes, der ein sachlich federführendes Ministerium für zuständig erklärt, auf Probleme. Immerhin fordert das Bundeskabinett regelmäßig Umsetzungsberichte von den Ministerien an. Das Bundeswirtschaftsministerium überprüft, ob Richtlinien umgesetzt werden, erinnert das sachlich zuständige Ressort kurz vor Fristablauf und achtet auf die deutsche Umsetzungsmitteilung an die Kommission. Im Bundestag kontrolliert der Europaausschuss die Umsetzung, in dem dieser die Bundesregierung auffordert, zu jeder Richtlinie einen Umsetzungsplan vorzulegen und über Verspätungen, die über einen Zeitraum von sechs Monaten hinaus gehen, zu berichten.46 Dieses System gilt jedoch nur für die Bundesebene. Es wäre zu untersuchen, ob entsprechende Mechanismen auf Länderebene existieren. Solche wären jedoch im Hinblick darauf, dass nach den Art. 70 ff. und 83 ff. GG ein erheblicher Teil der Kompetenzen zur gesetz- und verwaltungsmäßigen Vollziehung nicht beim Bund, sondern bei den Ländern liegt, notwendig.
C. Gesetzgebung Nach einer Rede des früheren EU-Kommissars Bangemann im Jahre 1988 basieren 80 % der deutschen Bundesgesetze auf EU-Recht. Ob diese vielzitierte Zahl wirklich realistisch ist, wurde und wird jedoch bezweifelt.47 Nach neueren 46 K. Winkel, Die Umsetzung von EG-Richtlinien in deutsches Recht unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen in der Praxis, Zeitschrift für Gesetzgebung (ZG) 1997, 113 (123); M. Fuchs, Der Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages, Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl) 2004, 3 (14 f.), zur „disziplinierenden Wirkung“ dieser Tätigkeit; vgl. auch Hölscheidt (Anm. 12), 347, der darauf hinweist, dass zwischen 2006 und 2008 kein Informationsaustausch zwischen Bundesregierung und Ausschuss stattfand. 47 Zustimmend aber T. Silberhorn, Die Neugestaltung der Beteiligung des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union, in: Busek/Hummer (Hrsg.), Die Konstitutionalisierung der Verbandsgewalt in der (neuen) Europäischen Union, 2006, 173 (174).
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Untersuchungen wurde mit dieser Aussage eher ein „80 %-Mythos“ kreiert, denn tatsächlich haben höchstens 80 % der Bundesgesetze im Umweltbereich, 75 % im Bereich Landwirtschaft und 40 % in den Sektoren Wirtschaft und Verkehr „europäische Impulse“, was besagen soll, dass ein Rechtsakt der EU oder eine EuGHEntscheidung Anlass für die Bundesgesetzgebung sind.48 Ungeachtet dessen wurde die europäische Rechtsordnung vor allem seit Einführung des Binnenmarktziels stark verdichtet. Dies hat nicht nur zwangsläufig Auswirkungen auf die Quantität und Qualität der nationalen Gesetzgebung, sondern stellt für den Bundestag ein gravierendes Legitimitätsproblem dar: Er kann die durchzuführenden Rechtsakte der EU inhaltlich nicht mehr determinieren, ist für den Inhalt der legislativen Durchführungsmaßnahmen aber gleichwohl dem deutschen Volk gegenüber politisch verantwortlich.
I. Beteiligung des Parlaments Angesichts des allgemein konstatierten Demokratiedefizits auf EU-Ebene49 spielt die Beteiligung der nationalen Parlamente an EU-Angelegenheiten eine wichtige Rolle.50 Art. 23 GG, der die Rechte von Bundestag und Bundesrat gegenüber der Bundesregierung bei der Mitwirkung an EU-Angelegenheiten regelt und Art. 45 GG, der den Europaausschuss als Pflichtausschuss unmittelbar im GG verankert, enthalten eine Grundentscheidung der Verfassung für eine effektive Zusammenarbeit der deutschen Verfassungsorgane mit dem Bundestag in Europaangelegenheiten. Auch diese Vorschriften beziehen sich aber ausdrücklich nur auf eine Beteiligung des Parlaments im Vorfeld der EU-Gesetzgebung.51 Es ist jedoch fraglich, ob die institutionelle Europäisierung der deutschen Gesetzgebung52 auch in Bezug auf die Durchführungspraxis funktioniert.53 Das 48 A. E. Töller, Mythen und Methoden – Zur Messung der Europäisierung der Gesetzgebung des Deutschen Bundestages jenseits des 80 %-Mythos, ZParl 2008, 3. 49 Siehe BVerfG, Maastricht (Anm. 21), 182 f. und 185 f.; ausführliche Beschreibung des Problems auch bei BVerfG, Lissabon (Anm. 7), 2277 ff.; zustimmend Streinz (Anm. 40), Rn. 324 ff. 50 Vgl. M. Schröder, Die Parlamente im europäischen Entscheidungsgefüge, EuR 2002, 301 ff. 51 Silberhorn (Anm. 47), 173 ff. 52 Vgl. A. E. Töller, Dimensionen der Europäisierung – Das Beispiel des Deutschen Bundestages, ZParl 2004, 25 (29 ff.). 53 C. Sterzing/S. Tidow, Die Kontrolle der deutschen Europapolitik durch den EUAusschuss des Bundestages, integration 2001, 274 (280); skeptisch für Österreich T. Öhlinger, Parlamente als Erfüllungsgehilfen der EU, juridikum 2004, 84 ff., der die nationalen Parlamente als „Erfüllungsgehilfen exekutiver Rechtssetzungsorgane“ bezeichnet.
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Problem besteht u.a. darin, dass der Europaausschuss typischerweise nur mit Grundsatzfragen (z.B. Vertragsänderungen), nicht aber mit der Umsetzung einzelner Richtlinien oder der Anpassung deutscher Gesetze an Verordnungen befasst ist. Er überweist diese Angelegenheiten als technische Fragen nach §§ 93, 93 a, 93 b GeschOBTag an die Fachausschüsse. Diesen fehlt hingegen mitunter das Verständnis für die europäischen Aspekte der Regelung. Die EU-spezifische und die gesetzgeberische Fach-Expertise klaffen damit auseinander. Die Koordinierung zwischen diesen Ausschüssen, so zeigen empirische Untersuchungen, funktioniert in der Praxis nur eingeschränkt. Der Europaausschuss nutzt im Übrigen nur selten seine formalen Rechte gegenüber der Bundesregierung. Er schaltet sich lediglich in 8 % aller EU-Angelegenheiten nach § 93 b GeschOBTag ein und gibt eine Stellungnahme hierzu ab.54 Möglicherweise spiegelt sich in dieser Praxis auch die konsensual geprägte Europapolitik des deutschen Parlaments wider. Dennoch sollten auch Wege zur Stärkung der Europafreundlichkeit des Bundestages selbst und seiner Fachausschüsse gesucht werden. Diverse Studien und auch Parlamentarier selbst beklagen das mangelnde Europaengagement des Bundestages.55 So soll häufig über eine bloße Kenntnisnahme von EU-Rechtsakten hinaus eine inhaltliche Auseinandersetzung des Bundestages nicht stattfinden. Das führt zwangsläufig zu Umsetzungsproblemen, denn auf diese Weise bleibt den Parlamentariern verborgen, welchen Spielraum sie bei der Durchführung von EURechtsakten besitzen. Dies zeigte sich an der Behandlung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl in einem Verfahren vor dem BVerfG, in dem sich offenbarte, dass sich die deutschen Parlamentarier gar nicht über den bestehenden Ermessenspielraum im Klaren waren, den sie zur grundrechtskonformen Ausgestaltung des Haftbefehlsgesetzes56 hätten nutzen können. Genau an dieser Stelle setzt die in der Lissabon-Entscheidung vom BVerfG eingeforderte „Integrationsverantwortung“ des deutschen Parlaments an.57 Ein europafreundlicher Gesetzgeber, der den Verfassungsauftrag in Art. 23 Abs. 1 GG und diese Verantwortung beim Wort nimmt, setzt sich mit den Inhalten der von ihm umzusetzenden EU-Rechtsakte hinreichend auseinander. Nach der Lissabon-Entscheidung ist er dazu gar verfassungsrechtlich verpflichtet. Bei der Nutzung des Umsetzungsspielraums, den das EU-Recht dem deutschen Gesetzgeber lässt, zeigt sich übrigens noch ein anderes Problem: Grundsätzlich ist das EU-Recht indifferent gegenüber den innerstaatlichen Umsetzungsmodalitäten, 54
Sterzing/Tidow (Anm. 53), 281; Töller (Anm. 52), 39. Silberhorn (Anm. 47), 174. Letztlich auch angemahnt unter Hinweis auf die „Integrationsverantwortung“ des Bundestages von BVerfG, Lissabon (Anm. 7), 2272 f. 56 Vgl. BVerfGE 113, 273 (284 f.), Darkazanli. 57 BVerfG, Lissabon (Anm. 7), 2272 f. 55
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sofern diese eine verbindliche und transparente sowie im Hinblick auf die Verwirklichung des angestrebten Regelungsziels effektive Umsetzung gewährleisten.58 Zwar muss der deutsche Gesetzgeber vor diesem Hintergrund keineswegs alle EURechtsakte innerstaatlich selbst durchführen. Interessant erscheint dennoch die schleichende Entparlamentarisierung bei der Durchführung von EU-Recht, und zwar aufgrund der zunehmend pauschalen Ermächtigung der Exekutive durch den Gesetzgeber, Rechtsverordnungen zur Umsetzung von EU-Recht zu erlassen – ohne dass dabei die Ermächtigungsgrundlage auf einen konkreten Rechtsakt der EU Bezug nimmt (so in § 48 a Abs. 1 BImSchG oder in § 25 ChemikalienG).59 Begründet werden solche dynamische Fremdverweisungen mit dem praktischen Bedürfnis nach schnellen und flexiblen Umsetzungsinstrumenten, vor allem im Agrar- und Umweltbereich, die durch den Gesetzgeber angeblich nicht bereit gestellt werden können.60 Sind solche Praktiken „bequem, aber verfassungswidrig“, wie gesagt wurde?61 Und sind sie auch „europafreundlich“ oder perpetuieren sie nicht auch noch das Demokratiedefizit der EU auf nationaler (Umsetzungs-)Ebene? Verfassungsrechtlich ist diese Technik unter dem Aspekt der in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG enthaltenen Verweisung auf das Bestimmtheitsgebot und das Demokratieprinzip problematisch. Sie wird jedoch von Rechtsprechung und Literatur überwiegend gebilligt.62 Der Vorrang des EU-Rechts kann in diesem Zusammenhang allerdings nicht als Argument angeführt werden, da dieser keine speziellen Vorgaben zur innerstaatlichen Handhabung des Durchführungsbefehls enthält. Überzeugender ist die Begründung, die Öffnung des GG für die europäische Integration erstrecke sich auch auf Art. 80 GG und fordere eine Neuinterpretation der Vorschrift im Lichte von Art. 23 Abs. 1 GG in der Form, dass das umzusetzende EU-Recht mit in die
58
EuGH, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, Rn. 15; Rs. C-217/97, Kommission/Deutschland, Slg. 1999, I-5087, Rn. 32 f.; siehe hierzu W. Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), Kommentar zum EUV/EGV, 2003, Art. 249 EGV, Rn. 90 f. 59 Härtel (Anm. 18), 432 ff.; dass die Möglichkeit der Umsetzung von Richtlinien durch Rechtsverordnungen durch Art. 80 GG eingeschränkt wird, bedauert allerdings die Ministerialbürokratie, etwa Winkel (Anm. 46), 116. 60 Winkel (Anm. 46), 116, hält sie für praktisch notwendig und verweist auf andere Mitgliedstaaten und darauf, dass die Rechtsverordnungen der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. 61 B. Becker, DVBl 2003, 1487; differenzierend A. Guckelberger, Die Gesetzgebungstechnik der Verweisung unter besonderer Berücksichtigung ihrer verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Probleme, ZG 2004, 62 (83 ff.). 62 H. Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 2, 2. Aufl. 2006, Art. 80 GG, Rn. 31; BVerwGE 121, 382 (387).
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Verordnungsermächtigung hineingelesen wird. Die von Art. 80 GG geforderte Regelungsdichte und Bestimmtheit wird somit durch das EU-Recht vorgeprägt.63 Die hier an wenigen Beispielen beschriebene Entparlamentarisierung der Durchführung von EU-Recht mag zum Teil fachlich geboten sein und entlastet auch den Bundestag.64 Sie ist meines Erachtens aber nicht nur positiv zu sehen, denn die Europafreundlichkeit der Legislative wird nicht unbedingt dadurch gestärkt, dass sie sich aus weiten Bereichen der Durchführung von EU-Recht zurückzieht. Insgesamt sollte die Europafreundlichkeit der deutschen Legislative gestärkt werden, z.B. indem EU-Angelegenheiten im Parlament ein höherer Stellenwert beigemessen wird.65 Das bedeutet, nicht nur Grundsatzdebatten vor den Tagungen des Europäischen Rates über den Fortgang der europäischen Integration zu führen, sondern sich auch mit spezifischen EU-Themen zu befassen, z.B. in Form einer Diskussion über das jährliche Arbeitsprogramm der Kommission, oder durch Abhalten regelmäßiger Fragestunden zu Angelegenheiten der europäischen Politik.66 Die durch das Lissabon-Urteil des BVerfG angestoßene und im Sommer 2009 geführte Diskussion über die „Integrationsverantwortung“ des Bundestages und eine Parlamentsbeteiligung in wichtigen Europafragen weist in diese Richtung. Sofern erweiterte Beteiligungsrechte des Bundestages konstruktiv genutzt werden und nicht auf eine Blockade abzielen, können sie zu einer europafreundlicheren Gesetzgebung insgesamt beitragen. Nur am Rande soll in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass seit 2003 Reisen von Bundestagsabgeordneten zu den EU-Organen nicht mehr durch den Bundestagspräsidenten genehmigt werden müssen, weil sie nicht mehr wie Auslandsreisen, sondern wie Inlandsreisen behandelt werden.
63
J. Saurer, Rechtsverordnungen zur Umsetzung europäischen Richtlinienrechts, JZ 2007, 1073 (1075); Härtel (Anm. 18), 436 f., die allerdings zu Recht darauf hinweist, dass das Zitiergebot in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG auch in Bezug auf EU-Rechtsakte gilt, diese also in der Rechtsverordnung neben der gesetzlichen Ermächtigung mit zitiert werden müssen. Die abweichende, von BVerwGE 121, 382 (386) gebilligte Praxis scheint mir nicht europafreundlich zu sein. Sie geht außerdem zu Lasten der Rechtsunterworfenen, die nicht wissen können, welcher EU-Rechtsakt mit der pauschalen Verordnungsermächtigung umgesetzt wird. 64 Hölscheidt (Anm. 12), 345. 65 Töller (Anm. 52), 41, ortet ein Motivationsproblem bei den Bundestagsabgeordneten in EU-Rechtsfragen, das auf einem Missverhältnis zwischen ihren Aufgaben und ihren Steuerungsmöglichkeiten beruhe. 66 Silberhorn (Anm. 47), 193.
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II. Innerstaatliche Kompetenzverteilung Für die normative Durchführung von EU-Recht in Deutschland gilt die allgemeine Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, die sich an den zu regelnden Sachmaterien i.S.v. Art. 73 f. GG orientiert. Die Ansicht, die für gesetzgeberische Durchführungsmaßnahmen zur Sicherung der Einheitlichkeit und Effektivität sowie wegen der Außenverantwortung des Bundes gegenüber der EU stets bundeseinheitliche Regelungen forderte, konnte sich nicht durchsetzen.67 Möglicherweise wäre eine solch unitaristische Lösung europafreundlicher gewesen. Jedoch hat die EU nie die Änderung der bundesstaatlichen Strukturen ihrer Mitgliedstaaten gefordert. Sie geht davon aus, dass das EU-Recht auch im Rahmen einer bundesstaatlichen Kompetenzverteilung effektiv durchgeführt werden kann. Umgekehrt greift jedoch in Bezug auf Umsetzungsmaßnahmen der Legislative auch nicht die Auffangzuständigkeit der Länder für die Gesetzgebung nach Art. 70 GG. Gegen eine solche ausschließliche Zuständigkeit der Länder spricht jetzt auch Art. 23 GG, der die Absicht der Verfassung zeigt, Bund und Länder an der Durchführung von EU-Recht zu beteiligen. Dies entspricht auch der deutschen Gesetzgebungspraxis seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften. Zahlreiche, auch nach außen wirkende Probleme des Zusammenwirkens von Bund und Ländern bei der gesetzgeberischen Durchführung von EU-Recht,68 die sich vor allem im Bereich der Rahmenkompetenzen aufgrund des früheren Art. 75 GG, insbesondere im Naturschutz und im Wasserrecht, zeigten,69 könnten sich mit der Streichung der Vorschrift erledigt haben. Die Föderalismusreform von 2006 dürfte deshalb die Europafreundlichkeit der deutschen Gesetzgebung gestärkt haben, denn seitdem hat der Bund die konkurrierende Kompetenz im gesamten Umweltbereich. Dadurch wird die Umsetzung von Umweltrichtlinien erleichtert – hier war es wegen der partiellen Länderzuständigkeit bei der Ausführung zu Verzögerungen gekommen. Was das Abweichungsrecht der Länder von der Bundesumweltgesetzgebung in Art. 75 Abs. 3 GG betrifft, so ist dieses weitgehend theoretisch, da über 80 % der Umweltgesetzgebung auf EU-Recht beruht70 und damit im Hinblick auf dessen Vorrang und Art. 10 EGV „abweichungsfest“
67
Vgl. Classen (Anm. 10), Rn. 57 m.w.N.; siehe auch C. Haslach, Zuständigkeitskonflikte bei der Umsetzung von EG-Richtlinien?, DÖV 2004, 12 (13 ff.). 68 Verbesserungsvorschläge durch Änderung der Gesetzgebungskompetenzen bei Baier (Anm. 39), 194 ff. 69 Vgl. M. Reinhardt, Wasserrechtliche Richtlinientransformation zwischen Gewässerschutzrichtlinie und Wasserrahmenrichtlinie, DVBl. 2001, 145; Haslach (Anm. 67), 15 ff.; Fisahn (Anm. 41), 242. 70 Siehe Anm. 48.
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ist. Das Abweichungsrecht suggeriert folglich einen Handlungsspielraum der Landesgesetzgeber, der in der Praxis gar nicht existiert.
III. Staatlicher Handlungsspielraum Deutschland bemüht sich sehr darum, seine Umsetzungsmaßnahmen der EU zu notifizieren. Nach einer Statistik der Kommission befindet es sich September 2009 mit einer Notifizierungsquote von 99,74 % an erster Stelle von allen Mitgliedstaaten.71 Aber wie die Kommission selbst in ihrer Statistik feststellt, bedeutet die Einhaltung solcher Formalitäten keineswegs, dass die getroffenen Maßnahmen ausreichen oder im Übrigen mit EU-Recht vereinbar sind. Immer wieder zeigen sich in Deutschland Probleme bei der gesetzgeberischen Durchführung von EURecht, die zu Verzögerungen oder inhaltlichen Defiziten führen. Dazu gehört die angebliche Neigung des deutschen Gesetzgebers, die Vorgaben des EU-Rechts durch zusätzliche oder verschärfende Maßnahmen oder durch eine „überschießende Umsetzung“ von EU-Rechtsakten, d.h. durch eine Bezugnahme auf solche Rechtsakte außerhalb ihres zwingenden Anwendungsbereichs, durchzuführen.72 Es handelt sich um ein Phänomen, das allen Mitgliedstaaten bekannt ist, aber in Deutschland, insbesondere von Seiten der Wirtschaft, als Wettbewerbsnachteil empfunden und daher meist abgelehnt wird.73 Während in Österreich hierzu sogar mit § 1 Abs. 1 Deregulierungsgesetz rechtliche Vorgaben existieren, die besagen, dass Standards der EU nicht ohne zwingenden Grund übererfüllt werden sollen, wird dieses Thema in Deutschland zwar politisch diskutiert, z.B. am Beispiel der Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien Beschäftigung 2000/78/EG und Rassismus 2000/43/EG74 durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), weil diese über die beiden Richtlinien hinaus auch Diskriminierungen aufgrund der Religion, des Alters, einer Behinderung und der sexuellen Identität erfasst.75 Eine allgemeine Regelung oder einheitliche Linie gibt es hierzu jedoch nicht. Die EU selbst fordert die Mitgliedstaaten übrigens auf, die Übererfüllung von EU-Standards 71
Vgl. http://ec.europa.eu/community_law/docs/docs_directives/mne_country_2009 0905_en.pdf. 72 Siehe hierzu Schroeder (Anm. 58), Rn. 131. 73 Vor den Gefahren des „Draufsattelns“ warnt auch Winkel (Anm. 46), 118. 74 ABl. 2000, Nr. L 303/16 bzw. ABl. 2000, Nr. L 180/22. 75 BGBl. I 2006, 1897; vgl. H. Reichold/O. Hahn/M. Heinrich, Neuer Anlauf zur Umsetzung der Antidiskriminierungs-Richtlinien, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) 2005, 1270; G. Thüsing, Blick in das europäische und ausländische Arbeitsrecht, Recht der Arbeit 2008, 307 (309 f.); J.-H. Bauer/G. Thüsing/A. Schunder, Das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz – Alter Wein in neuen Schläuchen?, NZA 2006, 774.
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zu vermeiden, da diese zu einer Wettbewerbsverzerrung und Rechtsunsicherheit in Europa führt. Ein weiteres Hindernis für eine europafreundliche Gesetzgebung, das sich ebenfalls in vielen Mitgliedstaaten zeigt, aber in Deutschland häufig thematisiert wird, ist der Versuch des Gesetzgebers, die Systematik seiner Kodifikationen zu wahren und Maßnahmen zur Durchführung von EU-Recht in diese einzupassen. Die Zersplitterung von Rechtsgebieten, die durch die punktuelle Rechtssetzung der EU vor allem im Binnenmarktbereich gefördert wird, wird in Deutschland, das großen Wert auf Systematik legt, mit besonderer Skepsis betrachtet.76 Sie ist Ursache für Verzögerungen oder Fehler bei der Durchführung von EU-Recht. Umgekehrt kann jedoch auch die Verknüpfung von legislativen Maßnahmen zur Umsetzung von EU-Recht mit autonomen Gesetzgebungsmaßnahmen des deutschen Gesetzgebers zu einem kodifikatorischen Gesamtpaket Probleme schaffen. Denn die EU-Rechtsakte sehen für Durchführungsmaßnahmen in der Regel einen strikten Zeitplan vor, der mit den internen politischen Prioritäten und der Kompromisssuche im Rahmen der autonomen staatlichen Gesetzgebung kollidieren kann. Dies zeigte sich, als Deutschland drei Anläufe von 2001 bis 2006 benötigte, um die genannten Antidiskriminierungsrichtlinien aus dem Jahre 2000 in der Kodifikation umzusetzen, die letztendlich im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) mündeten und zu mehreren Vertragsverletzungsverfahren führten.77 Speziell im stark harmonisierten Umweltsektor haben sich – sichtbar durch diverse Vertragsverletzungsverfahren in den Bereichen Naturschutz und Wasserrecht – Defizite bei der normativen Durchführung von EU-Recht gezeigt, die Zweifel an der Europafreundlichkeit der deutschen Legislative aufwerfen. Diese Defizite beruhten teilweise auf der kompetenzrechtlichen Verortung der betroffenen Bereiche in der – mittlerweile gestrichenen – Rahmenkompetenz des Art. 75 GG. Jedoch wurde als Grund für diese Probleme auch die deutsche Rechtstradition genannt, die mit den Regelungsmethoden und -zielen des EU-Umweltrechts 76
Zum Bereich des Verwaltungsrechts grundlegend T. von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, passim; zum Wasserrecht vor allem Reinhardt (Anm. 69), 145 ff.; Kritik an der Schuldrechtsreform J. Wilhelm, Schuldrechtsreform 2001, JZ 2001, 861; siehe aus dem Bereich des Lebensmittelrechts Kritik an der Durchführung der Lebensmittel-Basis-Verordnung (EG) Nr. 178/2002, ABl. 2002, Nr. L 31/1, durch das neue deutsche Lebens- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB), BGBl. 2005 I, 2618, bei R. Streinz, Einführung, in: A. H. Meyer/R. Streinz (Hrsg.), LFGB – BasisVO, Kommentar, 2007, Rn. 6 und 79 ff.; D. Eckert, Grundsätzliches zum Regelungsansatz des Gesetzesentwurfs zur Neuerung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts, Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht (ZLR) 2003, 667. 77 Vgl. die in Anm. 75 genannte Literatur.
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unvereinbar sei.78 Konkreter orten einige einen Gegensatz zwischen dem Typus der deutschen konditionellen Rechtssetzung und dem Typus der finalen Rechtssetzung der EU, der zu Umsetzungsproblemen in Deutschland geführt habe. Während die deutsche Normierungsmethode zu einer Verrechtlichung der Verwaltung führe, basiere das EU-Recht auf unbestimmten Normen, die Zielvorgaben enthalten, welche mit politischen Einschätzungsprärogativen zugunsten der normanwendenden Stellen kombiniert werden.79 Ähnliche Argumente wurde interessanterweise in der Diskussion um die Anpassung des deutschen Arbeitsrechtes an die Beschäftigungsrichtlinie 2000/78/EG und die Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG durch das AGG angeführt. Beklagt wurden u.a., dass diese Richtlinien topisch und problemorientiert statt systematisch formuliert seien, dass deshalb unüberbrückbare Gegensätze zwischen deutschem und europäischem Rechtsdenken bestünden und der deutschen Rechtsordnung ein Fremdkörper ohne Rücksicht auf seine dogmatische Anschlussfähigkeit eingepflanzt werde.80 Diese Argumente leuchten jedoch nicht ein: Innerhalb von über 50 Jahren Mitgliedschaft in den Gemeinschaften und der EU hatte der deutsche Gesetzgeber ausreichend Gelegenheit, sich mit der Methode der europäischen Normgebung und Regulierung so vertraut zu machen, dass die deutsche Rechtsordnung ohne größere Friktionen an diese angepasst werden kann. Andere Umsetzungsdefizite, die möglicherweise auf unterschiedlichen konzeptionellen Vorstellungen des EU-Gesetzgebers und des deutschen Gesetzgebers beruhen, zeigen sich an den häufigen Diskussionen über den richtigen Schutzstandard. So hatte sich Deutschland z.B. gegenüber einer Vertragsverletzungsklage der Kommission vergeblich mit dem Argument verteidigt, das deutsche Wasserrecht gewährleiste mindestens den von der EG-Gewässerrichtlinie angestrebten Schutzstandard. Letztlich zeigt sich an der Verurteilung Deutschlands, dass Richtlinien häufig nicht nur einen materiellen Standard durch Festsetzung bestimmter Grenzwerte schaffen wollen, sondern auch spezifische Begleitmaßnahmen fordern, die von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssen.81 Entsprechende Probleme des deutschen Gesetzgebers mit der „Verfahrenslastigkeit“ des EU-Verwaltungsrechts zeigen sich im Umweltrecht auch, wenn es um den Informationszugang oder um die Herstellung von Transparenz im Bereich der Umwelt- oder Verbraucherinformation geht. Hier erweist sich das spezielle deutsche Verständnis von der 78
Reinhard (Anm. 69), 146, überzeichnet die EU-Umweltgesetzgebung als „inkonsistentes Stückwerk“, „aus politischen Notwendigkeiten geboren“, „verfahrenslastig“ und „mit den konzeptionellen Vorstellungen des deutschen Umweltrechts unvereinbar“. 79 R. Breuer, Umsetzung von EG-Richtlinien im neuen Energiewirtschaftsrecht, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2004, 520 (525 f.). 80 Reichold/Hahn/Heinrich (Anm. 75), 1272 f. 81 EuGH, Rs. C-184/97, Kommission/Deutschland, Slg. 1999, I-7837, Rn. 24 ff.
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Verwaltungsöffentlichkeit als Problem. Noch allgemeiner: Das deutsche Recht ist immer noch nicht hinreichend wie andere Rechtsordnungen mit prozeduralen Gerechtigkeitsregeln, die das EU-Recht gezielt einsetzt, vertraut.82 Auch die Schaffung subjektiver Rechte aufgrund von Richtlinien sowie deren Reichweite wurde und wird in Deutschland als Problem empfunden, insbesondere im Vergaberecht sowie im Umweltrecht.83
D. Verwaltung I. Statistik Nach einer neueren empirischen Studie setzen sich 88 % bzw. 80 % der Abteilungsleiter der Bundes- bzw. Landesministerien in ihrer Praxis mehr oder weniger intensiv mit Europafragen auseinander.84 50 % der Befragten nannten als Folge dieser Entwicklung einen starken Anpassungsdruck in Bezug auf die Implementierung von EU-Recht. Dies bestätigt die Erwartung von einer alles durchdringenden Europäisierung jedenfalls der deutschen Ministerialverwaltung. In Bezug auf die unteren Landes- und die Kommunalbehörden dürften die Zahlen zwar anders ausfallen, jedoch wird auch der Europäisierungsgrad dieser Behörden immer noch beträchtlich sein. Nun sagt die Europäisierung der Exekutive nichts über ihre Einstellung zum EU-Recht aus. Die Europafreundlichkeit der deutschen Exekutive, die sich in der Befolgung und Anwendung des EU-Rechts in der Praxis zeigt, ist noch schwerer 82 Derartige Regeln, z.B. Informationsverpflichtungen, sind durchaus mit dem deutschen Rechtssysten kompatibel, vgl. W. Schroeder, Der Informationsanspruch des Verbrauchers, in: Streinz (Hrsg.), Verbraucherinformation und Risikokommunikation im Lebensmittelrecht, 2004, 33 (55 f.). 83 Vgl. M. Bungenberg, Vergaberecht im Wettbewerb der Systeme, 2007, 145; M. Ruffert, in: C. Calliess/ders. (Hrsg.), Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft – EUV/EGV –, 3. Aufl. 2007, Art. 249 EGV, Rn. 64; EuGH, Rs. C-433/93, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-2303, Rn. 17 ff., zum Vergaberecht; siehe auch C. Knill, Die Implementation Europäischer Umweltpolitik, Die Verwaltung 2006, 61 (71); M. Reinhardt, Umweltinformation als subjektives Recht – Das Umweltinformationsgesetz vom 8. Juli 1994 als Beispiel konzeptionsdefizitärer Transformationsgesetzgebung, Die Verwaltung 1997, 161 (162); M. Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996, passim, zum Umweltrecht. 84 M. Felder, Wie vollzieht sich der (bürokratische) Wandel von Staatlichkeit? Das Beispiel der Europäisierung des Mehrebenenverwaltungssystems Deutschlands, TranState Working Papers No. 48/Universität Bremen, 2007, 6.
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zu kontrollieren als die der Legislative. Es gibt hierzu keine aussagekräftigen Statistiken.85 Teilweise werden zwar auch Aufsichtsverfahren der Kommission wegen Vertragsverletzungen der deutschen Verwaltung nach Art. 226 EGV geführt.86 Das sind jedoch Ausnahmen. Dennoch dürfte es in der Praxis mehr Vertragsverstöße der deutschen Exekutive geben, als bekannt ist. Die entsprechende Zahl könnte noch wachsen, denn mit der zunehmenden Umstellung der EU-Gesetzgebung von Richtlinien auf Verordnungen,87 die Umsetzungsmaßnahmen der nationalen Parlamente entbehrlich machen, verschieben sich die Durchführungsprobleme von der nationalen Legislative hin zur nationalen Exekutive.
II. Juristischer Ausgangspunkt Art. 10 EGV verpflichtet die nationalen Behörden EU-rechtlich zur effektiven Durchsetzung des EU-Rechts. Aus Perspektive der Art. 20 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG sind die deutschen Behörden aufgrund der Bindung an Recht und Gesetz auch verfassungsrechtlich zur korrekten Durchführung und Anwendung von EU-Recht verpflichtet.88 Spätestens seit Etablierung des Instituts der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien89 und dessen Billigung durch das BVerfG90 wurde diese Verpflichtung für die deutsche Exekutive konkret. Die innerstaatliche Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern bei der Vollziehung von unmittelbar anwendbarem EU-Recht ergibt sich aus Art. 83 ff. GG
85
So auch C. Knill, Die Implementierung Europäischer Umweltpolitik: Der Einfluss nationaler Verwaltungen, Die Verwaltung 2006, 61. 86 EuGH, Rs. C-431/92, Kommission/Deutschland (Großkrotzenburg), Slg. 1995, I- 2189, Rn. 40, in Bezug auf die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung für ein Kraftwerk. 87 Mitteilung der Kommission über die Anwendung des Gemeinschaftsrechts, KOM (2007), 502 endg., Ziff. III. 1.1., Fn. 12: da wo es rechtlich und politisch möglich ist, wird auf die Verordnung umgestellt; vgl. auch Schroeder (Anm. 58), Rn. 53, zur Verordnung als zweckmäßigeren Regelungstyp. 88 Vgl. OVG Saarlouis, Az. 3 W 14/06, Beschluss vom 22.1.2007, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2007, 351. 89 Siehe EuGH, Rs. 148/78, Ratti, Slg. 1979, 1629, Rn. 20 ff., später Rs. 103/88, Fratelli Constanzo, Slg. 1989, 1839, Rn. 35, bezüglich der Verpflichtung der Behörde zur Anwendung einer Richtlinie von Amts wegen. 90 BVerfGE 75, 223 (237 ff.), Kloppenburg.
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analog.91 Grundsätzlich vollziehen die Landesbehörden also EU-Recht, als wäre es Bundesrecht. Art. 84 GG entwirft allerdings für den Fall von Defiziten bei der Vollziehung von Bundesgesetzen durch Landesbehörden ein Szenario der hierarchischen Steuerung durch den Bund, das bislang im kooperativen Föderalismus92 keine Rolle gespielt hat. Zwar hat die Vollziehung von EU-Recht durch Landesbehörden in Deutschland durchaus gezeigt – man denke an die FFH-Richtlinie93 – dass sich manche Landesbehörden als nicht besonders europafreundlich erweisen und es in der Praxis zu länderspezifischen Vollzugsdefiziten kommt. Jedoch wird das in Art. 82 Abs. 2–5 GG genannte Kriseninstrumentarium den Unzulänglichkeiten der bundesstaatlichen Vollziehung von EU-Recht nicht gerecht. Auch reicht der repressive Einsatz von finanziellen Maßnahmen in Art. 109 Abs. 5 und Art. 104 a Abs. 6 GG nicht aus, um die europafreundliche Vollziehung von EU-Recht durch die Landesbehörden sicherzustellen.94 Ein ausdrücklicher Verfassungsauftrag an die Landesexekutive könnte einen wichtigen Beitrag leisten, um die Europafreundlichkeit der deutschen Exekutive zu stärken.
III. Normverwerfung durch deutsche Behörden Bereits Ende der 80er Jahre entwickelte der EuGH aus dem Vorrang und aus dem Loyalitätsgebot in Art. 10 EGV die Verpflichtung der nationalen Behörden zur Beachtung des EU-Rechts von Amts wegen.95 Daraus ergab sich folgerichtig die Pflicht der Behörden zur Prüfung der Vereinbarkeit von nationalem Recht mit EURecht und zur Verwerfung solcher Vorschriften, die mit EU-Recht unvereinbar sind. Diese Normverwerfungspflicht der Verwaltung war seltsamerweise lange Zeit kein Thema in Deutschland und offenbar wurde sie in der Praxis von deutschen Behörden nicht extensiv praktiziert. Das würde jedoch nicht für die Europafreundlichkeit der deutschen Exekutive sprechen, denn damit würde sie ihre Verpflichtung aus Art. 10 EGV missachten. Die Vorbehalte gegen eine Normverwerfung durch
91
Ganz h.M.: analog, weil sich Art. 83 GG unmittelbar nur auf die Vollziehung von Bundesrecht bezieht; vgl. etwa Jarass (Anm. 13), Art. 83 GG, Rn. 5; siehe die bei Schweitzer (Anm. 11), 290 ff. m.w.N., diskutierten Lösungen. 92 Vgl. H. Bauer, Die Bundestreue, 1992, 170 ff. 93 Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (Fauna-Flora-Habitat- oder FFH-Richtlinie), vgl. zur unterbliebenen Umsetzung durch unterlassene Meldung von Schutzgebieten durch die Länder EuGH, Rs. C-71/99, Kommission/Deutschland, Slg. 2001, I-5811, Rn. 20 ff. 94 Anders Fisahn (Anm. 41), 245 f. 95 EuGH, Rs. 103/88, Fratelli Constanzo, Slg. 1989, 1839, Rn. 31; später insbesondere Rs. C-224/97, Ciola, Slg. 1999, I-2517, Rn. 26.
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die Verwaltung sind bekannt und wurden in Deutschland hinreichend erörtert.96 Sie kollidiere mit dem Normverwerfungsmonopol des BVerfG und führe zudem zu uneinheitlicher Rechtsanwendung und Rechtsunsicherheit aufgrund einer potentiell anarchischen Verwerfungspraxis,97 die auch nicht über eine Vorlage an den EuGH nach Art. 234 EGV eingefangen werden könne. Eine Kompromisslösung will danach unterscheiden, ob der Verstoß der von der Verwaltung anzuwendenden nationalen Rechtsvorschrift offenkundig ist oder nicht. Nur im erstgenannten Fall soll ein Recht zur Normverwerfung bestehen. Letztlich sind aber das Recht und die Pflicht der nationalen Exekutive zur Verwerfung einer Norm, die sie mit guten Gründen für EU-rechtswidrig halten kann, eine Konsequenz des Vorrangs und der Verpflichtung zur effektiven Anwendung von EU-Recht. Innerstaatlich folgen sie aus der Europarechtsfreundlichkeit des GG und Art. 23 GG. Allerdings haben deutsche Behörden, die ein solches Normverwerfungsrecht in der Praxis tatsächlich in Anspruch nehmen, mit erheblichem politischen Gegenwind zu rechnen. So war z.B. das saarländische Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales, das im Widerspruch zum Apothekengesetz, welches ein Fremdbesitzverbot für Apotheken statuiert, unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit in Saarbrücken die niederländische Internetapotheke Doc Morris zugelassen hatte, harter Kritik ausgesetzt.98 Diese ist jedoch unangemessen, denn selbstverständlich steht der Rechtsweg zu den deutschen Verwaltungsgerichten und dann über Art. 234 EGV weiter zum EuGH offen – der im Fall DocMorris ja auch vom Gegner der Ministeriumsentscheidung erfolgreich beschritten wurde.99 Derartige Vorgänge sind nicht unbedingt geeignet, eine europarechtsfreundliche Durchführung des EU-Rechts durch die deutsche Exekutive zu fördern. Eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Regelung zur Normverwerfung der Verwaltung wäre daher sinnvoll.
IV. Funktionalisierung der deutschen Verwaltung? Es wurde bereits vom beachtlichen Europäisierungsgrad der deutschen Exekutive gesprochen. Als Hindernis für eine europarechtsfreundliche Praxis der deutschen 96
Vgl. etwa J. Pietzcker, Zur Nichtanwendung europarechtswidriger Gesetze, in: O. Due/M. Lutter/J. Schwarze, Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, 1995, 1095 (1099 ff.); weitere Nachweise auch bei Streinz/Herrmann (Anm. 24), 6 ff. 97 Milder Schoch (Anm. 22), 111: sie lockere die Gesetzesbindung der Verwaltung soweit die Normverwerfung von der Selbsteinschätzung der Verwaltung abhängt. 98 W. Semmroth, DocMorris als Einfallstor für Normverwerfungskompetenz der Verwaltung?, NVwZ 2006, 1378 (1382). 99 Vgl. zum gerichtlichen Verfahren Streinz/Herrmann (Anm. 24), 8 f.; Entscheidung durch EuGH, Rs. C-171/07, Apothekerkammer des Saarlandes, Rn. 25 ff., wonach das gesetzliche Fremdbesitzverbot gerechtfertigt ist, JZ 2009, 790, mit Anm. T. Fuchs.
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Exekutive könnte sich aber auch der Umstand erweisen, dass die europarechtsspezifische und die Fachexpertise häufig auch auf Verwaltungsebene auseinanderklaffen. Jene Personen, die Kenntnisse im EU-Recht haben, sind oft nicht diejenigen, die das EU-Recht in der Praxis umsetzen müssen.100 Daraus ergeben sich als Konsequenz oft Loyalitätsprobleme sowie Motivations- und Wissensdefizite der deutschen Verwaltungsbehörden in Bezug auf die Durchführung von EU-Recht.101 Als klassisches Beispiel hierfür kann der – allerdings bereits 1997 vom EuGH entschiedene – Fall der Weigerung deutscher Behörden, eine durch Art. 87, 88 EGV verbotene Beihilfe an den deutschen Aluminiumhersteller Alcan zurückzufordern, herangezogen werden.102 In den letzten Jahren haben sich jedoch die Beziehungen zwischen der EU und den nationalen Verwaltungsbehörden erheblich vertieft. EU-rechtliche Vorgaben haben in vielen Sachbereichen, etwa im Agrarrecht, Lebensmittel- und Arzneimittelrecht, Zollrecht und im Umweltrecht, nicht nur zu einer zunehmenden Vergemeinschaftung der Verwaltungsmodalitäten, sondern zu einem vielfältig strukturierten Geflecht von Verwaltung in der EU geführt. Während früher primär um die Wahrung der Eigenverantwortung der nationalen Exekutiven in Bezug auf die Vollziehung von EU-Recht gekämpft wurde (nationale Verfahrensautonomie versus Effektivitätsprinzip),103 bildet sich nunmehr in zahlreichen Politikbereichen eine europäische Verbundverwaltung heraus. Diese bleibt zwar organisatorisch in Verwaltungseinheiten der EU einerseits und Behörden der Mitgliedstaaten andererseits getrennt. Funktional betrachtet beruht der Vollzug jedoch in zahlreichen Politikbereichen mittlerweile auf einer Kooperation der beteiligten Verwaltungsebenen.104 Zu diesem Zwecke werden zwischen EU-Einrichtungen und nationalen Behörden Informationen ausgetauscht, Amtshilfe organisiert, Entscheidungen in abgestimmten Verfahren getroffen, Kontrollen durchgeführt, Beanstandungs- oder 100
Beobachtet in Österreich auch von Dossi (Anm. 32), 199 f. Speziell zur Situation im Lebensmittelbereich auch W. Schroeder, Europäische Lebensmittelkontrolle: Effektivität durch Zentralisierung?, ZLR 2009, 531 (532). 102 EuGH, Rs. C-24/95, Alcan, Slg. 1997, I-1591; überzogene Kritik von R. Scholz, Zum Verhältnis von europäischem und nationalem Verwaltungsverfahrensrecht, DÖV 1998, 261; dagegen R. Winkler, Das „Alcan“-Urteil des EuGH – Eine Katastrophe für den Rechtsstaat?, DÖV 1999, 148; ausgewogen D. Scheuing, Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2001, 117 ff. 103 Hierzu etwa von Danwitz (Anm. 28), 421; Schroeder (Anm. 27), 3 ff. 104 Beispiele für den Lebensmittelbereich bei Schroeder (Anm. 101), 540: das Schnellwarnsystem bei unsicheren Lebensmitteln nach der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 oder das Zusammenwirken von EU-Behörden und nationalen Behörden bei der Lebensmittelüberwachung nach der Verordnung (EG) Nr. 882/2004. 101
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Selbsteintrittsrechte der Kommission festgelegt, Pläne überprüft oder gemeinsam erstellt. Diese Formen der Zusammenarbeit haben mittlerweile eine Vielfalt und Dichte erreicht, die es rechtfertigen, von einem Ebenen übergreifenden Europäischen Verwaltungsverbund zwischen der EU und den nationalen Exekutiven zu sprechen.105 Das gemeinsame Vorgehen beider Ebenen bei der Problemlösung und die dadurch bewirkte Funktionalisierung der deutschen Exekutive dürften auch zu einem europafreundlicheren Vollzug in Deutschland führen. Trotz dieser unbestreitbaren Entwicklung, die allerdings fachspezifisch und in den einzelnen Politikbereichen unterschiedlich abläuft, gilt die Kapazität der deutschen Verwaltung für EU-freundliche Reform als begrenzt und ihr institutioneller Kern als eine ziemlich konstante Größe. Traditionell verstehen sich die Mitglieder der deutschen Exekutive weniger als „civil servants“, sondern eher als Staatsdiener.106 Neue nichthierarchische Instrumente des EU-Rechts, insbesondere Vorschriften über Informationspflichten der Behörden im Umwelt-, Lebensmittelund Konsumentenrecht, setzen jedoch ein Verständnis der Exekutive als einer Einrichtung voraus, die nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber der Gesellschaft rechenschaftspflichtig ist.107 Hier besteht noch Anpassungsbedarf der deutschen Verwaltung.
E. Resümee Woran zeigt sich also die Europafreundlichkeit oder -skepsis der deutschen Legislative und Exekutive? Es gibt letztlich keine klaren Regelungen, die beiden Gewalten ein deutliches Signal geben, wie sie bei der Durchführung von EURecht verfahren sollen. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ist als Staatsziel zu allgemein formuliert. Man kann der Vorschrift zwar entnehmen, dass sie die „überstaatliche Bedingtheit“ der Bundesrepublik Deutschland (Werner von Simson) ernst nimmt und sich für einen europafreundlichen Verfassungsstaat entscheidet. Praktische Hilfen zur innerstaatlichen Lösung von Kompetenz- und Loyalitätskonflikten im Hinblick auf die Durchführung des EU-Rechts durch die deutsche Legislative und Exekutive bietet sie jedoch nicht an. Das GG trifft auch keine Aussage zu den innerstaatlichen Modalitäten der Durchführung von EU-Recht. Die dabei auftauchenden Probleme der vertikalen und horizontalen Gewaltenteilung können 105
Vgl. T. von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, 609 ff.; E. SchmidtAßmann, in: ders./Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, 1; G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004, 21 ff. 106 Knill (Anm. 85), 74 ff.; vgl. G.F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, 645 f. 107 A. Scherzberg, Freedom of information – deutsch gewendet – das neue Umweltinformationsgesetz, DVBl. 1994, 733.
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zwar auch durch Auslegung der Art. 70 ff. und 83 ff. GG im Lichte des Art. 23 GG und des Rechtsstaatsprinzips gelöst werden. Sinnvoller als ein Rückgriff auf den Argumentationstopos der Europafreundlichkeit der Verfassung wären jedoch ausdrückliche Regelungen im GG über die Pflicht zur effektiven Durchführung von EU-Recht und über die Durchführungsmodalitäten. Sie könnten dazu beitragen, dass sich die Europafreundlichkeit in der politischen Praxis der deutschen Legislative und Exekutive noch steigert.
Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsskepsis in der politischen Praxis der deutschen Exekutive und Legislative Von Claus Dieter Classen
A. Zur Umsetzung des Europarechts im nationalen Recht Die Europafreundlichkeit von Legislative und Exekutive zeigt sich naturgemäß in besonderem Maße bei der Frage, ob und inwieweit europarechtliche Vorgaben auf nationaler Ebene korrekt umgesetzt werden. Dem Grunde nach kann man insoweit sogar der deutschen Verfassung eine entsprechende Verpflichtung entnehmen. Aus der in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) verankerten grundsätzlichen Verpflichtung zur Mitwirkung der Bundesrepublik an der Europäischen Union kann man ableiten, dass die Bundesrepublik ihre aus der Mitgliedschaft in der Union resultierenden Verpflichtungen erfüllen muss.1 Einer der wenigen positiven Aspekte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon ist es, die „Europafreundlichkeit“ des Grundgesetzes als solche ausdrücklich bekräftigt zu haben.2 Mit Blicke auf eine Art. 23 vergleichbaren Bestimmung der dortigen Verfassung (Art. 88–1) hat im Übrigen der französische Verfassungsrat bereits vor einigen Jahren Ähnliches postuliert. Zudem hat er daraus abgeleitet, dass er im Rahmen seiner Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen auch überprüfen müsse, ob mit ihnen die Umsetzungspflicht korrekt erfüllt wurde. Allerdings kommt ein negatives Verdikt naturgemäß nur in Evidenzfällen in Betracht.3 Im Lichte der Görgülü-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das ja explizit die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes betont und dann eine vergleichbare Konsequenz gezogen hat,4 läge das nahe.
1 Dazu C. D. Classen, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Art. 23, Rn. 10. 2 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 123, 267 (346 f.). 3 Conseil constitutionnel, 2004–496 DC, Juristenzeitung (JZ) 2004, 969. 4 BVerfGE 111, 307 (315 ff., insbesondere 317).
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I. Auf eine begrenzte Einzelermächtigung gestützte punktuelle Richtlinie contra systematische und umfassende Kodifikation Trotz ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung gelingt die Erfüllung dieser Aufgabe nicht immer. Das Referat von Herrn Schroeder hat deutlich gemacht: Die sachgerechte Umsetzung von Europarecht in das nationale Recht stellt eine ausgesprochen komplexe Angelegenheit dar. Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, der das Recht der Europäischen Union prägt, führt nämlich dazu, dass europäische Rechtsakte vielfach nur bestimmte Facetten eines Problemfeldes erfassen. Diese in eine auf systematische und umfassende Kodifikation ausgelegte nationale Rechtsordnung einzupassen, ist schwierig, auch wenn sich die Europäische Union in den letzten Jahren erkennbar darum bemüht, sachlich zusammenhängende Richtlinien stärker als früher aufeinander abzustimmen oder gar in einem Text zusammenzufassen. Trotzdem sind die – wenn auch im einzelnen unterschiedlich erfolgreichen Bemühungen – des deutschen Gesetzgebers zu begrüßen, sich vielfach um eine sachgerechte wirkliche Integration von Richtlinien in das deutsche Recht zu bemühen, konkret also, diese nicht durch Sondergesetze umzusetzen, sondern deren Vorgaben in die normalen Gesetze zu integrieren. Man könnte zwar daran denken, wegen der Komplexität der Aufgabe auf diese Einpassung zu verzichten. Dann würde es vermutlich seltener vorkommen, dass auf nationaler Ebene Regelungen erlassen werden, die über das hinausgehen, was zur Umsetzung des Unionsrechts zwingend erforderlich ist. Nicht zuletzt die Kommission scheint diesen Weg für sachgerecht zu erachten. Und in der Tat dürfte mit einer solchen Praxis die Umsetzung des Europarechts auf der rein normativen Ebene am besten gewährleistet sein – man weiß genau, welche Gesetze zur Umsetzung welcher Richtlinie erlassen wurden. Gegen einen solchen Ansatz spricht aber die alte verwaltungswissenschaftliche Weisheit, dass die Zunahme von Gesetzen nicht unbedingt mit einer entsprechenden Zunahme der Effektivität der Steuerung der Verwaltung durch die Gesetze einhergeht, im Gegenteil. Im privatrechtlichen Bereich dürfte dies nicht substantiell anders sein. Will man also erreichen, dass die Richtlinienumsetzung nicht nur im Gesetzblatt erfolgt, sondern sich in der Lebenswirklichkeit widerspiegelt, muss der Gesetzgeber die vorgenannte Integrationsaufgabe leisten – auch wenn damit ggf. im Rahmen der Umsetzung Regelungen beschlossen werden, die etwa in ihrem Anwendungsbereich über das hinausgehen, was von der fraglichen Richtlinie verlangt wird. Damit würde aber im Übrigen auch der – durchaus zu Recht vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) immer wieder betonten – Vorgabe für die Umsetzung Rechnung getragen, dass das nationale, eine Richtlinie umsetzende Recht auch so klar formuliert sein muss, dass es die von dieser geforderten
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Ergebnisse nicht nur ermöglicht, sondern gewährleistet.5 Dies impliziert aber auch, dass gelegentlich Vorgaben einer Richtlinie mit einem weitergehenden Anwendungsbereich im nationalen Recht umgesetzt werden. Beispiel: Richtlinien zum Verbraucherschutz sind naturgemäß im Anwendungsbereich auf Konstellationen beschränkt, in denen es um den Schutz des Verbrauchers geht. Entschließt sich nun der Umsetzungsgesetzgeber, bestimmte Regelungen mit umfassendem Regelungsanspruch ins Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) einzufügen, weil nach traditioneller deutscher Konzeption (und unbeschadet der neuerdings im BGB zu findenden Definition des Verbrauchers in § 13) die Vorschriften des BGB grundsätzlich für alle gelten und allenfalls umgekehrt die für den kaufmännischunternehmerischen Bereich sinnvollen großzügigeren Regelungen im Handelsgesetzbuch (HGB) zu finden sind, macht dies durchaus Sinn. Bekanntlich ist dies etwa mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 1999/446 in weitem Umfang geschehen.7 Die vorgenannte Zielsetzung ist naturgemäß besonders schwer zu erfüllen, wenn das Europarecht Grundstrukturen des nationalen Rechts in Frage stellt. Im Privatrecht wurde dies zum Teil im Kontext der Antidiskriminierungsrichtlinien und ihrer Umsetzung durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) befürchtet.8 Im öffentlichen Recht – Herr Schroeder hat das zutreffend hervorgehoben – treten insoweit Probleme auf, einerseits mit Blick auf die Bedeutung des subjektiven Rechts,9 andererseits mit Blick auf die traditionelle Fixierung des deutschen Rechts auf das materielle Recht zulasten des Verfahrensrechts.10 5 Dazu etwa EuGH, Rs. C-361/88 (Kommission/Deutschland), Slg. 1991, I-2567, Rn. 15. 6 Amtsblatt der EG 1999, L 171/12. 7 Siehe dazu etwa F. Faust, in: H. G. Bamberger/H. Roth (Hrsg.), BGB, 2. Aufl. 2008, § 433, Rn. 3. 8 J. Neuner, Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, JZ 2003, 57 ff.; E. Picker, Antidiskriminierungsgesetz. Der Anfang vom Ende der Privatautonomie?, JZ 2002, 880 ff.; ders., Antidiskriminierung als Schuldrechtsprogramm, JZ 2003, 540 ff.; H. Reichold, Sozialgerechtigkeit versus Vertragsgerechtigkeit, JZ 2004, 384 (389). 9 Aus der umfangreichen Literatur etwa S. Neidhardt, Nationale Rechtsinstitute als Bausteine europäischen Verwaltungsrechts, 2008, 62 ff.; M. Reiling, Zu individuellen Rechten im deutschen und im europäischen Recht, 2004; R. Streinz/A. Epiney, Primär- und Sekundärrechtsschutz im Öffentlichen Recht, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 61, 300 ff. bzw. 362 ff.; C. D. Classen, Der einzelne als Instrument zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts?, Verwaltungsarchiv (VerwArch) 88 (1997), 645 ff.; J. Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997. 10 Dazu M. Kment, Nationale Unbeachtlichkeits-, Heilungs- und Präklusionsvorschriften und europäisches Recht, 2005; C. D. Classen, Das nationale Verwaltungsverfahren im Kraftfeld des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Die Verwaltung 31 (1998), 307 (322 ff.).
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II. Der Beitrag des Europarechts zur verfassungsrechtlich geforderten Modernisierung des öffentlichen Rechts Eine genauere Analyse zeigt aber, dass es nicht allein um die von Herrn Schroeder angesprochene Frage geht, ob der deutsche Gesetzgeber nicht mittlerweile hinreichend Zeit gehabt habe, sich ggf. mit abweichendem europäischem Rechtsverständnis zu befassen. Vielmehr kann das Europarecht auch gewisse – ggf. systembedingte – Erstarrungen im nationalen Recht aufbrechen und damit nicht zuletzt auch verfassungsrechtlich geforderte Veränderungen bewirken kann. Geht man davon aus, dass Art. 3 Abs. 3 GG auch eine starke Nähe zum verfassungsrechtlich garantierten Persönlichkeitsrecht, zum Teil sogar zur Menschenwürde aufweist,11 muss man das AGG (auch) als Gesetz begreifen, das die Wertentscheidung des Art. 3 Abs. 3 GG im Privatrecht verwirklicht.12 Dabei sei daran erinnert, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den früheren § 611a BGB, der zunächst allein zur Umsetzung der EG-Richtlinie 76/207 erlassen worden war, später als Norm zur Erfüllung einer aus Art. 3 Abs. 2 GG abzuleitenden Schutzpflicht verstanden hat.13 Von daher ist der über die Richtlinien hinausgehende Anwendungsbereich des AGG nur sachgerecht. Bestätigt wird dies durch den – überaus bemerkenswerten – jüngst ergangenen Beschluss des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Benachteiligung eingetragener Lebenspartnerschaften im Vergleich zu Ehepartnern im Bereich des Versorgungsrechts.14 Würde im Übrigen, wie derzeit diskutiert, die Richtlinie 2000/78 im Anwendungsbereich an den der Richtlinie 2000/43 angepasst, wäre im deutschen Recht eine Umsetzung einfach, da sie im Grundsatz bereits erfolgt ist. 11 W. Heun, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band 2, 2. Aufl. 2004, Art. 3, Rn. 116; C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Anm. 1), Art. 3, Rn. 367; U. Mager, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 64, 417; E. Eichenhofer, Diskriminierungsschutz und Privatautonomie, Deutsche Verwaltungsblätter (DVBl.) 2004, 1078 (1081). Nach J. Salzwedel, Gleichheitsgrundsatz und Drittwirkung, in: K. Carstens/H. Peters (Hrsg.), Festschrift für Hermann Jahrreiß zum siebzigsten Geburtstag, 1964, 339 (347), steht Art. 3 Abs. 3 GG daher Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG näher als Art. 3 Abs. 1 GG. 12 Dazu generell BGH, JZ 1999, 514 (516); Salzwedel (Anm. 11), 349; M. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, 178; J. Dietlein, Die Lehre von den Schutzpflichten, 84 f.; M. Sachs, Besondere Gleichheitssätze, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 2. Aufl. 2000, § 126, Rn. 122; Mager (Anm. 11), 417; J. Iliopoulos-Strangas, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 64, 421. 13 BVerfGE 89, 276 (285 ff.). 14 Beschluss 1 BvR 1164/07 vom 7.7.2009. Anders aber zuvor die einhellige höchstrichterliche Rechtsprechung: Kammer des 2. Senats des BVerfG, JZ 2008, 792, mit kritischer Anmerkung von C. D. Classen, ferner Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 125, 79; Bundesgerichtshof, NJW-Rechtsprechungsreport (RR) 2007, 1441; Bundesarbeitsgericht, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2007, 1179.
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Ähnliches lässt sich im öffentlichen Recht mit Blick auf das Recht der öffentlichen Aufträge und die schwierige, nur langsam und in mehreren Etappen erfolgte Umsetzung der hier ergangenen Richtlinien beobachten.15 Traditionell herrscht in Deutschland die Auffassung vor, dass die einschlägigen Regeln des einfachen nationalen Rechts, die zudem vielfach allein in Verwaltungsvorschriften verankert sind, anders als das mittlerweile ergangene einschlägige Gemeinschaftsrecht, als solche keine subjektiven Rechte begründen, sondern vielmehr allein einen sparsamen Umgang mit öffentlichen Mitteln sicherstellen sollen.16 Der unstreitig subjektive Rechte begründende Gleichheitssatz hingegen entfaltet wegen seiner Allgemeinheit nur begrenzt eine praktische Wirkung.17 Nun vermag dieser Ansatz schon für sich genommen nur in Grenzen zu überzeugen. Die einschlägigen nationalen Vorschriften sind vielmehr als Ausdruck einer Selbstbindung zu begreifen, und angemessene, auch den einzelnen schützende Verfahrensgarantien sind gleichfalls unverzichtbar, gerade um den Gleichheitssatz nicht leer laufen zu lassen.18 Zudem vermögen die Konsequenzen, die sich mit dem traditionellen Ansatz verbinden, nämlich ein weitgehendes Fehlen des Primärrechtsschutzes, im Gegensatz zur Auffassung des BVerfG nicht zu überzeugen. In jedem Fall beschränkt das Gericht seine Argumentation bewusst auf den Bereich unterhalb der Schwellenwerte19 und macht damit implizit deutlich, dass jedenfalls bei Aufträgen oberhalb der in den einschlägigen Richtlinien definierten Schwellenwerte Rechtsschutz zu gewährleisten ist.
III. Zur Feinstaub-Problematik Großen Wirbel hat es auch um die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der europäischen Vorgaben zum Thema „Feinstaub“ gegeben.20 Allerdings geht es 15 Zu diesem Prozess siehe etwa R. Pitschas/J. Ziekow (Hrsg.), Vergaberecht im Wandel, 2005. 16 BVerfGE 116, 135 (152 f.); J. Pietzcker, Der Staatsauftrag als Instrument des Verwaltungshandelns, 1978, 386 ff.; M. Bungenberg, Vergaberecht im Wettbewerb der Systeme, 2007, 145. 17 Pietzcker (Anm. 16). 18 Eine klare, überzeugende Gegenposition findet sich etwa bei G. Hermes, Gleichheit durch Verfahren bei der staatlichen Auftragsvergabe, JZ 1997, 907 ff. Siehe ferner zur Diskussion M. Wallerath, Öffentliche Bedarfsdeckung und Verfassungsrecht, 1988, 221 ff., insbesondere 318 ff.; H. Kaelble, Vergabeentscheidung und Verfahrensgerechtigkeit, 2008, 46 ff. 19 BVerfGE 116, 135 (158). 20 Dazu etwa C. Callies, Feinstaub im Rechtschutz deutscher Verwaltungsgerichte, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2006, 1; D. Couzinet, Die Schutznormtheorie in Zeiten des Feinstaubs, DVBl. 2008, 754.
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hier weniger um die bereits erwähnte Frage nach der Existenz von subjektiven Rechten, die gerade mit Blick auf das europäische Umweltrecht so viele Probleme bereitet. Anders als in anderen Fällen des Anliegerschutzes, wie etwa dem Schutz vor Gefahren von Atommülltransporten, wo erst das BVerfG subjektive Rechte von Anliegern für möglich hielt und eine entsprechende Entscheidung eines Oberverwaltungsgerichts mit knapp begründeter gegenteiliger Annahme für verfassungswidrig hielt,21 hatte hier auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) den Anliegern insoweit besonders belasteter Straßen subjektive Rechte zuerkannt. Die sonst gelegentlich zu beobachtende Neigung der Verwaltungsgerichte, aus dem subjektiven Recht, dass den Bürger schützen soll, ein Instrument zu machen, das es ermöglicht, Interessen von Bürgern ohne inhaltliche Prüfung formal abschlägig zu bescheiden, stand hier also nicht zur Debatte. Stattdessen steht beim Feinstaub im Vordergrund die Frage, was der Einzelne verlangen kann. Die Leitvorstellung des BVerwG in diesem Zusammenhang ging dahin, dass jeder Anlieger allein verlangen kann, was ihm nützt.22 Dieser Gedanke ist dann vom EuGH korrigiert worden.23 Dabei musste man in diesem Kontext sogar die häufig diskutierte Grundsatzfrage, ob das gemeinschaftsrechtlich vorgeformte subjektive Recht auch im Interesse einer besseren Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts weit verstanden werden müsse,24 gar nicht ausdiskutieren. Auch aus der Sicht des nationalen Rechts ist die Position des BVerwG nämlich allenfalls auf den ersten Blick überzeugend. Fragt man sich, wie der Anspruch des Anliegers erfüllt werden soll, wird deutlich: Maßnahmen nach dem „St. Floriansprinzip“ erfüllen vielleicht das subjektive Recht, genügen aber kaum der objektivrechtlichen Verpflichtung der Verwaltung, allen Belangen und damit auch denen aller anderen Betroffenen angemessen Rechnung zu tragen. Letztlich kann hier eben doch nur der vom Gemeinschaftsrecht geforderte umfassende Aktionsplan helfen. Viele entscheidende Probleme, die in diesem Kontext die Erfüllung der europarechtlichen Vorgaben so schwer gemacht haben, dürften vielmehr in der komplexen Zuständigkeitsordnung zu suchen sein.
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Siehe BVerfG, Beschluss 1 BvR 2524/06 vom 21.1.2009. BVerwG, JZ 2007 mit Anmerkung von M. Ruffert. 23 EuGH, Urteil vom 27.7.2008, Rs. C-237/07 (Janecek), Rn. 39. 24 Dazu etwa Ruffert (Anm. 22); ferner die Positionen etwa von Neidhardt und Masing (Anm. 9). 22
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B. Zur Europatauglichkeit des politisch administrativen Systems I. Zum eigenverantwortlichen Agieren der Bundesminister bei der Aushandlung von Richtlinien Damit ist eine zweite Frage anzusprechen, die bei Herrn Schroeder zu Recht im Mittelpunkt seiner Überlegungen gestanden hat – ist das deutsche politisch-administrative System strukturell geeignet, den europäischen Anforderungen zu genügen? Als problematisch erweist sich zunächst die verfassungsrechtliche Regelung zur Kompetenzverteilung innerhalb der Bundesregierung – die schon im Grundgesetz (Art. 65 GG) verankerte, in der politischen Praxis bemerkenswert stark ausgeprägte Eigenverantwortlichkeit der Bundesministerien. Eine gute Umsetzung europarechtlicher Vorgaben ist nämlich nur möglich, wenn bereits bei der Aushandlung des Europarechts die Umsetzung mitbedacht wird. Hier aber liegen die ersten Probleme. Während ein Bundesminister für eine Gesetzesinitiative die Zustimmung seiner Ministerkollegen benötigt – initiativberechtigt ist nur das Bundeskabinett als Ganzes (Art. 76 GG) – können Verhandlungen in Brüssel ggf. in eigener Verantwortung geführt werden. Hält also, um ein aktuelles Beispiel zu nehmen, der Bundesumweltminister eine Richtlinie zum Bodenschutz25 für notwendig, kann er das Projekt in Brüssel auch dann voranbringen, wenn in Deutschland der Wirtschaftsminister dezidiert dagegen ist und sich das Kabinett gar nicht festgelegt hat. Geht es dann an die Umsetzung, so liegt innerhalb der Bundesregierung die Verantwortung für die Koordination der verschiedenen, am Prozess beteiligten Ministerien bei demjenigen, das am stärksten betroffen ist – Herr Schroeder hat das erwähnt. Bei dieser Vorgehensweise ist zweifelhaft, ob ein Kompromiss gelingen kann, soweit nicht nur technische Fragen zu klären, sondern auch politische Konflikte zu bewältigen sind – ein Fachressort verfügt kaum über Instrumente, sich in einem Konfliktfall wirksam durchzusetzen. Dies kann nur in enger Rückkoppelung mit einer zentralen Koordinierungsstelle geschehen. Allerdings ist die in Deutschland stärker als anderswo zu beobachtende Eigenverantwortlichkeit der Ministerien nicht nur eine Folge der entsprechenden verfassungsrechtlichen Regelung. Sie ist auch Folge der starken Stellung der Parteien im Zusammenhang mit der Bildung von Regierungskoalitionen, die der Nutzung des in der Verfassung gleichfalls vorgesehenen Instruments der Richtlinie in der Hand 25 Siehe den Vorschlag der Kommission für eine entsprechende Richtlinie, KOM (2006) 232 endg.
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des Bundeskanzlers enge Grenzen setzen. Konsequenz kann daher nur sein, dass hier stärker das Kabinett als Ganzes und in Vorbereitung auf dessen Entscheidungen politische Gremien wie der Koalitionsausschuss aktiv werden müssen.
II. Zur Einbeziehung der parlamentarischen Ebene bei der Aushandlung von Richtlinien Ein vergleichbares Problem besteht auf der Ebene des Bundestages. Geht es um die Rechte aus Art. 23 GG, hat der Europaausschuss in der Vergangenheit den Fachausschüssen häufig den Vortritt gelassen mit der Folge, dass dann zumeist nichts passiert ist. Dabei stellt sicher auch die umgekehrte Variante – Vorrang des Europaausschusses, wie sie in etlichen anderen Staaten praktiziert wird26 – kein Allheilmittel dar. Auf diesem Wege wird zwar das Parlament formal stärker in die Gestaltung der Europapolitik eingebunden, aber wenn dies ohne Rückkoppelung mit den später für die Umsetzung maßgeblich verantwortlichen inhaltlichen Fachleuten geschieht, macht dies auch nur wenig Sinn. Immerhin hat offenbar der Bundestag auch als Gesamtinstitution – nicht zuletzt „wachgerüttelt“ durch dis Diskussionen vor dem BVerfG über das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum europäischen Haftbefehl27 – in den letzten Jahren zunehmend Interesse an der Problematik gefunden. Dies hat sich vor allem am Abschluss einer Ausführungsvereinbarung zum Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
26 Im Vereinigten Königreich wurden 1974 von beiden Häusern des Parlaments entsprechende „Select Committees“ geschaffen, die im Grundsatz umfassend von der Regierung informiert werden und ggf. eine Parlamentsdebatte zu einem im Ministerrat anstehenden Verhandlungspunkt veranlassen. Vor Abschluss dieses Verfahrens soll ein britischer Minister keinem Gesetzgebungsakt der EG zustimmen. Siehe zu Einzelheiten P. A. Weber-Panariello, Nationale Parlamente in der Europäischen Union, 1995, 245; C. R. Munro, The UK Parliament and EU Institutions – Partners or Rivals?, in: E. Smith (Hrsg.), National Parliaments as Cornerstones of European Integration, 1996, 80 (89 ff.). In Dänemark schuf das Beitrittsgesetz aus dem Jahre 1972 einen „Marktausschuss“ (heute: „Europaausschuss“) des Parlaments, der wöchentlich zusammentritt und der Regierung – politisch verbindliche – Verhandlungsmandate erteilen kann, von denen abzuweichen eine erneute Befassung des Ausschusses fordert; siehe zu Einzelheiten C. A. Jensen, Prior Parliamentary Consent to Danish EU Policies, in: Smith, ebd., 39 ff.; L. A. Rehof, The Danes, Their Constitution and The International Community, in: B. Dahl/T. Melchior/D. Tamm (Hrsg.), Danish Law in a European Perspective, 2002, 61 (76 ff.). 27 BVerfGE 113, 273.
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gezeigt.28 Auch die Entscheidung des BVerfG zum Vertrag von Lissabon29 liefert insoweit vielleicht einen erneuten „Motivationsschub“, selbst wenn es diesen „Alltagsaspekt“ der europäischen Integration kaum behandelt und sich im wesentlichen mit der parlamentarischen Mitwirkung bei der sicher wichtigen, aber doch wesentlich selteneren Übertragung von Kompetenzen befasst und hier sogar Anforderungen stellt, deren verfassungsrechtliche Sinnhaftigkeit ebenso wie deren Vereinbarkeit mit dem Europarecht in Teilen jedenfalls durchaus zweifelhaft ist.30 Mit übertriebenen Konsequenzen sollte man allerdings vorsichtig sein: Ein (ohne Änderung von Art. 23 GG ohnehin unzulässiges) parlamentarisches Weisungsrecht gegenüber der Bundesregierung entsprechend dem österreichischen Verfassungsrecht (Art. 23d Bundesverfassungsgesetz) würde diese unter Umständen im Ministerrat verhandlungsunfähig machen mit der Konsequenz, dass Entscheidungen ggf. gegen die Stimme Deutschlands getroffen würden, womit deutschen Interessen erst recht nicht gedient wäre.
III. Zur Landeskompetenz bei der gesetzgeberischen Umsetzung von Richtlinien Eine weitere Bemerkung gilt dem Thema Bundesstaatlichkeit. Die Umsetzung von Richtlinien durch die Länder kann leicht zu Defiziten führen. Die in verschiedenen anderen EU-Mitgliedstaaten bestehende Ersatzkompetenz des Zentralstaates31 stellt denn auch nur theoretisch einen Ausweg dar, führt doch dessen fehlende Kompetenz für die entsprechende Sachmaterie dazu, dass die administrative Kompetenz zur Ausarbeitung entsprechender, auch mit dem sonstigen Landesrecht kompatibler Gesetzentwürfe schwer zu finden sein dürfte. Immerhin hat Herr Schroeder zu Recht angenommen, dass die Ersetzung der Rahmen- durch eine konkurrierende Kompetenz im Bereich des Umweltrechts die Umsetzung der gerade in diesem Bereich recht zahlreichen europarechtlichen Vorgaben eher erleichtert. Mit Blick auf die den Bundesländern zugestandene Abweichungskompetenz sieht er allerdings kein Problem – europarechtliche Vorgaben seien ja
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Dazu etwa V. Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, 368 ff. Siehe Anm. 2. 30 Zur Kritik C. D. Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokrustesbett, JZ 2009, 881 (884 ff.). 31 Siehe die Verfassungen von Belgien (Art. 169); Österreich (Art. 23d Abs. 5); Spanien (Art. 149 Abs. 3 Nr. 3 sowie Art. 150 Abs. 3, und dazu H. Kieserling, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die spanische Verfassung, 2003, 299) und seit 2001 auch von Italien (Art. 117). 29
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zwingend. Über die Frage, was europarechtliche Vorgaben konkret bedeuten, kann man allerdings manchmal durchaus streiten.
C. Zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Europarecht durch nationale Behörden Der zuletzt angeführte Punkt leitet über zum dritten hier anzusprechenden Komplex, der unmittelbaren Anwendung von Europarecht durch nationale Behörden auch dann, wenn dieses im Konflikt mit nationalem Recht steht. Der EuGH hat die entsprechende Verpflichtung nationaler Behörden zu Recht mehrfach betont,32 und angesichts der Probleme, die eine korrekte Umsetzung des Europarechts vielen Mitgliedstaaten bereitet, spricht auch in der Tat viel für diesen Weg. Soweit ersichtlich, verweigern sich die deutschen Behörden auch nicht prinzipiell einem solchen Vorgehen. Dies gilt etwa in Fällen verzögerter Umsetzung von Richtlinien und damit verbundener offenkundiger Europarechtswidrigkeit des nationalen Rechts. Man sollte allerdings auch die Schwierigkeiten nicht übersehen, die sich mit diesem Unterfangen verbinden. Gerade das von Herrn Schroeder erwähnte Beispiel der Zulassung einer Apotheke im Saarland, die anders als vom deutschen Recht gefordert nicht von einem Apotheker betrieben wird, macht dies deutlich. Bekanntlich ist der Fall über eine Vorlage des Verwaltungsgerichts Saarbrücken vor dem EuGH gelandet. Im Dezember 2008 hat Generalanwalt Bot seinen Schlussantrag gehalten, im Mai 2009 der Gerichtshof sein Urteil gesprochen. Nach Schlussanträgen und nach dem Urteil aber ist das deutsche Recht mit dem EG-Vertrag vereinbar, weil die entsprechende Einschränkung der Niederlassungsfreiheit durch Erfordernisse des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt sei.33 Über die Überzeugungskraft dieser Aussage kann man streiten.34 Es bleibt das Problem, dass sich hier eine Behörde auf zumindest zweifelhafter Grundlage über geltendes deutsches Gesetzesrecht hinweggesetzt hat. Nun soll das Verhalten der saarländischen Behörden gar nicht kritisiert werden, zumal diesem Fall einer möglicherweise „übereifrigen“ Anwendung des Europarechts viele andere einer unzureichenden Anwendung gegenüberstehen. Es bleibt 32
EuGH, Rs. 106/77 (Simmenthal), Slg. 1978, 629, Rn. 14 ff.; Rs. 103/88 (Fratelli Costanzo), Slg. 1989, 1939, Rn. 28 ff. 33 Verb. Rs. C-171/07 und 172/07 (Apothekerkammer des Saarlandes), Rn. 63 ff. (Schlussanträge) bzw. Rn. 25 ff. (Urteil). 34 Zur Kritik etwas C. D. Classen, Der EuGH hält das Fremdbesitzerverbot für Apotheken für mit dem EG-Vertrag vereinbar, in: JURA 32 (2010), 56 ff.
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aber die Frage, wer hier die Verantwortung trägt.35 Ein Blick in die von nationalen Gerichten gestellten Vorlagefragen zeigt vielfach, welche Schwierigkeiten die unmittelbare Anwendung des Europarechts bereitet, wie schwer man sich bei der Ableitung klarer Aussagen tut, wie häufig man auch daneben liegen kann. Allerdings ist dies weniger ein Problem des Grundgesetzes und seiner Europaoffenheit als eines, dass wohl in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen auftritt und an dem auch das Grundgesetz nichts ändern kann. Nationale Regelungen, die insoweit eine Rückkoppelung mit der jeweiligen administrativen Spitze, also dem zuständigen Landes- oder Bundesminister vorsehen, wären insoweit sicher sinnvoll. Sie dürften mutmaßlich auch europarechtlich nicht zu beanstanden sein, selbst wenn der EuGH mit Blick auf die Justiz im Fall einer europarechtlich begründeten Nichtanwendung nationalen Gesetzesrechts nicht nur eine Vorlagepflicht für nationale Gerichte an das Verfassungsgericht,36 sondern auch Bindungen im Zusammenhang mit der Rückverweisung im Rahmen eines gerichtlichen Rechtszuges für unvereinbar mit dem Europarecht gehalten hat.37 Bei Gerichten besteht nämlich in Zweifelsfällen die Möglichkeit einer Vorlage an den EuGH, die bei Verwaltungsbehörden nicht eröffnet ist.
D. Der Umgang der deutschen Politik mit Europa Zum Abschluss sei noch eine letzte Bemerkung zur deutschen Europapolitik gemacht, und zwar jenseits des Referats von Herrn Schroeder. Vielfach, so scheint es, steht Europa als solches dabei eher im Hintergrund. Ob eine bestimmte Richtlinie befürwortet wird oder nicht, hängt nicht davon ab, ob ein solches Vorhaben auf europäischer Ebene sinnvoll ist oder nicht – entscheidend ist allein der Inhalt: Kann der Bundesumweltminister ein Vorhaben wie den Bodenschutz auf nationaler Ebene nicht voranbringen, versucht er es auf europäischer Ebene – dass im konkreten Fall vermutlich das Subsidiaritätsprinzip (in seiner durch das entsprechende Protokoll konkretisierten Fassung) entgegensteht, spielt dann keine Rolle. Hier wirkt sich die schon oben kritisierte starke Eigenverantwortlichkeit der Ressorts in Deutschland 35
Siehe auch die pointierte Bemerkung von P. M. Huber, Vergleich, in: A. v. Bogdandy/P. Cruz Villalón/P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum II, 2008, § 26, Rn. 53: Das Parlamentsgesetz wandele sich „vom zentralen Steuerungsinstrument der Rechtsordnung zu einem Zufallsgenerator, über dessen Effektivität die Exekutive mehr als früher eigenverantwortlich entscheidet“. 36 Dazu den Fall Simmenthal (Anm. 32). 37 Dazu EuGH, Rs. 146/73 (Rheinmühlen), Slg. 1974, 139, Rn. 3; Rs. C-348/89 (Mecanarte), Slg 1991, I-3277, Rn. 46 f.; Rs. C-312/93 (Peterbroeck), Slg. 1995, I-4599, Rn. 14; BGHSt 33, 76, 78 ff; zur Kritik C. D. Classen, Urteilsanmerkung, JZ 2001, 458 (460).
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negativ aus. Ein ähnliches Beispiel bildet die Personalpolitik, speziell mit Blick auf den EuGH: Dass ein deutscher Richter dort nur Einfluss gewinnen kann, wenn er länger amtiert, ist in der Bundeshauptstadt gleichgültig – hier spielt allein eine Rolle, was die Koalitionsarithmetik fordert.
E. Bilanz Zieht man eine Bilanz, so wird deutlich: Formal wie inhaltlich ist das Grundgesetz im Grundsatz europaoffen. Es fordert auch verfassungsrechtlich ein loyales Engagement in der Union und es ist auch offen gegenüber den inhaltlichen Anstößen, die das Europarecht für die Fortentwicklung des (nationalen) Rechts gibt, zum Teil gibt es sogar selbst inhaltlich parallele Impulse für das deutsche Recht. Allerdings kennt die Europafreundlichkeit des Grundgesetzes auch Grenzen. Die Komplexität des politischen Systems beeinträchtigt manchmal, jedenfalls mehr als nötig, sachgerechte Europapolitik. Legislative und Exekutive schließlich sind weder prinzipiell europafreundlich oder europaskeptisch. Sie haben ihre politischen Ziele und setzen diese auf der Ebene durch, auf der es am besten passt.
Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsskepsis in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Von Franz C. Mayer Trifft es zu, dass das Bundesverfassungsgericht „sich […] einer konstruktiven Mitarbeit an europäischen Lösungen verweigert“?1 Für die Beantwortung der Frage nach der Freundlichkeit oder Skepsis bzw. nach der konstruktiven oder destruktiven Haltung des Bundesverfassungsgerichts in Angelegenheiten der europäischen Integration ist zunächst eine Vergewisserung über die Ausgangslage in der Verfassung hilfreich (dazu A.). Die Kategorien ‚freundlich‘ und ‚skeptisch‘ und ihre Eignung als Maßstab für die Tätigkeit eines Verfassungsgerichts bedarf näherer Erläuterung, bevor man die bisherige Rechtsprechung diesen beiden Kategorien zuordnen kann (dazu B.). Die jüngste Entwicklung, die sich mit dem Lissabon-Urteil von 2009 verbindet, verdient dabei gesonderte Betrachtung (dazu C.). Auf dieser Grundlage lässt sich abschließend nach möglichen Motiven für die Entwicklung der Rechtsprechung fragen und eine Gesamtbewertung vornehmen (dazu D.).
A. Die Ausgangslage in der Verfassung Die Ausgangslage in der Verfassung weist das Grundgesetz als eine für die europäische Integration aufgeschlossene Verfassung aus. Dies gilt bereits für den Urtext von 1949. Die Präambel mit ihrer Verpflichtung auf das „Vereinte Europa“ ist hier zu nennen, daneben die in Art. 24 GG recht knapp und vorbehaltlos formulierte Möglichkeit, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen.2 Das „Vereinte Europa“ ist zwar recht spät erst in den Entwurfstext für das
1 Sondervotum des Richters M. Gerhardt in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 113, 273 (341) – Europäischer Haftbefehl. 2 Siehe dazu die Kommentierung des Art. 24 GG durch C. Tomuschat, in: R. Dolzer et al. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung (Stand März 2010).
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Franz C. Mayer
Grundgesetz gelangt. Im Herrenchiemseer Entwurf3 war es noch nicht enthalten. Nachdem der Vorschlag dann aber im Parlamentarischen Rat aufgekommen war, gab es zu dem Bekenntnis zum Vereinten Europa keinerlei Diskussion.4 Der 1992 in die Verfassung aufgenommene Europa-Artikel Art. 23 GG erscheint demgegenüber differenzierter.5 Hier werden nämlich explizit Grenzen der Mitwirkung Deutschlands an der europäischen Integration markiert, die die Verfassungsgeber 1949 nicht in das Grundgesetz hineingeschrieben hatten. Zwar nimmt Art. 23 GG das Staatsziel Vereintes Europa aus der Präambel in Abs. 1 auf. Zugleich aber wird in dieser Verfassungsbestimmung in Teilen die Rechtsprechung des BVerfG der vergangenen Jahrzehnte kodifiziert. Dies ist besonders deutlich bei den Anforderungen an den Grundrechtsschutzstandard auf europäischer Ebene, der dem grundgesetzlichen Standard im Wesentlichen vergleichbar sein muss. Hier spiegelt sich die Solange II-Rechtsprechung zum Verhältnis zwischen deutschem und europäischem Grundrechtsschutz. Es ergeben sich aus Art. 23 GG zweierlei Grenzen. Einmal folgt aus der Beschreibung der EU in Art. 23 Abs. 1 GG, dass die EU ihrerseits an den für die Bundesrepublik maßgeblichen Staatsstrukturprinzipien (Art. 20 GG) ausgerichtet sein muss. Zum anderen darf durch die Beteiligung an der europäischen Integration hierzulande die Verfassungsgrundlage nicht zerstört werden. Daneben lässt sich darüber streiten, ob aus der Gesamtbetrachtung der aus Art. 23 GG zu entnehmenden Grenzen für die Mitwirkung Deutschlands auch die Staatlichkeit der Bundesrepublik als Grenze zu sehen ist. Explizit im Wortlaut der Verfassung findet sich diese Grenze der Staatlichkeit jedenfalls nicht.6 Festzuhalten ist auch, dass die Grenzen des Art. 23 GG sich auf konkrete Hoheitsrechtsübertragungen durch Vertragsschluss oder Vertragsänderung beziehen und damit auf den Akt der Übertragung – durch Bundesgesetz – abstellen. Von einer zeitlich und sachlich darüber hinausgehenden kontinuierlichen Kontrolle oder von Kontrollvorbehalten ist nicht die Rede. Im Verfassungstext lässt sich damit eine Entwicklung von der vorbehaltlosen Öffnung für die europäische Integration zu einer differenzierenden textlichen 3
„Herrenchiemseer Entwurf“, Grundgesetz für einen Bund deutscher Länder, erstellt von einem Verfassungsausschuss, der von den Ministerpräsidenten der Länder der drei Westzonen eingesetzt und zwischen dem 10. August 1948 und dem 25. August 1948 auf der Herreninsel im Chiemsee zusammengetreten war, abrufbar unter http://www.ver fassungen.de/de/de49/chiemseerentwurf48.htm. 4 Zu den Diskussionen im Parlamentarischen Rat siehe M. F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948–1949 : die Entstehung des Grundgesetzes, 2008, m.w.N. 5 Siehe hierzu die Kommentierungen in den verschiedenen Grundgesetz-Kommentaren, etwa I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar Bd. 1, 2. Aufl. 2004. 6 Das BVerfG hat dies im Lissabon-Urteil anders bewertet, s. dazu unten.
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Grundlage nachzeichnen. Der Grundton bleibt allerdings die Offenheit für die Mitwirkung an der europäischen Integration.
B. Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsskepsis in der Rechtsprechung vor dem Lissabon-Urteil Text- und Textstufenentwicklung der Verfassung sind das eine, die Interpretation der Verfassung durch ein Verfassungsgericht sind das andere.7 Zwar besteht nicht zu jedem Integrationsschritt Begleitrechtsprechung des BVerfG: Die Gründungsverträge aus den 50er Jahren blieben ebenso verschont wie die Einheitliche Europäische Akte von 1986. Aber auch der Vertrag von Amsterdam 19978 und der Vertrag von Nizza 2001 haben kein BVerfG-Urteil ausgelöst. Gleichwohl gibt es hinreichend viele Urteile des BVerfG zur europäischen Integration, um ein aussagekräftiges Bild zu erlangen. Will man die Rechtsprechung des BVerfG in den Kategorien von Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsskepsis analysieren, setzt dies indessen zunächst eine Vergewisserung über den Gehalt dieser Kategorien voraus (I.). Die Durchsicht der Rechtsprechung bis zum Lissabon-Urteil ( II., III.) ergibt ein gemischtes Bild, bei dem letztlich aber doch die skeptischen Elemente überwiegen (IV.)
I. Freundlichkeit und Skepsis als Kategorien Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsskepsis sind Kategorien, die sich im vorliegenden Kontext nicht von selbst erklären, weil nicht ohne weiteres klar ist, wer und was skeptisch ist und was freundlich bedeuten kann.
1. Problemaspekte der Analysekategorie „europarechtsfreundlich“ Es lässt sich bereits fragen, ob die Binarität der Kategorien überhaupt zutrifft oder ob nicht eine dritte Kategorie besteht zwischen Freundlichkeit und Skepsis: europaneutrale Rechtsprechung.
7 Siehe näher F. C. Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: A. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, 559 ff. 8 Eine Verfassungsbeschwerde gegen den Vertrag von Amsterdam wurde in einer Kammerentscheidung nicht zur Entscheidung angenommen, 2 BvR 464/98, Beschl. v. 1.4. 1998.
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Abgesehen von der Binarität sind die Kategorien im vorliegenden Kontext durchaus eigentümlich. Natürlich geht es nicht um Freundlichkeit bzw. Skepsis des Europarechts, sondern gegenüber dem Europarecht. Aber wer oder was kann hier freundlich oder skeptisch sein? Man wird kaum Gegenstände als freundlich oder unfreundlich qualifiziert finden, etwa im Sinne eines „freundlichen Buches“ oder eines „unfreundlichen Autos“. Freundlich oder unfreundlich bezieht sich nach allgemeinem Sprachgebrauch vielmehr auf Personen und deren Verhalten. Man hat einen freundlichen Nachbarn oder einen unfreundlichen Mandanten usf. Bezieht man die Kategorien freundlich und skeptisch auf Rechtsprechung, so sind damit womöglich die hinter der Rechtsprechung stehenden Richterpersonen gemeint. Freundlichkeit und Skepsis gegenüber dem Europarecht könnte dann aber zu unterscheiden sein von Freundlichkeit und Skepsis gegenüber dem EuGH, weil bei letzterem auch Gesichtspunkte der institutionellen Konkurrenz eine Rolle spielen könnten, die eigentlich mit dem Europarecht gar nichts zu tun haben. Auch stellt sich, wie so oft im Recht, die Frage, ob eine subjektive Seite, der Dolus, eine Rolle spielt. Kann man von Skepsis oder Freundlichkeit eigentlich auch dann sprechen, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass bestimmte Aussagen gar nicht „so gemeint“ waren? Insgesamt ergibt sich, dass die Kategorien „Europarechtsfreundlichkeit“ und „Europarechtsskepsis“ ein personales, voluntatives oder emotionales Element in die Analyse von Rechtsprechung hineinlegen, über dessen Problematik man sich bewusst sein muss.
2. Europarechtsfreundlichkeit als Minimierung von Reibungsflächen Um trotz etlicher Fragezeichen die Kategorien der Europarechtsfreundlichkeit und der Europarechtsskepsis für die Einordnung der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG heranzuziehen, bedarf es einer möglichst nüchternen Arbeitsdefinition. Im Folgenden wird es als Europarechtsskepsis bezeichnet, wenn mehrere Interpretations- und damit auch Entscheidungsmöglichkeiten zu einer Grundgesetzbestimmung bestehen und das BVerfG nicht eine Interpretation verfolgt, die die Reibungspunkte mit europarechtlichen Vorgaben, wie sie durch die Europarechtspraxis, insbesondere die Rechtsprechung des EuGH, und die Europarechtswissenschaft vorgegeben sind, minimiert. Auf die subjektive Seite kann es dabei schon deswegen nicht ankommen, weil über die subjektiven Beweggründe für einen Urteilsspruch viel zu wenig bekannt ist – dass also ein als europarechtsskeptisch wahrgenommenes Urteil „gar nicht so gemeint“ war, ist danach irrelevant.
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Mit der vorgeschlagenen Arbeitsdefinition wird zugegebenermaßen die folgende Analyse um die Vorgaben des Europarechts zentriert. Dies rechtfertigt sich indessen durch den Vorrang des Europarechts und die vertraglichen Festlegungen, die dem EuGH die Auslegung des Europarechts übertragen (Art. 19 EUV). Ob die Vorgaben des Europarechts bzw. des EuGH ihrerseits plausibel oder kritisch zu würdigen sind, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrages. Mit diesen Vorüberlegungen und einer Arbeitsdefinition, die auf die Maximierung bzw. Minimierung von Reibungsflächen zum europäischen Recht abstellt, lässt sich nun die Rechtsprechung bis zum Lissabon-Urteil in die beiden Kategorien einordnen.
II. Europarechtsfreundlichkeit Unter Europarechtsfreundlichkeit lassen sich die frühen Entscheidungen ab 1967 einordnen, ferner die Sondervoten aus der Solange I-Entscheidung 1974 und dem Haftbefehls-Urteil 2005, mit Abstrichen auch das Solange II-Urteil 1986 und die Rechtsprechung des BVerfG zur Vorlagepflicht der Fachgerichte ab 1986, sowie Einzelaspekte der Rechtsprechung zur Grundgesetzbindung deutscher Akteure auf europäischer Ebene.
1. Die frühen Entscheidungen Die frühen Entscheidungen lesen sich in weiten Teilen wie eine bestätigende Spiegelung der grundlegenden EuGH-Urteile in den Rs. Van Gend en Loos9 und Costa/ENEL.10 1967 formulierte das BVerfG im 22. Band seine bis heute gültige Konzeption von der Gemeinschaft als eigenständiger Hoheitsgewalt in einer eigenständigen Rechtsordnung. Das BVerfG qualifizierte den EWGV dabei als „gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft“ und das Gemeinschaftsrecht – dies erscheint als deutliche Referenz an den EuGH – als „eigene Rechtsordnung, deren Normen weder Völkerrecht noch nationales Recht der Mitgliedstaaten sind“.11 Allerdings zeigt sich bereits in diesen frühen Entscheidungen ein durchgängiges Merkmal der Europa-Rechtsprechung, das auch in den Folgejahrzehnten prägend für die Rechtsprechung des BVerfG sein würde: Es gibt selten ein klares Schwarz9
EuGH, Rs. 26/62, Van Gend en Loos, Slg. 1963, 1. EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1141. 11 BVerfGE 22, 293 (296) – EWG-Verordnungen; der Hinweis auf die Eigenständigkeit der Rechtsordnung der EWG findet sich auch in BVerfGE 29, 198 (210), wo allerdings auch auf die „vielfältige Verschränkung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht“ hingewiesen wird. Zur Eigenständigkeit auch BVerfGE 31, 145 (174) – Lütticke. 10
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Weiss-Bild oder deutliches Gut-Böse-Schema gegenüber der europäischen Integration. Dementsprechend finden sich schon in diesen frühen Entscheidungen neben europarechtsfreundlichen auch weniger europarechtsfreundliche Passagen: Das BVerfG deutete nämlich bereits im 22. Band die Möglichkeit verfassungsrechtlicher Kontrollvorbehalte an, indem es die Frage nach den Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten an die Gemeinschaft durch die Bindung etwa an Grundrechtsgewährleistungen des GG ansprach, im Ergebnis jedoch offen ließ.12 Aus europarechtlicher Sicht waren und sind die hier bereits angedeuteten Kontrollvorbehalte problematisch. Kontrollvorbehalte gegenüber dem Europarecht durch ein nationales Gericht sind mit dem früheren Art. 10 EG, jetzt Art. 4 Abs. 3 EUV (Gemeinschafts- bzw. Unionstreue), Art. 220 EG, jetzt Art. 19 EUV (Zuständigkeit des EuGH) und mit Art. 344 AEUV (früher Art. 292 EG) (Konflikte über die Auslegung und Anwendung des Vertrags werden vertragsimmanent geklärt) nicht vereinbar. Letztlich ist es der Grundsatz pacta sunt servanda, Verträge sind einzuhalten, der hier berührt ist. Ein weiteres in der Folgerechtsprechung immer wieder aufgenommenes Motiv: Bereits in der ersten Europaentscheidung im 22. Band, dem Beschluss vom 5. Juli 1967,13 wurde die zentrale Funktion des deutschen Zustimmungsgesetzes14 zu den Gründungsverträgen als Brücke15 zwischen Europarecht und nationalem Recht im Sinne des aus deutscher Sicht maßgeblichen Rechtsanwendungsbefehls und Geltungsgrundes des Europarechts deutlich. Problematisch an dieser Brückenkonstruktion oder jedenfalls an der Metapher ist dabei nicht nur, dass – nach einem geflügelten Wort – das Europarecht im Laufe der Zeit schwimmen gelernt hat. Vielmehr ist durch dieses Konstrukt automatisch ein Konflikt des mit nur einfachgesetzlichem Rang in der nationalen Rechtsordnung ankommenden Europarechts und der übergeordneten Verfassung bzw. ihrem Hüter programmiert, weil das Europarecht auf einer niedrigen Rangstufe in die innerstaatliche Rechtsordnung gelangt. Ein solcher Unterverfassungsrang für das Europarecht ist dabei keineswegs zwingend. So wird in anderen Mitgliedstaaten – wie z.B. in Irland – das Europarecht auf Verfassungsebene verortet, in den Niederlanden genießt es gar Überverfassungsrang.16 12
BVerfGE 22, 293 (298 f.) – EWG-Verordnungen. BVerfGE 22, 134 (142). 14 Zustimmungsgesetz nach Art. 23 GG (früher Art. 24 GG). 15 So das Bild von Paul Kirchhof, siehe etwa ders., Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, Juristen-Zeitung (JZ) 1998, 965 (966); zum European Communities Act als britische ‚Brücke‘ N. Bamforth, Courts in a Multi-Layered Constitution, in: ders./P. Leyland (Hrsg.), Public Law in a Multi-Layered Constitution, 2003, 277 (288). 16 F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 188 ff. 13
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2. Die Sondervoten in Solange I und im Haftbefehlsurteil Die positivsten, nahezu vorbehaltlosen Äußerungen zur europäischen Integration aus dem BVerfG finden sich in Sondervoten, und zwar 1974 und 2005. Die Solange I-Entscheidung aus dem Jahre 197417 gilt gemeinhin als Beispiel einer besonders offenen Frontalopposition zum EuGH. Nicht selten wird dabei übersehen, dass die Entscheidung von 1974 nicht einstimmig war, sondern mit dem denkbar knappen Ergebnis 5:3 erging. Das Minderheitsvotum der drei unterlegenen Richter Dr. Rupp, Hirsch und Wand18 verfolgte zur Frage des Verhältnisses von deutschem Verfassungsrecht zu Gemeinschaftsrecht eine völlig andere Konzeption als die Senatsmehrheit und stand der des EuGH deutlich näher als die Mehrheitsmeinung. Es geht auch über die später in der Solange II-Entscheidung19 erfolgte Abkehr des BVerfG von Solange I weit hinaus. Das Minderheitsvotum hält einen Kontrollvorbehalt des BVerfG – wie er sich auch in Solange II und im Maastricht-Urteil sowie im Lissabon-Urteil (s.u.) findet – für unzulässig. Die grundsätzlich angenommene grundgesetzliche Begrenzung der Übertragung von Hoheitsrechten an die Gemeinschaft wird nicht mit einem verfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalt verbunden. Die Sondervoten der Richter Gerhardt und Lübbe-Wolff im Haftbefehlsurteil aus dem Jahre 200520 sind demgegenüber weniger homogen. Sie bringen differenzierte Sichtweisen auf das Europarecht zum Ausdruck, die in dem eingangs zitierten Ausspruch des Richters Gerhardt, der eine konstruktive Mitwirkung des BVerfG an der europäischen Integration einfordert, kulminieren.
3. Solange II Das Solange II-Urteil von 198621 mutet zunächst wie ein klarer Fall an: Als Kehrtwende22 zu Solange I scheint Solange II automatisch zu den europarechts17
BVerfGE 37, 271 – Solange I. Ebd., 291 ff. 19 BVerfGE 73, 339 – Solange II. 20 Sondervotum der Richter G. Lübbe-Wolff und M. Gerhardt in BVerfGE 113, 273 (326 ff. und 338 ff.) – Europäischer Haftbefehl. 21 Näher dazu R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989. 22 Nachdem das BVerfG im Juli 1979 (BVerfGE 52, 187 (202 f.) – Vielleicht), zweimal im Jahre 1981 (BVerfGE 58, 1 – Eurocontrol I; E 59, 63 – Eurocontrol II) sowie dann erneut im Februar 1983 (BVerfG, Neue Juristische Wochenschrift [NJW] 1983, 1258 – Mittlerweile) eine Änderung der Solange I-Rechtsprechung angedeutet hatte, kam es mit der Solange II-Entscheidung vom 22. Oktober 1986 (BVerfGE 73, 339 – Solange II) zu der 18
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freundlichen Entscheidungen zu gehören. Aus der Nähe betrachtet gilt dies aber nur im Verhältnis zu Solange I. Absolut gesehen ist man versucht, die positive Sicht auf Solange II zu relativieren: Das BVerfG behält sich in Solange II eine Kontrolle von Europarecht am Maßstab der Verfassung unter bestimmten – zugegebenermaßen sehr hypothetischen – Voraussetzungen vor, was aus europarechtlicher Sicht problematisch bleibt. Das BVerfG insistiert, dass die Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen verfassungsrechtlichen Grenzen unterliegt. Es bestehe keine Ermächtigung, im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung in Deutschland „durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben“.23 Nach ausführlicher Würdigung der Entwicklung auf europäischer Ebene hielt das BVerfG für den Verfassungsbereich, um den es konkret ging, die Grundrechte, jedoch fest: Solange auf europäischer Ebene ein wirksamer Schutz der Grundrechte gewährleistet sei, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten sei, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürge,24 werde das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben.25 Die grundrechtsbezogenen Passagen des Maastricht-Urteils von 199326 sowie der Bananenmarkt-Beschluss von 200027 haben die Linie aus Solange II im Wesentlichen bestätigt.28 Im Lissabon-Urteil von 2009 hat die Grundrechtsproblematik nicht im Vordergrund gestanden. erwarteten Ergänzung der Solange I-Entscheidung, die ohne grundsätzliche Preisgabe der verfassungsrechtlichen Kontrollmöglichkeiten die Frage der Grundrechtsgewährleistungen „im Sinne nützlicher Pragmatik entschärft“ hat (G. Hirsch, Kompetenzverteilung zwischen EuGH und nationaler Gerichtsbarkeit, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 1998, 907 (909)). 23 BVerfGE 73, 339 (375 f.) – Solange II; an dieser Stelle bezieht sich das Gericht auf die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofes. 24 Die Formel findet sich heute in Art. 23 GG. 25 BVerfGE 73, 339 (387). 26 BVerfGE 89, 155 (175, Ls. 5, S. 3, 6 und 7) – Maastricht. 27 BVerfGE 102, 147 – Bananenmarktordnung; danach besteht für Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen ein besonderes Zulässigkeitserfordernis ‚unzureichender Grundrechtsschutz auf EU-Ebene‘. 28 So auch R. Hofmann, Zurück zu Solange II!, in: H.-J. Cremer/T. Giegerich/ D. Richter/A. Zimmermann (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts: Festschrift für Helmut Steinberger, 2002, 1207 ff. Die Solange-Formel hat übrigens 1994 Eingang in die schwedische Verfassung gefunden, Kapitel 10(5), siehe O. Ruin, Suède, in: J. Rideau (Hrsg.), Les Etats membres de l’Union européenne, 1997, 440.
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Bei aller nützlichen Pragmatik, die die Solange II-Formel aufweist, lassen sich doch Nachfragen formulieren: Ist nicht der dortige Prüfvorbehalt des BVerfG ebenso europarechtswidrig wie der in Solange I? Lässt man sich auf den Prüfvorbehalt ein: Wieso durfte das BVerfG 1986 Abstriche vom Grundgesetz-Grundrechtsschutzstandard vornehmen, indem es keinen identischen Schutz fordert, sondern einen im Wesentlichen vergleichbaren Schutz ausreichen lässt? Als Antwort bleibt nur der Hinweis auf das Staatsziel Vereintes Europa in der Präambel, das eine solche Rücknahme des Grundrechtsschutzes rechtfertigen kann. Weiterhin stellt sich die Frage, ob der Vorbehalt in der Gestalt, die er durch den Bananenmarkt-Beschluss erhalten hat, nicht zu undifferenziert und rein hypothetisch ist. Wenn man schon einen Grundrechtsprüfvorbehalt vorsieht, so lässt sich argumentieren, dann sollte vielleicht doch noch eine Einzelfallprüfung möglich sein, ähnlich wie es beispielsweise die Bosphorus-Entscheidung des EGMR29 vormacht. Der Streit um die Vereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherung30 mit deutschen und europäischen Grundrechten31 illustriert möglicherweise eine Grundrechtsschutzlücke, bei der es auf den Unterschied zwischen Gewährleistung im Einzelfall und nur symbolischer Grundgewährleistung ankommt. Anders formuliert: Wenn schon ein nationaler Grundrechtsvorbehalt formuliert wird, dann sollte dies konsequent und effektiv erfolgen, und nicht nur als symbolische Geste.
4. Vorlageverpflichtung Wenn sogar die Solange II-Rechtsprechung sich aus der Nähe betrachtet nicht als vorbehaltlos europarechtsfreundliche Rechtsprechung erweist, dann deutet dies vielleicht darauf hin, wie schwierig es ist, überhaupt europarechtsfreundliche Rechtsprechung des BVerfG zu finden. Auf der Ebene des Verfahrensrechts und der Zusammenarbeit zwischen nationaler und europäischer Gerichtsbarkeit erscheint die Rechtsprechung des BVerfG zur Vorlagepflicht der nachgeordneten Gerichte aber doch als Beispiel für eine eindeutig europarechtsfreundliche Rechtsprechung. Über das grundgesetzliche Recht auf den gesetzlichen Richter können dabei Instanzgerichte zur Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV (ex Art. 234 29
EGMR, Urteil vom 30.6.2005, Nr. 45.036/98 – Bosphorus Airways/Irland. Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG, ABl. 2006 Nr. L 105/54. 31 Vgl. EuGH, Rs. C-301/06, Irland/Parlament und Rat, Urteil v. 10.2.2009 und BVerfG, 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08, Urt. v. 2.3.2010 . 30
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EG) gezwungen werden.32 Ähnliche Mechanismen haben übrigens in der Folge das österreichische und das tschechische Verfassungsgericht etabliert.33 Die Voraussetzungen, unter denen die obersten Fachgerichte schon aus dem Grundgesetz zur Vorlage verpflichtet sind, können mittlerweile als ausgeformt gelten.34 Bisweilen mutet die Kontrolle des BVerfG hier sogar „plus communautaire que la Communauté“ an, wie etwa, als 2001 das BVerfG den obersten deutschen Verwaltungsrichtern eine grundgesetzwidrige Nichtvorlage vorwarf, das BVerwG darauf eine Vorlage an den EuGH richtete, dieser aber keinerlei Probleme ausmachte, so dass das BVerwG letztlich doch europarechts- und grundgesetzkonform entschieden hatte.35 Bei näherem Hinsehen ist jedoch selbst hier eine gewisse Einschränkung zu machen. Das BVerfG bleibt hinter den Anforderungen des Art. 267 AEUV (ex Art. 234 EG) zurück, indem es zusätzlich zu den Tatbestandsmerkmalen des Art. 267 AEUV (ex Art. 234 EG) fragt, ob die Nichtvorlage willkürlich unterblieb.36 Nur dann soll eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vorliegen. Es sind also 32
Seit der Solange II-Entscheidung von 1986 erkennt das BVerfG den EuGH als gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG an (BVerfGE 73, 339 (366) – Solange II); siehe etwa BVerfGE 118, 79 (97 ff.) – Treibhausgas-Emissionsberechtigungen. 33 Siehe etwa österreichischer Bundesverfassungsgerichtshof (öVfGH), Urt. v. 26.6.1997, B 3486/96, VfSlg 14.889/97 (Verstoß gegen Art. 83 Abs. 2 B-VG), siehe auch österreichischer Verwaltungsgerichtshof (öVGH, Urt. v. 11.12.1995, B 2300/95, VfSlg 14.390/1995 (kein Verstoß gegen Art. 83 Abs. 2 B-VG festgestellt); öVGH, Urt. v. 30.9.1996, B 3067/95, VfSlg 14.607/96 und öVGH, Urt. v. 10.6.1999, B 1809/97 u.a., VfSlg 15.507/1999. Alle Entscheidungen betreffen das Vergabeverfahren und die Nichtvorlage durch das Bundesvergabeamt bzw. Vergabekontrollsenate. Für Tschechien siehe ÚS 1009/08 v. 8.1.2009. 34 Das BVerfG prüft eine Verletzung der Vorlagepflicht der Fachgerichte unter dem Aspekt des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), wobei es – über die CILFIT-Rechtsprechung des EuGH hinaus – auf eine willkürliche Verletzung der Vorlagepflicht ankommt, im Einzelnen dazu F. C. Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, Europarecht (EuR) 2002, 239; zur Verdichtung mitgliedstaatlich-verfassungsrechtlicher und EMRK-rechtlicher Garantien zu einem gemeinschaftsrechtlichen Anspruch des Einzelnen auf Vorlage C. Grabenwarter, Die Europäische Union und die Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts, Verhandlungen des 14. Öst. Juristentages, Bd. I/2 (2001), 15 (65). 35 BVerfG, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2001, 255 – Nichtvorlage BVerwG, sowie in der Folge EuGH, Rs. C-25/02, Rinke, Slg. 2003, I-8349, siehe auch BVerwGE 108, 289. 36 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.11.1987 – Denkavit, EuR 1988, 190. Willkür wird vom BVerfG z.B. dann bejaht, wenn ein letztinstanzliches Gericht seine Vorlagepflicht grundsätzlich verkennt oder den Beurteilungsrahmen hinsichtlich der Fortentwicklung des Unionsrechts in unvertretbarer Weise überschritten hat.
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Fälle denkbar, in denen die Vorlagepflicht eines nationalen Gerichts aus Sicht des Europarechts bereits verletzt ist, mangels Willkür aber das BVerfG noch keine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter feststellen wird. Vor allem aber trübt es das Bild eines um die Kommunikation zwischen nationaler und europäischer Ebene vermittels Vorlageverfahren bemühten Gerichts stark, dass das BVerfG selber bisher keine Vorlagefragen an den EuGH gerichtet hat.37 Es hat immerhin früher, so in der Solange I-Entscheidung 1974 und der Vielleicht-Entscheidung von 1979, seine grundsätzliche Bindung an Art. 177 EWG-Vertrag (später Art. 234 EG, jetzt Art. 267 AEUV) bejaht.38 Nach der CILFIT-Entscheidung des EuGH von 198239 hat das BVerfG jedoch eine mögliche eigene Vorlageverpflichtung überhaupt nicht mehr thematisiert. Durchaus auffällig war dies im Maastricht-Urteil des BVerfG von 1993. Bekanntlich hat das BVerfG im Maastricht-Urteil einen verfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalt über die Kompetenzausübung der EU entwickelt.40 Im Maastricht-Verfahren selbst hatte das BVerfG zur Klärung europarechtlicher Auslegungsfragen die einigermaßen originelle Lösung gewählt, den Generaldirektor des Juristischen Dienstes der Kommission anzuhören, anstatt den EuGH nach Art. 177 EWG-Vertrag anzurufen.41
37 Die deutschen Obergerichte haben übrigens frühzeitig begonnen, den EuGH anzurufen: Das Bundessozialgericht seit 1967 (EuGH, Rs. 14/67, Welchner, Slg. 1967, 444); der Bundesfinanzhof ebenfalls seit 1967 (Rs. 17/67, Neumann, Slg. 1967, 592); das Bundesarbeitsgericht seit 1969 (Rs. 15/69, Südmilch, Slg. 1969, 363); das Bundesverwaltungsgericht seit 1970 (Rs. 36/70, Getreide-Import, Slg. 1970, 1107); der Bundesgerichtshof seit 1974 (Rs. 32/74, Haaga, Slg. 1974, 1201) und verwenden das Vorlageverfahren regelmäßig. Für Landesverfassungsgerichte siehe HessStGH, Europäische Grundrechtezeitschrift 1997, 213. 38 BVerfGE 37, 271 (282) – Solange I; BVerfGE 52, 187 (202) – Vielleicht. 39 EuGH, Rs. 283/81, CILFIT, Slg. 1982, 3415. 40 BVerfGE 89, 155 (189) – Maastricht. 41 Dazu M. Zuleeg, The European Constitution Under Constitutional Constraints, European Law Review 22 (1997), 19. Ein weiteres jüngeres Beispiel, bei dem die Vorlage nahe gelegen hätte, ist die Parallelentscheidung zur EuGH-Entscheidung in der Rs. Maruko, BVerfG, 2 BvR 855/06 v. 20.9.2007 – Familienzuschlag I, NJW 2008, 209. Hier billigte das BVerfG eine nationale Rechtsprechung zur Antidiskriminierungsrichtlinie, ohne dem EuGH vorzulegen, der später genau entgegengesetzt entschied, EuGH Rs. C-267/06, Maruko, Urteil v. 1.4.2008, siehe auch BVerfG, 2 BvR 1830/06 v. 6.5.2008 – Familienzuschlag II, jetzt auch BVerfG, 1 BvR 1164/07 v. 7.7.2009 – VBL und gleichgeschlechtliche Partnerschaft.
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Weder das Verfahrens- noch das Zeitargument vermögen mit Blick auf das notfalls verfügbare beschleunigte Verfahren beim EuGH wirklich zu überzeugen.42 Es ist eine Frage des Kooperationswillens, ob man hier einmal ein Signal setzt oder eben nicht. Auch im Vergleich mit anderen Höchstgerichten steht das BVerfG zunehmend isoliert da. Im April 2008 hat die italienische Corte Costituzionale, mit dem spanischen Verfassungsgericht bisher einer der Vorlageverweigerer, erstmals dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.43 Andere Verfassungs- und Höchstgerichte der Mitgliedstaaten legen mit großer Regelmäßigkeit vor. Dies gilt für den Conseil d’Etat44 und die Cour de cassation45 in Frankreich, die belgische Cour d’arbitrage (jetzt Cour constitutionnelle),46 den niederländischen Raad van State,47 das britische House of Lords48 und den dänischen Højesteret.49 Regelmäßige 42
Der Einwand, die Verfahren vor dem BVerfG eigneten sich nicht für Vorlagen, überzeugt schon gar nicht: Im NPD-Beschluss von 2001 hat das BVerfG in einem Verfahren, in dem es eindeutig erste und letzte Instanz ist (Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 GG), die Chance nicht genutzt, grundsätzlich zu seiner eigenen Vorlageverpflichtung Stellung zu nehmen. BVerfGE 104, 214 – NPD-Verbot; dazu F. C. Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof. Anmerkung zum Beschluss vom 22. November 2001 – 2 BvB 1-3/01 (NPD-Verbot), EuR 2002, 239 ff., siehe auch BVerfGE 110, 141 (154 f.) – Kampfhunde. 43 Entscheidung Nr. 103/2008 – Legge della Regione Sardegna 11 maggio 2006/29 maggio 2007. Maßgebend für den Sinneswandel dürften nicht zuletzt die Beispiele von Vorlagen anderer Verfassunggerichte sowie eine Änderung der italienischen Verfassung von 2001 gewesen sein. Die Änderung betraf insbesondere Art. 117 der Verfassung, der nun für die Gesetzgebungsgewalt die Schranken des Europarechts nennt. Zumindest bei Direktklagen, d.h. ohne vorherige Befassung der Fachgerichte, ist danach nunmehr von einer Vorlagebereitschaft der Corte Costituzionale auszugehen. Siehe im einzelnen dazu F. Fontanelli/G. Martinico, Cooperative Antagonists, Eric Stein Working Paper No 5/2008, insbesondere Seite 13; M. Dani, Tracking Judicial Dialogue. The Scope for Preliminary Rulings from the Italian Constitutional Court, Jean Monnet Working Paper 10 (2008), http://www.jeanmonnetprogram.org. 44 Die erste Vorlage von 1970: EuGH, Rs. 34/70, Syndicat national du commerce extérieur des céréales u.a./O.N.I.C., Slg. 1970, 1233. 45 EuGH, Rs. 22/67, Goffart, Slg. 1967, 429. 46 EuGH, Rs. C-93/97, Fédération belge des chambres syndicales de médecins, Slg. 1998, I-4837. 47 EuGH, Rs. 36/73, Nederlandse Spoorwegen/Minister van Verkeer en Waterstaat, Slg. 1973, 1299; EuGH, Rs. 15/74, Centrafarm BV u.a./Sterling Drug, Slg. 1974, 1147. 48 Das letzte Vorabentscheidungsersuchen betraf die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, 1), EuGH, Rs. C-185/07, Slg. 2009, I-663. 49 EuGH, Rs. C-306/07, Andersen, Slg. 2008, Urt. v. 18.12.2008, I-10279.
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Vorlagebeschlüsse trifft auch der österreichische Verfassungsgerichtshof,50 ebenfalls ein ausschließlich mit Verfassungsfragen befasstes Gericht.
5. Eingeschränkte Bindung deutscher Akteure auf europäischer Ebene Das BVerfG hat bei der Frage, inwieweit deutsche Akteure, beispielsweise Minister, bei ihren Handlungen auf europäischer Ebene, etwa im Abstimmungsverhalten im Ministerrat, vollumfänglich den Bindungen des Grundgesetzes unterworfen sind, maßvoll entschieden und Reibungsflächen zwischen Europarecht und Grundgesetz weitgehend vermieden. Zwar können Vorgaben des Grundgesetzes zum Bundesstaatsprinzip im Bund-Länder-Streit thematisiert werden.51 Die Vereinbarkeit von Mitwirkungshandlungen deutscher Ratsvertreter bei der Entscheidung über Richtlinien mit den Grundrechten des Grundgesetzes überprüft das BVerfG dagegen nicht.52
6. Zwischenergebnis: Bedingt europarechtsfreundlich Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass der Befund an Europarechtsfreundlichem in der Rechtsprechung des BVerfG bis zum Lissabon-Urteil sich in Grenzen hält und sich im Kern auf zwei Rechtsprechungslinien beschränkt: Zum einen sticht die Solange II-Rechtsprechung als europarechtsfreundlichste Äußerung hervor, die aber objektiv wegen ihres anhaltenden Kontrollvorbehaltes und unter dem Aspekt des effektiven Grundrechtsschutzes doch nicht restlos überzeugt. Zum anderen ist es die Rechtsprechung zur Vorlagepflicht der Fachgerichte, die allerdings nur bei oberflächlicher Betrachtung uneingeschränkt europarechtsfreundlich erscheint, vor dem Hintergrund einer gegenüber Art. 267 AEUV (ex Art. 234 EG) zusätzlichen Willkürprüfung und im Ländervergleich sowie in Anbetracht der eigenen Nichtvorlagepraxis aber etwas an Glanz verliert.
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ÖVfGH Beschlüsse B 2251/97 und B 2594/97 vom 10.3.1999, Vergütung von Energieabgaben; Beschlüsse KR 1-6/00 und KR 8/00 vom 12.12.2000, Offenlegung von Gehaltsdaten; Beschluss W I-14/99 vom 2.3.2001, Arbeiterkammerwahlrecht für türkische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Alle Vorlagebeschlüsse finden sich unter www.vfgh.gv.at. 51 BVerfGE 92, 203 (227) – EG-Fernsehrichtlinie. 52 BVerfG, 2 BvQ 3/89, Beschl. v. 12.5.1989 – Tabaketikettierung, NJW 1990, 974; BVerfG, BvR 1096/92, Beschl. v. 9.7.1992 – Tabaksteuer, NVwZ 1993, 883; BVerfG, 1 BvR 2075/03, Beschl. v. 16.10.2003 – Energiesteuer, NVwZ 2004, 209.
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III. Europarechtsskepsis 1. Solange I Es lässt sich kaum bestreiten, dass Solange I zu den europarechtsskeptischsten Entscheidungen eines mitgliedstaatlichen Höchstgerichts gehört. Die Skepsis gegenüber dem europarechtlichen Grundrechtsschutzstandard ist die Kernaussage des Urteils, die daraus abgeleitete Beanspruchung einer Prüfungs- und Verwerfungsbefugnis über Europarecht mit den vertraglichen Verpflichtungen der Bundesrepublik nicht vereinbar. Man könnte dem Urteil allenfalls in einer Gesamtbetrachtung der anschließenden Entwicklungen im Ergebnis einen positiven Effekt zusprechen, wenn man es als Auslöser für eine nachfolgende, verbesserte Grundrechtsrechtsprechung des EuGH ansieht, in dieser Lesart mit dem unbestreitbar positiven Ertrag eines verbesserten Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene. Dies ist auch eine immer wieder geäußerte Version der Grundrechtesaga zwischen BVerfG und EuGH.53 Eine solche Kausalität zwischen Solange I und nachfolgender EuGH-Rechtsprechung ist indessen nicht ohne Weiteres nachweisbar. Es lässt sich nämlich gut belegen, dass das EuGH-Urteil in der Rs. Nold,54 das 1986 in Solange II als entscheidender Fortschritt in der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH ausgewiesen wird, schon 1974 beim BVerfG bekannt war. Es wird – wenn auch in der Umdruckversion – im Sondervotum zu Solange I zitiert,55 was deutlich macht, dass der EuGH bereits vor der Solange I-Entscheidung begonnen hatte, richterrechtlich europäische Grundrechte zu entwickeln.56 Man hat ferner herausgefunden, das es eine andere Kausalkette gibt, in der Solange I steht. Sie beginnt bereits 1970 mit einem EuGH-kritischen Vortrag in Trier,57 um dann über das EuGH-Urteil in der Rs. Internationale Handelsgesellschaft aus dem Jahre 1970 vier Jahre später in derselben Angelegenheit zu Solange I zu führen.58 Die EuGH-Entscheidung in der 53
Siehe etwa die – unzutreffende – Kommentierung zu Art. 23 GG, Rn. 15.2, in: V. Epping/C. Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz, Edition 6: „Die Solange-I-Entscheidung wurde seitens der Gemeinschaftsorgane zwar heftig kritisiert, trug aber in der Folgezeit [sic!] letztlich wohl mit dazu bei, dass der EuGH durch seine Rechtsprechung seinerseits europäische Grundrechte etablierte.“ 54 EuGH, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, 491 (507). 55 Sondervotum der Richter H. G. Rupp, M. Hirsch und W. R. Wand in BVerfG 37, 271 (292) – Solange I. 56 Ab 1969: EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg 1969, 419. 57 H.-H. Rupp, Die Grundrechte und das Europäische Gemeinschaftsrecht, NJW 1970, 953. 58 K. Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, 88 ff.
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Rechtssache Internationale Handelsgesellschaft59 forderte bekanntlich so offen wie nie wieder davor oder danach den Vorrang des Europarechts selbst gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht ein. Vielleicht ging es daher bei Solange I letztlich weniger um Grundrechtsschutz oder Europarechtsskepsis als um EuGHSkepsis.
2. Das Maastricht-Urteil Das Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 199360 ist mit seiner Konzeption vom ausbrechenden Rechtsakt ebenfalls ein europarechtsskeptisches Urteil, das bei näherem Hinsehen vielleicht vor allem ein EuGH-skeptisches Urteil ist. Es enthält Äußerungen zur Gestaltform der Europäischen Union, die sich als skeptisch deuten lassen. Die dort eingeführten neuartigen Kontrollvorbehalte rücken das Urteil unter dem Aspekt der Europarechtsskepsis in die Nähe des Solange IUrteils. Allenfalls dort, wo in Bezug auf den EuGH von einem Kooperationsverhältnis gesprochen wird,61 fehlt das Skeptische. Diese im Grundrechtskontext verwendete Formel vom „Kooperationsverhältnis zum [sic!] EuGH“ ist nach dem Maastricht-Urteil nicht weiterentwickelt worden.
a) Staatenverbund? Mit der im Maastricht-Urteil erstmals verwendeten Formel für die Beschreibung der Europäischen Union – die EU als Staatenverbund – verbindet sich mittelbar eine Vergrößerung von Reibungsflächen mit dem Europarecht. Der Begriff suggeriert augenscheinlich eine Äquidistanz zu Bundesstaat und Staatenbund, entpuppt sich aber bei näherem Hinsehen als nichts anderes als ein Staatenbund-Konzept.62 Dadurch, dass – in Abkehr der Ansätze aus dem 23. Band, wo sogar von Verfassung die Rede war – die europäische Integration mehr oder weniger unausgesprochen als völkerrechtliche Veranstaltung ausgewiesen wird, wird der besonderen Natur der europäischen Integration nicht Rechnung getragen. 59
EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125. BVerfGE 89, 155 – Maastricht; Entscheidung und Verfahren sind dokumentiert in I. Winkelmann, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, 1994; weitere Nachweise bei F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 98 ff. 61 BVerfGE 89, 155 (174ff.) – Maastricht. 62 B. Kahl, Europäische Union: Bundesstaat – Staatenbund – Staatenverbund?, Der Staat 1994, 241 (245). Siehe für den Begriff P. Kirchhof, Der europäische Staatenverbund, in: A. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, 1009. 60
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Diese völkerrechtliche Sicht bereitet den Boden für die vom BVerfG beanspruchten einseitigen Kontrollmöglichkeiten über das Europarecht.63 Die Verwendung des Konzeptes Staatenverbund lässt sich damit als europarechtsskeptischer Aspekt der Rechtsprechung des BVerfG deuten.
b) Ausbrechende Rechtsakte Das BVerfG begründet im Maastricht-Urteil einen verfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalt über die Kompetenzausübung der EU: Danach prüft es, ob Rechtsakte der europäischen Ebene aus den Grenzen der eingeräumten Hoheitsrechte ausbrechen.64 Das BVerfG begründet seine Prüfungskompetenz über ausbrechende Rechtsakte (ultra vires-Akte65) der Gemeinschaft mit den Vorgaben des nationalen Verfassungsrechts. Mit dem Anspruch, kompetenzüberschreitende Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe (ausbrechende Rechtsakte) in Deutschland für unanwendbar zu erklären, verbindet sich der Vorwurf, dass die Kompetenzkontrolle auf europäischer Ebene dysfunktional werden könnte oder womöglich bereits dysfunktional ist. Das im Zustimmungsgesetz und im EUV angelegte Integrationsprogramm,66 so das BVerfG, könne später durch kompetenzüberschreitende Rechtsakte nicht wesentlich geändert werden, ohne dass die Deckung durch das Zustimmungsgesetz verloren ginge. Generell sind damit über das (verfassungskonform auszulegende) deutsche Zustimmungsgesetz Gewährleistungen der 63 Ganz abgesehen davon ermöglicht die Formel vom Staatenverbund für sich keine theoretische Fundierung des europäischen Verfassungsrechts, wie sie die Ansätze eines Constitutional pluralism oder eines Verfassungsverbundes zumindest versuchen. Sie muss von daher auch als – ablehnende – Positionierung in der Debatte um die Existenz eines Europäischen Verfassungsrechts angesehen werden. Siehe im Kontext der Verfassungsdebatte I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 60 (2001), 163; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001; T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, 2003. 64 BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht; für die Terminologie „ausbrechender Rechtsakt“ schon BVerfGE 75, 223 (242) – Kloppenburg. 65 Zur Unterscheidung zwischen ultra-vires-Akten im engeren Sinne (Sachkompetenzüberschreitungen) und im weiteren Sinne (sonstige Rechtmäßigkeitseinwände): F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 24 f. 66 Merkwürdigerweise verwendet das BVerfG dieses Konzept des Integrationsprogramms auch im Kontext des NATO-Vertrages, BVerfGE 104, 151 – NATO-Strategiekonzept; siehe M. Rau, NATO’s New Strategic Concept, German Yearbook of International Law (2001), 545 (570).
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deutschen Verfassung als auch das Europarecht selbst Prüfungsmaßstab: Es kommt zu einer Verdoppelung des Prüfungsmaßstabes. Das BVerfG nimmt dabei eine eigenständige Auslegung des Europarechts vor. Es überprüft Rechtsakte der EU am Maßstab einer „deutschen Version“ des Europarechts („Verfassungseuroparecht“). Die vorgebliche Beschränkung des Prüfungsmaßstabes auf das deutsche Recht erweist sich als Kunstgriff. Die Verfassungskonformität von Europarechtsakten hängt von der Europarechtskonformität der Rechtsakte ab. Wie der Prüfvorbehalt hinsichtlich der Grundrechte ist auch die Rechtsprechung zum ausbrechenden Rechtsakt nicht mit den vertraglichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus dem Primärrecht vereinbar und europarechtswidrig. Das Konstrukt des ausbrechenden Rechtsaktes ist allerdings deutlich gefährlicher für das Funktionieren der Rechtsgemeinschaft als das Beharren auf eigenen Grundrechtsschutzstandards: Es besteht nämlich ein grundlegender Unterschied zwischen der Grundrechtsdimension (Solange II) und der Kompetenzdimension (Maastricht). Der Fehlervorwurf an die europäische Ebene reicht bei der Kompetenzdimension über das Verhältnis deutsche Verfassungsordnung – europäische Rechtsordnung hinaus, weil die Kategorien „ausbrechender Rechtsakt“ und „grundgesetzgrundrechtsverletzender Rechtsakt“ verschieden sind: Der Ausfall einer bestimmten Grundrechtsgewährleistung beim EuGH kann sich schon aus prozeduralen Gründen ergeben oder aus einer auf europäischer Ebene abweichenden Schutzbereichsbestimmung für ein konkretes Grundrecht folgen, so dass die Formel des BVerfG vom Kooperationsverhältnis zwischen67 BVerfG und EuGH im Sinne einer Reservegewährleistung gemäß der Solange II-Rechtsprechung hier nachvollziehbar ist. Die prinzipielle Aufrechterhaltung des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes beinhaltet nicht zwangsläufig einen Fehlervorwurf an die europäische Ebene und weist über das Verhältnis zwischen deutscher und europäischer Rechtsordnung nicht hinaus. Ganz anders die Konzeption des ausbrechenden Rechtsaktes: Bei der Frage der Einhaltung sachlicher Kompetenzschranken ist kein Raum für ein Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH.68 Durch die Feststellung eines ausbrechenden Rechtsaktes würde das BVerfG stets zum Ausdruck bringen, dass es eine Fehlentwicklung korrigiert und damit einen entsprechenden impliziten, konfrontativen Fehlervorwurf an die Europäische Union und insbesondere an den EuGH 67
In der Maastricht-Entscheidung heißt es allerdings „Kooperationsverhältnis zum EuGH“, BVerfGE 89, 155 (175 und Ls. 7) – Maastricht. 68 Anders R. Scholz, Zum Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verwaltungsverfahrensrecht, Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 1998, 261 (267); der Sache nach stellt Scholz jedoch ein Konkurrenzverhältnis der Kompetenzprüfungskompetenzen von EuGH und BVerfG fest.
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richten. Der Vorwurf eines kompetenzwidrigen Rechtsaktes betrifft zudem auch Geltung bzw. Anwendbarkeit des Europarechts in den anderen Mitgliedstaaten.
3. Die Urteile zum neuen strategischen Konzept der NATO und zum Rang der EMRK unter dem Grundgesetz (Görgülü) Zwei Entscheidungen aus den Jahren nach dem Maastricht-Urteil, aber bereits unter den Vorzeichen neuer Akteure im Zweiten Senat illustrieren Grundströmungen in der Rechtsprechung dieses für Europarecht zuständigen Senats, obwohl beide Entscheidungen eigentlich gar nicht von der EU handeln. Als Leitmotiv erscheint dabei die Darstellung der EU als eine internationale Organisation unter vielen, was letztlich die Besonderheiten der europäischen Integration ausblendet. Dies treibt bisweilen skurrile Blüten, wenn beispielsweise 2001 in der Entscheidung zum neuen strategischen Konzept für die NATO – ganz in der Diktion des Maastricht-Urteils – von einem Integrationsprogramm im NATO-Vertrag die Rede ist.69 Die NATO in einen Kontext mit Integration zu bringen erscheint als Versuch, das Eigengeartete des europäischen Integrationskonzeptes wegzubiegen. In der Görgülü-Entscheidung von 2004, in der es um den Rang der EMRK in Deutschland geht, wird durch die Herstellung einer Verbindung zwischen EMRKRecht und Europarecht der Trend zu einer zunehmend völkerrechtlichen Deutung der europäischen Integration noch deutlicher als im Maastricht-Urteil. In der Görgülü-Entscheidung wird in einer Art Seitenbemerkung auch für das Recht der EU – um die EU ging es in dem Fall aber gerade nicht – von einem „Souveränitätsvorbehalt“ gesprochen70 und damit ein neues Anliegen bundesverfassungsgerichtlicher Europarechtsprechung enthüllt: Souveränität. Mit dem wiederkehrenden Motiv einer Einordnung der europäischen Integration in den Bereich des Völkerrechts wird die Linie aus dem Maastricht-Urteil fortgesetzt und zudem mit dem Souveränitätsargument ein Schritt weg vom Text des Grundgesetzes gemacht, indem ein Konzept herangezogen wird, das in der Verfassung gar keine Rolle spielt (s. dazu oben, I.)
69 70
BVerfGE 104, 151 – NATO-Strategiekonzept; siehe Rau (Anm. 66). BVerfGE 111, 307 (319) – Görgülü.
Europarechtsfreundlichkeit und -skepsis in der Rechtsprechung des BVerfG
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4. Das Urteil zum Europäischen Haftbefehl Aus dem Urteil vom Europäischen Haftbefehl von 2005 stammt das Eingangszitat von Michael Gerhardt.71 Die Entscheidung lässt sich als europarechtsskeptisch deuten, weil dadurch, dass der erste Umsetzungsversuch des europäischen Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl für verfassungswidrig und nichtig erklärt wurde, Deutschland im Hinblick auf die Verpflichtungen aus dem EU-Vertrag – die Pflicht zur Umsetzung von Rahmenbeschlüssen – vertragsbrüchig wurde. Hier ging es also nicht mehr um Freundlichkeit oder Skepsis oder Reibungspunkte, sondern um einen offenen Vertragsbruch. Dass es im Bereich der Rahmenbeschlüsse auf europäischer Ebene vor dem Vertrag von Lissabon kein Vertragsverletzungsverfahren gab, kann dabei keine Rechtfertigung für die Vertragsverletzung abgeben, zumal die Möglichkeit zu europarechtskonformem Verhalten sehr wohl bestanden hätte. Man hätte nämlich die bundesgesetzliche Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl für eine Übergangsfrist am Leben halten können. Diese Lösung hat man in Polen für die dortige Umsetzung des Europäischen Haftbefehls gewählt.72 Oder man hätte die bundesgesetzliche Umsetzung schlicht mit Hilfe einer verfassungskonformen Auslegung retten können.73 Allerdings scheint die Zielrichtung des Urteils weniger die europäische Ebene gewesen zu sein als vielmehr der nationale Umsetzungsprozess, namentlich eine Stärkung des Bundestages, in seinem Selbstbewusstsein wie in seiner Verantwortung.
IV. Zwischenbefund: Gemischt Der Zwischenbefund bis zum Lissabon-Urteil ist nicht eindeutig: Es gibt Licht und Schatten. Das verwundert schon deswegen nicht, weil es das BVerfG als monolithischen Körper nicht gibt. Es gibt zwei Senate, daneben erklären die personellen Diskontinuitäten Verschiebungen und ungerade Linien der Rechtsprechung. Die Sondervoten dokumentieren daneben, dass im BVerfG Einzelpersonen zusammenwirken, die durchaus unterschiedliche Auffassungen zur europäischen Integration mitbringen. 71
Gerhardt (Anm. 1). Entscheidung K 18/04 v. 11.5.2005; dass es durchaus europarechtlichen Klärungsbedarf gab, zeigt dabei die Vorlage in der Haftbefehlsfrage seitens der belgischen Cour d’arbitrage: EuGH, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633. 73 Siehe dazu auch das Sondervotum der Richterin G. Lübbe-Wolff, BVerfGE 113, 273 (333) – Europäischer Haftbefehl. 72
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Ein durchgehender Trend wird gleichwohl über die Jahrzehnte sichtbar: Es besteht kein systematisches Bemühen um eine Minimierung der Reibungsflächen, was alleine der Umstand der fehlenden Vorlagebereitschaft bzw. fehlenden Bereitschaft, die Vorlagebereitschaft wenigstens zu thematisieren, belegt. Die Skepsis überwiegt, und sie kommt in den jüngeren Urteilen eher deutlicher zum Ausdruck. Kennzeichnend erscheint dabei die Beanspruchung eines Kontrollvorbehalts über den Grundrechtsstandard, über die europäische Kompetenzwahrnehmung und über die europäische Kompetenzkontrolle. Daneben fällt die nüchtern distanzierte Haltung zur europäischen Integration auf, die sich nicht zuletzt in der latenten, mehr oder weniger abgestuften Gleichsetzung des Europarechts mit sonstigem Völkerrecht äußert. Festzuhalten ist aber auch, dass sich vieles im Bereich des Grundsätzlichen bewegt, wohingegen konkrete Konflikte zwischen Europarecht und BVerfG die Ausnahme bleiben. Dies evoziert immer wieder die Metapher vom Wachhund, der bellt, aber nicht zubeißt.
C. Das Lissabon-Urteil von 2009: Die Entdeckung der Europarechtsfreundlichkeit? Das Lissabon-Urteil des BVerfG vom 30. Juni 200974 ist die bisher letzte und zugleich die umfänglichste Positionierung des BVerfG zur europäischen Integration. Sie setzt augenscheinlich die bisherige Linie fort, sofern sich sowohl skeptische wie auch freundliche Elemente in der Entscheidung finden (I., II.). Durch die Selbstverpflichtung auf die europafreundliche Auslegung und Handhabung des Grundgesetzes enthält das Lissabon-Urteil allerdings das Potenzial für eine eindeutigere Grundposition (III.).
74 BVerfG, 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvR 182/09, Urteil vom 30.6.2009, NJW 2009, 2267, in der Sammlung der Entscheidungen: BVerfG E 123, 267. In der Folge wird der besseren Auffindbarkeit der Aussagen des Urteils wegen auch auf die Absatz-Nummern der unter http://www.bverfg.de im Internet verfügbaren Version Bezug genommen. Ich habe in diesem Verfahren den Deutschen Bundestag vertreten, im Folgenden nehme ich indessen zu dem Urteil ausschließlich in eigener wissenschaftlicher Verantwortung Stellung. Siehe zur Politik der prozessualen Situation in solchen Verfahren B. O. Bryde, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Konsequenzen für die weitere Entwicklung der europäischen Integration, 1993.
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I. Europaskeptisches im Lissabon-Urteil Nachdem die ersten Reaktionen der Tagespresse im Sommer 2009 positiverleichtert auf das Urteil reagiert hatten, wohl weil das BVerfG dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags nur überwindbare Hindernisse in den Weg gelegt hatte, fielen die Reaktionen in der Fachpresse weitaus negativer aus.75 Damit liegt die Vermutung nahe, dass das Urteil sich ohne Weiteres als europaskeptischer Höhepunkt in der Rechtsprechung des BVerfG zur europäischen Integration einordnen lässt. Die Hastigkeit der Fachreaktionen ist allerdings kritisiert worden,76 und wahrscheinlich ist das Lissabon-Urteil in der Tat facettenreicher, als es die binäre Frage
75
J. Fischer, Ein nationaler Riegel, DIE ZEIT vom 09.07.2009; A. Grosser, Deutschland auf dem Sonderweg, FAZ vom 11.7.2009, 2; T. Oppermann, Den Musterknaben ins Bremserhäuschen! – Bundesverfassungsgericht und Lissabon-Vertrag, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2009, 473; M. Nettesheim, Ein Individualrecht auf Staatlichkeit? Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG, NJW 2009, 2867 ff.; C. Schönberger, Lisbon in Karlsruhe: Maastricht’s Epigones At Sea, German Law Journal Volume 10 (2009), 1201 ff.; F. Schorkopf, The European Union as An Association of Sovereign States: Karlsruhe’s Ruling on the Treaty of Lisbon, ebd., 1220 ff.; D. Halberstam/C. Möllers, The German Constitutional Court says „Ja zu Deutschland!“, ebd., 1241 ff.; C. Tomuschat, The Ruling of the German Constitutional Court on the Treaty of Lisbon, ebd., 1259 ff.; A. Grosser, The Federal Constitutional Court’s Lisbon Case: Germany’s „Sonderweg“: An Outsider’s Perspective, ebd., 263 ff.; K. F. Gärditz/C. Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, 872 ff.; W. Frenz, Unanwendbares Europarecht nach Maßgabe des BVerfG?, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 2009, 297 ff.; H. Sauer, Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil – Ein neues Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht?, Zeitschrift für Rechtspolitik 2009, 195 ff.; N. Reich, „Europarechtsfreundlichkeit“ und „Integrationsverantwortung“ – eine lettische Variante, EuZW 2009, 713 ff.; F. Schorkopf, Die Europäische Union im Lot – Karlsruhes Rechtsspruch zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2009, 718 ff.; J. P. Terhechte, Souveränität, Dynamik und Integration – making up the rules as we go along?, EuZW 2009, 724 ff.; Editorial Comments, Karlsruhe has spoken: „Yes“ to the Lisbon Treaty, but …, Common Market Law Review 2009, 1023 ff.; F. Chaltiel, Le Traité de Lisbonne, Avant-Dernière Ligne Droite? À Propos de la Décision de la Cour Constitutionnelle Allemande du 30 Juin 2009, Revue du Marché Commun et de l’Union Européenne 2009, 493; J. H. H. Weiler, The ‚Lisbon Urteil‘ and the Fast Food Culture, European Journal of International Law Vol. 20 (2009), 505 ff; D. Thym, Europäische Integration im Schatten souveräner Staatlichkeit, Der Staat 2009, 559 ff. sowie die weiteren Beiträge in diesem Lissabon-Sonderheft. Siehe auch die Diskussionen in der Blogosphere, etwa bei M. Steinbeis, http://verfassungsblog.de/tag/lissabon-vertrag. 76 Weiler, ebd.
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nach freundlich oder skeptisch erkennen lässt.77 Ausgehend von der hier vorgeschlagenen Arbeitsdefinition für Europaskepsis – unzureichende Minimierung von aktuellen oder potenziellen Reibungsflächen mit dem Europarecht – wird man im Lissabon-Urteil differenzieren müssen. Zu unterscheiden sind allgemeine Unfreundlichkeiten, die zunächst keine unmittelbaren europarechtlichen Folgen haben (a)), von im rechtlichen Sinne relevanten Aussagen, die Reibungspunkte zwischen Europarecht und nationalem Recht erhöhen (b)).
1. Unfreundliches und Merkwürdigkeiten Schon die Zulässigkeitskonstruktion zu den gegen den Lissabon-Vertrag erhobenen Verfassungsbeschwerden veranlasst zu Nachfragen. Die bereits im Maastricht-Urteil eher verblüffende,78 über Art. 38 GG vorgenommene Konstruktion eines grundrechtsgleichen Rechts auf einen Abgeordneten, der einem Bundestag angehört, der noch etwas zu sagen hat, ist der Sache nach eine Verfassungsbeschwerde, mit der objektives Verfassungsrecht geltend gemacht werden kann, nämlich das Demokratieprinzip. Das BVerfG verändert damit eigenmächtig die Grenzziehungen zwischen subjektivem Recht und Verfassungsprinzip und löst die Grenzen der Verfassungsbeschwerde auf. Jedenfalls für das Maastricht-Urteil liegt die Vermutung nahe, dass Zulässigkeitsvoraussetzungen deswegen weit ausgelegt wurden, weil das BVerfG sich unbedingt zu den Grundfragen der europäischen Integration äußern wollte. Das „Grundrecht auf Demokratie“ wird im Lissabon-Urteil prozessual noch weiter geöffnet. Unter Berufung auf Art. 38 GG soll nunmehr auch eine Verfassungsbeschwerde zulässig sein, die eine Verletzung des Sozialstaatsprinzips rügt, und offenbar können hier auch andere Fundamentalprinzipien genannt werden, wenn nur eine Verbindung zum Demokratieprinzip einigermaßen substantiiert dargetan wird. Auch die Beeinträchtigung der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland soll offenbar im Wege dieser Art von Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können. Diese gegenüber dem Maastricht-Urteil noch weitergehende Öffnung des Zugangs zum BVerfG verwundert schon deswegen, weil sie das Potenzial für eine Beschwerdeflut birgt, an der Richter, die noch länger am BVerfG tätig sind, eigentlich kein Interesse haben können. 77
Dazu F.C. Mayer, Rashomon in Karlsruhe, WHI-Paper 07/09, http://www.whiberlin.de/documents/whi-paper0709.pdf (NJW 2010, 714 ff.); siehe auch ders., Rashomon à Karlsruhe, Revue Trimestrielle de Droit Européen 2010, 77 ff. 78 In den maßgeblichen Grundrechtslehrbüchern ist die Art. 38 GG-Interpretation des BVerfG im Maastricht-Urteil jedenfalls nicht ernst genommen worden, siehe nur B. Pieroth/ B. Schlink, Grundrechte, 25. Aufl. 2009.
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Allerdings wird man festhalten müssen, dass diese Verfahrensöffnung für sich genommen zunächst einmal die Reibungspunkte zwischen Europarecht und nationalem Recht noch nicht erhöht, sondern den Rechtsschutz vor dem BVerfG gegen künftige Primärrechtsänderungen betrifft. Was das Materielle angeht, so lässt sich der Prüfansatz des BVerfG ganz grundsätzlich in Frage stellen. Ausgangspunkt der Prüfung ist der unabänderbare Kern der Verfassung nach Art. 79 Abs. 3 GG. Was der Verfassungsänderung entzogen ist, ist auch integrationsfest, so das Argument. Nun sollte Art. 79 Abs. 3 GG ursprünglich nicht zuletzt die Deutschen vor sich selber schützen, vor dem Rückfall in menschenverachtende Diktatur, Unfreiheit und Tyrannei. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet diese Bestimmung nun gegen Europa in Stellung gebracht wird, hat doch kaum etwas – jedenfalls aus Sicht unserer Nachbarn – so verlässlich den Rückfall Deutschlands in Diktatur, Unfreiheit und Tyrannei versperrt wie die Beteiligung an der europäischen Integration. Festhalten lässt sich jedenfalls, dass der Text des Grundgesetzes weder die Integrationsgrenze Staatlichkeit ausweist noch eine kontinuierliche Kontrolle der Grenzen der Integration vorsieht – Art. 23 GG betrifft die konkrete Übertragung von Hoheitsrechten (s. oben, I.). Das BVerfG ermächtigt sich hier letztlich also selbst. Unfreundlich erscheinen die Kernaussagen des BVerfG zur Demokratie auf europäischer Ebene, die das Volk im Mitgliedstaat in den Mittelpunkt stellen,79 weil damit letztlich europäische Demokratie für konzeptionell unerreichbar erklärt wird. Erst wird die Eigenständigkeit supranationaler Demokratieformen betont,80 um dann zu zeigen, dass diese, am Maßstab der nationalen Demokratieformen gemessen, nicht genügen.81 Wo noch im Maastricht-Urteil zumindest eine Perspektive für eigenständige Demokratie auf europäischer Ebene bestand, ist dafür im LissabonUrteil wegen eines strukturellen Demokratiedefizits beim Europäischen Parlament kein Raum mehr. Das Europäische Parlament scheidet als Legitimationsstifter komplett aus, weil es nicht gleichheitsgerecht zusammengesetzt ist (Kontingentierung). Es wird völlig dekonstruiert, und die letzten 30 Jahre seiner Entwicklung bleiben dabei komplett ausgeblendet. Dies führt bis zu der Argumentation, dass eine echte Wahl der Europäischen Kommission durch das Europäische Parlament
79 80 81
BVerfGE 123, 267 (348, 367), Absatz-Nr. 229, 270. BVerfGE 123, 267 (344 ff.), Absatz-Nr. 219 ff. BVerfGE 123, 267 (348 ff. und 371 ff./377), Absatz-Nr. 231 ff. und 280 ff./289.
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grundgesetzwidrig wäre.82 Demokratie wird aus Sicht des BVerfG über das Intergouvernementale gewahrt.83 Die Herabsetzung des Europäischen Parlamentes ist für die vorliegende Untersuchung nur insoweit für die Einordnung in die Kategorie ‚europarechtsunfreundlich‘ relevant, als daraus eine Erhöhung aktueller oder potenzieller Konfliktpunkte zwischen Europarecht und nationalem Recht folgt. Dies ist lediglich mittelbar der Fall, soweit das strukturelle Demokratiedefizit dem BVerfG letztlich als Begründung für seine auf nationaler Ebene aufrecht erhaltenen Kontrollvorbehalte über das europäische Recht dient. Ein weiteres Beispiel für unfreundliche Aspekte, die aber für sich genommen noch nicht ohne weiteres die Reibungspunkte zwischen den Rechtsordnungen unmittelbar erhöhen, ist die Einführung und Betonung der für das Urteil zentralen Kategorie der souveränen Staatlichkeit, die als Gegensatz zur bisherigen, allgemein konsentierten Leitkategorie im bundesrepublikanischen Verfassungsdiskurs, nämlich der der offenen (völkerrechtsfreundlichen) Staatlichkeit84 erscheint. Im Grundgesetztext findet sich nichts zu Souveränität oder zu Staatlichkeit.85 Es handelt sich um interpretatorische Kreationen des Gerichts. Die Betonung von Souveränität ist im Zeitalter der Globalisierung dabei wenig zeitgemäß und zudem für den größten EUMitgliedstaat, der aufgrund seiner Machtstellung ein Beharren auf Souveränität gar nicht nötig hat, kontraproduktiv, weil dies bei anderen Mitgliedstaaten als deutsches Hegemonialstreben gedeutet werden kann. Das Souveränitätskonzept des LissabonUrteils ist zudem recht eigentümlich: Souveränität wird dort verstanden als die Lizenz zum Rechtsbruch, zur Verletzung von Verpflichtungen aus internationalem 82 Das binäre Denken in den Kategorien ‚Staat‘ oder ‚Nichtstaat‘ führt dazu, dass europäische Demokratie aus Sicht des BVerfG offenbar nur im europäischen Bundesstaat gedacht werden kann. Ein solcher aktiviere aber Art. 146 GG und mache eine neue Verfassung erforderlich. Eine Skalierung von Demokratie jenseits des Staates bleibt ausgeschlossen. Das Urteil verlässt damit womöglich einen Gründungskonsens der Bundesrepublik: Der europäische Bundesstaat wäre nach bisheriger Lesart durchaus schon unter der geltenden Verfassung möglich gewesen. 83 Demokratie soll nach dem Urteil nicht abwägungsfähig sein, unantastbar (BVerfGE 123, 287 [343], Absatz-Nr. 216). Dies überzeugt mit Blick auf Einschränkungen wie etwa die 5 % Hürde schon im Ansatz nicht. 84 Dazu K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Heft 292/293, 1964; auch in ders., Der offene Finanz- und Steuerstaat, 1991, 3 ff.; siehe auch Vogels eigene Einordnung seines Beitrags in seiner Abschiedsvorlesung vom November 1996, K. Vogel, Wortbruch im Verfassungsrecht. Mit einer Bemerkung zum Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und demokratischem Gesetzgeber, JZ 1997, 161. 85 Siehe oben, I.
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Recht.86 Diese Sicht lässt sich dann auch nur über Monographien aus dem 19. Jahrhundert (1888) abstützen.87 Es wird dabei deutlich, dass aus der Gedankenwelt des Kommunalrechts heraus88 argumentiert wird, unter anderem gegen das wesentlich realistischere Konzept der Autonomie. Das Urteil beschränkt sich nicht nur auf abstrakte theoretische Hinweise. Jedenfalls die Vorgaben zur sog. Kompetenzabrundungsklausel (früher Art. 235 EWGV bzw. Art. 308 EG, jetzt Art. 352 AEUV) wirken sich auch im europapolitischen Tagesgeschäft aus. Durch das vom BVerfG eingeführte Erfordernis, in Deutschland ein vollständiges Ratifikationsverfahren nach Art. 23 GG unter Beteiligung von Bundestag und Bundesrat, womöglich mit dem Erfordernis einer Zweidrittelzustimmung, durchzuführen,89 wird Art. 352 AEUV schwer zu handhaben sein. Dabei sind in den letzten Jahren jährlich mehr als 30 Rechtsakte auf Art. 308 EG gestützt worden, darunter Vorhaben wie die Fusionskontrollverordnung oder das Studentenaustauschprogramm ERASMUS. Möglicherweise wird man auf europäischer Ebene statt Art. 352 AEUV eher wieder die Binnenmarktkompetenz weit auslegen und heranziehen (Art. 114 AEUV, früher Art. 95 EG). Dieses Element im Lissabon-Urteil ist also durchaus geeignet, die europäische Rechtsentwicklung aufzuhalten oder zu behindern. Allerdings wird man auch hier nachfragen müssen, ob Konfliktstellen maximiert werden, bei denen es um unterschiedliche Auslegungen von Recht geht. Dies ist zu verneinen, weil die Vorgaben des BVerfG a priori nur die innerstaatliche Antwort auf die Heranziehung des Art. 352 AEUV betreffen. Hier hat das Europarecht wenig Handhabe: Gäbe es beispielsweise eine politische Selbstfestlegung der Bundesregierung, der Heranziehung von Art. 352 AEUV grundsätzlich nicht mehr zuzustimmen, dann wäre das aus europarechtlicher Sicht zwar misslich, aber rechtlich kaum angreifbar.
2. Europarechtsskepsis mit konkreten Folgen Unter dem Aspekt der Maximierung von Reibungspunkten mit dem Europarecht sind die vom BVerfG im Lissabon-Urteil aufrecht erhaltenen oder neu in Anspruch genommenen Kontrollrechte gegenüber Europarecht fraglos als europaskeptische Rechtsprechung zu qualifizieren. Für die Ultra vires-Kontrolle, die Beanspruchung von einseitigen Letztentscheidungsrechten über Ultra vires-Akte (ausbrechende Rechtsakte) der europäi86 87 88 89
BVerfGE 123, 267 (400f.), Absatz-Nr. 340. BVerfGE 123, 267 (346), Absatz-Nr. 223. BVerfGE 123, 267 (348 f.), Absatz-Nr. 231. BVerfGE 123, 267 (393 ff.), Absatz-Nr. 325 ff.
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schen Einrichtungen und Organe durch das BVerfG gilt das oben zum MaastrichtUrteil Ausgeführte weiter. Diese Ultra vires-Kontrolle wird im Lissabon-Urteil bestätigt, sie umfasst jetzt auch ausdrücklich EuGH-Urteile.90 Sie bleibt auch unter dem Vertrag von Lissabon mit den vertraglichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland unvereinbar. Es bleibt ein mit fundamentalen Grundsätzen der Gegenseitigkeit und letztlich der Fairness zwischen den Mitgliedstaaten unvereinbarer Letztentscheidungsanspruch. Offen ist im Übrigen weiterhin, wie ein Verfassungs-Fachgericht eigentlich die europarechtlichen Fachfragen beurteilen können soll, zumal im Konzept der Ultra vires-Kontrolle die eigene Vorlageverpflichtung des BVerfG nach Art. 267 AEUV nicht einmal erwähnt wird.91 In einem Urteil von 147 Seiten, in dem ansonsten so ziemlich alles angesprochen wird, von den Wurzeln der europäischen Integration in den 20er Jahren angefangen, kann dies nicht als Versehen gewertet werden. Es ist ein beredtes Schweigen. Neben die Kontrolle von Kompetenzüberschreitungen tritt die Kontrolle von Übergriffen des Europarechts in die nationale Verfassungsidentität mit dem möglichen Ergebnis, dass Europarecht vom BVerfG für in Deutschland unanwendbar erklärt wird. Zwar gilt für eine solche Identitätskontrolle, dass es hier – ähnlich wie bei dem Grundrechtsschutzvorbehalt aus Solange II, siehe oben – nur um das Verhältnis nationale Rechtsordnung – europäische Rechtsordnung geht. Insoweit ist die Kategorie „verfassungsidentitätsverletzender Rechtsakt“ freundlicher als die Kategorie des „ausbrechenden Rechtsakts“. Bei der Ultra vires-Kontrolle wird anders als bei der Identitätskontrolle eine Aussage getroffen, die auch das Rechtsverhältnis aller anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zum Europarecht betrifft. Gleichwohl ist festzuhalten, dass eine Identitätskontrolle durch nationale Gerichte im Europarecht nicht vorgesehen ist. Allerdings kennt das Europarecht in Art. 4 Abs. 2 EUV (früher Art. 6 Abs. 3 EU) durchaus das Konzept der nationalen Identität, an das eine bundesverfassungsgerichtliche Identitätskontrolle möglicherweise Anschluss finden kann. Nach dieser Bestimmung achtet die Europäische Union die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten. Ein europarechtlicher, einheitlicher Begriff der nationalen Identität ergibt kaum Sinn. Vielmehr verweist diese Bestimmung auf die Mitgliedstaaten zurück. Da die 90
BVerfGE 123, 267 (399f.), Absatz-Nr. 338. Siehe in diesem Kontext auch den von Praktikern aus der Anwaltschaft und der höchsten Verwaltungsgerichte ausgehenden Aufruf aus dem August 2009, abrufbar unter http://whi-berlin.de/documents/whi-material0109.pdf. Siehe auch J. Bergmann/U. Karpenstein, Identitäts- und ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht – Zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Vorlagepflicht, Zeitschrift für europarechtliche Studien 2009, 529 ff. 91
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nationale Identität auch die Verfassungsidentität umfasst, wie Art. 4 Abs. 2 EUV nun auch deutlich macht, indem er die „grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“ nennt, besteht mit Art. 4 Abs. 2 EUV auf Ebene der EU ein Ansatzpunkt, um von der europäischen Ebene aus den Vorranganspruch des Europarechts gegenüber mitgliedstaatlicher Verfassungsidentität zurückzunehmen. Ergänzt wird dies durch das in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegte Prinzip der Unionstreue, dem teilweise schon früher ebenfalls die Verpflichtung der Gemeinschaft bzw. Union zum Respekt nationaler Verfassungsstrukturen entnommen worden ist.92 Bei der Frage, wie von der Unionsebene aus der Begriff der nationalen Identität auch für die Mitgliedstaaten zufriedenstellend ausgefüllt werden kann, führt kein Weg am unmittelbaren Gespräch zwischen nationalen Gerichten und EuGH vorbei.93 Einzelne Gerichte haben bereits begonnen, den Topos der nationalen Verfassungsidentität aufzunehmen und damit eine Brücke zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht zu schlagen. Zu erinnern ist in diesem Kontext an den Hinweis auf die nationale Verfassungsidentität als Grenze des Vorrangs, wie ihn der französische Conseil constitutionnel 2004 implizit und 200694 ausdrücklich gegeben hat, und der sich auch in der jüngsten Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts findet.95 92
Vgl. A. v. Bogdandy, in: E. Grabitz/M. Hilf, Das Recht der EU, Art. 10 EG, Rn. 82 ff.; allgemein zu Art. 10 EG bzw. Art. 5 EWG-Vertrag M. Blanquet, L’article 5 du Traité C.E.E., 1993. 93 Siehe dazu D. R. Phelan, Revolt or Revolution, 1997, 416; Phelan erörtert verschiedene Szenarien für die künftige Entwicklung der EU und schlägt zur Vermeidung einer Revolte oder einer Revolution im Rechtssinne eine Vertragsergänzung vor, wonach Grundprinzipien der nationalen Verfassungen, die Leben, Freiheit, Religion, Familie, länderspezifische Menschenbilder oder Moralvorstellungen, Legitimitätsgrundlagen der nationalen Rechtsordnung sowie die Bewahrung der nationalen Rechtskonzeption betreffen, gegenüber dem Gemeinschaftsrecht Vorrang genießen. Die Reichweite dieses Grundwertevorbehaltes soll von nationalen (gerichtlichen) Letztentscheidungsorganen festgelegt werden, ebd., 417 ff. Kritisch hierzu M. P. Maduro, The Heteronyms of European Law, European Law Journal 5 (1999), 160, und N. MacCormick, Risking Constitutional Collision in Europe?, Oxford Journal of Legal Studies 18 (1998), 517; siehe in diesem Zusammenhang D. R. Phelan, The Right to Life of the Unborn v. the Promotion of Trade in Services, Modern Law Review 55 (1992), 670. 94 CC 19.11.2004, Traité établissant une Constitution pour l’Europe (deutsche Übersetzung EuR 2004, 911); CC 27.6.2006, Loi relative au droit d’auteur et aux droits voisins dans la société de l’information; siehe dazu F.C. Mayer u.a., Der Vorrang des Europarechts in Frankreich, EuR 2008, 63. 95 Tribunal constitucional, Urteil v. 13.12.2004, DTC 1/2004; deutsche Übersetzung EuR 2005, 343.
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Möglicherweise leitet der Übergang des BVerfG zur Identitätskontrolle auch eine Abkehr von der mittlerweile stabilen Solange II-Rechtsprechung ein, nämlich wenn fürderhin die Frage einer Verletzung von Grundrechten des Grundgesetzes als Frage der Beeinträchtigung der nationalen Verfassungsidentität diskutiert würde. Das könnte im Vergleich zum status quo unter der Solange II-Rechtsprechung die Reibungsflächen zwischen Europarecht und nationalem Verfassungsrecht in Grundrechtsfragen wieder größer werden lassen.
II. Europafreundliches im Lissabon-Urteil Mit dem Lissabon-Urteil erklärt das BVerfG den Vertrag von Lissabon für vereinbar mit dem GG und der Bundestag wird gegenüber der Bundesregierung in Europaangelegenheiten gestärkt.96 Allein dieses Ergebnis wurde vielfach als positiv und als europafreundliche Geste gewertet.97 Eine Reihe von Aussagen im Lissabon-Urteil können daneben als freundliche Grundsatzaussagen gewertet werden. So wird etwa die Zielvorstellung eines Bundesstaates Europa überhaupt erstmals anerkannt. Das Urteil betont sehr deutlich die Vorteile der europäischen Integration, nämlich Sicherung des Friedens und Stärkung der politischen Gestaltungsmöglichkeiten durch gemeinsames Handeln.98 Die großen Erfolge der europäischen Integration werden als solche gewürdigt.99 Ganz selbstverständlich wird von einer funktionalen Verfassung auf europäischer Ebene gesprochen.100 Zitiert wird Carlo Schmid,101 nicht Carl Schmitt. Die Staatsfixierung des Maastricht-Urteils ist verschwunden, das Individuum steht im Mittelpunkt. Das Urteil sagt deutlich, dass die EU nicht wie ein Staat verfasst sein muss. Klargestellt ist auch, dass Europäisches Parlament und Rat nicht durch die nationale Brille betrachtet werden dürfen. Im Urteil wird eingeräumt, der Vertrag von Lissabon stärke die partizipative Demokratie und es entwickele sich immer mehr eine
96
Der Bundestag hat nun Weisungsrechte gegenüber der Bundesregierung und die Bundesregierung ist z.B. in WTO-Fragen zur adäquaten Information des Bundestages verfassungsrechtlich verpflichtet, BVerfGE 123, 267 (419 f.), Absatz-Nr. 375. 97 Zwar wurde die Begleitgesetzgebung beanstandet, allerdings fallen die diesbezüglichen Änderungen in der Begleitgesetzgebung eigentlich gar nicht ins Gewicht, weil die vereinfachten Vertragsänderungen und Passerellen sowieso nie aktiviert werden dürften, das zeigen die Versuche, die man bisher mit den Vorläufervorschriften unternommen hat. 98 BVerfGE 123, 267 (344 f.), Absatz-Nr. 220 f. 99 BVerfGE 123, 267 (359), Absatz-Nr. 251. 100 BVerfGE 123, 267 (348 f.), Absatz-Nr. 231. 101 Ebd.
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europäische Öffentlichkeit.102 Schließlich werden auch die Verdienste des EuGH in der Entwicklung eines sozialen Europas gewürdigt.103 Sucht man jenseits des Ergebnisses und des Grundsätzlichen nach Aussagen im Lissabon-Urteil, in denen Reibungspunkte minimiert werden, finden sich auch in diesem Sinne europarechtsfreundliche Passagen. Man verabschiedet sich von Hierarchievorstellungen und sieht sich in einem nicht strikt hierarchisch gegliederten Ordnungszusammenhang.104 Damit fällt offenbar die Positionierung zum europarechtlichen Vorrang leichter: Der Anwendungsvorrang wird mehrfach bestätigt und genau besehen bis zur Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG anerkannt,105 d.h. Vorrang auch über weite Teile der Verfassung. Nicht absolut betrachtet, weil an der Ultra vires-Kontrolle ja festgehalten wird, aber relativ zum Maastricht-Urteil ergeben sich einige Verringerungen von Reibungsflächen: Endlich ist klargestellt, dass etwaige Reservezuständigkeiten (Ultra vires-Klagen gegen ausbrechende Rechtsakte) auf nationaler Ebene auch nur dem BVerfG zukommen (Monopol), dass diese stark zurückgenommen sind und nur ausnahmsweise in offenkundigen Fällen in Betracht kommen.106 Die Ultra viresKontrolle soll offenbar nur bei ersichtlichen Grenzüberschreitungen in Betracht kommen.107 Und diese Reservezuständigkeit soll erst greifen, wörtlich: „wenn Rechtsschutz auf Unionsebene nicht zu erlangen ist“,108 das kann im Klartext bedeuten: wenn der EuGH befasst worden ist, und es wird betont, dass hier die Europarechtsfreundlichkeit des GG berücksichtigt werden muss.109 Stellt man die Aussagen zu den europäischen Kompetenzen daneben, so ergeben sich weitere Limitierungen der Ultra vires-Kontrolle: Deutlich wird gesagt, dass das integrationsoffene Grundgesetz keineswegs von vornherein anordnet, dass eine bestimmbare Summe oder bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben müssen.110 Die gemeinsam ausgeübte öffentliche Gewalt kann durchaus bis in die herkömmlichen Kernbereiche des staatlichen Kompetenzraumes gehen – ins-
102 103 104 105 106 107 108 109 110
BVerfGE 123, 267 (359), Absatz-Nr. 251. BVerfGE 123, 267 (429 f.), Absatz-Nr. 398. BVerfGE 123, 267 (400f.), Absatz-Nr. 340. BVerfGE 123, 267 (353 f., 397), Absatz-Nr. 240, 332. BVerfGE 123, 267 (400f.), Absatz-Nr. 340. BVerfGE 123, 267 (353 f.), Absatz-Nr. 240. Ebd. BVerfGE 123, 267 (354 f.), Absatz-Nr. 241. BVerfGE 123, 267 (357), Absatz-Nr. 248.
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besondere bei grenzüberschreitenden Sachverhalten.111 Auf den 80 %-Mythos112 kommt es gar nicht an, sagt das Urteil damit. Mit den Überlegungen – keine Forderungen, wörtlich heißt es „denkbar“ – zu einem oder zwei neuen Verfahren der Identitätskontrolle und/oder der Ultra viresKontrolle vor dem BVerfG113 wird schließlich dem demokratisch legitimierten, politisch – auch europapolitisch – verantwortlichen Gesetzgeber die Möglichkeit gegeben, dem BVerfG die Prüfkompetenz schlicht zu verbieten oder an die Vorlage zum EuGH zu koppeln. Hier wurde offenbar erkannt, dass acht höchst mittelbar demokratisch legitimierte Einzelpersonen im BVerfG nicht dazu berufen sind, über die weiteren Geschicke des europäischen Einigungsprozesses zu entscheiden, sondern dass der Weg Deutschlands in der europäischen Integration Angelegenheit des Parlamentes ist. Überhaupt ist bemerkenswert, dass bei der Identitätskontrolle und bei der Ultra vires-Kontrolle114 nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch europarechtlich argumentiert wird. Über all diese Einzelbeobachtungen hinaus gibt es einen Punkt des Urteils, der für die Frage nach der Europarechtsfreundlichkeit in der Rechtsprechung des BVerfG eine neue Wendung enthält. Vorbereitet wird dieser durch die ausdrückliche Aussage des BVerfG, dass es keine Wahl bei der Mitwirkung an der europäischen Integration gibt, weil es sich um eine Verfassungspflicht handelt.115 Daran anschließend findet der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit explizit Eingang in die Rechtsprechung des BVerfG.116 Wörtlich heißt es: Der aus Art. 23 Abs. 1 GG und der Präambel folgende Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas (…) bedeutet insbesondere für die deutschen Verfassungsorgane, dass es nicht in ihrem politischen Belieben steht, sich an der europäischen Integration zu beteiligen oder nicht. Das Grundgesetz will eine europäische Integration und eine internationale Friedensordnung: Es gilt deshalb nicht nur der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, sondern auch der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit.
111
Ebd. T. König/L. Mäder, Das Regieren jenseits des Nationalstaates und der Mythos einer 80-Prozent-Europäisierung in Deutschland. Politische Vierteljahresschrift 2008, 438. 113 BVerfGE 123, 267 (354 f.), Absatz-Nr. 241. 114 BVerfGE 123, 267 (268, 353 f.), Leitsatz 4 und Absatz-Nr. 240: Hinweis auf Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV-Liss. 115 BVerfGE 123, 267 (346 f.), Absatz-Nr. 225. 116 Ebd. 112
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III. Zwischenbefund Vielfach wird dem Lissabon-Urteil ein misstrauischer und feindseliger Grundton zugemessen und beanstandet, dass vom Kooperationsverhältnis zum EuGH, wie es noch im Maastricht-Urteil zumindest kurz erwähnt wird, gar keine Rede mehr ist. Denkt man die Kautelen und Vorbehalte im Lissabon-Urteil konsequent zu Ende, so erscheint in der Tat denkbar, dass eine Blockade der europäischen Rechtsentwicklung eintritt, mit der absehbaren Folge der Flucht ins Informelle und ins Intergouvernementale. An verschiedenen Stellen lässt sich auch fragen, ob das BVerfG nicht die ihm von der Verfassung eingeräumten Befugnisse hinter sich lässt und sich im Bereich der richterrechtlichen Rechtsschöpfung bewegt. Allerdings werden all die Vorbehalte wie auch der Sound des Lissabon-Urteils durch ein Element zumindest neutralisiert, wenn hier nicht sogar das Potenzial zu einer paradigmatischen Wende in der Rechtsprechung besteht: Das BVerfG erkennt im Lissabon-Urteil den Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip ausdrücklich an.
D. Analyse, Einordnung und Ausblick I. Motivsuche Die in der Rechtsprechung des BVerfG bis heute immer wieder aufscheinende Skepsis lässt sich nicht durch ein einziges Motiv plausibel erklären. Es dürften verschiedenste Motive sein, die zeitlich nebeneinander oder auch nacheinander die Rechtsprechung erklären. Gesichert scheint immerhin, dass die politische Ausrichtung der Richter im Europakontext eher wenig Erklärungspotenzial aufweist, weil die Frage des Umgangs mit der EU kaum entlang der politischen Parteilinien, die sich auch in den Senaten des BVerfG wiederfinden, diskutiert wird. Plausibler erscheint demgegenüber als Erklärungselement die fachliche Vorprägung der Richter und die nicht ausreichend breite Binnenpluralität der Spruchkörper. Waren bei den frühen Entscheidungen zum Europarecht noch Völkerrechtler am Gericht tätig, so sind seit einiger Zeit die für das Europarecht zuständigen Richter keine Fachleute des internationalen Rechts mehr, geschweige denn Europarechtler. Es sind in jüngerer Zeit über lange Zeitstrecken hinweg überhaupt keine Spezialisten des internationalen Rechts am Gericht tätig gewesen. Man mag nun einwenden, dass es ja auch nicht um Europa- und Völkerrecht geht, sondern um Verfassungsrecht. Das stimmt freilich spätestens seit dem Maastricht-Urteil nicht
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mehr, in dem die Überprüfung europarechtlicher Kompetenzausübung und -kontrolle angekündigt wird, was eine Auslegung des Europarechts erfordert. Auch der Hinweis darauf, dass Richter am BVerfG grundsätzlich meist nicht ihr Spezialgebiet bearbeiten sollen, überzeugt nicht, weil es gar nicht so sehr um die konkrete Zuständigkeit, sondern vielmehr um das Einbringen einer bestimmten Sicht in die Beratungen eines Kollegialorgans geht. Ein vertieftes Verständnis der rechtlichen, aber vor allem auch rechtskulturellen Grundlagen der europäischen Integration wäre sicherlich skepsiseindämmend. Ein Beispiel: Wer sich mit Europarecht näher befasst, wird daraus, dass der EuGH sehr selten nur europäische Gesetzgebung wegen Grundrechtsverstößen kassiert,117 keine voreiligen Schlüsse ziehen. Er oder sie wird vielmehr wissen, dass im EuGH auch Rechtskulturen vertreten sind, für die eine Rechtsetzungskontrolle oder gar eine Kassation von Gesetzen etwas sehr Fremdes ist. Dementsprechend wird er oder sie auf die Zwischentöne achten, auf die Urteile, die Gesetzgebung nicht für nichtig erklären, sondern zu einer bestimmten Auslegung verpflichten. Ein weiteres Beispiel: Wer über die Kompetenzausweitung der europäischen Ebene reflektiert, sollte wissen, dass dabei nichts ohne die mitgliedstaatlichen Regierungen geht, das also die Gegenüberstellung Mitgliedstaaten – EU nicht immer zutrifft, es vielfach eher um horizontale statt vertikale Kompetenzkonflikte geht. Als weiteres Erklärungselement für die Europaskepsis in der Rechtsprechung bzw. für Ungradlinigkeiten in der Europa-Rechtsprechung lässt sich auf die Divergenz, vielleicht sogar Konkurrenz der Senate hinweisen. Es scheint, dass der Erste Senat im Grundsatz weniger Probleme damit hätte, dem EuGH einmal eine Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Ein offener Gegensatz zwischen den Senaten ist in Europaangelegenheiten allerdings bisher noch nicht aufgetreten. Darüber hinaus liegt es nahe, die Ausrichtung der Rechtsprechung mit dem Selbstverständnis und der Funktion des BVerfG zu erklären. Aus Sicht des BVerfG lässt sich gut argumentieren, dass die Frage der Europarechtsfreundlichkeit oder Europarechtsskepsis nicht im Vordergrund verfassungsgerichtlicher Tätigkeit steht. Ein Verfassungsgericht hat die Verfassung auszulegen und erforderlichenfalls zu schützen, insbesondere die Freiheitsgewährleistungen des 117 Siehe aber immerhin EuGH, Rs. 155/79, AM & S, Slg. 1982, 1575; EuGH, Rs. 322/81, Michelin, Slg. 1983, 3461; EuGH, Rs. 374/87, Orkem, Slg. 1989, 3283, EuGH, Rs. C-100/88, Oyowe und Traore, Slg. 1989, 4285; EuGH, Rs. C-404/92 P, X/Kommission, Slg. 1994, I-4737; EuGH, Rs. C-185/95, Baustahlgewebe/Kommission, Slg. 1998, I-8417; EuGH, Rs. C-174/98 P und C-189/98 P, Van der Wal, Slg. 2000, I-1; EuGH, Rs. C-340/00 P, Cwik/Kommission, Slg. 2001, I-10269; EuG, Rs. T-82/99, Cwik/Kommission, Slg. ÖD 2000, I-A-155 und II-713; EuG, Rs. T-474/04, Pergan, Slg. 2007, II-4225; EuGH, Rs. C39/05 P und C-52/05 P, Schweden und Turco, Slg. 2008, I-4723.
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Grundgesetzes hochzuhalten und die Funktionsfähigkeit des eigenen Verfassungssystems zu wahren. Eine solche Sicht wird durch die Richterauswahl – Richter aus der Justiz und der Hochschullehrerschaft, in der Regel ohne Bezug zum europäischen oder internationalen Recht – eher verstärkt. Schließlich mag ein Erklärungselement für die jüngere Entwicklung ein allgemeiner Zeitgeisttrend sein, dem auch ein Verfassungsgericht nicht auszuweichen vermag. Verfassungsgerichte können sich letztlich nicht allzu weit vom Mehrheitskonsens entfernen. Dieser Trend ist die Wiederentdeckung der nationalen und staatlichen Souveränität, verbunden mit einer zunehmenden allgemeinen Europaskepsis. Für die europäische Integration wird offenbar in verschiedensten Diskurskreisen, von den Medien bis zu den politischen Parteien, eher mehr Erklärungs- und Begründungsbedarf gesehen als früher. Das mag sich aus der steigenden Komplexität auch der europäischen Angelegenheiten erklären und der Sehnsucht nach einfachen Lösungen. In Deutschland erklärt sich die Wiederentdeckung der Souveränität sicherlich auch mit der vollzogenen deutschen Einheit.
II. Bewertung Wie ist all dies nun zu bewerten? In der Binnenperspektive verdient die europaskeptische Rechtsprechung des BVerfG Kritik, soweit sie dem Auftrag der Präambel, auf ein Vereintes Europa hinzuwirken, nicht Rechnung trägt. Konzepte von ausbrechenden Rechtsakten und die Beanspruchung einer Letztentscheidungskompetenz über Europarecht passen nicht zu diesem Staatsziel. Was die Außendimension angeht, so gründet sich die Kritik an der EuropaRechtsprechung des BVerfG darauf, dass das BVerfG seine Ausstrahlungswirkung auf andere Verfassungsordnungen möglicherweise unterschätzt.118 Finden sich weitere Verfassungsgerichte, die ähnliche Letztentscheidungsrechte wie das BVerfG einfordern, dann ist die Rechtseinheit und damit auch die europäische Integration in Gefahr. Hier lässt sich auch nicht einwenden, dass ein Beharren auf dem Selbststand des BVerfG und einem Recht zum letzten Wort in bestimmten Fragen dadurch gestützt wird, dass der EuGH sich in Richtung Völkerrecht ebenso verhält, wie die Rs. Kadi119 gezeigt hat, schon weil das Europarecht viel umfassender ist als das Recht der Vereinten Nationen.
118 Siehe in dem Kontext nur die beiden Urteile des tschechischen Verfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, Pl. US 19/08, Urt. v. 26.11.2008 und Pl. US 29/09 v. 3.11.2009. 119 EuGH, Rs. C-402/05 P und 415/05 P, Kadi, Urt v. 3.9.2008.
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Kern des Problems ist auf einer rechtlichen Ebene wohl der Vorranganspruch des Europarechts vor dem nationalen Verfassungsrecht, wie er vom EuGH seit dem Urteil Internationale Handelsgesellschaft von 1970 beansprucht wird. Das Europarecht muss einheitlich gelten, damit vertragen sich unilaterale Verfassungsvorbehalte seitens des BVerfG nicht. Das heißt aber nicht, dass der Vorrang des Europarechts automatisch grenzenlos sein muss. Denkbar ist sehr wohl ein differenziertes Vorrangkonzept, bei dem wie oben skizziert der Schutz der nationalen Identität eine Rolle spielen könnte. Bei der Entwicklung eines solchen Konzeptes müsste das BVerfG aber konstruktiv mitarbeiten, wie dies beispielsweise der französische Verfassungsrat oder das spanische Verfassungsgericht tun (s.o.). Man darf bei der Bewertung freilich auch nicht unterschlagen, dass die Folgen der hier als europarechtsskeptisch eingeordneten Rechtsprechungselemente letzten Endes überschaubar geblieben sind. Konzepte wie das vom ausbrechenden Rechtsakt finden sich nicht im operativen Teil von Urteilen, sondern in obiter dicta. Dies deutet darauf hin, dass es um Signale und Hinweise geht, nicht um die aktive Gestaltung der europäischen Integration. Ob sich Verfassungsrechtsprechung auf die „fallabgehobene Aussendung dunkler Signale“ (Gertrude Lübbe-Wolff)120 konzentrieren soll, erscheint zwar fraglich. Unmittelbarer Schaden entsteht dadurch freilich noch nicht. Auf einer pragmatischen Ebene funktioniert der europäische Verfassungsgerichtsverbund.121
III. Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Gesamtschau bisher die europarechtsskeptischen Elemente in der Rechtsprechung des BVerfG überwogen haben. Die – entgegen der Rhetorik vom Kooperationsverhältnis – fortbestehende Nichtvorlagepraxis ist dafür ein Indiz. Die Letztentscheidungsansprüche über Grundrechte, Kompetenzhandhabung und Verfassungsidentität sind dabei echte Rechtsprobleme, zumindest theoretisch mit erheblichem Konflikt- und Destabilisierungspotenzial für die Rechtsgemeinschaft in der Europäischen Union. Mit dem Lissabon-Urteil und der dort erfolgten Etablierung der Europarechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip wird indessen eine Neuausrichtung der Rechtsprechung möglich gemacht. Gelegenheiten zur Fortentwicklung der Rechtsprechung bieten zeitnah zum Lissabon-Urteil die Verfahren in Sachen Vorratsdatenspeicherung122 und zur Mangold-Rechtsprechung 120 Sondervotum der Richterin G. Lübbe-Wolff in BVerfGE 113, 273 (326 ff.) – Europäischer Haftbefehl. 121 Vgl. A. Vosskuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, TranState Working Paper No. 106, 2009 und NVwZ 2010, 1 ff. 122 1 BvR 256/08; 1 BvR 263/08; 1 BvR 586/08, Urt. v. 2.3.2010.
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des EuGH (Grundrecht auf Schutz vor Altersdiskriminierung) sowie die im Mai 2010 anhängig gemachten Verfassungsbeschwerden gegen die Eurostabilisierungsmaßnahmen.123 In welche Richtung das BVerfG seine Rechtsprechung zur europäischen Integration entwickelt, ist offen. Mitte des 20. Jahrhunderts, als Deutschland nicht souverän war und nach Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Nationen strebte, war es wahrscheinlich nicht sonderlich schwer, Hoheitsrechte abzugeben. Insbesondere mit der nach Wiedervereinigung neu erlangten Souveränität stellen sich die Umstände zu Beginn des 21. Jahrhunderts anders dar. So gesehen läuft der eigentliche Test für die Europaoffenheit des Grundgesetzes wie des BVerfG noch. Er hat gerade erst begonnen.
123 2 BvR 2661/06; s. auch EuGH, Rs. C-144/04, Mangold/Helm, Slg. 2005, I-9981. Zu den Euro-Verfassungsbeschwerden siehe 2 BvR 987/10 und 2 BvR 1099/10.
Europarechtsfreundlichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Vergleich zum österreichischen Verfassungsgerichtshof Von Franz Merli A. Vergleicht man die Praxis des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) mit jener des österreichischen Verfassungsgerichtshofes (VfGH), so zeigen sich manche Parallelen, aber auch erhebliche Unterschiede. Die Haltung des VfGH zum Gemeinschaftsrecht ist nicht theoretisch und grundsätzlich, sondern pragmatisch und technisch. Aussagen zu Natur, Wesen, Grundlagen und demokratischer Legitimation der Europäischen Union (EU) oder zu Identität der Verfassung, Integrationsschranken oder Letztentscheidungsbefugnissen finden sich in seiner Rechtsprechung ebenso wenig wie Spekulationen über ausbrechende Rechtsakte, Angebote zu gerichtlichen Kooperationsverhältnissen und Drohungen mit Reservekompetenzen. Dagegen akzeptiert der VfGH ausdrücklich den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber dem Verfassungsrecht,1 erkennt prinzipiell seine eigene Vorlagepflicht gegenüber dem Europäischen Gerichtshof (EuGH)2 an und kommt ihr auch nach.3 Insgesamt hat er in einer Vielzahl von Entscheidungen zu einem differenzierten Umgang mit dem Gemeinschaftsrecht gefunden und ist so zu einem wichtigen Gemeinschaftsgericht geworden, ohne seine tradierte Rolle als Verfassungshüter aufzugeben.4
1
Z. B. Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes (VfSlg) 15.215/1998; 16.050/2000; 17.065/2003; 17.075/2003; VfGH G 113/08 vom 5.12. 2008. 2 Z. B. VfSlg 14.886/1997; 16.627/2002; VfGH B 2251/97 vom 10.3.1999; G 5/09 u.a. vom 22.6.2009. Zu Einschränkungen siehe Anm. 14 und 15. 3 VfSlg 15.450/2001; 17.065/2003; 17.075/2003. 4 Die aktuellste und ausführlichste Übersicht über die Entscheidungspraxis und umfassende Literaturangaben bieten C. Ranacher/M. Frischhut, Handbuch Anwendung des EU-Rechts, 2009.
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Für diesen Unterschied gibt es eine Vielzahl von Gründen, vom weniger grundsatzorientierten Stil der österreichischen Rechtsprechung allgemein bis zur größeren Relevanz des geschriebenen Prozessrechts für den VfGH,5 doch die wichtigsten sind wohl der Zeitpunkt und die rechtliche Form des österreichischen Beitritts zur EU. Österreich ist der Union 1995 beigetreten, als die ursprünglich kaum vorhersehbare Weiterentwicklung der Integration, auch und gerade durch die Rechtsprechung des EuGH, im Wesentlichen schon eingetreten war. Österreich wusste also, worauf es sich einließ, und die damit verbundenen Rechtsfragen wurden schon vor dem Beitritt intensiv diskutiert. Das gab auch den Ausschlag für die Form des Beitritts: Er wurde nicht als bloßer Abschluss eines (weiteren) völkerrechtlichen Vertrages behandelt, der wegen seines verfassungsändernden Inhalts mit Zweidrittelmehrheit vom Parlament zu genehmigen war, sondern als „Gesamtänderung“ der „Bundesverfassung“ im Sinne des Art. 44 Abs. 3 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG). Gesamtänderungen bringen wesentliche Modifikationen der Grundprinzipien der Bundesverfassung mit sich (hier vor allem der Demokratie und der Rechts- und Bundesstaatlichkeit, wie sie dem B-VG zugrunde liegen) und dürfen daher erst nach einer (zusätzlichen) Billigung durch die Mehrheit der Bürger in einer Volksabstimmung erfolgen. Im konkreten Fall fand der Beitritt auch im Volk eine Zweidrittelmehrheit.6 Die Konsequenz dieser Technik besteht darin, dass alle mit dem Beitritt verbundenen Verfassungsänderungen, seien sie auch noch so tiefgreifend, rechtlich unangreifbar wurden.7 Auch nachfolgende Vertragsänderungen oder Änderungen der Vertragspraxis bedürfen keiner Volksabstimmung, solange sie die Grundprinzipien der Verfassung gegenüber dem Stand von 1995 nicht erneut
5 Z.B. reichten dem VfGH in VfSlg 17.588/2005 zwei Seiten, um die Unzulässigkeit einer individuellen Anfechtung des Bundesverfassungsgesetzes über den Abschluss des Vertrages über eine Verfassung für Europa mit mangelnder Rechtsbetroffenheit der Antragsteller zu begründen; ähnlich kurz und technisch VfGH SV 2/08 u.a., G 80/08 u.a. vom 30.9.2008 und G 149/08 u.a., SV 5/08 u.a. vom 11.3.2009 zur Anfechtung der Ermächtigungsgesetze zum Abschluss des österreichischen Beitrittsvertrages und der Verträge von Amsterdam, Nizza und Lissabon sowie dieser Verträge selbst. Vgl. dagegen die Ausführungen des BVerfG zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht, BVerfGE 89, 155 (171 ff.). 6 Die Abstimmungsfrage richtete sich auf das Inkrafttreten eines eigenen Bundesverfassungsgesetzes („BeitrittsBVG“), das die Ermächtigung zur Vornahme der notwendigen Schritte zum Abschluss des Beitrittsvertrages (in der Fassung des Verhandlungsergebnisses) erteilte; der Text des BeitrittsBVG wurde im Bundesgesetzblatt (BGBl) 1994/744 kund gemacht. 7 Zu den Wirkungen im Einzelnen T. Öhlinger, EU-BeitrittsBVG, in: K. Korinek/M. Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht. Textsammlung und Kommentar (Loseblattsammlung, 1. Lfg., 1999) m.w.N.
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wesentlich modifizieren,8 was jedenfalls dann nicht der Fall ist, wenn sie sich im Rahmen des zum Zeitpunkt des Beitritts und auf der Grundlage der Entwicklung bis dorthin Erwartbaren bewegen. Erwartet werden konnte unter anderem wohl eine weitere rechtsfortbildende Tätigkeit des EuGH. Daher ist Grundsatzdebatten über die Grenzen des Übertragbaren und auch des Übertragenen9 der Boden weitgehend entzogen: Die Selbstauslieferung, die das BVerfG anscheinend befürchtet, ist in Österreich schon geschehen, und zwar in der verfassungsrechtlich korrekten Form. Dass dies tatsächlich den entscheidenden Grund für die verfassungsgerichtliche Zurückhaltung bildet, zeigt die Gegenprobe der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Österreich ist der Konvention 1958 beigetreten. Das Parlament behandelte sie zunächst als Staatsvertrag im Rang eines einfachen Gesetzes, verlieh ihr aber nach Debatten über die richtige Einstufung 1964 ausdrücklich Verfassungsrang.10 Die umfassende und rechtsfortbildende Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen. Als sie sich dann entfaltete und vor allem die Ausdehnung der Gerichtsgarantie des Art. 6 EMRK Österreich wegen des Fehlens einer umfassenden Verwaltungsgerichtsbarkeit große Schwierigkeiten bereitete, mochte der VfGH, der im Übrigen dem Straßburger Gerichtshof meist folgte, „nicht versäumen darauf hinzuweisen, daß die dann anzunehmende Konventionswidrigkeit der österreichischen Rechts8 Nach allgemeiner Auffassung war das bei den Verträgen von Amsterdam und Nizza und den Beitrittsverträgen von 2003 und 2005 nicht der Fall. Zum – dann nicht in Kraft getretenen – Verfassungsvertrag gab es unterschiedliche Meinungen; die Praxis behandelte auch ihn nicht als Gesamtänderung (789 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrats, 22. Gesetzgebungsperiode, 3, 4, mit Nachweisen der literarischen Diskussion). Für den Vertrag von Lissabon galt das umso mehr (417 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrats, 23. Gesetzgebungsperiode, 43 ff.), als sich auch die Wissenschaft einig war (Rechtsgutachten von L. Adamovich und T. Öhlinger, zugänglich unter www.hofburg.at/rte/upload/rechtsgutachten_praes_a_d_dr_adamovich.pdf und www.hofburg.at/rte/upload/rechtsgutachten_univ_prof_dr_oehlinger.pdf, zuletzt besucht am 31.10.2009; die Ausnahme bildet ein deutsches Gutachten, zugänglich unter www. fpoe.at/fileadmin/Contentpool/Portal/PDFs/Dokumente/Schachtschneider-Expertise_Volksabstimmung.pdf, zuletzt besucht am 31.10.2009). Seit der Novelle zum B-VG, BGBl I 2008/2 sind als Grundlage der innerstaatlichen Genehmigung von („normalen“) Vertragsänderungen keine sonderverfassungsrechtlichen Ermächtigungen nach dem Muster des BeitrittsBVG mehr erforderlich. Der neuformulierte Art. 50 B-VG verlangt die Genehmigung des Nationalrats und die Zustimmung des Bundesrats jeweils mit Zweidrittelmehrheit. 9 „Ausbrechende Rechtsakte“ der EG wurden zwar in der Regierungsvorlage zum Beitritts-BVG (1546 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrats, 18. Gesetzgebungsperiode, 7) als Möglichkeit erwähnt, spielten aber in der Rechtsprechung bisher nicht einmal als Behauptungen eine Rolle. 10 Art. II Z. 7 B-VG-Novelle 1964, BGBl 1964/59.
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ordnung nach dem derzeitigen Stand seiner Überlegungen nur das Ergebnis einer offenen Rechtsfortbildung durch die Konventionsorgane sein könnte und sich daher die – hier nicht zu beantwortende – Frage stellen würde, ob nicht die Übertragung einer rechtsfortbildenden Aufgabe auf verfassungsrechtlichem Gebiet an ein internationales Organ als Ausschaltung des Verfassungsgesetzgebers eine Gesamtänderung der Bundesverfassung […] wäre und einer Abstimmung des gesamten Bundesvolkes bedurft hätte“.11 Der Konflikt ist inzwischen weitgehend entschärft, an Konfliktfähigkeit fehlt es dem VfGH aber wohl nicht.
B. In Deutschland konzentriert sich die Debatte zu Europarechtsfreundlichkeit und -skepsis des BVerfG auf grundsätzliche Aspekte: In ihrem Mittelpunkt stehen, technisch gesehen, meist nicht die operativen Teile seiner Entscheidungen, sondern ihre theoretischen Herleitungen und systematischen Einbettungen, die obiter dicta und ihre möglichen Folgen. Das ist verständlich, verstellt aber manchmal den Blick auf den alltäglichen, eben operativen Umgang mit dem Gemeinschaftsrecht. Zugespitzt formuliert: Wer wissen will, was das BVerfG tun könnte, wird dazu in eigenen Abschnitten der Verfassungslehrbücher bedient; wer wissen will, was es tut, muss sich durch verstreute Randnummern der Verfassungsprozessrechtsdarstellungen kämpfen. Der durch Grundsatzprobleme ungetrübte Blick auf den VfGH trifft ein wichtiges Gemeinschaftsgericht, dessen Judikatur wesentlich zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts beiträgt. Das ist auf den ersten Blick überraschend, denn Gemeinschaftsrecht ist weder Gegenstand noch Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Bei näherer Betrachtung zeigt sich freilich, dass dies einerseits nicht ausnahmslos gilt, und dass das Gemeinschaftsrecht andererseits den Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Kontrolle verdrängen und ihren Maßstab modifizieren kann.
I. Gemeinschaftsgerichtliche Funktionen nimmt der VfGH in mehreren Konstellationen wahr. Zunächst behandelt er Verletzungen der Vorlagepflicht nach Art. 234 EGV durch die Vorinstanzen als Verletzungen des innerstaatlichen
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VfSlg 11.500/1987.
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Grundrechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter12 und trägt so zur einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts bei. Diese Konstruktion wurde vom BVerfG übernommen, unterscheidet sich in der Ausgestaltung aber maßgeblich von der deutschen Variante.13 Zum einen nimmt der VfGH nicht nur eine Grobkontrolle vor, sondern prüft jede mögliche Verletzung des Rechts und muss sich daher intensiv mit den einzelnen Tatbestandselementen des Art. 234 EGV auseinandersetzen, etwa mit dem Gerichtsbegriff, der Letztinstanzlichkeit, der Entscheidungserheblichkeit der europarechtlichen Frage und der acte claireDoktrin. Zum anderen aber beschränkt sich der Anwendungsbereich der verfassungsgerichtlichen Kontrolle in diesem Punkt auf die – in Österreich allerdings recht häufig vorkommenden – gerichtsähnlich organisierten Verwaltungsbehörden, weil es eine echte Verfassungsbeschwerde gegen Urteile „echter“ Gerichte in Österreich nicht gibt. Auf vergleichbare Weise sanktioniert der VfGH Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht, indem er grobe Fehler bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (wie bei der Anwendung einfachen innerstaatlichen Gesetzesrechts) als „Willkür“ oder „denkunmögliche“ Gesetzesanwendung und damit als Verstöße gegen den Gleichheitssatz oder Freiheitsgrundrechte der österreichischen Bundesverfassung qualifiziert.14 Solche Konstellationen betreffen zum Beispiel Freiheitsbeschränkungen oder Ungleichbehandlungen auf der Basis österreichischer Gesetze, die durch direkt anwendbares Gemeinschaftsrecht offenkundig verdrängt waren und daher nicht hätten angewendet werden dürfen. Damit sichert er allgemein den Vorrang des Gemeinschaftsrechts und konkret auch die Nichtanwendung gemeinschaftswidrigen innerstaatlichen Rechts durch die Verwaltungsbehörden, die manchmal durchaus eine Ermunterung dazu brauchen. Ähnliches gilt für die konkrete Normenkontrolle: Anträge von Gerichten und anderen Stellen sowie eine amtswegige Einleitung von einschlägigen verfassungsgerichtlichen Verfahren sind unzulässig, wenn die Verdrängung der entsprechenden Norm durch vorrangiges Gemeinschaftsrecht offenkundig ist; dann gibt es nämlich 12 Z.B. VfSlg 14.390/1995; 14.607/1996; 14.889/1997; 15.507/1999; 15.657/1999; 15.766/2000; 16.988/2003; 17.411/2004; 17.500/2005; VfGH B 330/07 vom 24.9.2008. 13 Zu Voraussetzungen und Folgen dieser Übernahme M. Holoubek, Wechselwirkungen zwischen österreichischer und deutscher Verfassungsrechtsprechung, in: D. Merten (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich, 2008, 85 (87 ff.); E. Wiederin, (Entscheidungsbesprechung), migraLex 2009, 27 (30). 14 Z.B. VfSlg 14.886/1997; 15.448/1999; 15.450/2001; 15.910/2000; 16.771/2002; 17.614/2005; B 1098/06 vom 13.3.2008; B 301/08 vom 27.9.2008; B 1578/07 vom 1.12.2008. Die Beschränkung auf grobe Fehler beseitigt die Vorlagepflicht des VfGH: Wenn ein Fehler grob ist, muss nach der acte claire-Theorie nicht vorgelegt werden; wenn der Fehler nicht grob ist, ist er nicht entscheidungserheblich. Vgl. dazu z.B. VfSlg 14.886/1997.
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keinen geeigneten Prüfungsgegenstand mehr.15 Für die Zulässigkeit so genannter Individualanträge auf Normenkontrolle (in deutscher Terminologie: von Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze und sonstige generelle Normen) muss allerdings definitiv feststehen, dass die angefochtene Norm nicht verdrängt wurde, denn erst dann fehlt die Rechtsverletzungsmöglichkeit des Antragstellers;16 hier nimmt der VfGH somit eine „Feinprüfung“ der Gemeinschaftsrechtskonformität der angefochtenen Norm vor. Die verfassungsgerichtliche Auseinandersetzung mit dem Gemeinschaftsrecht findet in allen diesen Fällen zwar „nur“ auf der Zulässigkeitsebene statt, doch sichert auch eine Zurückweisung eines Normenkontrollantrags wegen Unzulässigkeit letztlich die effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts im Ausgangsverfahren, hier die Pflicht (auch der ordentlichen Gerichte und des Verwaltungsgerichtshofes) zur Verwerfung gemeinschaftsrechtswidrigen nationalen Rechts. Im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle spielen Fragen der Verdrängung durch Gemeinschaftsrecht dagegen keine Rolle.17 Auch dazu gibt es Parallelen in der Rechtsprechung des BVerfG, allerdings ebenso Gegenbeispiele.18 Im Rahmen der Begründetheitsprüfung von Gesetzesanfechtungen geht es wie in Deutschland grundsätzlich nicht um gemeinschaftsrechtliche Fragen; Prüfungsmaßstab ist allein das Verfassungsrecht.19 Jedoch berücksichtigt der VfGH auch hier einen allfälligen gemeinschaftsrechtlichen Kontext: So können gemeinschaftsrechtliche Vorgaben öffentliche Interessen darstellen, die Grundrechtseingriffe rechtfertigen oder einen sachlichen Grund für Ungleichbehandlungen abgeben.20 Der VfGH sieht sich darüber hinaus in der Pflicht, geprüfte Vorschriften gemeinschaftsrechtskonform zu interpretieren21 und vor allem durch die Aufhebung von Gesetzen keine gemeinschaftsrechtswidrige Lage zu erzeugen.22 Letzteres deutet darauf hin, dass der Prüfungsmaßstab – die Verfassung – durch vorrangiges Gemeinschaftsrecht verdrängt werden kann. In anderen verfassungsgerichtlichen Verfahren findet das durchaus Bestätigung: So hat der VfGH etwa in einem Bescheidprüfungsverfahren 15
Z.B. VfSlg 15.368/1998; 16.995/2003; siehe auch Anm. 14 am Ende. Z.B. VfSlg 15.771/2000; 18.298/2007. 17 Z.B. VfSlg 15.753/2000. 18 Z.B. einerseits BVerfGE 85, 191 (203); 106, 275 (295); 110, 141 (155 f.); BVerfG, 1 BvL 4/00 vom 11.7.2006, Rn. 52, und andererseits BVerfGE 115, 276 (299). 19 Z.B. VfSlG 15.753/200 und 15.864/2000 zur vergleichbaren Lage bei der Verordnungskontrolle (Prüfungsmaßstab nur innerstaatliches Gesetzesrecht) und möglichen Ausnahmen aufgrund des Äquivalenzgrundsatzes beim Rechtsschutz gemeinschaftsrechtlicher Positionen z.B. Öhlinger, 8. Aufl. 2009, Rn. 195. Zu Gemeinschaftsrecht als Prüfungsmaßstab im verfassungsgerichtlichen Wahlprüfungsverfahren VfSlg. 17.065/2003. 20 Z.B. VfSlg 14.075/1995; 16.764/2002; 17.672/2005. 21 Z.B. VfSlg 16.737/2002. 22 Z.B. VfSlg 16.027/2000; VfGH G 113/08 vom 5.12.2008. 16
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verfassungsrechtliche Beschränkungen der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der Telekom-Regulierungsbehörde wegen Widerspruchs zu einer einschlägigen Richtlinie für unanwendbar erklärt und als Folge der Anrufbarkeit des Verwaltungsgerichthofes die Regulierungsbehörde nicht als letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 234 EGV qualifiziert, sodass der Vorwurf einer Verletzung des Rechts auf eine Entscheidung durch den gesetzlichen Richter wegen Nichtvorlage einer Auslegungsfrage an den EuGH mangels Vorlagepflicht ins Leere ging.23 Ein weiteres anschauliches Beispiel bietet der Fall zur Veröffentlichung der Bezüge von Funktionären öffentlicher Unternehmen; dazu unten gleich mehr.24 Als Gemeinschaftsgericht agiert der VfGH schließlich, indem er über Schadensersatzansprüche wegen höchstgerichtlicher oder legislativer Verletzung von Gemeinschaftsrecht entscheidet.25 Das österreichische Amtshaftungsrecht umfasst solche Ansprüche nicht; sie können daher auch nicht vor den normalen Amtshaftungsgerichten – den ordentlichen Gerichten – geltend gemacht werden. Der VfGH schließt diese Lücke, indem er sich auf der Grundlage einer allgemeinen, subsidiären Kompetenz zur Entscheidung über vermögensrechtliche Ansprüche gegen Gebietskörperschaften (Art. 137 B-VG) für solche Fälle für zuständig erklärt.
II. Freilich ist der VfGH nicht primär ein Gemeinschaftsgericht, sondern ein Verfassungsgericht, und daher verteidigt er die österreichische Verfassung auch gegen das Gemeinschaftsrecht. Einen generellen Kontrollverzicht gegenüber gemeinschaftsrechtlich gebotenen Regelungen – vergleichbar der Praxis des BVerfG in Grundrechtsfragen nach „Solange II“26 – hat er bisher nicht ausgesprochen, sondern vielmehr den Grundsatz der „doppelten Bindung“ der Gesetzgebung an Gemeinschaftsrecht und Verfassung entwickelt; in der Praxis betraf dies freilich in erster Linie Fragen der Staatsorganisation und des Gesetzgebungsverfahrens.27 Während die „doppelte Bindung“ der Gesetzgebung im Umsetzungsspielraum gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben allgemein und auch bei zwingenden inhaltlichen Gemeinschaftsvorgaben – zumindest im Hinblick auf Zuständigkeits-, Verfahrensund Formvorschriften der Rechtsetzung, auf den Gesetzesvorbehalt und auf das 23
VfSlg 15.427/1999. Bei Anm. 30. 25 Z.B. VfSlg 16.107/2001; 17.002/2003; 17.019/2003; 17.095/2003; 17.214/2004; 17.576/2005; VfGH A 7/07 vom 12.3.2008; A 13/07 vom 12.6.2008; A 2/07 vom 29.9.2008. 26 Z.B. BVerfGE 102, 147 (163). 27 Z.B. VfSlg 15.189/1998; 17.022/2003; 17.967/2006. 24
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Franz Merli
Bestimmtheitsgebot – einleuchtet, bereitet sie im Hinblick auf den europarechtlich zwingenden Norminhalt selbst größere Schwierigkeiten. Die Rechtsprechung ist in diesem Punkt auch nicht einheitlich. So hat der VfGH nach dem Grundsatz der doppelten Bindung etwa die gesetzliche Einrichtung von bestimmten unabhängigen Vergabekontrollstellen wegen Widerspruchs zu verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Gemeindeautonomie oder der Stellung oberster Verwaltungsorgane als verfassungswidrig aufgehoben, obwohl diese Einrichtung gemeinschaftsrechtlich geboten war; eine Lösung könne hier nur durch Verfassungsänderung erfolgen.28 Worin der Unterschied zum erwähnten Fall der Kontrolle der Telekom-Regulierungsbehörde29 liegt, darüber rätseln die Experten noch.
III. Dass Verfassungsgerichte gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern sie auch kreativ nutzen können, zeigt schließlich ein Fall, der viele Aspekte des bisher Gesagten bündelt. Als der VfGH in einem Verfahren über die Kontrollzuständigkeit des Rechnungshofes die Rechtmäßigkeit der Veröffentlichung des Einkommens bestimmter Spitzenfunktionäre des öffentlichen Rundfunks zu beurteilen hatte, hatte er auf der einen Seite das verfassungsgesetzliche Recht auf Privatleben aus Art. 8 EMRK und auf der anderen Seite eine spezielle Bestimmung aus einem Gesetz zur Begrenzung von Bezügen öffentlicher Funktionäre zu beachten, die ebenfalls im Verfassungsrang stand und genau diese Veröffentlichung unter bestimmten Umständen vorsah. Der VfGH stand also vor einem Normenkonflikt auf Verfassungsebene. Da ihm die über die Grundsätze der lex posterior und/oder lex specialis nahe liegende Lösung zugunsten der Veröffentlichungspflicht anscheinend nicht gefiel, legte er dem EuGH Fragen nach der unmittelbaren Anwendbarkeit und zum Inhalt der gemeinschaftsrechtlichen Datenschutzregelungen vor.30 Der EuGH bejahte die unmittelbare Anwendbarkeit und legte die Datenschutzrichtlinie unter Verweis auf Art. 8 EMRK und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte so aus, dass sie die Veröffentlichung erlaube, wenn sie „im Hinblick auf das vom Verfassungsgesetzgeber verfolgte Ziel der ordnungsgemäßen Verwaltung der öffentlichen Mittel notwendig und angemessen“ sei, was allerdings das vorlegende Gerichte zu prüfen habe.31 Inhaltlich gab er die Frage also an den VfGH zurück. Dieser verneinte die Notwendigkeit des Eingriffs und konnte nun wegen des Vorrangs der Datenschutz28 29 30 31
VfSlg 17.001/2003; 15.578/1999; 16.002/2000. VfSlg 15.427/1999. VfSlg 16.050/2000. EuGH, Rs. C-465/00, Österreichischer Rundfunk u.a., Slg. 2003, I-4989.
Europarechtsfreundlichkeit in der Rechtsprechung von BVerfG und VfGH
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richtlinie die Verfassungsbestimmung des Bezügebegrenzungsgesetzes als verdrängt betrachten.32 Wie auch immer man zu einzelnen Argumentationsschritten stehen mag, bemerkenswert sind jedenfalls der Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber der Verfassung, die Stärkung der EMRK über den Umweg des Gemeinschaftsrechts und, im Kontext dieses Kommentars, die Nutzung des EuGH durch den VfGH für eigene verfassungspolitische Zwecke.
C. Insgesamt wirkt also der verfassungsgerichtliche Umgang mit dem Gemeinschaftsrecht in Österreich weniger aufgeregt und gelassener als in Deutschland. Gelassenheit fällt freilich auch leichter, wenn man darauf vertrauen kann, dass europäische Übergriffe ohnehin von anderen gerügt werden.
32
VfSlg 17.065/2003.
60 Jahre internationale Offenheit – eine Bilanz
Europarechtsfreundlichkeit oder Europarechtsskepsis, Unterwerfung oder Integration? Sprachliche Einkleidung und sachliche Probleme Von Uwe Kischel
A. Die Macht der Sprache Wer die Fragen stellt und so die Sprache bestimmt, der bestimmt auch das Denken. Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsskepsis – diese Begriffe sind keineswegs neutral. Die mit ihnen formulierte Frage ist keineswegs offen. Sie trägt im Gegenteil den Keim ihrer Antwort bereits in sich. Schließlich ist Europa eine beispiellose Erfolgsgeschichte, der Garant einer jahrzehntelangen Friedensordnung sowohl nach dem Zweiten Weltkrieg als auch nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa. Europa steht für offene Grenzen, freien wirtschaftlichen Austausch und gegenseitige kulturelle Befruchtung. Wer will da schon skeptisch genannt werden? Europa und damit dem Europarecht kann man eben nur freundlich gegenüberstehen, will man sich nicht moralisch verdächtig machen. Das Problem besteht aber darin, dass keine der als „skeptisch“ bezeichneten Positionen auch nur im Ansatz an den positiven Errungenschaften der europäischen Einigung rühren will. Die „Skepsis“ bezieht sich gar nicht auf Europa oder das Europarecht, sondern nur auf die Sinnhaftigkeit bestimmter Einzelaspekte und -erscheinungen, die gerade nicht Teil des Europarechts sein sollten und die möglicherweise sogar einen sinnvollen Fortgang des Projekts Europa gefährden könnten. Will man Vorabbewertungen vermeiden, muß man sich also allein über die hinter der Bewertung stehenden Sachfragen unterhalten – und das hat Franz Mayer mit seinen Ausführungen zu Solange, zum ausbrechenden Rechtsakt und zur Vorlagepraxis natürlich auch getan. Wer ist nun Euroskeptiker, wer Euroromantiker (um die Wertaufladung der Begriffe ein wenig zu variieren)? Franz Mayer hat es deutlich gesagt: Als skeptisch gelten Solange I,1 Solange II2 soweit der Kontrollanspruch letztlich erhalten bleibt, insofern auch Art. 23 Abs. 1 GG, Maastricht mit seiner Bestätigung der Grund1 2
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 37, 271. BVerfGE 73, 339.
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Uwe Kischel
rechtsaspekte und der Neuformulierung des ausbrechenden Rechtsakts,3 die Brückentheorie4 und die mangelnde Vorlagepraxis – das ist recht umfassend. Europarechtsfreundlich hingegen ist die Rechtsprechung zur Vorlagepflicht der Fachgerichte5 und die Rücknahme der Ergebnisse (aber nicht des Grundansatzes) von Solange I in Solange II – das ist auffällig wenig. Aus anderer Perspektive formuliert: Europarechtsfreundlich ist es, die unumschränkte Alleinherrschaft des EuGH über die Definition und Abgrenzung der Machtsphären von nationalem Recht und Europarecht zu akzeptieren, insbesondere auch nicht zu bezweifeln, dass das Europarecht mit seinem Vorranganspruch immer genau so weit geht, wie der EuGH es feststellt, ohne hier irgendwelche für die Mitgliedstaaten eigenständig feststellbaren Grenzen oder auch nur Sicherheitsventile gegen grobe Fehler oder Machtmissbrauch zu akzeptieren. Die als „europarechtsfreundlich“ gekennzeichnete Haltung ließe sich also – ebenso gut und ebenso schlecht – als eine vorbehaltlose und vollständige Unterwerfung der Mitgliedstaaten unter die Herrschaft der Europäischen Union und des EuGH formulieren, die „europarechtsskeptische“ hingegen als eine eigenständige mitgliedstaatliche Suche nach den Grenzen dieser Herrschaft, die sich bewusst ist, dass es um den Beitritt zu einer Integrationsgemeinschaft und nicht um die vorbehaltlose Prostration6 vor einem anderen Machtgebilde geht. Das klingt recht hübsch, ist nicht ganz falsch und weckt vor allem die Zuhörer auf, führt aber der Sache nach genauso wenig weiter wie das Denken in Skepsis und Freundlichkeit. Beides sollte aufgegeben werden, vielleicht auch um Franz Mayer die formelle Aufnahme ins dunkle Lager der Euroskeptiker zu ersparen; denn schließlich plädiert er – im Kern völlig zu Recht – dafür, den Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Verfassungsrecht signifikant zu beschränken.7
3
BVerfGE 89, 155 (188). Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 21, Rn. 52. 5 Vgl. etwa BVerGE 82, 159 (192 ff.). 6 Vgl. zur Verwendung dieses Begriffes in der schwedischen Diskussion Olof Ruin, Suède, in: Joël Rideau (Hrsg.), Les états membres de l’Union Européenne: Adaptions, Mutations, Résistances, 1997, 439 (440). 7 Vgl. auch Franz Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl. 2009, 559 (585, 589). 4
Europa – Unterwerfung oder Integration?
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B. Die sachlichen Probleme Dass das Bundesverfassungsgericht nicht bereit wäre, dem Europarecht zu der ihm gebührenden, starken Stellung zu verhelfen, lässt sich generell kaum behaupten. Beispielsweise hat das Gericht Versuchen, dem EuGH die Kompetenz zu weitreichender Rechtsfortbildung abzusprechen, schon lange eine klare Absage erteilt.8 Unterschiedliche Wertungen werden ohne weiteres akzeptiert, etwa wenn die deutsche Tariftreueregelung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zwar mit der grundgesetzlichen Berufs- und Koalitionsfreiheit vereinbar ist, aber dennoch gegen die gemeinschaftsrechtliche Dienstleistungsfreiheit verstoßen kann.9 Erst vor zwei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht den Weg für eine Verschärfung der fachgerichtlichen Vorlagepflicht frei gemacht, indem es diese Pflicht über Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG hinaus auch im effektiven Rechtsschutz verankerte.10 Damit ist für die Zukunft die Möglichkeit eröffnet, die bislang sehr begrenzte Überprüfung einer Nichtvorlage allein auf Willkür11 zu intensivieren und ggf. schon bei nur vernünftigen Zweifeln eines Instanzgerichts an der Gültigkeit einer Norm die Vorlage an den EuGH zu erzwingen.12 Sachliche Probleme zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht entstehen demnach erst an ganz anderer Stelle. Auf ihren gedanklichen Kern reduziert stellen sie sich folgendermaßen dar:
I. Schutz der Bürger vor hoheitlicher Gewalt: Solange Tritt ein Staat einer supranationalen Gemeinschaft bei, so gibt er damit in begrenztem Umfang souveräne Hoheitsrechte auf. Hingegen will und wird er damit nicht auch auf jeglichen Schutz der eigenen Bürger vor etwaigen Exzessen hoheitlicher Gewalt verzichten wollen. Das ist der einfache Grundgedanke der Solange-Rechtsprechung. Etwas anderes kann nur gelten, wenn und soweit die supranationale Gemeinschaft in Form ihrer Gerichte offenbar bereit und fähig ist, diesen Schutz selbst zu übernehmen: das ist die Jurisdiktionsbeschränkung in 8
Vgl. BVerfGE 75, 223 (241 ff.). Vgl. BVerfGE 116, 202 (214 ff.) und EuGH, Rs. C-346/06 – Rüffert – v. 03.04.2008, Slg. 2008, I-01989. 10 BVerfGE 118, 79 (97). 11 Kritisch dazu schon im Hinblick auf die bisherige Rechtslage aus neuerer Zeit etwa Wolfgang Roth, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der Vorlagepflicht an den EuGH, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2009, 345 (350 ff.). 12 Für solche Konsequenzen vgl. die Ausführungen des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Fachgerichtsbarkeiten, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl) 2009, 473 (481). 9
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Uwe Kischel
Solange II. Da man aber nie weiß und nicht beeinflussen kann, wie sich dieser Schutz in Zukunft entwickelt, muss für den unwahrscheinlichen Fall dauerhaften Versagens der supranationalen Instanz13 ein nationaler Schutz auch in Zukunft möglich bleiben: das ist der fortbestehende Vorbehalt von Solange II, Maastricht und Art. 23 Abs.1 GG. Mit diesem Sicherheitsventil14 können heute die meisten Europarechtler völlig zu Recht leben.
II. Schutz des Staates vor usurpierten Befugnissen: Maastricht und Maastricht II? Davon unabhängig überträgt der Beitritt zu einer supranationalen Gemeinschaft aber auch nur bestimmte Hoheitsrechte. Hingegen gibt er die übrigen Hoheitsrechte nicht – auch nicht potentiell – auf. Wieweit die übertragenen Rechte gehen, hängt vom Vertragstext ab, über dessen genaue Bedeutung regelmäßig gestritten werden kann. Dass ein Gericht der supranationalen Gemeinschaft über die allfälligen Einzelfragen entscheidet und der Beitrittsstaat hier nicht jedes Mal auf seiner eigenen Sicht beharren kann, leuchtet sofort ein. Ebenso klar können aber die supranationale Gemeinschaft und ihr Gericht den Vertragstext nicht beliebig überdehnen oder ignorieren. Wurden nur die Hoheitsrechte A bis F übertragen, beansprucht das supranationale Gericht ohne Vertragsänderung nun aber auch die Hoheitsrechte G bis T, so ist der Beitrittsstaat dem nicht hilflos ausgeliefert. Er muss nicht jede beliebige, auch noch so krass unhaltbare Beschneidung seiner Hoheitsrechte über das vereinbarte Maß hinaus hinnehmen, nur weil die supranationale Gemeinschaft das so postuliert: das ist der – völlig berechtigte – Grundgedanke des ausbrechenden Rechtsakts. Dass hier nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts jede staatliche Stelle – und nicht, wie bei Verfassungswidrigkeit, nur das Bundesverfassungsgericht selbst – auf den Ausbruch reagieren kann und muss,15 mag zunächst im Hinblick auf die Rechtssicherheit etwas überzogen wirken. Letztlich handelt es sich aber nur 13 Klarstellend dazu, daß ein Versagen nur im Einzelfall oder in Einzelbereichen nicht ausreicht, BVerfGE 102, 147 (164); ausführlicher Uwe Kischel, Der unabdingbare grundrechtliche Mindeststandard in der Europäischen Union – Zur Auslegung des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG, Der Staat 2000, 523 (536 ff.); vgl. etwa auch Christian Calliess, Europäische Gesetzgebung und nationale Grundrechte – Divergenzen in der aktuellen Rechtsprechung von EuGH und BVerfG?, JuristenZeitung (JZ) 2009, 113 (114). 14 Anschaulich auch Udo Steiner, Das Deutsche Arbeitsrecht im Kraftfeld von Grundgesetz und Europäischem Gemeinschaftsrecht, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2008, 73 (75): „Rolle eines ‚Edelreservisten‘ ohne ernsthafte Aussicht auf Spieleintritt“. 15 Vgl. BVerfGE 89, 155 (188).
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um das verfassungsrechtliche Pendant zur ebenso überzogenen europarechtlichen Rechtslage, nach der jede deutsche Stelle eine europarechtswidrige deutsche Norm ignorieren darf und muss,16 eine europarechtswidrige Gemeinschaftsrechtsnorm hingegen nur durch den EuGH für unbeachtlich erklärt werden darf.17
1. Beschränkter Prüfungsmaßstab: Maastricht als Sicherheitsventil Nun mag man sich fragen, warum es beim ausbrechenden Rechtsakt im Unterschied zum Grundrechtsbereich keine Jurisdiktionsrücknahme gibt, kein „Maastricht II“ in Parallele zu Solange II. Zwei Gründe lassen sich dafür finden: Erstens stellt der ausbrechende Rechtsakt bereits jetzt ein bloßes Sicherheitsventil dar. Denn er greift erst ein, wenn das Handeln der Gemeinschaftsorgane das in den Gründungsverträgen angelegte Integrationsprogramm oder deren Handlungsermächtigungen wesentlich ändert.18 Er bleibt also auf Extremfälle beschränkt, nämlich auf die unzulässige gerichtliche Vertragsänderung im Unterschied zur zulässigen Rechtsfortbildung.19 Die grundsätzliche Entscheidungsbefugnis des EuGH etwa für Kompetenznormen – den klassischen, wenn auch nicht denknotwendig einzigen Anwendungsbereich der Doktrin – wird dadurch gerade nicht in Frage gestellt.20 Ebenso wie bei Solange II gebietet das auch dem EuGH zustehende Recht auf Irrtum und die nicht zu vermeidenden Differenzen in den rechtlichen Ansichten zwischen verschiedenen Rechtsanwendern ebenso wie das kooperationsbereite, gegenseitige Vertrauen von Bundesverfassungsgericht und EuGH, einen Rechtsbruch der jeweils anderen Instanz nicht schon bei möglicherweise sogar berechtigten Zweifeln festzustellen, sondern erst dann, wenn er offenkundig ist.21 16
Für Gerichte vgl. EuGH, Rs. 106/77 – Simmenthal – v. 09.03.1978, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23; für andere Stellen vgl. EuGH, Rs. C-224/97 – Ciola – v. 29.04.1999, Slg. 1999, I-02517, Rn. 30; vgl. auch EuGH, Rs. 103/88 – Fratelli Costanzo – v. 22.06.1989, Slg. 1989, 1839, Rn. 28 ff. 17 Vgl. EuGH, Rs. 314/85 – Foto-Frost – v. 22.10.1987, Slg. 1987, 4199, Rn. 15 ff. 18 BVerfGE 89, 155 (188). 19 Vgl. dazu BVerfGE 89, 155 (199); deutlich etwa auch Steiner (Anm. 14), 76; Paul Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, 965 (966); Andeutungen zu den Grenzen der Rechtsfortbildung in BVerfGE 75, 223 (242 ff.). 20 Auf diesen in der Maastricht-Entscheidung angelegten, abgewogenen Mittelweg geht die Kritik oft nicht ein, vgl. aus neuerer Zeit etwa die klare Darstellung bei Andreas Haratsch, Die kooperative Sicherung der Rechtsstaatlichkeit durch die mitgliedstaatlichen Gerichte und Gemeinschaftsgerichte aus mitgliedstaatlicher Sicht, Europarecht (EuR) 2008, Beiheft 3, 81 (98 ff.) m.w.N. 21 Zu diesen Grundgedanken von Solange II vgl. Kischel (Anm. 13), 527 ff.
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Uwe Kischel
2. Einzelfallprüfung oder Vertrauen? Dennoch besteht, zweitens, ein Unterschied zu Solange II, denn das Bundesverfassungsgericht prüft dieses Sicherheitsventil des ausbrechenden Rechtsakts in jedem Einzelfall und nicht erst bei einem festgestellten, generellen Versagen der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit auf diesem Gebiet.22 Insofern - aber auch nur insofern - fehlt es an einem „Maastricht II“. Das ist aber auch berechtigt. Denn ein Vertrauen in den EuGH, wie es bislang23 im Grundrechtsbereich üblich war, ist bei der Abgrenzung der Machtsphären, etwa im Kompetenzbereich, wenig naheliegend. Der EuGH agiert hier als Gericht der Gemeinschaft, also gerade als Organ einer der beiden Parteien, die über ihre Kompetenzen streiten. Schon dieser Umstand könnte das Vertrauen der anderen Partei ganz erheblich erschüttern, müsste es aber nicht zwingend. Doch entspricht die einseitige Loyalität auch durchaus dem Selbstverständnis eines EuGH, der sich als dynamischer Entwickler und Förderer des Gemeinschaftsrechts, des effet utile und des acquis communautaire sieht und dessen Richter aufgrund ihrer institutionellen Einbindung und üblichen Aufgabenstellung vorrangig das Wohl und das Fortkommen der Gemeinschaft im Blick haben. Urteile wie etwa das zum schwedischen Einfuhrmonopol für Alkoholika24 oder zur Rechtsgrundlage der Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung25 sind nicht gerade geeignet, dem Vorwurf der Einseitigkeit den Boden zu entziehen. Die straf- und polizeirechtlich veranlasste Vorratsdatenspeicherung etwa soll im Kern deshalb unter Art. 95 EGV fallen, weil sie für die Diensteanbieter wirtschaftlich bedeutsame Auswirkungen habe, aber national unterschiedliche Regelungen bestünden, so dass der Binnenmarkt unmittelbar betroffen sei. Mit vergleichbarer Argumentation könnten so jedoch auch harmonisierende Regeln zum Inhalt von 22
Zur abweichenden Lage nach Solange II und Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG siehe Kischel (Anm. 13), 537. 23 Skeptisch im Hinblick auf die Änderungen durch den Vertrag von Lissabon Dietrich Murswiek, Das Ende des Grundgesetzes, Süddeutsche Zeitung vom 17.04.2009, 2; ausführlicher Dietrich Murswiek, Die heimliche Entwicklung des Unionsvertrages zur europäischen Oberverfassung, NVwZ 2009, 481 (481 ff.). 24 EuGH, Rs. C-170/04 – Rosengren – v. 05.06.2007, Slg. 2007, I-4071, insbes. Rn. 43 ff. 25 EuGH, Rs. C-301/06 v. 10.02.2009, DVBl 2009, 371, insbes. Rn. 65 ff. mit auch insofern zust. Anm. Walter Frenz; sehr zweifelhaft im Hinblick auf seine weiteren Konsequenzen etwa auch EuGH, Rs. C-105/03 – Pupino – v. 16.06.2005, Slg. 2005, I-5285, Rn. 23 ff., die das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum europäischen Haftbefehl, BVerfGE 113, 273, denn auch gar nicht erst erwähnte, was im Sondervotum Gerhardt ausdrücklich kritisiert wurde, BVerfGE 113, 273 (341, 345); dieser Kritik zustimmend etwa Moritz v. Unger, „So lange“ nicht mehr: Das BVerfG behauptet die normative Freiheit des deutschen Rechts, NVwZ 2005, 1266 (1271).
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Schulbüchern und vielleicht sogar zur Länge der Schulzeit ergehen, denn auch hier leiden wirtschaftlich betroffene Schulbuchverlage und private Schulunternehmen jedenfalls in einheitlichen Sprachräumen unter den wirtschaftlichen Auswirkungen national unterschiedlicher Regelungen. Die ausgeprägte Neigung des EuGH zur Bevorzugung von Gemeinschafts- gegenüber nationalen Interessen ist dabei aufgrund des Selbstverständnisses und der sozialen Einbindung der Richter sehr gut verständlich. Ein sinnvoller Ausweg aus dem Dilemma könnte deshalb am klarsten mit der zukünftigen Entscheidung durch ein Gericht gefunden werden, das sich aufgrund seines institutionellen Aufbaus weder als Gemeinschafts- noch als nationales Gericht, sondern eben als Mittler versteht und vor allem auch kontinuierlich verstehen muss. Der bekannte Vorschlag etwa von Verfassungsrichter Broß,26 ein Kompetenzgericht zu schaffen, das aus je einem nationalen (Verfassungs-)Richter jedes Mitgliedstaats und der EU besteht, wäre deshalb der beste Weg, da er den nationalen Verfassungsgerichten eine „Maastricht II“-Entscheidung im o.g. Sinne ermöglichen würde. Ohne ein solches Kompetenzgericht wäre ein „Maastricht II“ hingegen nur bei einem durchgreifenden Wandel in Stil und Tendenz des EuGH denkbar. Er müsste sich weniger als ein Helfer bei der steten dynamischen Ausweitung der Gemeinschaft denn als Agent rechtsstaatlicher Festigung und scharfer Kontrolle gerade der Gemeinschaftsgewalt betrachten27 – ein Wandel, den vielleicht gerade der heilsame Druck nationaler Verfassungsrechtsprechung fördern könnte, wie er nach Ansicht mancher28 auch schon von der Solange I-Rechtsprechung ausging. Hilfreich wäre dabei zusätzlich ein materiellrechtlicher Wandel an verschiedenen Stellen: Im Kompetenzbereich zu nennen wäre etwa eine Umwandlung final strukturierter in sachbereichsbezogene Kompetenzen, eine möglichst restriktive Auslegung, Umformulierung oder sogar Abschaffung der Querschnittskompetenzen der Art. 95, 308 EGV, eine Auslegung der Bereichsausnahmen der Art. 149, 150, 152 EGV nicht als negative Tatbestandsmerkmale sondern als allgemeine Handlungsverbote,29 im Bereich der Grundfreiheiten eine größere Rücksicht auf die 26 Vgl. Siegfried Broß, Bundesverfassungsgericht – Europäischer Gerichtshof – Europäischer Gerichtshof für Kompetenzkonflikte – Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom ausbrechenden Rechtsakt und vom Kooperationsverhältnis, Verwaltungsarchiv 92 (2001), 425 (429) m.w.N. 27 Dazu näher Uwe Kischel, Souveränität, Einbindung, Autonomie – Die Entwicklung der Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten, in: Wilfried Erbguth/Johannes Masing, (Hrsg.): Die Verwaltung unter dem Einfluss des Europarechts, 2006, 9 (35 ff.). 28 Vgl. etwa Jan Bergmann, Das Bundesverfassungsgericht in Europa, Europäische Grundrechtezeitschrift (EuGRZ) 2004, 620 (627). 29 Zu den Kompetenzen und diesen Vorschlägen näher Kischel (Fn. 27), 1 ff.
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Uwe Kischel
Einschätzungsprärogative des nationalen Gesetzgebers, eine Rückkehr zu den Grundfreiheiten als Diskriminierungs- statt als allgemeines Beschränkungsverbot30 und im Bereich des Verhältnismäßigkeitsprinzips31 insgesamt eine weit strengere Rechtsprechungslinie gegenüber der Gemeinschaftsgewalt. Bis aber das für den Verzicht auf nationale Kontrolle notwendige Vertrauen durch ein verändertes Selbstverständnis des EuGH oder besser noch durch die Gründung eines Kompetenzgerichts geschaffen wird, ist die Lehre vom ausbrechenden Rechtsakt in ihrer gegenwärtigen Form ein unabdingbares Sicherheitsventil, auch wenn an seinen genauen dogmatischen Inhalten und Grenzen sicherlich noch intensiv gearbeitet werden kann.
III. Fehlende Vorlagepraxis: Konsequenz des Prüfungsprogramms Der Vorwurf der mangelnden Vorlagepraxis des Bundesverfassungsgerichts geht infolge dieser materiellrechtlichen Sicht weitgehend ins Leere: Die vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffene europarechtliche Norm wird gerade nicht selbst ausgelegt und angewandt, sie ist nicht Maßstab, sondern im Gegenteil Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Aber auch der Maßstab der Überprüfung liegt nicht im (primären) Europarecht, sondern im nationalen Verfassungsrecht. Die Grundkonstellation fällt also gar nicht unter Art. 234 EGV. Der Vorwurf des Verfassungseuroparechts32 verkennt den Kern des ausbrechenden Rechtsakts, der eben nicht schon immer dann vorliegt, wenn eine Norm des primären Gemeinschaftsrechts in der Auslegung des nationalen Gerichts nicht eingehalten wurde, sondern erst, wenn die Grenzen von Auslegung und Rechtsfortbildung hin zur unzulässigen gerichtlichen Vertragsänderung überschritten sind. Im Streit steht also nicht, welche Auslegung oder Rechtsfortbildung die richtige oder bessere ist, sondern ob überhaupt noch von einer Auslegung oder Rechtsfortbildung gesprochen werden kann. Diese Grenzen samt ihrer Kriterien sind aber nicht gemeinschaftsrechtlicher Natur, sondern ergeben sich aus dem
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Überzeugend etwa Thorsten Kingreen, Grundfreiheiten, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, 631 (662 ff.); Thorsten Kingreen, in: Christian Callies/Matthias Ruffert, EUV/EGVKommentar, Art. 28–30 EGV, Rn. 69. 31 Dazu schon Uwe Kischel: Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, 380 (380 ff., insbes. 398 ff.); zu Recht kritische Sicht der heutigen EuGH-Rechtsprechung etwa bei Callies (Fn. 13), 114, beide m.w.N. 32 Vgl. etwa Mayer (Fn. 7), 584.
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nationalen Verfassungsrecht und dem Zustimmungsgesetz. Ihre Überschreitung lässt die Zuständigkeit des EuGH entfallen.33 Wie das Bundesverfassungsgericht selbst nicht müde wird zu wiederholen,34 schließt all das Vorlagen durch das Bundesverfassungsgericht nicht allgemein aus. Dennoch werden die Gelegenheiten hierzu selten sein.35 Selbst wenn beispielsweise die bereits ergangene Rechtsprechung des EuGH unklar wäre und verschiedene Auslegungen der angegriffenen Gemeinschaftsrechtsnorm zuließe, von denen einige die nationale Prüfung bestünden und andere nicht, käme es für eine Entscheidung nicht notwendig auf das Ergebnis einer Vorlage an. Denn das Bundesverfassungsgericht könnte sich auch darauf beschränken, festzustellen, dass die Norm in einer bestimmten Auslegung das Integrationsprogramm und damit die Verträge wesentlich ändern würde, in einer anderen dagegen nicht.36 Wie der EuGH sie dann tatsächlich auslegt, könnte sich später zeigen. Um einen echten Jurisdiktionskonflikt zu vermeiden, ist diese Strategie sogar die sanftere. Eine praktische Gelegenheit zur Vorlage könnte sich hingegen ergeben, wenn das Bundesverfassungsgericht einmal grundrechtliche Bedenken gegen eine Gemeinschaftsrechtsnorm hätte, ohne dass vorher ein fachgerichtliches Verfahren durchgeführt worden wäre, so dass auch nur das Bundesverfassungsgericht eine Vorlage wegen möglichen Verstoßes gegen Gemeinschaftsgrundrechte durchführen könnte.37 Zusammengefaßt ist es dem Bundesverfassungsgericht – und mit ihm vielen anderen nationalen Höchstgerichten – bislang gelungen, die schwierige Balance zwischen Unterwerfung und Integration mit Sorgfalt und Umsicht, ohne Tendenz zu Extremen oder zur offenen Konfrontation anzugehen. Es hat sich so als wahrer Freund des Europarechts erwiesen – und wird hoffentlich auch in Zukunft, wie alle wahren Freunde, nicht zu allem Ja und Amen sagen, sondern den Anderen voll kritischer Sympathie begleiten.
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Deutlich zum Zuständigkeitsargument Renate Jaeger/Siegfried Broß, Die Beziehungen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den übrigen einzelstaatlichen Rechtsprechungsorganen – einschließlich der diesbezüglichen Interferenz des Handelns der europäischen Rechtsprechungsorgane, EuGRZ 2004, 1 (15). 34 Vgl. etwa schon BVerfGE 37, 271 (282); implizit etwa BVerfGE 104, 214 (218). 35 Vgl. dazu etwa Jan Bergmann, Das Bundesverfassungsgericht in Europa, in: Bundesverfassungsgerichtsgesetz – Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl. 2005, 129 (139). 36 So etwa für den heutigen Art. 308 EGV mit zurückhaltender Formulierung BVerfGE 89, 155 (210). 37 Vgl. zu diesem Beispiel Papier (Anm. 12), 480, Anm. 71.
Souveräne Grundgesetzinterpretation – zum Staatsbild des Bundesverfassungsgerichts (Zweiter Senat) Von Ulrich Fastenrath
A. Einleitung Die Bundesrepublik Deutschland ist unzweifelhaft ein souveräner Staat. Sie war es von Beginn an, wenngleich ihre Herrschaftsausübung zunächst noch vom Besatzungsrecht und – bis zur Wiedervereinigung – von der fortdauernden Verantwortlichkeit der vier Hauptsiegermächte für Berlin und Deutschland als Ganzes überlagert war.1 Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag2 wurden diese Verantwortlichkeiten beendet3 mit der in Art. 7 Abs. 2 ausgesprochenen Folge: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“ Souveränität kommt jedem selbständigen Staat ipso iure zu; sie bedarf daher nicht der ausdrücklichen Erwähnung. Auch das Grundgesetz verzichtet darauf. Im Jahr 1949 wäre alles andere angesichts der Rechte der Siegermächte fehl am Platze gewesen und als unangemessener Herrschaftsanspruch empfunden worden; jedoch wurden auch die Verfassungsänderungen anlässlich und nach der Wiedervereinigung nicht genutzt, um das Wort „Souveränität“ in das Grundgesetz hineinzuschreiben. Sicher hat sich seitdem das Selbstverständnis der Deutschen über die 1 Vgl. Deutschlandvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten vom 26.5.1952 i.d.F. des Protokolls vom 23.10.1954, Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1955 II, 305. 2 Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, der Französischen Republik, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und den Vereinigten Staaten von Amerika vom 12.9.1990, BGBl. 1990 II, 1318. 3 Schon mit ihrer Erklärung vom 1.10.1990 haben die Vier Mächte die Wirksamkeit ihrer Rechte und Verantwortlichkeiten ausgesetzt, Bekanntmachung vom 2.10.1990, BGBl. II, 1331.
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Stellung ihres Staates in der Welt verändert. Dass sich damit aber auch das Grundgesetzverständnis geändert habe, wie Frank Schorkopf meint,4 oder sich gar ändern müsse, ist noch nicht ausgemacht. Nichtsdestoweniger hat das Bundesverfassungsgericht in jüngster Zeit begonnen, eine „Souveränitäts“-Rechtsprechung auszubilden, indem es immer wieder auf diesen Begriff rekurriert. In seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag kommt das Wort 46-mal und in den Leitsätzen zusätzlich dreimal vor. Diese Rechtsprechung baut allerdings auf früheren Urteilen auf, die ebenfalls in dieses Konzept passen, ohne jedoch den Ausdruck zu verwenden, zumindest nicht in dieser betonten Häufigkeit. Dem spezifischen Souveränitätsverständnis wird im Folgenden in drei verschiedenen Ausprägungen nachgegangen: in seiner Grenzsetzung gegenüber dem Völker- und dem Europarecht, der Ausschließlichkeit der Herrschaftsausübung auf eigenem Territorium und schließlich der Stellung des Souveräns. Zuvor ist aber kurz die Genese und Entwicklung des Begriffs sowie sein normativer Gehalt im Völkerrecht zu skizzieren.
B. Der Begriff der Souveränität I. Begriffsgeschichte Der Begriff der Souveränität ist erstmals von Jean Bodin (1530–1596) entwickelt und als Kennzeichen des modernen Staates herausgestellt worden.5 Er stand für die absolute Macht (puissance absolue),6 die jenen zukommt, die keine andere (weltliche) Macht über sich haben, die – wie es in der lateinischen Ausgabe unter Verwendung der älteren Bezeichnung heißt – die summa potestas oder imperium besitzen,7 gegen die kein Rekurs zu einer höheren Macht möglich ist. Das waren zu jener Zeit Mächte, die nicht dem Kaiser unterstanden. Beispielhaft führt Bodin unter anderen die Könige von Frankreich, Spanien und England an. Obgleich deren Herrschaft eine territoriale Basis hatte, wurde ihre Handlungsbefugnis doch keineswegs auf ebendieses Territorium begrenzt. Vielmehr sei es „une chose très belle et magnifique à un prince de prendre les armes pour venger tout un peuple
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F. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit (2007), 77. Vgl. W. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1988, 201; H. Quaritsch, Staat und Souveränität (1970), 32 ff., 243 ff. 6 J. Bodin, Six Livres de la République (1576), zitiert nach Grewe (Anm. 5), 198. 7 A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 32; H. Denzer, Bodin, in: H. Maier/H. Rausch/H. Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, 1. Bd., 5. Aufl., 1979, 321 (340). 5
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injustement opprimé par la cruauté d’un tyran“.8 Macht und Status eines souveränen Herrschers waren also prinzipiell global. Auf der anderen Seite bedeutete dies, dass mit der Souveränität kein Ausschließlichkeitsanspruch der Herrschaft auf dem eigenen Gebiet verbunden war. Ganz undenkbar wäre es gewesen, die Geltung des göttlichen und des Naturrechts, die lex omnium gentium communis, bestreiten zu wollen, die sowohl die Rechtsbeziehungen zwischen den Individuen als auch zwischen den Mächten einschloss.9 Erst mit dem Niedergang des christlich-materialen Naturrechts war der Boden bereitet, den Souverän in seinem Herrschaftsbereich allein darüber entscheiden zu lassen, was gut oder böse, welches Verhalten richtig oder falsch ist. Negativ bedeutet dies das Verbot der Intervention anderer Mächte, positiv die Ausschließlichkeit der Herrschaft, die so zur zweiten Komponente der Souveränität geworden ist. In der Folge wurde der Staat als Herrschaftsorganisation des Souveräns immer stärker überhöht. Fichte betrachtete die Nation als ein metaphysisches Wesen, das unter einem „besonderen Gesetze der Entwicklung des Göttlichen in ihm“ steht.10 Und für Hegel war der Staat die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ , das „an und für sich Vernünftige“, gar der „wirkliche Gott“.11 Staatliche Souveränität bedeutet nach innen Allmacht,12 nach außen wechselseitig anzuerkennende Selbständigkeit.13 Das lässt ein zwischenstaatliches Recht über den Staaten nicht zu, wie es Kant mit dem Eintritt der Staaten in einen Völkerbund gefordert hatte, der in einen Zustand gesetzmäßiger äußerer Staatenverhältnisse führt, getragen von einem vereinigten Willen.14 Für Hegel ist eine solche überstaatliche Ordnung unmöglich. Völkerrecht ist nur äußeres Staatsrecht, das auf „unterschiedenen souveränen Willen beruht“.15 Die Staaten mögen miteinander Verträge abschließen oder, wie
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II. Buch, 5. Kap., zitiert nach Grewe (Anm. 5), 213. Bezüglich Vitoria (1480–1546) siehe A. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1963, 93 f.; bezüglich Bodin siehe Verdross/Simma (Anm. 7), § 32; F. Berber, Das Staatsideal im Wandel der Weltgeschichte, 2. Aufl. 1978, 206; bezüglich Grotius siehe H. Hofmann, Hugo Grotius, in: M. Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 2. Aufl. 1987, 52 (74). 10 Aus J. G. Fichte, Reden an die Deutsche Nation (1808), zitiert nach Verdross (Anm. 9), 155. 11 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), §§ 257, 258, Zusatz zu § 258. 12 Ebd., § 278: Die Allmacht wird freilich nicht willkürlich despotisch gedacht, sondern als gesetzliche Regelung der Freiheit. 13 Ebd., § 331. 14 I. Kant, Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), 7. Satz. 15 Hegel (Anm. 11), § 330. 9
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er sagt, zwischen sich stipulieren; als „vollkommen selbständige Totalitäten an sich“ stehen sie aber zugleich über diesen Stipulationen.16
II. Die Konzeption der Souveränität im Völkerrecht Die Überhöhung des Staates im deutschen Idealismus hat sich weltweit nicht durchgesetzt und kann auch hierzulande trotz mancher Anklänge in Literatur und Rechtsprechung keine fraglose Geltung beanspruchen. Das völkerrechtliche Souveränitätskonzept ist deshalb in seinen Voraussetzungen und Folgerungen deutlich bescheidener und setzt eher beim ursprünglichen Souveränitätsverständnis an. Es bedeutet zum einen Völkerrechtsunmittelbarkeit (äußere Souveränität), d.h. souverän ist, wer einen direkten völkerrechtlichen Status innehat und nicht durch eine andere Macht mediatisiert ist.17 Souveränität wird freilich nicht jedem Völkerrechtssubjekt als einem unmittelbaren Träger von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten zugesprochen, wozu neben den Staaten auch internationale Organisationen und andere Gemeinschaften, im Hinblick auf den internationalen Menschenrechtsschutz und das Völkerstrafrecht sogar Individuen zählen.18 Vielmehr wird wegen der zweiten, der inneren Komponente die Souveränität nur mit Staatlichkeit verbunden. Gemeint ist die selbstbestimmte Herrschaftsordnung, die Staaten auf ihrem Gebiet errichten dürfen, die Verfassungsautonomie, die sie besitzen. Vor Einflüssen fremder Mächte sind sie durch das Interventionsverbot und den Anspruch auf souveräne Gleichheit geschützt; auch für internationale Organisationen gilt ein Interventionsverbot.19 Souveränität bzw. souveräne Staatlichkeit ist somit ein Status im Rahmen des Völkerrechts und durch dieses definiert, aber kein Status, der dem Völkerrecht vorausgeht und über diesem steht.20 Die Souveränität ist daher kein Titel, sich über Völkerrecht hinwegsetzen oder es in Frage stellen zu dürfen. Vielmehr ist die Fähigkeit, völkerrechtliche Bindungen eingehen zu können und damit zum gemeinsamen Wohl die Handlungsfreiheit zu begrenzen, zum Teil allerdings auch zu 16
Hegel (Anm. 11), Zusatz zu § 330. Zum Folgenden vgl. insgesamt V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, 61 f.; T. Schweisfurth, Völkerrecht (2006), 12 ff.; H. Steinberger, Sovereignty, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. IV (2000), 500 (511 ff.); Verdross/Simma (Anm. 7), § 35. 18 In diesem Sinne aber I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 60 (2001), 148 (162 f.). 19 Vgl. Art. 2 Nr. 7 UN-Charta. 20 Steinberger (Anm. 17), 512. 17
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erweitern, Ausdruck der Souveränität. Diese ist also nicht gleichbedeutend mit uneingeschränkter faktischer oder rechtlicher Handlungsfreiheit, sondern gewährt letztere nur im Rahmen des Völkerrechts.
III. Das Verhältnis souveräner staatlicher Rechtsordnungen zu anderen Rechtsordnungen Es ist Teil der inneren Souveränität des Staates, über das Verhältnis des eigenen Rechts zu den Rechtsordnungen anderer Staaten sowie zum Völkerrecht zu entscheiden. Das Verhältnis zum Recht supranationaler Gemeinschaften ergibt sich in der Regel aus den auf dem gemeinsamen mitgliedstaatlichen Willen beruhenden Gründungsverträgen dieser Gemeinschaften, beruht aber auch auf autonomen staatlichen Entscheidungen.
1. Monismus und Dualismus Für das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht haben sich zwei verschiedene Theorien ausgebildet: der Monismus und der Dualismus.21 Ersterer geht davon aus, dass Völkerrecht und nationales Recht eine Einheit bilden mit der Folge, dass beide Rechtsordnungen gleichermaßen von allen staatlichen Stellen anzuwenden sind. Im Falle widersprüchlicher Regelungen ging der heute nicht mehr vertretene, radikale Monismus je nach Ausrichtung entweder von einem Primat des Völkerrechts oder des nationalen Rechts aus. Gemäßigte Richtungen dieser Theorie lassen hingegen Konflikte zwischen den Rechtsordnungen zu, die – wie die Schubert-Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts zeigt22 – auch dauerhaft bestehen bleiben können. Demgegenüber ging der strenge Dualismus, vertreten etwa von Triepel,23 von zwei getrennten Rechtskreisen aus, die sich nicht berührten und zwischen denen es deshalb auch keine Normenkonflikte geben konnte. Völkerrecht ist danach allein an den Staat adressiert, das nationale Recht hingegen regelt die innerstaatlichen Rechtsverhältnisse: die Rechte und Pflichten der Menschen untereinander und gegenüber dem Staat sowie die Zuständigkeiten und Verfahren staatlicher Stellen. Mag auch der Staat zur innerstaatlichen Umsetzung völkerrechtlicher Bestimmun21
Vgl. dazu M. Schweitzer, Staatsrecht III, 9. Aufl. 2008, Rn. 27 ff. BGE 99 I b 39, 43 ff. E. 3.–4. (1973); näher dazu U. Fastenrath/T. Groh, Art. 59, in: H. Friauf/W. Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt, Stand: Juli 2009), Rn. 150. 23 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht (1899), 11 ff. 22
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gen verpflichtet sein, so führt wegen des dabei notwendigen Adressatenaustausches eine unterbliebene Umsetzung doch nicht zu einem Normenkonflikt, sondern zur Verletzung einer Obligation. Diese Auffassung ist angesichts der völkerrechtlichen Entwicklung in den letzten 100 Jahren nicht mehr vertretbar. Das vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gesetzte Völkerstrafrecht24 regelt unmittelbar die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Individuen und die Zuständigkeiten eines internationalen Straftribunals. Umgekehrt eröffnet der internationale Menschenrechtsschutz die Möglichkeit, vor internationalen Institutionen die Verletzung von Rechten gegenüber dem Staat geltend zu machen.25 Schließlich hat der Internationale Gerichtshof im Fall Avena die individuelle Berechtigung aus einem völkerrechtlichen Vertrag anerkannt.26 Auch das deutsche Recht hat sich inzwischen weiter entwickelt. Über Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 Satz 1 bezieht das Grundgesetz Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze sowie einen großen Teil völkerrechtlicher Verträge tel quel in das Bundesrecht ein. Deshalb wird heute nur noch der gemäßigte Dualismus vertreten. Er geht zwar grundsätzlich von der Trennung des nationalen und des Völkerrechts aus, so dass Völkerrecht nur durch eine generelle Inkorporationsnorm (wie Art. 25 GG) oder einen speziellen Inkorporationsakt (wie das Vertragsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG) zum Bestandteil des nationalen Rechts und dort mit einem bestimmten Rang versehen wird. Das übrige, hiervon nicht erfasste Völkerrecht bleibt demnach allein der Völkerrechtsordnung verhaftet. Eventuelle Normenkonflikte zwischen Völkerrecht und nationalem Recht bleiben rechtlich unaufgelöst und können nur durch eine Rechtsänderung entweder des nationalen oder des Völkerrechts beendet werden. Der Dualismus betrifft aber nur die Fragen der – grundsätzlichen – Nichteinbeziehung des Völkerrechts in das nationale Recht und des Umgangs mit Normenkonflikten, die faktisch zugunsten des nationalen Rechts gelöst werden, dem die nationalen Organe und Stellen den Vorrang vor dem Völkerrecht einräumen. Hingegen lässt der Dualismus die Geltung des Völkerrechts für den Staat – und das bedeutet bezüglich Deutschlands: für alle Organe von Hoheitsträgern in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich27 – und auf dem Staatsgebiet unberührt. Er steht 24
Statut des Internationalen Straftribunals für das ehemalige Jugoslawien, Res. 827 (1993) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen; Statut des Internationalen Straftribunals für Ruanda, Res. 955 (1994) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. 25 Vgl. Art. 34 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten i.d.F. des 11. Zusatzprotokolls (BGBl. 2002 II, 1055); Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 (BGBl. 1992 II, 1247). 26 ICJ Reports 2004, 12 (43, 63 ff.). 27 BVerfGE 112, 1 (26).
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deshalb auch der Beachtenspflicht auf dem staatlichen Territorium28 und der Anwendung des Völkerrechts durch staatliche Organe nicht entgegen, soweit das nationale Recht dies zulässt.29
2. Anerkennung ausländischer Hoheitsakte Das Völkerrecht enthält keine generelle Pflicht zur Anerkennung der Hoheitsakte anderer Staaten.30 Tatsächlich geschieht dies jedoch weithin allein schon aus Gründen der Praktikabilität, um einen möglichst reibungslosen transnationalen Verkehr von Personen, Sachen, Kapital und Dienstleistungen aufrecht erhalten zu können. Großenteils ist die Anerkennung freilich auch menschen- und grundrechtlich geboten. Es geht eben nicht an, um nur zwei Beispiele zu nennen, ohne besonderen Grund einer im Ausland geschlossenen Ehe die damit verbundenen rechtlichen Wirkungen im Inland abzusprechen oder importierte Ware an der Grenze als herrenlos zu betrachten, weil die jeweiligen, in einer anderen Rechtsordnung wurzelnden, rechtsbegründenden Akte nicht anerkannt werden.
C. Souveränitäts-Rechtsprechung I: Völker- und Europarecht unter nationalem Supremat I. Staatliche Souveränität vor völkerrechtlicher Bindung 1. Der Verfassungsvorbehalt: Görgülü Was das Verhältnis des deutschen Rechts zum Völkerrecht angeht, beginnt die souveränitätsbetonende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Wesentlichen mit dem Görgülü-Beschluss31 aus dem Jahr 2004. Zunächst wird dort in
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Wegen der innerstaatlichen Geltung des Völkerstrafrechts i.e.S., z. B. der Strafkataloge für das Internationale Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien und für das internationale Straftribunal für Ruanda, kann sich selbst dann niemand auf den Rechtsgrundsatz nulla poena sine lege berufen, wenn die Strafnormen nicht in nationales Recht umgesetzt worden sind. 29 Vgl. bereits U. Fastenrath, Zur Abgrenzung des Gesetzgebungsvertrags vom Verwaltungsabkommen, Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2008, 697 (700 f.). 30 Näher dazu Verdross/Simma (Anm. 7), § 1021. 31 BVerfGE 111, 307 ff.
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einem positiven Zugriff aus dem Grundgesetz dessen – bereits geläufige32 – Völkerrechtsfreundlichkeit33 abgeleitet: Das Grundgesetz hat die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf die internationale Zusammenarbeit (Art. 24 GG) und auf die europäische Integration (Art. 23 GG) festgelegt. Das Grundgesetz hat den allgemeinen Regeln des Völkerrechts Vorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht eingeräumt (Art. 25 Satz 2 GG) und das Völkervertragsrecht durch Art. 59 Abs. 2 GG in das System der Gewaltenteilung eingeordnet. Es hat zudem die Möglichkeit der Einfügung in Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit eröffnet (Art. 24 Abs. 2 GG), den Auftrag zur friedlichen Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten im Wege der Schiedsgerichtsbarkeit erteilt (Art. 24 Abs. 3 GG) und die Friedensstörung, insbesondere den Angriffskrieg, für verfassungswidrig erklärt (Art. 26 GG). Mit diesem Normenkomplex zielt die deutsche Verfassung, auch ausweislich ihrer Präambel, darauf, die Bundesrepublik Deutschland als friedliches und gleichberechtigtes Glied in eine dem Frieden dienende Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft einzufügen.34
Bei der Auslegung von Völkerrecht sei die Bundesrepublik Deutschland an ihr gegenüber ergangene Urteile internationaler Gerichte gebunden, deren Rechtsprechung habe aber insgesamt maßgeblichen Einfluss auf den Bedeutungsgehalt völkerrechtlicher Rechtssätze und gebe den Staaten so eine Orientierung bei deren Interpretation.35 In einer späteren Kammerentscheidung36 wird dementsprechend die Berücksichtigung der Rechtsprechung internationaler Gerichte durch deutsche Gerichte auch dann gefordert, wenn Deutschland an den Verfahren nicht beteiligt war. An das Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit sei grundsätzlich auch der Gesetzgeber gebunden.37 Diese – sich selbst genügende – Ableitung der Völkerrechtsfreundlichkeit aus dem Grundgesetz wird in einer eigenartigen Wendung von der verfassungsrechtlichen hin zur staatlichen Ebene mit der Bemerkung unterfüttert, mittels seiner Völkerrechtsfreundlichkeit fördere das Grundgesetz „die Betätigung staatlicher Souveränität durch Vertragsrecht und internationale Zusammenarbeit“.38 Das Bundesverfassungsgericht fährt dann fort, der durch die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes bewirkten Öffnung der – grundsätzlich offenbar als geschlossen
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Vgl. nur BVerfGE 74, 358 (370). Dazu jüngst M. Payandeh, Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (JöR) 57 (2009), 465 ff.; sowie F. Schorkopf in diesem Band. 34 BVerfGE 111, 307 (318). 35 Ebd., 320 f. 36 Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2007, 499 f. 37 BVerfGE 111, 307 (319). 38 Ebd., 317 f. 33
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gedachten – Staatlichkeit seien durch das demokratische und rechtsstaatliche System Grenzen gesetzt.39 Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität … Es will … keine jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogene Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte.40
Dieser nicht näher motivierte Wechsel von der verfassungsrechtlichen Argumentationsebene auf die Ebene staatlicher Souveränität und das Ausspielen der inneren Souveränität in Gestalt der Verfassungsautonomie zu Lasten der äußeren Souveränität geben Rätsel auf. Hätte das Bundesverfassungsgericht sagen wollen, Völkervertragsrecht werde gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG im Rang von Gesetzesrecht in die deutsche Rechtsordnung einbezogen, stehe somit unter der Verfassung und müsse demzufolge mit ihr vereinbar sein,41 so wäre dagegen nichts einzuwenden gewesen. Handelt es sich dabei doch um eine international nicht unübliche Regelung. Bleiben würde die gewiss bedauerliche, aber auch nicht völlig außergewöhnliche Möglichkeit einer Völkerrechtsverletzung. Diesen Konflikt zu lösen entweder durch eine Änderung der Verfassung oder der völkerrechtlichen Regelungen oder, falls beides nicht möglich oder politisch gewollt ist, durch Entschädigungszahlungen, ist Sache der politischen Organe. Mit dem Rekurs auf die äußere und innere Souveränität will das Bundesverfassungsgericht aber offenbar eine justizielle Lösung anbieten, um völkerrechtliche Pflichten und verfassungsrechtliche Vorgaben miteinander in Einklang zu bringen. Dies geschieht zum einen präventiv, indem die äußere Souveränität, also die Fähigkeit Verträge zu schließen, inhaltlich rückgebunden wird an die innere Souveränität, d.h. den von der Verfassung vorgegebenen Gestaltungsspielraum. Da völkerrechtliche Verträge in der Normhierarchie unter der Verfassung stehen, ist schon bei deren Abschluss auf ihre Verfassungsgemäßheit zu achten. Das ist zweifelsfrei und unbestritten; entsprechende verfassungsgerichtliche Kontrollverfahren sind vorhanden.42 Interessanter ist freilich der Fall, dass bei Abschluss eines Vertrages dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz nicht gründlich genug geprüft worden ist oder ein Vertrag durch nachfolgende Entwicklungen im nationalen Recht oder im Völkerrecht in Widerspruch zum Grundgesetz gerät. Aus gutem Grund verwehrt
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Ebd., 318. Ebd., 319. 41 In diesem Sinne wird die Regelung ganz überwiegend verstanden, vgl. nur Fastenrath/Groh (Anm. 22), Rn. 108 f.; a. A. A. Bleckmann, Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, DÖV 1996, 137 (141 f.: Verfassungsrang). 42 Vgl. Fastenrath/Groh (Anm. 22), Rn. 122 ff. 40
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Art. 27 der Wiener Vertragsrechtskonvention,43 die insoweit Völkergewohnheitsrecht wiedergibt, den Vertragsstaaten die Berufung auf ihr innerstaatliches Recht, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen. Ein Verfassungsvorbehalt würde die Vertragspartner von oft außerordentlich feinsinnigen rechtlichen Erwägungen abhängig machen, die nicht vorhersehbar sind, jegliches Vertrauen in die Vertragsbindung untergraben und daher mit dem Völkerrecht nicht verträglich sind. Einen Vertrag in Übereinstimmung mit seinem nationalen Recht zu halten, ist Sache einer jeden Vertragspartei selbst, nicht aber Sorge der anderen Vertragspartner. Die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Vertrag werden durch das nationale Recht, einschließlich des Verfassungsrechts, also nicht berührt. Auf der anderen Seite ist ein Vertrag innerstaatlich nur insoweit anwendbar, als er in Einklang mit dem nationalen Recht steht. Der daraus resultierende Konflikt zwischen beiden Rechtsordnungen lässt sich auf dem Boden des vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Dualismus justiziell nicht lösen.44 Dies ginge nur dann, wenn man Souveränität in einem absoluten, vorrechtlichen Sinne Hegelscher Prägung verstünde und damit zu einem Monismus mit Vorrang des nationalen Rechts gelangte. Der Staat stünde dann über seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen und könnte diese nach seinem Willen verkürzen. Zwar führt das bei einem auf Rechtsstaatlichkeit und internationale Zusammenarbeit verpflichteten Staat wie Deutschland nicht zu machiavellistischem Vorteilsstreben (wogegen sich das Bundesverfassungsgericht im unten noch zu erörternden Lissabon-Urteil zu Recht verwahrt), eine Befreiung von völkerrechtlichen Pflichten käme vielmehr nur insoweit in Betracht, als sie verfassungsrechtlich geboten ist. Selbst in dieser milden Variante ist eine derartige Annahme aber für die Vertrags43
BGBl. 1985 II, 927. A. von Bogdandy, Prinzipien der Rechtsfortbildung im europäischen Rechtsraum – Überlegungen zum Lissabon-Urteil des BVerfG, NJW 2010, 1 (4). Insoweit hilft auch der von A. Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2010, 1 ff., eingeführte Begriff des Verfassungsgerichtsverbundes nicht weiter, da Netzwerke nur Zusammenhänge darstellen, aber nicht die Rolle der einzelnen Teile festlegen. Wer auf wen aus welchen Gründen welche Rücksichten zu nehmen hat, bleibt offen, solange der Verbund nicht mit materiellen Pflichten aufgeladen wird; und es ist nicht ersichtlich, woraus sich diese ergeben sollten, wenn nicht aus dem nationalen oder dem Völkerrecht. Es ist also nicht der Gerichtsverbund, der Konflikte löst, sondern es sich die Rechtsordnungen, die etwa durch das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit oder die souveränitätsbetonende Vermutung der Staatenfreiheit dazu beitragen. Der Mehrwert eines Verständnisses vom Gerichtsverbund besteht darin, den Zusammenhang der Gerichtsbarkeiten ins Bewusstsein zu heben, und in dem unterschwelligen Appell an die Richter, Divergenzen zwischen verschiedenen Rechtsordnungen gedanklich gar nicht erst entstehen zu lassen, indem bestehende Auslegungsspielräume pragmatisch in harmonisierender Weise genutzt werden. 44
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partner ebenso wenig akzeptabel wie die Annahme einer durch verborgene innerstaatliche Kautelen bedingten Vertragsschlussmacht. Wer derlei vertritt, sollte sich über harsche Kritik nicht wundern.45 Die Berufung auf die formale Rechtsposition der Souveränität ist in diesem Zusammenhang aus völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht argumentativ verfehlt und aus staatsphilosophischer Perspektive von höchst zweifelhaftem Wert. Werben kann das Bundesverfassungsgericht für einen Völkerrechtsbruch nur mit der inhaltlichen Qualität seines Rechtsverständnisses, wie es der Europäische Gerichtshof im – auch vom Bundesverfassungsgericht zitierten46 – Fall Kadi vorgemacht hat, als er dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Gefolgschaft versagte.47
2. Das Recht auf Beendigung völkerrechtlicher Bindungen: der Austrittsvorbehalt gegenüber der Europäischen Union Dass dem Bundesverfassungsgericht ein Denken nicht fremd ist, der Staat stehe über seinen völkerrechtlichen Bindungen und müsse sich notfalls aus ihnen lösen können, zeigt auch sein Beharren auf einem Austrittsrecht aus der Europäischen Union. Schon im Maastricht-Urteil wurde es – bereits mit Hinweis auf die staatliche Souveränität – postuliert.48 Im Lissabon-Urteil heißt es nun dazu: Solche Integrationsschritte müssen von Verfassungs wegen durch den Übertragungsakt sachlich begrenzt und prinzipiell widerruflich sein. Aus diesem Grund darf – ungeachtet einer vertraglich unbefristeten Bindung – der Austritt aus dem europäischen Integrationsverband nicht von anderen Mitgliedstaaten oder der autonomen Unionsgewalt unterbunden werden.49
Eine einseitige Aufkündigung eines Vertragsverhältnisses ist im Völkerrecht jedoch nicht die Regel, sondern die aus dem jeweiligen Vertrag heraus zu begrün45
Nachweise zur Kritik am Görgülü-Urteil siehe F. Schorkopf in diesem Band; der Vorsitzende des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (Voßkuhle, ebd., 4) bemüht sich denn auch, die Wogen mit dem Hinweis zu glätten, bislang habe noch immer eine Rechtsprechungskohärenz hergestellt werden können, im Wesentlichen durch ein Einschwenken des Bundesverfassungsgerichts auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der umgekehrte Fall ist bisher allerdings nicht nachweisbar; es überzeugt nicht, die Revision einer Kammerentscheidung durch die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als einen Schritt in Richtung auf das nationale Rechtsverständnis zu deuten. Im Ergebnis ist die Drohung mit dem letzten Wort des Grundgesetzes also eine leere Drohung geblieben. 46 BVerfGE 123, 267 (401). 47 EuGH, C-402/05 P (noch nicht in der amtlichen Sammlung), Europarecht (EuR) 2009, 80, Rn. 281 ff. 48 BVerfGE 89, 155 (190). 49 BVerfGE 123, 267 (350).
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dende Ausnahme. Sofern ein Vertrag keine Kündigungsklausel enthält – was nach Art. 50 EUV i.d.F. des Lissabon-Vertrags allerdings der Fall ist, so dass es verwundert, dass das Bundesverfassungsgericht hierauf überhaupt noch eingeht – ist nach Art. 56 der Wiener Vertragsrechtskonvention die Kündigung nur zulässig, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien sie zulassen wollten oder wenn sich das Kündigungsrecht aus der Natur des Vertrags herleiten lässt. Diese Regelung bewertet das Vertrauen in den Bestand also höher als den Veränderungswillen einer Vertragspartei. Daran will das Bundesverfassungsgericht allerdings auch nicht rühren, trifft es doch keine völkerrechtliche Aussage, sondern schreibt den politischen Organen vor, wie sie die völkerrechtlichen Beziehungen von Verfassungs wegen zu gestalten haben. Das Bundesverfassungsgericht sieht den Staat hier also nicht über den völkerrechtlichen Bindungen; vielmehr verlangt es, einen der Hegelianischen absoluten Souveränität gleichkommenden Status mit völkerrechtlichen Mitteln zu erreichen. Wie sich dieses geforderte Austrittsrecht freilich mit dem aus Art. 23 Abs. 1 GG und der Präambel abgeleiteten „Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas“50 verträgt, bleibt unklar. Denn schließlich stehen nicht mehrere Integrationsgemeinschaften zur Wahl. Mit dem Austritt aus der Europäischen Union würde sich Deutschland aus dem „vereinten Europa“ verabschieden. Hintergrund des Denkens in den Kategorien absoluter Souveränität ist ein eigentümliches Verständnis von „der Handlungsfreiheit des selbstbestimmten Volkes“.51 Üblicherweise wird das Selbstbestimmungsrecht definiert als Recht der Völker, „frei und ohne Einmischung von außen über ihren politischen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten … Die Gründung eines souveränen und unabhängigen Staates, die freie Vereinigung mit einem unabhängigen Staat oder die freie Eingliederung in einen solchen Staat oder das Entstehen eines anderen, durch ein Volk frei bestimmten politischen Status stellen Möglichkeiten der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts durch das Volk dar“.52
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Ebd., 346. Ebd., 350 (womit sich das Bundesverfassungsgericht in einen Selbstwiderspruch zu seinem zuvor [346] propagierten Souveränitätsbegriff als „völkerrechtlich geordnete[r] und gebundene[r] Freiheit“ setzt). Vgl. dazu die kritische Analyse von C. Möllers, Staat als Argument (2000), 388, 415; siehe auch U. Everling, Europas Zukunft unter der Kontrolle der nationalen Verfassungsgerichte: Anmerkungen zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 über den Vertrag von Lissabon, EuR 2010, 91 (95 f.). 52 Erklärung über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Sinne der Charta der Vereinten Nationen, Res. 2625 (XXV) der UN-Generalversammlung vom 24.10.1970. 51
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Selbstbestimmung bedeutet also nicht das Offenhalten für stets neue demokratische Meinungsbildungsprozesse, sondern die durchaus nicht ohne weiteres rückholbare Entscheidung für einen politischen Status, der auch in der Eingliederung in einen Staatenverbund bestehen kann und eine dauerhafte völkerrechtliche Festlegung auf bestimmte Formen internationaler Zusammenarbeit einschließt. Das Selbstbestimmungsrecht umfasst weiterhin die Verfassungsautonomie. Dass aber die Verfassung keineswegs dem freien Spiel der politischen Kräfte ausgesetzt sein muss, zeigt das Bundesverfassungsgericht mit seiner starken Betonung der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, die möglicherweise – auch diese Frage wird im Lissabon-Urteil angerissen53 – sogar den pouvoir constituant nach Art. 146 GG bindet. Das Bundesverfassungsgericht hält unauflösbare Bindungen des Souveräns für sich selbst also nicht für ausgeschlossen, im Verhältnis zu anderen Souveränen soll das aber nicht möglich sein. Das lässt sich nur begründen auf der Basis eines absoluten Souveränitätsverständnisses und der dauerhaften Letztverantwortung des Staates, die eine Verlagerung von Verantwortung auf internationale Einrichtungen und die gemeinsame Tragung von Verantwortung durch mehrere Staaten oder die Staatengemeinschaft insgesamt ausschließt. Diese apriorischen Annahmen finden aber weder im Völkerrecht noch im Grundgesetz eine Grundlage und sind in der Staatsphilosophie fern von allgemeiner Akzeptanz.
II. Der Vorbehalt der Verfassungsidentität und souveränen Eigenstaatlichkeit gegenüber dem Europarecht Das Bundesverfassungsgericht bekennt sich nicht nur zur Völkerrechtsfreundlichkeit, sondern auch zur Europarechtsfreundlichkeit.54 Wiederum wird aber auf die Souveränität verwiesen, um Einschränkungen zu rechtfertigen. Die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union stehe „unter der Bedingung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und unter Achtung der verfassungsstaatlichen Identität als Mitgliedstaaten gewahrt bleibt und zugleich die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verlieren“.55 Das Grundgesetz verzichte nicht „auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität als Recht eines Volkes, über die grundlegenden Fragen der eigenen Identität konstitutiv zu entscheiden“,56 was dazu führen kann, dass das 53 54 55 56
BVerfGE, 123, 267 (343). Ebd., 347. Ebd., 347. Ebd., 400.
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Bundesverfassungsgericht bei der Identitätskontrolle Unionsrecht für unanwendbar erklärt.57 Niemand kann bestreiten, dass das Bundesverfassungsgericht den Auftrag hat, zulässigerweise58 an es herangetragene Fälle am Maßstab des Grundgesetzes zu beurteilen. Das schließt die Prüfung ein, ob sich die Gründungsverträge der Europäischen Union und allfällige Änderungsverträge im Einklang mit den Anforderungen von Art. 23 Abs. 1 GG befinden, die Unionsgewalt also demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist. Der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts schließt weiterhin ein, die Bürger vor Grundrechtsverletzungen der Unionsgewalt zu schützen, wenn anderweitige Abhilfe nicht möglich ist oder verweigert wird; dies gebietet das in den Grundrechten enthaltene Schutzversprechen des Staates. Bevor sich allerdings die Frage stellt, ob ein europäischer Rechtsakt auf deutschem Boden unangewendet bleiben muss, hätte der Europäische Gerichtshof erst einmal festzustellen, ob der Rechtsakt überhaupt nach europäischem Recht gültig ist und welchen Inhalt er hat. Erst dann hat das Bundesverfassungsgericht einen Prüfungsgegenstand, der auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geprüft werden kann. Zunächst den europäischen Rechtsweg zu beschreiten, ist zudem eine sich aus der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV i. d. F. des Lissabon-Vertrags) ergebende, auch das Bundesverfassungsgericht treffende Verpflichtung. Dabei sind alle rechtlichen Zweifel an dem Rechtsakt im Einzelnen dazulegen. Es ist dann nur schwer vorstellbar, dass der Europäische Gerichtshof zu Ergebnissen kommt, die sich aus nationaler Sicht als untragbar erweisen.59 Soweit und solange die Mitgliedstaaten mit all ihren Organen und Stellen ihren europarechtlichen Verpflichtungen nachkommen, scheint es sich doch eher um ein theoretisches Problem zu handeln. Das gilt auch bezüglich des Wahlrechts zum Bundestag. Die Aushöhlung dieses Rechts durch Kompetenzen der Europäischen Union ist einstweilen nicht zu befürchten. Aber selbstverständlich ist es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, darüber zu wachen, dass die Wahl nicht nur formal erhalten bleibt, sondern auch weiterhin seine Funktion erfüllt, eine politische Herrschaft zu legitimieren und zu kontrollieren. Das setzt ein Mindestmaß an Kompetenzen voraus, wie das Bundes-
57
Ebd., 354. Zu den möglichen Verfahrensarten K. F. Gärditz/C. Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, Juristenzeitung (JZ) 2009, 872 (874). 59 Ebenso E. Pache, Das Ende der europäischen Integration? – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, zur Zukunft Europas und der Demokratie, Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) 2009, 285 (298). 58
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verfassungsgericht bereits im Zusammenhang mit der Eigenstaatlichkeit der Länder in der Bundesrepublik Deutschland entschieden hat.60 Für all das ist ein Rekurs auf die staatliche Souveränität nicht erforderlich. Wenn das Bundesverfassungsgericht dies dennoch tut, so will es damit zweierlei begründen, was der Text des Grundgesetzes nicht hergibt. Zum einen wird der Erhalt der „souveränen Verfassungsstaatlichkeit“ zur Bedingung für die Beteiligung Deutschlands an der europäischen Integration gemacht,61 weil verantwortliche, demokratische Politikgestaltung nur durch ein Volk in einem souveränen Staat für möglich gehalten wird.62 Diese apriorische Annahme eines prinzipiell allzuständigen und letztverantwortlichen Staates verschließt der europäischen Integration nicht nur gleitende Übergänge zu einem möglichen europäischen Bundesstaat in ferner Zukunft,63 der nach dem Wortlaut von Art. 23 Abs. 1 GG immerhin denkbar erscheint, sondern sie dient zugleich dazu, für den souveränen Staat bestimmte, als bedeutend angesehene Kompetenzen zu reklamieren. Genannt werden das Strafrecht, die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen, die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand, die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften.64 Damit gerät die 60
BVerfGE 34, 9 (19 f.); 87, 181 (196); an der These zweifelnd M. Jestaedt, Warum in die Ferne schweifen, wenn der Maßstab liegt so nah? – Verfassungshandwerkliche Anfragen an das Lissabon-Urteil des BVerfG, Der Staat 48 (2009), 497 (504 f.). 61 BVerfGE 123, 267 (347). 62 Ebd., 356 f.; a. A. von Bogdandy (Anm. 44), 2; C. D. Classen, Demokratische Legitimation im offenen Verfassungsstaat (2009), 99 ff.; M. Kottmann/C. Wohlfahrt, Der gespaltene Wächter? Demokratie, Verfassungsidentität und Integrationsverantwortung im Lissabon-Urteil, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 69 (2009), 443 (446). 63 So auch die Kritik von D. Doukas, The German Federal Constitutional Court and the Lisbon Treaty: Not guilty, but don’t do it again, European Law Review 34 (2009), 866 (886 ff.); Kottmann/Wohlfahrt (Anm. 62), 449; M. Ruffert, An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, Deutsches Verwaltungsblatt 2009, 1197 (1198 f.); A. Weber, Die Europäische Union unter Richtervorbehalt?, JZ 2010, 157 (159, 162). 64 Ebd., 359 ff. Kritisch zur Detailschärfe bei der Herausarbeitung dieser den Staat vorzubehaltenden Kompetenzbereiche wie auch zu den Kompetenzbereichen im Einzelnen von Bogdandy (Anm. 44), 3; C. D. Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokrustesbett?, JZ 2009, 881 (887 f.); D. Grimm, Das Grundgesetz als ein Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union, Der Staat 48 (200), 475 (490); D. Halberstam/C. Möllers, The German Constitutional Court says „Ja zu Deutschland“, German Law Journal 10 (2009), 1241 (1249 ff.); C. Schöneberger, Die Europäische
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Herausbildung eines ius commune Europaeum auf der Basis der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unter Generalverdacht, ebenso der Mechanismus der europäischen Wirtschaftspolitik zur Schuldenkontrolle (Art. 126 AEUV); die – gescheiterte – Europäische Verteidigungsgemeinschaft65 des Jahres 1952 hätte es nie mit deutscher Beteiligung geben dürfen. Zum anderen werden der Europäischen Union institutionelle Vorgaben gemacht. Deren Hoheitsgewalt sei zwar selbständig, aber abgeleitet, die Mitgliedstaaten müssten die Herren der Verträge bleiben und für die Unionsgewalt dürfe es kein eigenständiges Legitimationssubjekt geben;66 weiterhin sei bei der derzeitigen Zusammensetzung des Parlaments mit einer degressiv proportionalen Vertretung der Völker eine Organstruktur in der Europäischen Union ausgeschlossen, die einem parlamentarischen Regierungssystem entspricht.67 Keine Frage, noch schließen die Mitgliedstaaten die Verträge, auf denen die Europäische Union beruht,68 und noch ist die Verantwortlichkeit der Europäischen Kommission und des Rates der Europäischen Union gegenüber dem Europäischen Parlament nur schwach ausgeprägt. Aber Änderungen sind diesbezüglich doch denkbar, etwa die Bestätigung der Gründungsverträge durch einen Bürgerentscheid oder eine stärkere Rückbindung der Kommission an Mehrheitskoalitionen im Europäischen Parlament.69 Die mitgliedstaatliche Souveränität nach völkerrechtlichem Verständnis steht solchen institutionellen Entwicklungen ebenso wenig entgegen wie erweiterten Kompetenzen in welchen Bereichen auch immer. Es ist wiederum ein Staatsbild hegelianischer Provenienz, das das Bundesverfassungsgericht die Staaten der Europäischen Union vorordnen und allein sie als Verantwortungsträger erscheinen Union zwischen „Demokratisierungsdefizit“ und Bundesstaatverbot, Der Staat 48 (2009), 535 (554 f.); D. Thym, Europäische Integration im Schatten souveräner Staatlichkeit, Der Staat 48 (2009), 559 (462 f.). 65 Dazu näher W. Münch, European Defence Community, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, vol. II (1995), 217 ff. 66 BVerfGE 123, 267 (348 f.). 67 Ebd., 372, 376, 380 f. Zu den Defiziten dieser Argumentation siehe Schönberger (Anm. 64), 544 ff., 551 ff. 68 Eine in seinem Umfang klar eingegrenzte Änderung erfährt das Prinzip durch das sog. Passarelle-Verfahren gemäß Art. 48 Abs. 7 EUV; in diesem Fall entscheidet der Europäische Rat einstimmig und damit dann doch die dort vertretenen Mitgliedstaaten. 69 Siehe dazu U. Fastenrath, Verfassungsrechtliche Perspektiven und Grundgesetz: Offenheit, Bedingungen und Grenzen der Beteiligung Deutschlands an Neuerungen der Europäischen Union, in: P.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Deutschlands Rolle in der Europäischen Union, Schriftenreihe des Arbeitskreises Europäische Integration, Bd. 60 (2008), 207 (221 f.).
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lässt, in der Stärkung des Europäischen Parlaments ohne die gleichzeitige Einführung der gleichen Wahl aber einen Widerspruch sieht.70
D. Souveränitäts-Rechtsprechung II: Selbstbestimmung unter dem Schutz des Souveränitätspanzers I. Der staatstheoretische Hintergrund: Staat und Volk für sich Jeder Staat verfügt über ein Territorium, auf dem er seine Herrschaftsgewalt entfaltet und das seiner Verfügungsgewalt untersteht.71 Es ist Kennzeichen seiner Souveränität, dass er die Herrschaftsgewalt in eigener Machtvollkommenheit und grundsätzlich ausschließlich ausübt.72 Neben der – begrenzten – Personalhoheit kennt das allgemeine Völkerrecht nur wenige Ausnahmen hiervon, so die Ausübung diplomatischer und konsularischer Funktionen im Empfangsstaat und die Hoheitsrechte über Schiffe und Flugzeuge, die die Flagge des Staates führen. Darüber hinaus steht es aber jedem Staat frei, die Ausübung von Hoheitsgewalt eines anderen Staates auf seinem Gebiet zuzulassen; traditionell ist es dazu beim Durchzug oder der Stationierung fremder Truppen, der Überlassung von Flottenstützpunkten oder vorgeschobenen Grenzkontrollen gekommen. In welcher Form diese Zustimmung zu erteilen ist, regelt das Völkerrecht nicht; maßgeblich ist hierfür vielmehr das nationale Recht. Danach bedarf es zumindest dann, wenn die Ausübung der Herrschaft eines fremden Staats die Rechte der Bürger berührt, auf Grund des allgemeinen Gesetzesvorbehalts einer gesetzlichen Ermächtigung des Territorialstaats. In Österreich tauchten allerdings in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts Zweifel auf, ob ein einfaches Gesetz genüge, um etwa die Tätigkeit deutscher Grenzorgane auf österreichischem Boden und die Tätigkeit österreichischer Grenzorgane auf deutschem Boden zu erlauben. Deshalb wurde zu einzelnen Bestimmungen des Vertrags zwischen beiden Staaten über Erleichterungen der Grenzabfertigung im Eisenbahn-, Straßen- und Schiffsverkehr vom 14. September 195573 nachträglich ein Verfassungsgesetz erlassen.74 Hintergrund für dieses Verfahren waren zwei Rechtsgutachten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die allgemeine Regel des Völkerrechts über die generelle Unzulässigkeit der Aus70
BVerfGE 123, 267 (380). G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/1, 2. Aufl. 1989, 318. 72 Schiedsspruch im Palmas-Fall vom 4.4.1928, RIAA II, 829 (838). 73 BGBl. 1957 II, 581. 74 Vgl. die Regierungsvorlage mit erläuternden Bemerkungen vom 30.11.1967, 683 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrats XI. GP. 71
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übung von Hoheitsgewalt außerhalb des eigenen Territoriums gemäß Art. 9 B-VG Bestandteil des Bundesrechts ist und damit die österreichische Hoheitsgewalt verfassungsrechtlich auf das in Art. 3 B-VG festgelegte staatliche Territorium beschränke, während umgekehrt fremde Staaten dort verfassungsrechtlich an der Ausübung von Hoheitsgewalt gehindert seien.75 In der Folge hat es eine Reihe weiterer Verfassungsgesetze dieser Art gegeben, bis durch die Verfassungsnovellen von 1981 und 2008 die Grundlage geschaffen wurde, die grenzüberschreitende Staatstätigkeit durch Staatsvertrag und ein einfaches Gesetz zu legitimieren.76 In Deutschland setzte in den 1970er Jahren eine vergleichbare, noch andauernde Entwicklung ein. Während das Bundesverfassungsgericht ursprünglich die Geltung des europäischen Gemeinschaftsrechts auf deutschem Boden fraglos unterstellt hat,77 heißt es im Solange I-Beschluss vom 29. Mai 1974: Art. 24 GG ermächtigt nicht eigentlich zur Übertragung von Hoheitsrechten, sondern öffnet die nationale Rechtsordnung (in der angegebenen Begrenzung) derart, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quellen innerhalb des staatlichen Rechtsbereichs Raum gelassen wird.78
Der Staat wird damit aus rechtlicher Sicht als prinzipiell geschlossen gedacht und zwar nicht nur, wie es den völkerrechtlichen Regeln entspricht, gegenüber der Herrschaft anderer Staaten, sondern auch gegenüber dem supranationalen Recht. Denn souveräne Staatlichkeit stehe, wie das Lissabon-Urteil bekräftigt, „für einen befriedeten Raum und die darin gewährleistete Ordnung auf der Grundlage individueller Freiheit und kollektiver Selbstbestimmung“;79 „[s]oweit im öffentlichen Raum verbindliche Entscheidungen für die Bürger getroffen werden, insbesondere über Eingriffe in Grundrechte, müssen diese Entscheidungen auf einen frei gebildeten Mehrheitswillen des Volkes zurückreichen“.80 „Das Staatsvolk regiert sich selbst, wehrt Fremdherrschaft ab“, kommentiert Paul Kirchhof und bezieht in die Fremdherrschaft auch die Europäische Union und die internationale Gemeinschaft ein.81 Das alles geschieht im Namen der Demokratie, womit insinuiert wird, dass dem Monismus folgende Staaten wie die Schweiz, die völkerrechtlichen Vorgaben in ihrem Recht ohne weiteres Geltung verschaffen, undemokratisch 75 Schreiben des Bundeskanzleramts an die Bundesministerien und Landesregierungen vom 17.10.1968, Az. Z1.94.751-2a/68. 76 Näher dazu T. Öhlinger, in diesem Band. 77 BVerfGE 22, 293 (297). 78 BVerfGE 37, 271 (280). 79 BVerfGE 123, 267 (346). 80 Ebd., 341. 81 P. Kirchhof, Faszination Europa, F.A.Z. v. 19.9.2009, 8.
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sind. Das macht offenbar, dass sich das Bundesverfassungsgericht und seine Apologeten – zumindest wenn man über den deutschen Tellerrand hinausschaut – im staats- und demokratietheoretischen Abseits befinden. Was sie verfechten, ist die „vollkommen selbständige Totalität“ des Staates im Sinne Hegels;82 und diese Totalität wird zudem noch als verfassungsrechtlich gewährleistet angesehen. Zwar öffnet das Bundesverfassungsgericht den impermeablen Souveränitätspanzer83 alsbald wieder gegenüber dem Europa- und dem Völkerrecht, aber nur in dem Umfang, wie das Grundgesetz dies gebietet bzw. mit parlamentarischer Zustimmung zulässt. Damit wird gegenüber dem Völker- und Europarecht eine Zugangskontrolle ausgeübt, in erster Linie durch den Gesetzgeber, notfalls aber durch das Bundesverfassungsgericht. Ohne Zulassung wird dem Europa- und dem Völkerrecht bereits die Geltung auf deutschem Boden abgesprochen, nicht nur die Anwendung durch staatliche Organe verweigert. Dazu die folgenden Beispiele aus der Rechtsprechung.
II. Ultra vires-Kontrolle gegenüber dem Europarecht Keine praktischen Auswirkungen hat diese Sicht der Dinge bislang gegenüber dem Europarecht. Unbestritten ist, dass aus den Übertragungsakten gemäß Art. 23 Abs. 1 GG eine eigenständige Rechtsordnung entstanden ist, die mit den durch sie errichteten Institutionen ein gewisses Eigenleben führt.84 Allerdings kann sich diese Ordnung, weil sie abgeleitet ist, auch nicht selbst ermächtigen. Die Grundlage der supranationalen Ordnung bleiben völkerrechtliche Verträge, die von den Mitgliedstaaten geschlossen werden. Jedoch wird der sachliche Geltungsbereich der Verträge mit all seinen Kompetenzbestimmungen nicht vom einzelstaatlichen Willen begrenzt, sondern ist Ergebnis eines Auslegungsprozesses, der vertragsgemäß in einem sehr weitgezogenen Zuständigkeitsbereich in der Verantwortung des Europäischen Gerichtshofs liegt (Art. 19 EUV, 256 ff. AEUV). Dennoch ist es auch richtig, dass die Übertragung von Hoheitsrechten und damit die Überantwortung ursprünglich staatlicher Zuständigkeit auf die Europäische Union auf einem deutschen Gesetz beruht. Ein europäischer Rechtsakt, der jenseits des Bereichs übertragener Kompetenztitel liegt, kann daher weder deutsches Recht
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Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz zu § 330. Kritisch zur Verknüpfung von Demokratieprinzip und der Forderung nach Bewahrung der Eigenstaatlichkeit Möllers (Anm. 51), 405 ff. 83 Zu diesem Begriff A. Bleckmann, Zur Funktion des Art. 24 Grundgesetz, ZaöRV 35 (1975), 79 (81 f.). 84 So auch BVerfGE 123, 267 (351).
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verdrängen, noch von deutschen Organen angewendet werden.85 Über den normativen Gehalt des Übertragungsgesetzes entscheidet die deutsche Gerichtsbarkeit autonom. Wenn aber das Bundesverfassungsgericht dem Grundgesetz auf Grund dessen Integrationsoffenheit die autonom getroffene Entscheidung für eine europarechtsfreundliche Interpretation des nationalen Rechts entnimmt, so müsste es auch Kriterien benennen, unter denen es einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Auslegung eines Kompetenztitels nicht mehr zu folgen bereit ist. Anders als das Bundesverfassungsgericht meint, handelt es sich hierbei nicht um ein Problem der „völkervertraglich abgeleiteten Stellung der Gemeinschaftsorgane“86 (womit ein Auslegungssupremat des Bundesverfassungsgerichts in Anspruch genommen wird),87 sondern um eine Frage der methodengerechten Normdeutung. Schon bei der dynamischen Interpretation des NATO-Vertrags ist das Bundesverfassungsgericht mit dem Versuch gescheitert, zwischen dem normativen Gehalt des völkerrechtlichen Vertrags und dem des Vertragsgesetzes zu unterscheiden.88 Praktisch ist es jedenfalls schwer vorstellbar, dass der Europäi85
So zu Recht BVerfGE 123, 267 (400, 402); ebenso Gärditz/Hillgruber (Anm. 58), 873; dies verkennend Classen (Anm. 64), 888; Pache (Anm. 59), 297; umfassend zu ultra vires-Konflikten und ihrer Bewältigung F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung (2000). Freilich wird das Bundesverfassungsgericht nicht verhindern können, dass EU-Organe im Rahmen ihrer Zuständigkeit von der Geltung der betreffenden Rechtsakte auch in Deutschland ausgehen und entsprechende Folgen daran knüpfen. 86 BVerfGE 123, 267 (399). 87 Ebd., 400: Der europarechtliche Anwendungsvorrang sei ein völkervertraglich begründetes Institut, „das erst mit dem Rechtanwendungsbefehl durch das Zustimmungsgesetz in Deutschland Rechtswirkung entfaltet“. Im Gegensatz dazu hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zur Vorratsdatenspeicherung angenommen, dass Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht unter dem Gesichtspunkt des „ausbrechenden Rechtsakts“ zwar zulässig seien, es dann aber darum gehe, im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens den Europäischen Gerichtshof diese Kompetenzfrage entscheiden zu lassen (BVerfG, Urteil vom 2.3.2010 – 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08 –, Rn. 182). Die Beanspruchung des Prüfungsmonopols zur Feststellung eines ultra vires-Akts seitens des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 123, 267 [354]) ist nach gegenwärtiger Rechtslage nicht unproblematisch (dazu H. Sauer, Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil – Ein neues Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht?, Zeitschrift für Rechtspolitik 2009, 196; H. A. Wolff, De lege ferenda: Das Integrationskontrollverfahren, DÖV 2010, 49 ff. 88 Siehe einerseits BVerfGE 90, 286 (358 ff.) mit dem Versuch einer Begrenzung der dynamischen Interpretation entweder durch die Verweigerung der innerstaatlichen Wirkung eines „auf Räder gesetzten“ Vertrags oder durch das Erfordernis einer neuen Vertragsgesetzgebung; andererseits BVerfGE 104, 151 (212 f.) mit der Wiederherstellung der Kongruenz von dynamisch ausgelegtem Völkerrecht und nationalem Recht auf der Grundlage des argumentum ad absurdum, die Grenze informeller Vertragsentwicklung sei bei der NATO
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sche Gerichtshof eine ihm gestellte Frage nach der Reichweite einer EU-Kompetenz in einer Weise beantwortet, die im Ergebnis nicht methodengerecht begründet werden kann.
III. Ausübung von Herrschaftsgewalt fremder Staaten Zum Problem wird das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts von der prinzipiellen Abgeschlossenheit des Staates, der bei Hoheitsrechtsübertragungen gemäß Art. 23 Abs. 1, 24 Abs. 1 und 24 Abs. 1a GG seinen ausschließlichen Herrschaftsanspruch zurücknimmt und sich der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit „eines Rechts aus anderer Quelle“ öffnet, jedoch bei der Ausübung von Hoheitsgewalt fremder Staaten auf deutschem Boden. Für diese altbekannte Staatenpraxis (s.o. D. I.) hat das Grundgesetz – im Gegensatz zum novellierten österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz – keine Vorkehrungen getroffen. Versteht man aber mit dem Bundesverfassungsgericht Hoheitsübertragung im Sinne von Zulassung fremder Hoheitsgewalt, so fehlte es im staatlichen Souveränitätspanzer an einer ausdrücklich normierten Öffnung etwa für Grenzkontrollen im fahrenden Zug (die es auch im Schengen-Raum als Verdachts- und Stichprobenkontrollen weiterhin gibt)89 oder für manche Formen der grenzüberschreitenden polizeilichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des Schengener Durchführungsübereinkommens90 und zahlreicher ergänzender bi- und plurilateraler Polizeiverträge.91 Zu welchen Verrenkungen sich das Bundesverfassungsgericht durch seine eigene Rechtsprechung genötigt sieht, zeigt der Fall der NATO-Nachrüstung:92 Es erreicht, wenn sie „nicht mehr der Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet“. Vgl. zu dieser Problematik Fastenrath/Groh (Anm. 22), Art. 59, Rn. 72. Speziell zur Deutungshoheit über die Reichweite von Akten zur Übertragung von Hoheitsrechten R. Wahl, Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten, Der Staat 48 (2009), 587 ff. 89 Art. 21 VO (EG) Nr. 562/2006 – Schengener Grenzkodex, ABl. 2006 Nr. L 105, 1; im Grenzverkehr mit der Schweiz sind zudem regelmäßige Warenkontrollen zulässig, da die Schweiz zwar dem Schengen-Raum durch Assoziation angehört, nicht aber der EU, so dass die Regeln des freien Warenverkehrs ihr gegenüber nicht gelten. Siehe auch Art. 23 ff. des Schengener Grenzkodex über die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen. 90 BGBl. 1993 II, 1013 (mehrfach durch EU- und EG-Recht geändert). 91 Ausführlich dazu U. Fastenrath/A. Skerka, Sicherheit im Schengen-Raum nach dem Wegfall der Grenzkontrollen – Mechanismen und rechtliche Probleme grenzüberschreitender polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit, Zeitschrift für Europarechtliche Studien 2009, 219 ff. 92 BVerfGE 68, 1 ff.
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ging dabei um die Befehlsgewalt über die Atomwaffen, die auf dem Gelände der in Deutschland stationierten amerikanischen Truppen lagerten. Der Einsatzbefehl ist nach amerikanischem Recht dem Präsidenten vorbehalten; das Bundesverfassungsgericht wertet diesen Befehl zu Recht als Ausübung fremder Hoheitsgewalt auf deutschem Boden. Da aber die amerikanischen Truppen in Deutschland im Rahmen der NATO stationiert und der Einsatzfreigabe von Atomwaffen Konsultationen im Bündnis (dass das Bundesverfassungsgericht damals noch als einen Fall des Art. 24 Abs. 1 GG einstufte) vorgeschaltet sind, kam es zu dem Ergebnis: Diese vertragliche Lage ist – jedenfalls aus der verfassungsrechtlichen Sicht des Art. 24 Abs. 1 GG – insgesamt dahin zu werten, daß der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika dadurch mit einer besonderen Bündnisfunktion betraut ist; soweit er eine Freigabeentscheidung … fällt …, kann er als besonderes Organ des Bündnisses betrachtet werden“ (Hervorhebung im Original).93
Es ist offensichtlich, dass diese „verfassungsrechtliche Sicht“ nicht viel mit der völkerrechtlichen Lage gemein hat. Es mag auch sein, dass die Rechtfertigung der Befugnisse des amerikanischen Präsidenten bei einer Einordnung der NATO unter Art. 24 Abs. 2 GG94 leichter fällt. Die verfassungsrechtlichen Probleme bleiben aber etwa für die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit bestehen, die nicht der Europäischen Union zuzurechnen und auch nur teilweise von ihr induziert ist. Aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts müsste die Ausübung von Hoheitsgewalt anderer Staaten entweder unzulässig sein, oder es müsste Art. 24 Abs. 1 GG analog hierauf anwenden.95 Die dritte Denkmöglichkeit: ein verfassungsrechtlich ungeregelter Fall, der dem Staat Handlungsfreiheit lässt, verbietet sich bei der Deutung des Staats als eines selbstbestimmten Rechtsraums und der Art. 23 Abs. 1 und 24 Abs. 1 GG als speziellen Öffnungsklauseln. Mit seinem Staatsverständnis, das den Staat als territorial definierten, geschlossenen Rechtsraum denkt, in dem nicht-deutsches Recht nur Geltung beanspruchen kann, wenn es über verfassungsrechtliche oder gesetzliche Schleusen in das deutsche Recht transformiert, inkorporiert oder von ihm durch einen Rechtsanwendungsbefehl ratifiziert wurde, hat sich das Bundesverfassungsgericht in eine Sackgasse manövriert. Ein Staat, der auf seinem Territorium nicht auf den Souve93 Ebd., 92. Zu den Inkonsistenzen dieses Urteils siehe H. Sauer, Das Verfassungsrecht kollektiver Sicherheit, in: H. Rensen/S. Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von wissenschaftlichen Mitarbeitern (2009), 585 (592 ff.). 94 So seit BVerfGE 90, 286 (350 f.). 95 Für eine Sperrwirkung von Art. 24 Abs. 1 GG C. Gramm, Verfassungsrechtliche Grenzen der Zusammenarbeit mit auswärtigen Staaten, Deutsches Verwaltungsblatt 1999, 1238; A. Randelzhofer, Art. 24, in: T. Maunz/G. Dürig, Grundgesetz (Loseblatt, Stand: Mai 2009), Rn. 53; Streinz, Art. 24, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Rn. 19; für eine analoge Anwendung von Art. 24 Abs. 1 GG K. T. Rauser, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf ausländische Staaten (1991), 246 ff.
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rän zurückzuführendes Recht erst dann duldet, wenn er es in eigenes verwandelt oder durch eine souveräne Entscheidung akzeptiert hat, ist bestenfalls ein sich öffnender Staat. Einen Ausweg aus der Sackgasse weist jedoch nur ein Verständnis der im Grundgesetz angelegten und vielfach berufenen offenen Staatlichkeit, das diese Bezeichnung nicht nur im Munde führt, sondern auch verdient. Es verzichtet auf einen verfassungsrechtlich verankerten Souveränitätsschirm. Der Ausschließlichkeitsanspruch der Herrschaft auf dem eigenen Territorium ergibt sich für den offenen Staat allein aus dem Völkerrecht und nur nach dessen Maßgabe, d.h. er ist mit Zustimmung des jeweiligen Staates ohne weiteres beschränkbar. Der Eingriff in Rechte des Bürgers bedürfte allerdings einer gesetzlichen Ermächtigung des Territorialstaats, die Inhalt und Umfang der Ausübung fremder Staatsgewalt hinreichend genau regelt und die Gewährleistung der Grundrechte sichert. Dies erfordern der rechtsstaatliche Gesetzesvorbehalt und das grundrechtliche Schutzversprechen des Staates. In Art. 23 Abs. 1 und 24 Abs. 1 GG geht es demnach nicht um die Rücknahme des ausschließlichen Herrschaftsanspruchs. Die Ausschließlichkeit der Herrschaft ist kein Hoheitsrecht, das sich übertragen oder beschränken ließe. Vielmehr ermöglichen es die genannten Bestimmungen, die Verantwortung für die staatliche Aufgabenerfüllung in einzelnen Bereichen auf die Europäische Union bzw. eine zwischenstaatliche Einrichtung zu übertragen. Es geht also um die Verlagerung eigener Verantwortlichkeit auf eine andere Institution. Ob die übertragene Hoheitsgewalt mit Eingriffsbefugnissen verbunden ist, ist hingegen unerheblich. Die auftragnehmende Institution darf jedoch kein fremder Staat sein, weshalb die Übertragung der Flugsicherung auf Eurocontrol nach Art. 24 Abs. 1 GG seit jeher zulässig war,96 die Übertragung auf eine ausländische Flugsicherungsorganisation aber erst mit der Änderung des Art. 87 d Abs. 1 GG vom 29. Juli 2009 und allein auf der Grundlage dieser Bestimmung möglich geworden ist. Ohne besondere verfassungsrechtliche Zulassung gestattet das Grundgesetz keine Übertragung deutscher Hoheitsgewalt und Verantwortlichkeiten auf andere Staaten. Wird hingegen einem fremden Staat gestattet, seine Hoheitsgewalt zu eigenen Zwecken auf dem Territorium des zulassenden Staats auszuüben, etwa seine Grenzkontrollen in einen anderen Staat vorzuverlagern, so wird weder ein Hoheitsrecht noch die Verantwortung dafür übertragen; vielmehr erfüllt der fremde Staat seine eigenen Staatsaufgaben in eigener Verantwortung, während der Gebietsstaat die Verantwortung dafür behält, dass die Grenzen der zugelassenen, fremden Staatstätigkeit eingehalten und die Grundrechte gewahrt werden.97 96
BVerfGE 58, 1. Zum Ganzen bereits U. Fastenrath, Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt (1986), 151; ders., Die „Internationalisierung“ des deutschen Grundgesetzes – wie weit trägt die Entgrenzung des Verfassungsstaats?, in: R. Pitschas/S. Kisa (Hrsg.), Interna97
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IV. Das Inkorporationserfordernis für völkerrechtliche Verträge: Waldschlösschenbrücke Art. 59 Abs. 2 GG unterscheidet zwischen politischen und Gesetzgebungsverträgen (Satz 1) sowie Verwaltungsabkommen (Satz 2). Während für die beiden ersten Kategorien ein Vertragsgesetz erforderlich ist, das den Vertragsinhalt zugleich zum Bestandteil des nationalen Rechts macht,98 ist bei Verwaltungsabkommen je nach ihrem Inhalt ein – untergesetzlicher – Umsetzungsakt nicht stets notwendig, um sie erfüllen zu können. Welche Wirkung solche Verwaltungsabkommen im nationalen Recht haben, ist in der Görgülü-Entscheidung unklar geblieben und im Zusammenhang mit der Welterbekonvention, die lediglich im Bundesgesetzblatt99 veröffentlicht, aber nicht rechtsförmlich inkorporiert wurde, streitig geworden. Bei der Genehmigung der Dresdner Waldschlösschenbrücke ging es darum, welche Rolle Verwaltungsabkommen gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG bei der völkerrechtsfreundlichen Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zukommt. Das Bundesverfassungsgericht geht in seinem Beschluss zu diesem Fall mit keinem Wort auf die vom Oberverwaltungsgericht erörterte mittelbare Wirkung der Welterbekonvention im deutschen Recht ein,100 sondern verkündet stattdessen apodiktisch: „Selbst wenn das Gericht im Hauptsacheverfahren zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die Welterbekonvention – auch unter Beachtung der zusätzlichen föderalen Besonderheiten des Falls – auf der Grundlage von Art. 59 Abs. 2 GG formal wirksam in die deutsche Rechtsordnung transformiert worden ist, stünden völkervertragliche Verpflichtungen einer Entscheidung für die Umsetzung des Bürgerentscheids nicht notwendig entgegen.“101 Diesen Passus mag man als ein argumentum a maiore ad minus lesen, d.h. auch eine formgerechte Überführung der Welterbekonvention in nationales Gesetzesrecht würde der klagenden Stadt nicht helfen und deshalb schon gar nicht eine nur mittelbare Anwendung. In Anbetracht dessen, dass eine Transformation der Konvention in nationales Recht weit und breit nicht erkennbar ist, ist der Passus aber wohl eher in der Weise zu deuten, eine wie auch immer geartete Wirkung eines völkerrechtlichen Vertrages tionalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staatsund Verwaltungsrechts, 2002, 60 f.; ders./Skerka (Anm. 87), 244 ff.; im Ergebnis ebenso H.-J. Cremer, Der grenzüberschreitende Einsatz von Polizeibeamten nach dem deutschschweizerischen Polizeivertrag: ein Vorbild für die Kooperation der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung?, ZaöRV 60 (2000), 127 ff. 98 Näher dazu Fastenrath (Anm. 93 [Kompetenzverteilung]), 132 ff.; ders./Groh (Anm. 22), Rn. 52 f. 99 BGBl. 1977 II, 215. 100 OVG Bautzen, Landes- und Kommunalverwaltung (LKV) 2007, 520 (522 f.). 101 BVerfG, LKV 2007, 509 (510).
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setze dessen Inkorporation in das nationale Recht voraus.102 Das entspräche auch dem schon zitierten Passus aus dem Lissabon-Urteil, souveräne Staatlichkeit stehe für einen befriedeten Raum, dessen innere, auf kollektiver Selbstbestimmung beruhende Ordnung gegen Fremdeinflüsse abgeschirmt sei.103 Das verkürzt freilich die völkerrechtsfreundliche Attitüde des Bundesverfassungsgerichts. Dieses sagt zwar mit gutem Grund, es folge dem Völkerrecht nicht blindlings. Vielmehr könne die Völkerrechtsfreundlichkeit nur Wirkung „im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes“ entfalten.104 Aber genau darum geht es ja. Verwaltungsabkommen bedürfen nach Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG keines Gesetzes, um sie im nationalen Recht umzusetzen. Die Regierung bzw. einzelne ihrer Mitglieder sind befugt, solche Verträge ohne Mitwirkung der parlamentarischen Körperschaften abzuschließen, und sie sollen Wirkung allein im Rahmen der bestehenden Gesetze bzw. im nichtgesetzesakzessorischen Raum entfalten.105 Weder die Souveränität noch demokratische oder rechtsstaatliche Grundsätze stehen einer Rechtsverbindlichkeit im genannten Umfang bei der Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts entgegen. Auch auf eine zwingende Folge aus dem Dualismus kann man sich nicht berufen. Denn diese Theorie geht allein von der Existenz getrennter Rechtsordnungen aus, ohne Wechselwirkungen zwischen ihnen auszuschließen. Wer dennoch das nicht transformierte Völkerrecht als innerstaatlich unbeachtlich aussondert, fällt in eine Vorstellungswelt zurück, in der die Staaten ihre Rechtsordnungen von einem Souveränitätspanzer umgeben haben, der grundsätzlich impermeabel ist und den das Völkerrecht nur durchdringen kann, soweit es verfassungsrechtlich oder gesetzlich in das deutsche Recht einbezogen wird; und er verhindert, dass die staatlichen Stellen die völkerrechtlichen Verpflichtungen des Staates – und damit die ihren in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich – im Rahmen des nach geltendem nationalen Recht Zulässigen erfüllen. Das ist weder völkerrechtsfreundlich noch rechtstaatlich.
E. Souveränitäts-Rechtsprechung III: Die Rolle des Souveräns Die Souveränität als Eigenschaft eines Staates bedarf eines Trägers, der sie im Staat für ihn ausübt. In einer demokratischen Republik ist dieser Träger das Volk, das aber als solches nicht handlungsfähig ist und in der Regel nur als Zurechnungs102 103 104 105
So Schorkopf, in diesem Band; ebenso Payandeh (Anm. 33), 490. BVerfGE 123, 267 (346). BVerfGE 111, 307 (318). Näher zum Ganzen Fastenrath (Anm. 29), 700 f.; vgl. auch Classen (Anm. 64), 108.
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subjekt für die Legitimation der Herrschaft in Erscheinung tritt (vgl. Art. 20 Abs. 2 GG). Seine Betätigung in Wahlen und Abstimmungen ist zudem – als pouvoir constitué – verfassungsrechtlich eingehegt. De legibus absolutus, also rechtlich ungebunden, ist das Volk nicht einmal bei der Verfassungsgebung, als pouvoir constituant; denn selbst dann kann es den völkerrechtlichen Bindungen des Staates nicht ausweichen. Das Verhältnis vom Souverän zu seinem souveränen Staat zeigt sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in drei Ausprägungen.
I. Die Herrschaft des Souveräns über die staatliche Existenz Der Souverän, das Deutsche Volk, das kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt den souveränen Verfassungsstaat geschaffen hat, ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch derjenige, der über Fortbestand und Ende des Staates zu entscheiden hat. Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten.106
Der Souverän ist demnach der Herr über sein Produkt, den souveränen Staat. Das ist eine bemerkenswert idealistische und unhistorische Sichtweise. Ein Staatsvolk besteht nicht a priori, sondern es bildet sich in seinem personalen Bestand wie auch im Zusammengehörigkeitsgefühl zugleich mit der Staatswerdung heraus. Das ist ein faktischer Vorgang, aber in der Regel nicht Gegenstand von Beschlüssen, eher von Proklamationen. Dementsprechend wird im Völkerrecht die Staatsentstehung auch grundsätzlich als Tatsache betrachtet, aber in der Regel nicht nach der rechtlichen Legitimation gefragt.107 Ein neu entstandener Staat mag nach seiner Gründung die Menschen auf seinem Territorium befragen, ob sie Bürger dieses Staates sein wollen (was insbesondere für Angehörige von Minderheiten von Bedeutung sein kann) oder ob sie einer ausgearbeiteten, schriftlichen Verfassung zustimmen. Derlei folgt aber – wenn überhaupt – der Staatsbildung nach und ist keine Bedingung für sie. Wenn aber die Herausbildung eines Volkes – sei es durch Abspaltung oder Zerbrechen eines Volkes, das sich auseinander gelebt hat, sei es durch den Zusammenschluss mehrerer Völker, die sich zusammenfinden – ein faktischer Vorgang ist, so könnte es sein, dass das Subjekt für die vom Bundesverfassungsgericht geforderte, unmittelbare Erklärung des Volkswillens zum relevanten Zeitpunkt schon abhanden gekommen ist und sich gar nicht mehr 106 107
BVerfGE 123, 267 (347 f.). Dahm/Delbrück/Wolfrum (Anm. 71), 135.
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erklären kann. Eine derartige Erklärung kann ja nicht vorab abgegeben werden, bevor klar ist, welche politischen Einheiten sich bilden. Haben sie sich aber bereits gebildet, ist es zu spät, zu einer früheren Formation zurückzukehren.108 Man kann annehmen, dass ein Staat zugleich mit seiner Verfassung entsteht, wobei diese weder schriftlich abgefasst noch förmlich beschlossen sein muss. Auf der anderen Seite endet die Geltung der Verfassung mit dem Staat, ohne dass dies förmlich zu beschließen wäre. Bildet sich also ein europäischer Bundesstaat und damit ein europäisches Volk, wäre allenfalls dieses zu befragen, aber nicht die Teilmenge der Deutschen. Dem Grundgesetz ist dazu nichts zu entnehmen.109 Freilich laufen solche Entwicklungen nicht ohne begleitende politische Entscheidungen staatlicher Organe ab. Somit ist nicht zu bestreiten, dass die Verfassung über die Bindung dieser Organe und mit ihrer normativen Kraft auch ein Volk zusammen- und am Leben erhalten kann und dass eine Volksabstimmung über Fortbestand oder Beendigung der politischen Einheit zu einem Hindernis für Veränderungen werden mag. Wer aber dem Grundgesetz die Aufgabe zuweist, nicht nur den deutschen Staat zu verfassen, sondern darüber hinaus – veränderungsfest – dessen Existenz zu gewährleisten, muss dies aus dem Grundgesetz heraus, insbesondere aus Art. 79 Abs. 3 GG begründen. Diese so genannte Ewigkeitsklausel hätte dann nicht nur den Inhalt, den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes festzulegen, sondern auch die „ewige“ Existenz des deutschen Staates zu sichern.110 So weit geht das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf Art. 146 GG und der Freiheit des Souveräns allerdings nicht.111 Aber warum der Souverän überhaupt für den Übergang zu einem europäischen Bundesstaat, für den Art. 23 Abs. 1 GG nach eigenem Eingeständnis offen ist,112 bemüht werden muss, erschließt das Gericht nicht aus dem Grundgesetz, sondern aus staatstheoretischen Überlegungen zu Souveränität und Staatenverbund.113
108
Zur Problematik der Volkszugehörigkeit in Übergangsphasen s. J. Weiler, Der Staat „über alles“, JöR n. F. 44 (1996), 91 (111 ff.). 109 Pache (Anm. 59), 298. 110 Ausführlich dazu mit Nachweisen zu den verschiedenen Auffassungen, im Ergebnis die „ewige“ Gewährleistung des Staates durch Art. 79 Abs. 3 GG verneinend Fastenrath (Anm. 69), 212 ff; ebenso Jastaedt (Anm. 60), 505 ff.; Möllers (Anm. 51), 382 ff. 111 Dies – zu Unrecht – kritisierend Gärditz/Hillgruber (Anm. 58), 875 f. 112 BVerfGE 123, 267 (347). Siehe dazu auch C. O. Lenz, Ausbrechender Rechtsakt, F.A.Z. v. 8.8.2009, 7. 113 BVerfGE 123, 267 (347 f.).
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II. Der Souverän de legibus absolutus In der bereits erwähnten Kammerentscheidung zur Waldschlösschenbrücke sieht das Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtliche Möglichkeit gegeben, „dass sich der in einer förmlichen Abstimmung festgestellte Bürgerwille, als authentischer Ausdrucksform unmittelbarer Demokratie, in einem Konflikt über die planerische Fortentwicklung einer Kulturlandschaft durchsetzt“.114 Diese Rechtsfrage stellte sich im Konflikt zwischen einem – verbindlichen – Bürgerentscheid gemäß § 24 SächsGemO,115 der den Bau der Elbbrücke verlangt, und den diesem Bau entgegenstehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Erhaltung der Welterbestätte „Dresdner Elbtal“, wie sie sich aus der Welterbekonvention ergeben. Dort ist allerdings kein absoluter Schutz gefordert; vielmehr haben die Staaten nur das in ihren Kräften Stehende für den Schutz zu tun. Da kann es in der Tat vorkommen, dass zwingende stadtplanerische Erfordernisse dem Welterbeschutz vorgehen. Der Bürgerwille als authentische Ausdrucksform unmittelbarer Demokratie vermag das Abwägungsergebnis aber in keiner Weise zu verändern. Das Volk als Souverän ist in einem konstituierten Staat an seine Gesetze gebunden, und es hat keine weitergehenden völkerrechtlichen Rechte als die staatlichen Organe, kann daher einen Völkerrechtsbruch in keiner Weise besser rechtfertigen oder legitimieren: Der Souverän „Volk“ ist nicht souveräner als der souveräne Staat. Es kommt noch hinzu, dass die städtische Bürgerschaft nicht der Souverän ist, sondern nur ein Teil von ihm, und mit ihren Entscheidungen eindeutig unter dem Gesetz steht.116 Mit dem Verweis auf die „authentische Ausdrucksform unmittelbarer Demokratie“ bedient sich das Bundesverfassungsgericht eines Argumentationsverstärkers, der zur Sache nichts beiträgt,117 also unsachlich ist.
III. Die Herrschaft des Staates über den Souverän: das Bundesverfassungsgericht als Vormund Man kann im Zuge einer sich konstitutionalisierenden Weltordnung mit guten Gründen argumentieren, dass der Souverän bei der Verfassungsgebung nicht völlig frei ist, sondern die Bestimmungen des völkerrechtlichen ius cogens, insbesondere
114
BVerfG, LKV 2007, 509 (511). Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt 2003, 55. 116 Vgl. § 24 Abs. 2 Nr. 8 SächsGemO. 117 So schon U. Fastenrath, Anmerkung zur Eilentscheidung des OVG Bautzen – 4 BS 216/06 – und zum Beschluss der 1. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts – 2 BvR 695/07 – Zeitschrift für europäisches Umwelt- und Planungsrecht 2007, 142 (149). 115
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den Kernbestand der Menschenrechte zu beachten hat.118 Man kann weiterhin argumentieren, dass der Souverän bei einer Verfassungsneugebung nach Art. 146 GG (also bei einer Verfassungsgebung in Verfassungskontinuität) nicht von den Bindungen an Art. 79 Abs. 3 GG freigestellt ist,119 wenngleich sich die Kategorie der Verfassungsneugebung dann erübrigen würde, weil ihr Ziel auch im Wege der Verfassungsänderung erreichbar wäre. Darüber hinaus fordert das Bundesverfassungsgericht aber bei einem Eintritt in einen europäischen Bundesstaat, dass eine Selbstaufgabe des souveränen politischen Verbandes auf dem „unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes“ beruhen müsse.120 Damit schwingt sich das Bundesverfassungsgericht zum Vormund des Souveräns bei einer verfassungsrechtlich nicht gebundenen Entscheidung auf. Denn es wäre Sache des Souveräns selbst, sich auf die Modalitäten seiner Entscheidung zu verständigen. Er könnte eine Abstimmung durchführen, eine verfassungsgebende Versammlung einberufen, ein bestehendes Parlament für sich sprechen lassen oder auch schweigend eine Proklamation akzeptieren. All das sind Möglichkeiten, mit denen ein Souverän eine neue Herrschaft legitimieren kann. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu nichts zu sagen, weil das Grundgesetz keinen Maßstab für eine Entscheidung enthält, die außerhalb der Verfassung getroffen wird.121 Indem das Gericht dennoch spricht, verkehrt es seine Rolle: Während es – nach der gewiss nur noch mit großen Vorbehalten vertretbaren Auffassung Montesquieus – der Mund der vom Souverän gesetzten Ordnung sein sollte, entmündigt es den Souverän und lehrt ihn Mores.
F. Schlussbemerkung Dem Bundesverfassungsgericht ist nicht vorzuwerfen, dass es die Bestimmungen des Grundgesetzes in einem staatsphilosophischen oder staatstheoretischen Kontext deutet. Das ist unvermeidlich. Verfassungsinterpretation bedeutet ebenso wenig wie jede andere Rechtsinterpretation, einen vorgegebenen Norminhalt 118 Vgl. I. Pernice, Art. 25, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Rn. 25 f. 119 Vgl. BVerfGE 123, 267 (343). 120 Ebd., 348. 121 Nach eigenem Bekunden des Bundesverfassungsgerichts (E 123, 267 [364]) liegt die Entscheidung des Volkes über einen nationalen Souveränitätsverzicht beim Eintritt in einem europäischen Bundesstaat „jenseits der gegenwärtigen Geltungskraft des Grundgesetzes“. Vgl. hierzu auch die Kritik von Halberstam/Möllers (Anm. 64), 1256; Jestaedt (Anm. 60), 511 ff.; weiterhin G. Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt als Ideologie, JZ 1992, 929 (934): „ Das Recht kann zur verfassungsgebenden Gewalt nichts sagen, noch nicht einmal, dass es sie gibt.“
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aufzudecken. Jede Auslegung eines Gesetzes- oder Verfassungstextes ist eine kreative Tätigkeit.122 Die Worte werden nicht nur auf der pragmatischen Sprachebene in ihrem sprachlichen und dem ständigen Veränderungen unterliegenden, situativen Kontext gedeutet, sondern sie treffen beim jeweiligen Leser auf ein eigenes Vorwissen und Vorverständnis und werden in ein bereits vorhandenes Sinngefüge, den Verständnishorizont, eingeordnet. Solche Vorprägungen beeinflussen unvermeidlich den Verstehensprozess123 und bringen – bezogen auf die Auslegung des Verfassungsrechts – je eigene Weltbilder, Gerechtigkeitsvorstellungen, Gemeinwohlverständnisse, aber auch Erfahrungen und Zukunftserwartungen der Richter in die Rechtsprechung ein. Zu kritisieren ist weiterhin nicht, dass in den Urteilen das Für und Wider einzelner staatsphilosophischer Richtungen nicht diskutiert wird. Gerichte sind keine akademischen Seminare; und sie sind nicht dazu eingesetzt, über die Bonität philosophischer Schulen zu entscheiden. Und dennoch liegt genau hier das Problem. Indem das Bundesverfassungsgericht im Verlauf der Rechtsprechung sein Staatsbild immer mehr entfaltet und in einer Weise darstellt, als sei es objektiv richtig, geradezu „natürlich“ und über jeden Zweifel erhaben,124 erhebt es seine staatsbezogene Denkweise und das eigene Staatsbild in einen vor- und überverfassungsrechtlichen Rang. Umstandslos werden, wie an mehreren Stellen gezeigt, aus dem Staatsbild und einem spezifischen Souveränitätsverständnis verfassungsrechtliche Folgerungen abgeleitet; die Nennung von Verfassungsbestimmungen erscheint fast akzidentell und im Sinne einer verfassungsrechtlichen Bestätigung des theoretischen Gedankengebäudes, während umgekehrt zugleich die Verfassungsbestimmungen inhaltlich durch das staatsphilosophische Vorverständnis geprägt werden. Durch diesen gedanklichen Zirkel erspart sich das Bundesverfassungsgericht eine Diskussion abweichender Meinungen. Damit aber verfehlt es seine Aufgabe, Rechtsstreitigkeiten nach Maßgabe des Verfassungsrechts unter Berücksichtigung seiner Mehrdeutigkeit zu entscheiden. Eine offene Diskussion verschiedener Verständnismöglichkeiten grundgesetzlicher Bestimmungen sowie die Reflexion des eigenen, staatszentrierten Vorverständnisses125 könnten zwar die Überzeugungskraft der Urteile mindern und die Frag122
A. Voßkuhle, Die politischen Dimensionen der Staatsrechtslehre, in: H. SchulzeFielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Die Verwaltung, Beiheft 7, 2007, 135 (137). 123 U. Fastenrath, Lücken im Völkerrecht. Zu Rechtscharakter, Quellen, Systemzusammenhang, Methodenlehre und Funktionen des Völkerrechts, 1991, 172 ff. 124 Vgl. die Kritik von Weiler (Anm. 108), 91 (94). 125 Dazu F. Günther, Denken vom Staat her (2004); C. Möllers (Anm. 50), 129 ff.; aus rechtvergleichender Sicht S. Storr, Die österreichische Bundesverfassung – eine Hausbesichtigung, Zeitschrift für Verwaltung 2009, 530 (532).
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würdigkeit des verfassungsgerichtlichen Souveränitätskonzepts entlarven. So aber zehrt das Gericht von seiner Autorität, die schnell schwinden kann, wenn das Staatsbild als inadäquat empfunden wird und die verfassungsrechtlichen Ableitungen daraus der tragfähigen Begründung aus dem Grundgesetz entbehren. Der Vorsitzende des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts möchte die Entscheidungen freilich anders gelesen wissen: vom Ergebnis her.126 Bislang sei noch kein internationales oder europäisches Projekt an der Justiz gescheitert, so dass politischer Flurschaden nicht zu besorgen sei; im Gegenteil, in der Rechtsprechung seien Verfassungsprinzipien wir die Völker- und Europarechtsfreundlichkeit entwickelt worden, die die inter- und supranationale Eingliederung erleichtern. Die Argumentationskulisse vorvergangener Jahrhunderte also nur Staffage für Spiegelfechtereien einzelner Richter? Eine Szene, die der an Lebens- und Amtsjahren noch junge Regisseur abräumen kann, sobald die – älteren – Protagonisten dieser Ideen die Karlsruher Bühne verlassen haben? Das wäre nicht nur sehr selbstbewusst, sondern auch reichlich postmodern gedacht. Man sollte die edukatorische Wirkung verfassungsgerichtlicher Urteilbegründungen nicht unterschätzen. Wie selbstverständlich gehen heute deutsche Juristen127 – trotz aller sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für manche Verfassungsrechtslagen (oben D. III.) – von dem mit der Solange I-Entscheidung128 in die Rechtsprechung eingeführten, hegelianischen Bild des abgekapselten, von sich seienden Staates aus, der sich erst und nur durch die Art. 23 bis 26 und Art. 59 GG nach außen hin öffnet. Vom Bundesverfassungsgericht approbierte Meinungen pflanzen sich fort, sie werden zum Vorverständnis kommender Juristengenerationen. Urteilsbegründungen sind nicht Schall und Rauch, man muss sie ernst nehmen. Deshalb wäre es gut, wenn sich der Zweite Senat künftig staatstheoretischer Bekenntnisse enthalten würde.
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Vgl. Voßkuhle (Anm. 44), 1 ff. Vgl. nur K.-P. Sommermann, Offene Staatlichkeit: Deutschland, in: A. von Bogdandy/P. Cruz Villalón/P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band II (2008), 3 (9 f.). In ihrer Selbstbefangenheit fragen sich deutsche Verfassungsrechtler nicht, wie andere Staaten ohne solche verfassungsgesetzlichen Öffnungsklauseln ihre inter- und supranationale Einbindung meistern. 128 BVerfGE 37, 271 (281 f.). 127
Die Völker- und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes Von Rudolf Streinz
Die Podiumsdiskussion steht unter dem Titel „60 Jahre internationale Offenheit – eine Bilanz“. Das in zahlreichen Festvorträgen und Symposien gefeierte Jubiläum „60 Jahre Grundgesetz“ gibt Anlass, das Augenmerk auf ein Merkmal des Bonner Grundgesetzes von 1949 zu richten, das bereits damals in der Präambel dieses als „Provisorium“ gedachten und zur Verfassung des wiedervereinigten Deutschland gewordenen Textes deutlich zum Ausdruck kam und sich auch in einer ganzen Reihe von weiteren Bestimmungen findet: Die Völkerrechtsfreundlichkeit und die Europarechtsfreundlichkeit1 des Grundgesetzes. Wie es sich für die wissenschaftliche Begleitung der Praxis gehört, war dieser Blick ein kritischer, worauf bereits die Themenstellung „Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis“ bzw. „Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsskepsis“ hindeutet. So wurde festgestellt, dass die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes vom Bundesverfassungsgericht nicht selten dann besonders betont wurde, wenn darauf eher völkerrechtsunfreundliche Passagen folgten. Der Rechtsvergleich zeigt aber, dass letztlich auch andere Gerichte Restvorbehalte gegen den Vorrang des Völkerrechts vor dem nationalen Recht, insbesondere dem Verfassungsrecht haben, z.B. das von Frau Richter zitierte Schweizerische Bundesgericht („dass im Konfliktfall das Völkerrecht dem Landesrecht prinzipiell vorgeht“), ggf. nach Maßgabe bewusst völkerrechtswidriger Entscheidungen der Legislative (vgl. den US Supreme Court: „there must … be present the affirmative intention of the Congress clearly expressed“, which „alone has the facilities necessary to make fairly such an important policy decision“). Die nationalen Gerichte behalten sich hier die „Letztentscheidung“ (um das grundlegende Werk von Franz C. Mayer anzusprechen) vor. Dies darf eigentlich nicht verwundern, ist doch die Wahrung der Verfassung die Aufgabe 1
Die Organisatoren des Symposiums müssen geradezu prophetische Fähigkeiten gehabt haben: Wenige Wochen später verwendet das BVerfG im Lissabon-Urteil im Anschluss an den von ihm häufig gebrauchten Begriff der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ den Begriff der „Europarechtsfreundlichkeit“, vgl. BVerfG, EuGRZ 2009, 339, Leitsatz 4 und Tz 219, 225.
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von Verfassungsgerichten und solchen Gerichten, die dies funktional sind. Unterschiede zeigen sich freilich in der Intensität der Prüfung, im Verfahren sowie im Stil. Zu letzterem verweise ich nur auf das Urteil der italienischen Corte Costitiuzionale, die bereits vor dem Solange I-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 29. Mai 19742 auf ihre dauernde Kontrolle darüber hinwies, ob der als hypothetisch angesehene Fall eintritt, dass das Gemeinschaftsrecht grundlegende Prinzipien der italienischen Verfassung verletzt.3 Italienisch klingt dies eben vielleicht eleganter oder wird zumindest so empfunden. Zur Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und ihren Grenzen hat das Bundesverfassungsgericht im Görgülü-Beschluss4 Stellung genommen, und zwar in einer Weise, die je nach Sichtweise „völkerrechtsfreundlich“ oder „völkerrechtsskeptisch“ interpretiert wurde. Liest man den ganzen Beschluss und nicht nur das, was man lesen bzw. lieber nicht lesen möchte, so fällt das Urteil differenziert aus. Einerseits bekräftigt das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung, die zu einer faktischen Rangerhöhung der an sich im Rang einfachen Bundesrechts stehenden Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dadurch führt, dass es fordert, die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention auszulegen, und schreibt den nationalen Gerichten – aus gebotenem Anlass – vor, dabei die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) „gebührend zu berücksichtigen“. Wird dies unterlassen, steht über die Kombination des möglicherweise verletzten Grundrechts und dem Rechtsstaatsprinzip – denn auch die EMRK in der Auslegung des EGMR gehört zu dem „Gesetz und Recht“, an das die richterliche Gewalt gebunden ist – die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht offen. Das BVerfG setzt dem allerdings auch eine Grenze: Völkervertragsrecht und damit die EMRK gelte innerstaatlich nur dann, wenn es in die nationale Rechtsordnung formgerecht und in Übereinstimmung mit materiellem Verfassungsrecht inkorporiert worden sei. Dies gelte insbesondere dann, wenn es sich bei dem einschlägigen nationalen Recht um ein ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts handle. Letzteres bezieht sich offenbar auf mögliche Grundrechtskollisionen, in denen ein Aspekt, im konkreten Fall z.B. das Kindeswohl, nicht hinreichend berücksichtigt worden
2
BVerfGE 37, 271. Urteil der Corte Costituzionale vom 27.12.1973 – Frontini (Europäische Grundrechtezeitschrift (EuGRZ) 1975, 311/315: Kompetenzüberschreitung mit Verletzung von Grundprinzipien der italienischen Verfassungsordnung oder der Grundrechte): „… in tale ipotesi sarebbe sempre assicurata la garanzia del sindacato giurisdizionale di questa Corte sulla perdurante compatibilità del Trattato con i predetti princìpi fondamentali“. 4 BVerfGE 111, 307. 3
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wäre.5 Dass dabei unterschiedliche Auffassungen in Bewertungsfragen alleine nicht genügen, zeigen die Reaktionen nach dem Caroline-Urteil des EGMR,6 das hinsichtlich der Abwägung zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht eine etwas andere Gewichtung vornahm als das Bundesverfassungsgericht.7 Entgegen den Befürchtungen oder Erwartungen eines „Justizkonflikts“ wurde die deutsche Rechtsprechung mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts im Sinne des Urteils des EGMR modifiziert, ohne dass dies zur befürchteten „Hofberichtserstattung“ führte. Zwischen Völkerrecht und Europarecht steht das Darkazanli-Urteil8 des Bundesverfassungsgerichts, in dem das Bundesverfassungsgericht (hier im Prinzip noch zutreffend) deutlich zwischen der intergouvernemental strukturierten „Dritten Säule“ der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) und dem „vergemeinschafteten“ Bereich der Ersten Säule unterscheidet, allerdings mit zum Teil falschen Schlussfolgerungen. Noch zutreffend deshalb, weil mit dem In-Kraft-Treten des Vertrages von Lissabon9 die Drei-Säulen-Struktur des Vertrags von Maastricht aufgegeben wird. Anders als hinsichtlich der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik geschieht diese Aufgabe der Drei-Säulen-Struktur im Bereich der PJZS durch die Integration in die Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union über den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ nicht nur formell, sondern auch inhaltlich, ungeachtet mancher fortbestehender Besonderheiten wie z.B. der teilweisen Regelung in „besonderen Gesetzgebungsverfahren“. Damit wird der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts im Darkazanli-Urteil auch teilweise die Grundlage entzogen, nämlich insoweit, als es mit dieser Unterscheidung zwischen Erster und Dritter Säule und der mangelnden Beteiligung des Europäischen Parlaments in Letzterer argumentierte. Unzutreffend war aber bereits damals die Schlussfolgerung hinsichtlich der politischen Gestaltungsmacht der nationalen Parlamente, hier des Deutschen Bundestages, dass nämlich die Umsetzung des Rahmenbeschlusses verweigert werden könne. Weil auch Rahmenbeschlüsse für die Mitgliedstaaten verbindlich sind, wäre eine solche Verweigerung eine – freilich nicht durch ein Vertragsverletzungsverfahren sanktionierbare – Vertragsverletzung gewesen. Im Unterschied zu Richtlinien fehlt allein die mögliche unmittelbare Wirkung, wobei der EuGH die 5
Ein derartiges Abwägungsdefizit ist im jüngst ergangenen sog. italienischen KruzifixUrteil des EGMR vom 3.11.2009, Beschwerdenr. 30814/06, festzustellen. Dagegen wurde von Italien die Große Kammer des EGMR angerufen. 6 EGMR, Urteil vom 24.6.2004, von Hannover v. Germany, Rep. 2004-VI, 1 ff. 7 BVerfGE 101, 361. 8 BVerfGE 113, 273. 9 Der Vertrag ist nach der Ratifikation durch die Tschechische Republik als letztem der 27 Mitgliedstaaten am 1.12.2009 in Kraft getreten.
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Rahmenbeschlüsse den Richtlinien durch die von ihm postulierte Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung angenähert hat.10 Nach dem Vertrag von Lissabon wird auch diese Unterscheidung obsolet. Die Europafreundlichkeit des Grundgesetzes zeigt sich in der Präambel, der grundsätzlich verpflichtenden Öffnung zur Europäischen Integration, zunächst über Art. 24 GG, jetzt Art. 23 GG. Die Europarechtsfreundlichkeit des Bundesverfassungsgerichts zeigt sich aktiv in einer Reihe von Urteilen, die die Besonderheit der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkennen und insbesondere die Konsequenz aus dem (prinzipiellen) Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts ziehen, nämlich im Lütticke-Urteil vom 9. Juni 1971. Hiernach müssen bei sachgerechter Auslegung des Art. 24 GG seit dem In-Kraft-Treten des Gemeinsamen Marktes die deutschen Gerichte auch solche Rechtsvorschriften anwenden, die zwar einer eigenständigen außerstaatlichen Hoheitsgewalt zuzurechnen sind, aber dennoch aufgrund ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof im innerstaatlichen Raum unmittelbare Wirkung entfalten und entgegenstehendes nationales Recht überlagern und verdrängen. Denn nur so könnten die den Bürgern des Gemeinsamen Marktes eingeräumten subjektiven Rechte verwirklicht werden.11 Wenn man so will defensiv zeigt sich die Europarechtsfreundlichkeit in der Selbstzähmung – man nennt dies wohl judicial self restraint – der vom Bundesverfassungsgericht nach wie vor aufrecht erhaltenen Prüfungsvorbehalte, die beileibe keinen deutschen „Sonderweg“ darstellen. Hinsichtlich der Grundrechtsfrage hat sich das Bundesverfassungsgericht durch die im Bananenmarktordnung-Beschluss12 errichteten Hürden selbst in die Rolle eines Ersatzspielers mit geringer Einsatzchance versetzt, wie der damalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Udo Steiner zutreffend feststellte.13 Auf die Tribüne als bloßer Zuschauer darf sich das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung aber nicht begeben. Ob die im Maastricht-Urteil14 vorbehaltene ultra vires-Kontrolle gegenüber sog. „ausbrechenden Hoheitsakten“ jemals aktiviert werden wird, bleibt abzuwarten. Sollte das Bundesverfassungsgericht daran denken, wäre gemäß dem Gedanken des von ihm selbst für die Grundrechtsfragen entwickelten „Kooperationsverhältnis“ dem EuGH Gelegenheit zu geben, die Frage gemeinschaftsrechtlich zu klären, ggf. durch Präzisierung und eventuell sogar Korrektur seiner Rechtsprechung. Dass bei Änderungen der Verträge und der damit verbundenen Übertragung von Hoheitsrechten das Bundesverfassungsgericht angerufen wird, 10
EuGH, Rs. C-105/03, Maria Pupino, Slg. 2005, I-5285, Rn. 34. BVerfGE 31, 145/174. 12 BVerfGE 102, 147. 13 Udo Steiner, Richterliche Grundrechtsverantwortung in Europa, in: D. Lorenz/M.-E. Geis (Hrsg.), Staat, Kirche, Verwaltung. Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, 2001, 1005 (1013), Anm. 43. 14 BVerfGE 89, 155. 11
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ist ebenfalls keine deutsche Besonderheit. Speziell ist allein der Weg dazu über die im Maastricht-Urteil gewählte Auslegung der Rechte des Bürgers aus Art. 38 GG (Wahlrecht zum Deutschen Bundestag), die in der Tat zu einer, wie Herr Giegerich sagte, Art „Popularverfassungsbeschwerde“ gegen Integrationsgesetze führt. Damit wird in Deutschland aber nur das ermöglicht, was in anderen Staaten durch präventive Normenkontrolle möglich ist, nämlich die verfassungsgerichtliche Klärung der Integrationsermächtigung und ihrer Schranken. Bei dieser Gelegenheit wird nicht selten die politische Debatte über die europäische Integration nachgeholt, die in Bundestag und Bundesrat bislang zuvor kaum stattfand. Dadurch können aber – soweit dies sachlich erfolgt – dem Bürger das Europarecht, seine Erfordernisse und Bedingungen und auch seine bisweilen als schmerzlich empfundenen, aber unvermeidbaren Folgen der Beschränkung eigenständiger nationaler politischer Gestaltungsfreiheit vermittelt werden. Und dies ist doch sicher auch „europarechtsfreundlich“.
Das Verhältnis des Schweizer Verfassungsrechts zum Völker- und Europarecht Von Stephan Breitenmoser*
A. Einleitung Die neue Bundesverfassung der Schweiz von 19991 (BV) ist fünfzig Jahre jünger als das deutsche Grundgesetz von 1949 und damit – im Unterschied zu diesem – nicht mehr eine Schöpfung der vorwiegend souveränitäts- und staatenbezogenen Nachkriegszeit. Sie entstand vielmehr in einer Zeit, in der – gerade in Europa – das zwischenstaatliche Koordinationsrecht durch ein verstärktes Kooperations- und Integrationsvölkerrecht zunehmend ergänzt und abgelöst wurde. Gleichwohl finden sich in der totalrevidierten Bundesverfassung zu diesen sowohl durch universelle Organisationen wie den Vereinten Nationen (UNO) als auch durch regionale Organisationen wie der Europäischen Union (EU) geprägten Entwicklungen kaum ausdrückliche Bezüge. Ausnahmen hiervon bilden lediglich die enge Anlehnung an die Grundrechtsgarantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)2 sowie die Anerkennung des Vorrangs des zwingenden Völkerrechts bei Volksinitiativen und Verfassungsänderungen.3 Der Grund für die weitgehende Ausklammerung völker- und europarechtlicher Bezüge liegt im Umstand, dass die Schweizer Bevölkerung in der Frage eines allfälligen EU-Beitritts tief gespalten ist, wie dies insbesondere die Ablehnung eines Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)4 im Jahr 1992 deutlich *
Der Verfasser dankt seinem Assistenten, Herrn lic. iur. Robert Weyeneth, für seine wertvolle Mitarbeit. 1 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.4.1999 (BV), Systematische Rechtssammlung (SR) 101. 2 Vgl. den Grundrechtskatalog von Art. 7 ff. BV, dessen Garantien teilweise mit denjenigen der EMRK wörtlich identisch sind. 3 Art. 139 Abs. 3 und Art. 194 Abs. 2 BV. 4 Bundesblatt (BBl) 1992 IV, 1 ff. Der Beitritt zu dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (ABl. L 1 vom 3.1.1994, 3 ff.) hätte der Schweiz einen weitgehenden Zugang zum Europäischen Binnenmarkt verschafft.
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gezeigt hat.5 Um die neue Verfassung in der obligatorischen Referendumsabstimmung nicht zu gefährden, wurden deshalb der Begriff „Europa“ und entsprechende Verweise auf das internationale Recht im Rahmen der Totalrevision von vornherein vermieden.6 Die Verfassungsrevision wurde denn auch lediglich als sog. „Nachführung“ des bereits in der Praxis geltenden Verfassungsrechts bezeichnet.7 Eigentliche Neuerungen wurden dem Volk erst nachträglich vorgelegt; sie betrafen insbesondere die Bereiche des Justizwesens und der Volksrechte.8
B. Das Verhältnis zwischen Völker- und Landesrecht in der Schweiz I. Das Völkerrecht in der Bundesverfassung Ungeachtet des Bestrebens, den Eindruck einer Annäherung an die EU zu vermeiden, enthält die neue Bundesverfassung von 1999 in den folgenden Bestimmungen völkerrechtliche Bezüge: – Ein Bekenntnis zur Offenheit gegenüber der ganzen Welt findet sich in der Präambel, wo u.a. das Bestreben festgehalten wird, „… den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken“; – der Zweckartikel enthält in Art. 2 Abs. 4 BV das Bekenntnis zu einer friedlichen und gerechten internationalen Ordnung; – unter der Marginale „Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns“ werden in Art. 5 Abs. 4 Bund und Kantone dazu angehalten, das Völkerrecht zu beachten; 5
Bei einer Stimmbeteiligung von 78,3 % wurde der Beitritt zum EWR-Abkommen am 6.12.1992 in einer obligatorischen Referendumsabstimmung von einer Mehrheit sowohl der Bevölkerung (50, 3 % der Stimmenden) als auch der Kantone (neben den sechs Westschweizer Kantonen befürworteten in der Deutschschweiz nur die beiden Basler Halbkantone einen Beitritt) abgelehnt, BBl 1993 I, 167. 6 Dass diese selbst auferlegte „europapolitische Neutralität“ des Reformprojekts (René Rhinow, Die Bundesverfassung 2000 – Eine Einführung, 2000, 42) nicht unbegründet war, zeigen die mit 59 % Ja-Stimmen eher schwache Annahme und der Umstand, dass die Vorlage beinahe am Ständemehr gescheitert wäre. 7 Vgl. Botschaft des Bundesrats über eine neue Bundesverfassung vom 20.11.1996. BBl 1997, I, 1 ff. Vgl. bereits Bernhard Ehrenzeller, Die Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung: Der gegenwärtige Stand des Vorhabens, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 1987, 699 ff. 8 Vgl. die Verankerung einer umfassenden Rechtsweggarantie in Art. 29 a BV als wesentlicher Eckpunkt der Justizreform.
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– die im Grundrechtskatalog von Art. 7 ff. BV aufgeführten Grundrechte sind weitgehend von internationalen Menschenrechtsgarantien geprägt und nach dem Vorbild der EMRK kodifiziert; so rezipiert etwa Art. 25 Abs. 2 BV das völkerrechtliche non-refoulement-Gebot und Art. 25 Abs. 3 BV die SoeringRechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR);9 – der Katalog der Sozialziele in Art. 41 BV ist maßgebend durch den UNPakt I über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aus dem Jahr 1966 geprägt; – die Beziehungen zum Ausland stehen an erster Stelle der Zuständigkeiten des Bundes gemäß Art. 54 ff. BV, wobei dieser nach Art. 54 Abs. 2 zur „Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“ beiträgt; – gemäß Art. 56 können die Kantone in ihren Zuständigkeitsbereichen mit dem Ausland Verträge schließen, sofern diese „dem Recht und den Interessen des Bundes sowie den Rechten anderer Kantone nicht zuwiderlaufen“;10 – mit Bezug auf die Total- und Partialrevision der Verfassung halten Art.193 Abs. 4 und Art. 194 Abs. 2 BV fest, dass die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts nicht verletzt werden dürfen – dementsprechend erklärt die Bundesversammlung gemäß Art. 139 Abs. 3 Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung u.a. dann für ganz oder teilweise ungültig, wenn die Initiative zwingende Bestimmungen des Völkerrechts verletzt; – Art. 140, 141 und 141a BV enthalten Regelungen zum obligatorischen und fakultativen Staatsvertragsreferendum11 sowie zur Umsetzung von völker9
Stephan Breitenmoser, Kommentierung von Art. 25 BV, in: Bernhard Ehrenzeller/ Philippe Mastronardi/Rainer J. Schweizer/Klaus A. Vallender (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar („St. Galler Kommentar“), 2. Aufl. 2008, Rz. 15 ff. 10 Vgl. Luzius Wildhaber/Eva Kornicker/Adrian Scheidegger, National Treaty Law and Practice: Switzerland, in: Monroe Leigh/Merritt R. Blakeslee (Hrsg.), National Treaty Law and Practice, The American Society of International Law, 1995, 152 ff., bzw. in 2. Aufl.: Luzius Wildhaber/Adrian Scheidegger/Marc D. Schinzel, in: Duncon B. Hollis/Merritt R. Blakeslee/L. Benjamin Ederington (Hrsg.), 2005, 627 ff. 11 Während der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften dem obligatorischen Referendum von Volk und Ständen (Kantonen) unterliegt (Art. 140 Abs. 1 lit. b), werden dem Volk bei Zustandekommen des fakultativen Referendums diejenigen völkerrechtlichen Verträge zur Abstimmung vorgelegt, die unbefristet und unkündbar sind, den Beitritt zu einer internationalen Organisation
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rechtlichen Verträgen durch Genehmigungsbeschluss der Bundesversammlung; – nach Art. 189 Abs. 1 lit. b BV beurteilt das Bundesgericht u.a. Streitigkeiten wegen Verletzung von Völkerecht; – gemäß Art. 190 BV sind „Bundesgesetze und Völkerrecht“ für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden „maßgebend“.
II. Monismus und Vorrang des Völkerrechts Gemäß Lehre und Rechtsprechung gilt in der Schweiz12 – im Unterschied zu den sog. dualistischen Staaten13 – der gemäßigte Monismus, d.h. Völkerrecht und schweizerisches Landesrecht werden als Teile einer zusammenhängenden geschlossenen Gesamtrechtsordnung betrachtet.14 Während das Bundesgericht die Geltung des Monismus in ständiger Praxis bereits unter der früheren Bundes-
vorsehen oder wichtige rechtsetzende Bestimmungen bzw. Regelungen enthalten, deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert (Art. 141 Abs. 1 lit. d Ziff. 1–3). Vgl. Valentin Zellweger, Die demokratische Legitimation staatsvertraglichen Rechts, in: Thomas Cottier/Alberto Achermann/Daniel Wüger/Valentin Zellweger (Hrsg.), Der Staatsvertrag im schweizerischen Verfassungsrecht, 2001, 281 ff. 12 Botschaft des Bundesrats über eine neue Bundesverfassung vom 20.11.1996, BBl 1997 I, 1 ff., 134 f. Monistische Staaten sind u.a. auch Frankreich, die Niederlande und die USA, wobei aber die Rechtsprechung der amerikanischen Gerichte dazu führt, dass völkerrechtlichen Normen nur geringe innerstaatliche Bedeutung zukommt. 13 Nach dem sog. Dualismus, der u.a. im Vereinigten Königreich, in den ehemaligen britischen Kolonien, in Irland, den skandinavischen Staaten sowie in Deutschland und Italien gilt, werden Völkerrecht und innerstaatliches Recht als zwei eigenständige, unabhängig voneinander existierende Rechtsordnungen angesehen, mit der Folge, dass ein völkerrechtlicher Vertrag erst mit seiner Umsetzung durch ein Gesetz, das den Vertragsinhalt wiederholt, oder durch ein sog. Zustimmungsgesetz, in dem festgehalten wird, dass der Vertrag auch innerstaatlich gilt, Wirkungen im Inland entfaltet. An der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Umsetzung ändert sich dadurch aber nichts, Matthias Herdegen, Völkerrecht, 8. Aufl. 2009, § 22, Rz. 2. 14 Vgl. Bericht des Bundesrats über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht vom 5.3.2010, BBl 2010, 2263 ff., 2285 f., 2302 f.; Alberto Achermann, Der Vorrang des Völkerrechts im Schweizerischen Recht, in: Cottier/Achermann/Wüger/Zellweger (Anm. 11), 36 ff.; Herdegen (Anm. 13), § 22, Rz. 1; Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, Zeitschrift für öffentliches Recht 65 (2010), 20 f.
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verfassung von 1874 anerkannt hatte,15 wird in der neueren Lehre der Monismus teilweise aus der neuen Bestimmung von Art. 5 Abs. 4 BV16 oder aus Art. 189 Abs. 1 lit. b BV17 abgeleitet. Aufgrund des Monismus gilt überdies die Adoptionstheorie, d.h. völkerrechtlichen Verträgen kommt im schweizerischen Recht unmittelbare Geltung auch als Landesrecht zu, und zwar als automatische Folge dieser völkerrechtlichen Geltung, ohne dass sie – wie beim Dualismus – zuvor in innerstaatliches Recht transformiert und inkorporiert werden müssen.18 Im Unterschied zum Dualismus, der die Souveränität der Staaten betont und diese von den völkerrechtlichen Normen abschirmt, öffnet der schweizerische Monismus dem Völkerrecht in verstärktem Masse den ungehinderten Zugang zur innerstaatlichen Rechtsordnung. Sofern und soweit eine völkerrechtliche Norm nämlich self-executing, d.h. justiziabel ist, kann sie von natürlichen und juristischen Personen angerufen und von den Gerichtsund Verwaltungsbehörden unmittelbar angewendet werden.19 Im Einzelnen wird für die Annahme der Justiziabilität vorausgesetzt, dass die staatsvertragliche Norm (1.) die Rechtsstellung des Einzelnen regelt, (2.) an die Verwaltungs- bzw. Justizbehörden und nicht an den Gesetzgeber gerichtet ist, (3.) inhaltlich genügend bestimmt und klar ist, um im Einzelfall die Grundlage eines Entscheids zu bilden, (4.) kein bloßer Programmsatz ist und (5.) den rechtsanwendenden Behörden
15
Vgl. BGE 88 I 86 (90 f.), 94 I 669 (672), 105 II 49 (57 f.), 120 Ib 360 (366), 122 II 234 (237); Hangartner, Kommentierung von Art. 5 BV, St. Galler Kommentar (Anm. 9), Rz. 1 ff.; Pascal Mahon, Kommentierung von Art. 5 BV, in: Jean-François Aubert/Pascal Mahon, Petit commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération suisse, 2003, Art. 5 Cst., Rz. 17. 16 Nach dieser Bestimmung sind Bund und Kantone verpflichtet, das Völkerrecht zu beachten. Vgl. Walter Kälin/Astrid Epiney/Martina Caroni/Jörg Künzli, Völkerrecht – Eine Einführung, 2. Aufl. 2006, 96; a.A. Hangartner, Kommentierung von Art. 5 BV, St. Galler Kommentar (Anm. 9), Rz. 45; René Rhinow/Markus Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, Rz. 3614. 17 Nach dieser Bestimmung beurteilt das Bundesgericht u.a. Streitigkeiten wegen Verletzung von Völkerrecht. Vgl. Rhinow/Schefer (Anm. 16), Rz. 3613 f. 18 Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl. 2008, Rz. 1913; Kälin/Epiney/Caroni/Künzli (Anm. 16), 95; Jörg Paul Müller/ Luzius Wildhaber, Praxis des Völkerrechts, 3. Aufl. 2001, 160 ff.; Anne Peters, Völkerrecht: Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2008, 185; Rhinow/Schefer (Anm. 16), Rz. 3613; Andreas R. Ziegler, Einführung in das Völkerrecht, 2006, Rz. 265, 273. 19 Vgl. BGE 98 Ib 385 (387) = Pra 1973 Nr. 88 285 (286), 126 I 240 (242), 133 I 286 (291). Andreas Auer/Giorgio Malinverni/Michel Hottelier, Droit constitutionnel suisse, Bd. I, 2. Aufl. 2006, Rz. 1307 ff.; Müller/Wildhaber (Anm. 18), 182 ff., 186.
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keinen großen Ermessensspielraum lässt.20 Im Schweizer Parlament wurden zwar wiederholt Vorstöße eingereicht, welche zum Ziel hatten, diese weitreichenden Einwirkungen des Monismus und der direkten Anwendbarkeit staatsvertraglicher Normen durch einen Wechsel zum souveränitätsbetonten Dualismus abzuschwächen, doch scheiterten sie bisher stets.21 Im Falle einer Kollision von Völker- und Landesrecht gehen Lehre und Praxis in der Schweiz von einem grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts vor dem schweizerischen Verfassungsrecht aus,22 und zwar ungeachtet des Umstands, dass die Bundesverfassung einen Vorrang nur für die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts ausdrücklich statuiert.23 Denn trotz fehlender Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene24 sind für das Bundesgericht nach ausdrücklicher Vorgabe in Art. 190 BV neben den Bundesgesetzen gerade auch die Bestimmungen des Völkerrechts „massgebend“. Deren Verletzung hätte – u.a. aufgrund von Art. 26 und 27 WVK25 – die völkerrechtliche, auf Klage oder Beschwerde hin durch internationale Gerichte zu beurteilende Verantwortlichkeit zur Folge.26 Die Annahme einer Kollision von Völker- und Landesrecht wird jedoch meist durch die völkerrechtskonforme Auslegung des Landesrechts vermieden.27
20 Anne Peters/Isabella Pagotto, Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht in der Schweiz, iusfull 2004, 54 ff., 64 m.w.N.; Daniel Wüger, Die direkte Anwendbarkeit staatsvertraglichen Rechts, in: Cottier/Achermann/Wüger/Zellweger (Anm. 11), 103 ff. 21 Vgl. nun auch den Bericht des Bundesrats über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht vom 5.3.2010 (Anm. 14), 2320 f., der insb. Praktikabilitätsüberlegungen für die Beibehaltung des Monismus anführt. 22 Vgl. Achermann (Anm. 14), 45 ff. m.w.N. 23 Vgl. oben B. II. Auf die ausdrückliche Anerkennung des Vorrangs des allgemeinen Völkerrechts wurde verzichtet, weil dies die Gefahr des Scheiterns der Totalrevision der Verfassung erhöht hätte. 24 Zur neueren Praxis des Bundesgerichts, EMRK-widrige Bundesgesetze im Einzelfall nicht anzuwenden, vgl. Anm. 43 sowie unten C. I. 2. 25 Art. 26 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 (WVK, SR 0.111) enthält die Verpflichtung „pacta sunt servanda“, und gemäß Art. 27 WVK kann eine Vertragspartei sich nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines völkerrechtlichen Vertrags zu rechtfertigen. Vgl. Mark E. Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, 2009, 361 ff. und 369 ff. 26 Müller/Wildhaber (Anm. 18), 485 ff. 27 Ulrich Häfelin/Georg Müller/Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2006, Rz. 232; Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl. 2007, Rz. 30, 36 ff.
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III. Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit im schweizerischen Recht 1. Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit im Allgemeinen In der schweizerischen Rechtspraxis wird ein Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit noch nicht ausdrücklich anerkannt. Im Schrifttum hingegen wird der Begriff der Völkerrechtsfreundlichkeit sowohl im Zusammenhang mit der völkerrechtsfreundlichen Praxis der rechtsanwendenden Behörden und Gerichte verwendet, die sich v.a. in der völkerrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts manifestiert, als auch zur Umschreibung der allgemeinen Grundhaltung der Bundesverfassung.28 Ein solcher, aus den zahlreichen völkerrechtlichen Bezügen in der Bundesverfassung, dem Monismus und dem grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts abgeleiteter Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit wird in der Schweizer Lehre mitunter sogar bereits als Verfassungsprinzip des „weltoffenen und kooperativen Verfassungsstaats“ bezeichnet,29 der die traditionellen Verfassungsprinzipien der Bundesstaatlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit ergänzt.30 Die Anerkennung des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit in der Schweizer Rechtsordnung bedeutet für die Rechtsetzung und Rechtsprechung die Berücksichtigung und Anwendung insbesondere der folgenden Teilgehalte dieses Grundsatzes: – Die Auslegung völkerrechtlicher Normen erfolgt nach dem Grundsatz des Methodenpluralismus gemäß Art. 31 ff. WVK, d.h. neben dem Wortlaut sind insbesondere auch die systematische und die teleologische Auslegung zu berücksichtigen;31 28
Robert Baumann, Der Einfluss des Völkerrechts auf die Gewaltenteilung, 2002, Rz. 338, 414 und 431; Giovanni Biaggini, Das Verhältnis der Schweiz zur internationalen Gemeinschaft, Aktuelle Juristische Praxis (AJP) 1999, 722 ff., 723 und 729; Thomas Cottier, Die Globalisierung des Rechts, Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins 1997, 217 ff., 232; Yvo Hangartner, Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, Schweizerische Juristen-Zeitung 1998, 201 ff.; Luzius Wildhaber/Stephan Breitenmoser, The Relationship between Customary International Law and Municipal Law in Western European Countries, ZaöRV 1988, 163 ff. 29 Rhinow (Anm. 6), 39, 42 f.; Rhinow/Schefer (Anm. 16), 41 f. 30 Vgl. Kurt Eichenberger, Verfassungsrechtliche Einleitung, in: Jean-François Aubert/ Kurt Eichenberger/Jörg Paul Müller/René A. Rhinow/Dietrich Schindler (Hrsg.), Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, 1996, Rz. 96 ff. 31 Villiger (Anm. 25), 415 ff.
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– die Berücksichtigung von Ziel und Zweck einer völkerrechtlichen Norm erfordert nicht nur deren theoretische, sondern vielmehr auch deren praktische und wirksame Anwendung und Umsetzung (sog. effet utile-Grundsatz);32 – bei einem Konflikt zwischen völker- und landesrechtlichen Normen ist die innerstaatliche Norm völkerrechtskonform auszulegen, und nicht umgekehrt die völkerrechtliche Regelung landesrechtskonform zu interpretieren;33 – in einem nicht durch völkerrechtskonforme Auslegung zu beseitigenden Kollisionsfall kommt der völkerrechtlichen Norm Vorrang vor der innerstaatlichen Regelung zu;34 – Behörden und Gerichte haben die Rechtsprechung internationaler Gerichte und Schiedsgerichte zu beachten, was – im Fall vergleichbarer Sachverhalte und Rechtsfragen – deren Präjudizienwirkung stärkt;35 – bei einer innerstaatlichen Interessen- und Rechtsgüterabwägung etwa bei Fragen von Grundrechtseingriffen, bei Ermessensentscheiden oder bei der Bestimmung des Inhalts des nationalen ordre public sind die in völkerrechtlichen Normen und Präjudizien anerkannten Allgemeininteressen auch im nationalen Recht als öffentliche Interessen zu berücksichtigen;36 – bei Verstößen nationaler Instanzen gegen justiziable, d.h. als self-executing qualifizierte Völkerrechtsnormen muss ein – sowohl mit Bezug auf die zulässigen Beschwerdegründe als auch auf die Kognition der Rechtsmittelbehörde – wirksames Beschwerderecht bestehen;37
32 Bericht des Bundesrats über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht vom 5.3.2010 (Anm. 14), 2279; Villiger (Anm. 25), 427 f. 33 Ivo G. Caytas, Vorrang des Völkerrechts im Landesrecht?, 1980, 30 ff.; Häfelin/ Müller/Uhlmann (Anm. 27), Rz. 232. 34 Albert Bleckmann, Völkerrecht, 2001, 312 ff. Zum grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts vgl. oben B. II. 35 Bleckmann (Anm. 34), 311; Schorkopf, in diesem Tagungsband. 36 Bleckmann (Anm. 34), 315. 37 Vgl. das Recht auf eine wirksame Beschwerde wegen Verletzung von EMRKRechten gemäß Art. 13 EMRK; Rainer J. Schweizer, Kommentierung von Art. 13 EMRK, in: Wolfram Karl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 4. Lieferung 2000, Rz. 57 ff. Die Bundesverfassung enthält nunmehr mit dem vor kurzem in Kraft getretenen Art. 29a BV eine Rechtsschutzgarantie.
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– aufgrund der völkerrechtlichen Grundsätze der Staatengleichheit und der Staatensouveränität sind die Rechtsordnungen anderer Staaten zu respektieren;38 – entsprechend den in multi- und bilateralen Verträgen statuierten Kooperationspflichten haben die Staaten sowohl untereinander als auch mit den beteiligten internationalen Organisationen zusammenzuarbeiten und so letztlich zur friedlichen Weiterentwicklung des Völkerrechts beizutragen.39
2. Die Völkerrechtsfreundlichkeit von Bundesrat und Parlament In der Schweiz besteht aufgrund des sowohl auf Bundes- als auch auf kantonaler Ebene garantierten Rechts auf Einreichung von Volksinitiativen für eine Partial- oder Totalrevision der Bundesverfassung und der Kantonsverfassungen40 ein Spannungsverhältnis zwischen den Verfassungsgrundsätzen von Demokratie und Rechtsstaat. Aufgrund des Demokratieprinzips sind die Behörden nach der Einreichung einer Initiative gehalten, die Vorlage möglichst rasch und ohne Änderungen dem Volk zur Abstimmung zu unterbreiten. Da in der Schweiz mit Ausnahme des zwingenden Völkerrechts41 keine materiellen Schranken für eine Verfassungsrevision bestehen und auf Bundesebene – im Gegensatz zur kantonalen Ebene42 – eine Verfassungsgerichtsbarkeit weiterhin nicht vorhanden ist,43 sind die rechtsstaatlichen Grundsätze, insbesondere auch verfassungs- und völkerrechtlich gewährleistete Grundrechte, auf dem Weg der Verfassungsrevision
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Urteil des Bundesgerichts vom 15.7.1982 i.S. X. (nicht in der amtlichen Sammlung publiziert), Europäische Grundrechtezeitschrift (EuGRZ)1983, 435 ff. 39 Vgl. Art. 1 Abs. 3, Art. 2 Abs. 5 sowie Art. 55 und 56 UN-Charta. Bleckmann (Anm. 34), 311. 40 Das in allen Kantonen gewährte Initiativrecht auf Erlass, Änderung oder Aufhebung eines Gesetzes besteht auf Bundesebene nicht. 41 Initiativen, die zwingendes Völkerrecht verletzen, erklärt das Parlament gemäß Art. 139 Abs. 3 BV für „ganz oder teilweise ungültig“. Vgl. Yvo Hangartner/Andreas Kley, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2000, Rz. 529 ff. Zum ius cogens vgl. Ziegler (Anm. 18), Rz. 161 ff. 42 Gegenüber den Kantonen besteht eine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichts. 43 Die fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene wird teilweise dadurch relativiert, dass das Bundesgericht EMRK-widrige Bundesgesetze u.U. im Einzelfall nicht anwendet. Vgl. BGE 117 Ib 367 (369 ff.) betreffend die Vereinbarkeit einer Erbenhaftung für Strafsteuern mit Art. 6 Abs. 2 EMRK sowie unten C. I. 2.
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theoretisch aufhebbar.44 Es gelingt dem Parlament zwar meistens, angenommene Volksinitiativen, die völkerrechtliche Schwierigkeiten aufwerfen, völkerrechtskonform und unter gleichzeitiger weitgehender Berücksichtigung des Willens der Initianten umzusetzen.45 Dennoch lässt sich in den letzten Jahren eine Zunahme völkerrechtswidriger Volksinitiativen feststellen, wie die folgenden Beispiele zeigen: a) Im Jahr 1996 wurde die Volksinitiative der Schweizer Demokraten „für eine vernünftige Asylpolitik“, deren Umsetzung eine Abkehr von den international anerkannten Kerngehalten der Flüchtlings- und Menschenrechte und damit einen Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht im Sinne von ius cogens bedeutet hätte, vom Parlament auf Antrag des Bundesrats46 für ungültig erklärt.47 Die Initiative hätte u.a. den Flüchtlingsbegriff gegenüber der Genfer Flüchtlingskonvention eingeschränkt, mit der Folge, dass Staatenlose und Familienangehörige von Flüchtlingen nicht mehr als Flüchtlinge hätten anerkannt werden können; illegal eingereiste Asylbewerber hätten zudem umgehend und ohne Beschwerdemöglichkeit aus der Schweiz ausgewiesen bzw. in ihre Heimatstaaten zurückbefördert werden sollen. Der damit verbundene Verzicht auf die non-refoulement-Prüfung hätte schließlich zur Folge gehabt, dass bei diesen Asylbewerbern nicht mehr geprüft worden wäre, ob sie durch die Wegweisung bzw. Rückschaffung einer politischen Verfolgung, der Folter oder anderen ernsthaften Gefahren für Leib, Leben und Freiheit ausgesetzt würden. Aus diesen Gründen waren nach Ansicht des Bundesrats weder eine völkerrechtskonforme Auslegung noch eine Teilgültigerklärung der Initiative möglich.48 Die – damals noch ungeschriebene – materielle Schranke des zwingenden Völkerrechts fand in der Folge explizit Eingang in die neue Bundesverfassung von 1999. b) Die im Jahr 2008 vom Volk angenommene Volksinitiative „für die Unverjährbarkeit pornographischer Straftaten an Kindern“ kann zu Konflikten mit völkerrechtlichen Verfahrensgarantien insbesondere von Art. 6 EMRK führen, sofern die sich aus diesen ergebenden Anforderungen an das Beweis44
Stephan Breitenmoser, Rechtsstaatlichkeit in der Schweiz, in: Rainer Hofmann/ Joseph Marko/Franz Merli/Ewald Wiederin (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, 1996, 41 ff., 73 ff. 45 Zur Umsetzung völkerrechtswidriger Volksinitiativen vgl. Roger Nobs, Volksinitiative und Völkerrecht – Eine Studie zur Volksinitiative im Kontext der schweizerischen Aussenpolitik unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zum Völkerrecht, Diss. St. Gallen 2006, 346 ff. 46 BBl 1994 III, 1486 ff. 47 Amtl. Bull. S 1995 II, 334 ff. 48 BBl 1994 III, 1486 ff.
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verfahren und den Nachweis der Schuld im Fall einer zeitlich weit zurückliegenden Tat aufgeweicht werden.49 c) Die im Jahr 2004 angenommene Volksinitiative für die „Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter“ konnte bis anhin nicht vollumfänglich umgesetzt werden.50 Nach dem Initiativtext soll die Aufhebung einer Verwahrung nur unter restriktiven Voraussetzungen überhaupt geprüft werden dürfen, was dem in Art. 5 Abs. 4 EMRK garantierten Recht des Betroffenens, in regelmäßigen Abständen eine gerichtliche Überprüfung des Freiheitsentzugs zu erwirken,51 widerspricht. d) Weil die Volksinitiative „gegen den Bau von Minaretten“ nicht gegen zwingendes Völkerrecht verstieß, musste sie zur Abstimmung gebracht werden. Obwohl sowohl der Bundesrat als auch das Parlament auf die Verletzung der Religions- und Meinungsäußerungsfreiheit sowie des Diskriminierungsverbots hinwiesen, wurde die Initiative mit einer Mehrheit von 57,5 % der an der Abstimmung teilnehmenden Stimmbürgerinnen und Stimmbürger angenommen. Sollten Gesuche um Errichtung von Minaretten in Bauplanungsund Baubewilligungsverfahren von schweizerischen Behörden unter Verletzung vorrangiger völkerrechtlicher Grund- und Menschenrechtsgarantien abgelehnt werden, so dürfte die Schweiz wohl durch internationale Gerichte und Kommissionen wegen Verstoßes insbesondere gegen die EMRK sowie den UN-Pakt II über die bürgerlichen und politischen Rechte von 1966 verurteilt werden.52
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Tom Frischknecht, Sexualstraftaten an Kindern sollen verjähren – Volksinitiative stärkt Stellung der Missbrauchsopfer nicht, NZZ vom 15.11.2008, 18. 50 Vgl. Adrian Scheidegger, Ausgewählte Bemerkungen aus Schweizer Sicht zum Verhältnis von EMRK und strafrechtlicher Verwahrung, in: Stephan Breitenmoser u.a. (Hrsg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat – Festschrift für Luzius Wildhaber, 2007, 740 f., sowie die vor kurzem in Kraft getretenen Art. 64 a–c des Schweizerischen Strafgesetzbuchs (StGB, SR 311). 51 EGMR, Megyeri/Deutschland, Urteil vom 12.5.1992, EuGRZ 1992, 347, Rz. 22 ff. 52 So hat der UN-Menschenrechtsrat in Genf eine Resolution verabschiedet, welche die Schweiz (ohne sie namentlich zu nennen) wegen des Minarettverbots der Diskriminierung bezichtigt. Vgl. NZZ vom 26.3.2010, 12. Zu den Rechtsfragen rund um das MinarettBauverbot vgl. nun auch die Beiträge bei Andreas Gross/Fredi Krebs/Martin Schaffner/ Martin Stohler (Hrsg.), Von der Provokation zum Irrtum – Menschenrechte und Demokratie nach dem Minarett-Bauverbot, 2010.
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e) Gegenwärtig wird im Parlament über die Gültigkeit bzw. Teilgültigkeit einer Volksinitiative „für die Ausschaffung krimineller Ausländer“ diskutiert.53 Weil diese Initiative wiederum gegen das zum zwingenden Völkerrecht zählende non-refoulement-Gebot, die EMRK sowie gegen das mit der EU abgeschlossene Personenfreizügigkeitsabkommen54 verstößt, wäre der Vollzug entsprechender – insbesondere ohne Prüfung der Verhältnismäßigkeit ausgesprochener – Ausweisungen straffälliger Ausländer unzulässig. Aus diesem Grund hat die Staatspolitische Kommission des Ständerats einen direkten, völkerrechtskonformen Gegenvorschlag ausgearbeitet, der insbesondere das Willkürverbot und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.55 Diese Beispiele zeigen, dass das Verfahren für die Prüfung der Zulässigkeit von Volksinitiativen insoweit revisionsbedürftig ist, als in Zukunft nur noch über völkerrechtskonforme und damit umsetzbare Volksinitiativen abgestimmt werden soll. Im Vordergrund möglicher Revisionen stehen insbesondere die folgenden Maßnahmen: – die Erweiterung der Ungültigkeitskriterien, insbesondere durch Aufnahme der verfassungsrechtlichen Grundwerte56 sowie der völkerrechtlich gewährleisteten Grundrechte der EMRK und des UN-Pakts II als materielle Schranken bei Verfassungsrevisionen;57
53 Danach soll eine ausländische Person in jedem Fall ausgewiesen werden, wenn sie u.a. „wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts, wegen einer Vergewaltigung oder eines anderen schweren Sexualdelikts, wegen eines anderen Gewaltdelikts wie Raub, wegen Menschenhandels, Drogenhandels oder eines Einbruchsdelikts“ rechtskräftig verurteilt worden ist. 54 Im Anwendungsbereich des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 21.6.1999 (FZA, SR 0.142.112.681) ist die Weg- bzw. Ausweisung nur unter restriktiven Voraussetzungen zulässig (vgl. Art. 5 Anhang I FZA). 55 NZZ vom 3.2.2010, 12. 56 Ähnlich wie in der Ewigkeitsklausel von Art. 79 Abs. 3 GG könnten dazu etwa die Verfassungsprinzipien der Bundesstaatlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie, der Sozialstaatlichkeit und – neu – der Völkerrechtskonformität gezählt werden. 57 Damit ein solcher Verweis auf völkerrechtlich verbindliche Grundrechtskataloge wegen der raschen Betroffenheit von grundrechtlichen Schutzbereichen durch Initiativen eine taugliche Lösung sein kann, müsste eine entsprechende Verfassungsbestimmung wohl eine Eingrenzung auf den Schutz der grundrechtlichen Kernbereiche vorsehen. Vgl. Markus Schefer, Die Kerngehalte von Grundrechten – Geltung, Dogmatik, inhaltliche Ausgestaltung, 2001.
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– die Prüfung der rechtlichen Zulässigkeit und damit auch der Völkerrechtskonformität von Initiativen durch Verwaltungsbehörden oder eine unabhängige Expertenkommission bereits vor der Unterschriftensammlung58 oder dann durch das Bundesgericht nach dem Zustandekommen einer Initiative; – die obligatorische Ausarbeitung eines Gegenentwurfs zu völkerrechtswidrigen Initiativen durch den Bundesrat und das Parlament; – die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene durch das Bundesgericht, welches über eine reiche Erfahrung bei der Gültigkeitsprüfung von kantonalen Volksinitiativen hat, oder – der Wechsel vom Monismus zum Dualismus. Einen Wechsel zum Dualismus schließt der Bundesrat in einem neuen Bericht über das Verhältnis zwischen Völker- und Landesrecht jedoch erneut und unmissverständlich aus, da sich das monistische System in langer Tradition bewährt habe.59
3. Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Bundesgerichts Im Rahmen seiner Rechtsprechung zum Monismus60 und zur unmittelbaren Anwendung staatsvertraglicher Normen61 erweist sich die für die übrigen Bundesund kantonalen Gerichte maßgebende Rechtsprechung des Bundesgerichts insbesondere mit Bezug auf die völkerrechtskonforme Auslegung von Bundesgesetzen62 als ausgesprochen völkerrechtsfreundlich. Danach ist das innerstaatliche Recht 58
Eine z.B. aus Verfassungsexperten, Bundesrichtern und Parlamentsangehörigen zusammengesetzte Kommission könnte in einem diskursiven Verfahren den Initianten die Möglichkeit zur Anpassung ihres Initiativtextes geben. Zudem könnten Zulassungsentscheide allenfalls an das Bundesgericht weitergezogen werden. 59 Bericht des Bundesrats über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht vom 5.3.2010 (Anm. 14), 2320 f. Der Bundesrat beabsichtigt zudem, einen Bericht zur Frage auszuarbeiten, wie Konflikte zwischen Volksinitiativen und völkerrechtlichen Verpflichtungen künftig besser vermieden werden können. 60 Vgl. BGE 88 I 86 (90 f.), 94 I 669 (672), 105 II 49 (57 f.), 120 Ib 360 (366), 122 II 234 (237). 61 Vgl. BGE 98 Ib 385 (387) = Pra 1973 Nr. 88 285 (286), 126 I 240 (242), 133 I 286 (291). 62 Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und der Bundesverfassung kann vom Bundesgericht wegen der eingeschränkten Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz (Art. 190 BV) nicht überprüft werden, und der Vorrang von Staatsverträgen gegenüber kantonalem und kommunalem Recht stützt sich auf den Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV).
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zur Vermeidung eines Widerspruchs mit dem Völkerrecht im Zweifel stets völkerrechtskonform auszulegen.63 Einer völkerrechtskonformen Auslegung des schweizerischen Rechts sind jedoch Grenzen gesetzt, wenn das Völkerrecht sich außerhalb des noch möglichen Wortsinns der innerstaatlichen Norm bewegt, d.h. wenn – wie im PKK-Urteil des Bundesgerichts64 – ein unüberbrückbarer Widerspruch zwischen Völker- und Landesrecht besteht. In solchen Fällen ist dann gleichwohl über den Vorrang einer Norm zu entscheiden,65 was dem Bundesgericht in seiner wechselvollen Rechtsprechung jedoch nicht durchwegs gelungen ist: a) Zu Beginn seiner Rechtsprechung räumte das Bundesgericht einem älteren Staatsvertrag Vorrang vor einem neueren Bundesgesetz ein, da bei Erlass des Bundesgesetzes der Vertrag nicht gekündigt worden sei (pacta sunt servanda).66 b) In einem einzelnen, späteren Entscheid verneinte das Bundesgericht den grundsätzlichen Vorrang des Staatsvertragsrechts unter Berufung auf den Grundsatz lex posterior derogat legi priori.67 c) Unter erneuter Zubilligung des Vorrangs des älteren Staatsvertrags kehrte das Bundesgericht zu seiner ursprünglichen Praxis mit der Begründung zurück, „… dass der Bundesgesetzgeber durch den Erlass des Postverkehrsgesetzes die völkerrechtlichen Verpflichtungen, die ihm aus dem Vertrag von 1879 erwachsen sind, nicht verletzen und die freie Schifffahrt auf dem Rhein zwischen Neuhausen und Basel stillschweigend vorbehalten wollte“.68 d) In einem Konfliktsfall zwischen einem älteren Auslieferungsgesetz und einem neueren Auslieferungsvertrag mit den USA räumte das Bundesgericht letzterem den Vorrang ein.69
63 Die völkerrechtsfreundliche Auslegung wird herkömmlich als Teilgehalt insbesondere der systematischen Auslegung qualifiziert, ist jedoch richtig besehen Teil der Rechtsvergleichung, die angesichts ihrer zunehmenden Bedeutung und auch zu ihrer Verstärkung als „fünfte“ Auslegungsmethode bezeichnet werden kann. Vgl. Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Auflage 2009, 5; Ernst Kramer, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2010, 252 f. m.w.N. Zur Europarechtsfreundlichkeit des Schweizer Rechts als Teilaspekt der Völkerrechtsfreundlichkeit vgl. unten C. III. 64 BGE 125 II 417 (424). Dazu unten B. III. 3. f). 65 BGE 94 I 66 (669), 99 Ib 39 (43), 117 Ib 367 (373), 128 IV 201 (205). 66 BGE 7, 774 (782 f.), 18, 189 (193), 20, 52 (57), 21, 705 (710), 22, 1025 (1030), 35 I 594 (596), 48 II 260 (261). 67 BGE 59 II 331 (337 f., Urteil i.S. Steenworden). 68 BGE 94 I 669 (679 f., Urteil i.S. Frigerio). 69 BGE 97 I 372 (375, Urteil i.S. Grosby).
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e) In einem von der Lehre einhellig kritisierten Urteil aus dem Jahr 197370 wich das Bundesgericht in einem Konfliktsfall zwischen dem bilateralen Niederlassungsvertrag zwischen der Schweiz und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie von 1875 und einem allgemeinverbindlichen Bundesbeschluss über den Grundstückserwerb durch Ausländer von 1973 vom Vorrang des Völkerrechts vor Bundesgesetzen ab und stellte den bis heute unter der Bezeichnung „Schubert-Rechtsprechung“ zusammengefassten Grundsatz auf, dass ein neueres Bundesgesetz in jenen Ausnahmefällen einem älteren Staatsvertrag vorgehe, in denen der Gesetzgeber bei dessen Erlass bewusst in Kauf genommen habe, dass das von ihm erlassene Landesrecht dem Völkerrecht widerspreche.71 f) Nachdem das Bundesgericht diese – von der Lehre abgelehnte – Ausnahme vom Vorrang des Völkerrechts vor Bundesgesetzen im Falle des bewussten Abweichens des Gesetzgebers vom Völkerrecht wiederholt bekräftigt hatte,72 ließ es im neueren PKK-Urteil73 nun ausdrücklich offen, ob diese SchubertRechtsprechung auch bei Konflikten mit internationalen Menschenrechtsnormen gilt. In diesem Urteil sprach sich das Bundesgericht unter Verweis auf den Grundsatz pacta sunt servanda für den Vorrang der Rechtsweggarantie von Art. 6 EMRK gegenüber einem gesetzlich vorgesehenen Beschwerdeausschluss aus. Das Bundesgericht betonte dabei, dass sich der Vorrang des Völkerrechts umso mehr aufdränge, „… wenn sich der Vorrang aus einer völkerrechtlichen Norm ableitet, die dem Schutz der Menschenrechte dient“.74 g) Bereits vor dem PKK-Urteil hatte sich das Bundesgericht allgemein für den Vorrang der EMRK gegenüber Bundesgesetzen ausgesprochen,75 und nach dem Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung hatte es – neben seiner bisherigen Rechtsprechung zum Verhältnis zwischen Völker- und Landes-
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Vgl. bereits Luzius Wildhaber, Bemerkungen zum Fall Schubert betreffend das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht, 1974, 195 ff. 71 BGE 99 Ib 39 (43 ff., Urteil i.S. Schubert) = Pra 1973 (Nr. 106) 291 (292 f.). 72 BGE 111 V 201 (203), 112 II 1 (13), 118 Ib 277 (281). 73 BGE 125 II 417 (425). 74 BGE 125 II 425. Das Bundesgericht hat diese neue Rechtsprechung in einem aktuellen Urteil betreffend der EMRK-widrigen Verweigerung einer Namensänderung grundsätzlich bestätigt, obgleich es ihr die Anwendung im konkreten Fall versagte, vgl. Urteil des Bundesgerichts 5A 712/2009 v. 25.1.2010, E. 3.3. 75 BGE 117 Ib 367 (371 ff.), 122 II 485 E 3e (nicht amtlich publiziert; zitiert in: Kälin/ Epiney/Caroni/Künzli [Anm. 16], 107 f.).
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recht76 – wiederholt bestätigt, dass vor allem völkerrechtliche Normen zum Schutz der Menschenrechte dem Landesrecht vorgehen.77 Ein anschauliches Beispiel der völkerrechtsfreundlichen Rechtsprechung des Bundesgerichts ist schließlich auch seine Praxis zur sog. bedingten Rechtshilfe.78 Es handelt sich um die Verknüpfung der nachgesuchten Rechtshilfe, insbesondere der Auslieferung einer Person, mit der Einholung spezifischer Zusicherungen vom ersuchenden Staat zur Gewährleistung der Grundrechte. Die bedingte Rechtshilfe stellt einen Ausweg aus dem Konflikt zwischen der völkerrechtlichen Pflicht zur Gewährung von Rechtshilfe79 einerseits und zum Schutz der Grundrechte der Betroffenen andererseits dar.80 Damit wird bei ernsthaften Zweifeln über die Einhaltung von grundrechtlichen Mindeststandards in dem um Rechtshilfe ersuchenden Staat verhindert, dass die Gewährung von Rechtshilfe gänzlich zu verweigern wäre.81 Gehört der ersuchende Staat der EMRK an und besteht damit ein Rechtsweg an den EGMR, legt das Bundesgericht bei der Frage, ob entsprechende Garantien einzuholen sind, einen milderen Maßstab an, so dass insofern eine Privilegierung der EMRK-Vertragsstaaten besteht.82 76
BGE 126 IV 236 (248). BGE 128 III 113 (116), 128 IV 201 (205 f.). 78 Zur bedingten Auslieferung vgl. Committee on Extradition and Human Rights, Third Report of February 1998, in: The International Law Association, Report of the sixty-eight conference, The International Law Association, 1998, 132 ff., 141 ff. 79 Entsprechende Pflichten sind u.a. in den Auslieferungs- und Rechtshilfekonventionen des Europarats sowie in bilateralen Auslieferungs- und Rechtshilfevertragen statuiert. 80 Der ausliefernde Staat ist gemäß der Soering-Rechtsprechung des EGMR u.U. für vorhersehbare Grundrechtsverletzungen im ersuchenden Staat verantwortlich. Vgl. EGMR, Soering/Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7.7.1989, A/161, EuGRZ 1989, 314. Im Vordergrund stehen das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung gemäß Art. 3 EMRK sowie das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren nach Art. 6 EMRK. Vgl. Stephan Breitenmoser, Das Risiko von Grundrechtsverletzungen im Recht der internationalen Amtsund Rechtshilfe, in: Thomas Sutter-Somm/Felix Hafner/Gerhard Schmid/Kurt Seelmann (Hrsg.), Risiko und Recht, Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 2004, 2004, 245 ff. 81 Vgl. BGE 123 II 511 E. 4–8 betreffend die Auslieferung an Kasachstan und nun das Urteil des Bundesstrafgerichts i.S. A. et al./Bundesanwaltschaft vom 23.2.2010, RR.2009. 26–31, E. 6.4.2., wo die Gewährung von bedingter Rechtshilfe an den Iran grundsätzlich abgelehnt wurde, weil sich die Gefahr von Grundrechtsverletzungen durch die Einholung von Zusicherungen nicht hinreichend minimieren lasse. Zur Europarechtsfreundlichkeit der Rechtsprechung des Bundesgerichts betreffend die Auslieferung und die Rechtshilfe vgl. unten C. III. 82 Urteil des Bundesgerichts 1C 149/2010 vom 12.4.2010, E. 1.3. Vgl. jedoch BGE 134 IV 156 E. 6 mit Bezug auf die Auslieferung an Russland, wo, wie das Urteil feststellt, regelmäßig grundrechtswidrige Haftbedingungen herrschen. Das Bundesgericht erachtete 77
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C. Geltung und Anwendbarkeit des Europarechts in der Schweiz Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Schweizer Rechts kommt gerade auch in seiner Europarechtsfreundlichkeit zum Ausdruck, die sich mit der langjährigen und aktiven Mitwirkung der Schweiz im Europarat83 und der zunehmenden vertraglichen Verflechtung mit der EU weiter verfestigt.
I. Die Schweiz als Mitglied des Europarats 1. Stellung und Bedeutung der Europarats-Konventionen in der Schweiz Die seit 1963 währende Mitgliedschaft beim Europarat ist für die Schweiz von erheblicher Bedeutung, ermöglicht es ihr doch die Teilnahme an einem europäischen Rechtsraum mit gemeinsamen Standards und einheitlichen Kooperationsmechanismen.84 Das vom Europarat als intergouvernementale Organisation ausgearbeitete und den Mitgliedstaaten sowie teilweise auch weiteren Staaten zum Beitritt offen stehende Vertragsrecht umfasst gegenwärtig über 200 Konventionen,85 wovon die Rechtsakte zur Auslieferung und zur Rechtshilfe in Strafsachen in der Praxis besonders bedeutsam sind.86 Die Schweiz ist mittlerweile über 100 Konventionen des Europarats, die aufgrund des Monismus mit der Ratifikation Bestandteil der Schweizer Rechtsordnung gedie Auslieferung zwar als zulässig, formulierte jedoch zugleich präzise Anforderungen an die einzuholenden Garantien. 83 Die Schweiz führte vom November 2009 bis Mai 2010 den Vorsitz im Ministerkomitee. Ein von ihr gesetzter Schwerpunkt war die Sicherstellung eines wirksamen Grundrechtsschutzes und damit auch die Entlastung des EGMR. Hierzu organisierte sie am 18./19. Februar 2010 eine Konferenz in Interlaken, an welcher in einer einstimmig verabschiedeten Erklärung ein weitreichendes Programm zum Abbau der hängigen Beschwerden mit einem konkreten Zeitplan verabschiedet werden konnte. Vgl. Erklärung von Interlaken vom 19.2.2010, abrufbar unter: http://www.eda.admin.ch/etc/medialib/downloads/edazen/topics/ europa/euroc.Par.0133.File.tmp/final_en.pdf. 84 Vgl. dem Außenpolitischen Bericht 2009 des Bundesrats vom 2.9.2009, BBl 2009, 2008 ff. 85 Vgl. die Übersicht bei Stephan Breitenmoser/Boris Riemer/Claudia Seitz, Praxis des Europarechts – Grundrechtsschutz, 2006, 177 ff. 86 Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20.4.1959 (EUeR, SR 0.351.1); Europäisches Auslieferungsübereinkommen vom 13.12.1957 (EAUe, SR 0.353.1). Beide Übereinkommen sind durch Zusatzprotokolle ergänzt worden.
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worden sind, beigetreten.87 Vom Bundesrat zwar unterzeichnet, vom Parlament jedoch nicht ratifiziert worden ist die Europäische Sozialcharta aus dem Jahr 1961.
2. Stellung und Bedeutung der EMRK in der Schweiz Im Schweizer Rechtsalltag hat die EMRK mittlerweile einen wichtigen Platz eingenommen.88 Die Schweiz hat die EMRK89 1974 ratifiziert und ist seither den meisten Zusatzprotokollen beigetreten. Aus innenpolitischen Gründen nicht ratifiziert hat sie bis anhin namentlich das Erste Zusatzprotokoll (ZP), welches das Recht auf Achtung des Eigentums, auf Bildung sowie auf freie und geheime Wahlen enthält,90 sowie das Zwölfte ZP mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot. Die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR haben in den letzten Jahrzehnten in der Schweiz zunehmend an Bedeutung gewonnen und weite Bereiche des Schweizer Rechts maßgebend beeinflusst.91 So enthält der Grundrechtskatalog der neuen Bundesverfassung von 1999 teils nahezu gleichlautende Garantien, was die 87 Vgl. den Außenpolitischen Bericht 2009 des Bundesrats vom 2.9.2009, BBl 2009, 2008 ff., 64 ff. Der Bundesrat publiziert in regelmäßigen Abständen einen Bericht über den Stand der Ratifikationen und die Prioritäten in Bezug auf den Beitritt zu weiteren Rechtsakten des Europarats. Vgl. Neunter Bericht über die Schweiz und die Konventionen des Europarats vom 21.5.2008, BBl 2008, 4533 ff. 88 Heinz Aemisegger, Zur Umsetzung der EMRK durch das Bundesgericht, in: Stephan Breitenmoser/Bernhard Ehrenzeller (Hrsg.), EMRK und die Schweiz, 2010, 45 ff. m.w.N. Die EMRK ist in der Schweiz direkt anwendbar. Zur innerstaatlichen Anwendbarkeit der EMRK vgl. Jörg Polakiewicz, The Status of the Convention in National Law, in: Robert Blackburn/Jörg Polakiewicz (Hrsg.), Fundamental rights in Europe – The European Convention on Human Rights and its Member States, 2001, 36 ff. 89 Zum Verhältnis der EMRK-Grundrechte zum innerstaatlichen Recht vgl. oben B. III. 3. g). 90 Einer der Hauptgründe für die Nichtratifikation des Ersten ZP war die Befürchtung der kantonalen Erziehungsdirektoren, ein Beitritt könnte indirekt zu einer Vereinheitlichung des föderalistischen Bildungswesens führen. Vgl. Mark E. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), 2. Aufl. 1995, 25. Gegenwärtig beruht die fehlende Ratifizierung insbesondere auf Unsicherheiten über die Auswirkungen, welche die extensive, teils auch Sozialleistungen umfassende Auslegung des Eigentumsbegriffs in der Rechtsprechung des EGMR in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot nach Art. 14 EMRK haben könnte. Vgl. Neunter Bericht über die Schweiz und die Konventionen des Europarats vom 21.5.2008, BBl 2008, 4543. 91 Vgl. Arthur Haefliger/Frank Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, Die Bedeutung der Konvention für die schweizerische Rechtspraxis, 2. Aufl. 1999, 435 ff.
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Berücksichtigung der entsprechenden Rechtsprechung des EGMR erleichtert.92 Das Bundesgericht bezieht die Rechtsprechung des EGMR regelmäßig und in umfassender Weise in seine Entscheidungsfindung ein. Dies äußert sich u.a. darin, dass es bei der Konkretisierung von Grundrechten der BV oft die Praxis des Straßburger Gerichtshofs zu den entsprechenden EMRK-Garantien hinzuzieht.93 Auch prüft es im Falle eines Konflikts einer schweizerischen Norm mit einem EMRK-Recht jeweils, ob das Landesrecht im Sinne der betroffenen Konventionsbestimmung ausgelegt werden kann.94 Dabei stützt das Bundesgericht seine konventionsfreundliche Rechtsprechung maßgeblich auf die Auslegung, welche die zu beachtende Bestimmung durch den EGMR erfahren hat.95 Vermag eine konventionskonforme Auslegung einen Normenkonflikt nicht zu lösen, wendet das Bundesgericht einen innerstaatlichen Erlass mitunter nicht an, wie dies im PKKUrteil geschah,96 wo es trotz eines bundesgesetzlichen Beschwerdeausschlusses unmittelbar gestützt auf Art. 6 EMRK auf die Beschwerde gegen die Einziehung und Vernichtung von Propagandamaterial eintrat.97 Erhebliche praktische Auswirkungen hatten das Recht auf Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK und die dazugehörige Rechtsprechung des EGMR auf das Schweizer Ausländerrecht.98 Da ausländerrechtliche Maßnahmen nach der Konventionsrechtsprechung i.d.R. Eingriffe in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK darstellen, haben die zuständigen Behörden die in Art. 8 Abs. 2 EMRK vorgesehenen Schranken zu wahren, was bedeutet, dass das Grundrechtsinteresse der Betroffenen an der Wahrung ihres Privat- und Familienlebens gegen die entgegenstehenden öffentlichen Fernhalteinteressen abzuwägen ist.99 Das Bundes-
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Als Beispiel zu erwähnen ist das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK, welches nunmehr in Art. 13 Abs. 1 BV nahezu wortgleich verankert ist. 93 Haefliger/Schürmann (Anm. 91), 488. 94 BGE 122 I 18 (20), 123 IV 236 (248 f.). 95 So hat sich das Bundesgericht bei der Bestimmung der Tragweite von Art. 6 EMRK eng an die Rechtsprechung des EGMR angelehnt; BGE 122 II 464 (466 m.w.N.) betreffend den Entzug eines Führerausweises. 96 BGE 125 II 417 (420 ff.). Zum PKK-Urteil vgl. auch oben B. III. 3. 97 Tschannen (Anm. 27), Rz. 32. Diese Praxis beruht auch auf dem Bestreben, eine vorhersehbare Verurteilung der Schweiz durch den EGMR zu vermeiden. 98 Zur ausländerrechtlichen Rechtsprechung des EGMR im Rahmen von Art. 8 EMRK vgl. Breitenmoser/Riemer/Seitz (Anm. 85), 63 ff. 99 EGMR, Bouchelkia/Frankreich, Urteil vom 29.1.1997, Rec. 1997-I, 65, Rz. 49 ff.
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gericht hat hierzu eine reichhaltige Praxis entwickelt,100 welche in den Grundzügen in der Ausländergesetzgebung kodifiziert worden ist.101 Die erwähnten Beispiele veranschaulichen, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichts – ungeachtet der fehlenden europarechtlichen Bezüge in der neuen Bundesverfassung102 – als sehr europarechtsfreundlich bezeichnet werden kann und als solche einen bedeutenden Anwendungsfall der völkerrechtskonformen Auslegung darstellt.103 Abgesehen vom Ausländerrecht sind in zahlreichen weiteren Bereichen Erlasse an die Anforderungen der EMRK angepasst worden, wie z.B. zur Gleichberechtigung der Ehegatten im Namensrecht.104 Des Weiteren trugen die Verfahrensgarantien der EMRK zur Verstärkung der Verfahrenrechte insbesondere in Straf- und Verwaltungsverfahren bei. So führte die vom EGMR auf verwaltungsrechtliche Bereiche ausgedehnte105 Garantie des Zugangs zu einem Gericht bei einer strafrechtlichen Anklage oder bei Betroffensein von sog. civil rights nach Art. 6 EMRK sowie das in Art. 13 EMRK festgehaltene Recht auf eine wirksame Beschwerde wegen Konventionsverletzung zur Erweiterung der Zuständigkeiten der Verwaltungsgerichte namentlich auf Rechtsstreitigkeiten aus öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnissen106 und nun auch zur verfassungsrechtlichen Verankerung einer umfassenden gericht-
100 Vgl. bereits BGE 109 Ib 183 (186); Breitenmoser (Anm. 9), Rz. 25 ff.; Peter Uebersax/Nora Refaeil/Stephan Breitenmoser, Die Familienvereinigung im internationalen und schweizerischen Flüchtlingsrecht, in: Schweizer Asylrecht, EU-Standards und internationales Flüchtlingsrecht – Eine Vergleichsstudie, 2009, 512 ff. 101 Vgl. die Regelung des Familiennachzugs in Art. 42 ff. des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer vom 16.12.2005 (AuG, SR 142.20). 102 Vgl. oben B. I. 103 Zur völkerrechtskonformen Interpretation als eigenständige Auslegungsmethode vgl. oben B. III. 3. 104 EGMR, Burghartz/Schweiz, Urteil vom 22.2.1994, A/280-B, Rz. 24 ff. In casu verwehrten es die Schweizer Behörden und Gerichte einem Ehemann, seinen Namen dem als Familiennamen gewählten Namen der Frau voranzustellen, was gemäß dem EGMR das Diskriminierungsverbot nach Art. 14 EMRK verletzte, welches aufgrund der Betroffenheit des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK anwendbar war. Die Schweiz änderte in der Folge das Namensrecht dergestalt ab, dass auch der Ehemann seinen Namen dem zum Familiennamen bestimmten Namen der Ehefrau voranstellen kann. 105 Zur Tragweite von Art. 6 EMRK vgl. Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, 332 ff. 106 Vgl. EGMR, Vilho Eskelinen u.a./Finnland, Urteil GrK vom 19.4.2007, Rec. 2007IV, Rz. 39 ff.
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lichen Rechtsweggarantie,107 die auch grundrechtsrelevante Realakte umfasst.108 Vor dem Hintergrund von Art. 5 Abs. 3 EMRK entscheiden nun in allen Kantonen richterliche Behörden über die Anordnung oder Rechtmäßigkeit von Untersuchungshaft.109 Mit der Stärkung der Verfahrensrechte ging auch die Schaffung klarer und präziser Rechtsgrundlagen für Eingriffsmaßnahmen in grundrechtliche Schutzbereiche einher. Aufgrund der Rechtsprechung des EGMR, welcher für Eingriffe in Konventionsgarantien eine hinreichend präzise, voraussehbare und zugängliche Rechtsgrundlage voraussetzt,110 sind mit Bezug auf Zwangs- und Überwachungsmaßnahmen im Rahmen von Strafverfahren zahlreiche Erlasse entsprechend revidiert worden.111 Diese vom EGMR vorgenommene Konkretisierung des Eingriffserfordernisses der gesetzlichen Grundlage findet nun auch in der Rechtsprechung der Schweizer Gerichte zunehmend Berücksichtigung.112 Die vorstehenden Beispiele machen deutlich, dass die EMRK im Schweizer Rechtsdenken einen „festen Platz“113 eingenommen hat, woran auch vereinzelte Rufe nach einer Kündigung der Konvention nichts ändern können.114
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Art. 29a BV. Danach hat jede Person bei Rechtsstreitigkeiten einen Anspruch auf Beurteilung durch eine richterliche Behörde, der nur „in Ausnahmefällen“ durch Gesetz ausgeschlossen werden darf. Vgl. Botschaft des Bundesrats zur Totalrevision der Bundesrechtspflege vom 28.2.2001, BBl. 2001, 4202 ff., 4216 f. 108 Vgl. BGE 130 I 369 (379) betreffend Verweigerung des Zugangs eines Journalisten zum WEF, welche das Gericht als bloßen Realakt qualifizierte, gegen den jedoch aufgrund von Art. 13 EMRK eine wirksame Beschwerdemöglichkeit bestehen müsse. 109 Daniela Thurnherr, The Reception Process in Austria and Switzerland, in: Helen Keller/Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights – The Impact of the ECHR on National Legal Systems, 2008, 351 ff. Vgl. nun Art. 18 der auf den 1. Januar 2011 in Kraft tretenden Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO) vom 5.10.2007 (BBl 2007, 6977), der ein Zwangsmaßnahmengericht vorsieht. 110 Vgl. etwa EGMR, Kopp/Schweiz, Urteil vom 25.3.1998, Rec. 1998, Rz. 62 ff., wo die fehlende Bestimmtheit und Klarheit der anwendbaren innerstaatlichen Rechtsgrundlagen zur Telefonüberwachung als Verstoß gegen Art. 8 EMRK qualifiziert wurde. 111 Vgl. nun die detaillierte bundesweite Regelung in Art. 269 ff. StPO. 112 Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Swisscom/Wettbewerbskommission WEKO, Urteil vom 24.2.2010, mit Bezug auf die neuartigen Erwägungen zu Art. 6 und 7 EMRK im Zusammenhang mit kartellrechtlichen Bußenverfahren. 113 Haefliger/Schürmann (Anm. 91), 442, welche dies u.a. auf den Monismus und die lange Tradition im Umgang mit Grundrechten zurückführen. 114 So wurde beispielsweise ein Antrag von Ständerat Danioth auf Kündigung der EMRK im Jahr 1988 vom Ständerat mit einem Stimmenverhältnis von 16:15 nur knapp abgelehnt. Vgl. Amtl. Bull. S 1988, 554; Müller/Wildhaber (Anm. 18), 626 f.
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II. Die Schweiz als Nicht-Mitglied der EU Ein erster und insbesondere wirtschaftlich gesehen wichtiger Meilenstein115 in den vertraglichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU war das Freihandelsabkommen von 1972,116 welches – nach dem Beitritt aller übrigen EFTAMitglieder zur EU oder zum EWR – als einziges Handelsabkommen zwischen einem EFTA-Staat und der EU noch in Kraft steht. Das Freihandelsabkommen beseitigt vor allem die Zölle für Industrieprodukte, beinhaltet jedoch keine Teilnahme an der EU-Zollunion, weshalb an der Schweizer Grenze trotz der nunmehr erfolgten Assoziierung der Schweiz am Schengener Recht117 nach wie vor Warenkontrollen durchzuführen sind.118 Aufgrund des Standpunkts der EU, die privilegierte Besteuerung der im Ausland erzielten Gewinne von Holding-, Gemischten und Verwaltungsgesellschaften in manchen Schweizer Kantonen verstoße als unerlaubte Beihilfe gegen das Freihandelsabkommen,119 ist dieses wieder vermehrt ins Blickfeld geraten.
1. Die sektoriellen Verträge Zur Vermeidung wirtschaftlicher Nachteile aufgrund des 1992 vom Volk beschlossenen Nichtbeitritts zum EWR120 handelte die Schweiz mit der EU – und 115 Zur Entwicklung der vertraglichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU vgl. die Übersicht bei Thomas Cottier/Matthias Oesch, Einleitung und Übersicht, in: Die sektoriellen Abkommen Schweiz-EG, Berner Tage für die juristische Praxis 2002, 1 ff. 116 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 22.7.1972 (SR 0.632.401). 117 Zur Teilnahme der Schweiz an Schengen vgl. unten C. II. 1. 118 Stephan Breitenmoser, Die globale und regionale Interdependenz des Schweizerischen Aussenwirtschaftsrechts, in: Thomas Cottier/Alwin R. Kopse (Hrsg.), Der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union: Brennpunkte und Auswirkungen, 1998, 65 ff. 119 Vgl. Thomas Cottier/René Matteotti, Der Steuerstreit Schweiz-EG: Rechtslage und Perspektiven, in: Astrid Epiney/Markus Wyssling (Hrsg.), Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht (SJER) 2006/2007, 221 ff.; Claudia Seitz, Autonomie der Regionen bei Steuerregelungen, Neuere Entwicklungen im Europäischen Beihilferecht und ihre Bedeutung für die Schweiz, Aktuelle Juristische Praxis (AJP) 2007, 415 ff., 420 ff.; Claudia Seitz/Stephan Breitenmoser, Das europäische Beihilferecht im Bereich der staatlichen Steuermassnahmen, in: Astrid Epiney/Andrea Egbuna-Joss/Markus Wyssling (Hrsg.), SJER 2005/2006, 2006, 159 ff., 170 ff. 120 Dieser trat 1994 zwischen den anderen EFTA-Mitgliedern und der EG sowie ihren damaligen Mitgliedstaaten in Kraft; EWR-Mitgliedstaaten sind heute Norwegen, Island und Liechtenstein.
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teilweise auch mit den EU-Mitgliedstaaten121 – in sieben Bereichen sektorielle Verträge zur gegenseitigen Öffnung der Märkte aus, die 1999 unterzeichnet und auf den 1. Juni 2002 in Kraft gesetzt wurden.122 Die Verträge regeln die Bereiche Personenverkehr,123 Landverkehr,124 Luftverkehr,125 technische Handelshemmnisse,126 Forschung,127 Landwirtschaft128 und öffentliches Beschaffungswesen.129 Besonders hervorzuheben ist die Einführung der Personenfreizügigkeit, die nunmehr auf die neuen EU-Mitgliedstaaten ausgedehnt worden ist,130 jedoch weiterhin Beschränkungen unterliegt: So wird die Niederlassungsfreiheit nur selbständig Erwerbenden, nicht juristischen Personen gewährt,131 und die (personenabhängige) 121
Vertragspartner der Schweiz war die damalige Europäische Gemeinschaft (EG), die – im Gegensatz zur damaligen EU – Rechtspersönlichkeit hatte, im Fall des Personenfreizügigkeitsabkommens sind auch die EU-Mitgliedstaaten Vertragsparteien, da die EG in diesem Bereich nur geteilte Kompetenzen hat. Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon tritt die – nunmehr rechtsfähige (Art. 47 EUV) – EU an die Stelle der EG (Art. 1 Abs. 3 EUV). 122 Vgl. Andreas Kellerhals/Roger Zäch, Gesamtüberblick, in: Daniel Thürer/Rolf H. Weber/Wolfgang Portmann/Andreas Kellerhals (Hrsg.), Bilaterale Verträge I & II SchweizEU, 2007, Rz. 4 ff. 123 Ebd. Zu den Grundsätzen des FZA vgl. Dieter W. Grossen/Claire de Coulon, Bilaterales Abkommen über die Freizügigkeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten, in: Thürer/Weber/Portmann/Kellerhals (Anm. 122), Rz. 25 ff. 124 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse vom 21.6.1999 (SR 0.740.72). 125 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr vom 21.6.1999 (SR 0.748.127.192.68). 126 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen vom 21.6.1999 (SR 0.946.526.81). 127 Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft andererseits vom 25.6.2007 (SR 0.420.513.1). 128 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen vom 21.6.1999 (SR 0.916.026.81). 129 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über bestimmte Aspekte des öffentlichen Beschaffungswesens vom 21.6.1999 (SR 0.172.052.68). 130 Zusatzprotokolle vom 26.10.2004 und vom 27.5.2008. 131 Vgl. EuGH, Christian Grimme/Deutsche Angestellten-Krankenkasse, Urteil vom 12.11.2009, C-351/08, 31 ff., betreffend die Versicherungspflicht eines Verwaltungsrats
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Dienstleistungsfreiheit gilt nur für die Dauer von 90 Arbeitstagen bzw. drei Monaten pro Kalenderjahr.132 Die in einer zweiten Verhandlungsrunde im Jahr 2004133 abgeschlossenen sektoriellen Verträge II – bestehend aus neun Abkommen – erweitern die im ersten Vertragspaket vorgesehene Verknüpfung völker- und integrationsrechtlicher Bereiche über das Außenwirtschaftsrecht hinaus. Dies gilt insbesondere für die Assoziierung der Schweiz an Schengen134 und Dublin135 sowie den Abschluss eines Betrugsbekämpfungs-136 und Zinsbesteuerungsabkommens137 mit der EU.138
einer deutschen Zweigniederlassung, deren Mutter eine Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts ist. 132 Ein Handwerkerbetrieb mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat kann damit in diesem zeitlichen Umfang bewilligungsfrei in der Schweiz tätig sein (Art. 5 FZA). Die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über die Erweiterung der Dienstleistungsfreiheit insbesondere auf personenunabhängige grenzüberschreitende Dienstleistungen, z.B. auf die Finanzberatung von Kunden mit (Wohn-)Sitz in EU-Staaten von der Schweiz aus, sind seit 2003 sistiert. 133 Das Interesse der Schweiz richtete sich vor allem auf die Teilnahme am Schengener Informationssystem SIS und am Dubliner Asylrechtsverfahren, während die EU insbesondere an einer Einbindung der Schweiz in das von ihr angestrebte System der grenzüberschreitenden Besteuerung von Zinserträgen und der Betrugsbekämpfung interessiert war. Vgl. Stephan Breitenmoser, Amts- und Rechtshilfe im Rahmen der „Bilateralen II“Verträge, AJP 2005, 929 ff. 134 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands vom 26.10.2004 (SAA, SR 0.360.268.1). Die Aufhebung der systematischen Personenkontrollen an den Grenzen zwischen der Schweiz und den anderen Schengen-Staaten erfolgte auf den 12.12.2008, mit Bezug auf Flüge innerhalb des Schengenraums entfielen die Kontrollen mit dem Flugplanwechsel am 29.3.2009. 135 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags vom 26.10.2004 (DAA, SR 0.142.392.68). 136 Abkommen über die Zusammenarbeit zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits zur Bekämpfung von Betrug und sonstigen rechtswidrigen Handlungen, die ihre finanziellen Interessen beeinträchtigen vom 26.10.2004 (Betrugsbekämpfungsabkommen, BBA, SR 0.351.926.81). Die EU wollte damit u.a. den Kampf gegen die Hinterziehung indirekter Steuern – insbesondere in der Form des Zigarettenschmuggels – verstärken. Vgl. Mark Pieth/Stephanie Eymann, Amts- und Rechtshilfe im Rahmen des Abkommens über die Be-
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Dadurch hat sich die Schweiz an das Recht der EU zur Amts- und Rechtshilfe einschließlich der polizeilichen Zusammenarbeit angeschlossen, das den Abbau souveränitätsbezogener Amts- und Rechtshilfeschranken und -voraussetzungen mit dem Ziel der wirksameren Bekämpfung des internationalen und organisierten Verbrechens vorsieht.139 So besteht im Rahmen des Schengener Rechts und des Betrugsbekämpfungsabkommens eine Pflicht zur Rechtshilfe auch bei Hinterziehung von indirekten Steuern, wie z.B. von Mehrwertsteuern und Zöllen.140 Zudem übernimmt die Schweiz im Rahmen des Schengener Rechts zur polizeilichen Amtshilfe auch die Grundsätze der Verfügbarkeit sowie der Gleichbehandlung inund ausländischer Polizeibehörden, womit sie den in der EU stattfindenden Paradigmenwechsel von einer völkerrechtlichen hin zu einer bundesstaatsähnlichen Zusammenarbeit nachvollzieht.141 Die mit Schengen und Dublin verbundenen Erleichterungen stellen freilich aufgrund ihrer komplexen Rechtsgrundlagen hohe Anforderungen an die Praxis.142 Insgesamt stellen diese sektoriellen Verträge I und II einen veritablen Quantensprung mit Bezug auf die Vielschichtigkeit und Komplexität der bis heute vertraglich geprägten bilateralen Beziehungen der Schweiz zur EU dar. Es handelt sich dabei um auf dem „Prinzip der herkömmlichen staatlichen Zusammenarbeit“143 beruhende, dem Völkerrecht unterstehende Staatsverträge,144 selbst wenn trugsbekämpfung zwischen der Schweiz und der EU, in: Stephan Breitenmoser/Sabine Gless/Otto Lagodny (Hrsg.), Schengen in der Praxis, Erfahrungen und Ausblicke, 2009, 343 ff. 137 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über Regelungen, die den in der Richtlinie 2003/48/EG des Rates im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen festgelegten Regelungen gleichwertig sind vom 26.10.2004 (SR 0.641.926.81). 138 Einzig gegen die beiden Assoziierungsabkommen zu Schengen und Dublin wurde das Referendum ergriffen, worauf diese von 54 % der Stimmenden angenommen wurden. 139 Breitenmoser (Anm. 133), 931 ff. 140 Art. 50 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ, ABl. L 239 vom 22.09.2000, 19); Art. 12 ff. BBA. 141 Stephan Breitenmoser, Die Grundlagen der polizeilichen Zusammenarbeit im Rahmen von Schengen, in: Breitenmoser/Gless/Lagodny (Anm. 136), 37 f., 52. 142 Zu der damit verbundenen Gefahr der Rechtsunsicherheit vgl. Markus Mohler, Schengen und die Polizei – Eine Einführung, in: Breitenmoser/Gless/Lagodny (Anm. 136), 23 f. 143 BBl 1999, 6157. 144 Stephan Breitenmoser/Michael Isler, Der Rechtsschutz im Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EG sowie den EU-Mitgliedstaaten, AJP 2002, 1004 ff.; Laura Melusine Baudenbacher, Das Personenfreizügigkeitsabkommen EUSchweiz ist doch kein Integrationsvertrag, ELR 2010, 37; Kellerhals/Zäch (Anm. 122), Rz.
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inhaltlich zahlreiche Bezüge zum acquis communautaire bestehen. Eine Ausnahme bilden die Assoziierungsabkommen von Schengen und Dublin sowie das Luftverkehrsabkommen, welche aufgrund der vertraglichen Verpflichtung zur Übernahme des weiterentwickelten Schengen- und Dublin-Besitzstands bzw. aufgrund der weitreichenden direkten Befugnisse der EU-Organe zur Überwachung der im Luftverkehrsabkommen enthaltenen Wettbewerbsregeln als teilweise integrationsrechtlich oder als sui generis bezeichnet werden können.145 Mit der weitgehenden Anbindung des schweizerischen Amts- und Rechtshilferechts an das EU-Recht hat die Schweiz jedoch auch sichergestellt, dass sie weder aufgrund der sektoriellen Verträge II noch im Rahmen von deren Weiterentwicklung Rechtshilfe bei Hinterziehung direkter Steuern zu leisten hat und sich auch nicht an dem in der EU eingeführten System des automatischen Austauschs von Bankkundendaten unter den Steuerbehörden zu beteiligen hat. Im Gegenzug hat sie sich im Zinsbesteuerungsabkommen zur teilweisen Zurückbehaltung und Ablieferung von Zinserträgen aus Kontoguthaben natürlicher Personen mit steuerlichem Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat an denselben verpflichtet.146 Die völkerrechtlich ausgestalteten sektoriellen Verträge147 sehen keine gemeinsamen Organe vor; vielmehr ist es Aufgabe der Vertragsparteien, die Verträge auf ihrem jeweiligen Gebiet umzusetzen und anzuwenden,148 weshalb auch die Gewährung von Rechtsschutz grundsätzlich in der Zuständigkeit der einzelstaatlichen Gerichte liegt.149 Als völkerrechtliche Verbindungsorgane werden sog. Gemischte 15. Zu den Auswirkungen der grundsätzlich völkerrechtlichen Rechtsnatur der sektoriellen Verträge auf deren Auslegung vgl. oben B. III. 1. 145 Zum Luftverkehrsabkommen als „partieller Integrationsvertrag“ vgl. Stephan Breitenmoser, Sectoral Agreements between the EC and Switzerland: Contents and Context, Common Market Law Review 2003, 1144 m.w.N.; Kellerhals/Zäch (Anm. 122), Rz. 21. 146 Botschaft zur Genehmigung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, einschliesslich der Erlasse zur Umsetzung der Abkommen vom 1.10.2004, BBl 2004, 5965 ff., 6204 ff. 147 Astrid Epiney/Robert Mosters/Andreas Rieder, Europarecht, Bd. 1, 2. Aufl. 2007, 24. 148 Breitenmoser (Anm. 145), 1153. Eine wichtige Ausnahme bildet das Luftverkehrsabkommen, nach dem die EU-Organe selbst befugt sind, die Einhaltung der darin festgelegten (Wettbewerbs-) Bestimmungen zu überwachen und entsprechende Maßnahmen zu treffen (vgl. Art. 11 Abs. 1 und 18 Abs. 2 des Luftverkehrsabkommens). Die EU-Kommission kann damit u.U. bei Verdacht auf eine Wettbewerbsverletzung mit grenzüberschreitender Wirkung bei einem Flugunternehmen in der Schweiz eine Hausdurchsuchung durchführen und dafür die Unterstützung der Schweizer Polizei beanspruchen. Für den Rechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Kommission ist nach Art. 20 der EuGH zuständig. Stephan Breitenmoser/Claudia Seitz, Das Beihilferecht im Luftverkehrsbereich, SJER 2003, 199 f. 149 Vgl. Breitenmoser/Isle (Anm. 144), 1003 ff.
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Ausschüsse eingesetzt, deren Aufgabe es ist, das ordnungsgemäße Funktionieren der Verträge zu überwachen, wozu insbesondere auch die Klärung von Fragen zur Auslegung und Anwendung der Verträge gehört.150 Beschlüsse haben – gemäß dem völkerrechtlichen Einstimmigkeitsprinzip – jeweils einstimmig zu erfolgen.151 Beim ersten Paket von sektoriellen Verträgen handelt es sich um statische Verträge. Die Schweiz hat den acquis communautaire nur in dem Umfang übernommen, wie er vor der Unterzeichnung der Verträge am 21. Juni 1999 bestand und in den Anhängen umschrieben ist.152 Die Änderung der in den Anhängen aufgeführten EU-Rechtsakte führt damit nicht automatisch zu einer Änderung des jeweiligen sektoriellen Vertrags, was mit dem Risiko eines Auseinanderdriftens von sektoriellem Vertragsrecht einerseits und sich in den einschlägigen Bereichen stetig weiterentwickelndem Unionsrecht andererseits verbunden ist.153 Möchte die Schweiz die Weiterentwicklung des Unionsrechts übernehmen, so muss sie dies unter Beachtung der internen schweizerischen Verfahren tun.154 Die Schweiz hat sich in den sektoriellen Abkommen jedoch verpflichtet, die im Zeitpunkt der Unterzeichnung der sektoriellen Verträge I geltende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu berücksichtigen, soweit diese in den Verträgen verwendete Begriffe des Unionsrechts betrifft.155 Was die nach der Unterzeichnung der Verträge ergangene EuGH-Rechtsprechung anbelangt, ist es Aufgabe des jeweiligen Gemischten Ausschusses, auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen für die Anwendung und Auslegung des ent150 Vgl. Art. 8 f. SAA, wonach der Gemischte Ausschuss eine einheitliche Auslegung des Besitzstands sicherzustellen hat und zu diesem Zweck die Rechtsprechung des EuGH und der schweizerischen Gerichte verfolgt. Zur Verbindlichkeit seiner Beschlüsse zur Auslegung vgl. Anm. 156. 151 Vgl. Art. 14 Abs. 1 FZA; Botschaft zur Genehmigung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, einschließlich der Erlasse zur Umsetzung der Abkommen vom 1.10.2004 (Anm. 146), 6126 ff.; Susanne Gutzwiller, Komitologie und Gemischte Ausschüsse im Rahmen der Assoziierung der Schweiz an Schengen/Dublin, in: Christine Kaddous/Monique Jametti-Greiner (Hrsg.), Bilaterale Abkommen II Schweiz – EU, 2006, 245 ff., 253 ff. 152 Vgl. Art. 16 Abs. 1 FZA. 153 So hält der EuGH – unter Hinweis auf die Ablehnung des integrationsrechtlich ausgestalteten EWR durch die Schweiz und die vom EWR abweichende Zwecksetzung des FZA – fest, dass seine Rechtsprechung zur Personenfreizügigkeit in der EU nicht ohne Weiteres auf das FZA übertragbar sei, sofern dies nicht vom Abkommen selbst vorgesehen ist. Vgl. EuGH, Christian Grimme/Deutsche Angestellten-Krankenkasse, Urteil vom 12.11.2009, C-351/08, 26 ff., sowie die Urteilsbesprechung bei Baudenbacher (Anm. 144), 36 f. 154 Damit besteht u.U. auch die Möglichkeit eines Referendums. 155 Vgl. insbes. Art. 16 Abs. 2 FZA.
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sprechenden Abkommens festzustellen.156 Unabhängig davon haben die Schweizer Behörden und Gerichte selbst die neue Rechtsprechung des EuGH in den von den sektoriellen Verträgen I erfassten Bereichen im Auge zu behalten und gegebenenfalls, d.h. bei Geltung und Anwendbarkeit des acquis communautaire in einem von den sektoriellen Verträgen betroffenen Bereich, in ihre Entscheidfindung einzubeziehen.157 Im Unterschied zu den sektoriellen Verträgen I sind die Assoziierungsabkommen zu Schengen und Dublin dynamische Verträge; die Schweiz ist verpflichtet, die Weiterentwicklungen des Schengener158 und Dubliner Besitzstands zu übernehmen.159 Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf den 1. Dezember 2009 ist der Gerichtshof der EU verstärkt auch im Bereich des Schengener Rechts zuständig, das bis anhin teilweise zum dritten Pfeiler gehörte.160 Als Gegenstück zur Pflicht zur Übernahme der Weiterentwicklungen im Dubliner und Schengener Recht verfügt die Schweiz – als Nichtmitglied der EU – über das Recht auf frühzeitige und umfassende Information sowie auf Mitsprache (sog. decision-shaping), wenn auch nicht über ein formelles Stimmrecht (kein sog. decision-making).161 Damit kann die Schweiz aber erstmals unmittelbar Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung von neuem EU-Recht nehmen, welches sie übernimmt.
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Vgl. Art. 16 Abs. 2 FZA. Tobias Jaag/Magda Zihlmann, Institutionen und Verfahren, in: Thürer/Weber/Portmann/Kellerhals (Anm. 122), Rz. 56 f. 157 Zu den Aufgaben eines Schweizer Gerichts im Geltungsbereich des Unionsrechts vgl. bereits Olivier Jacot-Guillarmod, Le juge national face au droit européen, 1993, 155 ff. 158 Die Weiterentwicklungen von Schengen umfassen insbesondere die Vereinfachung des polizeilichen Informationsaustauschs unter gleichzeitiger Verstärkung des Datenschutzes. Bislang nicht vom Rat für Schengen-relevant erklärt worden ist der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl mit seinem – traditionelle völkerrechtliche Schranken beseitigenden – Verfahren der Überstellung. 159 Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 3 SAA; Art. 1 Abs. 3 DAA. Der Schweiz steht dazu eine Umsetzungsfrist zu, die im Falle eines (möglichen) Referendums zwei Jahre beträgt (Art. 7 Abs. 2 SAA). Vgl. Astrid Epiney/Annekathrin Meier/Andrea Egbuna-Joss, Schengen/Dublin, in: Thürer/Weber/Portmann/Kellerhals (Anm. 122), Rz. 24 ff. 160 Ulrich Everling, Rechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, in: Jürgen Schwarze/Armin Hatje (Hrsg.), Der Reformvertrag von Lissabon, Europarecht Beiheft 1, 2009, 79. Entsprechende Urteile werden als Bestandteil des Schengener und Dubliner acquis auch von den Schweizer Behörden und Gerichten zu berücksichtigen sein. 161 Diese Mitwirkungsrechte sind im Gemischten Ausschuss wahrzunehmen. Vgl. Art. 4 ff. SAA.
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Während die sektoriellen Verträge I jeweils mit einer sog. Guillotine-Klausel ausgestattet sind, welche bei der Kündigung eines Abkommens zu einer automatischen Beendigung aller sieben Abkommen führt,162 wurde im Rahmen der sektoriellen Verträge II auf eine entsprechende Regelung verzichtet.163 Sind jedoch durch einen neuen Rechtsakt der EU, der eine Weiterentwicklung des Schengener oder Dubliner Besitzstands darstellt, zentrale Pfeiler des Schweizer Staatswesens, wie die direkte Demokratie, der Föderalismus oder die Neutralität betroffen, kann die Schweiz im Gemischten Ausschuss alternative Lösungsvorschläge einbringen. Erst wenn diese von der EU bzw. den EU-Mitgliedstaaten ausdrücklich abgelehnt würden, käme es zu einer automatischen Beendigung beider Assoziierungsverträge.164 Eine Ausnahme hiervon wurde im Schengener Assoziierungsabkommen für die Rechtshilfe bei Delikten im Zusammenhang mit direkten Steuern vereinbart. Für den Fall, dass die Ausdehnung der Rechtshilfepflicht über den Betrug hinaus auf die Hinterziehung direkter Steuern im Gemischten Ausschuss diskutiert wird, hat sich die Schweiz das Recht vorbehalten, die Übernahme einer solchen Weiterentwicklung gestützt auf den völkerrechtlichen Grundsatz der Einstimmigkeit abzulehnen, ohne dass das Abkommen dadurch beendet würde.165
2. Der „autonome Nachvollzug“ des EU-Rechts in der Schweiz Mit der schrittweisen Schaffung eines europäischen Binnenmarkts wuchs das Bestreben der Schweiz, der eigenen Wirtschaft den Zugang zu diesem nicht durch unnötige Rechtsunterschiede zu erschweren.166 Die Schweizer Landesregierung hat 162
Vgl. Art. 25 Abs. 4 FZA; Daniel Thürer/Carolin Hillemanns, Allgemeine Prinzipien, in: Thürer/Weber/Portmann/Kellerhals (Anm. 122), Rz. 4 ff. 163 Einzig die beiden Assoziierungsabkommen zu Schengen und Dublin sind miteinander dergestalt verbunden, dass die Kündigung des einen Abkommens auch als Kündigung des anderen gilt (Art. 17 Abs. 2 i.V.m. Art. 15 Abs. 4 SAA). 164 Art. 10 SAA, der eine Frist von zunächst 90 und dann von 30 Tagen zur Beilegung der Streitigkeit im Gemischten Ausschuss vorsieht. 165 Vgl. die Ausnahmeklausel von Art. 7 Abs. 5 lit. a SAA und die entsprechende Erklärung der Schweiz in der Schlussakte des SAA. Stephan Breitenmoser, Neue Herausforderungen für das Schweizerische Bankgeheimnis, in: Ruth Reusser/Benjamin Schindler (Hrsg.), Aus der Werkstatt des Rechts – Festschrift für Heinrich Koller, 2006, 413 f. 166 Dies u.a. vor dem Hintergrund, dass die EU nur Produkte auf ihrem Markt erlaubt, die nach den Bestimmungen des Unionsrechts oder nach gleichwertigen Regeln hergestellt worden sind. Europabericht des Bundesrats vom 28.6.2006, BBl 2006, 6815; Cottier/Oesch (Anm. 115), 2 f.; Lukas Siegenthaler, Die Einführung europäischer Gemeinschaftsnormen in das schweizerische Recht, Diss. Basel 1996, 35 f.
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deshalb 1988 beschlossen, die Schweizer Gesetzgebung, soweit sie grenzüberschreitende Bezüge hat, an das EU-Recht anzugleichen.167 Insbesondere seit der Ablehnung des EWR 1992 hat die Schweiz im Rahmen des „autonomen Nachvollzugs“, d.h. ohne völkervertragliche Verpflichtung, eine Reihe von Gesetzen an das EU-Recht angepasst.168 Betroffen sind zahlreiche Bereiche des innerstaatlichen Rechts einschließlich des Privatrechts, wie etwa der Verbraucherschutz, wo entsprechend der EU-Richtlinie zur Produktehaftpflicht ein Produktehaftpflichtgesetz169 erlassen wurde, das Arbeitsvertragsrecht mit Bezug auf die Regelung der Folgen eines Betriebsübergangs auf die Arbeitsverhältnisse,170 das Heilmittelrecht171 sowie das Markenschutz- und Urheberrecht und auch das Wettbewerbsrecht,172 nicht jedoch der Bereich der indirekten Steuern, wo die Schweiz ihren tiefen Mehrwertsteuersatz bislang beibehalten hat. Der freiwillige Nachvollzug von Unionsrecht ist mit ein Grund für die zunehmende Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH durch die schweizerischen Behörden und Gerichte in den betreffenden Bereichen.173
III. Die Europarechtsfreundlichkeit des schweizerischen Rechts Die Europarechtsfreundlichkeit des Schweizer Rechts manifestiert sich insbesondere auch im Nachvollzug von EU-Recht im Rahmen der Gesetzgebung. 167 Bericht des Bundesrats über die Stellung der Schweiz im europäischen Integrationsprozess vom 24.8.1998, BBl 1998 III, 380. 168 Dies erfolgte v.a. im Rahmen der Swisslex-Vorlage (BBl 1993 I, 805 ff.). Vgl. Carl Baudenbacher, Zum Nachvollzug europäischen Rechts in der Schweiz, Europarecht 1992, 311 ff.; Probst (Anm. 63), 231 ff.; Dietrich Schindler, Verfassungsrecht, in: Dietrich Schindler/Gérard Hertig/Jakob Kellenberger/Daniel Thürer/Roger Zäch (Hrsg.), Die Europaverträglichkeit des schweizerischen Recht, 1990, 41 f. 169 Bundesgesetz über die Produktehaftpflicht vom 18.6.1993 (Produktehaftpflichtgesetz, PrHG, SR 221.112.944); Richtlinie des Rates vom 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 25.7.1985 (ABl. L 307 vom 12.11.1988, 54). 170 Die entsprechenden Bestimmungen von Art. 333 f. OR lehnen sich an der Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen vom 14.2.1997 (Abl. L 61 vom 5.3.1977, 26) an. 171 Christoph Schmidt, Die Zulassung von Arzneimitteln nach dem Heilmittelgesetz, unter Berücksichtigung der Zulassung nach EG-Recht und nach deutschem Recht, Diss. Basel 2008, 17 ff. 172 So wurde – in Anlehnung an das EU-Wettbewerbsrecht – für schwere Wettbewerbsverstöße ebenfalls die Möglichkeit direkter Sanktionen eingerichtet (BBl 2001, 2023 ff.). 173 Kritisch Probst (Anm. 63), 256 ff.
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Dieser erfolgt teils autonom, teils – bei Weiterentwicklungen des Schengener und Dubliner Rechts – aufgrund einer völkervertraglichen Pflicht, wobei die Schweiz als Nicht-Mitglied der EU in letzterem Fall über ein Mitspracherecht im Rahmen der Entstehung neuer Schengen-relevanter Unionsrechtsakte verfügt.174 Die Berücksichtigung des Unionsrechts durch den Schweizer Gesetzgeber hat Tradition. So hat der Bundesrat bereits im Jahre 1988 beschlossen, dass „… bei Rechtsvorlagen mit grenzüberschreitenden Auswirkungen inskünftig geprüft werden soll, wieweit das geplante schweizerische Recht mit dem europäischen Recht vereinbar ist“. Seitdem enthält nahezu jede Botschaft des Bundesrats über eine Gesetzesänderung ein Kapitel zum „Verhältnis zum europäischen Recht“.175 Hinzu kommt eine zunehmende Berücksichtigung des Europarechts in der Rechtsprechung der schweizerischen Gerichte. Diese europarechtsfreundliche Haltung der Gerichte ist nicht nur der wachsenden Bedeutung der EMRK im Rechtsalltag zuzuschreiben,176 sondern auch Folge der verstärkten – wenn auch nach wie vor völkerrechtlichen – Anbindung der Schweiz an das Recht der EU. So sehen im Rahmen der sektoriellen Verträge zwischen der Schweiz und der EU insbesondere das Personenfreizügigkeitsabkommen, das Luftverkehrsabkommen und die Assoziierungsabkommen zu Schengen und Dublin die Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH ausdrücklich vor, wenn in der Anwendung dieser Abkommen Begriffe des Unionsrechts herangezogen werden.177 Mit Bezug auf die Auslegung des im Rahmen des autonomen Nachvollzugs erlassenen Rechts hielt das Bundesgericht in einem Grundsatzentscheid fest, dass auch hier die Rechtsprechung des EuGH ausdrücklich zu berücksichtigen sei.178 Es knüpft damit an seine in ständiger Praxis gepflegte Beachtung der Rechtsprechung internationaler Gericht im Rahmen der völkerrechtskonformen Auslegung an.179
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Vgl. oben C. II. 1. Bericht des Bundesrats über die Stellung der Schweiz im europäischen Integrationsprozess vom 24.8.1988, BBl 1988 III 380; Siegenthaler (Anm. 166), 36. 176 Vgl. oben C. I. 2. 177 Vgl. oben C. II. 1. 178 BGE 129 III 355 (350 ff.) betreffend die Auslegung von Art. 333 f. OR zu den Rechtsfolgen von Betriebsübernahmen für die Arbeitsverhältnisse, wobei das Bundesgericht die europarechtskonforme Auslegung autonom nachvollzogenen EU-Rechts bloß im Zweifelsfall und bei Vereinbarkeit mit der innerstaatlich geltenden Methodologie zum Tragen bringen möchte. Kritisch dazu Kramer (Anm. 63), 293 ff., wonach die europarechtskonforme Auslegung sowohl der teleologischen als auch der historischen Auslegungsmethode entspreche und deshalb vorrangig greife. Vgl. auch Probst (Anm. 63), 225 ff., 229 ff. 179 Vgl. oben B. III. 3. 175
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Die europarechtsfreundliche Rechtsprechung des Bundesgerichts kommt auch in seiner Praxis zur sog. bedingten Auslieferung und Rechtshilfe zum Ausdruck. Ist der ersuchende Staat Vertragsstaat der EMRK und besteht damit ein Rechtsweg an den EGMR, geht das Bundesgericht i.d.R. von dessen Beachtung der Grundrechte aus. Bei einem Drittstaat hingegen wird bei der konkreten Gefahr einer Grundrechtsverletzung die Rechtshilfe regelmäßig an Auflagen und Bedingungen geknüpft oder ganz verweigert.180 In seiner europarechtsfreundlichen Grundhaltung schloss sich das Bundesgericht im Fall Nada,181 in dem es die Sperre von Bankkonten eines Terrorverdächtigen aufgrund einer Resolution des UN-Sicherheitsrats zu beurteilen hatte, dem Urteil des (damaligen) Gerichts erster Instanz (EuG) im gleich gelagerten Fall Kadi182 an, wonach die völkerrechtliche Pflicht zur Umsetzung von UN-Resolutionen die Überprüfung der Kontosperre auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten grundsätzlich ausschliesse. Mit der Begründung, dass diese Auffassung das – in Art. 47 der Grundrechtecharta verankerte – Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verletze, hat der EuGH das Kadi-Urteil des EuG aufgehoben,183 und es ist wohl anzunehmen, dass der EGMR hinsichtlich des Urteils i.S. Nada zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen wird.
D. Schlussbetrachtung Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass sowohl der Schweizer Gesetzgeber als auch die Schweizer Gerichte als ausgesprochen völker- und europarechtsfreundlich bezeichnet werden können. Lehre und Praxis stützen diese Haltung u.a. auf die verschiedenen Völkerrechtsbezüge der neuen Bundesverfassung von 1999, obwohl diese weder einen allgemeinen Vorrang des Völkerrechts statuieren noch das Verhältnis zu Europa explizit ansprechen. Die Schweizer Bevölkerung hat diese Öffnung in einer Reihe von Referendumsabstimmungen gutgeheißen; wegweisend war insbesondere die deutliche Zustimmung zum UNO-Beitritt im
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Die regelmäßige Verknüpfung der Rechtshilfe mit Auflagen und Bedingungen statt ihrer Verweigerung ist Ausdruck der völkerrechtsfreundlichen Rechtsprechung des Bundesgerichts. Vgl. oben B. III. 3. c) oben. 181 BGE 133 II 450 (458 ff.). 182 EuG, Kadi/Rat und Kommission, Urteil vom 21.9.2005, T-315/01, Rz. 212 ff. 183 EuGH, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, Urteil vom 3.9.2008, C-402/05 P und C-415/05 P, Rz. 280 ff., 326 f.
Schweizer Verfassung und Völker- und Europarecht
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Jahr 2002184 und zu den sektoriellen Verträgen I und II in den Jahren 2000, 2004 und 2009. Die völkerrechtlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU selbst sind gekennzeichnet von einer schrittweisen pragmatischen und differenzierten, d.h. vom Regelungsgegenstand abhängigen Annäherung des Kleinstaats Schweiz an den europäischen Staatenverbund. Meilensteine waren das 1972 abgeschlossene Freihandelsabkommen sowie die in zwei Verhandlungsrunden 1999 und 2004 abgeschlossenen sektoriellen Verträge, die in wichtigen Bereichen einen gegenseitigen Marktzugang schaffen und die Schweiz verstärkt in den von der EU angestrebten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts einbinden. Entsprechend der Dynamik von gelebten und zukunftsoffenen Rechts- und Wirtschaftsbeziehungen eröffnen sich nun aber stets neue Bereiche, in denen sich für die Schweiz die Frage nach der Aushandlung neuer Abkommen mit der EU stellt. So betreffen die gegenwärtig laufenden Verhandlungen u.a. die Bereiche des Elektrizitätshandels und der Landwirtschaft, und künftige Verhandlungen werden u.a. die Ausweitung der Dienstleistungsfreiheit auf personenunabhängige Dienstleistungen zum Thema haben, die noch nicht durch das Personenfreizügigkeitsabkommen von 1999185 erfasst sind. Auch wenn der bilaterale Weg zweifellos als Erfolgsgeschichte gelten kann, ist er sowohl für die – nunmehr erweiterte – EU als auch für die Schweiz kompliziert und zeitraubend. Die wachsende Anzahl von sektoriellen Abkommen, die jeweils von verschiedenen Gemischten Ausschüssen verwaltet werden, erhöht diese Komplexität der rechtlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU in zunehmendem Maße. Vor diesem Hintergrund wird in der Schweiz seit längerem über die Aushandlung eines Rahmenabkommen mit der EU diskutiert, mit dem ein einheitlicher institutioneller Rahmen für das gemeinsame Vertragswerk geschaffen werden könnte.186
184 BBl 2002 3690. 1986 ist der UNO-Beitritt von den Stimmenden – u.a. aus neutralitätspolitischen Überlegungen – noch abgelehnt worden. Zum wechselvollen Verhältnis der Schweiz zur UNO vgl. Daniel Thürer, Die Schweiz und die Vereinten Nationen, in: Alois Riklin/Hans Haug/Raymond Probst (Hrsg.), Neues Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik, 1992, 328 ff.; Luzius Wildhaber, Das Schweizer Nein zu einer Vollmitgliedschaft in den Vereinten Nationen, in: Wechselspiel zwischen Innen und Aussen, Schweizer Landesrecht, Rechtsvergleichung, Völkerrecht, 1996, 220 ff. 185 Die weitgehend völkerrechtliche Natur der sektoriellen Abkommen äußert sich u.a. darin, dass nicht supranationale Behörden, sondern Gemischte Ausschüsse als intergouvernementale Organe für deren Verwaltung zuständig sind; vgl. oben C. II. 1. 186 Vgl. Art. 5 FZA sowie Art. 17 ff. Anhang I.
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Bei einer Fortführung und Vertiefung der bilateralen Vertragsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU dürfte es früher oder später zu einer Entscheidung über die Finalität der schweizerischen Europapolitik kommen. In künftigen bilateralen Verhandlungen müsste die Schweiz wegen des hohen Harmonisierungsgrads und -bedarfs in der EU ihre bisherigen völkerrechtlichen und damit souveränitätsschonenden Absicherungen wohl in vermehrtem Maße durch die Beteiligung an partiellen Integrationsstrukturen ersetzen. Dies wäre mit einer Pflicht zur Übernahme auch neuen EU-Rechts einschließlich der Rechtsprechung des EuGH verbunden. Eine solche verstärkte Teilintegration besteht gegenwärtig bereits mit der Assoziierung an Schengen und Dublin187 sowie im Bereich des Luftverkehrsabkommens188 und dürfte in Zukunft auch durch eine vermehrte Teilnahme an EU-Agenturen, wie z.B. an der Europäischen Verteidigungsagentur, erfolgen. Ein Rahmenabkommen könnte hierfür den institutionellen Rahmen schaffen und insbesondere auch ein Mitspracherecht der Schweiz bei der Ausarbeitung neuer, einschlägiger Rechtsgrundlagen normieren.189 Angesichts dieser schrittweise erfolgenden teilweisen Integration würde die These gestützt, wonach die sektorspezifischen Vertragsbeziehungen die negativen Auswirkungen des Nicht-Beitritts zum EWR für die Schweiz in durchaus gewichtigen Teilbereichen nicht bloß ausgleichen, sondern die Schweiz vielmehr auch in pragmatischer Weise einem EU-Beitritt näher bringen. Die gegenteilige, ebenfalls vertretbare These, wonach die Schweiz aufgrund ihrer bilateralen Vertragsbeziehungen nicht darauf angewiesen sei, ihre Position als Drittstaat aufzugeben und der EU beizutreten, würde dementsprechend in den Hintergrund treten. Damit würde sich der Bundesrat bestätigt sehen, der den bilateralen Vertragsverhandlungen bisher eine kurz- und mittelfristige Priorität eingeräumt hat, langfristig aber am strategischen Ziel eines EU-Beitritts festhalten möchte. In diesem Lichte stellt der bilaterale Weg von vornherein lediglich eine Zwischenlösung und keine echte Alternative zu einem EU-Beitritt dar. Dies dürfte auch für einen allfälligen Beitritt zum EWR-Abkommen gelten.190
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Vgl. oben C. II. 1. Vgl. Anm. 148. 189 Vgl. Jaag/Zihlmann (Anm. 156), Rz. 68. 190 Bei einem Beitritt zum EWR wäre die Schweiz verpflichtet, in erheblichem Umfang bisheriges und zukünftiges Unionsrecht zu übernehmen und die im Anwendungsbereich des Abkommens ergangene Rechtsprechung des EuGH und namentlich des EFTAGerichtshofs zu übernehmen. Vgl. Richard Senti, Der Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), in: Riklin/Haug/Probst (Anm. 184), 563 ff. 188
Die Offenheit der österreichischen Bundesverfassung gegenüber dem Völkerrecht und dem Europarecht Von Theo Öhlinger Völkerrechtsfreundlichkeit und Völkerrechtsskepsis sind keine gängigen Begriffe der österreichischen Verfassungsrechtslehre und noch weniger solche des positiven Verfassungsrechts.1 Aber natürlich lässt sich auch das österreichische Bundesverfassungsrecht auf die mit diesen Begriffen angesprochenen Inhalte abfragen. In anderen Worten: Es lässt sich die Frage nach der Offenheit der Bundesverfassung gegenüber dem Völkerrecht und dem Europarecht stellen. Das Ergebnis erscheint ambivalent.
A. Die Bundesverfassung von 1920 I. Die ursprüngliche Offenheit der Bundesverfassung Am Anfang steht auch in diesem Punkt – wie könnte es anders sein – Kelsen, der bekanntlich, in einer freilich etwas simplifizierenden Sicht, als Vater der österreichischen Verfassung gilt.2 Unter dem Einfluss seiner monistischen Theorie des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht wurden völkerrechtliche Verträge – in der veralteten Terminologie des Bundesverfassungsgesetzes (B-VG): „Staatsverträge“ – als Rechtsquelle auch des staatlichen Rechts etabliert, die keiner Transformation in eine staatliche Rechtsatzform bedürfen, um im innerstaatlichen Bereich verbindliche Kraft zu entfalten.3 Sofern das Parlament am
1
Als Beispiel für ihren vereinzelten Gebrauch siehe etwa A. Balthasar, Art. 145 B-VG, die verdrängte Kompetenz, Zeitschrift für öffentliches Recht (ZöR) 2009, 23 (47). 2 Dazu näher T. Öhlinger, Hans Kelsen – Vater der österreichischen Bundesverfassung, in: G. Kohl/C. Neschwara/T. Simon, Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive, 2008, 407 ff. 3 Dazu ausführlich T. Öhlinger, Der völkerrechtliche Vertrag im staatlichen Recht (1973), 94 ff.; T. Öhlinger, Art. 50 B-VG (Neubearbeitung), in: K. Korinek/M. Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Kommentar, Loseblattausgabe, 9. Lfg. 2009, Rz. 5 ff.
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Abschluss mitwirkt,4 sind solche Staatsverträge eine dem Gesetz gleichwertige Rechtsquelle.5 Angemerkt sei, dass – damit zusammenhängend – auch eine weitreichende Parlamentarisierung der „auswärtigen Gewalt“ erfolgte. Wenn ein völkerrechtlicher Vertrag eine dem Gesetz gleichwertige Rechtsquelle bildet, ist es naheliegend, auch die Modifikationen eines solchen Vertrages ähnlichen Regeln zu unterwerfen, wie sie für formelle Gesetze gelten. Es ist daher in Österreich ganz unstrittig, dass jede künftige Änderung eines vom Parlament genehmigten Staatsvertrages einer parlamentarischen Mitwirkung bedarf, auch wenn sie für sich keinen politischen oder gesetzändernden Gehalt hat. Auch ein Vorbehalt zu einem Vertrag, seine Suspendierung oder Kündigung, ein Beitritt ebenso wie ein Einspruch gegen den Beitritt eines anderen Staates, ein Rücktritt etc. bedürfen der gleichen parlamentarischen Genehmigung wie der Vertrag selbst,6 ja solche Akte können zum Teil sogar vom Parlament selbst initiiert werden.7 Gegenüber dem Völkergewohnheitsrecht hat sich die Bundesverfassung 1920 mit der Bestimmung geöffnet, dass die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts als Bestandteil des Bundesrechts gelten (Art. 9 Abs. 1 B-VG). Diese Bestimmung folgte dem Vorbild der Weimarer Verfassung, die aber ihrerseits von dem Österreicher Verdross beeinflusst war.8 Allerdings blieb es von Anfang an im Wesentlichen unbestritten, dass es dabei nicht auf eine Anerkennung auch von österreichischer Seite ankomme. Insofern wurde diese Bestimmung „offen“ und in jenem Sinn interpretiert, den das Grundgesetz erst durch die Streichung des Wortes „anerkannt“ klarstellte. Was ihren Rang betrifft, so ist dieser allerdings sehr umstritten, doch überwiegen seit jeher jene Auffassungen, die von einer Bindung auch der Gesetzgebung ausgehen.9 Die Bundesverfassung enthält seit 1920 überdies im Katalog der Kompetenzen des neu errichteten Verfassungsgerichtshofs (VfGH) auch eine Zuständigkeit 4
Art. 50 Abs. 1 B-VG (siehe unten Anm. 24). Daher gilt etwa die Satzung der Vereinten Nationen in Österreich zwar u.a. in russischer oder in chinesischer, nicht aber auch in deutscher Sprache. Auch die EMRK ist nur in ihren authentischen Fassungen Bestandteil des österreichischen (Verfassungs-)Rechts (dazu unten C. I.). 6 Näher Öhlinger (Anm. 3), Art. 50 B-VG, Rz. 14. 7 Öhlinger (Anm. 3), Art. 50 B-VG, Rz. 101. 8 Vgl. A. Verdross, Staatliches Recht und Völkerrecht. Die Stellung der neuen deutschen und österreichischen Verfassungen zum Völkerrecht, Schweizerische Juristenzeitung 1920/21, 246 ff. 9 Näher T. Öhlinger, Art. 9/1 B-VG, in: Korinek/Holoubek (Anm. 3), 5. Lfg. 2002, Rz. 22 ff. 5
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dieses Gerichtes, „über Verletzungen des Völkerrechts nach den Bestimmungen eines besonderen Bundesgesetzes (zu erkennen)“ (Art. 145 B-VG). Weil aber ein solches Bundesgesetz nie erlassen wurde, gilt diese Anordnung als bloßes, bislang nicht erfülltes Programm.10
II. Die Motive der Öffnung Die Gründe für diese relativ weite Öffnung der Bundesverfassung gegenüber dem Völkerrecht lassen sich durchaus mit jenen vergleichen, die für die Öffnung des Grundgesetzes maßgeblich waren, nur dass diese in Österreich eben schon nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte. Es sollte damit eine Wende gegenüber einem betonten Nationalismus eingeleitet werden, auch wenn Nationalismus in der Habsburger Monarchie eine etwas andere Bedeutung hatte als in dem von Preußen dominierten Deutschen Reich.11 Es sollte damit ferner die Abkehr von Kriegsverbrechen und anderen Völkerrechtsverletzungen dokumentiert werden, die den Achsenmächten, also auch Österreich, von den Siegern vorgeworfen wurden.12
III. Die Grenzen der Öffnung Die mangelnde Erfüllung einer so völkerrechtsfreundlichen Bestimmung der Bundesverfassung wie des eben zitierten Art. 145 B-VG – sie erschien den Zeitgenossen bald als eine „der Ideologie der Revolution entstammen(de)“ Regelung13 – ist freilich symptomatisch für die weitere Entwicklung. Die emphatische Öffnung der Verfassung gegenüber dem Völkerrecht in der Gründungsphase der Republik 10
A.A. nur Balthasar (Anm. 1), 23 ff. Nationalismus war vor allem ein internes Problem des Vielvölkerstaates, um das es allerdings hier nicht geht. Im Übrigen war es das Ziel der Politik der Habsburger Monarchie in den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens, die gefährdete Position als Großmacht im Konzert der europäischen Mächte einigermaßen zu wahren, und dafür wurde auch ein Krieg in Kauf genommen. Vgl. dazu F. R. Bridge, Die Außenpolitik der Donaumonarchie, in: M. Cornwall, Die letzten Jahre der Donaumonarchie, 2006, 24 ff. 12 Eine weitere, aus heutiger Sicht nur mehr anekdotische Parallele bildet die Frage der Wiedervereinigung bzw. des „Anschlusses“. H. Kelsen selbst (Österreichisches Staatsrecht, 1923, 238) betrachtete „sein“ Werk als bloßen Übergang bis zur Erfüllung des „Wunsch(es), aufzugehen im deutschen Vaterland“. Siehe dazu auch H. Kelsen, Die staatsrechtliche Durchführung des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich, ZöR 1927, 329 ff. 13 So H. Kier, Der österreichische Verfassungsgerichtshof im Rahmen der Verfassungspolitik, Schriften des Verbandes der Staatswissenschaften der Universität Graz Bd. III, 1928, 26. 11
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wurde im Alltag der Rechtsentwicklung nicht wirklich durchgehalten. Der Verfassungsgeber war dem Zeitgeist anscheinend zu weit vorausgegangen. Gerichte und Verwaltungsbehörden hatten offensichtliche Schwierigkeiten mit der doch ganz anderen Sprache völkerrechtlicher Verträge und wendeten diese in der Praxis nicht annähernd in dem Ausmaß an, den der Verfassungstext eigentlich erwarten ließ. Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts spielten in der Rechtspraxis kaum eine Rolle.14
B. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen und Organe fremder Staaten Was speziell völkerrechtliche Verträge betrifft, so wurde ein anderes Erbe des Kelsenianischen Positivismus wirksam, nämlich die Reduktion des Verfassungsverständnisses auf seine formale Komponente: die für die Erzeugung von Verfassungsrecht erforderliche qualifizierte parlamentarische Mehrheit (zwei Drittel der abgegebenen Stimmen bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten). Verfassungsrecht ist nichts anderes als die Summe jener gesetzlichen Regelungen, die auf diese Weise beschlossen und ausdrücklich als Verfassungsrecht gekennzeichnet worden sind.15 Das kann neben der Verfassungsurkunde (Bundes-Verfassungsgesetz – B-VG) in speziellen Bundesverfassungsgesetzen (BVG), aber auch im Kontext einfacher Gesetze und konnte bis zur B-VGNovelle 200816 auch im Kontext von Staatsverträgen erfolgen.17 Es genügt(e), einzelne Paragraphen, Absätze oder Sätze eines mit entsprechender Mehrheit beschlossenen 14 Ihre praktische Bedeutung kann allerdings darin gesehen werden, dass sie jene „gesetzliche Grundlage“ für rechtlich relevantes außenpolitisches Handeln bilden, die Art. 18 Abs. 1 B-VG für die „gesamte staatliche Verwaltung“ verlangt. Dass dazu auch die „auswärtige Verwaltung“ gehört, ist in Österreich im Wesentlichen unbestritten; siehe dazu T. Öhlinger, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 56 (1997), 82 f., m.w.N. Weil Akte der Außenpolitik allerdings nur insoweit einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen, als sie in rechtsförmlicher Weise ergehen (also als völkerrechtlicher Vertrag, allenfalls auch als Verordnung oder förmlicher Bescheid – siehe dazu auch unten bei Anm. 42), und dies nur in sehr begrenztem Ausmaß der Fall ist, gibt es nur wenige gerichtliche Entscheidungen, die den Einklang der Politik mit den Regeln des Völkerrechts überprüfen. Insofern spielen diese in der Praxis der Gerichte – einschließlich des VfGH – nur eine sehr bescheidene Rolle. 15 Diese schon von G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre 3, Neudruck 1966, formulierte Definition des Verfassungsrechts entspricht nach wie vor dem noch heute herrschenden Verfassungsverständnis in Österreich. 16 BGBl. I 2008/2, in Kraft getreten am 1.1.2008. Siehe dazu auch unten Anm. 22 ff. 17 Siehe Art. 50 Abs. 3 B-VG in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung.
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Gesetzes – oder eben auch Staatsvertrages – als „Verfassungsbestimmung(en)“ zu bezeichnen, um sie zu einem vollgültigen Bestandteil des Bundesverfassungsrechts zu machen.18 Diese Technik der Verfassungsgesetzgebung war Bedingung der Möglichkeit einer – vordergründig völkerrechtsskeptisch erscheinenden – „Theorie“, die in der Verfassungspraxis der frühen 1960er Jahre entwickelt wurde. Aus der Regelung der Bundesverfassung über eine Änderung der Staatsgrenzen (Art. 3 B-VG) wurde eine verfassungsrechtliche Begrenzung des Gebietes, auf dem Staatsorgane Hoheitsakte setzen dürfen, abgeleitet und daraus geschlossen, dass sowohl die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organe als auch die Tätigkeit österreichischer Organe im Ausland und fremder Organe im Inland verfassungsändernd seien. Entsprechende Regelungen in völkerrechtlichen Verträgen bedurften daher des Verfassungsranges. Eine andere Begründungsvariante ging explizit von einem „strengen Souveränitätsstandpunkt der Bundesverfassung“ aus.19 Die ursprüngliche völkerrechtsoffene Konzeption des B-VG (siehe zuvor I.) wurde damit geradezu in ihr Gegenteil verkehrt und der eben zu dieser Zeit einsetzenden intensiven Verdichtung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit eine – freilich nur theoretisch – sehr hohe Schranke gesetzt. Weil nämlich die erforderliche parlamentarische Mehrheit bei völkerrechtlichen Verträgen in aller Regel kein politisches Problem darstellt, erschöpfte sich die praktische Wirkung dieser Normhypothesen darin, das Bundesgesetzblatt mit einer kaum mehr überschaubaren Anzahl von Verfassungsbestimmungen zu füllen, die sonst keine spezielle verfassungsrechtliche Bedeutung hatten. Der VfGH hat nie eine derartige Verfassungsbestimmung zur Lösung einer rechtlichen Streitfrage herangezogen. Praktische Wirkung entfalteten sie bestenfalls im Innenbereich der Bundesbürokratie, weil sie dem in Österreich für Fragen des Verfassungsrechts zuständigen Bundeskanzleramt eine Mitwirkung bei der Vorbereitung völkerrechtlicher Verträge sicherten. Dem Verfassungsdienst, eine Abteilung des Bundeskanzleramtes, wurde dadurch eine starke Rolle in der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit völkerrechtlich relevanten Handelns eingeräumt. Der 1981 unternommene Versuch, diesen Wildwuchs von Verfassungsrecht mit einer B-VGNovelle einzugrenzen,20 hatte nur begrenzten Erfolg.21 Erst mit 18
Art. 44 Abs. 1 B-VG. Dazu näher T. Öhlinger, Institutionelle Grundlagen der österreichischen Integrationspolitik in rechtlicher Sicht, in: T. Öhlinger/H. Mayrzedt/G. Kucera, Institutionelle Aspekte der österreichischen Integrationspolitik, 1975, 136 ff. 20 Art. 9 Abs. 2 B-VG in der Fassung der B-VGNovelle BGBl. 1981/350. 21 Näher T. Öhlinger, Art. 9/2 B-VG (Neubearbeitung), in: Korinek/Holoubek (Anm. 3), 9. Lfg. 2009, Rz. 5. 19
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der B-VGNovelle 200822 wurde dieser Theorie endgültig die Grundlage entzogen23 und es wurden zugleich mehrere hundert solcher Verfassungsbestimmungen auf das Niveau einfacher Bundesgesetze bzw. Gesetzesrang besitzender Staatsverträge zurückgestuft.24 Seit dieser Novelle ist es auch nicht mehr zulässig, völkerrechtliche Verträge als solche im Verfassungsrang abzuschließen. Die staatliche Rechtsquelle „verfassungsändernder oder verfassungsergänzender Staatsvertrag“ bzw. verfassungsändernde Bestimmungen in einem Staatsvertrag wurde durch eine Neufassung des Art. 50 B-VG25 aus der österreichischen Rechtsordnung eliminiert. Enthält ein Staatsvertrag einen Widerspruch zu geltendem Verfassungsrecht, so muss dieser auf der Ebene des formell-gesetzlichen Verfassungsrechts beseitigt werden. Andernfalls kann der Vertrag nicht mehr in verfassungskonformer Weise abgeschlossen werden. 22
Siehe bei Anm. 16. Neufassung des Art. 9 Abs. 2 B-VG: „Durch Gesetz oder durch einen gemäß Art. 50 Abs. 1 genehmigten Staatsvertrag können einzelne Hoheitsrechte auf andere Staaten oder zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden. In gleicher Weise können die Tätigkeit von Organen anderer Staaten oder zwischenstaatlicher Einrichtungen im Inland und die Tätigkeit österreichischer Organe im Ausland geregelt sowie die Übertragung einzelner Hoheitsrechte anderer Staaten oder zwischenstaatlicher Einrichtungen auf österreichische Organe vorgesehen werden. Dabei kann auch vorgesehen werden, dass österreichische Organe der Weisungsbefugnis der Organe anderer Staaten oder zwischenstaatlicher Einrichtungen oder diese der Weisungsbefugnis österreichischer Organe unterstellt werden.“ 24 Vgl. dazu E. Wiederin, Verfassungsbereinigung, in: G. Lienbacher/G. Wielinger (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliches Recht 2008, 2008, 45 (51 f.). 25 „(1) Der Abschluss von 1. politischen Staatsverträgen und Staatsverträgen, die gesetzändernden oder gesetzesergänzenden Inhalt haben und nicht unter Art. 16 Abs. 1 fallen, sowie 2. Staatsverträgen, durch die die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union geändert werden, bedarf der Genehmigung des Nationalrates. (2) Für Staatsverträge gemäß Abs. 1 Z 1 gilt darüber hinaus Folgendes: 1. Sieht ein Staatsvertrag seine vereinfachte Änderung vor, so bedarf eine solche Änderung nicht der Genehmigung nach Abs. 1, sofern sich diese der Nationalrat nicht vorbehalten hat. 2. Gemäß Abs. 1 Z 1 genehmigte Staatsverträge bedürfen der Zustimmung des Bundesrates, soweit sie Angelegenheiten des selbständigen Wirkungsbereiches der Länder regeln. 3. Anlässlich der Genehmigung eines Staatsvertrages kann der Nationalrat beschließen, in welchem Umfang dieser Staatsvertrag durch Erlassung von Gesetzen zu erfüllen ist. (3) Auf Beschlüsse des Nationalrates nach Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 Z 3 ist Art. 42 Abs. 1 bis 4 sinngemäß anzuwenden. (4) Staatsverträge gemäß Abs. 1 Z 2 dürfen unbeschadet des Art. 44 Abs. 3 nur mit Genehmigung des Nationalrates und mit Zustimmung des Bundesrates abgeschlossen werden. Diese Beschlüsse bedürfen jeweils der Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. (5) Der Nationalrat und der Bundesrat sind von der Aufnahme von Verhandlungen über einen Staatsvertrag gemäß Abs. 1 unverzüglich zu unterrichten.“ 23
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C. Die Europäische Menschenrechtskonvention in der österreichischen Verfassungsordnung I. Die ältere Rechtsprechung des VfGH und die B-VGNovelle 1964 Eine andere Entwicklung, die es nahelegt, die Jahre um 1960 als völkerrechtsskeptische Epoche zu charakterisieren, betrifft die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Österreich trat der EMRK 1958 bei und sie wurde als Staatsvertrag im Verfassungsrang in die österreichische Rechtsordnung inkorporiert. Allerdings wurde sie gemäß einer bis dahin zu Staatsverträgen vertretenen Auffassung nicht auch im BGBl. als solcher gekennzeichnet. In einer 1960 einsetzenden Rechtsprechung verneinte der VfGH mangels einer solchen Kennzeichnung diesen Verfassungsrang und sprach der EMRK zugleich die unmittelbare Anwendbarkeit ab.26 In der pointierten Formulierung von Ermacora:27 „Damit gelang es (dem VfGH) für sechs Jahre, sich die MRK samt ihren Protokollen vom Leib zu halten.“ Die durch diese Entscheidung ausgelöste Diskussion führte zu einer B-VGNovelle,28 mit der der Verfassungsrang der EMRK rückwirkend zum Zeitpunkt des Beitritts festgestellt und zugleich das Erfordernis einer expliziten Bezeichnung künftiger Verträge als Verfassungsrecht im BGBl. klargestellt wurde. Durch diese Novelle wurde auch die Möglichkeit eingeführt, dass der Nationalrat anlässlich der Genehmigung eines Staatsvertrages authentisch dessen mangelnde unmittelbare Anwendbarkeit im innerstaatlichen Bereich anordnen kann („Erfüllungsvorbehalt“, heute: Art. 50 Abs. 2 Z. 3 B-VG29). Ferner wurde die zuvor bestrittene und jedenfalls nie praktizierte Zuständigkeit des VfGH zur Prüfung der Verfassungs- oder Gesetzeskonformität völkerrechtlicher Vertrage klargestellt (Art. 140a B-VG).30 26
VfGH Slg. 3767/1960, 4049/1961 u.a. F. Ermacora. Die Rechtsprechung österreichischer Gerichte zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: F. Ermacora/ H. Klecatsky, R. Marcic (Hrsg.), Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof in Österreich, 1968, 167 (176). 28 BGBl. 1964/59. Zu dieser Novelle etwa auch M. von Grünigen, Die österreichische Verfassungsnovelle über Staatsverträge vom 4. März 1964, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1965, 76 ff. 29 Siehe Anm. 25. 30 Näher T. Öhlinger, Art. 140a B-VG, in: Korinek/Holoubek (Anm. 3), 7. Lfg. 2005, Rz. 1 ff.; H. Schäffer, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Staatsverträgen in Öster27
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Dadurch wurden die verfassungsrechtlichen Grenzen gegenüber dem Völkerrecht wieder etwas schärfer konturiert, was auch eine gewisse Debatte über die „Völkerrechtsfreundlichkeit“ der Bundesverfassung auslöste.31
II. Die neuere Rechtsprechung Was die EMRK betrifft, so bildete diese Novelle den Ausgangspunkt einer Entwicklung der Rechtsprechung, die dann allerdings zu ihrer völligen Integration in die österreichische Verfassungsordnung führte. Konnte man noch Mitte der 1990er Jahre von einer eher zögerlichen Haltung der Gerichte, im Besonderen auch des VfGH, gegenüber der EMRK sprechen,32 so hat sich das in der Zwischenzeit grundlegend gewandelt. Die EMRK bildet heute einen zentralen Bestandteil der verfassungsrechtlichen Grundrechtsordnung. Auch das hängt mit formalen Besonderheiten des österreichischen Verfassungsrechts zusammen. Weil man sich in den Verfassungsberatungen 1919/20 nicht über einen neuen Grundrechtskatalog einigen konnte, wurde das „Staatsgrundgesetz von 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder“ – eines jener fünf Staatsgrundgesetze, die die Verfassung der konstitutionellen Monarchie bildeten – in die republikanische Verfassungsordnung rezipiert (Art. 149 Abs. 1 B-VG).33 In der Tat handelt es sich dabei um einen Katalog von klassischen Freiheitsrechten, der bereits in der Monarchie als unmittelbar anwendbar und auch für die Gesetzgebung als verbindlich galt und sich insofern 1920 noch auf der Höhe der Zeit befand. Die EMRK samt ihren Zusatzprotokollen hat sich in ihrer evolutiven Interpretation durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als durchaus geeignet erwiesen, seine inzwischen deutlich gewordenen Lücken zu schließen. Es ist bemerkenswert, dass der VfGH in einer Kehrtwende seiner ursprünglichen konventionsskeptischen Rechtsprechung nun schon seit langem eine fast vorbehaltlose Bereitschaft erkennen lässt, der Judikatur des EGMR zu folgen, und zwar
reich in rechtsvergleichender Perspektive, in: R. Grote u.a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit, Festschrift für Christian Starck zum 70. Geburtstag, 2007, 953 (962 f.). 31 Siehe H. Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, 1967, 33 ff. 32 So F. Ermacora/M. Nowak/H. Tretter, Die Europäische Menschenrechtskonvention in der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte, 1983, 17. 33 Vgl. H. Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, 220; H. Schäffer, Die Entwicklung der Grundrechte, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte Bd. VII/1: Grundrechte in Österreich, 2009, 28 f.
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auch dann, wenn er seine eigene Judikatur korrigieren muss.34 Die EMRK wurde damit zur Quelle einer dynamischen Verfassungsinterpretation, die dem älteren „positivistischen“ – und für Österreich lange Zeit charakteristischen – Verfassungsverständnis geradezu konträr entgegensteht und die auch auf die Interpretation des originär staatlichen Verfassungsrechts, speziell auch auf jene des Staatsgrundgesetzes, zurückwirkte. Die EMRK hat zum einen den Bestand der Grundrechte inhaltlich angereichert. Als besonders bedeutsame Innovationen erwiesen sich Art. 6 (faires Verfahren) und Art. 8 (Achtung des Privatlebens). Sie hat zum anderen das Grundrechtsverständnis tiefgreifend verändert.35 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist erst vermittelt durch die EMRK zu einem Element der österreichischen Grundrechtsordnung geworden. Angemerkt sei, dass dazu natürlich auch Anstöße aus der deutschen Verfassungsrechtslehre und -rechtsprechung beigetragen haben.
III. Ein österreichisches Görgülü-Urteil? Lediglich in einem Fall hat der VfGH Grenzen seiner Bereitschaft, dem EGMR zu folgen, markiert.36 Es betraf dies die äußerst extensive Interpretation des Begriffs der civil rights in Art. 6 Abs. 1 EMRK, über die „Tribunale“ (im Sinne der englischen und französischen Fassungen der EMRK) zu entscheiden haben und die nach der Rechtsprechung des EGMR zahlreiche Angelegenheiten umfassen, die nach der kontinentaleuropäischen Rechtstradition in die Zuständigkeit von Verwaltungsbehörden fallen. Ausgehend davon, dass Österreich mit seinem Beitritt zur EMRK sein – so wörtlich der VfGH – „bewährtes System der Ver34
Einige Beispiele: In der Frage der staatlichen Schutzpflicht von Versammlungen gegenüber Störungen von Gegendemonstrationen folgte der VfGH (Slg. 12.501/1990) dem EGMR-Urteil Plattform „Ärzte für das Leben“ (Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) 1989, 522) und änderte damit seine frühere, restriktivere Rechtsprechung zur Versammlungsfreiheit (Slg. 8532/1979 und 8609/1979). Auch in der Frage des Eigentumsschutzes öffentlich-rechtlicher Ansprüche folgt der VfGH entgegen einer langjährigen ständigen Judikatur nunmehr dem EGMR: siehe EGMR, Gaygusuz, und VfGH Slg. 15.129/1998, 15.448/1999; ebenso in der Frage der Entschädigung für Eigentumseingriffe: dazu näher T. Öhlinger, Verfassungsrecht, 8. Aufl. 2009, Rz. 880; ferner in der Frage der mündlichen Verhandlung vor verwaltungsbehördlichen Tribunalen und dem VwGH in zivilrechtlichen und verwaltungsstrafrechtlichen Angelegenheiten: siehe EGMR, Eisenstecken, und dem folgend VfGH Slg. 16.402/2001, 17.373/2004. Weitere Beispiele bei M. Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 1997, 66, Anm. 233; C. Grabenwarter, Die Auslegung der EMRK im Spannungsverhältnis zwischen Straßburg und Wien, in: A. Bammer u. a. (Hrsg.), Rechtsschutz gestern – heute – morgen, Festgabe für Rudolf Machacek und Franz Matscher, 2008, 129 (130). 35 Näher Öhlinger (Anm. 2), 422 ff. 36 Slg. 11.500/1987.
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waltung unter der umfassenden nachprüfenden Kontrolle des Verwaltungsgerichtshofs“ durch den Beitritt zur EMRK nicht grundlegend in dem Sinn verändern wollte, dass „alles durch ein Gericht (Tribunal) in der Sache selbst entschieden werden (müsse), was die private Sphäre im weiten Sinn (der Rechtsprechung des EGMR) berührt“, hat der VfGH klargestellt, dass er sich an dieses System gebunden erachtet, auch wenn es der EMRK widersprechen sollte. Zwar unterstellt der VfGH „dem (auch) späteren Verfassungsrecht nach Möglichkeit einen Inhalt, der es mit der EMRK verträglich macht … An die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Staatsorganisation ist der Gerichtshof aber auch im Falle eines Widerspruches zur Konvention gebunden“. Ein solcher Widerspruch könne „nur durch den Verfassungsgesetzgeber selbst geheilt werden“. Diese Entscheidung des VfGH hat in Österreich nicht so sehr mit der zuletzt zitierten Aussage Aufmerksamkeit erregt, die hierzulande im Grunde unbestritten ist, sondern erst mit dem Zusatz, dass dabei selbst dem Verfassungsgesetzgeber Grenzen gesetzt seien. Für den VfGH ist die Auslegung des Art. 6 EMRK durch den EGMR eine Arrogation offener Rechtsfortbildung, die die Frage aufwerfe, inwieweit ihre Akzeptanz seitens Österreichs nicht als eine Gesamtänderung der Bundesverfassung anzusehen wäre. Eine solche Gesamtänderung bedürfte aber nach Art. 44 B-VG einer Volksabstimmung. Der VfGH hat diese Frage zwar gestellt, jedoch offen gelassen, gleichzeitig aber Art. 6 EMRK entsprechend restriktiv interpretiert. Meines Erachtens deckt sich diese Entscheidung des österreichischen VfGH im Grunde weitgehend mit dem Görgülü-Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG),37 nur sind ihre Formulierungen etwas weniger pointiert und provokativ als jene des BVerfG.38 Inzwischen ist freilich das vom VfGH angesprochene Problem in der Sache weitgehend überholt. Zum einen hat der EGMR – möglicherweise durchaus als Reaktion auf diese Entscheidung des VfGH – seine Judikatur zu Art. 6 EMRK doch nicht so weit getrieben, wie dies der VfGH vor rund 20 Jahren befürchten zu müssen meinte.39 Zum anderen ist der Grundsatz eines umfassenden und effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes heute auch ein allgemeiner Grundsatz des europäischen Gemeinschaftsrechts und als solcher auch für Österreich verbindlich.
37
EuGRZ 2004, 741. Dazu näher T. Öhlinger, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidungen internationaler Menschenrechtsschutzinstanzen für die Tätigkeit der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, in: E. Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2006, 196 (207 ff.). 39 Dazu auch H. Schäffer, Die Grundrechte im Spannungsverhältnis von nationaler und europäischer Perspektive, ZöR 2007, 1 (15 ff.). 38
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D. Die dauernde Neutralität Österreichs Auf einer etwas anderen Ebene als die zuvor beschriebene Entwicklung liegt das Thema „Neutralität“. Es gehört hierher, weil die dauernde Neutralität in einem Bundesverfassungsgesetz festgeschrieben ist: dem BVG über die Neutralität Österreichs, BGBl. 1955/211. Dieses Verfassungsgesetz war der Preis für den Wiener Staatsvertrag und damit für den Abzug der Besatzungsmächte. Es wurde bewusst an dem Tag, nach dem der letzte fremde Soldat gemäß dem Staatsvertrag von Wien Österreich verlassen musste, beschlossen, auch um die Freiwilligkeit der damit eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu unterstreichen. Österreich hat sich damit in spezifischer Weise dem Völkerrecht gegenüber geöffnet, denn die Regeln der dauernden Neutralität sind im Völkerrecht normiert. Allerdings hat Österreich offiziell immer wieder die Interpretationshoheit über diese Regeln betont. So ist es – entgegen dem Vorbild der Schweiz, zu dessen Nachahmung es sich im „Moskauer Memorandum“ (dessen Verbindlichkeit freilich strittig ist) verpflichtete – schon 1955/56 den Vereinten Nationen und dem Europarat beigetreten und hat sich auch nicht gescheut, mehrmals einen Sitz im Sicherheitsrat zu übernehmen. Es stand dabei freilich während des „Kalten Krieges“ unter argwöhnischer Beobachtung der Protagonisten dieses Konflikts, speziell der Sowjetunion. Andererseits hat Österreich die dauernde Neutralität sehr erfolgreich genützt, um sich in der Staatengemeinschaft aktiv zu positionieren – als Ort der Begegnung und als Vermittler in internationalen Konflikten.40 Die österreichische Neutralität war ein Produkt des Ost-West-Konfliktes und hat mit dessen Ende ihre internationale Bedeutung weitgehend eingebüßt.41 Damit hat sich auch der Interpretationsspielraum der österreichischen Neutralitätspolitik erheblich erweitert. Lange Zeit war es in Österreich allgemein anerkannt, dass die dauernde Neutralität eine Mitgliedschaft in der (damaligen) EWG ausschloss. Ende der 1980er Jahre (aber noch vor der „Wende“) hat Österreich diese Position revidiert und einen Antrag auf Aufnahme in die EWG gestellt. Dem wurde von keiner anderen der Parteien des Wiener Staatsvertrages widersprochen. Auch die Teilnahme an vom Sicherheitsrat beschlossenen militärischen Aktionen gilt seit dem ersten Irakkrieg nicht mehr als mit der Neutralität unvereinbar. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist bemerkenswert, dass die dauernde Neutralität trotz ihrer verfassungsgesetzlichen Grundlage praktisch nicht der Kontrolle 40
Das hat bekanntlich auch im Völkerrecht seine dauernden Spuren hinterlassen: Die Wiener Diplomatenrechtskonvention (1961), die Wiener Konsularrechtskonvention (1963) oder die Wiener Vertragsrechtskonvention (1969) verdanken ihre Namen dieser Neutralitätspolitik. 41 Näher T. Öhlinger, BVG Neutralität, in: Korinek/Holoubek (Anm. 3), 1. Lfg. 1999.
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des VfGH unterliegt. Die Zuständigkeiten des VfGH knüpfen an Rechtsformen des staatlichen Handelns an (Gesetz, Verordnung, Staatsvertrag, Bescheid: Art. 139 ff. B-VG). Nur soweit Außenpolitik in diesen Handlungsformen erfolgt, ist sie auch verfassungsgerichtlich überprüfbar, also etwa die zu einem „Staatsvertrag“ geronnene Politik.42 Neutralitätspolitik schlägt sich aber kaum in solchen formalen Akten nieder und bleibt insofern verfassungsgerichtlich unüberprüfbar. Das erscheint auch deshalb bemerkenswert, weil mehr als zweifelhaft ist, ob die Volten des offiziellen Neutralitätsverständnisses seit den späten 1980er Jahren von den Verfassungsrichtern nachvollzogen worden wären. Einem richterlichen Denken ist eine derartige Flexibilität wohl eher fremd. Auf der anderen Seite vollzog sich aber dieser Wandel in einem sehr breiten politischen Konsens, und es ist fraglich, inwieweit dabei gerichtliche Interventionen positive Wirkungen gehabt hätten.
E. Die Öffnung der Verfassung gegenüber dem Europäischen Recht I. Der Beitritt Österreichs zur EU Der Beitritt Österreichs zur EU erfolgte im Jahr 1994 in dem verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahren einer Gesamtänderung der Bundesverfassung, das eine Volksabstimmung inkludiert (Art. 44 Abs. 3 B-VG).43 In der EU-Mitgliedschaft wurde eine wesentliche Modifikation vor allem des demokratischen, aber auch des bundesstaatlichen und des rechtsstaatlichen Prinzips („Baugesetzes“) der Verfassung gesehen.44 Es wurden also die verfassungsrechtlichen Implikationen einer EU-Mitgliedschaft sehr ernst genommen, zugleich aber der Beitritt rechtlich
42
Siehe zuvor Anm. 14. Die Volksabstimmung erfolgte über ein besonderes Bundesverfassungsgesetz, das Beitritts-BVG BGBl. 1994/744 (zu dieser Rechtstechnik siehe zuvor bei Anm.15 ff.), das zum Abschluss des Beitrittsvertrages „entsprechend dem am 12. April 1994 von der Beitrittskonferenz festgelegten Verhandlungsergebnis“ ermächtigte (ein illustratives Beispiel österreichischer Verfassungslegistik!). Dazu ausführlich T. Öhlinger, EU-BeitrittsBVG, in: Korinek/Holoubek (Anm. 3), 1. Lfg. 1999; C. Grabenwarter/B. Ohms, Die österreichische Bundesverfassung, 12. Auflage 2008, 11 ff. 44 Als eine Gesamtänderung der Bundesverfassung im Sinn des Art. 44 Abs. 3 B-VG gilt eine Aufhebung oder wesentliche Modifikation eines der Grundprinzipien der Bundesverfassung. Siehe dazu etwa A. Gamper, Die verfassungsrechtliche Grundordnung als Rechtsproblem, 2000 (im Besonderen zum EU-Beitritt 76 ff.); H. Rill/H. Schäffer, Art. 44 B-VG, in: H. Rill/H. Schäffer (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Kommentar, Loseblattausgabe 1. Lfg. 2001, Rz. 11 ff. 43
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in einer Weise vollzogen, der allen verfassungsrechtlichen Einwänden von vornherein den Boden entzog. Österreich hat damit seine Verfassung nahezu vorbehaltlos den Geltungsansprüchen des Gemeinschaftsrechts geöffnet: dem Anspruch auf unmittelbare Anwendbarkeit nicht nur der Verordnungen (für die allein Art. 249 EG derartiges explizit vorsieht), sondern auch des Primärrechts (soweit es unbedingt und hinreichend genau formuliert ist) und sogar der Richtlinien (wenn diese nicht vollständig und korrekt in staatliches Recht umgesetzt wurden), sowie dem Anspruch auf Vorrang vor dem staatlichen Recht einschließlich des staatlichen Verfassungsrechts.45 Unmittelbare Anwendbarkeit und Vorrang des Gemeinschaftsrechts gelten als Elemente jenes acquis communautaire, den zu übernehmen sich ein neu beitretender Staat verpflichten muss. Die österreichische Verfassung enthält insofern keine „Integrationsschranken“ für das mit dem Beitrittsvertrag übernommene Primärrecht und das auf dieser Grundlage erlassene Sekundärrecht der EG. Als Integrationsschranken gelten lediglich die Baugesetze der Bundesverfassung (in ihrem durch den Beitritt modifizierten Gehalt) in Bezug auf künftige Primärrechtsänderungen, allerdings auch nur insofern, als über einen entsprechenden Vertrag eben eine Volksabstimmung stattfinden müsste.46 Anlässlich der Ratifikation sowohl des Verfassungsvertrags als auch des Vertrags von Lissabon gab es Diskussionen darüber, ob diese Verträge jeweils eine Gesamtänderung der Bundesverfassung bewirkten; die Ratifikation erfolgte aber in beiden Fällen ohne Volksabstimmung.
II. Die Rechtsprechung Die Rechtsprechung des VfGH spiegelt diese Öffnung der Bundesverfassung gegenüber dem Europarecht getreulich wider. Der VfGH setzt damit jene Völkerrechtsfreundlichkeit fort, die er seit den 1990er Jahren in seiner Rechtsprechung zur EMRK an den Tag gelegt hat. Der Gerichtshof hat selbst bereits mehrfach Richtlinien unmittelbar angewendet und ihnen Vorrang vor bundesverfassungsgesetzlichen Regelungen eingeräumt, ohne dabei die verfassungsrechtliche Qualität der
45
In der Regierungsvorlage des Beitritts-BVG (1546 BlgNR 18. GP) heißt es, es sei der Zweck dieses BVG, „die österreichische Rechtsordnung gegenüber der Rechtsordnung der EU in der Weise zu öffnen, wie sich dies aus deren besonderem Geltungsanspruch ergibt“. Vgl. zu dieser Öffnung auch S. Griller, Direktwirkung und richtlinienkonforme Auslegung, in: T. Eilmansberger/G. Herzig (Hrsg.), 10 Jahre Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Österreich, 2006, 91 (101 ff.). 46 Art. 50 Abs. 4 (siehe zuvor Anm. 25) in Verbindung mit Art. 44 Abs. 3 B-VG.
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verdrängten Regelung auch nur besonders hervorzustreichen.47 Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch vor dem staatlichen Verfassungsrecht scheint ihm eine Selbstverständlichkeit zu sein. Ganz auf dieser Linie liegt es auch, dass der VfGH als erstes (echtes) Verfassungsgericht in Europa Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet hat.48 Der VfGH versteht sich in diesem Zusammenhang offensichtlich weniger als Hüter der Bundesverfassung in all ihren Details denn als Garant der Gemeinschaftstreue Österreichs. Man kann darin eine gewisse Schwäche der österreichischen Verfassung sehen, die diese in der Tat aufweist.49 Es ist dies aber die konsequente Fortsetzung der mit dem Beitritts-BVG vollzogenen Öffnung der Verfassung gegenüber dem Europarecht. Dem Beispiel des VfGH sind auch die anderen Höchstgerichte in Österreich – der Oberste Gerichtshof (OGH) und der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) – gefolgt,50 wobei von einer Vorbildwirkung des VfGH ausgegangen werden kann, in dessen Kompetenz es eben fiel, die Bundesverfassung gegenüber dem Europarecht (auf der Basis des Beitritts-BVG) zu öffnen. Unmittelbare Anwendbarkeit und Vorrang des Gemeinschaftsrechts sind für österreichische Gerichte offensichtlich kein prinzipielles Problem. Bemerkenswert ist es auch, dass die Jahresberichte des VwGH einen Abschnitt unter dem Titel „Der Verwaltungsgerichtshof als Gerichtshof der Europäischen Union“ enthalten. Auch die Vorlagefreudigkeit österreichischer Gerichte liegt auf dieser Linie. Österreich liegt bei der Zahl der Vorabentscheidungsersuchen seit Jahren im Spitzenfeld; in den Jahren 1999 und 2001 nahm dieser doch relativ kleine Mitgliedstaat überhaupt den ersten Platz ein.51 Dass das allerdings noch keine Garantie für eine europafreundliche Durchführung des Gemeinschaftsrechts ist, mag man aus der Tatsache erschließen, dass Österreich auch in der Anzahl der Vertragsverletzungsverfahren im vorderen Feld der Mitgliedstaaten liegt.52 47 Siehe VfGH Slg. 15.427/1999, 16107/2001, 17.065/2003. Dazu näher T. Öhlinger/ M. Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht, 3. Aufl. 2006, S. 82; Griller (Anm. 45), 103 f. 48 VfGH Slg. 15.450/1999, 16.050/2000 und 16.100/2001. 49 Dazu T. Öhlinger, Verfassung und Demokratie in Österreich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: C. Brünner u.a. (Hrsg.), Festschrift für Manfried Welan zum 65. Geburtstag, 2002, 217 ff. 50 Dazu H. Schäffer, Vorrang des Gemeinschaftsrechts, in: T. Eilmansberger/G. Herzig (Hrsg.), 10 Jahre Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Österreich, 2006, 29 (60 ff.); Griller (Anm. 45), 103 f. 51 Siehe G. Kuras, Vorabentscheidungsverfahren – Praktische Erfahrungen, in: T. Eilmansberger/G. Herzig (Hrsg.), 10 Jahre Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Österreich, 2006, 139 (145); G. Lienbacher, Einleitung des Vorsitzenden, ebenda, 181 f. 52 Lienbacher (Anm. 51), 183.
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III. Die Mitwirkung österreichischer Vertreter an der Rechtsetzung der EU Was die Mitwirkung österreichischer Vertreter in den Organen der EU/EG, im Besonderen im Rat der EU, betrifft, so ist folgende Regelung bemerkenswert. Nach Art. 23e B-VG sind die beiden Kammern des Bundesparlaments (Nationalrat und Bundesrat) über alle „Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union“ zu unterrichten und können dazu Stellung nehmen. Eine Stellungnahme des Nationalrats zu einem Vorhaben, das die Bundesgesetzgebung berührt, ist für das österreichische Ratsmitglied prinzipiell verbindlich; der Bundesminister kann aber davon aus „zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen“ abweichen. Art. 23e Abs. 3 Satz 2 B-VG lautet: „Soweit der in Vorbereitung befindliche Rechtsakt der Europäischen Union eine Änderung des geltenden Bundesverfassungsrechts bedeuten würde, ist eine Abweichung jedenfalls nur zulässig, wenn ihr der Nationalrat innerhalb angemessener Frist nicht widerspricht“. Diese Bestimmung macht deutlich, dass die Bundesverfassung keine inhaltliche Schranke für das österreichische Ratsmitglied darstellt. Der Bundesminister ist auch zur Mitwirkung an Beschlüssen legitimiert, die der Bundesverfassung widersprechen; er ist dabei nur an ein bestimmtes Verfahren gebunden. Dies entspricht dem reduktionistischen formellen Verfassungsverständnis, das für Österreich charakteristisch ist.53 Auch in diesem Punkt wird man aber anzunehmen haben, dass gegen die Grundprinzipien der Bundesverfassung nicht verstoßen werden darf. Die herrschende österreichische Auffassung geht davon aus, dass ein mit der verfassungsrechtlichen Grundordnung kollidierender Sekundärrechtsakt der EG absolut nichtig wäre. Der Konjunktiv ist angebracht, weil eine solche Konstellation als ziemlich unwahrscheinlich gilt. Man kann wohl davon ausgehen, dass der VfGH einen solchen Konflikt durch eine zurücknehmende Auslegung verfassungsrechtlicher Grundprinzipien vermeiden würde.
IV. Die neue Integrationsbestimmung des Art. 50 Abs. 1 Z. 2 B-VG 1. Der Anlass der Neufassung Die bereits erwähnte Neufassung des Art. 50 B-VG54 enthält in ihrem ersten Absatz auch die Bestimmung, dass der Abschluss von Staatsverträgen, durch die die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union geändert werden, der Genehmigung des Nationalrates bedarf. 53 54
Siehe oben bei Anm. 15. Text oben in Anm. 25.
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So wie der gesamten Neufassung des Art. 50 B-VG liegt auch dieser Regelung primär das Motiv einer Verfassungsbereinigung zugrunde.55 Sie ersetzt jene besonderen Bundesverfassungsgesetze, die bislang die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Beitritts zur EU, aber auch des Abschlusses der Verträge von Amsterdam und von Nizza sowie der Beitrittsverträge von 2003 und 2006 bildeten.56 Seit dieser Novelle sind solche besonderen Bundesverfassungsgesetze überflüssig; der Abschluss eines solchen Vertrages kann unmittelbar auf der Grundlage des B-VG erfolgen. Seine parlamentarische Genehmigung bedarf allerdings nach wie vor einer „Verfassungsmehrheit“ (Art. 50 Abs. 4 B-VG). Der Effekt speziell dieser Änderung des Art. 50 B-VG reicht freilich darüber hinaus. Durch diese Novelle wurde zugleich das EU-Recht stärker in die österreichische Verfassungsordnung eingebunden, als dies zuvor der Fall war. Aus der Tatsache, dass der Beitritt zur EU nicht auf der Grundlage der Art. 50 und 65 B-VG, sondern auf der Grundlage eines besonderen Bundesverfassungsgesetzes, des BeitrittsBVG erfolgte,57 wurde abgeleitet, dass der Beitrittsvertrag – und indirekt damit auch der EGV und sogar der EUV – gar kein „Staatsvertrag“ im Sinn der österreichischen Bundesverfassung und daher überhaupt kein Bestandteil des österreichischen Rechts, sondern nur mehr des in Österreich geltenden Gemeinschaftsrechts sei.58 Letztlich lief diese Position darauf hinaus, dass das nationale Verfassungsrecht nur eine Rechtsschicht unterhalb des EURechts bildete und diesem ein absoluter Vorrang zukäme. Dieser Auffassung wurde durch die Neufassung des Art. 50 B-VG eine klare Absage erteilt. Auch EU-Verträge sind (nunmehr eindeutig) „Staatsverträge“ im verfassungsrechtlichen Sinn, wenn auch solche besonderer Art. Es wurden ferner jene Integrationsschranken außer Streit gestellt, die einen Vorrang des EU-Rechts auch vor den Baugesetzen der Bundesverfassung ausschließen und aus denen sich das Erfordernis einer Volksabstimmung ergibt, wenn ein EU-Vertrag eines dieser Baugesetze verändern sollte.59 Die Novelle hat gewissermaßen das EU-Recht in die österreichische Verfassungsordnung einbezogen. Das österreichische Bundesverfassungsrecht hat damit an europäischer Normalität gewonnen. Es entspricht der europäischen Normalität, den Geltungsgrund des europäischen Rechts – zumindest indirekt über die Gründungs- bzw. Beitrittsver55
Siehe oben bei Anm. 24 f. Dazu Grabenwarter/Ohms (Anm. 43), 7 ff. 57 BGBl. 1994/774; siehe oben Anm. 43. 58 L. K. Adamovich/B.-C. Funk/G. Holzinger, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1: Grundlagen (1997), Rz. 17.062. 59 Dies war zuvor nicht unbestritten, ergibt sich aber nunmehr eindeutig aus dem Verweis im Art. 50 Abs.4 B-VG (siehe oben Anm. 25) auf Art. 44 Abs. 3 B-VG. 56
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träge – im jeweiligen Verfassungsrecht zu verankern sowie die vom Gemeinschaftsrecht beanspruchte unmittelbare Geltung und seinen (Anwendungs-)Vorrang aus der diesbezüglichen Öffnung der jeweiligen Verfassung abzuleiten und konsequenterweise (nur) in den von dieser Verfassung gezogenen Grenzen anzuerkennen.60 Das konnte zwar auch schon vor der Neufassung des Art. 50 B-VG so argumentiert werden, lässt sich aber seitdem klarer als bislang begründen.
2. Die Genehmigung des Vertrages von Lissabon Art. 50 Abs. 1 Z. 2 und Abs. 4 B-VG wurde erstmals – im Frühjahr 2008 – auf den Vertrag von Lissabon angewandt. Dieses Zusammentreffen der Verfassungsnovelle BGBl. I 2008/2 und des Vertrags von Lissabon ist freilich ein purer Zufall. Die Novelle ist in keiner Weise mit Blick auf die bevorstehende Ratifizierung des Vertrags von Lissabon erfolgt. Sie war vielmehr Teil jenes Programms, das im sog. Österreich-Konvent entworfen wurde61 und das zum Ziel hatte, Verfassungsrecht außerhalb des B-VG so weit wie möglich zu reduzieren. Das ausschließliche Motiv dieser Neufassung des Art. 50 B-VG war, wie schon gesagt, eine Bereinigung des Verfassungstextes,62 und im Effekt hat diese Novelle das EU-Recht sogar stärker in das System der Bundesverfassung integriert. Das ist deshalb zu betonen, weil der B-VGNovelle 2008 gelegentlich eine bewusst in Bezug auf den Vertrag von Lissabon konzipierte Vereinfachung des Ratifikationsverfahrens unterstellt wird.63 Zwar besteht eine solche Vereinfachung darin, dass nunmehr im Nationalrat und im Bundesrat jeweils nur mehr einmal – und nicht wie bislang zweimal, nämlich über ein zum Abschluss ermächtigendes BVG und sodann erst über den Vertrag selbst – jeweils mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt werden muss. Aber das eigentliche verfassungspolitische Problem solcher Verträge, nämlich die Frage einer Volksabstimmung, wird durch diese Verfassungsnovelle in einer Weise geregelt, die gerade den Befürwortern einer solchen Abstimmung – und damit den Kritikern der unterstellten „Vereinfachung“ – entgegenkommt. Das führt zu meinem letzten Punkt. 60
Siehe etwa S. Griller, Völkerrecht und Landesrecht – unter Berücksichtigung des Europarechts, in: R. Walter/C. Jabloner/K. Zeleny (Hrsg.), Hans Kelsen und das Völkerrecht (2004), 83 (104 ff.). 61 Dazu eingehend T. Öhlinger, Das Völkerrecht und das Europarecht im ÖsterreichKonvent, in: Festschrift für Heinz Schäffer (2006), 555 ff. 62 Siehe zuvor bei Anm. 55 f. 63 So etwa C. Felber, Die politische Diskussion über den EU-Reformvertrag in Österreich, in: R. Viotto/A. Fisahn (Hrsg.), Europa am Scheideweg – Kritik des EU-„Reformvertrags“, 2008, 147 (150).
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3. Volksabstimmungen über EU-Verträge Der EU-Beitritt Österreichs beruhte auf einer Volksabstimmung, weil ein breiter Konsens darüber herrschte, dass dieser Beitritt eine „Gesamtänderung der Bundesverfassung“ bewirkte.64 Die Verträge von Amsterdam und von Nizza wurden dagegen ausschließlich auf der Grundlage (einstimmiger) parlamentarischer Genehmigungsbeschlüsse ratifiziert. Die Referenden über den Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden sowie das erste irische Referendum über den Vertrag von Lissabon lösten aber auch in Österreich Diskussionen über eine neuerliche Volksabstimmung aus. Dabei wurde die Diskussion bezüglich des Verfassungsvertrages zunächst ausschließlich auf akademischer Ebene geführt. Mehrere Rechtsexperten erachteten eine Volksabstimmung für verfassungsrechtlich geboten, weil sie speziell in der uneingeschränkten Vorrangklausel (Art. I-6 VVE) eine Gesamtänderung der Bundesverfassung im Sinn des Art. 44 Abs. 3 B-VG erblickten. Von anderen Experten wurde dem widersprochen.65 Die Politik nahm von dieser akademischen Diskussion lange Zeit keine Notiz. Erst nachdem schon das einschlägige, zum Abschluss ermächtigende BVG66 im Nationalrat einstimmig beschlossen worden war, wurde diese Frage von einzelnen Politikern und Medien aufgegriffen. Die parlamentarische Genehmigung erfolgte dennoch mit überwältigender Mehrheit bei nur einer Gegenstimme im Nationalrat. Dagegen wurde die Debatte bezüglich des Vertrags von Lissabon, inspiriert von den Referenden in Frankreich und den Niederlanden, von Anfang an von den gleichen Medien und auch auf der politischen Ebene, geführt. Allerdings war sich diesmal die Verfassungslehre – auch im Hinblick auf den Wegfall der Vorrangklausel des Verfassungsvertrages – weitgehend einig, dass dieser Vertrag keine Gesamtänderung der Bundesverfassung beinhalte und daher eine Volksabstimmung verfassungsrechtlich nicht geboten sei.67
64
Siehe zuvor Anm. 44. Zu dieser Diskussion ausführlich T. Öhlinger, Die Ratifikation des Verfassungsvertrages in Österreich – Anmerkungen zum konstitutionellen Gehalt des Verfassungsvertrages, in: W. Hummer/W. Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, 343 (348 ff.); P. Bußjäger/G. Heißl, Nationaler Souveränitätsanspruch versus autonome Rechtsordnung?, Österreichische Juristenzeitung 2008, 307 (310 ff.). 66 Siehe dazu zuvor bei Anm. 56. 67 Siehe G. Lienbacher, Ausgewählte Rechtsfragen der Anwendung des Vertrages von Lissabon in Österreich, in: W. Hummer/W. Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 2009, 427 (430 ff.). 65
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Erst nach dem Abschluss des Ratifikationsverfahrens wurde von einer Regierungspartei, der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, angekündigt, eine Volksabstimmung über künftige EU-Verträge, „die die grundlegenden Interessen Österreichs berühren“, zu unterstützen – eine Ankündigung, die nach nur eineinhalb Jahren Bestand zum Bruch der Koalitionsregierung und zur Neuwahl des Nationalrats im September 2008 führte. Im Zuge dieses Wahlkampfes gab es auch einen Initiativantrag zu einem Verfassungsgesetz, demgemäß der Abschluss von Staatsverträgen, durch die die vertraglichen Grundlagen der EU geändert werden, zwingend einer Volksabstimmung unterzogen werden müsse, wenn es sich dabei um eine „wesentliche Änderung“ des EU-Rechts handle.68 Dieser Antrag fand im Nationalrat zwar eine einfache Mehrheit, nicht aber die für Verfassungsgesetze erforderliche Zweidrittel-Mehrheit. Am 1.10.2009 wurde auch vom Präsidenten des VfGH Gerhard Holzinger vorgeschlagen, über alle wichtigen Integrationsschritte der EU Referenden in (allen?) Mitgliedsstaaten durchzuführen. Bemerkenswerterweise wurde in dieser Diskussion kaum beachtet, dass durch die B-VGNovelle auch die Rechtsgrundlage für eine Volksabstimmung über einen EU-Vertrag geändert wurde. Im Art. 50 Abs. 4 B-VG wird nämlich die Genehmigung eines solchen Vertrages mit qualifizierter Mehrheit in beiden Kammern des Bundesparlaments, „unbeschadet des Art. 44 Abs. 3 (B-VG)“angeordnet. Der eindeutige Sinn dieses Verweises auf die Regelung über eine Gesamtänderung der Bundesverfassung ist es, einen EU-Vertrag, der eine solche Gesamtänderung beinhaltet, auch in Zukunft an eine Volksabstimmung zu binden. Art. 50 Abs. 4 verweist jedoch pauschal auf Art. 44 Abs. 3 B-VG. Eine – offensichtlich nicht bedachte und nicht intendierte – Konsequenz dieser Rechtstechnik ist es, dass auch eine fakultative Volksabstimmung über einen keine verfassungsrechtliche Gesamtänderung implizierenden EU-Grundlagenvertrag unter der in Art. 44 Abs. 3 B-VG normierten Voraussetzung, nämlich auf Verlangen eines Drittels der Mitglieder des Nationalrates oder des Bundesrates, rechtlich zulässig ist.69 Wenn daher in Zukunft eine EU-kritische parlamentarische Minderheit, die über ein Drittel der Mitglieder im Nationalrat oder im Bundesrat verfügt, eine Volksabstimmung über jeden EU-Vertrag (im Sinne des Art. 50 Abs. 1 Z. 2 B-VG) erzwingen kann, so ist es berechtigt, sich über die Position Österreichs in der EU Gedanken zu machen. Es ist die Gefahr nicht auszuschließen, dass Österreich in 68
907/A, 23. GP. Das ist allerdings umstritten; siehe näher Öhlinger (Anm. 3), Art. 50 B-VG, Rz. 69 ff.; Lienbacher (Anm. 67), 430; I. Siess-Scherz, Staatsverträge und Bundesverfassung: Weiterhin ein nicht ganz unproblematisches Verhältnis – eine Auseinandersetzung mit Teilaspekten des Art. 50 B-VG, in: G. Lienbacher/G. Wielinger (Hrsg.), Jahrbuch öffentliches Recht 2009, 2009, 77 (95 ff.). 69
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Zukunft eine ähnliche Rolle wie Irland spielen könnte. Die Drohung mit einer notwendigen Volksabstimmung mag zwar die Verhandlungsposition über einzelne nationale Anliegen stärken. Letztlich aber würde sie zu einer Außenseiterrolle führen, die weder der Geschichte noch der geographischen Lage Österreichs in Europa gerecht würde. Es könnte eine schwierige Aufgabe künftiger Bundesregierungen sein, für künftige EU-Reformen entweder eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit für einen Verzicht auf eine Volksabstimmung oder aber eine Mehrheit der Bevölkerung für den jeweiligen Vertrag zu finden.
F. Resümee Die österreichische Bundesverfassung zählt heute zu den ältesten in Geltung stehenden Staatsverfassungen in Europa. Es ist daher nicht überraschend, dass die Öffnung der Verfassung gegenüber dem Völkerrecht und später auch gegenüber dem Europarecht bereits eine wechselhafte Geschichte erfahren hat. Auf die ursprüngliche weite Öffnung gegenüber dem Völkerrecht folgte eine eher völkerrechtsskeptische Phase, gipfelnd in den 1960er Jahren. Sie mag, wenn hier überhaupt ein Zusammenhang besteht, mit der dem Staatsvertrag von Wien 1955 und der Erklärung der Dauernden Neutralität korrelierenden, verspäteten Identitätsfindung der Republik zu erklären sein. Mehrere Verfassungsnovellen haben dies wieder ins Lot gebracht. Auch die Öffnung gegenüber dem Europarecht war zunächst vorbehaltlos und radikal. Eine daraus resultierende Diskrepanz zwischen dem formellen Verfassungsrecht und einer verbreiteten Europaskepsis der Bevölkerung ist nunmehr durch eine Regelung überbrückt, die es einer parlamentarischen Minderheit ermöglicht, Volksabstimmungen über künftige EU-Reformen jeglicher Art zu erzwingen. Der weiten Öffnung der Verfassung gegenüber dem Europarecht wurde dadurch eine politisch sehr problematische Schranke gesetzt.
Autorenverzeichnis Felix Arndt, Referent im Fachbereich WD 2 (Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe) der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages Prof. Dr. Stephan Breitenmoser, Universität Basel, Richter am Bundesverwaltungsgericht in Bern Prof. Dr. Claus Dieter Classen, Universität Greifswald Prof. Dr. Ulrich Fastenrath, Technische Universität Dresden Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M. (Virginia), Walther-Schücking-Institut, Universität Kiel Prof. Dr. Uwe Kischel, LL.M. (Yale), Attorney-at-Law (New York), Universität Greifswald Prof. Dr. Franz C. Mayer, LL.M. (Yale), Universität Bielefeld Prof. Dr. Franz Merli, Universität Graz Prof. em. Dr. Theo Öhlinger, Universität Wien Prof. Dr. Andreas Paulus, Universität Göttingen, seit März 2010 Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe Prof. Dr. Alexander Proelß, Walther-Schücking-Institut, Universität Kiel PD Dr. Thilo Rensmann, LL.M. (Virginia), Universität Bonn Prof. Dr. Dagmar Richter, Universität Heidelberg Prof. Dr. Volker Röben, LL.Eur. (Europa-Kolleg), LL.M. (Berkeley), Swansea University Prof. Dr. Frank Schorkopf, Institut für Völkerrecht und Europarecht, Universität Göttingen
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Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Werner Schroeder, LL.M. (Berkeley), Universität Innsbruck Prof. Dr. Rudolf Streinz, Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Susanne Wasum-Rainer, Leiterin der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes und Völkerrechtsberaterin der Bundesregierung