Der Neue Poseidipp: Text - Übersetzung - Kommentar. Griechisch und deutsch 9783534243563, 9783534719402, 9783534719419, 3534243560

Poseidipp (ca. 310-240 v. Chr.) war ein griechischer Dichter, der am Hof der ptolemäischen Könige in Alexandria lebte. 2

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German Pages 433 Year 2015

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Lithika (1–20)
Oionoskopika (21–35)
Anathematika (36–41)
Epitymbia (42–61)
Andriantopoiika (62–70)
Hippika (71–88)
Nauagika (89–94)
Iamatika (95–101)
Tropoi (102–109)
[ohne Sektionstitel] (110–112)
Anhang
Der Alte Poseidipp
Geopoetische Aspekte im Epigrammbuch Poseidipps von Pella
Abkürzungsverzeichnis
Bibliographie
Die Autoren
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DER NEUE POSEIDIPP Text – Übersetzung – Kommentar

TEXTE ZUR FORSCHUNG Band 108

Der Neue Poseidipp Text – Übersetzung – Kommentar Verfasst von Francesca Angiò, Silvio Bär, Manuel Baumbach, Anna Maria Gasser, Martin Hose, Irmgard Männlein-Robert, Eva María Mateo Decabo, Andrej Petrovic, Bernd Seidensticker, Adrian Stähli und Antje Wessels Mit einem Anhang von Manuel Baumbach und Urs Müller

Herausgegeben von Bernd Seidensticker, Adrian Stähli und Antje Wessels

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: COMPUTUS Druck Satz & Verlag, Gutenberg Einbandgestaltung: Neil McBeath, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-24356-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-71940-2 eBook (epub): 978-3-534-71941-9

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  VII Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  9 Lithika (1–20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  19 Anna-Maria Gasser Oionoskopika (21–35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  113 Manuel Baumbach Anathematika (36–41) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  155 Antje Wessels, Adrian Stähli Epitymbia (42–61) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  183 Andrej Petrovic (42–50); Bernd Seidensticker (51; 55–56); Francesca Angiò (52–54); Silvio Bär (57–61) Andriantopoiika (62–70) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247 Bernd Seidensticker Hippika (71–88)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  283 Martin Hose Nauagika (89–94) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  319 Eva María Mateo Decabo Iamatika (95–101) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  343 Irmgard Männlein-Robert Tropoi (102–109) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  375 Manuel Baumbach [ohne Sektionstitel] (110–112) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  393 Bernd Seidensticker Anhang   Der Alte Poseidipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  396 Urs Müller   Geopoetische Aspekte im Epigrammbuch Poseidipps von Pella  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  411 Manuel Baumbach, Urs Müller Abkürzungsverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  421 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  423 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  441

Vorwort Der vorliegende Kommentar ist im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste der Freien Universität Berlin entstanden. Wir danken dem Sonderforschungsbereich für die vielfältigen Anregungen, die Gewährung eines Druckkostenzuschusses sowie die Finanzierung der insgesamt vier workshops, die die Arbeit an dem Kommentar vorbereitet und begleitet haben. Die Realisierung des Bandes wäre nicht möglich gewesen ohne die Kolleginnen und Kollegen, die unserer Einladung gefolgt sind und die Kommentierung einer Sektion bzw. einer Teilsektion übernommen haben. Ihnen sei ebenso gedankt wie dem Direktor des Center for Hellenic Studies, Gregory Nagy, und den Editoren des CHS Online-Textes Francesca Angiò, Martine Cuypers, Benjamin Acosta-Hughes und Elizabeth Kosmetatou, die uns erlaubt haben, die Version 12.1 New Poems attributed to Posidippus. A Text in Progress (August 2011) zur Grundlage der Kommentierung zu machen. Danken möchten wir auch dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) für die finanzielle Unterstützung der Projektarbeit und der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe Texte zur Forschung sowie Julia Rietsch und Daniel Zimmermann für die professionelle Betreuung der Drucklegung. Unser besonderer Dank schließlich gilt Eva María Mateo Decabo, die den gesamten Band mit großer Sorgfalt und Umsichtigkeit redigiert hat. Berlin, Leiden, Cambridge 

Mai 2015

Einleitung Tyche, die Göttin der Papyrologie, hat den Gräzisten in den letzten Jahrzehnten immer wieder bedeutende neue Texte geschenkt: die spektakulären Menander-Papyri, denen wir nicht nur die einzige komplette Neue Komödie, den Dyskolos, sondern auch große Teile weiterer Stücke Menanders verdanken, den Straßburger Empedokles oder den Derveni-Papyrus. Der letzte große Neufund in dieser Reihe, zu der noch zahlreiche kleinere, aber bedeutende Entdeckungen kommen, ist der Papyrus aus der nach dem Papyrologen Vogliano benannten Papyrussammlung der Universität Mailand mit 112 Epigrammen aus der ersten Hälfte des 3. Jh. v. Chr., deren Verfasser nach der Meinung fast aller, die ihre Ansicht publiziert haben, der hellenistische Dichter Poseidipp ist.1 Vor der Publikation des Papyrus (im Folgenden der Neue Poseidipp) im Jahre 20012 war der hellenistische Epigrammatiker Poseidipp relativ schlecht bezeugt und nur den Spezialisten bekannt.3 In einer wohl als Schlussgedicht für eine Werkausgabe gedachten Elegie wünscht sich der Dichter, von den Bürgern seiner Heimatstadt Pella, seit ca. 400 v. Chr. Residenz der makedonischen Könige, mit einer auf dem Marktplatz aufgestellten Statue geehrt zu werden,4 und eine Inschrift aus Thermon (T 3 ed. min.) aus dem Jahre 263/262 v. Chr., hält fest, dass der ätolische Bund dem Epigrammatopoiós Poseidippos aus Pella die Ehren (und Verpflichtungen) eines Proxenos, d. h. eines ‚Staatsgastfreunds‘ verleiht.5 Die Berufsbezeichnung Epigrammschreiber6 dürfte bedeuten, dass Poseidipp sein Geld nicht zuletzt mit der Anfertigung von realen, d. h. auf Monumente aller Art zu setzenden Versinschriften verdiente,7 und ein ähnliches zehn Jahre früheres Proxenie-Dekret (T 2 ed. min.) ist in Delphi gefunden worden und beweist, dass Poseidipp bereits um 275 ein erfolgreicher und bekannter Mann war.8 Er wird also im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts geboren und wahrscheinlich um 240 gestorben sein. Einen terminus post quem bietet das Epigramm 79 auf einen Sieg der Königin Berenike II. in Nemea im Jahre 247.9 1 Zur Autorschaft s. u. S. 15. 2 Bastianini, Gallazzi u. Austin 2001. 3 Die wenigen Testimonia zu Leben und Werk sind in der Ausgabe des ‚alten‘ Poseidipp von Fer­ nández-Galiano (1987) sowie in Kurzfassung am Anfang der editio minor von Austin und Bastianini zusammengestellt. 4 Zu der sogenannten Sphragis (118) vgl. Lloyd-Jones, SH 705 und Austin 2002c, 16–19. Der mystische Pfad zu Rhadamanthys, von dem Poseidipp 118.25 spricht, ist durch ein in Pella (in einem Grab vom Ende des 4. Jh.s.) gefundenes Goldplättchen in Blattform mit der Aufschrift ΠΕΡϹΗΦΟΝΗΙ ΠΟϹΕΙΔΙΠΠΟϹ ΜΥϹΤΗϹ ΕΥϹΕΒΗϹ („für Persephone: der fromme Myste Poseidipp“) bestätigt worden, das offenbar einem Verwandten (dem Großvater ?) des Dichters mitgegeben worden ist (Dickie 1995). Dazu passt auch, dass die ersten drei Epitymbia Epigramme auf initiatae sind. 5 Zur Proxenie vgl. F. Gschnitzer, RE Suppl. XIII 620–730; Marek, Ch. 1984: Die Proxenie, Frankfurt a. M. 6 In einem Scholion zu Apoll. Rhod. 1.1289 / SH 703 wird Poseidipp als epigrammatográphos bezeichnet; Sider 2004, 29, Anm. 4, erinnert an ein drittes Wort für Epigrammschreiber, das nur als lateinisches Lehnwort epigrammatista (= ἐπιγραμματιϲτήϲ) erhalten ist. 7 Zu der Frage, ob unter den Epigrammen des Mailänder Papyrus Versinschriften sind, s. u. S. 14 f. 8 Ob Poseidipp den Reichtum, von dem er in der Sphragis spricht (118.28), mit seinen Epigrammen verdient hat, wie Bing meint (2009, 184), muss offen bleiben; denkbar ist es, wie die bei Athenaios (5.209b) überlieferte Geschichte bezeugt, nach der Hiero II. den Dichter Archimelos für ein Epigramm reich belohnte. 9 Als Jahr für diesen Sieg kommt auch das Jahr 249 in Frage (ed.pr. 17), und wenn Thompson 2005, 274–278, recht hat, dass die von Poseidipp gefeierte Berenike nicht die Frau von Ptolemaios III. ist,

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Einleitung

Vor der Publikation des Neuen Poseidipp war nur ein geringer Teil der wahrscheinlich sehr umfangreichen Produktion des Epigrammatikers erhalten: Pages Epigrammata Graeca (1975) bieten 23 Epigramme sowie sechs weitere, deren Zuweisung – an ihn oder an Asklepiades von Samos – schon in der Anthologia Palatina strittig war.10 Dass ihre Epigramme in vielen Fällen sprachlich, motivisch und thematisch zum Verwechseln ähnlich sind,11 lässt auf eine engere Verbindung mit dem zeitgenössischen, bedeutenden Epigrammatiker schließen.12 Dass Poseidipp, wie auch Asklepiades, einen guten Teil seines Lebens in Alexandria, in großer Nähe zum Hof, verbracht hat, konnte schon immer als wahrscheinlich gelten und ist durch den Charakter der neuen Epigramme endgültig gesichert.13 Thematisch finden sich unter den alten Epigrammen neben Spottepigrammen und ekphrastischen Epigrammen vor allem erotische und sympotische Epigramme. Die erste Sammlung des Alten Poseidipp ist die Dissertation von Friedrich Wilhelm Schott aus dem Jahre 1905; es folgte 1965 die monumentale kommentierte Ausgabe der Hellenistic Epigrams von Gow-Page; eine ganze Reihe von interessanten Ergänzungen finden sich im Supplementum Hellenisticum von Parsons und Lloyd-Jones aus dem Jahre 1983, und schließlich erschien 1987 auch ein umfangreicher Einzelkommentar zu den alten Epigrammen von Emilio Fernández-Galiano.14 Fünf Jahre später – 1992 – bot ein Antiquitätenhändler drei große Papyri an, und die Universität Mailand konnte – mit großzügiger Unterstützung der Sparkasse der Lombardei – zwei davon erwerben. Der Preis ist ebenso unbekannt wie die Provenienz und wann und wie die Papyri Ägypten verlassen haben. Die Erstherausgeber sagen nur, dass sich der Papyrus schon lange in Europa befunden habe.15 Die Mailänder Papyrologen Bastianini und Gallazzi machten den Kauf im Jahre 1993 bekannt, indem sie 25 der 112 Epigramme in einer kleinen Ausgabe, die sich an ein breites Publikum wandte, veröffentlichten. Natürlich begann damit sofort die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Epigrammen auch außerhalb Mailands. 2001 folgte die kritische sondern die noch unverheiratete Tochter von Ptolemaios II., liegt der terminus post quem noch etwas früher (vor 252, d. h. dem Jahr, in dem diese Antiochos II. von Syrien heiratet). 10 21 der 29 Epigramme stammen aus der AP: zu den 15, die unter dem Namen des Poseidipp überliefert sind, kommen 6, die alternativ Poseidipp oder Asklepiades zugeschrieben werden; vier sind bei Athenaios, eines bei Tzetzes, drei auf Papyrus erhalten; dazu kommen eine Reihe von dubia, s. Fernández-Galiano 1987, XXX–XXXVI (Stein-Epigramme). 11 Vgl. Acosta-Hughes 2004, 47; Sens 2001/2002. 12 Im delphischen Proxenie-Dekret erscheinen die Namen der beiden Epigrammatiker ebenso unmittelbar hintereinander wie in dem Gedicht, mit dem Meleager seine Epigrammsammlung eröffnete und in den Florentiner Scholien zum Aitienprolog, PSI 1219, fr. 1.1–10 = fr. 1 Pfeiffer; der Scholiast identifiziert die in V. 7 erwähnten Telchinen, mit denen Kallimachos eine Gruppe von Widersachern bezeichnet, ohne diese namentlich zu benennen, mit Poseidipp und Asklepiades. 13 Wie lange Poseidipp in Alexandria gelebt und gearbeitet hat, ist nicht sicher zu bestimmen. Auf jeden Fall hat er offenbar zeitlebens die Verbindungen zu Griechenland aufrecht erhalten. Das beweisen schon die beiden Proxenie-Dekrete (s. o.) aus Delphi und Thermon und der in der Sphragis geäußerte Wunsch, Apollon möge dafür sorgen, dass ihn die Makedonen (sc. die Griechen) auf den Inseln und an der (klein)asiatischen Küste ehren (118.13–16); es zeigt sich aber, wie Fantuzzi (Fantuzzi-Hunter 2004) feststellt, vor allem auch „in the emphasis upon mainland Greece and Macedonia in poems honouring the Ptolemaic house“ (390). Bei dem in einer Inschrift aus Delos (IG XI 2, 226 B 5 = T 4 ed. min.) bezeugten ἀρχιθέωροϲ (,Leiter einer Festgesandtschaft‘) mit Namen Poseidippos könnte es sich um den Epigrammatiker handeln. 14 Dazu kommt noch Albrecht 1996. 15 Der zweite Papyrus (jetzt auch in der Mailänder Papyrussammlung) enthält den Text eines ptolemäischen Historikers, und der dritte war der berühmte Artemidor-Papyrus, der (wenn es sich nicht um eine Fälschung handelt) Ausschnitte aus den Geographoumena des berühmten Geographen Artemidor (ca. 100 v. Chr.) mit einer großen Landkarte der iberischen Halbinsel und vielen Tierzeichnungen bietet.

Einleitung

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Ausgabe, bei der die Erstherausgeber Bastianini und Gallazzi tatkräftig von Colin Austin unterstützt wurden. In der ausführlichen Einleitung werden die Ausgangslage und die technisch und zeitlich aufwendige Rekonstruktion der Rolle detailliert beschrieben. Auf die Einleitung folgen der Text, immer diplomatisch und als Lesetext, und im Anschluss daran ein knapper, aber gehaltvoller Kommentar; hinzu kommen eine Reproduktion der Rolle in Originalgröße und zwei CDs mit digitalisierten, hoch aufgelösten Fotos der einzelnen Kolumnen, die bis zu zwanzigfach vergrößert werden können. Auf diese Weise kann jeder die Lesungen der Erstherausgeber kontrollieren und seine eigenen Vorschläge auf eigene Lesungen stützen. Die Erhaltung des größten Teils der Papyrusrolle verdanken wir ihrer Verwendung als Mumienkartonage. In diesem Fall diente die Poseidipp-Ausgabe zur Herstellung eines Pektorals, d. h. des Brustschmucks eines mumifizierten Toten. Unter den Stücken, die zu der Herstellung des Pektorals verwendet worden sind, fanden sich auch große Teile von fünf sogenannten dokumentarischen Papyri mit juristischen Texten und Texten der ptolemäischen Militäradministration, die beweisen, dass die Mumienkartonage südlich von Kairo, in der Region zwischen dem Fayum und dem Niltal entstanden ist. Das heißt natürlich nicht, wie die Erstherausgeber zu Recht betonen, dass auch das Gedichtbuch dort entstanden und gelesen worden ist.16 Die Rolle ist offenbar vor ihrer neuen Verwendung in drei größere Stücke zerrissen worden; vorne und hinten ist sie nicht vollständig. Im jetzigen Zustand ist der Mailänder Papyrus gut anderthalb Meter lang (152,8 cm) und ca. 20 cm hoch. Der Anfang ist sehr wahrscheinlich erhalten; verloren gegangen ist wohl nur ein Teil des protókollon.17 Wie viel am Ende fehlt, ist unklar, wahrscheinlich nicht sehr viel. Wieder zusammengesetzt, ergaben sich 16 Kolumnen (jeweils 8,5 cm breit und 16 cm hoch) mit durchschnittlich 39 Versen. Am linken Rand steht alle zehn Verse ein Punkt18 und am Ende jeder Gruppe von Epigrammen, aus denen die Sammlung besteht, ist die Gesamtzahl der Verse der jeweiligen Sektion angegeben.19 Der Text ist sorgfältig in bookhand geschrieben; dazu sind zwei weitere ‚Hände‘ zu erkennen, die Korrekturen eingetragen haben,20 und ein Leser, der mit breitem Stift an wenigen Stellen den Text knapp annotiert hat. Die fünf dokumentarischen Papyri stammen aus den Jahren 188 bzw. 178 v. Chr. und könnten, da Texte dieser Art nicht unbedingt archiviert wurden, bereits bald danach obsolet geworden sein. Da eine Epigrammausgabe sicher eine wesentlich längere Lebensdauer hatte, lässt sich aus dem von den dokumentarischen Papyri gelieferten terminus ante quem kein sicheres Datum für die Zusammenstellung der Epigrammsammlung erschließen. Terminus post quem für ihre Produktion ist das letzte historische Ereignis, auf das sich ein Epigramm bezieht, d. h. der schon erwähnte Nemeische Sieg der Königin Berenike II. im Jahre 247 16 Vgl. dazu auch Obbink 2004, 12. 17 Obbink 2004, 13: „The opening of the roll as it stands seems to have been damaged or cut in some way and its original cover sheet replaced with another, which is rather narrower …“; Obbink äußert sich in dem Zusammenhang auch zu der These von Johnson (in: Gutzwiller 2005), dass vorne wahrscheinlich mehr verloren gegangen ist als die Erstherausgeber annehmen. 18 Außerdem steht, ebenfalls am linken Rand, bei neun Gedichten (am ersten oder zweiten Vers oder zwischen den beiden ersten Versen) ein rätselhaftes του, für das es keine Parallele gibt und das verschieden erklärt worden ist. Am wahrscheinlichsten ist die Hypothese der Erstherausgeber, dass es sich um die Abkürzung von τοῦτο handelt und dass damit jemand (der Schreiber ist nicht identisch mit dem ersten Schreiber und den Korrektoren) Gedichte für eine spätere Lektüre oder eine weitere Auswahl markiert hat; vgl auch Krevans 2005, 86. 19 Zu den stichometrischen Zeichen Obbink 2004, 14 f. 20 Eine systematische Korrektur hat, wie die vielen nicht korrigierten Fehler beweisen, nicht stattgefunden.

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Einleitung

(oder 249).21 Es kann also nicht ausgeschlossen werden, dass Poseidipp selber die erhaltene Sammlung bzw. die Vorlage für sie zusammengestellt hat. Die 112 Epigramme der Sammlung (mit mehr als 600 mehr oder minder gut erhaltenen Versen) sind thematisch in zehn, ganz unterschiedlich umfangreiche Sektionen geordnet. 1. Lithiká22 (Stein-Epigramme) 2. Oionoskopiká (Vogelschau-Epigramme) 3. Anathematiká (Weihepigramme) 4. Epitymbia23 (Grabepigramme) 5. Andriantopoiiká (Statuen-Epigramme) 6. Hippiká (Pferde[rennen]-Epigramme) 7. Nauagiká (Schiffbruch-Epigramme) 8. Iamatiká (Heilungs-Epigramme) 9. Tropoi (?) 10. ?24

20 (19) 15 6 20 9 18 6 7 8

126 V. 80 V. 38 V. 116 V. 50 V. 98 V. 26 V. 32 V. 32 V.

Von den Sektionstiteln sind nur zwei wohlbekannt: Epitymbia (Grabepigramme) und Anathematika (Weihepigramme); alle anderen Spezies der Gattung Epigramm sind hier zum ersten Mal oder sogar zum einzigen Mal bezeugt,25 und es kommt zu überraschenden Überschneidungen zwischen den Sektionen: So könnten die Epigramme über schiffbrüchige Tote (Nauagika) – ebenso wie die Epigramme in der Sektion mit dem besonders überraschenden Titel Tropoi – auch unter den Epitymbia erscheinen; und zu den nur sechs Weihepigrammen der mit dem Standardtitel Anathematika überschriebenen Sektion kommen zahlreiche weitere Weihepigramme in anderen Sektionen, vor allem in den Hippika, aber auch in den Lithika und in den Iamatika. Eine Überraschung war es auch, dass es in dem Erhaltenen keine Sektion mit erotischen oder symposiastischen Epigrammen gibt, die unter den bisher bekannten Epigrammen Poseidipps besonders zahlreich sind.26 Ob und wie sich Poseidipp, der im Florentiner Scholion zu Kallimachos’ Aitien als einer der Gegner des Kallimachos genannt wird, auch in seinen Epigrammen im Spannungsfeld zwischen pro- und antikallimacheischer Poetik positioniert hat, lässt sich auf der Basis des Erhaltenen nicht sagen. Einige der Epigramme – vor allem aus den Sektionen Lithika und Andriantopoiika – lassen zwar durchaus poetologische Reflexionen erkennen.27 Ein eindeutiges Bild oder gar ein poetologisches Programm ergibt sich daraus jedoch nicht: Neben der starken thematischen Nähe zu Lehrdichtung und wissenschaftlicher Prosa (vgl. vor allem die Sektionen der Lithika, Oionoskopika, Andriantopoiika, Hippika und Iamatika)28 kommt Alltägliches zu 21 Obbink 2004, 11: „in the later part of the third century (230–200),“ S. auch oben, Anm. 9. 22 Der Titel ist ergänzt; nur die letzten beiden Buchstaben sind schwach lesbar. 23 Der Titel ist nicht erhalten, kann aber mit relativ großer Sicherheit erschlossen werden. 24 Der Titel der zehnten Sektion ist in einer Lücke verloren gegangen; erhalten sind lediglich Reste dreier Epigramme, die so kärglich sind, dass man, anders als im Falle der Epitymbia, keinen Titel erschließen kann; s. dazu S. 393 f. 25 Das bedeutet nicht etwa, dass in den Fällen, in denen wir den Terminus noch nicht kannten, gar keine entsprechenden Epigramme bekannt waren (vgl. dazu die Einleitungen zu den einzelnen Sektionen). 26 Einige der Lithika spielen mit erotischen und/oder symposiastischen Motiven; der Fokus liegt jedoch immer auf den Steinen. Vielleicht sind die vermissten Gattungen aber auch am Ende verloren gegangen (s. Anm. 24). 27 Vgl. Gutzwiller in: Acosta-Hughes u. a. 2004, 84–93, Männlein-Robert 2007, 53–81 (zu den Andriantopoiika) sowie die Einleitungen zu den einzelnen Sektionen. 28 Zu den Verbindungen im Einzelnen s. die Einleitungen und Kommentare der genannten Sektionen.

Einleitung

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Wort; neben gelehrten Anspielungen und gewitzten Querverweisen (Iamatika, Tropoi) finden sich Epigramme, deren schlichter Stil jeden literarischen Anspruch zu kompromittieren scheint; neben traditionellen, im epigraphischen wie im literarischen Bestand gut belegten Gattungen des Epigramms wie den Weih- und Grabepigrammen, präsentiert der Papyrus nicht nur verschiedene Subgenres, die in eigenständigen Sektionen vorgestellt werden (Iamatika, Nauagika, Tropoi), sondern mit den Gedichten über seltene und farbige Steine in der Lithika-Sektion auch ein Epigrammgenre, das vielleicht als eine eigene Schöpfung des Poseidipp gelten kann, die allerdings, soweit wir sehen können, folgenlos geblieben ist.29 Ob Poseidipp bewusst daran gearbeitet hat, Neues neben Traditionelles, Ausgefeiltes neben Schlichtes zu stellen, und den Leser damit gezielt an der Literarizität der Epigramme und ihrer Gegenstände zweifeln lassen will, oder ob die Auswahl und Anordnung der Epigramme auf das Werk eines Herausgebers zurückgeht, der Gedichte aus verschiedenen Publikationen Poseidipps zusammengestellt hat, muss allerdings offen bleiben. Über seine literaturwissenschaftliche und -historische Bedeutung für die Kenntnis der frühhellenistischen Dichtung und des griechischen Epigramms hinaus besitzt der Neue Poseidipp eine beträchtliche Relevanz für die Nachbarwissenschaften der klassischen Philologie wie Alte Geschichte, Religionswissenschaft, Klassische Archäologie und Kunstgeschichte. Der Papyrus bereichert unser Wissen über die Kultur- und Religionspolitik der ersten Ptolemäerkönige und die dynastische Propaganda, ergänzt unsere Kenntnis der hellenistischen Ekphrasis von Kunstwerken und steuert erheblich zu einem differenzierteren Verständnis der zeitgenössischen ästhetischen Diskurse über die Wahrnehmung und Beurteilung von Statuen bei. Vor der Publikation des Mailänder Papyrus galt Kallimachos als der bedeutendste Repräsentant der ptolemäischen Hofpoesie; mit den neuen Epigrammen tritt nun Poseidipp als ein zweiter wichtiger Vertreter neben ihn: Die Epigramme feiern die euergetischen Stiftungen, die Pflege der Kulte und Heiligtümer und die Fürsorge um Dichtung, Kunst und Architektur durch die Angehörigen des ptolemäischen Königshauses und der ihnen nahestehenden Höflinge und unterstreichen nachdrücklich die makedonische Abstammung der Ptolemäer und ihre politischen und militärischen Vormachtansprüche im östlichen Mittelmeerraum und im griechischen Mutterland. So preisen die ersten vier der sechs Anathematika Arsinoë II. als Patronin des Kriegs (36), der Poesie (37), der Freiheit (38) und der Seefahrt (39), und 37, 39 und 74 thematisieren mit Kallikrates, dem Admiral der ptolemäischen Flotte, einen der bedeutendsten Hofleute.30 Besonders signifikantes Beispiel sind die Epigramme der Hippika-Sektion, die ptolemäische Siege in Wagenrennen an den panhellenischen Festspielen Griechenlands feiern.31 Zwar war bekannt, dass die makedonischen Diadochenkönige in der Nachfolge Alexanders des Großen ihre politischen Ambitionen u. a. durch Siege bei hippischen Wettbewerben zu untermauern versuchten. Eine ganze Reihe von Hippika dokumentieren nun aber weit eindrücklicher, wie umfassend diese Strategie angelegt war, die alle ‚gekrönten‘ Mitglieder der Familie, aber auch bedeutende Höflinge involvierte und zu einer langen Reihe von Siegen in hippischen Wettbewerben an allen wichtigen griechischen Festspielen führte. Sieben der achtzehn Hippika gelten Siegen von Angehörigen des Ptolemäerhauses, nicht weniger als 29 Die Bezeichnung Lithika ist sonst nicht bezeugt; die wenigen bekannten Epigramme auf Steine (AP 9.544, 748, 752) sind alle nicht datiert. 30 Zur (hof)politischen Bedeutung zahlreicher Epigramme der Sammlung vgl. besonders Bingen 2002; M. Fantuzzi in: Fantuzzi-Hunter 2004, 377–403 („Posidippus and the ideology of kingship“), die Beiträge von Stephens, Fantuzzi und Thompson in: Gutzwiller 2005, 229–283 (= „Part III: Posidippus in a Ptolemaic Context“) und Baumbach 2013. Auch unter den Epigrammen des Alten Poseidipp sind eine ganze Reihe ‚höfischer‘ Epigramme: 115; 116 (vgl. Bing 2009, 234–252), 119 und 143. 31 Vgl. Criscuolo 2003.

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sechs davon den Siegen von ptolemäischen Königinnen. Diese Siege erhöhten nicht nur das Prestige der Ptolemäer und die Akzeptanz ihrer politischen Ziele, sondern erlaubte es ihnen auch, ihren Ruhm mit den Statuenstiftungen, die ihre Erfolge verherrlichten, dauerhaft zu visualisieren und präsent zu halten. Ähnlich, wenn auch auf eine andere Weise, kann die Sektion der Lithika als Beitrag zur ptolemäischen Propaganda verstanden werden. Die 20 Epigramme entwerfen eine Topographie seltener Steine, deren Provenienz die von Alexander dem Großen neu erschlossene und von seinen Nachfolgern, so auch den Ptolemäern, beanspruchte Welt ausmisst32 und die zugleich mit dem ptolemäischen Herrschaftsraum auch die Verfügbarkeit erlesener Luxusgüter evozieren. Auch archäologisch und kunsthistorisch sind die neuen Epigramme Poseidipps von großer Bedeutung: Die Lithika bereichern unsere Kenntnis der hellenistischen Glyptik erheblich und belegen möglicherweise bereits für das 3. Jh. v. Chr. die Existenz von Kameen, die im archäologischen Bestand für diese Zeit gar nicht oder jedenfalls nur schwer nachzuweisen sind, und mit den Andriantopoiika, der Gruppe, die in der Klassischen Archäologie denn auch die größte Aufmerksamkeit gefunden hat, liegt eine ganze Sektion mit Epigrammen auf berühmte Statuen und ihre Schöpfer vor. Deutlicher als in den anderen Sektionen des Papyrus sind hier die Epigramme planvoll so angeordnet, dass sie eine kunsthistorische These entwickeln, die in den einzelnen Ekphraseis in ihren unterschiedlichen Aspekten entfaltet wird: Die Sektion feiert die Statuen Lysipps und seiner Nachfolger als Höhe- und Endpunkt der Plastik und bewertet die Vorgänger u. a. danach, ob bzw. inwieweit sie Züge des Lysippschen Realismus vorweggenommen haben. Die archäologische Bedeutung der Andriantopoiika liegt darin, dass hier der früheste Beleg einer kunsthistorischen Entwicklungsvorstellung fassbar wird, die ‚altertümliche‘ von ‚modernen‘ Werken zu unterscheiden erlaubt und anhand eines – wenngleich rudimentären – Instrumentariums stilistischer Kriterien den Statuen auch abgelesen werden kann. Gleichzeitig handelt es sich um die älteste erhaltene Stellungnahme für den Vorrang eines Bildhauers (Lysipp), die ästhetisch und kunstgeschichtlich begründet wird. Es liegt auf der Hand, dass Poseidipp hier, ähnlich wie etwa bei den Vogelflugorakeln (Oionoskopika) oder den Epigrammen über Edelsteine (Lithika) nicht eine eigene Kunsttheorie entwickelt, sondern sich von zeitgenössischer Fachliteratur hat anregen lassen. Überdies kreieren die Lithika und Andriantopoiika als sorgfältig komponierte Gedichtgruppen einen ‚Galerie‘- oder ‚Sammlungseffekt‘: Das Narrativ der in den ekphrastischen Gedichten aufgerufenen Statuen und Gemmen lässt sich gleichsam als ein museales Arrangement lesen, das der Leser wie ein imaginärer Betrachter abschreitet bzw. betrachtet, und ist denn auch von verschiedenen Autoren mit den möglicherweise gleichzeitig an den hellenistischen Königshöfen aufkommenden Sammlungen von Kunstwerken und Preziosen in Verbindung gebracht worden. Die kunsthistorischen und die kulturpolitischen Aspekte sind hier eng miteinander verknüpft. Und schließlich wirft der Neue Poseidipp auch die Frage auf, ob es sich bei den Epi­ grammen der Mailänder Sammlung um ,echte‘, inschriftliche Weih- und Statuengedichte handelt oder um rein ‚artifizielle‘ poetische Schöpfungen.33 Für beide Möglichkeiten finden sich unter den in die Sammlung aufgenommenen Gedichten Anhaltspunkte:34 Die unter dem Titel Anathematika versammelten Weihepigramme ließen sich ohne weiteres auch als ‚reale‘ Dedikationsinschriften verstehen. Besonders deutlich ist das im Falle von 40: Das Epigramm auf einen Opferstock in Gestalt eines Wolfskopfs folgt so präzise dem Textformular erhalte32 Zu den geopoetischen Aspekten vgl. Baumbach-Müller, u. S. 411– 419. 33 Falls es sich um rein ‚artifizielle‘ poetische Schöpfungen handelt, stellt sich darüber hinaus die Frage, ob sich diese auf reale Kunstwerke beziehen oder den Gegenstand ihrer Beschreibung erfinden. 34 Vgl. Weinreich bei Bing 2009, 182, der auf den folgenden Seiten die Frage detailliert bespricht.

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ner Opferstöcke in griechischen Heiligtümern, dass es wohl tatsächlich als Aufschrift eines solchen Opferstocks verfasst worden sein dürfte. Andererseits weichen die Epigramme der Iamatika-Sektion – mit Ausnahme von 95 – von den in Asklepios-Heiligtümern, insbesondere in Epidauros tatsächlich gefundenen Weihinschriften für gelungene Heilungen deutlich ab. Hier spielt Poseidipp offenbar poetisch mit den Konventionen eines etablierten epigraphischen Genres und begründet damit ein neues, rein literarisches Genre.35 Ein Autor oder Autoren sind im erhaltenen Teil nicht genannt. Es gibt aber gute Gründe für die Annahme, dass es sich um die Epigramme eines Autors handelt36 und dass dieser eine Autor Poseidipp ist: Dass wir es, wie die Erstherausgeber vorschlagen haben,37 mit Gedichten eines Autors zu tun haben, wird dadurch wahrscheinlich, dass die einzelnen Epigramme lediglich durch eine Paragraphos, einen kurzen waagerechten Strich am linken Rand bei jedem Ende eines Epigramms, voneinander getrennt sind,38 und dass es sich um Gedichte des Poseidipp handelt, ist deswegen plausibel, weil die einzigen beiden Gedichte, die bereits aus Tzetzes (Chiliades 7.653–660) bzw. aus der Planudea (16.119) bekannt waren (15 = HE 20; 65 = HE 18), von Poseidipp stammen. Auch ein sprachlicher, stilistischer und metrischer39 Vergleich mit den vor der Publikation des Mailänder Papyrus bekannten Epigrammen Poseidipps spricht nicht gegen diese Annahme. Die Ansicht, dass wir ein Gedichtbuch des Poseidipp vor uns haben, hat sich weitgehend durchgesetzt, obwohl mit Hugh Lloyd-Jones ein namhafter Gräzist sich dagegen ausgesprochen hat40 und Stephan Schröder Lloyds-Jones’ nur knapp begründeten Verdacht mit detaillierten Analysen einzelner Gedichte zu untermauern versucht hat. 41 Hauptargument ist die sehr unterschiedliche Qualität der Epigramme.42 Diese Beobachtung kann man teilen, ohne damit der Schlussfolgerung zustimmen zu müssen.43 Es bleibt aber festzuhalten, dass eine letzte Sicherheit in dieser Frage noch nicht erreicht ist und vielleicht nie zu erreichen sein wird.44 Geht man davon aus, dass wir eine Sammlung mit Epigrammen Poseidipps vor uns haben, so stellt sich die Frage: Was für eine Sammlung ist das? Auch wenn am Ende mehr verloren sein sollte, als die Erstherausgeber für wahrscheinlich halten, kann es als sicher gelten, dass 35 Wie viele seiner Epigramme Inschriften waren und wie viele literarische Epigramme, lässt sich natürlich nicht sagen. 36 Dafür daß wir es mit einem Autor zu tun haben, sprechen die vielen sprachlichen und motivischen Wiederholungen und Querverweise innerhalb der Sektionen und zwischen den Sektionen. 37 Vgl. ed.pr. 22–24 und Bastianini 2001. 38 Eine Parallele bietet P. Köln V 204 (2. Jh. v. Chr.) mit 6 Epigrammen des Mnasalkes, die ohne Zwischenüberschriften wie αλλο oder αυτου aufeinander folgen. 39 Fantuzzi 2002, der allerdings zum Abschluss seiner Untersuchung der tecnica versificatoria zu Recht betont, dass damit die Urheberschaft natürlich noch nicht sicher bewiesen ist. 40 Lloyd-Jones 2003a; 2003b. Lloyd-Jones hält es für wahrscheinlich, daß der Mailänder Papyrus einen Teil des sogenannten Soros überliefert (zum Soros S. u. Anm. 47). 41 Schröder 2004; vgl. auch Puelma, 1996, 129 f.; Parsons 2002, 117–18; Ferrari 2007. 42 Sowohl Lloyd-Jones als auch Schröder sind der Auffassung, dass viele der neuen Epigramme so schlecht sind, „daß die Autorschaft eines erstrangigen hellenistischen Epigrammatikers und Routiniers seines Fachs eine problematische Annahme ist“ (Schröder 2004, 31). Die Subjektivität eines solchen Urteils liegt auf der Hand; vgl. Livrea 2007, 69–95 und Anm. 43. 43 Zu den möglichen Gründen für die unterschiedliche Qualität der Gedichte vgl. Sens 2003; Sider 2004, 40 f.; Gutzwiller, 2005, 2 f., die die Argumente wie folgt zusammenfasst: „Since Meleager likely chose for his anthology only the best epigrams, whether the most famous or the ones he liked personally, it is to be expected that a complete poetry book of the third century would show more variance in quality, subject matter, and style. Although Posidippus was clearly a poet of importance in the third century, he likely wrote thousands of epigrams, and his aesthetic standards may have differed considerably from those of Callimachus, which came to dominate the Hellenistic tradition in which Meleager worked“. 44 Zur Autorschaft Poseidipps vgl. die Literaturberichte von Angiò.

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es sich nicht etwa um eine Gesamtausgabe der Epigramme des Autors gehandelt hat, der wahrscheinlich viele Hunderte von Epigrammen geschrieben hat, sondern um eine Auswahl.45 Titel von Sammlungen, die in Frage kommen, sind bezeugt, z. B. symmeikta epigrammata46 („Gemischte Epigramme“) oder auch die beiden Sammlungen, die in einem Ilias-Scholion genannt sind, in dem der Scholiast konstatiert, dass Aristarch ein umstrittenes homerisches Wort nicht in den Epigrammata Poseidipps, sondern im sogenannten Soros (‚Haufen‘) gefunden habe.47 Eine sichere Identifikation des Mailänder Papyrus mit einer der bezeugten Sammlungen ist jedoch nicht möglich. Und leider kann auch die Frage nicht beantwortet werden, ob der Autor selber die Sammlung zusammengestellt hat oder ein Philologe, ein Buchhändler, ein Poseidipp-Verehrer. Dass in dieser Zeit Autoren ihre Texte selber zusammengestellt und ediert haben (eine Entwicklung, zu der sicher die Klassikerausgaben der alexandrinischen Philologen den Anstoß gegeben haben),48 beweisen z. B. die Aitia des Kallimachos, und das schon genannte Ilias-Scholion legt die Annahme nahe, dass Poseidipp ein Gedicht – nach Kritik? – nicht in eine spätere Sammlung aufgenommen hat.49 Wer auch immer aber die Sammlung zusammengestellt hat:50 Sicher ist, dass der Papyrus Milanese Vogliano VIII 309 das älteste erhaltene Epigrammbuch der Antike ist, das uns viele interessante Einblicke in die Frühzeit der Gestaltung von Gedichtbüchern gibt; das gilt z. B. für die vieldiskutierte Frage nach der Anordnung der Epigramme in den einzelnen Sektionen oder für die Verbindung der Sektionen untereinander.51 Der Papyrus hat eine Flut von textkritischen Studien ausgelöst. Der hier vorgelegte Kommentar versucht die lebhafte Diskussion zusammenzufassen und für einen möglichst breiten Leserkreis zugänglich zu machen. Wir hoffen, dass er sich auch für Studierende und Interessenten aus den Nachbardisziplinen als hilfreich erweisen wird. Nicht zuletzt deswegen ist allen Ergänzungsvorschlägen und Paralleltexten eine Übersetzung beigefügt. Entstanden ist die Idee zu dem Kommentar im Kontext des Sonderforschungsbereichs 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste der Freien Universität Berlin. Die ästhetische Revolution der „griechischen Moderne“ (Droysen) bot eine ideale Basis, Fragen, die den gesamten SFB in der zweiten Phase der Laufzeit vorrangig beschäftigten (Autonomie der Kunst; Kunst und Politik, Verhältnis von Kunst und Nicht-Kunst, Konzepte eines neuen Realismus) aus antiker Perspektive zu betrachten und Parallelen und Kontraste herauszuarbeiten. Zu den vier Mitgliedern der SFB-Arbeitsgruppe (Anna-Maria Gasser, Eva María Mateo Decabo, Bernd Seidensticker, Antje Wessels) wurden Kolleginnen und Kollegen eingeladen, die sich bereits seit längerer Zeit mit Poseidipp beschäftigt hatten. In einer Reihe von workshops, an denen auch weitere interessierte Kolleginnen und Kollegen teilnahmen, wurden die Epigramme gemeinsam gelesen und diskutiert und die Form des Kommentars 45 Das zeigt sich schon daran, dass fast alle überlieferten Gedichte nicht in der Sammlung erscheinen. 46 P. Petrie II 49a = SH 961 (vgl. dazu Bastianini 2002). 47 Schol Hom. Il. 11.101: μὴ ἐμφέρεϲθαι δέ φηϲιν ὁ Ἀρίϲταρχοϲ νῦν ἐν τοῖϲ Ποϲειδίππου ἐπιγράμμαϲι τὸν Βήριϲον, ἀλλʼ ἐν τῶι λεγομένωι Ϲωρῶι εὑρεῖν. Zum Soros vgl. Fernández-Galiano 1987, 33–36; Gutzwiller 2005, 7 f. 48 Gutzwiller 2005, 3. 49 Bing 2009, 190 f. 50 Möglich ist, dass a) ein fremder Herausgeber oder b) Poseidipp selbst bereits existierende Gedichte zu einer Sammlung zusammengestellt hat; sollte Poseidipp die Sammlung konzipiert haben, könnte er natürlich einzelne Epigramme oder auch ganze Sektionen eigens dafür geschrieben haben. 51 Gutzwiller 2005, 1 f.: „The new text offers invaluable information about the development of poetry books, which arose in the crucible of the third-century royal courts and later migrated to Rome.“; vgl. auch 2005, 287–319.

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festgelegt. Natürlich unterscheidet sich die Kommentierung der einzelnen Sektionen nicht unerheblich; die zu Grunde liegende Struktur ist aber immer identisch: Auf eine knappe Einleitung folgen der erhaltene Text und eine wörtliche Übersetzung; das Herzstück bildet der Kommentar, der neben Sacherklärungen vor allem die wichtigsten der zahlreichen Ergänzungen und Konjekturen diskutiert, die bisher vorgelegt worden sind;52 im Anschluss daran finden sich ein Lesetext, der auf den im Kommentar begründeten textkritischen Entscheidungen beruht,53 sowie eine kurze Interpretation des rekonstruierten Textes.54 Abgerundet wird der Band durch Abdruck und Übersetzung der schon vor der Publikation des Papyrus bekannten Gedichte Poseidipps55 und einen kurzen Essay zur Frage der geopoetischen Qualität des Gedichtbuchs.   Die Herausgeber

52 Text und Apparat basieren auf der letzten Fassung (12.1) der von Benjamin Acosta Hughes, Elizabeth Kosmetatou, Martine Cuypers und Francesca Angiò auf der Homepage des Center for Hellenic Studies bereitgestellten und regelmäßig auf den neuesten Stand gebrachten Edition, die im Apparat die gesamte textkritische Auseinandersetzung mit dem Mailänder Papyrus so gut wie vollständig präsentiert. Der Apparat ist vereinheitlicht und dort, wo es nötig oder sinnvoll erschien, leicht modifiziert. Alle in den überlieferten Text aufgenommenen Konjekturen stammen aus der editio princeps. 53 Auf die Textrekonstruktion wird verzichtet, wenn der Text vollständig (oder doch nahezu vollständig) erhalten ist (z. B. 8), wenn für die nicht erhaltenen Teile des Textes keine Vorschläge vorliegen (z. B. 9) oder wenn der Text so schlecht erhalten ist, dass er nicht einmal in wesentlichen Teilen rekonstruiert werden kann (z. B. 1). 54 Die Auseinandersetzung mit anderen Interpretationen ist in der Regel in den Kommentar integriert. 55 Der Text ist der Ausgabe von C. Austin und G. Bastianini entnommen: Posidippi Pellaei quae supersunt omnia, Mailand 2002.

Lithika Den Beginn des Mailänder Papyrus bilden 19 oder 201 zum Teil sehr fragmentarische Epigramme über Steine, die mit 126 Versen die umfangreichste Sektion des erhaltenen Textes.2 Bis auf 15, das von Tzetzes in leicht abweichender Form überliefert wird und eines der beiden Epigramme ist, die Poseidipps Autorschaft für das gesamte Epigrammbuch nahelegen, war bis zur Entdeckung des Papyrus keines dieser Epigramme bekannt. Der Titel des Abschnitts ist mit dem Anfang der Rolle verloren gegangen; die Erstherausgeber glauben aber immerhin, die Buchstaben κα lesen zu können. In Analogie zur Bildung von sechs der folgenden Sektionsüberschriften kann man daraus auf den Titel λιθι]κὰ ‹ἐπιγράμματα› (‚‹Epigramme› über Steine‘) schließen (ed. pr. 13), da alle der sich anschließenden Epigramme (bis auf die stark zerstörten 1, 10 und 18 sowie 20, dessen Verse wahrscheinlich zu 19 gehören) einen Stein erkennen lassen und λίθοϲ alle Arten von Steinen beschreiben kann.3 In den vorliegenden Epigrammen reicht das Spektrum von kleinen gravierten Edelsteinen bis zu riesigen unbearbeiteten Felsbrocken. Epigramme über Steine sind in der Anthologia Palatina nur sehr vereinzelt bezeugt (9.544, 748, 752); die Autorschaft und damit die zeitliche Relation dieser Gedichte zu Poseidipp sind unklar. Durch die beträchtliche Anzahl von Steinepigrammen und deren mutmaßliche explizite Bezeichnung als Lithika könnte Poseidipp den allerdings, soweit wir sehen können, folgenlosen Versuch unternommen haben, Steine als neuen Gegenstand der Epigrammatik zu etablieren. Im Hinblick auf die bezeugten Formen der Gattung lassen sich diejenigen Epigramme der Lithika, die künstlerisch bearbeitete Steine beschreiben (1–15), der erst im 4. Jh. v. Chr. entstehenden und bis in die Spätantike fortwirkenden Unterkategorie des ekphrastischen Epigramms zuordnen (Hunter 2004, 94) und zum einen mit den Epigrammen des 10. Buchs der AP, die konventionellere Kunstobjekte behandeln, zum anderen mit Poseidipps Sektion der Andriantopoiika vergleichen. Daneben finden sich in einigen Epigrammen Anklänge an die Gattungen des sympotischen (2–3) und des erotischen Epigramms (5–7) sowie an das Weihepigramm (3–7). Innerhalb des Mailänder Papyrus eint die Lithika mit mehreren Sektionen die Tatsache, dass sie aus einem bestimmten Wissensbereich schöpfen und so in die Nähe der Lehrdichtung rücken.4 Nicht nur als Thema der Epigrammatik, sondern auch als zentraler Gegenstand poetischer Werke überhaupt begegnen uns Steine zum ersten Mal in den neuen Epigrammen Poseidipps. Möglicherweise deuten ausführliche ekphrastische Beschreibungen, wie z. B. die eines Amethysts in Heliodors Aithiopika 5.13–14, auf eine reiche Tradition von Lithika hin; die früheste poetische Behandlung von Steinen ist aber für Dionysios Periegetes (2. Jh. n. Chr.) bezeugt, dem Lithika bzw. Lithiaka zugeschrieben werden (Hunter 2004, 94), und die bislang erste und einzige erhaltene Steindichtung sind die sogenannten Orphischen Lithika (Ὀρφέωϲ Λιθικά)5 aus dem 4. Jh., die im Auftrag des Hermes den Menschen die magischen Kräfte der Steine erklären. Danach ist uns Steindichtung erst wieder aus dem Mittelalter überliefert; 1 2 3 4 5

Zur wahrscheinlichen Verbindung der Epigramme 19 und 20 s. u. S. 110 f. u. Höschele 2010, 156–162. Ob die Lithika die Epigrammsammlung auch ursprünglich eröffnet haben, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, da der Anfang der Papyrusrolle offenbar verloren ist (vgl. Einl., S. 9, 11). Es ist denn auch das am häufigsten verwendete Wort für Stein in der Epigrammgruppe (4, 6–8, 11 u. 13–17; für die alternativen Bezeichnungen πέτρη und λᾶαϲ vgl. 19.5 u. 13). Zur Begründung einer Gattung „didactic epigram“ durch die Lithika, Oionoskopika, Iamatika und Andriantopoiika vgl. Sider 2005. Fälschlicherweise hat Tzetzes die 774 Hexameter aufgrund der Nachricht der Suda, Orpheus sei Autor einer Schrift über Steine, diesem zugeschrieben (Hopfner 1926, 766).

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hervorzuheben ist das 732 Verse umfassende Lehrgedicht des Marbod von Rennes (Haye 1997, 147) Im Vergleich mit den wenigen in Versen verfassten Lithika ist weit mehr Prosaliteratur über Steine aus der Antike erhalten: zum einen Bücher mit dem Titel περὶ λίθων wie Theophrasts gleichnamiger Traktat (4. Jh. v. Chr.), zum anderen Abhandlungen über Steine innerhalb allgemeinerer Schriften wie das 37. Buch der Naturalis Historia des Plinius. Außer dem rein mineralogischen Buch des Theophrast konzentrieren sich alle erhaltenen Schriften auf die magischen und medizinischen Wirkungen von Steinen. Derartige Werke dürfte es in Griechenland nicht vor den Kriegen gegen die Perser gegeben haben, von denen die Griechen die offenbar aus Babylon stammende Lehre von der Sympatheia übernahmen, nach der die sieben Planetengötter das ganze Weltall, also auch die Steine, durchdringen. Die Theurgie, mit der man sich die magischen Wirkungen der Steine zur Heilung von Krankheiten, Förderung der Fruchtbarkeit, Vorhersage der Zukunft und zu diversen anderen Zwecken zunutze zu machen versuchte, kam erst durch Alexander nach Griechenland. Dem Magnetstein, dessen anziehende und abstoßende Kräfte man als Ausdruck seiner Beseeltheit deutete (vgl. 17), wurden z. B. die Fähigkeiten zugeschrieben, eheliche Treue zu prüfen, geschwisterliche Treue herzustellen und Liebe zu erregen. Im Zusammenhang der Sympathielehre spielte offenbar die Gravierung mit der Figur eines Gottes oder mit einem seiner Symbole, durch die ein Stein erst zum Zauberstein wurde, eine wichtige Rolle.6 Von den uns erhaltenen Schriften über Steine kann Poseidipp nur das Buch des Theophrast gekannt haben. Weitere potentielle Quellen können wir aus Plinius erschließen, der in Buch 37 seiner Naturalis Historia u. a. auf Sotakos, der im späten 4. bzw. frühen 3. Jh. v. Chr. eine Schrift über die magischen und medizinischen Wirkungen von Steinen verfasst hat (Gutzwiller 1995, 388) und von Poseidipp möglicherweise in 15 rezipiert wird, sowie auf einige nicht überlieferte hellenistische Autoren (Hopfner 1926, 748) verweist, deren zeitliches Verhältnis zu Poseidipp jedoch nicht sicher bestimmbar ist. Die Lithika des Poseidipp sind weder wie das Steinbuch des Theophrast aus mineralogischer Perspektive an den Eigenschaften der beschriebenen Steine noch an ihren magisch-medizinischen Effekten interessiert, sondern an der ästhetischen Wirkung, die der jeweilige Stein und ggf. seine Gravur auf einen Betrachter haben. Die Epigramme rezipieren aber offenbar in kreativer Weise die Prosaliteratur über Steine, deren Wissen über die Art, die geographische Herkunft, die spezifischen Eigenschaften, das Aussehen und die Eignung zur künstlerischen Bearbeitung sie zum Teil für ihr Verständnis voraussetzen, zum Teil korrigieren (vgl. Schur 2004; Sider 2005).7 Sprachlich ist der Einfluss der Fachliteratur auf die vorliegenden Lithika begrenzt: Nur die in nicht allen Epigrammen erhaltenen Namen von Steinarten 8 und das zentrale Verb γλύφειν (‚schneiden‘) bzw. seine Ableitungen γλύμμα (‚Schnitt‘) und möglicherweise γλυπτόϲ (‚geschnitten‘) dürften der technischen Sprache der Prosaliteratur entstammen.9 Unklar ist, ob sich das Verb auch dort auf ein Gravurmotiv bezieht, wo ein Motiv nicht ausdrücklich genannt wird (vgl. 3, 5, 7), und ein Motiv infolge dessen in allen Epigrammen angenommen werden muss, in denen eine Form von γλύφειν vorkommt, oder ob es auch allgemeiner die

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Hopfner 1926, 748 f., 754 –758, 760–761, 764 –767. Vorausgesetzt wird z. B. in 5 und 8 das Wissen um die Unterscheidung einer weiblichen und einer männlichen Form des behandelten Steins; korrigiert werden z. B. Aussagen über die Schneidbarkeit (15) und Herkunft (5) von Steinen. 8 5, 8, 11, 12, 14, 17. 9 Für γλύφειν vgl. 3.2, 5.1, 7.4, 8.4, 14.2, 15.3, 15.4, für γλύμμα 11.3, 11.6, 12.6, 13.3, 15.4, 15.6; γλυπτόϲ ist konjiziert in 13.3.

Anna-Maria Gasser

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künstlerische Bearbeitung meinen und sich auf das Schleifen, Polieren oder Formen eines Steins beziehen kann. Die Tatsache, dass γλύφειν „auch in Bezug auf Inschriften bzw. in Stein gemeißelte Reliefs verwendet werden“ kann (Höschele 2010, 168), deutet jedenfalls darauf hin, dass der Gebrauch des Verbs nicht auf die Beschreibung von Intaglios, d. h. Steinen mit vertieft gearbeiteter Darstellung, beschränkt ist, sondern auch von den erhaben geschnittenen Reliefs von Kameen gebraucht werden kann. Ob Poseidipp, der in den Epigrammen 1–15 überwiegend Intaglios behandelt, auch Kameen beschreibt, hängt von der Antwort auf die umstrittene Frage ab, ob es Kameen bereits im frühen Hellenismus gegeben hat (vgl. 8). Die Epigramme der Lithika-Sektion sind deutlich ionisch geprägt: Außer in den stark zerstörten 1– 4 und in 20 finden sich in jedem der Gedichte eine oder mehrere Formen des Dialekts. Darüber hinaus klingen Wortwahl und Formengebrauch einiger Epigramme, insbesondere von 19, an die Sprache des Epos und speziell an Homer an. Die Lexik der Lithika ist durch eine gewisse Tendenz zu außergewöhnlichem Vokabular gekennzeichnet (vgl. Di Nino 2010): Neben mehreren hapax legomena finden sich unbezeugte Formen, selten belegte Wörter und ungewöhnliche Junkturen.10 Die Anordnung der zur Eingangssektion gehörenden Epigramme scheint nicht willkürlich zu sein, sondern bestimmten Prinzipien zu folgen.11 Die Epigramme lassen sich in eine größere Gruppe über kleine, wertvolle, künstlerisch bearbeitete Schmucksteine (1–15) und eine kleinere über große, außergewöhnliche, unbearbeitete Steine unterteilen,12 die sich durch ein besonderes Merkmal auszeichnen (16–20).13 Mit Blick auf die Funktion der beschriebenen Steine kann man die erste Untergruppe in wiederum zwei kleinere Abschnitte unterteilen: 1–7 dürften Steine, die in Schmuckstücke eingefasst sind und Frauen geschenkt werden, beschreiben, 8–15 Steine, die nicht verschenkt werden und offenbar als Teil von Siegelringen (9, 11–15) und Wandschmuck (8) Männern gehören.14 Während in 8–15 (außer in dem fast gänzlich zerstörten 10) jeweils ein meist kriegs- und/oder machtbezogenes Gravurmotiv erwähnt wird,15 lässt von den ersten sieben Epigrammen – möglicherweise aufgrund von deren vergleichsweise schlechtem Erhaltungszustand – nur 3 ein Bild (Trinkschale) erkennen. Innerhalb der beiden Untergruppen von 1–15 bilden einzelne Epigramme Paare und Dreiergruppen, die den Blick auf das variierte Detail lenken.16 10

Nicht belegt sind ἡμίλιθοϲ (5.1), ἀηνιόχητοϲ (14.5), ἕκχουν (18.4) und τετρακαιεικοϲίπηχυϲ (19.13), die durch leichte Korrektur des überlieferten Textes entstandenen ἐναντιοεργόϲ (17.5) und τειρατοεργόϲ (19.10) sowie ἑκατόργυοϲ (20.3) und die Form ϲάπειροϲ (5.1). Konjizierte hapax legomena sind δακτυλοκοιλογλύφοϲ (4.2), ὑπεκτείνεϲθαι (11.5), ἀποδώτωρ (18.3) und ἡμιπλέθραιοϲ (19.5). Selten bezeugt sind κυανόθριξ (5.3), εὐπώγων (15.2), φαληριᾶν (15.3), τετραγλώχιϲ (18.7) und die Verbindungen γλύμμα κοῖλον (11.3), χρύϲεαι βάϲανοι (16.4). 11 Vgl. ed. pr. 25; Hunter 2004, 97; Gutzwiller 2002c, 3–5. 12 Diese Aussage kann nur unter Vorbehalt der vollständigen Kenntnis der stark zerstörten 1, 2, 10 und 18 getroffen werden. 13 In 16 ist dies der Glanz, in 17 die Fähigkeit, Eisen anzuziehen und abzustoßen, und in 19 die Größe. 14 Hunter 2004, 97. 9 nennt ein Siegel, 11 das für den in 15 thematisierten Abdruck erforderliche Wachs. 15 8 zeigt den persischen Großkönig Dareios auf einem Wagen, 9 die Lyra des Hofdichters des samischen Herrschers Polykrates, 10 einen König, 13 offenbar mit einem Löwen oder Greif ein tierisches Herrschersymbol, 14 das Heldentier Pegasus und einen Wagen, der in einen durch den Mord an einer Schlange gewonnenen Stein geritzt ist. Eine Ausnahme dieser dominierenden Motivik könnte 11 mit der Darstellung von Aglaia, einer der drei Grazien, bilden. 16 2 und 3 behandeln ein Trinkgefäß im Symposiumskontext, 4 und 5 beschreiben einen farbähnlichen Stein unter Rückgriff auf Himmelsphänomene, 6 und 7 erzählen in ihrem letzten, im Wortlaut beinahe identischen Distichon die Schenkung eines Steins an eine Nikonoe, 11 und 12 behandeln Muschelschalen und 13–15 erwähnen wahrscheinlich jeweils ein Tier als Gravurmotiv (13, 14)

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Lithika 

Die ersten 15 Epigramme sind durch die Wiederholung, Variation und Negierung bestimmter Motive besonders eng verflochten. Der elaborierte Topos der mehrstufigen Steintransformation von der Herkunft des Steins aus Bergen, Flüssen und dem Meer und aus exotischen Regionen17 über den Schnitt des Steins durch einen Künstler18 und die Einfassung des Steins in ein goldenes Schmuckstück19 bis zur Schenkung an eine Frau20 durch den Schenker bzw. Auftraggeber21 ist zum Teil vollständig in 3–7 erkennbar;22 einzelne Etappen dieses Prozesses werden aber auch in den folgenden Epigrammen 8–15 erwähnt, die sich auf die künstlerische Verwandlung des Steins konzentrieren. Drei Stellen rekurrieren durch den ‚Topos der Ablehnung‘23 ex negativo auf Elemente der Lithika, die in den jeweils vorangehenden Gedichten etabliert wurden: 8 setzt mit der Feststellung an, es handele sich bei dem beschriebenen Stein nicht (sc. wie in 1–7) um Frauenschmuck, 11 wendet sich zu Beginn gegen die durch die Sektionsüberschrift und die vorangehenden zehn Epigramme aufgebaute Erwartung, es behandele wiederum einen Stein (und nicht eine Muschelschale); schließlich bestreitet der Anfang von 15 die Herkunft des behandelten Steins aus einem Fluss, wie sie offenbar in 1, 7 und im nachfolgenden 16 angegeben wird. Mit dem Topos der Steingravur spielt offenbar 6, das einen von der Sonne auf den Stein reflektierten Regenbogen beschreibt, bevor sein Pendant 7 (vgl. Anm. 16) wieder eine konventionelle Gravur beinhaltet. Die Beschreibung der Steine beschränkt sich in 1–15 nicht auf die regelmäßig genannte Gravur, sondern nimmt auf diverse sichtbare Phänomene Bezug. Topisch ist die Erwähnung des Glanzes,24 der durch den des Goldes komplementiert wird.25 Daneben werden immer wieder die Farben der Steine hervorgehoben.26 Zur Illustrierung

bzw. Herkunftsort (15): Der in 13 konjizierte Löwe und die in 15 erwähnte Schlange könnten die Chimäre, die aus Löwe, Ziege und Schlange besteht und von dem in 14 dargestellten Pegasus besiegt wurde, evozieren (Kuttner 2005, 157–8). 17 Für einen Fluss als Ursprungsort vgl. 7 und offenbar 1; für das Meer 11 und 12; für Berge 7. Aus Indien stammen wohl die Steine von 1 und 2, aus Persien die Objekte von 4, 5 und 11, aus Arabien der Stein von 7. 18 Steinschneider werden durch die generischen Bezeichnungen λιθουργόϲ (3.1, 15.7) und χειροτέχνηϲ (14.2) oder namentlich erwähnt (Kronios in 2.2 und 7.3, Timanthes in 5.1). 19 Bei den goldenen Schmuckstücken handelt es sich um einen Armreif (4), Halsketten (6, 7) und eine offenbar zur Befestigung des Steins an der Wand dienende Kette (8). 12 nennt nur die Einfassung. 20 Genannt werden eine anonyme, als πότνια adressierte Frau (3.4) und in der dritten Person eine möglicherweise historische Mandene (4.6) und die uns unbekannten Nikaie (5.4) und Nikonoe (6.4 und 7.5). 21 Schenker sind ein anonymer Sprecher, der eine „Herrin“ auffordert, den Stein anzunehmen (3.3 f.), Demylos (5.3) und Heros (6.1); ein Dareios erscheint offenbar in 4.2 als vormaliger Besitzer und vielleicht als Schenker. 22 Das Schema wird im Einzelnen variiert: Bestimmte Elemente fallen weg oder sind in den Fragmenten nicht erkennbar, und unterschiedliche Aspekte bilden jeweils den Ausgangspunkt der Beschreibung: in 1 und 7 der natürliche Ursprung, in 2 die Gravur, in 3 und 4 der Edelstein, in 5 der Steinschneider und in 6 der Schenker. 23 Hunter 2004, 97 u. Höschele 2010, 162. 24 Explizit erwähnt werden der Glanz (3.1, 6.6, 8.5, 11.1 und vielleicht 13.2), das Leuchten (7.6), Glitzern (6.3) und Blitzen (13.4) und möglicherweise der personifizierte Glanz, die Grazie Aglaia, als Gravurmotiv (11). 25 Gold wird als Material der Steineinfassungen (4.5, 6.4, 7.4, 8.2, vermutlich 12.2) und als angeblicher Bestandteil des Lapislazuli (5.2) erwähnt. 26 Neben blaugrünen (4), sternhimmelfarbenen (5), honigfarbenen (7) und silbernen (11) Objekten wird ein himmelfarbener Stein beschrieben, auf dem der in den Himmel aufsteigende Pegasus passend abgebildet ist (14).

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des Glanzes, der Farben und anderer Phänomene wie eines temporären Lichteffekts ziehen die Epigramme Himmelsphänomene zum Vergleich heran.27 16–20 nehmen verschiedene Topoi der ersten Gruppe wieder auf. Ähnlich wie 8 die Epigramme 8–15 durch die Bezugnahme auf die konstitutiven Elemente von 1–7 einleitet, rezipiert 16 die Topoi von 1–15 in kreativer Weise: Da der (aus einem arabischen Fluss stammende) exotische und schön glänzende Kristall nicht das Wertkriterium der Seltenheit erfüllt, das 16 erstmals explizit nennt und retrospektiv den offenkundig wertvollen Steinen von 1–15 zuschreibt, erscheinen hier das Gold und ein Himmelsphänomen in anderer Funktion als in 1–15: als hypothetisches Vergleichsobjekt im Hinblick auf den objektiven Wert das Gold, im Hinblick auf die allgemeine Wertschätzung die Sonne. Analog zum Vergleich des Glanzes zweier Steine in 8 reflektiert 16 implizit über den unterschiedlichen materiellen Wert der in beiden Untergruppen behandelten Steine: Wie der glänzende Stein in 16 erfüllen die folgenden Steine nur eines der erforderlichen Kriterien: die Seltenheit. Umso mehr sind sie geeignet, Erstaunen über ihre außerordentlichen Qualitäten zu erregen: Die ab 8 einsetzende Hervorhebung der wundersamen Aspekte der Steine bzw. der Steinverarbeitung setzt sich in den letzten Epigrammen der Sektion fort.28 In scheinbarem Gegensatz zu diesem subjektiven Ausdruck des Erstaunens stehen in 18 und 19 die Zahlen- und Maßangaben zur Steinbeschreibung, die Objektivität wie in 8 suggerieren, sich aber als Teil eines hyperbolischen Spiels erweisen.29 Epigramm 19, das von einem riesigen Felsbrocken, den Poseidon geworfen hat, erzählt und mit der Bitte an Poseidon schließt, von einer weiteren Untat abzusehen, bildet, zusammen mit den sehr wahrscheinlich dazugehörenden letzten sechs Versen der Sektion, den Höhepunkt der die einzelnen Abschnitte überspannenden, graduellen Entwicklung der Lithika: Pindars Vorbild folgend beginnt die Sektion mit wertvollen Gegenständen und endet mit dem wertlosesten.30 Die zunehmende Größe der Steine findet formale Entsprechung in der Länge der Gedichte31 und ihrer raffinierten Komplexität: Die kurzen ersten Epigramme (1–7) beschränken sich auf die Beschreibung der Produktion, Merkmale und Weitergabe der Kunststeine. In den darauf folgenden Epigrammen (8–15) wird der Steinbeschreibung durch eine Ekphrasis, die in der Beschreibung eines erzählenden Bildes (14) kulminiert, eine weitere Ebene hinzugefügt. 13–15 betrachten die Zusammenhänge der Produktion und Rezeption eines Steinkunstwerks, bevor sich die abschließenden Epigramme diversen Formen der Rezeption eines Steins widmen, die von der philosophischen Reflexion von Wertmaßstäben (16) bis zur narrativen Rezeption von Literatur anhand eines Steins (19) reichen. Die zunehmende Diversität der Steinepigramme (Hunter 2004, 97) gipfelt in 19 und 20: die Thematisierung des Felsbrockens (19) sprengt 27

Erwähnt werden der Glanz des Mondes (4.3), Farbe und Glanz eines sternbesäten Himmels (5.2), ein regenbogenfarbener Lichteffekt (6.2), ex negativo eine Wolke, die den klaren Stein nicht durchzieht (8.8), die Farbe des Himmels (bzw. der Luft, 14) und die Sonne (13). 28 Als „Wunder“ (τέραϲ, θαῦμα) hervorgehoben werden die Klarheit eines Steins bei enormer Größe (8), der Glanz eines mit Fett eingeriebenen Steins, der das Gravurmotiv verbirgt (13), die Mühe, mit der der Steinschneider die Belastung der Augen beim Schneiden einer winzigen Gravur ausgehalten hat (15), und offenbar die zweifache Fähigkeit des Magneten, als „Wunderwerk“ (τειρατοεργόν) der große, von Poseidon gewuchtete Felsstein (19). 29 Die in 18 in der Nennung möglichst vieler Zahlen erkennbare „notion of calculation“ führt 19 durch die einleitende Aufforderung „zähle nicht“ und die anschließende Erfindung extrem langer längenangebender Wörter fort (Hunter 2004, 97). 30 Vgl. Pind. Ol. 6.1–3 (Χρυϲ‹έα›ϲ ὑποϲτάϲαντεϲ εὐ- / τειχεῖ προθύρῳ θαλάμου / κίοναϲ ὡϲ ὅτε θαητὸν μέγαρον / πάξομεν· ἀρχομένου δ’ ἔργου πρόϲωπον / χρὴ θέμεν τηλαυγέϲ) zur Forderung nach einer „glänzenden Stirn“ poetischer Werke. 31 8, das in acht Versen in der ersten Sektionshälfte einen großen Stein beschreibt, bestätigt als Ausnahme die Regel.

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Lithika 

in ironischer Weise den durch 1–18 vorgegebenen Gattungsrahmen,32 und das nahtlos an 19 anknüpfende Gebet an Poseidon,33 der das Land des hier zum ersten Mal erwähnten Ptolemaios im Gegensatz zu anderen Gebieten verschonen soll (20), rundet die erste Sektion der Sammlung ab.34 Geschlossenheit scheint die Sektion auch dadurch zu erhalten, dass sich mehrere Gedichte an einer gedachten Achse, die durch die Mitte der Sektion verläuft, spiegeln: 1 und 19/20 korrespondieren vielleicht miteinander durch die Erwähnung von Zeus und Alexander35 bzw. Poseidon und Ptolemaios, 2, 3 und 18 durch die gemeinsame Symposiumsthematik und die das stichometrische Zentrum rahmenden 11 und 12 (Höschele 2010, 160) durch die Behandlung von Muschelschalen. Die Lithika sind durch die sprachliche und motivische Parallelität, Opposition und Variation aufeinanderfolgender Gedichte und durch diverse Vor- und Rückverweise auf äußerst raffinierte Weise miteinander verwoben und spielen fortwährend mit der Lesererwartung. Ob die offenbar intendierte Anordnung, die einerseits in Anlehnung an die Strukturprinzipien der petrographischen Fachliteratur pragmatisch, andererseits in hohem Maße ästhetisch motiviert ist,36 von Poseidipp oder einem späteren Kompilator stammt, ist nicht zu entscheiden. Die Komplexität der Verflechtung legt aber die Annahme nahe, dass Poseidipp nicht nur der Autor aller Steingedichte ist, sondern diese auch als Gruppe konzipiert hat.37 Eng hiermit verbunden ist die Frage nach dem Anlass der Epigramme, die wohl kaum als reale Inschriften entstanden sind (contra Lelli 2005, 84 f.). Die wiederholte Erwähnung von Schenker, Künstler und beschenkter Person liefert sowohl Argumente für die Deutung der Lithika als Gelegenheitsdichtung im mehrfach evozierten Symposium als auch dafür, dass – ähnlich wie Anakreon für Polykrates (9) – Poseidipp für Ptolemaios dichtet, für den er in 19 Schonung erbittet.38 Die vielen expliziten und impliziten geographischen Angaben der Lithika dürften der Hervorhebung ptolemäischer Macht dienen.39 Die auffällige häufige Evozierung Persiens40 könnte dazu dienen, Ptolemaios II. als Nachfolger Alexanders, der 333 bei der Verfolgung Dareios’ III. von dem späteren Ptolemaios I unterstützt wurde und 332 Ägypten von den

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Alternativ zur Deutung von 19 als „generic joke“ ließe sich die Existenz des Epigramms als Ergebnis noch unklarer Grenzen der neuen Gattung (Hunter 2004, 97 f.), seine Stellung am Ende der Sektion durch die pragmatische Entscheidung des Kompilators, es als unpassend hinten anzuhängen, erklären (Höschele 2010, 153). Auch die Oionoskopika, Anathematika und Epitymbia bezeugen die zunehmend losere Anbindung der Epigramme zum angekündigten Thema und werden ebenso wie die Hippika durch zwei Epigramme beschlossen, die eng miteinander, aber kaum mit dem Rest der Gruppe verknüpft sind (vgl. Höschele 2010, 153; Hunter 2004, 98 f.) 33 Vgl. 19 und 20 zur Einheit der beiden Epigramme. 34 Der Schluss der Gruppe ähnelt dem von Hymnen und einigen Gedichtbüchern (z. B. Kallim. ait. fr. 112.8); zur Behandlung ptolemäischer Themen am Ende anderer Sektionen vgl. Hunter 2004, 98 f. 35 Der indische Fluss Hydaspes wurde zu Poseidipps Zeit ausschließlich mit Alexander assoziiert (Hunter 2004, 95, 97); der Name des Zeus lässt sich vielleicht aus der überlieferten Silbe ζην ableiten und ist auch in 2 im Namen des Steinschneiders Kronios präsent. 36 Zur Pragmatik der Anordnung vgl. Krevans 2005, zu ästhetischen Strukturmerkmalen Bing 2005; Hunter 2002 und 2004; Prioux 2008, 167–172; Höschele 2010, 156–163. 37 Obbink/Stephens 2004, 15; Höschele 2010, 152; vgl. dagegen Johnson 2005, 80. 38 Lelli 2004, 132 f.; Höschele 2010, 165. 39 Vgl. u. S. 438 ff. zur Geopoetik. Zu den Lithika als Dichtung im Dienste der Ptolemäer vgl. Stephens 2004a u. 2004b. 40 Drei Stein-Objekte werden explizit als „persisch“ charakterisiert (4, 5, 11); zudem wird in 13 offenbar das Gravurmotiv als persisch bezeichnet, und 8 suggeriert einen persischen Kontext.

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Persern eroberte, zu stilisieren.41 Angesichts persischer Inschriften, die in ähnlicher Weise wie die Lithika die Herkunft der verwendeten Baumaterialien und Handwerker nennen, aber im Gegensatz zu den vorliegenden Epigrammen sogar explizit darauf hinweisen, dass deren Erwähnung der Hervorhebung persischer Herrschaft an den genannten Orten dient, könnte die achämenidische Propaganda Poseidipp als Vorbild für seine implizite Rühmung der Ptolemäer mittels der Geopoetik gedient haben. Ebenso könnte Poseidipp mit den kostbaren Steinen auf den in Griechenland berühmt-berüchtigten persischen Luxus anspielen, der eine wichtige Rolle in der Machtsymbolik der Großkönige spielte (Petrovic 2014). Auch wenn Poseidipp in den Lithika keine expliziten Aussagen über Dichtung trifft, scheinen zumindest 1–15 als Epigramme über in Stein Geschnittenes, also als „Inschriften über Inschriften“, eine selbstreflexive poetologische Interpretation zu provozieren.42 Ausgehend von der implizierten Vergleichbarkeit von dargestellter und darstellender Kunst lassen sich zum einen die Aussagen über die thematisierten Bedingungen und Prozesse der Produktion und Rezeption der Steinschneidekunst und zum anderen die über die Steine geäußerten Qualitätsund Werturteile auf Poseidipps (Stein-)Dichtung übertragen: Ebenso wie der Steinschneider muss der Epigrammatiker seine Darstellung auf engstem Raum und daher mit extremer Kunstfertigkeit realisieren.43 Einige Epigramme könnten auf die Notwendigkeit geeigneter Rezeptionsbedingungen hindeuten und die Materialität der Epigrammsammlung hervorheben, indem sie Steine, deren Farbe Teil des auf ihnen dargestellten Motivs ist, das Zusammenwirken des Steinglanzes mit dem Schimmer der Haut einer Frau und die goldene Fassung gravierter Steine thematisieren (Höschele 2010, 169). Durch die detaillierte Beschreibung der sichtbaren Steinqualitäten und des schöpferischen Sehens in 15 dürften die Epigramme ihre Rezipienten zum genauen und produktiven Lesen anhalten. Die in den Epigrammen thematisierte Schenkung der Steine könnte auf die Übergabe der Epigramme an ihren Leser anspielen oder darauf hinweisen, dass die Epigramme beim Symposium zusammen mit dem Stein, den sie veredeln,44 verschenkt werden. Die Ästhetik der beschriebenen Steine könnte neben der variatio, dem Spielerischen, dem Glanz und der Extravaganz besonders das ‚Kleine und Feine‘45 als Qualität von Dichtung fordern. Die Transformation der rohen Natursteine zu geschliffenen, feinen Kunstobjekten könnte sich auf die kreative hellenistische Polierung der Themen und Topoi der archaischen und klassischen Dichtung, wie sie in 19 vorgeführt wird, beziehen.46 Die Verwandlung der Steine könnte sich aber auch auf die historische Entwicklung 41

Alexanders Sieg über die Perser wird sozusagen nachträglich im ersten Oionoskopika-Epigramm thematisiert. 42 Schur 2004, 120; Bing 2005, 120; Höschele 2010, 164. Als „mise-en-abyme“ (Höschele 2010, 169) kann insbesondere das erzählende Bild in 14 angesehen werden. Für poetologische Deutungen vgl. Höschele 2010, 163–170; Schur 2004; Bing 2005; Hutchinson 2002a; Petrain 2005. 43 Diese wird durch die Formulierung ὑπὸ τέχνηϲ im stichometrischen Zentrum der Sektion betont (Prioux 2008, 71). Die Lithika heben außer in 12 auch in 14 das handwerkliche Geschick und in 15 den scharfen Blick des Künstlers hervor. 44 Die Epigramme ergänzen insofern den Stein, indem sie die temporären Steinqualitäten, die Schönheit der künftigen Steinbesitzerin und den Moment der Übergabe auf ewig festzuhalten vermögen. Zum Paragone in der hellenistischen Literatur vgl. Männlein-Robert 2007. 45 Die Hervorhebung kleiner Formen in 1–15 wird am Ende der Sektion zunehmend unterlaufen. Detailverliebtheit bezeugen 3, das die Randverzierung einer gravierten Schale betont, und die Epigramme, die sich durch die Variation eines Themas nur in Nuancen unterscheiden. 46 Während das Florentiner Scholion (PSI Flor. XI 1219 1.1–15), wenn es die Telchinen, gegen die Kallimachos im Aitienprolog polemisiert, u. a. mit Poseidipp identifiziert und damit einen Gegensatz zwischen der Dichtung Poseidipps und der kallimacheischen Ästhetik impliziert, nicht unbedingt ernst genommen werden kann, muss konstatiert werden, dass nicht allen von Poseidipps ‚neuen‘

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Lithika 1

der Gattung Epigramm von „inschriftlicher Gebrauchspoesie“ zu einer „anspruchsvolle[n] Kunstform“ beziehen. Indem die Lithika diese Entwicklung durch ihre zunehmende literarische Komplexität selbst performativ umsetzen, präsentieren sie sich als programmatischer Beginn eines Buchs, dessen Epigramme (bis auf die Oionoskopika) sämtlich Steininschriften sind oder sich als solche inszenieren. Der Titel „Gedichte über Steine“ kann als Überschrift der gesamten Sammlung von „Gedichten auf Steinen“ verstanden werden47 und die Beschreibung der glänzenden Steine in 1–16 als „leuchtender Beginn“48 nicht nur der Lithika, sondern des gesamten Epigrammbuchs. 1 Die spärlichen Überreste der vier Verse, die offenbar das erste Epigramm der Gruppe darstellen, lassen weder einen Stein noch einen Sprecher erkennen. I 2 Ἰνδὸϲ Ὑδάϲπηϲ̣ [ 1 3 .].θ̣.[…].ο̣θ̣[ 2 4 ±15 ]τ̣ο̣.[ 3 5 …….]ν̣ λ̣επ̣τ̣ὴ Ζη̣ν̣[ 4 5 Ζη̣ν̣[οβίαϲ, Ζη̣ν̣[οδότηϲ, Ζη̣ν̣[οφίληϲ ed. min.

Der Indische Hydaspes […] […] […] […] feine […] V. 1 Ἰνδὸϲ Ὑδάϲπηϲ̣: Die Junktur findet sich fünfmal in Nonnos’ Dionysiaka, wo sie immer am Ende des Hexameters erscheint (17.254; 21.225; 22.3; 31.188; 39.45). Zu Poseidipps Zeit wird der Fluss (heute: Jhelam in Pakistan) v. a. mit der letzten Schlacht Alexanders des Großen und dessen Sieg über den indischen König Poros (326 v. Chr.) assoziiert (vgl. Hunter 2004, 97). Auf der Ebene des Textes dürfte Poseidipp mit dem Fluss den Herkunfts- bzw. Fundort des Steins meinen. Die Herkunft eines Edelsteins aus bzw. sein Transport in einem Fluss ist in den Lithika topisch: Die Steine dreier weiterer Epigramme (7, 10, 16) werden in Flüssen herangespült, und 15 betont explizit, dass sein Stein nicht aus einem Fluss stammt, greift also den Topos ex negativo auf (vgl. die Einl. zur Sektion, 22). Die Assoziation des Hydaspes mit Edelsteinen findet sich auch bei Seneca (Med. 725: Hydaspes gemmifer, „der Edelsteine mit sich führende Hydaspes“) und Statius (Theb. 8.237: gemmiferum … Hydaspen; für weitere Stellen in der lateinischen Literatur vgl. Hutchinson 2002, 3). Theophrast stellt in seinen Charakteren die

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Epigrammen der ‚Glanz‘ bzw. ‚(letzte) Schliff‘ zugebilligt werden kann; dass die Qualität der Gedichte schwankt, ist von modernen Interpreten wiederum als Indiz dafür gewertet, dass sie zum Teil nicht von Poseidipp stammen (vgl. auch die Bemerkung Schol. Flor. 5 Pfeiffer Ποϲειδίππωι τῶι ονο, die offenbar Poseidipp mit einem der Esel identifiziert, von deren Lärm in Kallim. ait. 1.30 die Rede ist (vgl. Asper 1997, Anm. 58 u. Anm. 269). Vgl. Höschele 2010, 155 f., 161. Vgl. Anm. 86.

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Verbindung zwischen Alexanders Feldzügen nach Osten und den dortigen Edelsteinen her, indem er den alazon berichten lässt, „wie viele steinbesetzte Kelche Alexander (sc. von dort) mitgebracht habe“ (ὅϲα λιθοκόλλητα ποτήρια ἐκόμιϲε 23.1–3, vgl. Bing 2004, 123). V. 4 λε̣ πτ̣ ὴ ̣ : Bei λεπτόϲ bzw. seiner Variante λεπταλέοϲ, die häufiger im Epos gebraucht wird (Schwyzer 1939, 484), handelt es sich um ein „Allerweltswort“ mit „notorischer Multivalenz“ (Asper 1997, 184). Es bezeichnet Körper und Körperteile als „dünn“, „Klänge“ als „harmonisch“, changiert im metaphorischen Sinne zwischen „spitzfindig“ und „klug“ und charakterisiert verschiedenste Gegenstände als „klein“ oder „fein“ (Asper 1997, 189). Welche Bedeutung das Adjektiv an der vorliegenden Stelle hat, ist nicht zu entscheiden, da sein Bezugswort nicht erhalten ist. Es könnte sich auf den Stein (auf λίθοϲ oder auf den Namen einer bestimmten Art von Edelsteinen bzw. auf seine Gravur) beziehen, das einzige Objekt, von dem wir aufgrund der folgenden Gedichte, die bis einschließlich 15 fast sämtlich gravierte Objekte behandeln, relativ sicher ausgehen können, dass es in den verlorenen Teilen des Epigramms genannt wurde. Im mutmaßlichen Eröffnungsgedicht einer hellenistischen Gedichtsammlung lässt das Adjektiv an seine moderne Rezeption als ‚Zentralbegriff‘ der so genannten kallimacheischen Dichtungsprogrammatik denken (vgl. Schwinge 1986, 13 und 15; vgl. Bing 2005, 120 zur vorliegenden Stelle). Bei Kallimachos selbst ist jedoch kein terminologischer, geschweige denn programmatischer Gebrauch des Adjektivs festzustellen. Er verwendet das Wort nur an zwei Stellen als poetologische Metapher (Asper 1997, 189), zum einen in Apolls Anweisung im Aitienprolog, fr. 1.1.23 f. Pfeiffer (ἀοιδέ, τὸ μὲν θύοϲ ὅττι πάχιϲτον /]ν Μοῦϲαν δ’ ὠγαθὲ λεπταλέην, „[…] Sänger, das Opfer möglichst fett, […] aber die Muse, mein Bester, dünn!“), zum anderen in der Apostrophe von Arats Phainomena in Epigramm 56 Asper (= 27 Pfeiffer: λεπταὶ ῥήϲιεϲ, „ihr feinen Verse“, Asper 1997, 189). Die genaue ‚Bedeutung‘ der komplexen (Stil-)Metapher lässt sich für beide Stellen nicht festlegen. Erst nach Kallimachos wurde λεπτόϲ zur „lexikalisierten“ und damit „programmfähigen“ Metapher (Asper 1997, 189). Ob λεπτόϲ im vorliegenden Epigramm proprie oder als (möglicherweise poetologische) Metapher gebraucht ist, lässt sich aufgrund des verlorenen Kontexts nicht sagen. Mit einem ‚Zentralbegriff hellenistischer Dichtungstheorie‘ haben wir es aber hier ebenso wie bei Kallimachos nur aus der Sicht späterer (v. a. römischer und moderner) Rezeption zu tun. — Ζη̣ν̣[: Die drei schwach erkennbaren Buchstaben könnten eine Form von Ζήν (Ζηνόϲ, Ζηνί, Ζῆνα), der bisweilen in der Ilias gebrauchten, aber vor allem bei den Tragikern geläufigen Alternative zur attischen Form Ζεύϲ (Διόϲ usw.), darstellen. Da die Gedichte des Papyrus ausschließlich letztere Form verwenden (33.3; 34.3; 75.2; 79.3; 80.3; 85.3; nur ein Epigramm des Alten Poseidipp hat Ζηνόϲ [115.10]), liegt eine zweite Möglichkeit mindestens genauso nahe: Die Silbe könnte den Anfang eines weiblichen Namens bilden, der wie in 4.6, 5.4, 6.4 und 7.5 die Frau bezeichnet, die mit einem Stein beschenkt wird. Wenn man annimmt, dass der Nominativ λεπτή den Stein charakterisiert (vgl. das vorangehende Lemma), wäre der Name der Besitzerin im Genitiv (ed. min.; vgl. 6.4 Νικονόηϲ) oder auch im Dativ (vgl. 7.5 Νικονόηι) zu erwarten. Von den drei Namen Ζην[οβίαϲ, Ζην[οδότηϲ und Ζην[οφίληϲ, die die ed. min. exempli gratia vorschlägt, ist keiner für die hellenistische Zeit bezeugt (LGPN verzeichnet Ζηνοβία zweimal kaiserzeitlich [IIIa u. IV], Ζηνοδότη viermal kaiserzeitlich [Va], Ζηνοφίλη gar nicht; dazu ist Ζηνοβία für das kaiserzeitliche Ägypten zweimal belegt, vgl. Prosopographia Ptolemaica). Immerhin sind die maskulinen Formen vielfach für das ptolemäische Ägypten bezeugt. Von dem ersten Gedicht der Lithika (und wahrscheinlich auch der Sammlung; vgl. Höschele 2010), das vermutlich aus vier Versen bestand, sind nur dreieinhalb Wörter (und einzelne Buchstaben) erhalten. Über seinen Inhalt lässt sich somit fast nichts sagen. Die erkennbaren Wörter

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Lithika 2

können vor dem Hintergrund der folgenden Gedichte (2–7 bzw. 2–15), die wiederkehrende inhaltliche Elemente und Topoi aufweisen, vorsichtig kontextualisiert und gedeutet werden. Ein Stein bzw. ein steinähnliches Objekt, wie es alle anderen Gedichte der Lithika nennen, sofern sie zu einem gewissen Teil erhalten sind, ist in den Fragmenten des ersten Epigramms nicht zu erkennen. Da die Steine der folgenden Gedichte meist durch Adjektive charakterisiert werden, könnte man eventuell eine derartige Funktion für λεπτή (V. 4) annehmen. Der Name des Flusses (V. 1) lässt sich in Verbindung damit bringen, dass vier der folgenden Gedichte die Frage thematisieren, ob der jeweilige Stein in einem Fluss herantransportiert wurde (vgl. das Lemma Ἰνδὸϲ Ὑδάϲπηϲ̣). Bei dem „indischen Hydaspes“ dürfte es sich also um den Fundort des Steins, der möglicherweise im Zentrum des Epigramms steht, handeln. Darüber hinaus könnte die Erwähnung desjenigen Ortes, bis zu dem Alexander vorgedrungen war, eine politische Dimension eröffnen: Sie bildet den Anfang einer Reihe von Anspielungen auf Alexander und Makedonien, die die Gedichtsammlung durchziehen und Poseidipp offenbar dazu dienen, die Ptolemäer als legitime Nachfolger Alexanders darzustellen (Stephens 2004b; vgl. Einl., S. 13 f.). Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die Evozierung Alexanders und der Grenzen seines Reiches in diesem ersten Gedicht der Lithika mit der Erwähnung des Ptolemaios und seines Herrschaftsgebiets im letzten Epigramm der Sektion korrespondiert (vgl. 20). Noch spekulativer als die Deutung der vollständig erhaltenen Wörter Ἰνδὸϲ Ὑδάϲπηϲ̣ und λ̣επ̣τ̣ὴ ist diejenige der Buchstabenfolge ζη̣ν̣ (V. 4): Die Konjektur eines Frauennamens im Genitiv (vgl. das Lemma Ζη̣ν̣[) geht davon aus, dass das vorliegende Epigramm ebenso wie fünf der folgenden sechs Gedichte eine Frau, die mit einem Stein beschenkt wird, erwähnen könnte. Die vorgeschlagenen Namen, deren Ergänzung jedoch äußerst unsicher ist, würden ebenso wie der im folgenden Epigramm erwähnte Name eines Steinschneiders Κρονίου auf Zeus anspielen. Der Anfang der Sektion könnte daher nicht nur in politisch-geographischer, sondern auch in religiöser Hinsicht mit ihrem Ende korrespondieren: Während die ersten beiden Gedichte subtil Zeus zu evozieren scheinen, apostrophieren 19/20 Poseidon. Diese Überlegung fällt aufgrund der unsicheren Deutung von ζην allerdings ebenso in den Bereich der Spekulation wie Hunters Annahme (2004, 95), dass Poseidipp hier im Anschluss an Arat. 1.1 und Theokr. eid. 17.1 (Ἐκ Διὸϲ ἀρχώμεϲθα) den Ursprung seiner Lithika oder sogar der gesamten Gedichtsammlung auf Zeus zurückführt. 2 Das stark zerstörte Epigramm beschreibt ein Kunstwerk des Steinschneiders Kronios. Bei dem erwähnten Trinkhorn handelt es sich möglicherweise, wie bei der Trinkschale des folgenden Epigramms, um das Intaglio-Motiv des beschriebenen Steins. Einen Sprecher lassen die Fragmente dieser vier Verse nicht erkennen. I

6 ..……]. κεῖτ̣[α]ι̣ κεραϲ̣[ 7 …… ὑ]π̣ὸ Κρονίου βαϲα̣[ 8 ….. οἰ]ν̣οχοεῖϲθαι οπ.[ 9 …….]λανθη βυϲϲόθε̣ν̣ Ἰνδ.[

1 2 3 4

6 ]η̣ vel ]κ̣ P ποικίλον ἐ]κ̣κεῖτ̣[α]ι̣ κέραϲ̣ [εὖ γλυφὲν ἐξ ἀμεθύϲτου vel θαυμαϲί]η̣ κεῖτ̣[α]ι̣ κέραϲ̣ [ὧδ’ ὑπέχουϲ’ ἀμέθυϲτοϲ e.g. Austin 2001a/b (contra Kuttner 2005) 7 χειρὸϲ ὑ]π̣ὸ Austin 2001a, ed. min.  βὰϲ ἀ̣[πὸ ϲυμποϲίου Austin 2001a, ed. min. 8 ἄξιον οἰ]ν̣ο- Austin 2001a, ed. min. ὁ πα̣[ῖϲ ed. min. 9  λᾶαϲ ἐκοι]λάνθη … Ἰνδο̣[γενήϲ ed. min.

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[…] liegt ein Horn […] […] von Kronios […] […] Wein einschenken […] […] von Grund auf […] V. 1 ].κεῖτ[̣ α]ι̣ κεραϲ[̣ : Der Anfang des Gedichts ist irreparabel zerstört. Bei dem ersten erkennbaren Wort dürfte es sich um das Prädikat des Satzes handeln: Die lesbaren Buchstaben lassen sich leicht zu dem Simplex κεῖται ergänzen, das die Position oder den Ort eines Gegenstandes angibt (‚liegt‘, ‚befindet sich‘). Nicht auszuschließen ist allerdings, dass sie Teil des Kompositums ἔκκειται (‚steht hervor‘, ‚ragt heraus‘) sind. Die Entscheidung hängt von der Bedeutung und syntaktischen Funktion ab, die man für das darauffolgende κέραϲ (‚Trinkhorn‘) annimmt, das einer Form von κεράννυμι vorzuziehen ist. Hierfür spricht zum einen die Parallele zum folgenden Epigramm, das ebenfalls ein Trinkgefäß (φιάλη, ‚Trinkschale‘) nennt, zum anderen, dass οἰνοχοεῖϲθαι (V. 3) und βυϲϲόθεν (V. 4) in κέραϲ einen inhaltlichen Bezugspunkt hätten und dass eine direkte Aufeinanderfolge zweier Verbformen vermieden wäre. κέραϲ, eigentlich generell ‚Horn‘, bezeichnet in verengter Bedeutung synonym zu ῥυτόν ein ‚Trinkhorn‘ (vgl. ἐκ τοῦ κέρατοϲ αὖ μοι δὸϲ πιεῖν, Hermipp. 43; LSJ A.III.3), das meist in einer Protome, einem Tierkopf, endete und zum Einschenken von Trankopfern verwendet wurde. Die zentrale Frage bei der Deutung des Wortes an der vorliegenden Stelle ist, wie es sich zu dem Steinkunstwerk verhält, das aus den Resten des Epigramms erschlossen werden kann. Prinzipiell scheint es zwei Möglichkeiten des Verhältnisses von Trinkhorn und Stein zu geben: Entweder (1) sind sie identisch, d. h. bei dem Trinkhorn handelt es sich um einen dreidimensionalen steinernen Gebrauchsgegenstand, der von Kronios gearbeitet wurde, oder (2) es handelt sich bei dem Trinkhorn um die von Kronios gefertigte Gravur eines Steins, dessen Form uns nicht bekannt ist (beide Möglichkeiten sind archäologisch gut bezeugt: für Trinkgefäße aus Edelstein vgl. Plin. nat. 36.59; Bühler 1973, cat. 8 in 1–9; Pfrommer 1993, n. 480; Gasparri 1994, 75, fig.102; für Edelsteine mit eingravierten Trinkgefäßen, die nur aus Rom und erst ab dem ersten Jh. bekannt sind, vgl. AGD III, n. 547 [ῥυτόν] u. IV, n. 1350, 1351, 1352 [Krüge], 1355 [Krater]; vgl. ed. pr. 111). Anhand der spärlichen Fragmente ist diese Frage nicht zu entscheiden. Plausibler erscheint aber die zweite Interpretationsvariante, da die Steinobjekte der Epigramme 1–15, soweit der Überlieferungszustand des jeweiligen Gedichts diese Aussage zulässt, sämtlich graviert sind (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 21). Es ist zwar nicht auszuschließen, dass auch Variante 1 eine Gravur beinhaltet; möglicherweise trägt das Trinkhorn eine Gravur. Ein starkes Argument für Variante 2 bietet aber das folgende Epigramm, dessen „Trinkschale“ trotz des schlechten Zustandes des Gedichts recht sicher als Gravurmotiv identifiziert werden kann (vgl. den Komm. zu 3.1: ἐν ὧ‹ι› φι̣α̣λ[). Von einer analogen Beschreibung eines Intaglios, das ein Trinkgefäß abbildet, gehen auch Austins Vorschläge zur Rekonstruktion des ersten Verses aus: In seiner ersten Ergänzung (2001a: ποικίλον ἐ]κ̣κεῖτ̣[α]ι̣ κέραϲ̣ [εὖ γλυφὲν ἐξ ἀμεθύϲτου, „ein buntes Trinkhorn sticht hervor, das schön aus dem Amethyst geschnitten worden ist“) ist κέραϲ Subjekt und ἔκκειται offenbar metaphorisch gebraucht (vgl. Philostr. Imag. 2.1: ἀλλ’ οὐ βούλεται γεγράφθαι δοκεῖν ἡ θεόϲ, ἔκκειται δὲ οἵα λαβέϲθαι, „aber die Göttin will nicht gemalt erscheinen, sondern sie steht heraus, als ob sie ergriffen werden könnte“); ein wörtliches Verständnis (vgl. LSJ A.II.2) würde gegenüber der Annahme, dass die meisten der von Poseidipp beschriebenen gravierten Steine Intaglios sind (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 21) implizieren, dass es sich hier um eine Kamee handelt. Durch γλυφέν integriert der vorgestellte Ergänzungsvorschlag nicht nur eine Form des Themawortes der Lithika (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 20 f.), sondern bietet auch eine sinnvolle Anschlussmöglichkeit für ὑ]πὸ̣ Κρονίου im

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nächsten Vers („der von Kronios ‹geschnitten worden ist›.“). Daher ist diese Ergänzung Austins zweitem Rekonstruktionsvorschlag (2001b: θαυμαϲί]η̣ κεῖτ̣[α]ι̣ κέραϲ̣ [ὧδ’ ὑπέχουϲ’ ἀμέθυϲτοϲ, „es liegt (da) ein wunderbarer Amethyst, der auf diese Weise ein Trinkhorn darbietet“), der κέραϲ als Objekt des konjizierten Partizips verwendet, vorzuziehen. Die Konjektur von ἀμεθύϲτου bzw. ἀμέθυϲτοϲ in diesem symposiastischen Epigramm begründet die ed. pr. v. a. mit dem indischen Ursprung des Steins, der am Ende des Epigramms angedeutet wird (vgl. das Lemma Ἰνδ.[). Sie erscheint zudem vor dem Hintergrund der literarischen Assoziationen des Steins mit dem Themenbereich des ‚Trinkens‘ attraktiv, die auf zwei konträren etymologischen Erklärungen des Steinnamens ἀμέθυϲτοϲ bzw. seiner älteren, bis zum 4. Jh. ausschließlich gebrauchten Form ἀμέθυϲοϲ (z. B. Theophr. lap. 30–31; vgl. Sens 2011, 304) beruhen: Die eine versteht die erste Silbe des Wortes als Alpha privativum und ἀμέθυϲτοϲ entsprechend als „nüchternen Stein“ (Sens 2011, 304). Die hiervon ausgehende, offenbar weit verbreitete Ansicht, der Amethyst schütze vor Trunkenheit (vgl. Plut. mor. 15B; 647B; Cyranides 6.3; Nonn. Dion. 12.380) kritisiert Plinius als „eitles Geschwätz der Magier“ (37.124: Magorum vanitas; zu Plinius’ hellenistischen Quellen vgl. Hopfner 1926, 747–769). Die andere Erklärung deutet den Anfangsbuchstaben als Alpha intensivum: Der Amethyst sei nach seiner Farbe, die einer Mischung von Wein (μέθυ) und Wasser nahekommt, benannt (Plut. 647B; vgl. Plinius’ neutrales Referat dieser Ansicht, nat. 37.121). Die weinähnliche Farbe von Amethyst hebt bereits Theophrast hervor (lap. 31: τὸ δ᾿ ἀμέθυϲον οἰνωπὸν τῇ χρόᾳ, „der Amethyst ist weinrot in seiner Farbe“; zum Amethyst allgemein vgl. Blümner 1884, 251 f., Caley-Richards 1956, 121 f.). Mit der zuerst genannten Etymologie des Steinnamens spielen auch zwei hellenistische Epigramme, die vom Amethyst im symposiastischen Kontext sprechen: ein Distichon des „noch hellenistischen“ Jüngeren Platon49 (AP 9.748) und das vermutlich von Poseidipps Zeitgenossen Asklepiades von Samos verfasste Epigramm AP 9.752.50 V. 2 ὑ]π̣ὸ Κρονίου: Kronios ist der Steinschneider, der auch in 7.3 als Urheber eines Steinkunstwerks genannt wird. Als zeitlichen Bezugspunkt für Kronios nennt Plinius (nat. 37.8) den Steinschneider Pyrgoteles, den er ins 4. Jh. v. Chr. datiert: Post eum Apollonides et Cronius in gloria fuere („Nach ihm [d. h. Pyrgoteles] waren Apollonides und Kronios berühmt“; vgl. ed. pr. 111). Kronios dürfte also Poseidipps Zeitgenosse gewesen sein. Zur Angabe seiner Urheberschaft ist die Junktur ὑπὸ Κρονίου hinreichend. Da in 7.3 f. aber die „Hand“ des Kronios hervorgehoben wird, erscheint es plausibel, die Lücke am Versanfang durch Austins χειρὸϲ (2001a, „von der Hand des Kronios“) zu füllen. Die Hand als Werkzeug des Künstler bzw. sogar

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Weinreich 1909, 315. Albiani 2000, 1110 datiert hingegen seine Schaffenszeit ins 1. Jh. n. Chr. Vgl. Lausberg 1982, 162. Die Überlieferung schreibt das Epigramm alternativ Antipater von Thessalonike (spätes 1. Jh. v. Chr.) zu; mögliche politische Bezüge, poetische Merkmale und das Spiel mit den Motiven, welche die Steingedichte seines Zeitgenossen Poseidipp prägen, sprechen aber für Asklepiades’ Autorschaft (Sens 2011, 301 f.). Damit handelt es sich, abgesehen von Poseidipps Steingedichten, möglicherweise um das einzige Lithikon des 3. Jh.s v. Chr. Ein anonymes erotisches Weihepigramm (AP 5.205 [= HE 3798–3803]) behandelt einen Kreisel aus Amethyst im Kontext der Steinschneidekunst unter Verwendung ihres zentralen terminus technicus und der Topoi der ‚Einfassung in Gold‘, des ‚Glanzes‘ und der ‚Schenkung an eine Frau‘ (χρυϲῶι ποικιλθεῖϲα, διαυγέοϲ ἐξ ἀμεθύϲτου γλυπτή, ϲοὶ κεῖται, Κύπρι, φίλον κτέανον („in Gold gearbeitet, aus durchleuchtendem Amethyst geschnitten, ist er [der Kreisel] dir, Kypris, als teurer Besitz geweiht“, 5.205.3 f.), die im Erhaltenen des vorliegenden Epigramms nicht erkennbar, aber konstitutiv für die besser erhaltenen Gedichte der Gruppe 1–7 (vgl. Einl. zur Sektion, S. 22) und auch hier, in 2, zu erwarten ist.

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metonymisch als Künstlerin selbst dient in ekphrastischer Literatur dazu, die Kunstfertigkeit des Künstlers zu betonen (Sens 2011, 303 zu AP 9.752.1, s. o.; für den Papyrus vgl. auch die emphatische Hervorhebung der Hand 14.2: χεῖρά τε καὶ κατὰ νοῦν ἔγλυφ’ ὁ χειροτέχνηϲ sowie 67.2: τῆϲ Θεοδωρείηϲ χειρὸϲ ὅϲοϲ κάματοϲ). — βαϲα̣: Die Buchstabenfolge ist bislang nicht zufriedenstellend gedeutet oder ergänzt worden. V. 3 οἰ]νο̣ χοεῖϲθαι: Der Infinitiv benennt wohl die Funktion des ‚Trinkhorns‘ („Wein einschenken“); darüber, wie er sich syntaktisch in den Zusammenhang fügt, kann nur spekuliert werden. — οπ.[: Die Ergänzung der folgenden beiden Buchstaben zu ὁ παῖϲ („der Diener“, ed. min.) ist aufgrund von 18.3: οἰνο]χόωι ϲὺν παιδὶ („zusammen mit dem Weinschenk“) sinnvoll, aber keineswegs zwingend. V. 4 ]λανθη βυϲϲόθε̣ν̣: Das erhaltene Adverb beschreibt Vorgänge, bei denen etwas ‚aus der Tiefe‘ oder ‚vom Grund her‘ befördert wird. Der Bezugspunkt von βυϲϲόθεν ist an seiner einzigen vorhellenistischen Belegstelle der Meeresgrund (Soph. Ant. 590), bei Poseidipps Zeitgenossen ebenfalls einmal der Meeresboden (Anyte, AP 7.215.2), aber auch ein Flussbett (Kallim. Del. 127), die Erde (Kallim. iamb. fr. 202 Pfeiffer = 163.59 Asper) und der Grund der Seele (Eratosth. fr. 36.4 Powell). Hier könnte sich βυϲϲόθεν auf die ‚Vertiefungen‘ des Steinkunstwerks beziehen: entweder auf den Boden des steinernen Gefäßes oder auf die konkaven Formen des gravierten Trinkhorns. Denkbar ist vielleicht, dass das Adverb ein Verb näher bestimmt, das die Aushöhlung bzw. Gravierung des Steins bezeichnet; vgl. z. B. den Vorschlag der Erstherausgeber λᾶαϲ ἐκοι]λάνθη (‚der Stein wurde ausgehöhlt‘), die sich auf den Gebrauch von κοιλαίνειν i. S. v. γλύφειν im zweiten nachchristlichen Jh. bei Iulius Pollux (1.13, vgl. auch 5.149) stützen (ed. pr. 111). — Ἰνδ.[: Die überlieferten Buchstaben deuten darauf hin, dass der Schluss des Epigramms die Herkunft des bearbeiteten Steins offenbart, der anscheinend aus Indien stammt (zum Topos der Herkunftsangabe in den Lithika vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22; zum indischen Ursprung vgl. 1.1: Ἰνδὸϲ Ὑδάϲπηϲ̣). Daher erscheint es sinnvoll, die erhaltenen Buchstaben entweder zu einer Form von Ἰνδόϲ oder zu einem Kompositum, dessen erster Bestandteil Ἰνδο- ist, z. B. Ἰνδογενήϲ (‚aus Indien stammend‘), das sich auf das am Anfang des Verses konjizierte λᾶαϲ (ed. pr., vgl. das Lemma ]λανθη βυϲϲόθε̣ν̣) bezieht, zu ergänzen. Der mutmaßliche Hinweis auf die Herkunft des Steins aus Indien stellt ein weiteres Argument für die Annahme dar, dass dieser ein Amethyst ist (vgl. ed. pr. 111). Denn Plinius weist Indien als bedeutendstes Ursprungsgebiet von Amethyst aus, bevor er andere Fundorte angibt (nat. 120 f.). Dass diese Hervorhebung nicht allein die Menge von auffindbarem Amethyst betrifft, sondern auch die Qualität der Steine, zeigt neben der Abwertung der in der Liste zuletzt angeführten Gebiete (sordidissimae autem vilissimaeque in Thaso et Cypro, „die schmutzigsten und wertlosesten aber auf Thasos und Zypern“, 121) v. a. das Bestreben der „Färberwerkstätten“, das „phönizische Purpur“ der indischen Amethyste nachzuahmen (122).  

Rekonstruktionsvorschlag …… ἐ]κκεῖτ[α]ι κέραϲ [εὖ γλυφὲν ἐξ ἀμεθύϲτου χειρὸϲ ὑ]πὸ Κρονίου βαϲα[ … οἰ]νοχοεῖϲθαι οπ. [ λᾶαϲ ἐκοι]λάνθη βυϲϲόθεν Ἰνδο[γενήϲ

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[…] es steht ein Horn hervor, gut geschnitten aus einem Amethyst von der Hand des Kronios […] […] Wein einschenken […] der indische Stein wurde von Grund auf ausgehöhlt. Das zweite Gedicht der Lithika ist fast ebenso schlecht erhalten wie das vorangehende. Sein Inhalt kann nicht sicher rekonstruiert werden. Anhaltspunkte für die Deutung der erhaltenen Wörter gibt die charakteristische Motivik der Epigramme 1–15 (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22), auf die Poseidipp vielleicht auch für dieses Gedicht zurückgreift, und insbesondere Epigramm 3, mit dem das vorliegende ein Paar zu bilden scheint. Gemeinsam ist beiden ein symposiastischer Kontext, der hier durch κεραϲ̣ und οἰ]ν̣οχοεῖϲθαι impliziert wird. Wahrscheinlich steht mit dem „Trinkhorn“ parallel zur „Trinkschale“, die in 3 beschrieben wird, ein Trinkgefäß im Zentrum des 2. Epigramms. Unklar ist, ob man sich das Trinkhorn als Gebrauchsgegenstand oder als Intagliomotiv vorzustellen hat. Sogar eine dritte Variante (‚Intaglio in Form eines Trinkhorns mit unbekanntem Gravurmotiv‘), die an der Vorstellung eines steinernen Trinkhorns festhält, aber den starken Argumenten für eine Gravur Rechnung trägt, kann nicht ausgeschlossen werden. Die plausible, aber keineswegs gesicherte Annahme, dass es sich um die Gravur eines Amethysts handelt (Austin 2001a), wird neben dem mutmaßlichen Hinweis auf den indischen Ursprung des Steins v. a. durch ein vermutlich zeitgenössisches symposiastisches Steinepigramm (AP 9.752; Asklepiades?) gestützt, das die personifizierte ‚Trunkenheit‘ als Gravurmotiv eines Amethysts thematisiert: Εἰμὶ Μέθη τὸ γλύμμα ϲοφῆϲ χερόϲ, ἐν δ’ ἀμεθύϲτῳ γέγλυμμαι· τέχνηϲ δ’ ἡ λίθοϲ ἀλλοτρίη. ἀλλὰ Κλεοπάτρηϲ ἱερὸν κτέαρ· ἐν γὰρ ἀνάϲϲηϲ χειρὶ θεὸν νήφειν καὶ μεθύουϲαν ἔδει. (9.752 = HE 1014 –1017) Ich bin die Trunkenheit, die Gravur einer geschickten Hand; in einen Amethyst bin ich geschnitten worden: Der Kunst jedoch ist der Stein abgeneigt. Aber ich bin Kleopatras heiliger Besitz; denn an der Herrscherin Hand musste die Göttin auch betrunken nüchtern sein.

Ähnlich wie dieses könnte das vorliegende Epigramm das Potential des Amethysts als eines „paradoxen Mediums“ zur Darstellung symposiastischer Inhalte (Sens 2011, 300) nutzen und mit der Spannung zwischen seiner charakteristisch weinähnlichen Farbe und seiner traditionellen, auf Volksetymologie beruhenden Deutung als Schutz vor Trunkenheit (‚A-methyst‘) spielen. Ob das Epigramm wie AP 9.752 eine Besitzerin des gravierten Steins nennt oder sogar wie 3 die Schenkung des Steins an eine Frau imaginiert, geht aus dem Erhaltenen nicht hervor. Denkbar wäre dies nicht nur, weil die besser erhaltenen Gedichte der Lithika bis einschließlich 7 dieses inhaltliche Element erkennen lassen, sondern auch, weil Trinkgefäße typische erotische Geschenke im Rahmen des Symposiums waren und Poseidipp – wie in 3 – auf diese Praxis durch die Darstellung eines Intaglios mit Trinkgefäß-Abbildung rekurrieren könnte. Das Epigramm schließt durch seinen symposiastischen Inhalt nicht nur an das folgende, sondern möglicherweise durch die Behandlung eines Steins indischer Herkunft auch an Epigramm 1 an. Gleich im zweiten Gedicht der Sammlung wird also deutlich, dass wir es mit einer durchdachten Zusammenstellung von Epigrammen zu tun haben.

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3 Das lückenhaft erhaltene Epigramm beschreibt in seinem ersten Teil einen Stein mit der Gravur einer Trinkschale (φιάλη) und scheint im zweiten Teil, in dem der Sprecher eine „Herrin“ apostrophiert, darzustellen, wie der Stein einer Frau beim Symposion übergeben wird. Die Wortwahl am Schluss des Epigramms klingt an die epische, insbesondere homerische Sprache an. I

10 ……] α̣ὐγάζων ὅδ’ ἐν ὧ‹ι› φι̣α̣λ[ 11 ……]ν ἁρπ̣άζει βλέμματοϲ ὑγ̣ρ̣ὰ̣ φ̣[άη 12 …..].θειϲ τ̣ριέλικτα φυήν· ϲὺ δὲ κα.[ 13 …..]. ἐν δαίτη‹ι› πότνια .[….]δ̣ε̣[

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10 ἄνθραξ] Austin 2001a, ed. min.  φι̣ά̣λ[η καταλάμπει Austin 2001a : φι̣ά̣λ[ην ὁ λιθουργὸϲ ed. min. : φι̣ά̣λ[η τιϲ ἐγλύφθη De Stefani 2003 11 ἔγλυφε]ν ed. min. : ἀνδράϲι]ν vel πᾶϲιν ἀ]ναρπ̣άζει De Stefani 2003 12 χάλκα]ν̣θ’ εἰϲ Austin 2001a, ed. min. : χάλκα]ν̣θ’ εἷϲ Lapini 2004c  καί̣[ν’ ἀγαπῶϲα Austin 2001a, ed. min. : και̣[νὰ φιλοῦϲα Lapini 2007 13 εὔφρω[ν̣ et τ̣[όνδε] δ̣έ̣[χου Austin 2001a, ed. min.

Dieser glänzende […], in dem eine Trinkschale […] […], zieht des Blickes feuchte (Lichter) […] dreimal gewunden in der Gestalt. Du aber […] […] beim Mahl, Herrin […] V. 1 ] α̣ὐγάζων ὅδ’: Das hier offenbar in intransitiver Bedeutung gebrauchte Partizip (‚glänzend‘) das den ersten Beleg für den Topos des ‚Glanzes‘ in den Lithika darstellt (vgl. die Einl. zur Sektion und insbesondere 8.6: αὐγαῖϲ sowie 16.5: τὸ διαυγέϲ) und das wahrscheinlich deiktisch gebrauchte Demonstrativum dürften sich auf den Stein beziehen, dessen Erwähnung am zerstörten Anfang des Epigramms zu vermuten ist. Da für die Ergänzung der Lücke keines der generischen Wörter in Frage kommt – λᾶαϲ ist zu kurz; λίθοϲ fällt aus metrischen Gründen aus – dürfte dort der Name einer konkreten Steinart, z. B. ἄνθραξ (‚Rubin‘ bzw. ‚roter Saphir‘; vgl. Blümner 1884, 234), gestanden haben (Austin 2001a). — ἐν ὧ‹ι› φια ̣ λ̣ [: ist der Beginn eines Relativsatzes, der sich auf den offenbar zuvor genannten, im überlieferten Text in αὐγάζων ὅδ’ erkennbaren Stein bezieht und diesen als Intaglio ausweist. Das Gravurmotiv kann aufgrund der sicher erkennbaren Buchstabenfolge φιαλ als φιάλη identifiziert werden. Das Wort ist hier in seinem nachhomerischen Sinn gebraucht und bezeichnet analog zu κέραϲ (‚Trinkhorn‘) im vorangehenden Epigramm eine ‚Trinkschale‘ (für mit Trinkgefäßen gravierte Steine vgl. den Komm. zu 2.1). Da der Rest des Relativsatzes zerstört ist, muss offen bleiben, durch welche Kasusendung φια ̣ λ̣ zu ergänzen ist: Die „Trinkschale“ ist entweder Subjekt (vgl. Austin 2001a: ἐν ὧ‹ι› φι̣ά̣λ[η καταλάμπει, „auf dem eine Trinkschale leuchtet“; De Stefani 2003: ἐν ὧ‹ι› φι̣ά̣λ[η τιϲ ἐγλύφθη, „in den eine Trinkschale geschnitten wurde“) oder Objekt (vgl. ed. min.: ἐν ὧ‹ι› φι̣ά̣λ[ην ὁ λιθουργὸϲ /ἔγλυφε]ν, „in die der Bildhauer eine Schale geschnitten hat“). Von diesen Vorschlägen zur Vervollständigung des Relativsatzes erscheint der zuletzt genannte (ed. min.), der sich über die Versgrenze erstreckt und auch die Lücke am Anfang des folgenden Verses füllt, am attraktivsten: Er integriert nicht nur, wie De Stefanis Vorschlag, eine Form des terminus technicus γλύφειν (zu dessen Bedeutung in den Lithika vgl. die Einl. zur Sektion, S. 20 f.) in den Text, sondern zusätzlich den Steinschneider, der auch an allen anderen Stellen,

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an denen der Indikativ von γλύφειν in den Lithika vorkommt, genannt wird (5.1; 7.3 f.; 14.2; 15.4). Anstelle der allgemeinen Berufsbezeichnung (ὁ λιθουργόϲ), die Poseidipp auch 15.7 verwendet (vgl. 14.2 ὁ χειροτέχνηϲ), wäre auch der Name eines bestimmten Steinschneiders denkbar (vgl. 2.2 Κρονίου, 5.1 Τιμάνθηϲ, 7.3 Κρονίου, 15.4 Λυγκείου). V. 2 ]ν: Die beste Ergänzung des Versanfangs scheint ἔγλυφε]ν (‚er schnitt‘, ed. min.) als Prädikat des Relativsatzes, der V. 1 beginnt (ἐν ὧ‹ι› φι̣α̣λ[, vgl. das vorangehende Lemma). — ἁρπ̣άζει βλέμματοϲ ὑγρ̣ ὰ ̣ ̣ φ̣[άη: Subjekt von ἁρπάζει ist vermutlich der zu Beginn des Gedichts evozierte Stein: Er ‚reißt‘ etwas weg, nämlich βλέμματοϲ ὑγρὰ φ[ (‚des Blickes feuchte […]‘). Als Bezugswort von βλέμματοϲ und ὑγρά scheint nur φ[άη („Lichter“) in Frage zu kommen (ed. pr. 111), das für die „Lichter“ der Augen (Pind. Nem. 10.40: φάοϲ ὀμμάτων) und bereits bei Homer auch für die „Augen“ selbst bezeugt ist. In Verbindung mit ὑγρά ist φάη jedoch nicht belegt: ὑγρόϲ kommt nur zur Beschreibung des Blicks bzw. des Blickens vor: Anacreont. 15.21: ὑγρὸν βλέμμα sowie AP 7.27.3 (Antip. Sid.): ὑγρὰ δὲ δερκομένοιϲιν ἐν ὄμμαϲιν („in den feucht blickenden Augen“) und 16.306.3 (Leon. Tar.): λίχνοιϲιν ἐπ’ ὄμμαϲιν ὑγρὰ δεδορκώϲ („mit lüsternen Augen feucht blickend“) vom Blick des Anakreon (vgl. ed. pr. 111). Da auch die Junktur βλέμματοϲ φάη bislang nicht bezeugt ist, bleibt der Ausdruck βλέμματοϲ ὑγρὰ φάη dunkel. Vermutlich kombiniert die ungewöhnliche Formulierung die genannten Verwendungen der einzelnen Wörter und bezeichnet in poetischer Periphrase die ‚feucht blickenden Augen‘ bzw. den ‚feuchten Blick‘ des Betrachters, den der Stein auf sich ‚zieht‘ (vgl. das Lemma ].θειϲ τριέλικτα φύην·). Bemerkenswert ist das gewaltsame Moment von ἁρπάζει, durch welches angedeutet wird, dass sich der Betrachter des Anblicks nicht erwehren kann. Eventuell drückt sich die Anziehung auch in der Beschreibung des Betrachterblicks aus, die durch ὑγρά in der Bedeutung ‚schmachtend‘, ‚sehnsüchtig‘ (Hymn. Hom. Pan 33: πόθοϲ ὑγρόϲ, „sehnsüchtiges Verlangen“) erotisch konnotiert sein könnte (Rampichini u. a. 2008, 93). V. 3 ].θειϲ τ̣ριέλικτα φύην: Das Adjektiv τριέλικτοϲ (‚dreifach gewunden‘, ‚dreifach gedreht‘, ‚geflochten‘), das in ganz verschiedenen Kontexten gebraucht werden (vgl. ed. pr. 112) und auch schlicht ‚dreifach‘ heißen kann (vgl. ed. pr. 112), beinhaltet an der vorliegenden Stelle sicher nicht nur den numerischen Aspekt, sondern auch den der ‚Windung‘: Der folgende Akkusativus respectus (φύην, ‚in der Gestalt‘) zeigt an, dass das sächliche Adjektiv die Form eines Objekts charakterisiert. Vor dem Adjektiv ist möglicherweise die Präposition εἰϲ erkennbar, die im Anschluss an ἁρπάζει im vorangehenden Vers zu dem als τριέλικτα beschriebenen Gegenstand, ‚auf‘ den der Stein den Blick des Betrachters lenkt, gehören könnte. Da der V. 1 f. eingeschobene Relativsatz die Gravur des Steins hervorhebt, ist es wahrscheinlich, dass es sich bei dem von εἰϲ abhängigen und durch τριέλικτα charakterisierten Gegenstand um einen Teil der eingravierten Trinkschale handelt, der den Blick des Betrachters auf sich zieht (vgl. das Lemma ἁρπ̣άζει βλέμματοϲ ὑγ̣ρ̣ὰ̣ φ̣[). Möglicherweise handelt es sich um die Randverzierung der φιάλη in Form einer Blumengirlande, wie sie in Theokrit eid. 1.30 beschrieben wird: In diesem Sinne konjiziert Austin 2001a χάλκανθα (zur Bedeutung ‚Goldblumen‘ und zur Identität von χάλκανθον mit χρυϲάνθεμον und ἑλίχρυϲοϲ vgl. Diosk. mat. med. 4.57 f.; vgl. auch Theophr. hist. plant. 9.19.3; ed. pr. 112). — ϲὺ δὲ κα. [: Die erhaltenen Wörter (‚du aber‘) leiten emphatisch die Apostrophe der V. 4 genannten „Herrin“ (πότνια) ein, bei der es sich um die Frau handeln dürfte, die mit dem Stein beschenkt wird. Der stark zerstörte Text gibt über eine Schenkung zwar keine Auskunft; nennt aber immerhin zwei Komponenten dieses Topos

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(‚Stein‘, ‚Frau‘), der aufgrund seiner Wiederkehr in 4 –7 auch in den ersten drei Gedichten der Sektion zu erwarten ist (vgl. den Komm. zu 1.4). V. 4 ]. ἐν δαίτη‹ι›: Die Buchstabenfolge gibt die tatsächliche oder imaginierte Situation der mutmaßlichen Schenkung des Steins an. Bei δαίτη handelt es sich bei Homer um die „metrische Wechselform“ (LfrgE) zu δαίϲ in seiner häufigsten homerischen Bedeutung „Festmahl“ (vgl. LfrgE B.1). Am zerstörten Versanfang könnte das prädikative εὔφρω]ν̣ (‚wohlwollend‘, ‚gnädig‘) vielleicht die Gemütshaltung der apostrophierten Frau bei der Annahme des Steingeschenks (vgl. das folgende Lemma) einfordern. — πότνια .[….]δε̣ [̣ : Das letzte erhaltene Wort des Epigramms („Herrin“) führt offenbar die im vorangehenden Vers durch ϲὺ δὲ begonnene Apostrophe fort und verrät, dass die angeredete Person weiblich ist. Es dürfte sich um die Frau handeln, die den anfangs beschriebenen Stein als Geschenk erhält (vgl. das Lemma ϲὺ δὲ κα. [ und ed. pr. 112). Mit dieser Annahme wäre die Anrede durch πότνια, das seit Homer als „titelähnliche Bezeichnung“ für Göttinnen reserviert ist (LfgrE; ed. pr. 112; Rampichini u. a. 2008, 93), auf zweierlei Weise vereinbar: Der Sprecher könnte damit die Wertschätzung ausdrücken, die er der sterblichen, aber für gottgleich erachteten Person entgegenbringt (vgl. z. B. die Anrede der Geliebten bei Paul. Sil. [6. Jh. n. Chr.], AP 5.254,270,286; Rampichini u. a. 2008, 93 f.). Ausgehend von dem Gebrauch von πότν(ι)α bei Poseidipp ließe sich die Anrede aber auch auf die vergöttlichte Arsinoë II. beziehen (Rampichini u. a. 2008, 93): Neben der einmaligen Verwendung zur Apostrophe Thessaliens (71.4: πότνια Θεϲϲα̣λ̣ία) bezeichnet es in zwei der ersten vier Epigramme der Anathematika, in denen die zu Lebzeiten vergöttlichte Königin figuriert, Arsinoë II. (vgl. 36.6 die vokativische Nebenform πότνα; 39.3: πότνιαν). Die enge Verbindung dieser Weihepigramme zum vorliegenden Gedicht unterstreicht 38, in dem Arsinoë offenbar eine φιάλη (38.2) geweiht wird. Die Vermutung, dass Arsinoë an der vorliegenden Stelle apostrophiert wird, erscheint daher nicht abwegig, kann aber nicht bewiesen werden. Auf den Vokativ folgte vielleicht die Aufforderung, den Stein als Geschenk anzunehmen (τ̣[όνδε] δ̣έ̣[χου, ‚nimm diesen hier an‘). Rekonstruktionsvorschlag ἄνθραξ] αὐγάζων ὅδ’ ἐν ὧι φιάλ[ην ὁ λιθουργὸϲ ἔγλυφε]ν ἁρπάζει βλέμματοϲ ὑγρὰ φ[άη χάλκα]νθ’ εἰϲ τριέλικτα φυήν· ϲὺ δὲ καί[ν’ ἀγαπῶϲα εὔφρω[ν ἐν δαίτηι, πότνια, τ[όνδε] δέ[χου. Dieser glänzende Rubin hier, in den der Bildhauer eine Trinkschale geschnitten hat, zieht die sehnsüchtig blickenden Augen auf die goldenen Blumen, dreifach gewunden in ihrer Gestalt. Du aber, da du Neues magst, nimm gnädig beim Festmahl, Herrin, diesen hier an. Wenngleich kein Vers des Epigramms vollständig erhalten ist, kann seine Struktur besser rekonstruiert werden als die des vorangehenden Gedichts, mit dem es offenbar ein Paar bildet. Der Kontext des Symposiums, der auch für 2 anzunehmen ist, wird hier durch die Erwähnung einer „Trinkschale“ (φιάλη) und eines „Festmahls“ (δαίτη) evoziert. Die Trinkschale bildet offenbar das Äquivalent zu dem „Trinkhorn“ des zweiten Epigramms und kann im Gegensatz zu jenem eindeutig als Gravurmotiv eines Steins identifiziert werden. Wie im Falle des vorhergehenden

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Lithika 4

Epigramms ist der Stein, von dem die Rede ist, auch hier nicht erhalten. Es ist denkbar, dass es sich um einen Rubin handelt, der dem für 2 vermuteten weinfarbenen Amethyst ähnelt. Der Aufbau des Epigramms ist zweigeteilt: Der erste Teil (V. 1–3a) besteht in der Beschreibung des Steins, die seine Betrachtung impliziert und sich im sukzessiven ‚Heranzoomen‘ des Kunstobjekts vollzieht: Zunächst deutet der Sprecher auf einen Stein hin, dessen Glänzen er hervorhebt. Da er an dieser Stelle noch keinen Adressaten seiner Deixis nennt, ist der Rezipient des Gedichts implizit aufgefordert, die Rolle des imaginierten Betrachters einzunehmen. Dessen Aufmerksamkeit lenkt der Sprecher als nächstes auf das Gravurmotiv und wohl schließlich auf etwas „dreifach Gewundenes“, vielleicht, wie die Erstherausgeber annehmen, eine Blumenverzierung am Rand der gravierten Trinkschale. Der zweite Teil des Epigramms (V. 3b– 4) besteht in der Apostrophe einer „Herrin“ (πότνια), der offenbar die vom Stein angezogenen Augen gehören. Der symposiastische Kontext, in den der Schluss des Epigramms die Steinbeschreibung stellt, wird bereits im ersten Teil durch das Geschenk der „Trinkschale“ angedeutet (vgl. 2, Interpr.). Denkbar ist, dass das Epigramm die Betrachtung und Schenkung des Steins beim Symposion nicht nur beschreibt, sondern auch als Teil des Geschenks begleiten sollte. Es scheint sich als Kunstwerk zu inszenieren, das den Stein in gleicher Weise darstellt wie dieser die Phiale (und diese ihre Randverzierung), und könnte anhand der implizierten Parallelität von Epigramm und Stein die Fähigkeit der Dichtung zur Leserlenkung analog zur dargestellten rezeptionssteuernden Wirkung des Steins hervorheben; zur prinzipiellen Möglichkeit der poetologischen Deutung der erste Gedichtgruppe der Lithika vgl. die Einl. zur Sektion, S. 25). 4 Das Epigramm, dessen erste vier Verse stark zerstört sind, beschreibt einen anonymen persischen Stein und nennt zwei offenbar aufeinander folgende Besitzer, deren Namen suggerieren, dass sie – wie der Stein – aus Persien stammen: Dareios und Mandene, die den Stein als Teil eines Schmuckstücks erhielt. I 14 .….].ρ̣ων τὸν γλαυκὸν ομ.[ 1 15 ……]. Δαρείου δακτυλο[ 2 16 …….] ἀντιϲέληνον ατ̣[ 3 17 …….]ϲ λύχνωι παννυ̣[χ…].[ 4 18 Πέρϲην δὲ χρυϲῶι ϲφι‹γ›κτὸν λίθον ἐ̣ξ ἀγ̣[απ]η̣τ̣[οῦ 5 19 __ δῶρον Μανδήνη πήχεοϲ ἐκρέμαϲεν. 6 14 λᾶαν] ὁ̣ρ̣ῶν Austin 2001a, ed. min., De Stefani 2005  ὁ Μα̣[νδήνηϲ? Austin 2001a : ὁμό̣[χροον εἰπὲ θαλάϲϲηι e.g. De Stefani 2005 15 ἔγλυφ]ε̣ Δαρείου δακτυλο[κοιλογλύφοϲ Austin e.g. 2001a : ὅϲ ποτ]ε̣ Δαρείου δάκτυλο[ν ἠγλάϊϲεν e.g. De Stefani 2005 16 ἀκτῖν’]? ed. pr., min., De Stefani 2005 : πέμφιγ’] Austin 2001a : αἴγλην τ’] Ferrari 2005  ἄτ̣[ερ πυρὸϲ ἀμφὶϲ ἰάλλων e.g. De Stefani 2005 17 ἰϲοφανὴ]ϲ De Stefani 2005  παννυ̣[χίωι] φ̣λ̣[έγεται (vel φ̣λ̣[εγέθει) De Stefani 2005

[…] den blaugrünen […] […] Dareios’ Finger […] […] leuchtend wie der Mond […] […] (mit?) einer Lampe […] die ganze Nacht hindurch(?) […]

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den persischen in Gold eingefassten Stein hängte Mandene als Geschenk an ihren liebenswürdigen Arm. V. 1 ].ρ̣ων τὸν γλαυκὸν ομ.[: Das Bezugswort des erhaltenen Adjektivs ist vermutlich das in der kleinen Lücke am Anfang des Verses zu ergänzende generische λᾶαν (Austin 2001a; vgl. 19.13), das in V. 5 durch das metrisch hier nicht mögliche λίθον variiert wird. γλαυκόϲ ist zum einen in der Bedeutung ‚funkelnd‘, ‚glänzend‘ belegt (Hom. Il. 16.34; Hes. theog. 440; Soph. fr. 371, 476 Radt; Eur. Kykl. 16, Hel. 1501; Mesom. Sol. 21; Tryph. 514; Him. ecl. 13.37; Theokr. eid. 16.5); zum anderen bezeichnet es eine Reihe von recht verschiedenen farblichen Nuancen, die von einem „bläulichen“ Ton (Xenoph. 21 B16 Diels-Kranz; Hippokr. aër. 14; Emp. 31 A91 Diels-Kranz; Plat. Phaidr. 253e; Tim. 68c; Aischyl. Pers. 81; Pind. Ol. 8.37; Pyth. 4.249) bis zu einem „grünlich-grauen“ reichen (Emp. 93; Pind. Ol. 3.1; Bakchyl. 11.29; Soph. OK 701; Trach. 703; Eur. Iph. Taur. 1101; Tr. 802; AP 9.87 [Marc. Arg.] (LSJ; Frisk 1960, 310; Leumann 1950, 148 f.). Für die Deutung von γλαυκόν an der vorliegenden Stelle ist die Verwendung des Adjektivs zur Beschreibung von Steinen von besonderer Bedeutung: Dionysios Periegeta beschreibt damit zum einen den Beryll (1119), dessen „meergrüne“ Varietät Plinius als die beste hervorhebt;51 zum anderen charakterisiert er durch das von γλαυκόϲ abgeleitete γλαυκιόων den Topaz (1121), von dem Plinius behauptet, dass er seine Berühmtheit v. a. seiner grünen Varietät verdankt,52 deren Farbton er an anderer Selle als „lauchgrün“ spezifiziert;53 Nonnos verwendet γλαυκόϲ vom Smaragd (5.178),54 der laut Plinius besonders wegen seiner (meer-) grünen Farbe geschätzt wird.55 Zwar ist nicht klar, welche der diversen Varietäten der drei Steine und entsprechend, welchen Farbton Dionysios und Nonnos bei ihrer Verwendung von γλαυκόϲ im Blick hatten; es liegt aber nahe, dass sie, da sie keine Fachleute für Steine sind, tatsächlich an die jeweils berühmteste Form denken. Aus diesen späten Belegstellen könnte man schließen, dass γλαυκόν den Stein des vorliegenden Epigramms als grünlich bzw. blaugrün (‚meergrün‘) beschreibt (zur Hervorhebung der Farbe als wiederkehrendem Element der Steinbeschreibung in den Lithika vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22). Entsprechend könnte es sich bei dem beschriebenen Stein entweder um einen der genannten Steine oder um einen anderen Stein, der eine vergleichbare Färbung aufweist, handeln: z. B. um die Varietät des Achat (ἀχάτηϲ), deren dominierender Farbton an den Smaragd erinnert (smaragdachates, Plin. 51

Plin. nat. 37.76: probatissimi ex is sunt qui viriditatem maris puri imitantur („die beliebtesten von ihnen sind die, die das Grün des Meeres nachahmen“); vgl. Blümner 1884, 243. 52 Plin. nat. 37.107: egregia etiam nunc sua topazo gloria est, e virenti genere, et cum primum reperta est, praelata omnibus („Auch heute hat der Topas seinen hervorragenden Ruf, wenn er von der grünen Art ist und, sobald er gefunden worden war, wurde er allen anderen vorgezogen“). 53 Plin. nat. 37.109: recentissimi auctores et circa Thebaidis Alabastrum oppidum nasci dicunt et duo genera eius faciunt, prasoides atque chrysopteron, simile chrysopraso. tota enim similitudo ad porri sucum derigitur. („Die neuesten Schriftsteller sagen, der Topas komme auch in der Gegend der Stadt Alabastron in der Thebais vor; sie unterscheiden zwei Arten, den prasoides und den chrysopteros, der dem Chrysopras ähnlich ist. Die ganze Ähnlichkeit geht nämlich in die Richtung ‹der Farbe› des Lauchsaftes“ [Übers. König]); vgl. Blümner 1884, 237. 54 Vgl. auch Psell. de lapid. 30 f.: ἡ ϲμάραγδοϲ πραϲοειδήϲ ἐϲτι καὶ ἠρέμα χρυϲίζουϲα καίτοι καὶ τοῦ γλαυκοῦ παρεμφαίνουϲα χρώματοϲ („Der Smaragd ist lauchgrün und doch leicht goldfarben, obwohl er daneben auch etwas Graubläuliches aufscheinen läßt“). 55 Plin. nat. 37.62: nihil omnino viridius comparatum illis viret („verglichen mit ihnen ist überhaupt nichts grüner“); aufgrund seiner „meergrünen“ Farbe wird der Stein heute auch Aquamarin genannt (vgl. 80: smaragdi virens mare); vgl. auch Heliod. Aeth. 2.30: αἱ μὲν οἷα λήιον ἠρινὸν χλοάουϲαι („die hellgrünen sind wie Getreide im Frühjahr“); vgl. Blümner 1884, 239.

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nat. 37.139; Blümner 1884, 260); um den callaina (callais), der nach Plinius 37.110 in seiner Farbe (viridi pallens, „blassgrün“) dem Topaz und Smaragd ähnelt und öfter als die ebenfalls in Frage kommende himmelblaue Jaspis-Varietät aerizousa (auch: boreia; vgl. den Komm. zu 14.1 ἠερόεccαν ἴαcπιν) mit dem heute Türkis genannten Stein identifiziert wird (Blümner 1884, 248); um den oft als „falschen Smaragd“ bezeichneten Malachit (Caley-Richards 1956, 103), dessen grünlichen Ton Plinius ebenfalls im Vergleich mit dem Smaragd bestimmt;56 oder um den „lauchgrünen“, mit dem Topaz verglichenen chrysoprasus57 oder den ebenfalls „lauchgrünen“58 heliotropium;59 schließlich erscheint es mit Blick auf diejenigen der o.g. Belege, an denen γλαυκόϲ mit der Farbe κυανόϲ (‚dunkel-/tiefblau‘) verglichen wird, gut möglich, dass es an der vorliegenden Stelle einen der beiden Steine beschreibt, die offenbar zwei Erscheinungsformen der heute als Lapis lazuli bezeichneten Steinart entsprechen (CaleyRichards 1956, 126): entweder den im folgenden Epigramm behandelten ϲάπφειροϲ, der durch seine Pyrit-Einschlüsse goldgefleckt aussieht, aber im Grundton blau ist (vgl. den Komm. zu 5.1 ϲάπειρον), oder den κυανόϲ, der nach seiner dominierenden Farbe benannt ist und, wenn überhaupt, nur sehr leicht wie mit Gold bestäubt erscheint.60 Als passendes Gegenstück zu dem aufgrund seiner stark hervorgehobenen Goldhaltigkeit offenbar ‚hellen‘ und daher ‚weiblichen‘ ϲάπφειροϲ (vgl. den Komm. zu 5.1) könnte 4 den kyanosfarbenen „männlichen“ ϲάπφειροϲ61 oder eine Form des κυανόϲ beschreiben:62 Die „männliche“ kommt laut Theophrast farblich dem ϲάπφειροϲ (d. h. offenbar dessen „männlicher“ Form) nahe,63 die „weibliche“ dürfte ins Hell- oder Grünblaue spielen.64 Als Ausschlusskriterium zur Reduzierung der dargelegten

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Plin. nat. 37.114: non tralucit molochitis; spissius viret ab colore malvae nomine accepto („Nicht durchscheinend ist der Malachit [molochitis]; er hat ein tieferes Grün und seinen Namen nach der Farbe der Malve erhalten“ [Übers. König]). 57 Plin. nat. 37.113 f.: praefertur his chrysoprasos porri sucum et ipsa referens, sed haec paulum declinantem a topazo in aurum („Man zieht ihnen den Chrysopras vor, der ebenfalls die Farbe des Lauchsaftes hat, aber ein wenig vom ‚grünen‘ Topas nach Gold hinüberspielt“ [Übers. König]). 58 Plin. nat. 37.165: porraceo colore, sanguinis venis distincta („[er] hat die Farbe des Lauches und ist durch blutrote Adern gekennzeichnet“ [Übers. König]). 59 Letzterer ist identisch mit der auch heute als Heliotrop bezeichneten Varietät des grünen Chalcedon. Ob auch der chrysoprasus der modernen Chalcedon-Varietät Chrysopras entspricht, ist unsicher. Wie die dritte Form des Chalcedon, Plasma, die wie der Heliotrop in den Sammlungen antiker Gemmen häufig bezeugt ist, in der Antike hieß, ist nicht bekannt (Blümner 1884, 271 f.). 60 Plin. nat. 37.119: inest ei aliquando et aureus pulvis, non qualis sappiris; in his enim aurum punctis conlucet („Zuweilen enthält der Cyanos auch Goldstaub, ‹aber› nicht von der Art wie in den Saphiren; in diesen leuchtet das Gold nämlich in Punkten.“ [Übers. König]). Vgl. Caley-Richards 1956, 126. Neben einer Varietät des Steins, der heute Lapis lazuli heißt (vgl. Theophr. lap. 31 u. 37) wird der Begriff κυανόϲ auch von Blaupigmenten gebraucht (lap. 39, 40, 51, 55; vgl. Caley-Richards 1956, 126). 61 Plin. nat. 37.120: Caeruleae et sappiri … quae sunt ex iis cyanei coloris, mares existimantur („Auch die Saphire sind blau … Die dunkelblauen unter ihnen gelten als die ‚männlichen‘.“ [Übers. König]). 62 Zur Unterscheidung männlicher und weiblicher Steinarten in der antiken Lithographie vgl. CaleyRichards 1956, 124. 63 Theophr. lap. 37: ἣν καλοῦϲι ϲάπφειρον· αὕτη γὰρ μέλαινα οὐκ ἄγαν πόρρω τοῦ κυάνου τοῦ ἄρρενοϲ („Diesen nennt man sapheiros, denn dieser ist dunkel, nicht sehr weit von dem männlichen kyanos entfernt.“). 64 Theophr. lap. 31: καλεῖται δὲ καὶ κύανοϲ ὁ μὲν ἄρρην ὁ δὲ θῆλυϲ· μελάντεροϲ δὲ ὁ ἄρρην („Man nennt auch den kyanos einerseits männlich und andererseits weiblich; dunkler ist aber der männliche.“). Zur Unterscheidung von männlichem und weiblichem κυανόϲ vgl. Plin. nat. 37.119. Vgl. Caley-Richards 1956, 126 zum Farbspektrum von Lapis lazuli, das sich in den antiken Quellen in der Unterscheidung verschiedener Arten nach dem Geschlecht niederschlägt: „In proportion to its content of lazurite, the color of lapis lazuli varies from a very deep blue to a light or even greenish

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Auswahl von farblich passenden Steinen könnte die zweite explizite Charakterisierung des Steins in diesem Gedicht (Πέρϲην) dienen (vgl. das zugehörige Lemma). Nicht auszuschließen ist, dass in dem Adjektiv neben der farblichen Denotation auch seine ursprüngliche Bedeutung ‚glänzend‘, ‚funkelnd‘ mitschwingt, zumal ein zweites Adjektiv, dessen Bezug jedoch unklar ist, ein „mondgleiches Glänzen“ hervorhebt (vgl. das Lemma ἀντιϲέληνον). Möglicherweise lassen sich die Buchstaben vor dem Adjektiv zu ]ὁ̣ρ̣ῶν ergänzen (vgl. ed. pr.; ed. min.), das dann auf das von Austin in V. 2 konjizierte Subjekt des Satzes δακτυλο[κοιλογλύφοϲ zu beziehen wäre. Dass der Steinschneider den Stein ‚sieht‘ und dann graviert, ist allerdings nicht zwingend. Der auf γλαυκόν folgende Rest des Verses ist bis auf zwei erhaltenen Buchstaben verloren und bislang nicht überzeugend rekonstruiert worden. V. 2 ]. Δαρείου δακτυλο[: Während es sich bei dem 8.3 erwähnten Dareios relativ sicher um Dareios III. handelt, gibt der stark fragmentarische Text des vorliegenden Epigramms keinen eindeutigen Aufschluss darüber, welcher der persischen Großkönige hier gemeint ist: Dareios I. (522– 486 v. Chr.), der zunächst den so genannten Ionischen Aufstand der kleinasiatischen Griechen (510– 499) niederwarf, dessen Heer aber 490 bei Marathon vernichtend geschlagen wurde, Dareios II. (423– 405) oder der letzte Achämenidenkönig Dareios III. (336–330). Theoretisch kommen auch zwei Prinzen der Achämenidendynastie in Frage: der älteste Sohn Xerxes’ I. (486– 465) und der älteste Sohn Artaxerxes’ II. (405–359). Ein Indiz dafür, dass es sich um den berühmtesten der genannten, Dareios I., handelt, könnte die Erwähnung einer Mandene V. 5 sein, da uns eine Tochter Dareios’ I. dieses Namens bekannt ist (vgl. das Lemma Μανδήνη). Darauf, dass Dareios hier wie in 8 das Motiv einer Kamee oder eines Intaglios ist, geben die erhaltenen Fragmente keinen Hinweis. Er könnte eher als vormaliger Besitzer des Steins, den später eine Mandene, also vielleicht seine Tochter, trug (V. 5 f.), genannt werden. Diese Überlegung wird durch die nach dem Namen erkennbare Buchstabenfolge δακτυλο[ gestützt, die darauf hindeutet, dass Dareios den Stein als Teil eines Rings am Finger trug (zur Behandlung eines alten Ringsteins, der einst einem berühmten Herrscher gehörte, vgl. 9). Plausibler als De Stefanis Ergänzung des Verses (ὅϲ ποτ]ε Δαρείου δάκτυλο[ν ἠγλάϊϲεν, „der einst den Finger des Dareios schmückte“), die explizit den „Finger“ des Dareios analog zu dem V. 6 erwähnten „Arm“ (πήχεοϲ) der Mandene nennt, ist Austins Vorschlag: ἔγλυφ]ε̣ Δαρείου δακτυλο[κοιλογλύφοϲ, „(als er den blaugrünen […] sah), schnitt ihn der Ringsteinschneider des Dareios“. Für diese Variante spricht außerdem, dass sie Formen des terminus technicus γλύφειν (zu deren Bedeutung in den Lithika vgl. die Einl. zur Sektion) sowie den Steinkünstler, der auch 2.2, 3.1, 5.1, 7.3, 14.2 und 15.4 genannt wird, in den Text integriert. Das bislang nur einmal belegte δακτυλοκοιλογλύφοϲ („Gravierer von Ringsteinen“, GV 437.2 = SGO 1998, I 04/24/09, 482 [II]) könnte darauf hindeuten, dass Dareios anders als Mandene den Stein in einem Ring am Finger trug. Es wäre aber ebenso möglich, dass Dareios den Stein nicht selbst getragen, sondern bei seinem „Ringsteinschneider“ für einen Armreif seiner Tochter Mandene in Auftrag gegeben hat. Aufgrund der extremen Lückenhaftigkeit der ersten vier Verse sind aber auch Austins Konjekturen unsicher.

blue. Probably Theophrastus is referring to these differences in depth of color when he distinguishes the varieties of kyanos according to sex.“

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Lithika 4

V. 3 ἀντιϲέληνον: Das nur in Aischyl. fr. 204c6 Radt = P. Oxy. XX 2245 III 6 bezeugte Adjektiv hat offenbar die Bedeutung ‚leuchtend wie der Mond‘. Der inhaltliche und grammatische Bezug des einzigen in V. 3 erhaltenen Wortes ist unsicher. V. 4 λύχνωι παννυ̣[χ: Die konkrete Funktion der im Dativ erscheinenden ‚Lampe‘ in diesem Epigramm ist aufgrund des zerstörten Kontexts unklar. Möglicherweise steht ihre Erwähnung mit dem im vorangehenden Vers erwähnten mondartigen Leuchten in Verbindung. Als Ergänzung der im Anschluss erhaltenen Buchstabenfolge παννυ̣[χ wäre eine Form von παννυχίϲ, eines nächtlichen Festes im Rahmen des Aphrodite-Kultes, möglich, das in den Epitymbia (53.2) und in einem Epigramm von Meleager (AP 6.162) erwähnt wird, in dem Aphrodite ausgerechnet eine „Lampe“ (λύχνον) „als eine in ihren nächtlichen Kult Eingeweihte“ geweiht wird (Ἄνθεμά ϲοι Μελέαγροϲ ἑὸν ϲυμπαίϲτορα λύχνον, /Κύπρι φίλη, μύϲτην ϲῶν θέτο παννυχίδων (vgl. Rampichini u. a. 2008, 94). Plausibler erscheint jedoch die alternative Ergänzung von παννυ[χ zu einer Form von πάννυχοϲ/παννύχιοϲ (‚die ganze Nacht lang‘); zum einen könnte sich das Adjektiv direkt auf λύχνωι beziehen; vgl. Herodot 2.130. Zum anderen wäre auch das adverbielle Neutrum παννύχιον möglich, das ebenfalls in einer Passage bei Herodot (2,62) im Zusammenhang mit „Lampen“ (λύχνα) erscheint. Eine Entscheidung kann anhand des fragmentarischen Textes nicht getroffen werden; ein Bedeutungsunterschied zwischen παννυχίωι/παννύχωι und παννύχιον wäre aber ohnehin kaum vorhanden, da sowohl die adjektivische, auf λύχνωι bezogene, als auch die adverbielle Form die durch die „Lampe“ implizierte Verbalhandlung („brennen“) beschrieben. V. 5 Πέρϲην: Als ‚persisch‘ werden auch zwei andere Objekte, die in den Lithika behandelt werden, bezeichnet, zum einen der im folgenden Epigramm beschriebene ϲάπειροϲ (‚Lapis lazuli‘ bzw. ‚Lasurstein‘), zum anderen die Perlmuttschale des 11. Epigramms (vgl. 5.2 u. 11.2: Περϲικόν). Einen weiteren persischen Stein behandelt vielleicht 14. Von den Steinen, welche die offenbar durch γλαυκόϲ bezeichnete Farbe aufweisen (vgl. das Lemma ].ρ̣ων τὸν γλαυκὸν ομ.[), wären die persische Jaspis-Varietät aerizusa (vgl. 14) und möglicherweise der Achat denkbar. Allerdings muss Πέρϲηϲ nicht einmal unbedingt auf die Herkunft des Steins verweisen; es könnte auch zur Beschreibung desjenigen Steins dienen, der einmal dem bekanntesten aller persischen Herrscher oder jedenfalls einem Mann, dessen Name mit Persien auf engste verbunden ist, gehörte und der durch seine Schenkung an Mandene offenbar in persischem Besitz verblieben ist. — χρυϲῶι ϲφι‹γ›κτὸν: Die Einfassung des behandelten Steins in ein (meist goldenes) Schmuckstück wird auch in 4 –8 und 11–12 erwähnt (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22). In 12.2 gebraucht Poseidipp hierfür ebenfalls den Terminus ϲφίγγειν, in 7.4 sogar die vorliegende Junktur (χρυϲῶι ϲφι‹γ›κτ̣[; für weitere Belege der Auslassung des γ im 3. Jh. v. Chr. vgl. ed. pr. mit Verweis auf Mayser/Schmoll 1970, 164). Das jeweils durch χρυϲῶι angedeutete Schmuckstück ist in 7 eine Halskette, hier ein Armreif (vgl. das Lemma πήχεοϲ ἐκρέμαϲεν). — ἐξ̣ ἀγ[̣ απ]ητ̣ [̣ οῦ: Das relativ sicher rekonstruierbare Adjektiv beschreibt den Arm der Mandene (V. 6). ἀγαπητόϲ (‚geliebt‘) kann sich auf alle möglichen Dinge oder Menschen, u. a. auch auf den Liebhaber (Plat. Alk. I.131e) beziehen, findet sich aber seit Homer häufig für Töchter und Söhne, insbesondere für Einzelkinder (vgl. u. a. Hom. Il. 6.401: Ἑκτορίδην ἀγαπητόν; Od. 2.365: μοῦνοϲ ἐὼν ἀγαπητόϲ; 4.817: παῖϲ ἀγαπητόϲ; 4.727; 5.18; 3.817; Hes. fr. 326 Merkelbach-West; Sapph. 132.2: Κλέιϲ ἀγαπάτα; Aristoph. Thesm. 761: ἀγαπητὴν παῖδά ϲου; Demosth. 21.165; Arist. EE 1233b2; DGE; Lee 2010, 119–138). An der

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vorliegenden Stelle beschreibt das Adjektiv den offenbar vom Schenker des Schmuckstücks „geliebten“ Arm der Mandene. Der grammatische Bezug auf den Körperteil könnte nahelegen, dass ἀγαπητοῦ hier erotisch konnotiert ist und das Schmuckstück als Geschenk an eine begehrte Person ausweist. Im Hinblick auf die zitierten Belegstellen von ἀγαπητόϲ erscheint es aber plausibler, ἀγαπητοῦ dem Sinn nach nicht auf πήχεοϲ, sondern auf Mandene zu beziehen, die als „geliebte“ Tochter das Schmuckstück möglicherweise vom Vater erhalten hat (vgl. das Lemma Μανδήνη). V. 6 Μανδήνη: Der iranische Name (Justi 1963 [1895], 189 f.) der beschenkten Frau deutet wie die Erwähnung eines Dareios (V. 2) und die Charakterisierung des Steins (V. 5: Πέρϲην) auf Persien hin. Zwei Trägerinnen des Namens in der Form Μανδάνη sind uns durch die griechische Literatur aus der Geschichte Persiens bekannt: zum einen die Tochter des Astyages, die die Frau Kambyses’ I. und Mutter Kyros’ II. war (Hdt. 1.107–130; Xen. Kyr. 1.2.1; Diod. 9.22.1; vgl. Fiehn 1931), zum anderen die Tochter Dareios’ I., Xerxes’ Schwester (vgl. Obst 1928). Wenn man davon ausgeht, dass Dareios der vormalige Besitzer des Steins ist (vgl. das Lemma Δαρείου), kommt aus chronologischer Sicht als nachfolgende Eigentümerin nur die Diod. 11.57.1–5 erwähnte Dareios-Tochter in Frage. Die Annahme, dass Poseidipp im vorliegenden Epigramm auf diese direkte familiäre Verbindung eines Dareios und einer Mandene rekurriert, erscheint äußerst attraktiv. Dagegen plädiert die Mehrzahl der Interpreten dafür, dass es sich bei Mandene (anders als bei Dareios) nicht um eine historische Figur, sondern um eine unbekannte Zeitgenossin Poseidipps handelt, die den alten Stein im 3. Jh. als erotisches Geschenk erhielt. Da der Name Μανδήνη/Μανδάνη u. a. auch für das griechische Ägypten (Huyse 1990, 67; Robert 1964, 217; Poljakov 1989, 66; vgl. ed. pr. 113) bezeugt ist und es für die jahrhundertelange Bewahrung antiker Steine Parallelen gibt (Plin. nat. 37.4; Plantzos 1999, 108; vgl. ed. pr. 113), kann diese Überlegung nicht ausgeschlossen werden. Für die Annahme, dass die Tochter Dareios’ I. gemeint ist, spricht jedoch, dass das vorliegende Epigramm anders als die übrigen, in denen der betreffende Stein einer Frau geschenkt wird (vgl. 3, 5, 6, 7), keine Hinweise auf ein (anvisiertes) erotisches Verhältnis zwischen dem Schenker und der Frau gibt; vielmehr deutet die Wahl des Adjektivs ἀγαπητοῦ (vgl. das zugehörige Lemma) darauf hin, dass es sich bei Μανδήνη wohl um die Tochter des Schenkers, offenbar Dareios I., handeln dürfte. — πήχεοϲ ἐκρέμαϲεν: Der Schluss des Epigramms führt den V. 5 durch ἐ̣ξ ἀγ̣[απ]η̣τ̣[οῦ begonnenen Ausdruck zu Ende, der anzeigt, dass das goldene Schmuckstück, in das der beschriebene Stein eingefasst ist, ein Armreif oder Armband ist: Mandene „hängte“ den Stein „an den geliebten Arm“. Rekonstruktionsvorschlag λᾶαν] ὁρῶν τὸν γλαυκὸν ομ[ ἔγλυφ]ε Δαρείου δακτυλο[κοιλογλύφοϲ ἀκτῖν’] ἀντιϲέληνον ατ[ ]ϲ λύχνωι παννύ[χωι] Πέρϲην δὲ χρυϲῶι ϲφιγκτὸν λίθον ἐξ ἀγ[απ]ητ[οῦ δῶρον Μανδήνη πήχεοϲ ἐκρέμαϲεν. Als er den blaugrünen Stein sah […] schnitt ihn der Ringsteinschneider des Dareios,

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einen Strahl, der leuchtet wie der Mond […] […] (mit) einer Lampe, die die ganze Nacht hindurch brennt […] Den persischen in Gold eingefassten Stein hängte Mandene als Geschenk an ihren liebenswürdigen Arm. Das sehr fragmentarisch erhaltene Gedicht behandelt einen „persischen“, offenbar „blaugrünen“ Stein, und erwähnt wie die drei folgenden Epigramme am Schluss dessen Schenkung an eine Frau. Im vorliegenden Gedicht erhält Mandene den Stein wohl als Teil eines Armreifs. Unklar ist, ob der im ersten Teil des Epigramms genannte Dareios selbst den Stein, möglicherweise am Finger, getragen oder lediglich in Auftrag gegeben hat. Die Reste des Epigramms geben keinen expliziten Hinweis darauf, an welche Personen mit Namen Dareios und Mandene Poseidipp denkt. Die Koinzidenz der beiden Namen in diesem Gedicht legt die Annahme nahe, dass Poseidipp hier auf Dareios I. und seine Tochter Mandene anspielt. In diesem Fall würde der Steinschmuck hier nicht wie in den Epigrammen 5–7 (und vermutlich 3) als Liebesgeschenk an eine begehrte Frau, sondern als Familienbesitz bzw. Erbstück oder, wenn Dareios ihn gar nicht selbst getragen hat, als Geschenk an die Tochter weitergegeben worden sein. Besonders pointiert wäre der Kontrast zum folgenden 5. Epigramm, mit dem das vorliegende Epigramm ähnlich wie 2 mit 3 und 6 mit 7 durch mehrere motivische Parallelen verbunden ist (vgl. die Interpr. von 5): Dort ist das Verhältnis von Schenker und Beschenkten anders als hier (vgl. die Komm. zu ἀντιϲέληνον in V. 3 und zu der in V. 4 erwähnten „Lampe“ eindeutig als ein erotisches markiert. 5 Das Epigramm ist bis auf den Schluss vollständig erhalten. Es behandelt einen Lapis lazuli, den ein Timanthes im Auftrag eines Demylos für Nikaie von Kos geschnitten hat. Der Sprecher, der den Stein und dessen Schenkung in der 3. Ps. beschreibt, bleibt anonym. Auffällig ist die ungewöhnliche Sprache des Epigramms, das den Steinnamen in einer nicht bezeugten Form sowie zwei hapax legomena aufweist. I

20 Τιμάνθ̣ηϲ ἔγλυψε τὸν ἀϲτερόεντα ϲάπειρον 21 τόνδε χρ̣υϲίτην Περϲικὸν ἡμίλιθον 22 Δημύλωι· ἀνθ’ ἁπαλοῦ δὲ̣ φιλήμα̣τοϲ ἡ κυανόθριξ 23 δῶρον Ν̣[ι]καίη Κώια εδ̣[

1 2 3 4

23 Κώια ἔδ̣[εκτ’ ἐρατόν Austin 2001a, ed. pr. (Κῶια), ed. min. (vel ἔδ̣[εκτο φίλον ? Cuypers, cf. Greg. Naz. AP 8.79.2)

Timanthes hat den sternenbesäten Lapislazuli geschnitten, diesen Gold enthaltenden persischen, der nur zur Hälfte ein Stein ist, für Demylos; im Tausch gegen einen zarten Kuss (empfing ihn) die dunkelhaarige Nikaie aus Kos als Geschenk V. 1 Τιμάνθ̣ηϲ: Während uns ein Steinschneider dieses Namens aus anderen Quellen nicht bekannt ist, sind zwei Maler mit Namen Timanthes bezeugt: neben einem Zeitgenossen von Zeuxis und Parrhasios (spätes 5., frühes 4. Jh.; DNO 1613–1627) auch ein wohl auf der Peloponnes

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tätiger hellenistischer Maler (um 250/240; DNO 3512). — ἔγλυψε: Der terminus technicus für das Schneiden von Steinen erscheint hier zum ersten Mal im Erhaltenen der Lithika und ist in den folgenden Epigrammen prominent (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 20 f.). Theophrasts Klassifizierung des ϲάπφειροϲ als Ringstein (lap. 8) wird durch diverse archäologische Funde und Inschriften bestätigt (Blümner, H. 1920: Saphir, in: RE I A2, 2357). — τὸν ἀϲτερόεντα ϲάπειρον: Der Name bezeichnet nicht den Halbedelstein Saphir, sondern eine Form der Gesteinsart Lapis lazuli (Lasurstein). Es handelt sich wohl um ein semitisches Lehnwort (Blümner, H. 1920: Saphir, in: RE I A2, 2356 f.), das hier in Form und Geschlecht von seinem üblichen Gebrauch abweicht: Zum einen ist das Wort sonst ausschließlich in der Form ϲάπφειροϲ belegt (Di Nino 2010, Anm. 4). Die Auslassung des φ an der vorliegenden Stelle hat offenbar metrische Gründe (ed. pr. 114). Zum anderen war das Substantiv bislang nur als Femininum belegt. Für einen vergleichbaren Fall der Verwendung des „falschen“ Genus bei Poseidipp vgl. 123.1: λάγυνοϲ. Das Attribut zu ϲάπειρον beschreibt den Stein metaphorisch als ἀϲτερόεντα (‚sternbesät‘) und vergleicht damit sein charakteristisches Aussehen in ähnlicher Weise mit dem eines klaren Nachthimmels wie später Philostrat (Vita Apollonii 1.25: κυανωτάτη δὲ ἡ [ϲαπφειρίνη] λίθοϲ καὶ οὐρανία ἰδεῖν, „der [sc. sapphirische] Stein ist von einem äußerst dunklen Blau und wie der Himmel anzusehen“). Ϲάπ[φ]ειροι haben demnach eine an die Farbe des Himmels erinnernde (dunkel)blaue Kolorierung, die von goldgelben Punkten (vgl. χρ̣υϲίτην, ‚goldhaltig‘) wie von Sternen durchsetzt ist. Die goldgelbe Farbkomponente wird im vorliegenden Epigramm durch ἀϲτερόεντα und χρ̣υϲίτην (vgl. das folgende Lemma) gleich zweimal explizit hervorgehoben. Ähnlich betont die antike Fachliteratur die Prominenz des Goldtons im ϲάπφειροϲ, wenn sie ihn mit einem ähnlichen Stein vergleicht: Im κύανοϲ, der aus heutiger Sicht ebenfalls mit dem Lasurstein zu identifizieren ist, dominiert die dunkelblaue Grundfarbe, die bisweilen von Gold lediglich „bestäubt“ ist (vgl. Plin. nat. 37.119: „ihm wohnt bisweilen auch ein goldener Staub inne, nicht wie den sappiri; in diesen nämlich leuchtet das Gold in Punkten“; vgl. Caley-Richards 1956, 127 f.). Unklar ist, ob das Epigramm die häufigere, ‚weibliche‘ oder die seltenere, ‚männliche‘ Form des ϲάπφειροϲ beschreibt und ob in diesem Fall das ungewöhnliche Maskulinum auf das imaginierte Geschlecht des Steins zurückzuführen wäre (zum Phänomen der geschlechtsspezifischen Differenzierung von Steinen v. a. anhand des Helligkeitsgrads ihrer Färbung in der petrographischen Literatur vgl. den Komm. zu 4.1). Die einzige explizite Unterscheidung findet sich bei Plinius nat. 37.120: Caeruleae et sappiri (…) quae sunt ex iis cyanei coloris, mares existimantur („Blau sind auch die sappiri; diejenigen unter ihnen, die kyanosfarben [d. h. etwa: dunkelblau] sind, werden als die männlichen angesehen.“). Demnach unterschieden sich die beiden Formen durch die Helligkeit ihrer Grundfarbe. Diese wird im vorliegenden Epigramm zwar nicht ausdrücklich thematisiert, kann aber wohl aus ἀϲτερόεντα erschlossen werden, das als Grundton die dunkelblaue, beinahe schwärzliche Farbe des Nachthimmels impliziert. V. 2 χρυ̣ ϲίτην: Diese Charakterisierung beschreibt wie ἀϲτερόειϲ V. 1 die goldfarbenen Einsprengsel des Steins. χρ̣υϲίτην suggeriert noch stärker als ἀϲτερόεντα die farbliche Dominanz der Pyrit­ einschlüsse gegenüber dem blauen Grundton des Gesteins (vgl. Theophr. lap. 8; 23; 37 u. Plin. nat. 33.68; 33.161; 37.119 f.). Im Gegensatz zu ἀϲτερόεντα ist χρυϲίτην wörtlich zu verstehen: Die goldgelbe Färbung hat man sich in der Antike tatsächlich mit der Existenz von Goldeinschlüssen erklärt; vgl. die petrographische Prosa, z. B. Theophr. lap. 23: ἡ ϲάπφειροϲ […] ἐϲτὶν ὥϲπερ χρυϲόπαϲτοϲ (ὥϲπερ bezieht sich hier auf -παϲτοϲ, das von πάϲϲω ‚hineinsticken‘, ‚darauf streuen‘ abgeleitet ist), und Plinius nat. 37.119. — Περϲικὸν: Die Lokalisierung des ϲάπ(φ)ειροϲ in Persien wird weder durch archäologische Zeugnisse noch durch die Angaben

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der antiken Fachliteratur zu Steinen bestätigt.65 Plinius berichtet, dass „die besten sappiri bei den Medern“, also nördlich des urspünglich persischen Gebiets gefunden werden (optimae apud Medos, 37.120), nennt aber keine weiteren Gebiete. Möglicherweise zieht Poseidipp hier die ungefähre der korrekten Verortung des ϲάπειροϲ vor, um den persischen Kontext, der auch einige andere Epigramme der ersten Sektion kennzeichnet, hervorzuheben (vgl. auch den Komm. zu 4.5: Πέρϲην). — ἡμίλιθον: Der Neologismus (wörtlich: ‚Halb-Stein‘) bezeichnet nicht im pejorativen Sinn die moderne Kategorie ‚Halbedelstein‘ (vgl. die engl. Übers. der ed. min. „semi-precious stone“), sondern trägt der Annahme Rechnung, dass der ϲάπειροϲ aufgrund seiner Goldeinschlüsse nur zur Hälfte ein Stein ist. Das Attribut χρυϲίτην gibt also gleichsam die Erklärung für die Vorsilbe ἡμί- (vgl. das Lemma χρ̣υϲίτην). Die moderne Erklärung, dass es sich bei Lapis lazuli nicht um ein einziges Mineral mit entsprechender Härte und Dichte handelt, sondern um ein Mineralgemisch, das aus Lasurit, Sodalith, Calcit und Pyrit besteht und daher zu den Gesteinen zu zählen ist („roccia“, ed. pr. 114), kann, contra ed. min. und Di Nino 2010, 276 f., nicht zur Deutung und Übersetzung von ἡμίλιθον herangezogen werden. Ebenfalls anachronistisch ist die ital. Übers. der ed. min. „pietra dura“. V. 3 Δημύλωι·: Der Versanfang nennt offenbar denjenigen, der den ϲάπειροϲ bei Timanthes in Auftrag gegeben hat, um ihn der V. 4 genannten Nikaie von Kos zu schenken. Die Prosopo­ graphia Ptolemaica verzeichnet keine Person dieses Namens im hellenistischen Ägypten. In spätklassischer und frühhellenistischer Zeit ist der Name aber sowohl in einem Fragment der Komödie Καταψευδόμενοϲ des Sosipatros (fr. 1.2 Kassel-Austin = LGPN II 16579) als auch 14-mal inschriftlich bezeugt (LGPN I 41467,72168,72169,72170,72171, 72172,79893,16578; II 16581,16582,16583,16584,16585; Va 5490). — κυανόθριξ: Poseidipp hat das nur an drei weiteren, allesamt späteren Textstellen bezeugte Adjektiv „mit blauschwarzen Haaren“ (Antiph. AP 6.250.5; Orph. Arg. 1194 [1199]; App. Anth. VI.216.37) vielleicht für dieses Epigramm geschaffen. Der erste Bestandteil des Adjektivs verweist auf den Stein κύανοϲ, der in der antiken Fachliteratur als weniger goldhaltiges Pendant des hier beschriebenen ϲάπειροϲ behandelt wird, bzw. auf die Charakterisierung des ϲάπφειροϲ mit dem Adjektiv κύανοϲ (vgl. das Lemma τὸν ἀϲτερόεντα ϲάπειρον). V. 4 Ν̣[ι]καίη Κώια: Der Name Nikaia ist reich bezeugt, allerdings nicht in der ionischen Form Νικαίη. Für das ptolemäische Ägypten verzeichnet die Prosopographia Ptolemaica 13 Stellen. Möglicherweise hat Poseidipp den Namen aufgrund seiner Bedeutung (‚Siegreiche‘) für die beschenkte Frau ausgewählt (vgl. Interpr.). — εδ̣[: Am Ende des Epigramms muss ein Verb wie ‚bekommen‘, ‚empfangen‘ o. ä. gestanden haben. Das deutlich erkennbare ε lässt auf ein Vergangenheitstempus schließen; in Verbindung mit dem folgenden schwach erkennbaren δ̣ ist eine Form wie ἔδ̣[εκτο bzw. ἔδ̣[εκτ’ (Austin 2001a) denkbar. Den Versschluss könnte ein auf δῶρον bezogenes Adjektiv bilden. Für die Verbindung von ἐρατόν, ‚liebenswert‘ (Austin) mit δῶρον finden sich Parallelen (Hom. Il. 3.64; Archil. fr. 1 West; AP 6.346.2 = FGE 495 (Ps.-Anacr.).

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Der einzige bislang bekannte antike Fundort von Lapis lazuli ist Badakhshan im Nordosten des heutigen Afghanistan (Eichholz 1965, 262).

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Rekonstruktionsvorschlag Τιμάνθηϲ ἔγλυψε τὸν ἀϲτερόεντα ϲάπειρον τόνδε χρυϲίτην Περϲικὸν ἡμίλιθον Δημύλωι· ἀνθ’ ἁπαλοῦ δὲ φιλήματοϲ ἡ κυανόθριξ δῶρον Ν[ι]καίη Κώια ἔδ[εκτ’ ἐρατόν. Timanthes schnitt den sternenbesäten Lapislazuli, diesen Gold enthaltenden, persischen, der nur zur Hälfte ein Stein ist, für Demylos; und im Tausch gegen einen zarten Kuss nahm ihn die dunkelhaarige Nikaie aus Kos als liebenswertes Geschenk an. Im Zentrum des Epigramms steht ein Stein, den Poseidipp in Übereinstimmung mit der antiken Fachliteratur über Steine ϲάπειροϲ nennt und der gemäß moderner Klassifizierung einem Lapislazuli entspricht. Das erste Distichon geht von der Herstellung des Schmucksteins aus und beschreibt den Stein in verschiedener Hinsicht. Das zweite Verspaar erzählt offenbar von der Schenkung des Steins (das entscheidende Prädikat ist in der Lücke am Ende des vierten Verses zu vermuten). Entsprechend wird das Epigramm durch die drei involvierten Personen gegliedert: Gleich zu Beginn nennt das Gedicht Timanthes, den Urheber des Schmucksteins, im letzten Vers Nikaie, die Beschenkte. Die Zwischenstellung des Demylos als Auftraggeber und Schenker und seine Bedeutsamkeit für die beiden Vorgänge des Schneidens und Empfangens werden durch die prominente Position, an der er genannt wird, unterstrichen: Als letztes Wort des ersten Satzes wird er am Anfang des zweiten Distichons genannt. Die Beschreibung des Steins im ersten Teil des Epigramms enthält vier Charakterisierungen, von denen eine auf die Herkunft des Steins (Περϲικὸν) zielt, die übrigen drei die typische Erscheinungsform von ϲάπειροϲ /Lapislazuli in den Blick nehmen. Zunächst wird durch das metaphorische ἀϲτερόεντα (‚sternenbesät‘) die Zweifarbigkeit des Steins herausgestellt: Der blaue Grund ist mit goldgelben Punkten gleichsam übersät. Anschließend gibt χρυϲίτην den Grund für das charakteristische Äußere an. Das folgende ἡμίλιθον benennt die Folge der Goldhaltigkeit (s. Komm.): Der ϲάπειροϲ ist nur „zur Hälfte ein Stein“. Der petrographische Terminus, den Poseidipp hier offenbar prägt, ist nach ihm nicht bezeugt. Er hat sich offenbar in der Fachliteratur nicht durchgesetzt. Dieses Distichon greift verschiedene Topoi der ersten Gedichtgruppe der Lithika auf (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22): Es nennt den Steinschneider und die Arbeit des Steinschneiders; außerdem die Art, die Herkunft und den Glanz des Steins, der durch ἀϲτερόεντα und χρυϲίτην evoziert wird. Das Gold, das in mehreren Gedichten als Material des Schmuckstücks, in das der jeweilige Stein eingefasst ist, erscheint, ist hier – umgekehrt – in den Stein ‚eingefasst‘. Besonders eng ist die Verknüpfung zum vorangehenden Epigramm: In beiden Gedichten wird der Stein als „persisch“ bezeichnet (Περϲικόν und Πέρϲην, 4.5), in seiner Erscheinung mit Himmelsphänomenen verglichen (ἀϲτερόεντα und ἀντιϲέληνον sowie eventuell auch λύχνωι παννυ̣[χ, 4.3 f.) und mit Gold in Verbindung gebracht (χρυϲίτην und χρυϲῶι ϲφιγκτόν). Am frappierendsten ist aber die Ähnlichkeit der Schlussdistichen, in denen der Stein jeweils als Geschenk an eine Frau erscheint: Der Anfang des jeweils letzten Verses, in dem auf δῶρον an gleicher Versposition der dreisilbige Name einer Frau folgt, ist exakt parallel gebaut. Während die vorangehenden Gedichte ein erotisches Element lediglich implizieren, erwähnt das Ende des vorliegenden fünften Epigramms einen Kuss, den offenbar Demylos von der beschenkten Nikaie bekommt. Diese Explizitheit wird durch das nüchterne ἀνθ’ (‚anstelle von‘, d. h. ‚im Tausch gegen‘) konterkariert, das die Schenkung nüchtern als Teil eines geschäftlichen

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Austausches darstellt. Der Name der Beschenkten „Nikaie“ (‚die Siegreiche‘) soll vielleicht darauf hindeuten, dass sie, und nicht Demylos, die Bedingungen dieses Tauschgeschäfts festgelegt und erfolgreich durchgesetzt hat. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das extrem seltene Epitheton κυανόθριξ. Die blauschwarze Haarfarbe der Nikaie bildet nicht nur einen deutlichen Kontrast zu der goldenen Färbung des ϲάπειροϲ, sondern betont die außergewöhnliche Schönheit der Frau und unterstreicht so den Wert dessen, was eingetauscht wird. 6 Das Epigramm, dessen Text in der Mitte vertikal von einer größeren Lücke durchzogen wird, behandelt einen funkelnden Stein, vermutlich einen Beryll, der in eine Kette eingefasst und einer Frau namens Nikonoe geschenkt wird. Auffällige Parallelen verbinden das Gedicht mit dem folgenden Epigramm 7, in dem die Beschenkte ebenfalls Nikonoe heißt. I

24 τῶιδε λίθωι πᾶϲιν δ[…………]εται Ἥρωϲ, 25 ἕλκει δὲ γραπτὴν Ἶριν [ 26 τοῦτο τὸ μαρμαῖρον β[ηρύλλιον· εὖ] δ’ ἐπ̣ε̣δήθη 27 Νικο̣νόηϲ ὁ κύβοϲ χρύϲε̣[ον εἰϲ κάθε]μα, 28 καὶ δωρητὸϲ ὑπῆλθ[ε ………]η κ̣α̣τὰ μαϲτὸν 29 κλίνεϲθαι ϲτηθέων π[…….. ἡ]δ̣ὺ ϲέλαϲ.

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24 δ[οκίμωι μεγαλύν]εται ed. pr., min. : λαμπρύν]εται Austin 2001a : καλλύν]εται Livrea 2002 : ποικίλλ]εται Ferrari 2005  fort. Ἥρων ed. min. 25 ἶριν Gutzwiller 2003 (def. Ferrari 2005)  [ὑπὸ Κρονίου ed. pr., min. : [ἀπ’ ἠελίου Gutzwiller 2003 (def. Ferrari 2005) 26 β[ηρύλλιον· εὖ] ed. pr., def. Prioux 2006 28 ὑπῆλθ[ε, χάριϲ καιν]ή, ed. pr., min. (vel ὄψιϲ τερπν]ή, Austin 2001a) : ὑπῆλθ[ε δέρην, κούρ]η, Gutzwiller 2003 : ὑπῆλθ’ [αὐτῆϲ ἤδ]η Ferrari 2005 29 π[αρθένου Luppe in ed. pr., min. : π[οικίλον Gutzwiller 2003

Durch diesen Stein […] allen […] Heros, er zieht eine gemalte Iris […] dieser funkelnde (kleine Beryll; gut) aber wurde er eingefasst, der Würfel der Nikonoe, (in eine) goldene (Kette), und als Geschenk kam er herab […] auf der Brust zu liegen, der Brust […] süßer Glanz. V. 1 τῶιδε λίθωι πᾶϲιν δ[………….]εται: Der Nominativ am Versende und die nach der Lücke erhaltenen Buchstaben lassen auf ein Prädikat im Medium oder Passiv schließen. Wahrscheinlich stand dort ein Verb wie μεγαλύν]εται (‚rühmt sich‘, ed. pr.) oder λαμπρύν]εται (‚prunkt mit‘, Austin), von dem τῶιδε λίθωι als instrumentaler bzw. kausaler Dativ abhängt und Heros als zeitweiliger stolzer Besitzer des Steins ausgewiesen wird. Die verbleibende Lücke vor der Verbform könnte z. B. durch das auf τῶιδε λίθωι bezogene Adjektiv δ[οκίμωι ausgefüllt gewesen sein (ed. pr.), das in Verbindung mit πᾶϲιν den Stolz des Heros begründet („er rühmt sich dieses bei allen angesehenen Steins“). — Ἥρωϲ: ist vermutlich der (Auftraggeber und) Schenker des Steins. Da der Name weder literarisch noch inschriftlich und auch auf Papyri nicht sicher bezeugt ist (ed. pr. 114), handelt es sich vielleicht um eine Verschreibung des häufig vorkommenden Namen Ἥρων (ed. pr. 114). Unwahrscheinlich ist, dass Ἥρωϲ das Gravurmotiv

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des Steins bezeichnet und sich auf den göttlichen thrakischen Reiter aus Kallim. epigr. 24 Pfeiffer = 60 Asper (hierzu Roussel 1921, 266–274; vgl. auch Epigr. Gr. 841 Kaibel) bezieht (für diese Deutung vgl. Livrea 2002, 69 f. und Ferrari 2005, 185 f.). Eine solche Darstellung stünde in Konkurrenz zu der Verzierung bzw. dem Effekt, der durch γραπτὴν Ἶριν bezeichnet ist (vgl. das zugehörige Lemma). V. 2 ἕλκει: Das Verb, dessen Subjekt der im nächsten Vers offenbar genannte Stein (τὸ μαρμαῖρον β[ηρύλλιον) ist, meint nicht analog zu φορεῖν in 8.3 (Δαρεῖον φορέων ὁ καλὸ̣[ϲ] λ̣ί̣θο̣ϲ) das „Tragen“ einer Gravur (so ed. pr. 114), sondern ist wie in 17.3, wo es sich auf die charakteristische Fähigkeit eines Magneten bezieht, wörtlich zu verstehen (vgl. auch 72.1). Im vorliegenden Vers „zieht“ der Stein die Verzierung des Steins (γραπτὴν Ἶριν) heran (zum Sinn s. das folgende Lemma). — γραπτὴν Ἶριν [: Damit ist offenbar ein Bild gemeint, das den Stein schmückt. Da die erste Gedichtgruppe der Lithika-Sektion ausschließlich von gravierten Steinen spricht, überrascht das Adjektiv γραπτὴν (‚gemalt‘) an der vorliegenden Stelle. Auszuschließen ist, dass γραπτήν wörtlich aufzufassen ist und auf eine tatsächliche Bemalung des Steins hindeutet. Möglich wäre, dass γραπτήν für γλυπτήν steht (ed. pr. 114) und die Götterbotin Iris als Intagliomotiv bestimmt; als Ergänzung der folgenden Lücke würde sich in diesem Fall die von γραπτήν abhängige Angabe des Steinschneiders ὑπὸ Κρονίου („die von Kronios ‹gemalte›“) anbieten (ed. pr.). Gegen diese Annahme sprechen aber diverse Stellen, an denen die beiden bzw. abgeleitete Wörter in Opposition zueinander erscheinen (vgl. Gutzwiller 2003, 44 – 45), und die Formulierung, dass der Stein die Gravur „zieht“ (ἕλκει, vgl. das vorangehende Lemma). Plausibler ist die verbleibende Möglichkeit, dass sich γραπτήν auf den temporären Effekt einer wie gemalt erscheinenden Gravur bezieht. Als Motiv kommt dafür dann nicht die Göttin Iris, sondern ein ‚Regenbogen‘ (ἶριϲ) in Frage, den der Stein ‚von der Sonne her zieht‘ (ἀπ’ ἠελίου). Gutzwillers Ergänzung der auf γραπτὴν ἶριν folgenden Lücke orientiert sich an der wörtlichen Bedeutung von ἕλκει und nennt die Sonne als Quelle des Regenbogens, den der Stein aktiv zu sich heranzieht. Denkbar ist, dass Poseidipp hiermit die prismatische Lichtbrechung meint (vgl. Livrea 2002, Gutzwiller 2003, Ferrari 2005), die Plinius der kristallartigen iris zuschreibt (nat. 37.136 f.): Dieser Stein zerstreue im Freien die auf ihn fallenden Strahlen und erleuchte die in der Nähe befindlichen Objekte. Wenn er im Haus von Sonnenstrahlen getroffen werde, werfe er auf die umliegenden Wände die Form und Farben eines Regenbogens (sub tecto percussa sole species et colores arcus caelestis in proximos parietes eiaculatur). ἕλκει scheint zwar zu implizieren, dass der Regenbogen nicht ein Effekt auf externen Objekten, sondern eine temporäre Erscheinungsform des Steins selbst ist; es ließe sich in Verbindung mit ἀπ’ ἠελίου aber auch als Verweis auf die tatsächliche Quelle des Regenbogens verstehen: Der Stein vermag ihn nur mithilfe der Sonne an die Wand zu projizieren. Problematisch ist, dass Poseidipp im vorliegenden Epigramm nicht von ἶριϲ, sondern vermutlich von βηρύλλιον spricht (vgl. das Lemma τοῦτο τὸ μαρμαῖρον β[), für den Plinius in seiner Beschreibung des Steins keine derartige Wirkung anführt. Alternativ zu der Deutung des „gemalten Regenbogens“ als eines prismatischen Lichteffektes könnte ἕλκει vielleicht auch bedeuten, dass der Stein selbst, wenn er von der Sonne beschienen wird, in den Farben eines Regenbogens schillert. Wenngleich eine derartige Wirkung in der griechischen Fachliteratur über Steine nicht bezeugt ist, erscheint sie bei einer farblosen Beryllvarietät möglich. Ein Argument dafür, den Regenbogen eher als den einer Gravur ähnelnden Effekt auf einem Stein denn als Effekt des Steins auf etwas anderem aufzufassen, könnte aus der Position des Gedichts in der Gruppe der Epigramme 1–15, die gravierte Steine beschreiben (vgl. Einl. zur Sektion, S. 21), gewonnen werden. Während ein Stein, der einen Regenbogen in seiner Umgebung hervorruft, eher im zweiten Teil der Lithika

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zu erwarten wäre (vgl. Einl. zur Sektion, S. 23), passt ein auf den Stein „gemalter Regenbogen“ deshalb in die Reihe der Intaglio-Beschreibungen, weil er als Gravur erscheint. Im Gegensatz zu einer Gravur ist das Regenbogenbild nicht dauerhaft in den Stein gearbeitet, sondern eine temporäre Illusion, die aber dennoch, weil sie regelmäßig wiederkehrt, konstitutiv für das Steinkunstwerk ist. Urheber des Bildes ist nicht ein Steinschneider, sondern die Natur. Diese Deutung erscheint insbesondere im Vergleich mit 7, das einen von Kronios gravierten Stein beschreibt, attraktiv, da sie die beiden benachbarten, ansonsten parallel gebauten Gedichte in ein interessantes Spannungsverhältnis setzt. V. 3 τοῦτο τὸ μαρμαῖρον β[ηρύλλιον: Im Anschluss an das deiktische Demonstrativpronomen, das offenkundig wie τῶιδε in V. 1 auf den Stein hindeutet, wird dieser durch μαρμαῖρον als ‚glitzernd‘ bzw. ‚funkelnd‘ charakterisiert (zum Topos des Glanzes in den ersten 16 Epigrammen der Lithika vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22). Da der Stein in V. 1 bereits unspezifisch durch λίθωι benannt ist, dürften sich das Demonstrativpronomen und das attributive Partizip auf eine folgende konkrete Bezeichnung des Steins beziehen. Die einzige in Frage kommende Ergänzung des vor der Lücke erhaltenen β dürfte das Diminutiv β[ηρύλλιον sein, das einen kleinen Beryll bezeichnet (ed. pr.). Von diesem Stein kennt Plinius acht verschiedene, sich in ihrer Farbe unterscheidende Formen (nat. 37.76–77), darunter die goldfarbenen (chrysoberylli). — ] δ’ ἐπ̣ε̣δήθη: πεδάω (‚binden‘, ‚befestigen‘) bezeichnet wie δέω bzw. ἐνδέω (11.2), ἀρτάω (8.2) und ϲφίγγω (4.5; 7.4; 12.2) die Einfassung des Steins in ein Schmuckstück. Die Erwähnung des Dekolletés der Nikonoe, auf dem der Stein „zum Liegen kam“, legt nahe, dass es sich bei dem Schmuckstück der Nikonoe um eine Halskette handelt. Die verbleibende freie Versposition nach β[ηρύλλιον wird sinnvoll durch εὖ gefüllt, das die Qualität der Einfassung lobt (ed. pr.) V. 4 Νικο̣νόηϲ: Nikonoe heißen auch die Protagonistinnen von 7 und eines Epigramms des hellenistischen Dichters Hedylos (AP 6.292). Mit der vorliegenden ionischen Endung (vgl. Ν̣[ι]καίη Κώια im vorangehenden Epigramm) ist der Name für die hellenistische Zeit sonst nicht bezeugt; für die Form Νικονόα finden sich drei inschriftliche Belege, die auf ungefähre Zeitgenossinnen Poseidipps verweisen (LGPN IIIb 15207, IV 32076,32077). — χρύϲε̣[ον εἰϲ κάθε]μα: Das Versende kann mit großer Sicherheit vervollständigt werden (ed. pr.), da eine goldene Halskette als Schmuckstück der Nikonoe auch im folgenden Epigramm 7, das mehrere Parallelen zu dem vorliegenden aufweist, genannt wird. Für goldene Schmuckstücke in den Lithika vgl. neben Epigramm 7 auch 4, 8 und eventuell 12. V. 5 ὑπῆλθ[ε ………]η: Das Prädikat (‚kam‘) bezeichnet die Bewegung des geschenkten Steins hin zum Dekolleté der Nikonoe, auf dem er als Teil einer Kette zu liegen kommt. Für die sich anschließende Lücke ist bisher keine befriedigende Ergänzung vorgeschlagen worden. Gutzwillers Konjektur ὑπῆλθε δέρην, κούρ]η („er kam unter den Hals, Mädchen“) versucht, der normalen Bedeutung von ὑπέρχεϲθαι Rechnung zu tragen. Die Apostrophe der Nikonoe gleich nach ihrer Erwähnung im Genitiv (V. 4) ist jedoch nicht vorstellbar, und Austins Vorschläge (χάριϲ καιν]ή, „ein neues Vergnügen“ oder ὄψιϲ τερπν]ή, „ein reizender Anblick“) führen zu einer kaum akzeptablen Doppelung, da das Epigramm mit einer vergleichbaren Apposition (ἡ]δ̣ὺ ϲέλαϲ) endet (vgl. das folgende Lemma).

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V. 6 π[……. ἡ]δ̣ὺ ϲέλαϲ: Das erhaltene Versende ist eine Apposition zu κύβοϲ (V. 4) und beschreibt die Wirkung des Steins auf dem Dekolleté der Frau als ‚süßen Glanz‘. Für die Lücke, die der Apposition vorausgeht, bietet sich Luppes π[αρθένου („der Jungfrau“) an (in ed. pr.). Ein weiteres Attribut, wie es Gutzwiller vorschlägt, ist nicht sinnvoll und würde zudem zu der mehr als unschönen Verbindung κατὰ μαϲτὸν ϲτηθέων führen. Rekonstruktionsvorschlag τῶιδε λίθωι πᾶϲιν δ[οκίμωι μεγαλύν]εται Ἥρωϲ, ἕλκει δὲ γραπτὴν ἶριν [ἀπ’ ἠελίου τοῦτο τὸ μαρμαῖρον β[ηρύλλιον· εὖ] δ’ ἐπεδήθη Νικονόηϲ ὁ κύβοϲ χρύϲε[ον εἰϲ κάθε]μα, καὶ δωρητὸϲ ὑπῆλθ[ε ………]η κατὰ μαϲτὸν κλίνεϲθαι ϲτηθέων π[αρθένου ἡ]δὺ ϲέλαϲ. Mit diesem von allen bewunderten Stein prahlt Heros; er zieht einen gemalten Regenbogen von der Sonne an, dieser funkelnde kleine Beryll; gut aber wurde er befestigt, der Würfel, an einer Goldkette der Nikonoe, und großzügig geschenkt kam er […] auf der Brust zu liegen, er, der Brust der Jungfrau süßer Glanz. Das fragmentarische Epigramm gleicht in seinem Aufbau den Epigrammen 3–5 sowie 7, deren erster Teil jeweils mehrere Aspekte eines Steins benennt, während der zweite die Einfassung dieses Steins in ein Schmuckstück und die Schenkung an eine Frau thematisiert. Die Verse 1–3a des vorliegenden Epigramms scheinen den Auftraggeber (V. 1), die Verzierung (V. 2) sowie den Glanz und die Art des Steins (V. 3) zu nennen. Der Name der Beschenkten (‚die auf das Siegen Bedachte‘) könnte wie im vorangehenden Epigramm sprechend sein: Während Νικαίη in 5 andeuten könnte, dass die Schenkung des Steins aus Sicht der Frau als „Sieg“ zu werten ist (vgl. die Interpr. von 5), bildet Νικονόη vielleicht das Ansinnen der Frau ab, den Schenker zu „besiegen“ bzw. ihn zu „gewinnen“. Insbesondere in seinem zweiten Teil weist das Gedicht starke Parallelen mit dem Schluss des folgenden Epigramms auf: Der Stein, den Nikonoe erhält (V. 5), wird auf zweierlei Weise als erotisches Geschenk ausgewiesen: Zum einen wird die Brust der Frau als derjenige Körperteil hervorgehoben, den der Stein ziert (V. 5 f.: κ̣α̣τὰ μαϲτὸν … ϲτηθέων, „auf der Brust … der Brust“; vgl. 7.5: ἐπὶ μαϲτῶι); zum anderen wird die Schönheit der Frau impliziert, wenn der Stein als „süßer Glanz der Brust“ (V. 6: ϲτηθέων … ἡ]δ̣ὺ ϲέλαϲ) bezeichnet wird (vgl. an gleicher Versposition 7.6: μελιχρὰ φάη). Diese Formulierung legt nicht nur durch den genitivus subiectivus nahe, dass der Glanz des Steins nun auf den Körper der Frau übergegangen ist, sondern durch das Attribut ἡ]δ̣ὺ auch die umgekehrte Wirkung. Während der Fokus an der vorliegenden Stelle auf der wechselseitigen Affizierung des Steins und der Frau liegt, betont das Schlussdistichon des 7. Epigramms eher das Zusammenwirkung des Glanzes beider (vgl. 7, Interpr.). Die Besonderheit des vorliegenden Epigramms gegenüber dem folgenden dürfte in dem Effekt liegen, den der unvollständig erhaltene, Rätsel aufgebende V. 2 andeutet. Offenbar produziert der Stein im Sonnenlicht entweder auf sich selbst oder von sich ausgehend auf

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gegenüber befindlichen Gegenständen einen gemalt erscheinenden Regenbogen. Keiner dieser Effekte ist in der antiken Fachliteratur für den Beryll bezeugt (vgl. das Lemma γραπτὴν Ἶριν [). Für die Deutung, dass der Regenbogen den Stein selbst schmückt, spricht die Position des Epigramms innerhalb der ersten Gruppe der Lithika (1–15), die vornehmlich Epigramme über gravierte Steine versammelt (vgl. die Einl. zur Sektion), und insbesondere die enge inhaltliche Verbindung zum 7. Epigramm, das einen von Kronios geschnittenen Stein behandelt: Wenn der Stein des vorliegenden Epigramms das Bild eines Regenbogens auf sich zeigt, ignoriert es den Topos der Gravur nicht, sondern spielt auf originelle Weise mit ihm. 7 Im Zentrum des Epigramms, das mehrere Parallelen zu 6 aufweist, steht ein honigfarbener Stein, den Kronios geschnitten hat und der von Nikonoe an einer Kette getragen wird. I

30 ἐξ Ἀράβων τὰ ξάνθ{α} ὀ̣[ρέων κατέρ]υτα κυλίων, 1 31 • εἰϲ ἅλα χειμάρρουϲ ὦκ’ [ἐφόρει ποτα]μὸϲ 2 32 τὸν μέλιτι χροιὴν λίθ̣[ον εἴκελον, ὃ]ν̣ Κρονίο[υ] χ̣εὶρ 3 33 ἔγλυψε· χρυϲῶι ϲφι‹γ›κτ̣[ ±11 ]η̣ι 4 34 Νικονό̣η`ι´ κάθεμα τρη[τὸν φλέγει, ὡ]ϲ̣ ἐπὶ μαϲτῶι 5 35 ϲυλλάμπει λευκῶι χρω̣τὶ μελιχρὰ φάη. 6

30 ξανταο̣[ P  ὀ̣[ρέων κατέρ]υτα ed. pr., min. : ἐ̣[φόρει κατέρ]υτα De Stefani 2003 : τα]ῦτα vel τοια]ῦτα Casanova 2004 31 ὦκ’ [ἐφόρει ποτα]μὸϲ ed. pr., min. : ὦκ[α ῥέων ποτα]μὸϲ De Stefani 2003 32 λίθ̣[ον εἴκελον, ὃ]ν̣ ed. pr., min. 33 ϲφι‹γ›κτ̣[ὸϲ ὅδε γλυκερ]ῆ̣ι ed. pr., min. : (ἔγλυψε χρυϲῶι) ϲφι‹γ›κτ̣[όν· ὁ δὲ γλυκερ]ῆ̣ι Austin 2001a : ϲφι‹γ›κτ̣[ὸν ἵνα γλυκερ]ῆ̣ι (… φλέγοι) Ferrari 2005 34  ἧ]ϲ̣ Gronewald 2001, ed. min. 35 ϲυνλαμπει P

Aus den arabischem (Bergen) das gelbe (Geröll) wälzend, (trug) ins Meer schnell der winterlich flutende (Fluss) diesen dem Honig in der Farbe (gleichenden Stein, den) des Kronios Hand schnitt; in Gold eingefasst […] (erleuchtet er) Nikonoe (die durchlochte) Kette, (so dass) auf der Brust zusammen mit der weißen Haut honigsüßes Licht leuchtet. V. 1 ἐξ Ἀράβων: Die Präposition (‚aus‘) zeigt an, dass der Anfang des Epigramms offenbar das Herkunftsgebiet eines Steins nennt. Das Objekt des am Versende folgenden Partizips κυλίων, von dem die Präposition abhängt, ist zwar grammatisch τὰ ξάνθ{α} … κατέρ]υτα (‚das gelbe Geröll‘, zur Ergänzung vgl. das folgende Lemma); dem Sinn nach dürfte sich die Herkunftsangabe aber ebenso auf den V. 3 genannten Stein beziehen (zum Verhältnis der beiden Objekte vgl. auch das folgende Lemma). Als Bezugswort von Ἀράβων ist ὀ[̣ ρέων denkbar (vgl. ed. pr.). Diese Rekonstruktion wird durch den Beginn des 16. Epigramms nahegelegt, an dem der arabische Ursprung in ähnlicher Weise beschrieben wird. Dort „wälzt“ (16.1: κυλίει) ein „arabischer Strom“ (16.1 f.: Ἄραψ … ὀχετὸc), einen Kristall, den er „aus den Bergen“ (16.2: ἐξ ὀρέων) gerissen hat, „zum Strand“ (16.1: ἐπὶ θῖνα). — τὰ ξάνθ{α} ὀ̣[ρέων κατέρ]υτα: In der nach dem Artikel erhaltenen Buchstabenfolge ξανταο̣[ ist, wenn man das τ als Verschreibung eines θ ansieht, das Adjektiv ξανθά (‚gelb‘) zu lesen. Nicht realisierte Elision vor anlautendem

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Vokal findet sich auch an anderen Stellen auf dem Papyrus (vgl. z. B. 11.5). Das Bezugswort des Attributs ξανθ’ dürfte auf die am Schluss des Verses erhaltenen Buchstaben υτα enden. Der Ergänzungsvorschlag, den die Erstherausgeber für die nach der Lücke erhaltene Endung ]υτα gemacht haben, ist plausibel, wenngleich das von κατερύειν (‚herunterziehen‘) abgeleitete Wort κατέρυτα (‚Geröll‘) sonst nicht bezeugt ist. Die Frage ist, in welchem Verhältnis der V. 3 genannte Stein zu dem „gelben Geröll“ stehen könnte: Entweder wird der wertvolle Stein zusammen mit wertlosem Material, das dem beschriebenen Stein nur in der Farbe ähnelt, ins Meer gerollt oder er ist einer von vielen anderen Steinen seiner Art, die summarisch als „Geröll“ dem durch seine besondere Bearbeitung und Verwendung hervorgehobenen Stein gegenübergestellt werden. Für diese zweite Deutung spricht der Vergleich mit 16, wo ein einzelner Kristall ebenfalls als Teil einer „großen Menge von Klumpen“ eingeführt wird. V. 2 χειμάρρουϲ ὦκ’ [ἐφόρει ποτα]μὸϲ: Das Adjektiv bedeutet wörtlich ‚winterlich fließend‘ und beschreibt, wie der zweite Bestandteil des Wortes nahelegt, einen Fluss, der vermutlich am Versende genannt ist (ποτα]μὸϲ, ed. pr.; für die Junktur vgl. Hom. Il. 5.87 f.; 13.139 u. Theokr. eid. 22.5). Das vor der Lücke erhaltene Adverb legt nahe, dass in der Lücke vor ποταμόϲ das Prädikat zu ergänzen ist. Zu erwarten ist die 3. Ps. Sg. eines transitiven Verbs in einer Vergangenheitsform, das analog zu κυλίων die Tätigkeit des Flusses beschreibt, der den Stein befördert hat, z. B. ἐφόρει („er trug“, ed. pr.). V. 3 τὸν μέλιτι χροιὴν λίθ̣[ον εἴκελον: Der Anfang von V. 3 nennt den Stein, den der Fluss aus den Bergen ins Meer trug (τὸν … λίθ̣[ον). Die Ergänzung εἴκελον nach λίθ̣[ον erscheint als zwingend: Der Stein ist „Honig in der Farbe ähnlich“. Dieser explizite Vergleich mit dem Honig wird am Ende des Epigramms wieder aufgenommen, wenn der Glanz des Steins als μελιχρά (‚honigsüß‘) beschrieben wird. Dazu passen einige Steinarten, die von Plinius beschrieben werden: Der goldfarbene chrysoberyllus, den die ed. pr. aufgrund der Annahme, das vorliegende Epigramm behandele denselben Stein wie 6, für den in beiden Epigrammen beschriebenen Stein hält, kommt für das vorliegende Gedicht nicht in Frage, weil er aus Indien (nicht aus Arabien) stammt (India eos gignit, raro alibi repertos, „Indien bringt sie hervor, selten wurden sie anderswo gefunden“, Plin. nat. 37.76). Gleiches gilt für die melichrysoi (Plin. nat. 37.128). Übrig bleiben lediglich die beiden Steinarten melichus und melichlorus (sofern sie nicht mit den melichrysoi identisch sind), auf deren Herkunft Plinius nicht eingeht (Plin. nat. 37.191). — ὃ]ν̣ Κρονίο[υ] χ̣εὶρ: Der Steinschneider Kronios ist bereits aus dem 2. Epigramm bekannt (vgl. den Komm. zu 2.2 Κρονίου). Nicht nur als Werkzeug, sondern als eigentlicher Urheber der Gravur erscheint hier die „Hand“ des Künstlers (vgl. 2.2: χειρὸϲ ὑ]π̣ὸ Κρονίου und 15.4: τοῦτ’ ὑπὸ Λυγκείου βλέμματοϲ ἐγλύφετο). V. 4 ἔγλυψε: Zum terminus technicus für das Steinschneiden und seine Prominenz in den Lithika vgl. die Einl. zur Sektion, S. 20 f. Auf die Art der Gravur geht das Epigramm nicht ein (vgl. das Epigramm 5, das den Steinschneider und seine Tätigkeit nennt, aber kein Gravurmotiv spezifiziert). — χρυϲῶι ϲφι‹γ›κτ̣[ ±11 ]η̣ι: Die Junktur ‚in Gold eingefasst‘ bezeichnet in 4.5 (χρυϲῶι ϲφιγκτὸν) und wahrscheinlich in 12.2 (χρυϲίτ]αιϲ ϲφιγχθεὶϲ) die Einfassung des Steins in ein goldenes Schmuckstück (für diesen Topos der Lithika vgl. auch 6.3 f. u. 8.2 f.). An der vorliegenden Stelle dürfte sich das Verbaladjektiv prädikativ auf ein in der folgenden Lücke zu ergänzendes Demonstrativpronomen ὅδε beziehen, das Subjekt eines in der Lücke

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Lithika 7

von V. 4 zu vermutenden Prädikats wäre (ϲφι‹γ›κτ̣[ὸϲ ὅδε … /… [φλέγει], „in Gold eingefasst [erleuchtet] dieser“; ed. pr.). Die am Versende erhaltenen Buchstaben η̣ι könnten die Endung eines auf Nikonoe bezogenen Adjektivs sein. Der Vorschlag der Erstherausgeber γλυκερ]ῆ̣ι würde gut zu dem Vergleich der Farbe des Steins mit Honig (V. 3) und der daraus folgenden Charakterisierung des Glanzes als „honigsüß“ (V. 6) passen. γλυκερ]ῆ̣ι könnte zum einen proleptisch die Wirkung des Steins auf Nikonoe nennen und zum anderen die Qualität der Nikonoe anzeigen, die die Wirkung des honigsüß glänzenden Steins im letzten Vers verstärkt, ähnlich wie Nikonoe in 6 den Glanz des Steins „süß“ zu machen scheint. V. 5 Νικονό̣η`ι´: Zu Bedeutung, Verbreitung und berühmten Trägerinnen des Namens vgl. den Komm. zu 6.4 Νικονόηϲ. — κάθεμα τρη[τὸν φλέγει, ὡ]ϲ̣ ἐπὶ μαϲτῶι: κάθεμα (‚Kette‘), das von hier ausgehend auch in 6.4 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ergänzt werden kann, ist das goldene Schmuckstück, in das der honigfarbene Stein eingefasst ist (für eine weitere Kette in den Lithika vgl. 8.2: ἅλυϲιν). Sie wird offenbar als ‚durchlöchert‘ (τρη[τόν) beschrieben, womit die ineinandergreifenden, „Löcher“ enthaltenden Glieder gemeint sein dürften. – In der verbleibenden Lücke ist ein transitives Verb zu ergänzen, das die unmittelbare Wirkung des Steins auf die Kette, die mittelbare auf Nikonoe beschreibt. Den Sinn trifft das von der ed. pr. konjizierte φλέγει („erleuchtet/lässt leuchten“). Am Versende ist mit ἐπὶ μαϲτῶι („auf der Brust“) analog zu κατὰ μαϲτόν (6.6) der Körperteil benannt, auf dem der Stein als Teil einer Kette liegt. – Das vor ἐπὶ μαϲτῶι schwach erkennbare ϲ kann entweder zu der Konjunktion ὡϲ (‚so dass‘, ed. pr.) oder besser mit Gronewald zu dem Relativpronomen ἧϲ, das die Brust als diejenige der Nikonoe ausweist („auf deren Brust“), vervollständigt werden. V. 6 ϲυλλάμπει: Das Verb war bislang nur bei christlichen Autoren belegt (vgl. ed. pr. 116). Während der Schluss des 6. Epigramms, indem er den Stein als „süßen Glanz der Brust“ bezeichnet, das Zusammenwirken des Steins und seiner Besitzerin nur subtil andeutet (vgl. 6, Interpr.), zeigt ϲυ‹λ›λάμπει (‚er leuchtet zusammen‘) explizit den Beitrag an, den der Stein und die „weiße Haut“ zu dem „honigsüßen Licht“ leisten (vgl. das folgende Lemma); zum Topos des Glanzes in den Lithika vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22 — μελιχρὰ φάη: In μελιχρὰ könnten sich die honigähnliche Farbe des Steins und die Süße, d. h. die Anziehungskraft, der Frau (vgl. die Konjektur γλυκερ]ῆ̣ι) verbinden. Rekonstruktionsvorschlag ἐξ Ἀράβων τὰ ξάνθ’ ὀ[ρέων κατέρ]υτα κυλίων, εἰϲ ἅλα χειμάρρουϲ ὦκ’ [ἐφόρει ποτα]μὸϲ τὸν μέλιτι χροιὴν λίθ[ον εἴκελον, ὃ]ν Κρονίο[υ] χεὶρ ἔγλυψε· χρυϲῶι ϲφιγκτ[ὸϲ ὅδε γλυκερ]ῆι Νικονόηι κάθεμα τρη[τὸν φλέγει, ἧ]ϲ ἐπὶ μαϲτῶι ϲυλλάμπει λευκῶι χρωτὶ μελιχρὰ φάη. Aus den arabischen Bergen das gelbe Geröll wälzend trug der reißende Fluss schnell ins Meer diesen Honig in der Farbe gleichenden Stein, den des Kronios Hand schnitt; in Gold eingefasst erleuchtet dieser hier der süßen

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Nikonoe die mit Löchern durchsetzte Kette, auf deren Brust zusammen mit der weißen Haut ein honigsüßes Licht erstrahlt. Indem dieses Epigramm das Thema von 6, die Schenkung eines in eine goldene Halskette eingefassten Steins an eine Frau namens Nikonoe, aufgreift, lädt es zu einem Vergleich der beiden Epigramme ein. Beide Epigramme sind zweigeteilt. In ihrem ersten Teil unterscheiden sie sich stark voneinander, im zweiten nur im Detail. Während am Anfang von 6 der Schenker und der erstaunliche Effekt des Steins unter Sonneneinwirkung genannt werden, verfolgt die erste Hälfte des zweiten Nikonoe-Epigramms den Stein von seinem natürlichen Ursprung zur Bearbeitung durch den Steinschneider. Der zweite Teil nennt jeweils die Einfassung des Steins in die goldene Kette, seine Ankunft auf der Brust Nikonoes sowie sein Wirken auf bzw. sein Zusammenwirken mit Nikonoe. In 6 erscheinen die beiden Epigrammhälften relativ disparat: Nach der Beschreibung, wie der Regenbogen auf dem Stein entsteht, setzt die Erzählung mit der Einfassung des Steins und seiner Schenkung an Nikonoe neu an. Die Herstellung des „Bildes“ auf dem Stein ist jedoch kein Akt, der der späteren Verwendung des Steins vorausgeht, sondern ein ständiger, vom Sonnenlicht abhängiger Vorgang der Verwandlung. Eine chronologische Erzählung beginnt also erst mit dem zweiten Teil des Epigramms. Im Gegensatz dazu wird in 7 die Entwicklung des Steins von Anfang bis Ende, von seinem natürlichen Ursprung bis zu seiner „kulturellen Verwertung“ (Bing 2001, 5) dargestellt.66 Die ähnlich gestalteten Schlussverse der Epigramme 6 und 7 (zu den teils wörtlichen Übereinstimmungen vgl. 6, Interpr.) lenken den Blick des Lesers auf den Glanz, den der Stein auf dem Dekolleté einer Nikonoe entfaltet. Während die Epigramme, die dem ‚Gedichtpaar‘ 6 und 7 vorangehen, zum einen mithilfe des Glanz-Topos die Kostbarkeit des Steins hervorheben, zum anderen die Verschönerung einer Frau durch den Stein konstatieren, verbinden 6 und 7 die Aspekte ‚Glanz‘ sowie ‚Schönheit der Frau‘ miteinander. Beide Epigramme führen die Wirkung vor, die der Stein und Nikonoe aufeinander sowie zusammen auf den Betrachter haben. Die Akzentverlagerung am Ende von 7 gegenüber 6.5 f. ist minimal: In der Bezeichnung des Steins als eines „süßen Glanzes der Brust“ in 6 sind Ursache und Wirkung nicht mehr voneinander zu unterscheiden (vgl. 6, Interpr.): Demgegenüber macht der Schluss von 7 deutlich, wodurch die Charakterisierung des Glanzes, der „honigsüß“ ist, zustande kommt: Der Stein, der durch seine Farbe die geschmackliche Süße des Honigs evoziert, leuchtet zusammen mit der „weißen Haut“ der Nikonoe, die „süß“, weil schön und anziehend, ist. 8 Im Zentrum des gut erhaltenen Epigramms steht ein Karneol/Sarder, der Teil einer goldenen Kette eines Mannes ist. Die Gravur des im Vergleich mit den zuvor behandelten Schmucksteinen offenbar sehr großen Steins zeigt einen auf einem Wagen stehenden Dareios. I

36 οὔτ’ αὐχὴν ἐφόρηϲε τὸ ϲάρδιον οὔτε γυναικῶν 37 δάκτυλοϲ, ἠρτήθη δ’ εἰϲ χ̣ρυϲέην ἅλυϲιν

1 2

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Bing (2001, 4 –6) versteht das vorliegende Epigramm als raffinierte Rezeption einer Passage der homerischen Ilias, in der der angreifende Hektor mit einem Stein verglichen wird, der von einem Fluss aus dem Fels gerissen wird, zunächst unaufhaltsam herabrollt, bis er auf der Ebene abrupt zum Halt kommt (13.138–144). Die wörtlichen Übereinstimmungen mit dieser Passage, die Bing u. a. poetologisch deutet, dürften jedoch eher zufällig als beabsichtigt sein.

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Lithika 8

38 Δαρεῖον φορέων ὁ καλὸ̣[ϲ] λ̣ί̣θο̣ϲ – ἅρμα δ’ ὑπ’ αὐτὸν 39 γ̣λυφθὲν ἐπὶ ϲπιθ̣αμὴ̣ν μή̣κεοϲ ἐκτέταται – 40 φ]έγγοϲ ἔνερθεν ἄγων· κα[ὶ] ἀμύνετα̣ι̣ ἄνθρ[α]καϲ Ἰν̣δ̣ο̣ὺ̣ϲ̣ 41 αὐγαῖϲ ἐξ ὁμαλο̣ῦ̣ φ̣ω̣τὸ̣[ϲ] ἐ̣λεγχόμενοϲ· 1 τριϲ]π̣ί̣θ̣α̣μον περίμετρον· ὃ καὶ τέραϲ, εἰ πλατὺν ὄγκον 2 ἔνδοθε]ν ὑδρη̣λ̣[ὴ] μὴ διαθεῖ νεφέλη.

3 4 5 6 7 8

36 ουταυτην P 2 ἔνδοθε]ν Austin 2001a, ed. pr., min. : βυϲϲόθε]ν Ferrari 2005

Weder ein Hals trug den Karneol noch der Finger irgendeiner Frau, sondern er wurde in eine goldene Kette eingehängt, der schöne Stein, der Dareios trägt – und unter ihm ist ein gravierter Wagen über die Länge einer Spanne ausgebreitet – wobei er Licht von unten bringt; und er besiegt indische Rubine mit Strahlen von gleichem Licht, wenn er geprüft wird. Drei Spannen beträgt der Umfang; dieses auch ist ein Wunder, dass von innen keine wässerige Wolke die breite Masse durchzieht. V. 1 f. οὔτ’ αὐχὴν: Das Gedicht beginnt mit einer Beschreibung ex negativo der Funktion des Steins. (vgl. 11 und 15). Die Formulierung οὔτ’ αὐχὴν … οὔτε γυναικῶν /δάκτυλοϲ lässt sich auf mindestens zweifache Weise verstehen: Die Betonung könnte zum einen darauf liegen, dass kein Körperteil, zum anderen darauf, dass kein Körperteil einer Frau ihn jemals getragen hat. Im ersten Sinn grenzt die Aussage die Funktion dieses Karneol von der Funktion ab, die Steine wie der Karneol traditionell haben und die in den vorangehenden Epigrammen thematisiert wird: den Körper zu schmücken. γυναικῶν wäre in diesem Fall unbetont und nur deshalb angefügt, da Schmucksteine, wie es die Lithika selbst nahelegen (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22), häufiger von Frauen als von Männern getragen wurden. Im zweiten genannten Sinn bezieht sich die Aussage konkret auf die Epigramme, deren Steine offenbar sämtlich zu Schmuck für Frauen verarbeitet worden sind. — τὸ ϲάρδιον: Bei dem ϲάρδιον, den dieses Epigramm beschreibt, handelt es sich um einen Karneol (bzw. Sarder), eine Art des Chalcedon. Theophrast unterscheidet zwei Karneol-Arten: beide sind transparent und dunkelrot; die eine – weibliche – ist rötlicher, die andere – männliche – schwärzer (lap. 30; zur Unterscheidung „männlicher“ und „weiblicher“ Steine vgl. die Ausführungen über ϲάπειροϲ in 5). Nach Plinius (nat. 37.105) leitet der Stein seinen Namen von dem Ort ab, an dem er zuerst gefunden wurde: in Sardes, der Hauptstadt des antiken Königreichs Lydien. Am höchsten werde derjenige aus Babylon geschätzt, gefunden werde er aber auch auf Paros, in Assos, in Indien und Arabien, bei Leukas in Epeiros und in Ägypten. Während der Karneol von Theophrast generell als transparent beschrieben wird, hebt Plinius die Transparenz der indischen Sarder hervor. Das Epigramm geht auf den Herkunftsort des beschriebenen Steins nicht ein; Indien erscheint lediglich am Ende des Gedichts als Ursprungsgebiet des unterlegenen Konkurrenten Rubin ἄνθρ[α]καϲ Ἰν̣δ̣ο̣ὺ̣ϲ̣. — γυναικῶν: Das Substantiv ist ἀπὸ κοινοῦ von αὐχήν und von δάκτυλοϲ abhängig. V. 2 ἠρτήθη δ’ εἰϲ χ̣ρυϲέην ἅλυϲιν: In der Grundbedeutung ‚(etwas an etwas) hängen‘ wird ἀρτάω gewöhnlich mit ἀπό oder ἐκ konstruiert. Die Präposition εἰϲ ist in Verbindung mit ἀρτάω sonst nicht bezeugt, ergibt hier aber guten Sinn, „da der Stein ein Bestandteil der Kette sein, nicht aber von dieser herabhängen soll“ (Gronewald). Auf die negative Funktionsbestimmung zu

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Beginn des Epigramms folgt nun eine positive: Der Stein wurde in eine Kette eingehängt. Da diese Aussage der Information aus V. 1, dass kein Hals den Stein getragen hat, adversativ gegenübergestellt wird (ἠρτήθη δ’), handelt es sich bei ἅλυϲιν wohl kaum um eine Halskette (vgl. 7.5, wo die Halskette der Nikonoe als κάθεμα bezeichnet wird). Eher könnte die Kette als Wandschmuck fungiert haben (zu gravierten Steinen, die nicht als Schmuck oder Siegel verwendet werden, vgl. Furtwängler II, 154e Richter, 135; vgl. ed. pr. 116). — Δαρεῖον φορέων: Das Partizip der epischen Form von φέρειν, die V. 1 bereits für das Tragen eines Schmuckstücks gebraucht wird, zeigt an, dass es sich bei „Dareios“ um das Motiv handelt, das der Karneol „trägt“. Die Erwähnung des Dareios evoziert zunächst einen persischen Kontext, wie er mehrere Epigramme der Lithika kennzeichnet (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 24). Konkret verweist die Erwähnung des Namens auf das 4. Epigramm, in dem ein Dareios als ehemaliger Besitzer eines Steins erscheint. Wie dort ist auch im vorliegenden Gedicht unklar, auf welchen Dareios angespielt wird. Die folgende Erwähnung eines „unter ihn geschnittenen Wagens“ könnte darauf hindeuten, dass Dareios III. gemeint ist. Das Motiv erinnert an die berühmte Kampfszene, die das so genannte Alexandermosaik (2. Hälfte des 2. Jh.s v. Chr.) darstellt: Dareios III., wie er sich in der Schlacht bei Issos (333 v. Chr.) oder in der Schlacht bei Gaugamela (331 v. Chr.) kurz vor seiner Niederlage auf einem Wagen stehend (vgl. Plut. Alex. 33: ἐφ’ ἅρματοϲ ὑψηλοῦ βεβῶτα) gegen Alexander verteidigt. Bei der Identifikation des von Poseidipp beschriebenen Motivs mit dieser Szene ist aber Vorsicht geboten, da die Abbildung des Herrschers auf einem Wagen in der persischen Steinschneidekunst durchaus häufiger vorkommt und nicht auf Dareios III. beschränkt ist (vgl. den Darius-Zylinder, British Museum). Falls Poseidipp ein reales Objekt beschreibt, sind dessen Entstehungszeit und -kontext unsicher. Passend erscheint die Darstellung von Dareios III. als desjenigen, den Alexander (mithilfe u. a. von Ptolemaios I.) besiegt hat, durch einen ptolemäischen Künstler, da sich die Ptolemäer als Nachfolger Alexanders inszenierten. Gegen diese Einordnung spricht jedoch, dass ein ptolemäischer Steinschneider vermutlich nicht Dareios allein, sondern mit ihm auch Alexander oder einen der Ptolemäer abgebildet hätte (Quenouille/Pfrommer 2009, 182). Alternativ ließe sich das Motiv als achämenidische Darstellung von Dareios I. oder III. deuten, das durch den Alexanderzug oder die Syrischen Kriege der Ptolemäer nach Ägypten gelangt ist (Quenouille/Pfrommer 2009, 183). V. 4 γ̣λυφθὲν: Ob sich der terminus technicus des Steinschneidens (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 20 f.) hier wie in den Epigrammen der ersten Untergruppe (1–7) auf den Schnitt eines Intaglios oder auf den einer Kamee bezieht, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden: Für eine Kamee spricht die Größe des Steins, da sich ein derart großer Stein nicht als Siegel eignet, ein Intaglio aber seine volle Wirkung erst durch den Siegeldruck entfaltet (ed. pr. 116; Quenouille/Pfrommer 2009, 184). Gegen eine Kamee spricht das Material, da Kameen immer helle Figuren auf dunklem Grund zeigen; es sei denn, Poseidipp habe mit ϲάρδιον das typische Material von Kameen ϲαρδόνυξ, das mehrere Schichten aufweist, gemeint (ed. pr. 116, Quenouille/Pfrommer 2009, 183 f.). Entscheidend ist jedoch letztlich, wie man den Stein datiert, falls man annimmt, dass Poseidipp hier ein reales Kunstobjekt beschreibt, und ob es in dieser Zeit bereits Kameen gab: Die ed. pr. entscheidet sich gegen die Deutung „Kamee“, da sie den dargestellten Stein in die achämenidische Zeit datiert, in der Kameen noch nicht bekannt waren. Quenouille/Pfrommer 2009, 185 f., die den beschriebenen Stein ebenfalls in die achämenidische Zeit setzen, deuten die Darstellung als positives Relief und halten den Stein für einen Vorläufer der Kamee. Kosmetatou (2003, 39– 42 u. 2004c, 81–84) hält den Stein, der Dareios III. zeige, für ein frühhellenistisches Produkt und für einen Beweis dafür, dass es

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Kameen bereits in frühhellenistischer Zeit gab; sie wendet sich damit gegen Plantzos’ (1996, 115–131) Einschätzung, der die Existenz von Kameen vor späthellenistischer Zeit ausschließt, obgleich er zeigt, dass es die Technik zum Schnitt von Reliefs bereits in frühhellenistischer Zeit gab (zur Datierung des dargestellten Steins anhand des Motivs vgl. das Lemma Δαρεῖον φορέων). — ἐπὶ ϲπιθ̣αμὴ̣ν μή̣κεοϲ: Die Maßangabe bezieht sich offenbar auf die Länge des abgebildeten Wagens. Eine ‚Spanne‘, d. h. die Entfernung zwischen den Spitzen des Daumens und des kleinen Fingers an der ausgespannten Hand, wird mit ca. 22cm bemessen. Da der Stein im Durchmesser noch etwas länger sein muss als das Bild, das ihn schmückt (vgl. das Lemma τριϲ]πί̣ θ̣ α ̣ μ ̣ ον περίμετρον), ist er, verglichen mit den in den vorangehenden Epigrammen beschriebenen Schmucksteinen, extrem groß. V. 5 ἄνθρ[α]καϲ Ἰν̣δ̣ο̣ὺ̣ϲ̣: ‚Indische ἀνθρακεϲ‘ (für die Junktur vgl. Strab. 15.1.69 u. Ath. 12.539d) zeichnen sich durch einen besonderen Glanz aus, der dem des hier beschriebenen Sarders am nächsten kommt, ihm aber unterlegen ist. ἄνθραξ kann sowohl den Halbedelstein ‚Rubin/ Karfunkel‘ als auch die ‚Kohle‘ bezeichnen (Quenouille/Prommer 2009, 180). Den Vergleich des Sarders mit dem Anthrax stellen in der Kaiserzeit auch Sokrates und Dionysios in den Orphischen Lithika (Kerygm. 30.1–5) an, wo der Sarder bzw. „der babylonische Stein“ (ὁ βαβυλώνιοϲ) als Schmuckstein berühmter Herrscher bezeichnet wird. Quenioulle/Pfrommer halten es für möglich, dass der Stein im vorliegenden Epigramm diese Funktion umkehrt: Durch die Darstellung eines mit einem Anthrax verglichenen und daher offenbar rötlichen, d. h. „weiblichen“ Sarders werde der abgebildete Dareios als „weiblich“ diffamiert (2009, 180 f.). Die Wahl des „weiblichen“ Sarders in Verbindung mit einem „Sujet maskuliner Natur“ könnte jedoch auch auf die „transitorische Funktion“ des Epigramms im Aufbau der Lithika zurückzuführen sein: Nach den Gedichten 4 –7, die Schmuckstücke für Frauen beschreiben, leitet es eine kleine Reihe von Epigrammen (8–10) über „‚maskuline‘ Gegenstände“ (Höschele 2010, 159) ein. — ἔνερθεν: ‚Von unten‘ bedeutet hier – aus der Sicht des von oben auf die Steinoberfläche schauenden Betrachters – ‚von innen‘; φ]έγγοϲ meint demnach die dem Stein eigene Leuchtkraft. V. 6 αὐγαῖϲ ἐξ ὁμαλο̣ῦ̣ φ̣ωτ̣ ὸ̣[ϲ] ἐ̣λεγχόμενοϲ: Der Vers nennt offenbar die Bedingung, unter der der Sarder den Anthrax „besiegt“: „wenn er durch Strahlen aus gleichem Licht geprüft wird“. Die Strahlen dürften nicht die „Streifen“ meinen, die der Sardion gemäß einer Stelle der Orphischen Lithika „abstrahlt“ (Orph. Lith. Kerygm. 30.1–5), sondern von einer externen Lichtquelle stammen, unter deren Einfluss der Stein sein besonderes, von innen kommendes Glänzen zeigt, das dem des Anthrax ähnelt, diesem aber unter gleichen Lichtbedingungen überlegen ist. V. 7 τριϲ]πί̣ θ̣ α ̣ μ ̣ ον περίμετρον: Die Ergänzung (ed. pr.) leitet sich aus der Angabe der Wagenlänge in V. 4 ab, die eine Spanne, also ca. 22cm, beträgt. Falls der Stein einen kreisförmigen Umriss hat und der Wagen die ganze Breite einnimmt, also in etwa dem Durchmesser entspricht, müsste der Umfang knapp 70cm betragen; er wäre damit unwesentlich größer als τριϲ]π̣ί̣θ̣α̣μον (drei Spannen ‹groß›) — ὃ καὶ τέραϲ: Für die selbe Formulierung an gleicher Versposition vgl. 17.5. Das ‚Wunder‘ besteht darin, dass ein so großer Stein sonst nicht ohne Trübung ist.

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V. 8 ἔνδοθε]ν: Austins Konjektur („von innen“) trifft den Sinn. Ferraris βυϲϲόθε]ν („von unten“) ist auch denkbar; die von ihm angeführte Parallelstelle 2.4 ist allerdings kein Argument für seinen Vorschlag, da sich βυϲϲόθεν dort auf die Art der Gravur bezieht und also in einem völlig anderen Kontext begegnet. Gegenstand des Epigramms ist ein großer Karneol, der einen Dareios auf einem Wagen zeigt. Das Motiv fügt sich in die auffällige Reihe persischer Anspielungen in der Lithika-Sektion (Einl. zur Sektion, S. 24). Ein ptolemäischer Leser dürfte bei der Erwähnung des Großkönigs sofort an Dareios III. gedacht haben, der von Alexander, auf den sich die Ptolemäer zurückführen, zweimal geschlagen wurde. Falls es sich bei dem beschriebenen Stein um eine reale Gemme handelt, ist nicht zu entscheiden, ob sie tatsächlich von einem ptolemäischen Künstler geschnitten wurde oder, da der Großkönig allein, d. h. ohne Alexander, abgebildet ist, in einem achämenidischen Kontext entstanden ist (für die Entstehungszeit vgl. das Lemma γ̣λυφθέν). Aus der Gruppe der Epigramme über geschnittene Steine (1–15) sticht das vorliegende Epigramm durch die Größe des behandelten Objekts hervor. In explizitem Gegensatz zu 4 –7 konzipiert es den beschriebenen Stein nicht als Schmuckstück einer Frau (vgl. οὔτ’ αὐχὴν); der große Stein könnte als Wandschmuck gedient haben. Die besondere Wirkung des Steins geht offenbar nicht von dem Schnitt aus, da das Bild, im Gegensatz zu dem in 14 dargestellten Moment einer Szene, kaum beschrieben, sondern lediglich benannt wird: Es sind vielmehr seine natürlichen Eigenschaften – die enorme Größe sowie die außerordentliche Leuchtkraft und Transparenz –, die das Besondere des Steins ausmachen. Durch die Maßangaben (V. 4 u. V. 7) gibt sich die Beschreibung des Steins objektiv und rational, ein Eindruck, den die hypothetisch angebotene ‚Prüfung‘ des Leuchtens zum Zwecke des Vergleichs mit indischen Rubinen noch verstärkt. Zwischen den stark hervorgehobenen natürlichen Qualitäten des Steins und dem knapp benannten Motiv der Gravur stellt das Epigramm keine explizite Verbindung her (contra Kosmetatou 2003, 41– 42; vgl. im Gegensatz zum vorliegenden Epigramm die ausführliche Beschreibung des Motivs von 14, das seine Wirkung im Zusammenhang mit den natürlichen Qualitäten des Steins entfaltet). 9 Das Epigramm ist stark zerstört. Das Erhaltene lässt erkennen, dass es um den berühmten Siegelring des Polykrates geht. II

3 ἡιρήϲ]ω̣ ϲφρηγ̣[ῖδα], Π̣ολύκρατεϲ, ἀνδρὸϲ ἀοιδοῦ 4 … φο]ρ̣μίζ[οντοϲ ϲοῖϲ] π̣αρὰ π̣[οϲϲ]ὶ̣ λύρην 5 .….]εν κρ̣[…….]. αυγ̣[. ἔϲ]χ̣ε δὲ ϲὴ χεὶρ 6 ….]ε̣κρ̣[ ±11 ]. ν[….]ν κτέανον.

1 2 3 4

3 ἐκτήϲ]ω̣ Austin 2001a 4 τοῦ φο]ρ̣μίζ[οντοϲ ed. pr., min : εὖ φο]ρ̣μίζ[οντοϲ De Stefani 2003 : εὐδοκ]ι̣μίζ[οντοϲ Luppe 2002e 5–6 φωτὸϲ μ]ὲν κρ̣[ατέει χρυ]ϲ̣αυγ̣[έοϲ· ἔϲ]χ̣ε δὲ ϲὴ χείρ | [τόνδ]ε̣ κρ̣[ύϲταλλον, κλε]ι̣ν[ότατο]ν κτέανον e.g. Austin 2001a : χαίρει μ]ὲν κρ̣[αδίη ϲοι ἐ[π̣’ αὐτ̣[ῆι, ἔϲ]χ̣ε δὲ ϲὴ χείρ | [αἶϲχο]ϲ̣, κό̣[ϲμον ἑλοῦϲ’ α]ἰ̣ν[ότατο]ν κτέανον e.g. Luppe 2002e 5 λᾶοϲ μ]ὲν Ferrari per litt. 6 ἣν ὁ γ’ ἀν]έ̣κρ̣[ουεν De Stefani 2003

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Lithika 9

(Du hast als Siegel gewählt,) Polykrates, des Sängers, (der) zu (deinen Füßen spielt,) Lyra […] und deine Hand (hielt) […] Besitz. V. 1 ἡιρήϲ]ω̣: Das schwach erhaltene ω ist vermutlich die Endung eines Prädikats, das die beiden Akkusative λύρην (V. 2) und ϲφρηγ̣[ῖδα] (V. 1) als Objekt und Prädikativum in Verbindung bringt. Der folgende Vokativ Π̣ολύκρατεϲ lässt auf die 2. Ps. Sg. eines medialen Aorists schließen, mit der Polykrates angesprochen wird. Von Austins Vorschlägen ist ἡιρήϲ]ω̣ („du hast [aus]gewählt“) plausibler als ἐκτήϲ]ω̣ („du hast erworben“). — ϲφρηγ̣[ῖδα]: Die Form von ϲφραγίϲ (‚Siegel‘), deren ionischer Stamm zum Teil erhalten ist, bildet die prädikative Ergänzung zu λύρην, dem Objekt des am Versanfang wohl zu ergänzenden Verbs. Wie das deutsche Wort „Siegel“ bezeichnet ϲφρηγ̣[ῖδα] zunächst den ‚Siegelring‘ bzw. den ‚Stein eines Siegelrings‘, aber auch wie hier metonymisch den ‚Abdruck eines Siegelrings‘ (LSJ A.II.1), d. h. sein Motiv: „du hast als Siegel die Lyra gewählt“. Die unmittelbare folgende Apostrophe identifiziert ϲφρηγ̣[ῖδα] als Teil des berühmten Siegelrings des Herrschers Polykrates (vgl. das folgende Lemma). Die prägnante Beschreibung des Rings bei Herodot (3.41.21–23) konnte Poseidipp bei seinen Lesern voraussetzen: Ἦν οἱ ϲφρηγὶϲ, τὴν ἐφόρεε, χρυϲόδετοϲ, ϲμαράγδου μὲν λίθου ἐοῦϲα, ἔργον δὲ ἦν Θεοδώρου τοῦ Τηλεκλέοϲ Ϲαμίου, „Er besaß einen Siegelring aus Smaragd, in Gold gefasst, den er immer trug, ein Werk des Theodoros, Telekles’ Sohn, aus Samos.“ Herodot ‚ergänzt‘ die erhaltenen Reste des Epigramms um Informationen über die Steinart und den Steinschneider: Es handelt sich um einen von Theodoros, einem der berühmtesten Künstler seiner Zeit, geschnittenen Smaragd (vgl. auch Paus. 8.14.8 [DNO 282] und Tzetz. hist. var. 7.210 f. [DNO 283]; Plinius’ Nachricht, dass der Stein ein Sardonyx sei [37.4: sardonychem eam gemmam fuisse constat], bezieht sich auf eine in Rom gezeigte Gemme, bei der es sich sehr wahrscheinlich nicht um den Ring des Polykrates handelte [DNO 286]). — Π̣ολύκρατεϲ: Über den Tyrannen, der von ca. 540–522 v. Chr. auf Samos herrschte, erzählt Herodot eine berühmt gewordene Anekdote (3.40– 43): Der befreundete Pharao Amasis rät Polykrates, etwas gegen sein ständiges Glück zu tun, da er sonst den Neid der Gottheit auf sich ziehen werde. Um dem drohenden Unheil zu entgehen, solle sich Polykrates von seinem liebsten und wertvollsten Besitzstück trennen. Dieser wählt seinen Siegelring aus und wirft ihn ins Meer. Doch schon kurze Zeit finden seine Diener den Ring im Bauch eines Fisches und geben ihn Polykrates zurück, der schließlich dem von Amasis vorhergesagten Schicksal nicht entrinnen kann (3.120–125). — ἀνδρὸϲ ἀοιδοῦ: Der Genitiv hängt offenbar von λύρην im folgenden Vers ab und gibt den Besitzer bzw. Benutzer der Lyra an. Für die Verbindung von ἀνήρ und einer Berufsbezeichnung vgl. 22.1 ἀν̣δρ̣ὶ̣ γ̣εωργῶι und 30.1 ἀνδρὶ πολίτηι sowie HE 3118 ἐργάται ἄνδρεϲ (für eine vergleichbare Junktur in den Lithika vgl. die Verwendung von παῖϲ in 18.3). Hinter dem anonymen Sänger dürfte sich Anakreon verbergen, den Polykrates als Lehrer seines Sohnes an seinen Hof holte (vgl. Him. or. 29,24 –28) und mit dem Polykrates in einer der beiden Versionen, die Herodot über seine Ermordung erzählt, im Männersaal zusammensaß (3.121.9–11). Zwischen dem Herrscher und dem Dichter bestand laut Strabon 14.1.16 eine enge Verbindung, die sich auch in Anakreons Dichtung niedergeschlagen hat: „Mit diesem [d. h. Polykrates] lebte der Liedermacher Anakreon zusammen; und so ist denn auch seine ganze Dichtung voll von der Erinnerung an ihn.“ Welcher Natur die Verbindung, die durch diverse Legenden ausgeschmückt worden ist, tatsächlich war, ist unklar (vgl. Müller 2010, 70; zu Anakreons Einfluss auf Polykrates vgl. Vox 1990).

Anna-Maria Gasser

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V. 2 … φο]ρμ ̣ ίζ[οντοϲ: Die Ergänzung der Erstherausgeber kann als sicher gelten. φο]ρμ ̣ ίζ[οντοϲ ist, abhängig von der Ergänzung des Versanfangs, entweder attributives Partizip (τοῦ ­φο]ρ­μ ̣ ίζ[οντοϲ, ed. pr.) oder participium coniunctum (vgl. De Stefani 2003, 62: εὖ φο]ρμ ίζ[οντοϲ). Da es in ̣ jedem Fall attributivisch zu verstehen ist („[sc. des Sängers], der sang“) böte De Stefanis Ergänzung des Adverbs gegenüber der eines Artikels eine zusätzliche Information („der schön sang“) und ist daher vorzuziehen. — ϲοῖϲ] π̣αρὰ π̣[οϲϲ]ι̣: Die Konjektur des Dat. Pl. π̣[οϲϲ]ι̣ ist im Anschluss an π̣αρὰ aufgrund des erhaltenen Anfangs- und Endbuchstabens so gut wie sicher. Aus metrischen Gründen ist nur die epische Form möglich. Als Ergänzung der Lücke vor der Präposition bietet sich das Possessivpronomen ϲοῖϲ analog zu ϲή im folgenden Vers an, das dort ebenfalls auf einen Körperteil des Polykrates bezogen ist. — λύρην: In den Quellen zum Siegelring des Polykrates ist die Lyra nur bei Clemens von Alexandria bezeugt (paid. 3.59: αἱ δὲ ϲφραγῖδεϲ ἡμῖν ἔϲτων πελειὰϲ ἢ ἰχθὺϲ ἢ ναῦϲ οὐριοδρομοῦϲα ἢ λύρα μουϲικὴ ᾗ κέχρηται Πολυκράτηϲ [„Unsere Siegel seien eine Taube oder ein Fisch oder ein mit gutem Wind segelndes Schiff oder eine musische Lyra, wie sie Polykrates verwendete“]). Darüber hinaus sind auch andere Edelsteine bekannt, in die eine Lyra graviert war (vgl. AGD IV, 153; Vollenweider 1979, 483 f.; ed. pr. 118). Eine Lyra ist auch Gegenstand eines Gedichts der Anathematika; vgl. 37.1 f. V.  3 f. Das zweite Distichon ist bis auf wenige am Ende der beiden Verse erhaltene Wörter zerstört. Aus dem erhaltenen δὲ, das gewöhnlich die zweite Position im Satz einnimmt, lässt sich schließen, dass mit dem vorangehenden, nur teilweise erhaltenen Wort ein neuer Satz beginnt: In Verbindung mit dem überlieferten Versende ϲὴ χείρ ergibt ἔϲ]χ̣ε einen guten Sinn: „deine Hand hielt“. Das Objekt, das Polykrates, dessen Hand hier gemeint sein dürfte, hält, ist vermutlich der Siegelring, auf den sich wahrscheinlich auch das einzige vollständig erhaltene Wort des letzten Verses (κτέανον, ‚Besitz(stück)‘) bezieht. Gegen die spielerische Ergänzung von Austin (2001a): φωτὸϲ μ]ὲν κρ[̣ ατέει χρυ]ϲα ̣ υγ[̣ έοϲ· ἔϲ]χε̣ δὲ ϲὴ χείρ /[τόνδ]ε̣ κρ[̣ ύϲταλλον, κλε]ιν̣ [ότατο]ν κτέανον, „(Sc. der Ring) verfügt über golden leuchtendes Licht und deine Hand hielt diesen Edelstein, ein äußerst berühmtes Besitzstück“ ist lediglich einzuwenden, dass er für κρύϲταλλοϲ den nicht bezeugten allgemeinen Sinn „Edelstein“ annimmt. Der Konjektur dieses Wortes im konventionellen technischen Sinn steht Herodots Aussage entgegen, es handele sich um einen Smaragd. Attraktiv erscheint dagegen Austins Ergänzung der in der Mitte von V. 3 erhaltenen Buchstaben: χρυ]ϲα ̣ υγ[̣ έοϲ (‚golden leuchtend‘) kombiniert den Aspekt des Glanzes mit Herodots Information, dass das Siegel in Gold gefasst war (χρυϲόδετοϲ, 3.41.1; zum optischen Zusammenwirken zweier Objekte vgl. 7.5 f., dort von einer goldenen Kette und der Haut einer Frau). Als Attribut zu dem letzten erhaltenen Wort κτέανον bietet sich ein Superlativ an, wie Austins κλε]ι̣ν[ότατο]ν („der berühmteste [sc. Besitz]“) oder auch der Superlativ eines Wortes, das den Wert ausdrückt, den der Ring laut den antiken Quellen hat. Im Gegensatz zu Strabon, der den objektiven Wert des Steins und der Gravur hervorhebt (14.638, δακτύλιον λίθου καὶ γλύμματοϲ πολυτελοῦϲ), stellt Herodot in seiner Erzählung den subjektiven Wert des Rings heraus, der aus Polykrates’ Wertschätzung resultiert: Auf die Aufforderung des Amasis hin, „das [ihm] Wertvollste, was [er] finden könne“ (3.40.3) wegzuwerfen, „suchte [Polykrates] diejenigen von seinen Kostbarkeiten, deren Verlust ihn am meisten in der Seele schmerzen würde“ (3.41.1), und wählte seinen Ring. Ähnlich betont Plinius, dass „dieser eine Edelstein dem Polykrates als hinreichendes Sühneopfer für sein allzu großes Glück erschien“ (Polycrati Samio, insularum ac litorum tyranno, felicitatis suae, quam nimiam fatebatur etiam ipse qui felix erat, satis piamenti in unius gemmae voluntario damno videretur; 37.3). Entsprechend

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Lithika 10a /10b

nennt Plinius den Stein als hervorragendes Beispiel dafür, welche Liebe (amor) die Menschen im Laufe der Zeit für Steinobjekte entwickelt haben (37.3). Aus der Apostrophe des Polykrates und der Erwähnung eines Siegels ist deutlich, dass das stark zerstörte Epigramm auf Herodots Anekdote (3.40– 43; vgl. das Lemma Π̣ολύκρατεϲ) rekurriert, die heute v. a. durch Schillers Ballade „Der Ring des Polykrates“ berühmt ist. Während Herodots Anekdote über die Unwägbarkeit und Vergänglichkeit menschlichen Glücks reflektiert und den Ring nur als materielles Symbol von Polykrates’ zerbrechlichem Glück einführt (vgl. Strab. 14.638: τῆϲ δὲ εὐτυχίαϲ αὐτοῦ ϲημεῖον), steht im Zentrum von Poseidipps Epigramm, soweit das Erhaltene diesen Schluss zulässt, das Artefakt selbst. Das Epigramm füllt damit eine Lücke in der Erzählung Herodots aus, der keine Informationen über das Motiv des Rings gibt. Wie in 19 schreibt Poseidipp hiermit die vorangehende Literatur fort. Da das Motiv der Lyra für den Ring des Polykrates nur ein weiteres Mal nach Poseidipp bezeugt ist (vgl. das Lemma λύρην), könnte es sein, dass Poseidipp es erfunden hat (so Bing 2001, 2); er kann es aber auch aus einer uns nicht überlieferten Quelle übernommen haben. Ausgehend von dem Motiv des Siegels, der Lyra, entwirft das Epigramm eine Szene, die offenkundig auf Anakreons Wirken an Polykrates’ Hof anspielt, das verschiedene Quellen bezeugen: Ein Sänger singt zu Polykrates’ Füßen zur Lyra. Die Szene präsentiert auf der einen Seite Polykrates als einen Herrscher, der die Dichtung fördert, auf der anderen Seite Anakreon als einen Dichter/Sänger, der sich in den Dienst eines Herrschers stellt. Vor dem Hintergrund, dass dieses Gedicht in einer Sammlung mit diversen Epigrammen erscheint, in denen Poseidipp die Ptolemäer einige Male explizit nennt und vielfach implizit ihren Herrschaftsanspruch zu legitimieren sucht (vgl. Einl., S. 13 f.), könnte die Darstellung des alten Herrscher-Dichter-Verhältnisses auch als Vorbild für die Beziehung von Poseidipp zum ptolemäischen Herrscherhaus gelesen werden und die Idee der wechselseitigen Wertschätzung und Förderung – Herrscheraffirmation durch Dichtung sowie Dichterprotektion durch den Herrscher – aktualisieren. Ein indirekter Bezug zu Poseidipps eigener Dichtung kann auch deshalb angenommen werden, da der Hofdichter Anakreon, der u. a. auch Epigramme verfasst hat, in literarischer Hinsicht ein Vorläufer Poseidipps ist. Die Verbindung zwischen den Ebenen der Vergangenheit und der Gegenwart, die der Inhalt des Gedichts einerseits und der Kontext seiner Entstehung andererseits implizieren, wird auch topographisch hergestellt: Samos, der Ort von Polykrates’ Tyrannis, gehört im 3. Jh. zum Ptolemäerreich. Die Suggestion dieses Ortes durch die Apostrophe des vormaligen Herrschers lässt sich mit der Erwähnung mehrerer anderer Herkunftsorte von Steinen in den Lithika, die über die Eroberung durch Alexander ins Ptolemäerreich gelangten, und der generellen Emphase der makedonischen Ursprünge der Ptolemäer in den Epigrammen des Papyrus (Bing 2005, 123; Höschele 2010, 156 f.) verbinden. 10a /10b Bei den zehn äußerst schlecht überlieferten Versen zwischen dem 9. und 11. Epigramm handelt es sich um die Überreste eines längeren (10) oder zweier kürzerer Gedichte (10a, 10b). Das Erhaltene nennt weder einen Stein, noch lässt es einen Sprecher erkennen. II

7 ±25 κ]ύλινδρον 8 ±27] .ν

1 2

Anna-Maria Gasser



9 ±25 χαρ]άδρηϲ 10 ±28 ]ω̣ν 11 ±25 βαν]α̣ύϲου 12 ±28 ]ν 13 ±28 ] δ̣ι’ αὐτῶν 14 ±28 ].ιον 15 ±24 ].[.].Ναβαταῖοϲ 16 μ̣[……]ν̣ ᾿Α̣ρ̣ά̣β̣ω̣[ν ἱππο]μ̣άχ̣ω̣ν β̣αϲιλεύϲ.

61 3 4 5 6 7 8 9 10

Hos versus duo epigrammata complecti verisimile est, sed divisio (post 10 vel post 12) incerta, v. ed. pr. 14 ἠέ]λ̣ιον ed. pr. : δακτύ]λ̣ιον Angiò 2007a 15 [ὃ]ϲ̣ (Ναβαταῖοϲ) Angiò 2007a 16 μ[̣ ακραίω]ν̣ vel Μ[̣ άλιχοϲ ὢ]ν̣ vel Μ[̣ άλχοϲ ἐὼ]ν̣ e.g. ed. min. : μ[̣ αλθακὸϲ ἦ]ν̣ Angiò 2007a  ἀ]μά ̣ χω ̣ ν̣ vel παυρο]μ̣άχ̣ω̣ν Casanova 2004 : οὐκ ἀ]μ̣άχ̣ω̣ν Angiò 2007a

[…] Zylinder […] […] Gebirgsbachs […] […] Handwerkers […] […] durch sie […] […] nabatäischer […] der Araber, die auf Pferden kämpfen, König. V. 1 κ]ύλινδρον: Im Kontext der Steingedichte dürfte diese Bezeichnung einer geometrischen Form entweder einen Stein bezeichnen, der von Natur aus zylindrisch geformt ist, oder einen Stein, der in die Form eines Zylinders geschnitten wurde. Die zweite Möglichkeit liegt insofern nahe, als zylindrisch geformte Gemmen für die Antike gut bezeugt sind (vgl. ed. pr. 118), wenn auch nicht so häufig für die hellenistische Zeit, in der aber Steine zu Prismen geschnitten wurden (Zazoff 1983, 211). Der Zylinder war eine typisch nahöstliche Form, und nahöstliche zylinderförmige Siegel waren oft mit einem Bild und Text versehen. (Petrovic 2014, 284). V. 3 χαρ]άδρηϲ: Die erhaltenen Buchstaben am Ende des Verses lassen sich plausibel zum ionischen Genitiv von χαράδρα, „Gebirgsbach“, ergänzen (ed. pr.). Innerhalb der Motivik der Lithika ist die Herkunft des behandelten Steins aus einem Fluss, der ihn aus den Bergen herabträgt, ein wiederkehrender Topos (7.1 f., 16.1 f.; vgl. auch die Verneinung der Flussherkunft 15.1 und die Erwähnung eines Flusses 1.1; vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22). V. 5 βαν]α̣ύϲου: Austins Konjektur ist plausibel, da die Erwähnung eines „Handwerkers“ vielleicht die künstlerische oder jedenfalls handwerkliche Steinbearbeitung anzeigen könnte, die auch in den meisten anderen der ersten 15 Epigramme des Papyrus thematisiert wird.

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Lithika 11

V. 9 Ναβαταῖοϲ: Das Adjektiv bezieht sich wahrscheinlich auf β̣αϲιλεύϲ am Ende des folgenden Verses. Die Nabatäer, ein arabisches Volk, dessen Hauptstadt Petra war, werden zum ersten Mal auf einem dokumentarischen Papyrus, der sich in die Jahre 260–258 v. Chr. datieren lässt, in der Form Ἀναβαταῖοι erwähnt (PSI IV 406.21 = C.Ptol.Sklav. 42). Bei der vorliegenden Stelle handelt es sich um die früheste erhaltene literarische Erwähnung der Nabatäer. Diodor (2.48 f.; 19.94 –100) berichtet im 1. Jh. v. Chr. über die erfolglosen Expeditionen Antigonos I. 312–11 v. Chr. in das Land dieses Volkes (vgl. ed. pr. u. Grohmann 1935, Sp. 1453–1468). Nur ein weiteres Mal in der uns erhaltenen antiken Literatur werden die Nabatäer mit Edelsteinen in Verbindung gebracht: Plinius nat. 37–121 gibt ihr Gebiet als Fundort des Amethysts an (Hackl/ Jenni/Schneider 2003, 586–87). Dies mag einen Hinweis auf die Art des hier behandelten Steins geben. V. 10 ᾿Α̣ρ̣ά̣β̣ω̣[ν: Die ohne weiteren Kontext überlieferten Wörter Ναβαταῖοϲ / […] ᾿Α̣ρ̣ά̣β̣ω̣[ν ἱππο]­ μ̣άχ̣ω̣ν β̣αϲιλεύϲ legen nahe, dass Poseidipp die Nabatäer mit den Arabern gleichsetzt. Wie im Falle von β̣αϲιλεύϲ stellt sich die Frage nach der terminologischen Präzision des Dichters (vgl. Magnelli 2008, 49). — ἱππο]μ̣άχ̣ω̣ν: Zwei Komposita von -μαχοϲ erscheinen an dieser Stelle sinnvoll: Zum einen ἱππόμαχοϲ (ed. pr.) in der erweiterten allgemeinen Bedeutung ‚reitend‘ (LSJ; vgl. ed. pr. u. Magnelli 2004, 154), da Strabon bemerkt, das Land der Nabatäer sei pferdelos; sie benützten Kamele anstelle von Pferden (16.3.26); zum anderen ἄμαχοϲ (bzw. παυρόμαχοϲ): ἄμαχοϲ könnte im poetisch nicht belegten Sinn ‚unkriegerisch‘ (Casanova 2004) auf ein Bild der Araber, das später bei Strabon bezeugt ist (16.3.23: ἀπόλεμοι τελέωϲ ὄντεϲ) rekurrieren; in der poetisch bezeugten Bedeutung ‚unbesiegbar‘ könnte das verneinte Adjektiv (οὐκ ἀμάχων, ‚nicht ‚mehr‘ unbesiegbar‘), um die Erfolge der Ptolemäer zu preisen, auf die Niederlage Antigonos’ I. gegen die Nabatäer verweisen (Magnelli bei Angiò 2007a, 50). παυρόμαχοϲ würde den Nachrichten über einige militärische Auseinandersetzungen Rechnung tragen, in die die Araber verwickelt waren (Arr. anab. 2.25.4; Diod. 8.6.14 u. Polyb. 5.79.3–13). — β̣αϲιλεύϲ: Es handelt sich offenbar um das Bezugswort von Ναβαταῖοϲ am Ende des vorangehenden Verses. Möglicherweise ist dies die älteste Erwähnung eines nabatäischen Königs (Graf 2006, 57–68) – namentlich sind nabatäische Könige erst für die Zeit ab 169 v. Chr. bekannt –, β̣αϲιλεύϲ könnte hier aber auch nur einen lokalen Herrscher bezeichnen (vgl. ed. pr. 119). Die Frage, ob Poseidipp an dieser Stelle terminologisch präzise ist (Magnelli 2008, 49), ist letztlich nicht zu entscheiden. Eine sichere Aussage über den Inhalt der am schlechtesten überlieferten Verse der Lithika zu treffen, ist nicht möglich. Lediglich einige der erhaltenen Wörter lassen sich in die Topik der Lithika einordnen (vgl. den Komm.). Angesichts der Tatsache, dass der Papyrus ein weiteres Epigramm mit zehn Versen aufweist (63) und außerhalb des Papyrus zwei weitere Epigramme dieser Verszahl Poseidipp zugeschrieben werden (Didot, HE 3100 f. u. 3110 f.; vgl. ed. pr.), gibt es keinen Grund zu der Annahme der bisherigen Herausgeber (ed. pr.; ed. min.; CHS), dass die erhaltenen Reste II 7–16 nicht ein einziges, sondern zwei Epigramme repräsentieren. 11 Das im ionischen Dialekt verfasste Epigramm hat wie das folgende eine gravierte Muschelschale zum Gegenstand. Die erste Hälfte des Gedichts ist fast vollständig, die zweite nur sehr

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fragmentarisch überliefert. Im Erhaltenen werden die Muschelschale und deren mutmaßliche Gravur detailliert von einem anonymen Sprecher beschrieben, der vollständig hinter die Darstellung zurücktritt. II

17 οὐ̣[χὶ λίθο]ϲ̣ ϲτίλβουϲ’ ἄγ̣α̣ν ἄργυρον, ἀλλὰ θαλάϲϲηϲ 18 Πε̣ρ̣ϲικὸν αἰγιαλῶν ὄϲτρακον ἐ̣ν̣δέδεται, 19 οὔνομα μαργαρῖτιϲ· ἔχει δ’ ἐν γλύμματι κοίλωι 20 [.….λ]ίθω̣ι μορφὰϲ Ἀγλ̣α̣[ΐηϲ ….]αϲ 21 [……]π{α} ὄγκοϲ ὑπεκτ[……]α̣ κηροῦ 22 [.….]ε̣ιϲ γλαφυρὸν γλύ[μμα φυ]λαϲϲομένου̣.

1 2 3 4 5 6

17 ϲτίλβουϲα π̣α̣νάργυρον Lloyd-Jones 2001, De Stefani 2001 19 εγγλυμματι P 20 [χρυϲολ] ίθω̣ι Austin 2001a, ed. min : [ἄντα λ]ίθω̣ι De Stefani 2003 : ἀντιλ]ίθωι? Ferrari per litt.  Ἀγλ̣α̣[ΐηϲ ἰκέλ]αϲ Austin 2001a, ed. min : ἀγλα ̣ [̣ ΐηι vel ἀγλα ̣ [̣ ΐην ἰκέλ]αϲ („simili per splendore a“) Angiò 2012, 16 : φανερ]άϲ Ferrari per litt. 21 [……]παογκοϲ P : [ἤδη δ’ εἰϲ ὦ]π’ ὄγκοϲ ὑπεκτ[έταται δι]ὰ̣ e.g. Austin 2001a, ed. min. : [πλαχθεὶϲ δ’ εἰϲ ὦ]π’ De Stefani 2003 22 [αὐγὴν] ε̣ἰϲ Austin 2001a, ed. min. : [πάντοθεν] ε̣ἰϲ De Stefani 2003 : [λειανθ]ε̣ὶϲ Ferrari 2005  μα]λαϲϲομένου̣ De Stefani 2003

Nicht (ein Stein), der stark silbrig glänzt, sondern eine persische Schale vom Meeresstrand ist eingefasst worden. Ihr Name ist Perlmutt; sie hat in dem gewölbten Schnitt […] (dem Stein) die Gestalt der Aglaia […] […] Masse […] von Wachs […] die hohle Gravur bewahrend. V. 1 οὐ̣[χὶ λίθο]ϲ̣: Wie zwei weitere Epigramme der Lithika (8 u. 15) beginnt auch dieses mit der Negation eines Sachverhalts. Hier gibt der Fortgang des Satzes in Verbindung mit dem mutmaßlichen Titel der Sektion und mit den Gegenständen der vorangehenden Gedichte Aufschluss darüber, welches Wort durch die einleitende Verneinung negiert wird: In den Epigrammen 3–9 ist jeweils die Beschreibung eines Steins erkennbar, in 4, 6, 7, 8 und 9 zudem die Einfassung des Steins in ein Schmuckstück. In diesem Kontext kann Austins Konjektur, die generische Bezeichnung λίθοϲ, die sich auch in 4.5, 6.1, 7.3, 8.3, 13.1, 14.6, 15.2 und 17.2 findet, als sicher gelten. Poseidipp verwendet λίθοϲ zwar in den meisten der genannten Stellen als Maskulinum, aber auch ein weiteres Mal (13.1) als Femininum. Die verbleibende Lücke füllt Austin sinnvoll durch die Ergänzung der einfachen Negation οὐ̣ zur emphatischen Form οὐ̣[χὶ, die der Verneinung Nachdruck verleiht. — ϲτίλβουϲ’: Den Glanz der Steine heben die Lithika topisch und mit immer neuem Vokabular hervor (vgl. 3.1 f., 4.3, 6.3, 7.5 f., 8.5 f., möglicherweise auch 13.1 f.); das Verb ϲτίλβειν, ‚glänzen‘, findet nur an der vorliegenden Stelle Verwendung. — ἄγ̣α̣ν ἄργυρον: In dem Text, den die ed. pr. liest („der stark oder sehr silbrig glänzt“), fungiert ἄργυρον als accusativus respectus, wie er im Anschluss an ϲτίλβειν einige Male bezeugt ist (vgl. ed. pr.). Gegen diesen Text spricht jedoch, dass das zweite α von ἄγαν entgegen der üblichen Form des Wortes kurz gemessen wird. Die Stellen, die die ed. pr. zur Verteidigung des kurzen α anführt, sind ausschließlich späte (AP 5.215.6 [Agath., 6. Jh. n. Chr.], 10.51.4 [Palladas, 4. Jh. n. Chr.], Eustath. [12. Jh. n. Chr.] ad. Od. 2.49). Mit Verweis auf die schwache Lesbarkeit des angeblichen γ liest Lloyd-Jones (2001, 6) daher mit Recht ϲτίλβουϲα π̣α̣νάργυρον (‚ganz silbern‘), für das sich drei frühe Stellen anführen lassen, die das Wort sogar an der gleichen Versposition wie hier bezeugen (Hom. Od. 9.203; 24.275; Antimachos

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Lithika 11

fr. 19.10 Matthews). In jedem Fall wird der Glanz des hier betrachteten Objekts durch den des Silbers charakterisiert, eines Edelmetalls, das in den Lithika sonst keine Rolle spielt, während ein anderes, das Gold, auffallend oft genannt wird (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22). V. 2 Πε̣ρ̣ϲικὸν: Für einen persischen Kontext innerhalb der Lithika vgl. auch 4.5, 5.2, 8.3, 9.1, 13.3. Über die Herkunft von Perlmutt informieren indirekt die antiken Quellen zu den Fundorten und Handelswegen der in den Perlmutt bildenden Muscheln wachsenden Perlen (vgl. μαργαρῖτιϲ). Offenbar übernahmen die Perser die Perle von den Indern (Ath. 3.93b; Amm. 23.6.84). Zu den Griechen kam sie erst durch Alexander den Großen (Nearchos bei Arr. Ind. 38.3). Die am höchsten geschätzten Perlen wurden nach Plinius im Persischen Golf gefunden (nat. 9.106). Insbesondere die dort gelegene Insel Stoidis galt als einer der Hauptfundorte (Plin. nat. 6.110; 9.106; vgl. Peripl. M. Rubr. 35 und Theophr. lap. 36; Hünemörder, DNP s.v. Perle, 593. — ἐ̣ν̣δέδεται: Mehrere Gedichte der ersten Hälfte der Lithika erwähnen in variierender Terminologie die Einfassung des jeweiligen Steins in ein Schmuckstück (vgl. 4.5, 6.3 f. u. 7.4). Die Epigramme 4, 6, 7 und 8 deuten die Art des Schmucks durch die Nennung des Körperteils an, für das es bestimmt ist. Hier ist im erhaltenen Text lediglich die Einfassung erwähnt. V. 3 μαργαρῖτιϲ: Die Bezeichnung erzeugt insofern eine gewisse Spannung, als sie an anderen Stellen entweder in Verbindung mit λίθοϲ belegt ist oder den generischen Begriff impliziert. μαργαρῖτιϲ (λίθοϲ) meint eigentlich die ‚Perle‘, die in perlbildenden Muscheln heranwächst und in der Antike vielfältige Verwendung fand (Hünemörder, DNP s.v. Perle). Poseidipp verwendet μαργαρῖτιϲ hier dagegen offenbar in Ermangelung eines eigenständigen Terminus für ‚Perlmutt‘, die innerste, aus der gleichen Substanz wie die Perlen bestehenden Schalenschicht von schalenbildenden Mollusken, um metonymisch das Material der Schale zu bezeichnen. Über die Verwendung von Perlmutt(er) in der Antike ist wenig bekannt (Hünemörder, DNP s.v. Perlmutter). — ἐν γλύμματι: Die erhaltene Buchstabenfolge εγγλυμματι könnte theoretisch auch als Dativ von ἔγγλυμμα erklärt werden, das jedoch nur an zwei Stellen im Plural, einmal inschriftlich (IG IV 1485.91,96 [Epid.], ‚ornamental carvings‘, LSJ) und einmal sehr spät (Them. or. 4.62b, 4. Jh. n. Chr., ‚intaglio‘, LSJ) belegt ist. γλύμμα ist das weitaus geläufigere Wort, das auch in den Lithika mindestens ein weiteres Mal erscheint (12.6), wenn nicht sogar ein zweites Mal in 11: γλαφυρὸν γλύ[μμα (11.6) scheint parallel zu γλύμματι κοίλωι gebildet. Zur Assimilation von Nasalen am Wortende vgl. ed. pr. 20. In jedem Fall zeigt die Wurzel des Wortes an, dass hier eine gravierte Muschelschale beschrieben wird, ein Kunstobjekt, das uns aus der Antike nicht erhalten ist (Kosmetatou 2003, 42). — κοίλωι: Die Junktur γλύμμα κοῖλον ist nur ein weiteres Mal, jedoch nicht im Kontext des Steinschneidens belegt (Eusth. Comm. in Il. ad 24.269 [IV, 904.1 Van der Valk]). Es ist unwahrscheinlich, dass κοῖλοϲ (‚hohl‘, ‚konkav‘, ‚gewölbt‘) die Vertiefungen des Schnitts selbst bezeichnet: Zum einen ist das Adjektiv in keinem der Epigramme 1–15 im technischen Sinne für Intaglios gebraucht, zum anderen kann es wohl kaum die tiefe Einprägung der Gravur in einer dünnen Muschelschale betonen. Sinnvoller bezieht man das Adjektiv auf die konkave, aus Perlmutt bestehende Innenseite der Schale, in die das Bild geschnitten worden ist. Der Schnitt, der sich der Form seiner materiellen Grundlage anpasst, ist damit ‚konkav‘ bzw. ‚gewölbt‘ (LSJ A.III.1: „concave“ bzw. A.III.2: „bending“).

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V. 4 [….λ]ίθω̣ι μορφὰϲ Ἀγλ̣α̣[ΐηϲ ….]αϲ: Der erhaltene Akkusativ μορφὰϲ bezeichnet ‚Formen‘, die die Muschelschale „im gewölbten Schnitt hat“ (V. 3). Austin hat für das Versende ἰκέλ]αϲ vorgeschlagen. Diese allgemein akzeptierte Ergänzung verlangt nach einem Objekt, dem die Formen „ähnlich“ sind (Austin 2001a) und das offenbar in dem am Versanfang erhaltenen λ]ίθωι̣ steckt. Da V. 1 bereits die beschriebene Muschelschale mit dem erwarteten Gegenstand λίθοϲ kontrastiert, ist es unwahrscheinlich, dass ein zweites Mal in diesem Epigramm eine Form der generischen Bezeichnung λίθοϲ erscheint. Für Austins Vorschlag χρυϲολ]ίθω̣ι (‚Goldstein‘, 2001a) spricht, dass auch das folgende Epigramm, das ebenfalls eine Muschelschale beschreibt, mit dem Smaragd einen speziellen Stein – möglicherweise als Vergleichsobjekt – nennt. Bei dem χρυϲόλιθοϲ handelt es sich um den glasig-goldfarbenen Edelstein Topas (vgl. Blümner 1884, 247 f.). Denkbar ist, dass das Tertium von μορφάϲ und χρυϲόλιθοϲ durch den respektiven Dativ ἀγλα[ΐηι oder Akkusativ ἀγλα[ΐην explizit ausgedrückt wird („im Glanz dem Goldstein ähnliche Formen“, Angiò 2013b, 367). In dieser Deutung dürfte μορφάϲ die einzelnen Formen der Gravur bezeichnen. Raffinierter erscheint aber die Lösung, die einen ungewöhnlichen Gebrauch des Plurals annimmt und μορφὰϲ als „Gestalt“ der Aglaia interpretiert (Austin 2001a, 120). Die jüngste der drei Chariten passt als Gravurmotiv gut zu den anderen mythischen Darstellungen auf Steinen in den Lithika. „Dem ‚Goldstein‘ ähnlich“ könnte „die Gestalt der Aglaia“ durch den Glanz sein, nach dem die Göttin benannt ist (für den Topos des Glanzes in den Lithika vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22). V. 5 [……]π{α} ὄγκοϲ: ὄγκοϲ (‚Masse‘, ‚Dicke‘, ‚Schwere eines Körpers‘, ‚Körper‘) wird von allen Kommentatoren analog zu 8.7, wo es den Stein selbst meint, auf die Muschelschale bezogen. Allerdings beschreibt 8 in der Tat einen verhältnismäßig großen Stein, während man sich eine Muschelschale schwerlich als „massig“ vorstellen kann. — ὑπεκτ[: Austins Vorschlag ὑπεκτ[έταται (‚breitet sich aus‘, von dem bislang nicht belegten ὑπεκτείνεϲθαι [ in der Bedeutung von ἐκτείνεϲθαι]) ist allgemein akzeptiert worden. Zusammen mit εἰϲ ὦ]π’ könnte es ‚breitet sich für den (An)blick aus‘, ‚bietet sich dem (An)blick dar‘ heißen. Möglich wäre auch die Form ὑπεκτίθεται (‚bringt [sich] in Sicherheit‘, ‚zieht um‘; vgl. ed. pr.); einen Vorschlag, wie diese Form sich mit den erhaltenen Resten sinnvoll verbinden ließe, gibt es aber bisher nicht. — ]α̣ κηροῦ: Da bereits 9 von einem Siegelring spricht und Intaglios generell als Siegel fungieren können, liegt es nahe, dass das Ende dieses Epigramms mit der Erwähnung des ‚Wachses‘ den konkreten Vorgang des Siegeldrucks thematisiert (vgl. ed. pr.). Da aber von dem letzten Distichon so gut wie nichts erhalten ist, bleibt offen, welche Rolle das Wachs in diesem Gedicht spielt. Austins Konjektur δι]ά, die dem Wachs eine instrumentale Bedeutung zuweist, ist allgemein akzeptiert. Austin verbindet es mit seinem Ergänzungsvorschlag für V. 5 („the mass [now] spreads [out to view by means] of the wax“); es ist aber wohl eher mit dem am Anfang von V. 6 zu ergänzenden Partizip zu verbinden (s. V. 6). V. 6 [….]ε̣ιϲ: Die nach einer Lücke erhaltenen Buchstaben lassen sich in dreierlei Hinsicht deuten (vgl. ed. pr.): Erstens als Präposition εἰϲ; diese Auffassung vertritt Austin, der am Anfang des Verses αὐγὴν (‚Glanz‘) konjiziert. Seine Erklärung, die Masse der Muschelschale bewahre den „Glanz in dem ausgehöhlten Schnitt“, ist u. a. deshalb problematisch, weil die Verbindung φυλάϲϲεϲθαί τι εἴϲ τι in der Bedeutung ‚etw. in etw. bewahren‘ nicht belegt ist (statt εἰϲ würde man ἐν erwarten; vgl. LSJ C.I.2). Alternativ ließen sich die drei Buchstaben als Endung eines auf ὄγκοϲ bezogenen Partizips deuten, z. B. [λειανθ]ε̣ὶϲ (Ferrari 2005, 187 f.) oder [πρηϋνθ]εὶϲ

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(Angiò 2013b, 367–368), jeweils in der Bedeutung ,geglättet/poliertʻ. Diese Ergänzungen ergeben im Zusammenhang des Verses guten Sinn: Die Masse (d. h. die Muschelschale) ist „durch das Wachs, das den ausgehöhlten Schnitt schützt, geglättet.“ Auch diese Konjektur löst jedoch nicht die Probleme, die V. 5 aufwirft, nämlich wie „sich die Masse ausbreitet“ – s. o. – (ὄγκοϲ ὑπεκτ[έταται). Die ed. pr. hält als dritte Möglichkeit für denkbar, dass es sich bei ε̣ιϲ um die Endung eines von φυ]λαϲϲομένου regierten Substantivs handelt. Unklar ist jedoch bei dieser Variante, für die noch kein Vorschlag gemacht worden ist, wovon der zweite Akkusativ γλάφυρον γλύ[μμα abhängen könnte. — γλαφυρὸν γλύ[μμα: Die Junktur scheint analog zu γλύμματι κοίλωι (V. 3) gebildet (s. dort); vgl. das folgende Epigramm 12, das γλύμμα ebenfalls im 6. Vers an gleicher Versposition hat. — φυ]λαϲϲομένου̣: Austins Konjektur wird allgemein akzeptiert. Der einzige Alternativvorschlag μα]λαϲϲομένου̣ (De Stefani 2003, 63 f.) passt in der Grundbedeutung ‚weich gemacht‘ eigentlich gut zu κηροῦ; in dem Sinn, den De Stefani für das Verb in Verbindung mit ε̣ἰϲ γλαφυρὸν γλύ[μμα annimmt („durch das in die innere Höhlung modellierte Wachs“), ist es jedoch nicht bezeugt. Rekonstruktionsvorschlag οὐ[χὶ λίθο]ϲ ϲτίλβουϲ’ ἄγαν ἄργυρον, ἀλλὰ θαλάϲϲηϲ Περϲικὸν αἰγιαλῶν ὄϲτρακον ἐνδέδεται, οὔνομα μαργαρῖτιϲ· ἔχει δ’ ἐν γλύμματι κοίλωι [χρυϲολ]ίθωι μορφὰϲ Ἀγλα[ΐηϲ ἰκέλ]αϲ. -vv εἰϲ ὦ]π’ ὄγκοϲ ὑπεκτ[έταται δι]ὰ κηροῦ [πρηϋνθ]εὶϲ γλαφυρὸν γλύ[μμα φυ]λαϲϲομένου. Nicht ein Stein, der ganz silbrig glänzt, sondern eine persische Schale vom Meeresstrand ist eingefasst worden. ihr Name ist Perlmutt; sie zeigt in der gewölbten Gravur die dem Goldstein ähnliche Gestalt der Aglaia. Der perlmutterne Körper bietet sich dem Blick dar, geglättet durch das Wachs, das die konkave Gravur schützend bewahrt. Das Epigramm betont gleich zu Beginn seine Sonderstellung, wenn es den Unterschied zu den anderen Gedichten ankündigt: Nicht ein Stein – wie es der mutmaßliche Sektionstitel λιθικά verspricht –, sondern eine Muschelschale wird hier betrachtet. Wie 8 und 15 beginnt dieses Epigramm mit der ‚Ablehnung‘ eines in den Lithika etablierten Motivs: hier steht nicht weniger als der essentielle Bestandteil der λιθικά – λίθοϲ – zur Debatte. Im gleichen Moment wird jedoch schon auf eine Eigenschaft der Muschelschale verwiesen, die sie mit den Steinen der anderen Gedichte verbindet: ihren intensiven Glanz. Der Glanz wird hier zwar als Eigenschaft des Steines beschrieben, der ja die Schale gerade nicht ist; indem die Verneinung aber nur auf den Stein bezogen ist, mit dem die Schale kontrastiert wird, bezieht sich die Beschreibung ἀπὸ κοινοῦ auch und vor allem auf die Schale, um die es hier tatsächlich geht. Der ‚Glanz‘ ist aber nicht der einzige Topos der vorangehenden Steingedichte, der in diesem Epigramm aufgenommen wird: Daneben werden auch die politisch-geographische Herkunft (Persien) und die physisch-geographische (Meeresstrand), die Einfassung (d. h. in ein Schmuckstück), die technische Bezeichnung (μαργαρῖτιϲ) und die Gravur der Muschelschale genannt. Den wertvollen Steinen der vorangehenden Gedichte wird am Anfang die scheinbar weniger wertvolle ‚Muschelschale‘ gegenübergestellt. Deren Bezeichnung als μαργαρῖτιϲ verweist aber auf die

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im Griechischen ebenfalls so benannte und bereits in der Antike für sehr wertvoll gehaltene Perle (vgl. z. B. Theophrast, lap. 36), der Plinius den ersten Rang unter allen Kostbarkeiten des Meeres zuweist (nat. 9.106). Androsthenes berichtet, dass Perlen in Asien sehr teuer waren und in Persien für ihr Gewicht in Gold verkauft wurden (ap. Ath. 3.93b). Bei Medern, Persern und allen Asiaten wurde die Perle für noch wertvoller als Gold gehalten (Chares von Mytilene ap. Ath. 3.93b = fr. 12 Müller), und den Indern soll sie sogar dreimal so viel wert wie Gold gewesen sein (Arr. Ind. 8.13; Ath. 3.93b; vgl. Hünemörder, DNP s.v. Perle) Wenn die Ergänzung Ἀγλ̣α̣[ΐηϲ korrekt ist, wurde in die Innenseite der Muschelschale eine Figur eingraviert, die mit dem Material des Untergrunds in ihrem Glanz (‚Aglaia‘) übereinstimmt (für eine Verbindung von Material und Motiv vgl. 2 u. 14; Rampichini u. a. 2008, 100). 12 Das sehr schlecht erhaltene Epigramm thematisiert offenbar wie 11 eine Muschelschale. II

23 […. θα]λάϲϲιόϲ ἐϲτι καὶ ὀϲ̣[τρ….ἀ]λ̣λ’ ὑπὸ τέχνηϲ 1 24 [……]αιϲ ϲφιγχθεὶϲ κριν[…….λι]θοϲ 2 25 [.…….].δ̣ε̣π̣.[.].φ̣[.].λ̣[……].ε̣ ϲμα̣ρ̣άγδου̣ 3 26 [……]α̣τα κολλήϲαϲ εἰϲ̣[…….]. κύτουϲ̣ 4 27 [……]νη ἐν χρυϲέηι κατ̣[……]ϲ̣εν ὄφρα φοροίη 5 28 [……]ϲ λιτὴν γλύμμα .[…. βλέ]π̣εται. 6

23 [οὐχὶ θα]λάϲϲιόϲ ed. pr.; def. Luppe 2002c : [ἔϲτι θα]λάϲϲιόϲ Austin 2001a, ed. min. : [ναίχι θα]λάϲϲιόϲ Angiò 2001c, Di Benedetto 2003a : [ἦ ῥα θα]λάϲϲιόϲ Tammaro 2002 : [γέννα θα]λάϲϲιόϲ De Stefani 2002 : [κλών τε θα]λάϲϲιόϲ vel [δρῦϲ τε θα]λάϲϲιόϲ De Stefani 2003 : [εἴ γε θα]λάϲϲιόϲ Lascoux ap. De Stefani 2003  ὄϲ̣[τρακον, ἀ]λ̣λ’ Austin 2001a 24 [χρυϲίτ]αιϲ Austin 2001a, ed. min. : [ἀμφιδέ]αιϲ Luppe 2002c, De Stefani 2002  κρίν[εται ἡμίλι]θοϲ ed. pr., min. : κρίν[ετ’ ἴϲωϲ ὁ λί]θοϲ Luppe 2002c : κρίν[εται οἷα λί]θοϲ De Stefani 2002 25 μα̣ρ̣άγδου̣ BastianiniCasanova 2002  γλύπτηϲ τό]ν̣δ’ ἐ̣π̣ε̣[κοίληνεν κοπεῖ ἠδ]ὲ̣ ? {ϲ}μα̣ρ̣άγδου e.g. Luppe 2002c 26 [φλέγμ]α̣τα ed. pr. (def. Luppe 2002c) : [φράγμ]α̣τα Austin 2001a : [κλείϲμ]α̣τα (claustra) Austin 2002a : [γράμμ]α̣τα Ferrari 2005  εἰϲ̣[οράαϲθ]ε̣ Austin 2001a : εἰϲ̣ [καμάρωμ]α̣ Luppe 2002c : εἰϲ̣ [ϲτερέωμ]α̣ De Stefani 2003 : εἰϲ̣ [δύο χεῖλ]ε̣ Ferrari 2005 27 ϲφενδό]νη‹ι› Austin 2001a, ed. min.  κατ̣[ενήρμο]ϲ̣εν Austin 2001a, ed. min. 28 ὕλην ἧι] ’ϲ̣ Austin 2001a : χώραν ἐ]ϲ Luppe 2002c : ζώνην δ’ ἐ]ϲ Ferrari per litt.  ν̣[έον ed. pr., min. : κ̣[αθὼϲ Luppe 2002c  βλέ]π̣εται ed. pr., min. (def. Luppe 2002c) : τρέ]π̣εται Ferrari per litt.

[…] aus dem Meer ist er und […] aber von der Kunst […] eingefasst […] […] eines Smaragdes […] zusammenfügend in […] der Wölbung […] in goldener […] damit er/sie trage […] klein wird ein Schnitt […] erblickt. V. 1 […. θα]λάϲϲιόϲ ἐϲτι καὶ ὀϲ[̣ τρ: Aufgrund des Anfangs von 11, der ebenfalls eine Muschelschale und deren Herkunft aus dem Meer nennt, erscheinen die Ergänzungen θα]λάϲϲιοϲ (‚aus dem

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Meer‘) und ὄϲ]τρακον (‚Schale‘) evident. Die Inkongruenz der beiden Wörter erklärt sich wohl daraus, dass λίθοϲ – das Objekt, dessen Beschreibung man erwartet – das gedankliche Bezugswort von θα]λάϲϲιοϲ ist (ed. pr.). Die Lücke zu Beginn des Verses kann nicht in Analogie zum Anfang von 11 mit einer Negation ergänzt werden, auch wenn das folgende, in gleicher Versposition wie in 11 erscheinende ἀλλ’ dies zunächst nahelegt. Denn das dort angewandte Motiv der Ablehnung von etwas Naheliegendem zugunsten von Unerwartetem ergibt hier keinen Sinn, da die zu Beginn genannte Muschelschale aus dem Meer selbst das ungewöhnliche und überraschende Objekt ist. Wie 11 beginnt offenbar auch dieses Gedicht mit einer Antithese; diese wird aber im vorliegenden Epigramm nicht durch οὐ – ἀλλά ausgedrückt, sondern, wenn die Ergänzung der Erstherausgeber in V. 2 korrekt ist, durch ἐϲτι – κρίν[εται („ist – wird angesehen als“). Daher scheint es sinnvoll, die Lücke am Anfang des Gedichts durch ein Wort zu füllen, das die Festellung θα]λάϲϲιόϲ ἐϲτι καὶ ὄϲ]τρακον gegenüber dem Folgenden emphatisch betont; denkbar wären: Austins ἔϲτι ([ἔϲτι θα]λάϲϲιοϲ, ἔϲτι, ‚sie kommt aus dem Meer, in der Tat‘) oder – in ähnlichem Sinn – Tammaros ἦ ῥα (‚gewiss‘) oder Di Benedettos und Angiòs ναίχι (‚ja, in der Tat‘). V. 2 [……]αιϲ ϲφιγχθεὶϲ: Das Partizip (‚eingefasst‘) greift offenkundig den Topos der ‚Einfassung‘ des beschriebenen Steins (bzw. steinähnlichen Objekts) in ein Schmuckstück auf, der sich auch in 4, 6, 7, 8 und 11 findet. Daher ist Austins Vorschlag χρυϲίτ]αιϲ (‚mit goldenen Steinen‘, 2001a, 121) für die Lücke am Anfang des Verses plausibler als das unspezifische [ἀμφιδέ]αιϲ (LSJ: „anything that binds or is bound around, bracelet or anklet“; De Stefani 2002, Luppe 2002c). χρυϲίτηϲ würde hier im Gegensatz zu 5.2, wo es einen ϲάπειροϲ als „goldhaltig“ charakterisiert, substantivisch von goldenen Steinen gebraucht (vgl. den Verweis der ed. pr. auf die Anmerkung der Suda χ 571 [Adler]: χρυϲίτηϲ· εἶδοϲ λίθου). — κριν[…….λι]θοϲ: Das von Austin ergänzte κρίν[εται (‚wird angesehen/beurteilt‘) ist im Hinblick auf ἐϲτι (V. 1), zu dem es im Gegensatz zu stehen scheint, überzeugend. Offenbar werden im ersten Distichon Sein und Scheinen des beschriebenen Objektes kontrastiert. Vor dem Hintergrund des vorangehenden Epigramms, das an seinem Anfang die Objekte ὄϲτρακον und λίθοϲ antithetisch positioniert, dürften die erhaltenen Buchstaben am Ende von 12.2 recht sicher zu λί]θοϲ (im Gegensatz zu ὄϲ]τρακον in V. 1) ergänzt werden: Es handelt sich in Wirklichkeit um eine Muschelschale aus dem Meer, aber zu Schmuck verarbeitet erscheint diese als Stein, lautet wohl der Duktus des Distichons. Unklar ist, was die verbliebene Lücke von einer langen und einer kurzen Silbe ausfüllte; keine der vorgeschlagenen Lösungen vermag zu befriedigen. V. 3 ϲμα̣ρ̣άγδου̣: Da der gesamte Vers bis auf den Genitiv am Ende irreparabel zerstört ist, ist unklar, in welcher Funktion der Smaragd hier genannt wird. Möglicherweise dient er als Vergleichsobjekt für die Muschelschale. Das initiale ϲ könnte auch zum vorangehenden Wort gehören (vgl. ed. pr. u. Austin 2002a, 161). Zum Smaragd vgl. Blümner 1884, 239–243; Devoto-Molayem 1990, 101–104. Theophrast hebt seine Seltenheit und sein Glänzen nach einer bestimmten Art der Bearbeitung hervor (lap. 27). V. 4 [……]α̣τα κολλήϲαϲ εἰϲ̣[…….].κύτουϲ̣: Das aktive Partizip könnte sich auf den Künstler beziehen, der etwas an die Perlmuttschale ‚anfügt‘. Der Genitiv von κύτοϲ bezieht sich am ehesten auf die Wölbung der Schale (vgl. 11.3 ἐν γλύμματι κοίλωι). Hinweise auf einen symposialen Kontext wie in 4 –7, in dem das Wort ein ‚Gefäß‘ bezeichnen könnte, gibt es

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in den erhaltenen Resten dieses Epigramms nicht. Für die zwei größeren Lücken am Anfang und in der Mitte wurden jeweils verschiedene Lösungen konjiziert; es findet sich aber nur ein Vorschlag zur Vervollständigung, der eine kohärente Deutung des ganzen Verses versucht (Ferrari 2005, 188): [γράμμ]α̣τα κολλήϲαϲ εἰϲ̣ [δύο χεῖλ]ε̣ κύτουϲ̣, „Buchstaben an die zwei Ränder der Höhlung anfügend“, d. h. der Künstler brächte den Namen der Empfängerin des Schmuckstücks an den Rändern der zwei Schalen einer Muschel an. Ferrari führt zwar Belege an, die seine Deutung von κολλάω und χεῖλοϲ unterstützen. Sein Vorschlag vermag aber nicht zu überzeugen. Wenn das Gedicht eine einzelne Muschelschale beschreibt (s. Komm. zu V. 1), kann sich κύτουϲ̣ nicht – wie in Ferraris Deutung – auf den Hohlraum beziehen, den zwei leere Muschelschalen bilden. V. 5 [……]νη ἐν χρυϲέηι κατ̣[……]ϲ̣εν: Das erhaltene Adjektiv (‚golden‘) könnte im Kontext der vorangehenden Epigramme darauf hindeuten, dass hier die Einfassung der Muschelschale in ein goldenes Schmuckstück beschrieben wird. Akzeptiert man Austins [χρυϲίτ]αιϲ in V. 2 (s. dort), wird das Motiv hier zum zweiten Mal erwähnt. Im vorliegenden Vers konjiziert Austin: ϲφενδό]νηι ἐν χρυϲέηι κατ̣[ενήρμο]ϲ̣εν, „er fügte ein in eine goldene Fassung“. Gegen diese schlüssige Ergänzung spricht lediglich, dass ein Verb κατεναρμόζω (Austin: „collocare“) bislang nicht bezeugt ist. — ὄφρα φοροίη: Da der vorangehende Text des Verses nur lückenhaft erhalten und der Anfang des folgenden Verses verloren ist, ist nicht klar, was man als Subjekt und Objekt von φοροίη annehmen muss. Als Subjekt kommen die Muschelschale in Frage, die die im letzten Vers erwähnte Gravur (γλύμμα) trägt, oder eine Person, die die in Gold eingefasste Muschelschale trägt, oder eine goldene Fassung, die die Muschelschale trägt. Die beiden letzteren Deutungen stützen sich auf Austins Rekonstruktion des ersten Teils des Verses, ϲφενδό]νη‹ι› ἐν χρυϲέηι κατ̣[ενήρμο]ϲ̣εν, „er fügte (sc. die Muschelschale) in eine goldene Fassung ein“ (s. o.). V. 6 λιτὴν: Möglicherweise bezieht sich das Adjektiv, das ‚einfach‘, ‚schlicht‘, aber auch ‚klein‘ bedeuten kann (ed. pr.), in letzterer Bedeutung auf die kleine Fläche der Muschelschale, in die die Gravur geschnitten worden ist. Da aber das Bezugswort des Adjektivs nicht erhalten ist, muss offenbleiben, in welcher Bedeutung λιτήν hier gebraucht ist. — γλύμμα: Der letzte Vers erwähnt eine Gravur, jedoch kein Motiv. Das im Anschluss lesbare ν̣ (ed. pr.) ließe sich zu ν̣[έον ergänzen (ed. pr. 122), das die Gravur als ‚unerwartet‘ bzw. ‚außergewöhnlich‘ charakterisieren würde. — βλέ]π̣εται Aus dem Erhaltenen lässt sich allenfalls schließen, dass es die in der Versmitte genannte Gravur ist, die ‚man erblickt‘ (ed. pr. 122). Rekonstruktionsvorschlag [ἔϲτι θα]λάϲϲιοϲ, ἔϲτι καὶ ὄϲ[τρακον ἀ]λλ’ ὑπὸ τέχνηϲ [χρυϲίτ]αιϲ ϲφιγχθεὶϲ κρίν[εται … λί]θοϲ […….].δεπ.[.].φ[.].λ[……].ε ϲμαράγδου [……]ατα κολλήϲαϲ εἰϲ[…….]. κύτουϲ ϲφενδό]νη‹ι› ἐν χρυϲέηι κατ[ενήρμο]ϲεν ὄφρα φοροίη [……]ϲ λιτὴν γλύμμα ν[έον βλέ]πεται.

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Er kommt aus dem Meer, in der Tat, und ist eine Schale, aber von der Kunst/kunstvoll mit goldenen Steinen eingefasst wird er beurteilt […] als Stein. […] Smaragdes […] zusammenfügend […] der Wölbung in eine goldene Fassung fügte er ein, damit er/sie trage […] klein […] sieht man eine außergewöhnliche Gravur. Mit einiger Sicherheit geht es in diesem sehr schlecht erhaltenen Epigramm ebenso wie in dem unmittelbar vorangehenden um eine Muschelschale, wie es θα]λάϲϲιοϲ als Hinweis auf einen marinen Kontext nahelegt. Zwischen den beiden Epigrammen besteht ein ähnliches Verhältnis wie zwischen 6 und 7; sie behandeln ein ähnliches, aber nicht notwendig dasselbe Objekt und greifen auf die gleichen Motive zurück, die sie offenbar durch unterschiedliche Akzentsetzung variieren. Wie 11.1 f. scheint auch das erste Distichon des vorliegenden Epigramms emphatisch darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem beschriebenen Objekt um eine Muschelschale und nicht um einen Stein handelt. Während der Anfang von 11 die durch den Kontext der Lithika und den common sense erzeugte Erwartung zurückweist, ein Stein sei eingefasst worden, korrigiert der Beginn von 12 offenbar den durch die Kunst hergestellten Schein: Es handelt sich in Wirklichkeit um eine Muschelschale. Das erste Distichon des vorliegenden Epigramms betont nicht nur den Gegensatz von Muschelschale und Stein, sondern auch den von natürlicher Herkunft (θα]λάϲϲιοϲ) und künstlerischer Bearbeitung (ὑπὸ τέχνηϲ / […] ϲφιγχθεὶϲ). Die wenigen vollständig erhaltenen Wörter des Epigramms deuten auf Motive, die im ersten Teil der Lithika topisch sind, wie die Einfassung des Objekts in Gold (V. 1 f.: ὑπὸ τέχνηϲ / [……]αιϲ ϲφιγχθεὶϲ, V. 5: ἐν χρυϲέηι) und seine Gravur (V. 6: γλύμμα). Der erwähnte Edelstein (ϲμα̣ρ̣άγδου̣) dürfte als Vergleichsobjekt der primär betrachteten Muschelschale fungieren. Über den spezifischen Umgang des Epigramms mit den Topoi erlauben die erhaltenen Reste jedoch keine sicheren Schlüsse. 13 Das lückenhaft erhaltene, aber recht gut rekonstruierbare Epigramm beschreibt im ionischen Dialekt einen nicht näher benannten Stein und dessen Wandlungsvermögen unter bestimmten Umständen. Ein Sprecher tritt nicht in Erscheinung. II 29 κ̣[ερδα]λ̣έη λίθοϲ ἥδε· λιπα[ινομένη]ϲ̣ γε μὲν α̣ὐ̣τῆϲ, 1 30 [φέγγο]ϲ̣ ὅλουϲ ὄγκουϲ θαυ[μ….]ϲ̣ περιθεῖ· 2 31 ọ[….] δ̣’ ἀ̣ϲ̣κ̣ελέων ὠκὺ γ̣[…….]ι̣ϲ ὁ Πέρϲηϲ 3 32 [..]ι̣ν̣ων ἀϲτράπτει πρὸϲ καλὸν ἠέλιον. 4 29 θ̣[αμβα]λ̣έη De Stefani 2003 : π̣[αρδα]λ̣έη Lascoux ap. De Stefani 2003 30 θαῦ[μ’ ἀπάτη]ϲ̣ Austin 2001a, ed. pr., min. : θαῦ[μα κόρηι]ϲ̣ vel κόραι]ϲ̣ (i. e. ὄμμαϲιν) De Stefani 2003 : θαῦ[μα βροτοῖ]ϲ̣ Ferrari 2005 : θαῦ[μ’ ἂν ἴδοι]ϲ ̣Gärtner 2006 : θαῦ[μα τέχνη]ϲ̣ (sic) Lapini 2007 31 ὄ̣[γκων] ed. pr., min. : ὄ̣[ντων] Gronewald 2001 (def. De Stefani 2003, Ferrari 2005)  γ[̣ λυπτὸϲ λ]ὶ̣ϲ ed. pr., min. : γ̣[ρὺψ ὄρν]ι̣ϲ De Stefani 2003  ὠκύπ̣[τεροϲ Lapini 2007 : ὠκὺ̣ν [πόδα, ἤν, λ]ὶ̣ϲ Russo 2009 32 [τε]ί̣ν̣ων ed. pr., min. : [φα]ί̣ν̣ων Gronewald 2001 : [ϲα]ί̣ν̣ων De Stefani 2003 : [λά]μ̣π̣ων Ferrari 2005 : [χα]ί̣ν̣ων

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Ein (listiger) Stein ist dies: (wenn) er (eingeölt wird), läuft (ein Glanz) um die ganze Masse (, ein Wunder) […] herum; […] aber ausgetrocknet schnell […] der Perser/der persische […] blitzt zur schönen Sonne. V. 1 κ̣[ερδα]λ̣έη: Das erste Wort des Epigramms ist vermutlich ein Adjektiv, das den anschließend genannten Stein charakterisiert. Der beste Ergänzungsvorschlag ist κερδαλέη (ed. pr.). Das im fünften Jahrhundert in der Bedeutung ‚profitabel‘ gebrauchte Wort (z. B. Pind. Pyth. 2.78; Xen. mem. 3.4.11; Hdt. 9.7) wird hier in dem Sinne verwendet, den es bei Homer (Il. 10.44; Od. 6.148; 8.548; 13.291) hat: Der Stein wird anthropomorphisierend als ‚listig‘ bezeichnet; ihm wird die „Fähigkeit zu täuschen“ zugeschrieben (ed. pr. 122). λίθοϲ ist in den Lithika meist maskulin (4.5, 6.1, 7.3, 8.3, 15.2, 16.4, 17.2 sowie 12.2, wenn es dort richtig ergänzt wurde), erscheint aber außer an dieser Stelle wahrscheinlich auch in 11.1 im Femininum. In der griechischen Literatur generell ist die feminine Form seltener als die maskuline, kommt jedoch von Homer an vor. Ein konsequenter semantischer Unterschied ist nicht festzustellen. — λιπα[ινομένη]ϲ̣: Zu ergänzen ist wahrscheinlich der Genitiv des Partizips Passiv von λιπαίνω, das in Verbindung mit α̣ὐ̣τῆϲ am Ende des Verses einen genitivus absolutus bildet, dessen logisches Subjekt der zuvor genannte Stein (λίθοϲ) ist. Die Korrespondenz dieser Konstruktion mit einem zweiten genitivus absolutus in V. 3 wird durch μὲν … δ’ angezeigt. Die beiden absoluten Genitive geben zwei – offenbar konträre – Bedingungen an, unter denen sich das Aussehen des Steins verändert. λιπαίνειν ist hier offenbar in seinem wörtlichen Sinne ‚(ein) ölen‘ gebraucht (vgl. ed. pr.). Die Wirkung des Einreibens mit Öl beschreibt V. 2. V. 2 [φέγγο]ϲ̣: Am Versanfang ist wohl das Subjekt von περιθεῖ am Ende des Verses verloren gegangen. Die Ergänzung der Erstherausgeber ist allgemein akzeptiert worden: φέγγοϲ (‚Licht‘, ‚Glanz‘), das ein weiteres Mal in den Lithika vorkommt, greift den Topos des ‚Glanzes‘ auf (vgl. 3.1 f., 4.3 f., 5.1, 6.3, 6.6, 7.5 f., 8.6, 16.5 sowie die Einl. zur Sektion, S. 22). — ὄγκουϲ: Dies ist die dritte Stelle, an der das Wort in den Lithika vorkommt, wobei es nur hier im Plural erscheint. Während sein Bezug in 11.5 unsicher ist (vgl. den Komm.), bezeichnet ὄγκοϲ in 8.7 den Stein metonymisch als ‚Masse‘. Auch hier bezieht sich das Wort mit Sicherheit auf den Stein, der bereits im vorangehenden genitivus absolutus durch das singularische Personalpronomen αὐτῆϲ genannt ist. — θαυ[μ….]ϲ̣: Die erhaltenen Buchstaben legen nahe, dass hier auf den in den Lithika prominenten Topos des „Wunders“ oder „Staunens“ angespielt wird (vgl. auch 8.7, 15.7 u. 17.5 und die Einl. zur Sektion). Da θαυμαϲίωϲ zu kurz für die Lücke sein dürfte (vgl. ed. pr.), bezeichnet sehr wahrscheinlich θαῦμα als Apposition zu dem ganzen Satz den Effekt des Einölens als ‚Wunder‘. Von den diversen Vorschlägen zur Ergänzung der verbleibenden Lücke nach θαῦμα passt Ferraris θαῦμα βροτοῖϲ („ein Wunder für die Sterblichen“) sowohl von der Länge als auch vom Sinn her gut: Es nimmt die epische Wendung ironisch wieder auf (vgl. Ferrari 2005, 189). Am treffendsten erscheint aber Austins Vorschlag θαῦμ’ ἀπάτηϲ, der auf das ergänzte κερδαλέη in V. 1 rekurrieren und die List des Steins erläutern würde. Für den explikativen Genitiv nach θαῦμα beruft sich Austin auf Eur. Bakch. 693: θαῦμ’ ἰδεῖν εὐκοϲμίαϲ. V. 3 ọ[….] δ̣’ ἀ̣ϲ̣κ̣ελέων: Am Anfang von V. 3 stand wohl – parallel zu λιπα[ινομένη]ϲ̣ γε μὲν α̣ὐ̣τῆϲ (V. 1) – ein zweiter genitivus absolutus, der nur zur Hälfte erhalten ist. Im Hinblick auf den Kontrast zu dem relativ sicher konjizierten λιπα[ινομένη]ϲ̣ heißt ἀ̣ϲ̣κ̣ελέων hier ‚trocken‘,

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‚ausgetrocknet‘. Als Parallele führt die ed. pr. Hom. Od. 10.463 an, wo das Adjektiv allerdings metaphorisch gebraucht ist (ἀϲκελέεϲ καὶ ἄθυμοι, „erschöpft und mutlos“). ἀ̣ϲ̣κ̣ελέων steht im Plural, da offenbar die im vorangehenden Vers genannte „Masse“ (ὄγκουϲ) das gedankliche Subjekt des absoluten Genitivs ist; dass ὄγκων selbst am Anfang des Verses als Teil der Genitivkonstruktion zu ergänzen ist (ed. pr.), ist allerdings unwahrscheinlich, da das Substantiv im unmittelbar folgenden Vers wiederholt würde. Aus syntaktischen und stilistischen Gründen ist daher Gronewalds ὄντων vorzuziehen (vgl. 2001, 1): „wenn sie (d. h. die Masse) aber trocken ist“. — ὠκὺ: Diese Form des Adverbs statt ὠκέωϲ und ὦκα findet sich sonst nur Hom. Il. 14.418. — γ̣[……]ι̣ϲ ὁ Πέρϲηϲ: Als ‚persisch‘ wird hier offenbar der in den Stein gravierte Löwe (λ]ὶ̣ϲ) bezeichnet (zur kurzen Messung von λίϲ vgl. ed. pr.), ein Motiv, das in der persischen Steinschneidekunst gut bezeugt ist (vgl. ed. pr. 123 mit Verweis auf Zazoff 1983, 170 f. u. a.). Zu dieser Deutung passt, dass vor der verbleibenden Lücke ein schwach lesbares γ̣ erhalten ist, das sich sinnvoll zu γ[λυπτὸϲ ergänzen lässt: Es würde den „persischen Löwen“ explizit als Gravur markieren. V. 4 [.]ι̣ν̣ων ἀϲτράπτει πρὸϲ καλὸν ἠέλιον: Subjekt von ἀϲτράπτει dürfte das offenbar im vorangehenden Vers genannte Gravurmotiv, möglicherweise ein „persischer Löwe“ (λ]ι̣ϲ ὁ Πέρϲηϲ), sein. Die Junktur ἀϲτράπτει πρὸϲ ἠέλιον (‚er blitzt zur Sonne‘) bezieht sich vielleicht auf die Reflexion der auf die Gravur scheinenden Sonne und könnte durch ein auf das Subjekt bezogenes Partizip am Versanfang ergänzt werden: „leuchtend“ ([λά]μπ ̣ ω ̣ ν, Ferrari 2005; [φα]ίν̣ ω ̣ ν, Gronewald 2001) oder „wedelnd“ ([ϲα]ί̣ν̣ων, De Stefani 2003). Da aber die Konstruktion ἀϲτράπτειν πρόϲ τι nicht belegt ist, bezieht man πρὸϲ καλὸν ἠέλιον treffender nicht auf das Prädikat, sondern auf das von Austin konjizierte τε]ί̣ν̣ων (2001a, 123): Da τείνειν πρόϲ τι ausgehend von der Grundbedeutung ‚sich erstrecken zu‘, ‚an etw. herankommen‘ auch ‚einer Sache nahekommen‘, ‚wie etw. sein‘ heißen kann (LSJ B.III.3; vgl. ed. pr. 123), könnte der letzte Vers das Blitzen des persischen Löwen (wenn die Ergänzung V. 3 stimmt) und der Sonne vergleichen: „Er blitzt wie die schöne Sonne.“ Ähnlich wird die „schöne Sonne“ am Ende des 16. Epigramms explizit als Vergleichsobjekt markiert (16.6: ὥϲπερ καὶ καλὸϲ ἠέλιοϲ). Ein drittes Mal auf dem Papyrus und ebenfalls am Ende des Epigramms erscheint die Junktur καλὸϲ ἠέλιοϲ in 52.6. Rekonstruktionsvorschlag κ[ερδα]λέη λίθοϲ ἥδε· λιπα[ινομένη]ϲ γε μὲν αὐτῆϲ, [φέγγο]ϲ ὅλουϲ ὄγκουϲ θαῦ[μ’ ἀπάτη]ϲ περιθεῖ· ὄ[ντων] δ’ ἀϲκελέων ὠκὺ γ[λυπτὸϲ λ]ὶϲ ὁ Πέρϲηϲ [τε]ίνων ἀϲτράπτει πρὸϲ καλὸν ἠέλιον. Ein listiger Stein ist dies: Wenn er eingeölt wird, umläuft ein Leuchten die ganze Masse – ein Wunder der Täuschung; wenn sie aber austrocknet ist, blitzt sogleich ein eingravierter persischer Löwe wie die schöne Sonne. Das Epigramm beschreibt einen Stein, der unter zwei verschiedenen Bedingungen sein Erscheinungsbild markant ändert. Kontrastiert werden die Behandlung mit Öl, durch die der Stein – wenn der Text oben richtig ergänzt worden ist – so stark glänzt, dass man nichts auf ihm

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sieht, und der trockene Normalzustand des Steins, in dem (entsprechend der oben erläuterten Rekonstruktion) ein graviertes Bild auf ihm zu erkennen ist. Auffallend ist die klare Struktur des Gedichts: Auf eine zunächst überraschende und neugierig machende Charakterisierung des Steins als listig folgt als Begründung eine Gegenüberstellung zweier Bedingungen und der daraus resultierenden Erscheinungsweisen. Die Klarheit der äußeren Form des Epigramms und logische Darstellung von Ursache und Wirkung suggerieren eine Rationalität, die zum Teil durch den Inhalt des Epigramms konterkariert wird: Zum einen ist die Charakterisierung des Steins, die ihn als bewusst handelndes Wesen mit hinterhältigen Intentionen personifiziert, der formal sachlichen Darstellung diametral entgegengesetzt. Gleiches gilt für die Bezeichnung des zuerst beschriebenen Phänomens als „Wunder“ (θαυ[μ, V. 3). Zum anderen steht die Reihenfolge, in der die beiden Zustände des Steins behandelt werden, im Gegensatz zu der vermeintlich rationalen Beschreibung und lässt die Veränderung des Steins als wundersamen Vorgang erscheinen: Während man erwarten würde, dass zunächst der ‚natürliche‘ Zustand des künstlerisch bearbeiteten Steins und anschließend die ‚Verhüllung‘ der Gravur durch das glänzende Öl beschrieben werden, wählt der Sprecher für seine Ekphrasis die umgekehrte Reihenfolge. Dadurch entsteht der Eindruck, dass der trocknende Stein die zuvor offenbar unsichtbare Gravur gleichsam ‚offenbart‘. Akzeptiert man für die Lithika grundsätzlich die Möglichkeit einer poetologischen Interpretation (s. Einl. zur Sektion, S. 25), lässt dieses Epigramm die poetologische Deutung zu, dass auch Poseidipps Epigramme grundsätzlich zwei oder mehr Sinnebenen bzw. einen Sinn haben können, der sich nicht auf den ersten Blick erschließt. 14 Das Epigramm beschreibt die Gravur eines Jaspis, die das Ende des Bellerophontes-Mythos zeigt: Abgebildet ist das Pferd, wie es in den Himmel hinauffliegt, kurz nachdem es Bellerophontes abgeworfen hat. Der Sprecher gibt sich als genauer, kunstverständiger Betrachter, tritt aber nicht namentlich in Erscheinung. II 33 εὖ τὸν Πήγαϲον ἵππον ἐπ’ ἠερόεϲϲαν ἴαϲπιν 1 34 χεῖρά τε καὶ κατὰ νοῦν ἔγλυφ’ ὁ χειροτέχνηϲ· 2 35 Βε̣λ̣λ̣ε̣[ρ]ο̣φό̣ν̣τηϲ μὲν γὰρ Ἀλή{ν}ϊον εἰϲ Κιλίκ̣ω̣ν γῆν 3 36 ἤριφ’, ὁ δ’ εἰϲ κυανῆν ἠέρα πῶλοϲ ἔβη, 4 37 [ο]ὕ̣ν̣εκ’ ἀη̣νιόχητον ἔτι τρομέοντα χαλινοῖ̣ϲ 5 38 [ἵ]π̣π̣[ον ἐν] αἰθερίωι τῶιδ’ ἐτύπωϲε λίθωι. 6 35 μεγγαραληνιον P 37 χαλινοὺ̣ϲ Livrea 2002 (def. De Stefani 2003) 38 ετυπωϲα P (def. Livrea 2002)

Gut hat das Pferd Pegasus auf den luftigen Jaspis mit handwerklichem Geschick und mit Verstand der Kunsthandwerker geschnitten; denn Bellerophontes stürzte hin auf die aleische Erde der Kilikier, sein Pferd aber stieg auf in die blaue Luft, weshalb er es frei von Zügeln, ‚aber‘ noch zitternd unter dem Zaumzeug in diesen luftblauen Stein prägte.

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V. 1 τὸν Πήγαϲον ἵππον: Pegasus ist ein geflügeltes Götterpferd; sein Vater ist nach Hes. theog. 276 Poseidon. — ἠερόεϲϲαν ἴαϲπιν: Bei dem Stein Jaspis handelt es sich um eine Erscheinungsform des Minerals Quarz, die abhängig von seiner Herkunft in sehr vielen verschiedenen Farben vorkommt: Plinius (nat. 37.115–118) berichtet von einer grünen, einer mit einem oder mehreren weißen Querstreifen durchzogenen smaragdähnlichen, einer grauen, einer luftfarbenen, einer bläulichen, einer purpurroten, einer bläulich purpurroten, einer hellblauen, einer terpentinfarbenen, einer dem megarischen Salz ähnlichen und einer wie von Rauch gefärbten Art. Im vorliegenden Epigramm wird der Jaspis durch das epische Adjektiv ἠερόειϲ beschrieben: abgeleitet von ἀήρ, das bei Homer und Hesiod noch nicht allgemein „Luft“, sondern „Dunst, Trübung, Nebel“ bedeutet (LfgrE), charakterisiert es im frühgriechischen Epos den Tartaros, die Dunkelheit der Unterwelt und den Tod als „trüb“ bzw. „finster“ (Il. 8.13; 15.191; Od. 20.64; Hes. theog. 119). Hier suggeriert es das in V. 4 formulierte Ziel des Pegasus: κυανῆν ἠέρα. Vermutlich hat der Stein die Farbe des blauen Himmels, in den Pegasus nach dem Abwurf von Bellerophontes aufsteigt, und wird so zu einem Teil der Darstellung. Das Attribut deutet darauf hin, dass es sich bei dem beschriebenen Stein um die persische Art aërizusa handelt, die wie der kaspische Jaspis luftfarben ist (Plin. nat.hist. 37.115; vgl. Dionysios Periegeta 724, der denn auch mit eben dem Adjektiv ἠερόεϲϲα die im Kaspischen Meer entstehende Art von Jaspis beschreibt). Mit aërizusa identifiziert Plinius die von den Griechen boria genannte Art, die dem morgendlichen Herbsthimmel ähnelt (nat. 37.116). V. 2 χειροτέχνηϲ: Mit dieser Bezeichnung des Steinschneiders wird explizit seine handwerkliche Kunstfertigkeit hervorgehoben, während λιθουργόϲ (3.1 u. 15.7) lediglich neutral auf das Material verweist, mit dem der Künstler arbeitet. Die vorletzte Silbe des Wortes muss hier (wie in Aristoph. Pl. 533 u. 617) kurz gemessen werden. V. 3 Βε̣λ̣λ̣ε̣[ρ]ο̣φό̣ν̣τηϲ: Bei Homer ist Bellerophontes ein Angehöriger der korinthischen Königsfamilie (Il. 6.152–205), bei Pindar ein Sohn des Poseidon, der Pegasus für ihn bändigt (Pind. Ol. 13.69). Zusammen mit dem geflügelten Pferd besteht er diverse Abenteuer, z. B. den Kampf gegen die Chimäre, gegen die Amazonen, einen wilden Eber und die Solymoi. Als sich Bellerophontes im Alter anmaßt, den Himmel erforschen zu wollen, wirft Pegasus ihn ab (Pind. Isthm. 7.44 f.; Ol. 13.92; Eur. fr. 285–315 Radt); nach Hygin ist er bei dem Sturz gestorben (Hyg. astr. 2.18). — Ἀλή{ν}ϊον εἰϲ Κιλίκ̣ω̣ν γῆν: Die Korrektur des überlieferten Textes ist sicher (vgl. ed. pr.). Poseidipps Lokalisierung des Absturzes über der aleischen Ebene in Kilikien wird durch diverse Zeugnisse bestätigt (vgl. z. B. Hdt. 6.95; Strab. 14.5.17; Plin. nat. 5.91). V. 5 ἀη̣νιόχητον: Das Adjektiv ist sonst nicht bezeugt. Εs dürfte in der Bedeutung mit ἀνήνιον übereinstimmen, das im Etymologicum Magnum 107.20 durch ἀδούλωτον (‚ungezähmt‘, ‚frei‘) sowie ἀχαλίνωτον (‚zügellos‘, ‚ungezügelt‘, ‚ungebändigt‘) erklärt wird. V. 6 αἰθερίωι: αἰθέριοϲ (‚ätherisch‘, ‚himmlisch‘, LSJ) kann hier nur metonymisch die Farbe des Himmels meinen. — ἐτύπωϲε: Bei der Form der 1. Ps. Sg., die der Papyrus überliefert, handelt es sich vermutlich um eine Verschreibung: Die Arbeit des „Handwerkers“ dürfte parallel zu

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ἔγλυφ’ ὁ χειροτέχνηϲ auch im letzten Vers in der 3. Ps. beschrieben sein. τυποῦν bezeichnet eigentlich das Formen durch Einprägen, z. B. das Siegeln oder das Prägen einer Münze (LSJ A), aber auch allgemein das Formen aller möglichen Dinge (LSJ II.1), insbesondere von Skulpturen und Plastiken (vgl. z. B. Platon Sophistes 239d).67 Im Kontext des Steinschneidens ist τυποῦν allerdings nicht belegt, und auch Poseidipp verwendet es nur an dieser einen Stelle, ansonsten immer γλύφειν. Interessant ist das Verhältnis der beiden Verben in diesem Epigramm, über das der Wechsel der Tempora Aufschluss gibt: In V. 2 scheint Poseidipp mit dem Imperfekt ἔγλυφ’ den Prozess des Schneidens im Blick zu haben, während ἐτύπωϲε diesen Prozess zu einem einzigen Akt verdichtet, wobei die Vorstellung der Münzprägung mitschwingen mag. Das Epigramm hebt sich insofern von den anderen der Gruppe 1–15 ab, als es nicht nur das Abbild eines Gegenstandes, sondern ein erzählendes Bild trägt. Die Eingravierung zeigt einen Ausschnitt aus einer mythischen Begebenheit: Pegasus fliegt, nachdem er Bellerophontes abgeworfen hat, allein weiter zum Olymp. Aus dem dargestellten prägnanten Moment – das Pferd, das sich offenbar in der Aufwärtsbewegung befindet (ἔβη), ist „ungezügelt“, „zittert“ aber noch unter dem anhaltenden Eindruck der Zügel – rekonstruiert der Erzähler, was gerade geschah: Auf Pegasus’ Rücken befand sich Augenblicke zuvor noch Bellerophontes, der Pegasus zügelte, nun aber abgestürzt ist. Zugleich ist der in Stein gravierten Momentaufnahme des Pferdes – zitternd und fliegend – eine Bewegung inhärent, die auch das Ziel der Bewegung mitzudenken zwingt. Die offenbar außergewöhnliche Lebendigkeit der Darstellung liegt nicht nur in der Darstellung des fruchtbaren Augenblicks, also in der Situationswahl des Künstlers, sondern auch in der Wahl des blauen Jaspis begründet, der als Hintergrund der Darstellung den Himmel suggeriert. Auch die technische Umsetzung der Bewegung in den starren Stein scheint zur Lebendigkeit beizutragen. Auf die Gesamtheit dieser Leistungen bezieht sich wohl der Hinweis, der „Kunsthandwerker“ (χειροτέχνηϲ) habe χεῖρά τε καὶ κατὰ νοῦν gearbeitet. Die ‚Lebendigkeit‘ bzw. ‚Lebensechtheit‘ der Darstellung kennzeichnet auch einige Bronzen der Andriantopoiika – vgl. die mutmaßlichen programmatischen Bronzen der ζῳοπλάϲται (62), den Philitas des Hekataios (63), die Idomeneus-Kresilas-Gruppe des Kresilas (64), den Alexander des Lysipp (65) –, der Hippika (vgl. das Fohlen in 72) und der Iamatika (vgl. den im letzten Augenblick vor dem Tod Geretteten in 95). Vielleicht verhandelt die Ekphrasis dieser Intaglio-Darstellung die Möglichkeiten zur Verlebendigung und Illusionierung der literarischen Mimesis im Verhältnis zur bildkünstlerischen. Das Motiv des in den Himmel aufsteigenden Pegasus auf der einen und seine Verbalisierung im Epigramm auf der anderen Seite verkörpern ganz im Sinne Lessings, was Wort- und Bildkunst vermögen.68 Die bildende Kunst kann Gegenstände nur räumlich darstellen; ihr fehlen die sukzessiven narrativen Gestaltungsmöglichkeiten der Dichtung. Diesen Mangel kann sie durch den prägnanten Moment kompensieren, der es ihr ermöglicht, eine Handlungssequenz darzustellen.69 Die Dichtung wiederum vermag es nicht, eine Ereignisfolge in einem Moment zu bündeln; sie kann nur Handlungen darstellen, Körper „nur andeutungsweise durch Hand-

67 In den Andriantopoiika verwendet Poseidipp zwar nicht das Verb, aber an einer Stelle den verwandten Terminus τύποϲ, ‚(bildnerisch geformte) Figur‘ (ϲκληροὶ τύποι 62.5).766 68 Lessing 1766, 124 f. 69 „Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muß daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.“ (Lessing 1766, 103).

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lungen.“70 Die Rezeption der Intaglio-Darstellung durch den Dichter zeigt, wie dieses Defizit gegenüber der Bildkunst kompensiert werden kann: Das erste und letzte Distichon stellen das Pferd dar, indem sie die Handlung des Steinschneiders beschreiben. Das mittlere Distichon verbalisiert den fruchtbaren Augenblick, indem es zwei Handlungen erzählt: den Absturz des Bellerophontes und den Aufstieg des Pegasus. Während in den ersten Gedichten der Sammlung vor allem die Produktion der Kunstwerke thematisiert wird, die Rezeption dagegen nur als passives Ereignis, das die Kunstwerke ihre Wirkung entfalten lässt, steht in diesem Epigramm auch die Rezeption des Werks, und damit auch die der Dichtung im Vordergrund. Seinen eigenen Rezeptionsakt zeichnet der Erzähler verbal in umgekehrter Reihenfolge nach und steuert so die Imagination des Lesers. Er erzählt erst die aus dem ‚fruchtbaren Augenblick‘ erschlossene vorangehende Ereignissequenz und anschließend den abgebildeten Moment. Die eigenständige Erschließung des Vorangehenden durch den Leser wird durch die Vorwegnahme in der Erzählung (V. 3 f.) verhindert; er ist gezwungen, der Darstellung des Erzählers zu folgen. 15 Das Epigramm ist – mit kleineren Abweichungen – auch in den Chiliades (7.653–660) des Johannes Tzetzes (1110–1180) überliefert und damit neben 65 eines der beiden Gedichte des Papyrus, die schon vor dessen Entdeckung bekannt waren. Es beschreibt die kaum sichtbare Gravur auf einem Stein, der im Gehirn von Schlangen entsteht. Ein anonymer Sprecher beschreibt den Stein für den Leser des Epigramms. II 39 οὐ ποταμ˼ὸ̣ϲ κελάδων ἐπὶ χείλεϲιν̣, ἀλλὰ δράκοντοϲ 1 III 1 εἶχέ ποτ’ εὐπώγων τόνδε λίθον κεφαλ̣ὴ̣ 2 2 πυκνὰ φαληριόωντα· τὸ δὲ γλυφὲν ἅρμα κα̣τ̣’ α̣ὐ̣τ̣˻ο˼ῦ̣ 3 3 τοῦθ’ ὑπὸ Λυγκείου βλέμματοϲ ἐγλύφετο 4 4 ψεύδεϊ χειρὸϲ ὅμοιον· ἀποπλαϲθὲν γὰρ ὁρᾶτα̣ι̣ 5 5 ἅρμα, κατὰ πλάτεοϲ δ’ οὐκ ἂν ἴδοιϲ προβόλουϲ̣· 6 6 ἧι καὶ θαῦμα πέλει μόχθου μέγα̣, πῶϲ ὁ λιθουρ̣γ̣ὸϲ 7 7 τὰϲ˼ ἀ̣τενιζούϲαϲ οὐκ ἐμόγηϲε κό̣ραϲ. 8 Test. Tzetzes Chil. VII 653–660 2 πυκνα P : λευκὰ Tzetzes 3 βλέμματοϲ Tzetzes : γλυμματοϲ P 4 χειρὸϲ Tzetzes : χρειοϲ P 5 αρμα P : γλύμμα Tzetzes  προβολουϲ̣ P : προβόλου Tzetzes 6  ηι P : εἰ Tzetzes (ἦ edd. Chil.; Angiò 2001c, 330)

Nicht ein Fluss, tosend an seinen Ufern, sondern einer Schlange schönbärtiger Kopf hielt einst diesen Stein hier, den dicht weißgesprenkelten; und der geschnittene Wagen auf ihm, dieser da, wurde von dem Blick des Lynkeios geschnitten gleich einer Täuschung der Hand; abgeformt nämlich sieht man den Wagen; aber an der Oberfläche dürftest du wohl keine Vorsprünge sehen: Und deshalb ist das Staunen über die Mühe groß, wie der Steinarbeiter die Belastung seiner starr blickenden Augen aushalten konnte.

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Lessing 1766, 103.

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V. 1 ποταμὸ̣ϲ κελάδων: Die Junktur findet sich auch Hom. Il. 18.576 und Theokr. eid. 17.92. V. 2 εὐπώγων: Das Wort ist sonst nur dreimal belegt: in Aristoteles Physiognomica (808a23) und in zwei Epigrammen des Leonidas (AP 9.99 u. 744). Auch Philostrat berichtet, dass die Schlangen, die den Stein produzieren, buschige (βοϲτρυχώδηϲ) goldene Bärte haben. Die Vorstellung von Schlangenbärten findet sich auch bei Nikander, der von einer Schlange mit „gelbem Bart“ (πώγων χολοίβαφοϲ) spricht (ther. 443). Zu archaischen und frühklassischen Darstellungen von bärtigen Schlangen vgl. Gow 1954, Anm. 2. Der Kopf der Schlange ist der Herkunftsort des im vorliegenden Epigramm beschriebenen „Schlangensteins“, dessen Gewinnung Plinius unter Berufung auf Sotakos’ (spätes 4., frühes 3. Jh.) Abhandlung περὶ λίθων plastisch schildert (Plin. nat. 37.158): Der Draconites oder Dracontias entsteht aus dem Gehirn von Schlangen, aber nur, wenn man den lebenden Tieren den Kopf abschlägt, andernfalls wird ‚das Gehirn nicht‘ zum Edelstein wegen der Mißgunst des Tieres, wenn es seinen Tod fühlt; man schlägt ihnen deshalb im Schlafe den Kopf ab. Sotakos, der geschrieben hat, diesen Stein bei einem König gesehen zu haben, berichtet, diejenigen, welche nach ihm suchen, führen auf zweispännigen Wagen, und wenn sie eine Schlange sähen, streuten sie schlafbringende Mittel aus und schlügen dem so betäubten Tier den Kopf ab. (Übers. König 1994, 111)

V. 3 πυκνὰ φαληριόωντα: Das seltene Verb φαληριᾶν bedeutet ‚weißgefleckt sein‘ (LSJ). Bei Homer bezieht es sich auf den Wellenschaum (Il. 13.799: κύματα φαληριόωντα), bei Lykophron einmal auf die Brandung an einem Felsen (188: φαληριῶϲαν ϲπίλον) und einmal auf den „schäumenden“ Hauer eines Keilers (492: φ. ϲτόρθυγξ). Hier kann es nur die weiße Sprenkelung des Steins meinen. Deren Intensität wird durch πυκνά (‚dicht‘) angezeigt. Tzetzes’ Lesart λευκά (‚hell‘, ‚weiß‘) verhielte sich dagegen tautologisch zu φαληριόωντα (ed. pr.). — γλυφὲν: Aus metrischen Gründen verwendet Poseidipp hier das Partizip des starken, im 8. Epigramm das des schwachen Aor. Pass. (8.3 f.: ἅρμα δ’ ὑπ’ αὐτὸν / γ̣λυφθὲν). — Λυγκείου: Das Adjektiv zu Λυγκεύϲ ist sonst nicht bezeugt. Der Name des Sohnes des Aphareus und der Arene, der so scharfe Augen hatte, dass er durch Mauern hindurch und tief in die Erde hinein blicken konnte, war schon in der Antike sprichwörtlich für jemanden, der so scharf wie ein Luchs sehen kann. — βλέμματοϲ: Hier hat Tzetzes offenbar den richtigen Text bewahrt. Die Verschreibung γλύμματοϲ erklärt sich wohl durch die Antizipation des folgenden ἐγλύφετο. Bemerkenswert ist, dass hier der „Blick“ die Position einnimmt, die normalerweise der „Hand“ des Künstlers zukommt (vgl. 7.3 f. u. 14.2). V. 5 χειρὸϲ: Das auf dem Papyrus überlieferte χρειοϲ ergibt keinen Sinn; es muss sich um eine Verschreibung handeln. — ψεύδεϊ χειρὸϲ ὅμοιον: Die Mehrzahl der Interpreten (u. a. ed. pr.; ed. min.; Gow 1954, 198 f.; Gutzwiller 1995, 387) geht davon aus, dass ψεῦδοϲ hier in einer besonderen Bedeutung gebraucht wird, die nur ein einziges Mal und dazu noch viel später – bei Alexander von Aphrodisias – bezeugt ist, der an einer Stelle mit ψεύδεα die weißen Punkte auf Fingernägeln meint (Pr. Anecd. 2.58). Vorher verwendet nur Theokrit einmal ψεύδεα ähnlich im Sinne der „Flecken“ oder „Pickel“, die Lügner auf der Nase haben (12.24; LSJ II.1). Gemäß dieser Deutung würde durch ψεύδεϊ χειρὸϲ ὅμοιον die Winzigkeit der Gravur betont und durch

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die Winzigkeit begründet, warum der Wagen kaum zu sehen ist und der Künstler sich beinahe die Augen verdorben hat. Gegen diese Interpretation spricht nicht nur, dass ψεῦδοϲ in dieser besonderen Bedeutung so gut wie nicht bezeugt ist, sondern auch und vor allem, dass von einem „Fleck der Hand“ die Rede ist, nicht etwa des „Fingernagels“ oder „Fingers“. So ist es wahrscheinlicher, dass Poseidipp ψεῦδοϲ hier in seiner normalen Bedeutung verwendet und dass χειρόϲ als subjektiver Genitiv daran anschließt: Es handelt sich um eine „Täuschung“, die durch die Hand des Künstlers herbeigeführt wird. — ἀποπλαϲθὲν: Der Satz ἀποπλαϲθὲν γὰρ ὁρᾶτα̣ι̣ /ἅρμα, κατὰ πλάτεοϲ δ’ οὐκ ἂν ἴδοιϲ προβόλουϲ̣· lässt sich so verstehen, dass der Wagen zwar durch einen Abdruck (etwa in Wachs) sichtbar gemacht werden kann (vgl. Gow 1954, 197–199 u. Gutzwiller 1995, 387 f.), auf der Oberfläche aber durch bloßes Hinschauen keine konvexen Formen ausgemacht werden können. Diese Interpretation kann sich auf die Grundbedeutung von ἀποπλάϲϲομαι „model or mould from a thing“ (LSJ) stützen. Die Annahme einer für ἀποπλαϲθέν nicht bezeugten Spezialbedeutung („impresso nella cera“), die für die ed. pr. gegen das dargelegte Verständnis spricht, ist also nicht nötig. Dagegen verstehen die Erstherausgeber ἀποπλαϲθὲν als „raffigurato, scolpito, modellato“ (125) und den Satz so, dass der „geformte Wagen“ sichtbar ist, man aber auf der Oberfläche keine Vorsprünge sieht: Man könne also nur das Motiv erkennen, nicht aber die plastische Formung. Auch diese Interpretation des Satzes läuft darauf hinaus, dass der Wagen nur sehr schwach aus dem Stein herausgearbeitet ist. Sie würde die Pointe aber stark abschwächen. Zudem weist der Wortstamm von ἀποπλαϲθέν gerade auf die ‚plastische‘ Darstellung hin, und der Gegensatz zwischen den beiden Teilsätzen, den δ’ und die Negation des zweiten Prädikats suggerieren, wird so schwerlich einsichtig. V. 6 ἅρμα: Die Angabe des Motivs, die sich im Text des Papyrus findet, ist an dieser Stelle wahrscheinlicher als das allgemeine und unbestimmte γλύμμα bei Tzetzes (ed. pr.). Für ἅρμα spricht, dass dieses Motiv mit Blick darauf gewählt sein könnte, dass man nach dem Stein auf zweispännigen Wagen ausging (Plin. nat. 158: bigis vehi quaerentes). — κατὰ πλάτεοϲ … προβόλουϲ̣: An Tzetzes’ Text κατὰ πλατέοϲ … προβόλου, der πλατέοϲ (Gen. von πλατύϲ) als Attribut zu προβόλου begreift, ist unklar, wie der Satz zu verstehen ist. Für die Deutung von πρόβολοϲ als „Oberfläche“ (vgl. die Deutung der ed. pr.) gibt es keine Grundlage. Die Erwähnung kaum sichtbarer πρόβολοι sagt im Übrigen nichts darüber aus, ob es sich bei dem bearbeiteten Schlangenstein um ein Intaglio oder eine Kamee handelt; auch wenn die „Vorsprünge“ auf eine reliefartige Gestaltung hindeuten, ist nicht auszuschließen, dass προβόλουϲ sich auf die konvexen Formen innerhalb der Gravur bezieht. Zur Frage der Existenz von Kameen in hellenistischer Zeit vgl. 8 (Komm. u. Interpr.). V. 7 ἧι: Tzetzes’ εἰ ergibt keinen Sinn; ἧι, der Text des Papyrus, ist, wie die Erstherausgeber konstatieren, besser als die Konjektur der Herausgeber der Tzetzes-Version ἦ (‚sicherlich‘), da er eine kausale Verbindung zwischen den ersten sechs Versen und dem Schlussdistichon herstellt und damit die Einheit des Epigramms garantiert. V. 8 ἀ̣τενιζούϲαϲ: Das Partizip drückt das ‚starre Blicken‘ der Augen des Künstlers bei der Herstellung der kaum sichtbaren Gravur aus. — ἐμόγηϲε κό̣ραϲ: Zu dem effektiven Aorist (‚er mühte sich vollends ab‘) gehört κό̣ραϲ (‚Pupillen‘, hier metonymisch für die ‚Augen‘) als respektiver

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Akkusativ; der Sprecher drückt sein Erstaunen darüber aus, wie der Künstler beim Gravieren „die Belastung der Augen aushalten konnte“. Das Epigramm beginnt mit einer Negierung dessen, was der Leser aufgrund der vorangehenden Epigramme erwarten kann:71 Der Stein kommt nicht, wie einige der zuvor behandelten Steine, aus einem Fluss,72 sondern aus dem Kopf einer Schlange. Diese unglaubliche Behauptung wird durch die Fachliteratur, die ebenfalls von einem „Schlangenstein“ weiß, bestätigt: Die nüchterne Herkunftsangabe unseres Epigramms ist bei Plinius um eine sehr detaillierte Beschreibung der ‚Gewinnung‘ des Steins erweitert (vgl. εὐπώγων). Wie kein anderer Stein der Lithika ist dieser drakontias „von seltener Herkunft“ (16.5: ἐκ γενεῆϲ ϲπάνιοϲ) und weist damit auf die folgende Epigrammgruppe voraus, die außergewöhnliche Steine behandelt. Eine weitere Information des Plinius führt zum Kern der Interpretation dieses Epigramms. Der Stein sei – so erklärt Sotakos – durchsichtig weiß und lasse sich nachher weder schleifen noch künstlich bearbeiten.73 Wie ist dieser Satz mit der Information des Epigramms zu vereinbaren? Gleich zwei Formen des terminus technicus γλύφειν74 legen nahe, dass der Stein – wie die Steine der vorangehenden 14 Gedichte75 – graviert worden ist. Tzetzes (hist. var. 7.653–660 u. 8.636–640) bietet eine Interpretation, die das Epigramm in Einklang mit der Fachliteratur bringt: Er versteht γλυφέν und ἐγλύφετο metaphorisch und den Wagen als natürliche Musterung auf dem Stein. Die Formulierung, der Wagen sei „von einem lynkeiischen Blick geschnitten worden“, wird so verstanden, dass der Steinarbeiter (λιθουργόϲ) nicht selbst Hand angelegt, sondern in der Maserung des Steins lediglich eine Wagenform erkannt hat. Während die vorangehenden Epigramme oft die „Hand“ als Werkzeug hervorheben,76 sind die Augen das Instrument dieses Künstlers, die er extrem anstrengen muss, um den Wagen zu erkennen. Diese Interpretation ist zum einen reizvoll, weil das Epigramm dann fachliches Wissen über den Schlangenstein erkennen lässt, zum anderen, weil das Epigramm – so verstanden – ironischerweise die Untergruppe der gravierten Steine mit einem Stein abschlösse, der aussieht, als sei er graviert, es aber nicht ist. Wahrscheinlicher ist dennoch die gegenteilige Interpretation, nach der nicht ἐγλύφετο, sondern ὑπὸ βλέμματοϲ metaphorisch zu verstehen ist: Es handelt sich bei dem Wagen um eine echte Gravur, die unter so großer Anstrengung der Augen gefertigt worden ist, dass diesen ein großer Anteil an der Herstellung des Kunstwerks zukommt und sie zurecht als dessen Urheber bezeichnet werden können.77 Indem Poseidipp einen gravierten Schlangenstein 71

Dieser Topos der ‚Ablehnung‘, mit dem „der Dichter immer wieder mit der Lesererwartung [spielt]“ (Höschele 2010, 162), findet sich auch am Anfang der Epigramme 8 und 11 (vgl. auch Petrain 2005, 333 sowie die Einl. zur Sektion, S. 22). 72 Der Topos der Fluss-Herkunft – gemeint ist der unmittelbare Ursprung, eigentlich dient der Fluss jeweils nur als Transportweg – findet sich auch in 7, möglicherweise in 1, das den Ἰνδὸϲ Ὑδάϲπηϲ nennt (noch spekulativer ist die Annahme bei 10; χαρ]άδρηϲ ist zum Teil konjiziert) und wird in 16 wieder aufgegriffen (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22). 73 Vgl. König 1994, 111. Diese Information findet sich auch bei Solinus und Philostrat, den anderen beiden für uns greifbaren Quellen zum „Schlangenstein“, die hierfür ebenfalls auf Sotakos verweisen. 74 Zur zentralen Bedeutung dieses Wortes in den Lithika vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22. 75 Nicht sicher können wir diesbezüglich bei den schlecht erhaltenen Epigrammen 1 und 10 sein; zu 2 vgl. die Interpr. dort. Die überlieferten Fragmente geben keinen Hinweis auf eine Gravur; es ist aber wahrscheinlich, dass auch die Steine dieser Epigramme sich insofern in die Untergruppe 1–15 einfügen, dass sie künstlerisch bearbeitet wurden. 76 Vgl. 7.3 f. (ὃ]ν̣ Κρονίο[υ] χ̣εὶρ / ἔγλυψε) u. 14.2 (χεῖρά τε καὶ κατὰ νοῦν ἔγλυφ’ ὁ χειροτέχνηϲ). 77 Die Information, dass die Frau des Kandaules aufgrund ihres aus Schlangenstein bestehenden Rings eine doppelte Pupille besaß und besonders scharfsichtig gewesen sei (Ptol. Chenn. 192

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beschreibt, ‚korrigiert‘ er seine fachliterarischen Quelle(n),78 trägt der Information, dass der Schlangenstein nicht schneidbar sei, aber insofern Rechnung, als die Gravur offenbar äußerst schwach ausgeprägt ist und eher einer Einritzung gleichkommt. Während das Sehen in diesem Epigramm für die Hervorbringung des Kunstwerks von essentieller Bedeutung ist, ist es rezeptionsästhetisch überhaupt nicht relevant. Durch das bloße Hinschauen erkennt man auf dem Stein nichts. Vielmehr muss der Rezipient selbst aktiv werden: Die Rezeption kommt einer zweiten Produktion gleich: Er muss einen Abdruck machen, also selbst bildnerisch tätig werden, um den Wagen zu erkennen.79 Vielleicht lässt sich der Inhalt des Epigramms auch auf die Produktion und Rezeption des Epigramms übertragen: Der Dichter arbeitet auf der Grundlage (geistigen) Sehens und ‚versteckt‘ die Bedeutung des Textes so, dass sie durch oberflächliches Lesen nicht sichbar ist. Dem Leser kommt dadurch eine sehende, schöpferische Rolle zu, da er aktiv an der Bedeutungskonstituierung beteiligt wird und in seinem Leseakt den Text erst endgültig hervorbringt. Eine „Anstrengung“ (μόχθοϲ) ist nicht nur auf Seiten des Dichters, sondern auch beim Leser vonnöten, dem sich der teils rätselhaft-spielerische Charakter Poseidippscher Literatur nicht ohne weiteres erschließt. 16 Das Epigramm behandelt den Bergkristall, der dem anonymen Sprecher Anlass zur Reflexion über konventionelle Kriterien bei der Bewertung von Steinen gibt. III 8 τὸν πολιὸν κρύϲταλλον Ἄραψ ἐπὶ θῖνα κυλίει 1 9 πόντιον α`ἰ´εὶ ϲπῶν ἐξ ὀρέων ὀχετὸϲ 2 10 πλήθεϊ πολλὴν βῶλον· ὁθούνεκα νήπιοι ἄνδρεϲ 3 11 τὸν λίθον εἰϲ χρυϲέαϲ οὐκ ἄγομεν βαϲάνουϲ· 4 12 εἰ δ’ ἦν ἐκ γενεῆϲ ϲπάνιοϲ, τὸ διαυγὲϲ ἂν αὐτ̣οῦ 5 13 τίμιον ἦν ὥϲπερ καὶ καλὸϲ ἠέλιοϲ. 6 12 εγγενεηϲ P 13 τιμιοϲ P

Diesen gräulich-klaren Kristall rollt ein arabischer Strom zum Meeresstrand, während er ihn immer fort aus den Bergen reißt, eine große Menge von Klumpen: Deswegen bringen wir dummen Menschen den Stein nicht zur Goldprobe. Wenn er aber von seltenem Ursprung wäre, wäre sein Glanz geschätzt genau wie die schöne Sonne.

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Westermann), könnte auf einen traditionellen Glauben an die Wirkung des Steins anspielen, der sich ähnlich wie beim Amethyst (ἀ-μέθυϲτοϲ, vgl. 2) in der Etymologie von δρακοντίτηϲ (δράκων, ‚Schlange‘‚ δρακών, Part. Aor. von δέρκομαι, ‚sehen‘) niederschlägt (vgl. Gutzwiller 1995, 387 f.). Im vorliegenden Epigramm hat der Stein jedoch eine gegenteilige Wirkung: Der Künstler hat sich beinahe die Augen verdorben. Vgl. Smith 2004, 116. ‚Korrekturen‘ fachwissenschaftlicher Literatur finden sich bei Poseidipp nicht nur in den Lithika […], sondern auch in den anderen Sektionen, die ‚technische‘ Themen behandeln (zu dem Verhältnis der Oionoskopika zu ihren ‚wissenschaftlichen‘ Quellen vgl. Sider 2005). Vgl. damit Epigramm 14: Dort vollzieht sich die Rezeption des Kunstwerks durch das Sehen, geht aber auch über die reine Betrachtung hinaus: Der Sprecher-Rezipient muss das erblickte Bild zu einer Erzählung ergänzen, die er für den abwesenden Leser ‚hervorbringt‘.

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V. 1 πολιὸν κρύϲταλλον Ἄραψ: Bei dem Stein handelt es sich um den Bergkristall, eine Varietät des Minerals Quarz (vgl. Blümner 1884, 249 f.; Devoto-Moyalem 1990, 91–94). Nach Plinius, nat. 37.23 f., kam der beste Bergkristall aus Indien, aber auch arabischer Ursprung sei bezeugt. Die in der Antike geläufige Vorstellung, der Kristall sei aus gefrorenem Wasser entstanden, spiegelt sich in seinem Namen: κρύϲταλλοϲ heißt eigentlich ‚Eis‘. Möglicherweise leitet sich diese Vorstellung ursprünglich vom Aussehen bzw. der Farbe des Kristalls ab: Theophrast beschreibt ihn als „durchscheinend“ (διαφανήϲ, lap. 30), Plinius als „farblos“, (nat. 37.123; vgl. 37.77,83,116; 37.197; dazu Petrain 2005, 338). Das Adjektiv πολιόϲ ist für κρύϲταλλοϲ sonst nicht bezeugt. Es ist v. a. bei Homer ein gebräuchliches Epitheton des „grauen“ oder „gräulichen“ Meeres, bezeichnet sehr oft das „graue“ Haar, aber auch die „helle, klare“ Luft. Gerade im Hinblick auf die Tatsache, dass man sich die Entstehung des Kristalls aus dem Wasser erklärte, dürfte die Bedeutung hier zwischen beiden Aspekten – der Transparenz und der leicht gräulichen Farbe – changieren; ein hellgrauer Ton ist das, was der Farblosigkeit des durchsichtigen Steins am nächsten kommt. Die im vorliegenden Epigramm kritisierte mangelnde Wertschätzung des Kristalls findet sich in anderen antiken Zeugnissen nur teilweise bestätigt: Theophrast nennt den Kristall als einen der Steine, die sich sowohl durch Schönheit als auch durch Seltenheit auszeichnen (lap. 33). Spätere Quellen heben einerseits die Kostbarkeit des Kristalls hervor (vgl. Plinius, der den Kristall in 37.204 als einen der kostbarsten ‚Steine‘ überhaupt hervorhebt und in 37.29 die enormen Preise kritisiert, die für Kristalle bezahlt werden, sowie Leonides von Alexandria, der in AP 6.329 einen Kristall als teuerstes unter anderen „Geschenken des Reichtums“ [πλούτου δῶρα] nennt); andererseits relativiert Plinius den Wert des farblosen (Berg-)Kristalls, indem er ihn mit den am wenigsten wertvollen Amethysten vergleicht (37.123; vgl. 37.77,83,116) und darauf hinweist, dass Kristalle gefärbt werden, um wie andere Edelsteine auszusehen (37.197; vgl. Petrain 2005, 338). — κυλίει: Das Präsens zeigt an, dass das Heranrollen des Kristalls kein einmaliger, sondern ein sich ständig wiederholender Vorgang ist: Im nächsten Vers wird das dem Heranrollen vorangehende Abbrechen des Steins (ϲπῶν) als αἰεί charakterisiert und damit die ewige Wiederkehr beider Vorgänge betont. Daraus folgt, dass der bestimmte Artikel τόν (V. 1) hier nicht, wie in den meisten Epigrammen der Untergruppe 1–15, in deiktischer Funktion auf ein bestimmtes Steinexemplar hinweist (vgl. 4.1, 6.4, 7.3, 8.1 u. 8.3; mit Verstärkung durch ein Demonstrativum: 5.1, 6.3, 15.3), sondern generalisierend die Gattung ‚Kristall‘ in den Blick nimmt (vgl. 7.1; Petrain 2005, 335). V. 2 ὀχετὸϲ: Eigentlich bezeichnet ὀχετόϲ das, worin bzw. wodurch Wasser fließt, also eine ‚Leitung‘, einen ‚Kanal‘ oder eine ‚Rinne‘; hier meint es metonymisch den Inhalt eines solchen Transportwegs (vgl. dazu LSJ II: „in pl. ,streams‘“). V. 3 πλήθεϊ πολλὴν βῶλον: Das Attribut πολλήν zu βῶλον (‚Klumpen‘) wird durch einen Dativus respectus in seiner Bedeutung verstärkt. Sowohl πλῆθοϲ als auch πολύϲ können sich grundsätzlich nicht nur auf die Menge, sondern auch auf die Größe beziehen. Hier spricht zum einen die pleonastische Kombination von Substantiv und Adjektiv dafür, die quantitative Grundbedeutung anzunehmen (Petrain 2005, 334; vgl. Hdt. 2.96 τὰ πλοῖα ταῦτα πλήθεϊ πολλά); zum anderen legt dies auch der unmittelbare Kontext nahe: πλήθεϊ πολλὴν βῶλον kontrastiert direkt mit ϲπάνιοϲ (V. 5). Ein einziger großer Klumpen hingegen (vgl. Kosmetatous Übersetzung „a massive piece“) würde weder das Gegenteil von Seltenheit bedeuten noch

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einsichtig machen, ‚weswegen‘ wir den Stein trotz seines Glanzes nicht für wertvoll halten (zur Bedeutung der Konjunktion ὁθούνεκα, die πλήθεϊ πολλὴν βῶλον explizit als Begründung für die Geringschätzung des Steins herausstellt, vgl. Petrain 2005, 334 f.): Besonders großen Edelsteinen wurde in der Antike große Wertschätzung zuteil (vgl. Plin. nat. 37.27 f.; Petrain 2005, 335). Ein letztes Argument ergibt sich aus dem Präsens κυλίει (V. 1), dem participium coniunctum αἰεὶ ϲπῶν und dem generalisierenden Artikel zu κρύϲταλλον (vgl. o. zu V. 1: κυλίει): Der Ausdruck πλήθεϊ πολλὴν βῶλον führt die Idee fort, dass der arabische Fluss ständig große Mengen an Kristallklumpen mit sich führt. Über die Größe der Klumpen wird nichts gesagt; βῶλον deutet lediglich auf den unbearbeiteten, rohen Zustand der Steine hin. Die Kombination des singularischen Substantivs mit der Mengenangabe kann nicht wörtlich ins Deutsche übertragen werden; die obige Übersetzung lehnt sich an Petrains Wiedergabe „a vast quantity of chunks“ an. V. 4 χρυϲέαϲ … βαϲάνουϲ: ἡ βάϲανοϲ ist eigentlich der Prüfstein, mit dem Gold auf seine Echtheit geprüft wird, meint dann aber auch die ‚Prüfung‘ oder ‚Probe‘ mittels dieses Steins. In Verbindung mit χρυϲέη ist βάϲανοϲ bislang aber nicht belegt. „Wir bringen den Stein nicht zur Goldprobe“ soll heißen: „Wir halten ihn trotz seines Glanzes nicht für Gold, d. h. nicht für wertvoll.“ Analog zum letzten Vers, der die Wertschätzung eines seltenen Steins durch einen bildhaften Vergleich illustriert, wird hier die Geringschätzung metaphorisch zum Ausdruck gebracht. V. 5 ἐκ γενεῆϲ: ἐκ wird auf diesem Papyrus vor Nasalen und vor Liquiden immer zu ἐγ- (ed. pr.). — ϲπάνιοϲ: Das Adjektiv ist in der Dichtung selten und kommt bei den hellenistischen Dichtern überhaupt nicht vor. Da es in der Prosa und speziell auch bei Theophrast verbreitet ist, hat Poseidipp es möglicherweise aus der Fachliteratur entliehen (Petrain 2005, 336 f.). V. 6 καλὸϲ ἠέλιοϲ: Die ‚schöne Sonne‘ (vgl. 13.4: [.]ι̣ν̣ων ἀϲτράπτει πρὸϲ καλὸν ἠέλιον) fungiert hier als seltenstes und deshalb höchstgeschätztes Objekt, um nicht zu sagen als der höchstgeschätzte ‚Stein‘, schlechthin.80 Der erste – deskriptive – Teil des Epigramms (V. 1–3a) beschreibt sehr anschaulich den Prozess der fortwährenden natürlichen Gewinnung des Kristalls: Die unerschöpfliche Quelle

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Dagegen interpretiert Petrain (2005, 340) den Schluss des Epigramms so, dass die Sonne nur als vermeintliches Wertobjekt erscheint, mit dessen Erwähnung Poseidipp die Verkehrtheit traditioneller Bewertungskriterien aufzeigt: „[…] how valuable is the sun? Its benefits, like those of water, are shared by all. […] Sun and water are desirable, but not valuable according to the constraints imposed by the lithika, in which value depends […] on rarity and the possibility of ownership. By evoking the ‚beautiful sun‘ in its last line, 16 A-B thus reworks once again a formula that occured [sic] earlier in the section: if we νήπιοι ἄνδρεϲ were to apply our criteria consistently, the sun would succumb to the same devaluation as did the rock-crystal, an unexpected reversal that highlights the folly of using rarity as a primary measure of worth.“ Gegen diese Interpretation ist zum einen einzuwenden, dass zwar die Wirkung der Sonne allgemein verfügbar ist, nicht aber sie selbst. Sie ist einmalig im wörtlichen Sinn. Zum anderen geht τίμιον im letzten Vers auf die subjektive Wertschätzung der Menschen, nicht den objektiven Preis, wie Petrains Übersetzung „precious“ (332) nahelegt. Entspräche der Wertschätzung aber ein Preis, wäre die Sonne ‚unbezahlbar‘ (nicht ‚kostenlos‘).

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sind nicht näher bezeichnete Berge, aus denen ein arabischer Fluss den Kristall in großen Mengen löst und bis zum Strand mit sich führt. Der zweite – reflektierende – Teil (V. 3b–6) konstatiert die Ursache der Geringschätzung des Steins und diskutiert die als konventionell dargestellten Kriterien zur Bewertung von Steinen. Die Verbindung der beiden disparaten Epigrammabschnitte wird durch ὁθούνεκα („deswegen“) garantiert, das die „Menge“, in welcher der Kristall verfügbar ist, als Grund für seine Vernachlässigung ausweist, die der Sprecher scharf kritisiert (νήπιοι ἄνδρεϲ). Im letzten Distichon stellt er eine hypothetische Überlegung an: Wenn der Kristall ‚selten‘ wäre, würde sein ‚Glanz‘ über die Maßen geschätzt. Für die communis opinio muss ein Stein beide Kriterien – Seltenheit und Glanz – erfüllen, um geschätzt zu werden;81 das Epigramm stellt dagegen den Glanz als das wichtigste heraus. Die allgemein formulierte Kritik verweist uns auf das Naheliegende: auf die übrigen Gedichte der Lithika als bis dahin einzige uns erhaltene Sammlung von ‚Steingedichten‘.82 Darauf mag auch die 1. Ps. Pl. ἄγομεν hindeuten, mit der der Sprecher sich und möglicherweise auch die (Sprecher der) vorangehenden Epigramme in die Kritik miteinschließt. Durch seine intertextuellen Bezüge strukturiert das Epigramm die Lithika;83 v. a. teilt es die Sektion in zwei Gruppen und stellt sich selbst als Übergang von der einen in die andere dar. Es beginnt mit einer Abgrenzung von dem unmittelbar vorangehenden Epigramm: Die Herkunft des Steins aus einem Fluss, die 15 emphatisch negiert, wird nun wiederum affirmiert.84 Damit ist – über einen Umweg – die Verbindung zum Anfang von 7 hergestellt, der ebenfalls die Fluss-Herkunft thematisiert und auf den sich die ‚Ablehnung’85 in 15.1 direkt bezieht. Nach dem auffallend ähnlichen Anfang weichen 7 und 16 stark voneinander ab: 7 fährt mit der künstlerischen Bearbeitung des Steins und seiner Einfassung in eine goldene Kette fort; der ausgiebig beschriebene Glanz erscheint als Grund für die Wertschätzung durch Nikonoe, die der Stein als ihr Schmuckstück erfährt. Dagegen endet die Reise des Steins in 16 nicht erst auf dem Dekolleté einer Frau, sondern bereits am Strand, wo er – so muss man folgern –, nachdem der Fluss ihn herangerollt hat, unbeachtet liegen bleibt. Die Erwartung des Lesers, die der Anfang von 16 vor dem Hintergrund von 7 weckt, der Stein werde durch künstlerische Bearbeitung individualisiert und aufgrund seines Glanzes geschätzt, wird getäuscht86 – er wird der künstlerischen Bearbeitung nicht für würdig befunden.

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Vgl. Theophr. lap. 33: καὶ αὗται μὲν ἅμα τῷ καλῷ καὶ τὸ ϲπάνιον ἔχουϲιν. αἱ δὲ δὴ ἐκ τῆϲ Ἑλλάδοϲ εὐτελέϲτεραι („Auch diese [d. h. Steine] besitzen zugleich Schönheit und Seltenheit; aber die aus Griechenland sind klarerweise wertloser.“ Hier wird zwar nicht der ‚Glanz‘, aber in ähnlicher Weise die ‚Schönheit‘ als zweites Kriterium neben der ‚Seltenheit‘ genannt (vgl. πολιὸν κρύϲταλλον Ἄραψ u. Petrain 2005, 336). Möglicherweise nimmt das Epigramm auch auf andere, uns nicht überlieferte Literatur über Steine Bezug; vgl. Petrain 2005, 330: „The lithika present a coherent group of conventions and themes related to the discussion of precious stones, a third-century discourse on gems of which we were earlier unaware; indeed, many of the subjects and themes that now appear on the Milan papyrus seem to have been systematically excluded from Meleger’s Garland […].“ Die Vielzahl der kommentierenden und organisierenden intertextuellen Bezüge mag ein Argument dafür darstellen, dass Poseidipp die Sammlung selbst komponiert hat. Zu dieser Frage vgl. die Einl., S. 16. Der Ursprung aus einem Fluss kann außer in 7 und 16 möglicherweise in den stark zerstörten Epigrammen 1 und 10 (1.1: Ἰνδὸϲ Ὑδάϲπηϲ; unsicher ist 10.3: χαρ]άδρηϲ) identifiziert werden; als Topos etabliert ihn gerade seine ‚Ablehnung’ in 15.1 (zu dem Topos vgl. die ed. pr. zu 10.3 und Hunter 2004, 97 sowie Petrain 2005, 333). Was den Kristall angeht, erwähnt Plinius, der Xenokrates zitiert, ebenfalls den Transport im Fluss (nat. 37.25: torrentibus saepe deportari; vgl. Petrain 2005, 333). Andere ‚Ablehnungen‘ finden sich in 8.1 und 11.1; zu diesem Topos vgl. die Einl. zur Sektion, S. 22. Vgl. Petrain 2005, 333 f.

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17 Das Epigramm beschreibt einen Stein, der dem entspricht, was man heute als Magnet bezeichnet. Der Text ist bis auf einige Schreibfehler gut erhalten; dennoch können über den Sinn des letzten Distichons nur Vermutungen angestellt werden. III 14 ϲκέψαι ὁ Μύϲιοϲ οἷον ἀνερρίζωϲεν Ὄλυμποϲ 1 15 τόνδε λίθον διπλῆι θαυμάϲιον δυνάμει̣· 2 16 τῆιδε μὲν ἕλκει ῥεῖα τὸν ἀντήεντα ϲίδη̣ρον 3 17 μάγνηϲ οἷα λίθοϲ, τῆ‹ι›δε δ’ ἄπωθεν ἐλᾶι 4 18 πλευρῆι ἐναντιοεργόϲ· ὃ καὶ τέραϲ ἐξ ἑν̣ὸ̣ϲ̣ …ου 5 19 πῶϲ δύο μιμ‹ε›ῖται χερμάδαϲ εἰϲ προβολάϲ. 6 14 ἀνερροίζωϲεν Angiò 2001a 16 ἀντήεντα ed. pr., min., Livrea 2002 : αντηοντα P : ἄντην ὄντα Luppe 2001a : ἀντήϲοντα Lapini 2003b (def. Ferrari 2005; ἀντιόωντα Cuypers) 17 post ἐλᾶι dist. ed. pr., min., contra Luppe 2001a : ἀπωθέεται Luppe 2001a, v. Angiò 2006, 35 18 εναντιοεργεϲ P, def. Luppe 2001a, Livrea 2002 : ἐναντιοεργεῖ Condello ap. Esposito 2002  α̣ὐ̣τ̣οῦ ed. pr., min. : ἔ̣ρ̣γ̣ου Neri ap. Esposito 2002 : ὁ̣λ̣κ̣οῦ De Stefani 2003 19 μιμ‹ε›ῖται (μιμιται P) susp (def. Angiò 2001a, Luppe 2001a, Livrea 2002, Esposito 2002); fort. κινεῖ καὶ ed. pr., min.  χερμάδαϲ εἰϲ προβολάϲ susp. : χερμάδαϲ εἷϲ προβολαῖϲ Ferrari 2005 : χερμάδοϲ εἷϲ προβολάϲ Handley 2004

Betrachte diesen Stein, was für einer er ist, den der Mysische Olymp aus der Erde riss, wundersam durch ein doppeltes Vermögen: Mit der einen Seite zieht er leicht das ihm begegnende Eisen an wie ein Magnet, mit der anderen Seite stößt er es ‹von sich› ab, das Gegenteil bewirkend; dieses ist auch ein Wunder, wie er ganz87 allein zwei Steine in ihren Ausrichtungen nachahmt. V. 1 ὁ Μύϲιοϲ … Ὄλυμποϲ: Hiermit dürfte der Berg an der Grenze von Mysien und Bithynien, der heutige Ulu Dagh, gemeint sein, und nicht ein Mann aus Mysien mit Namen Olympos (vgl. ed. pr.). Die Junktur Μύϲιοϲ Ὄλυμποϲ, bezogen auf den Berg, ist bereits vor Poseidipp einige Male bezeugt (Hdt. 1.36.2; Xen. kyn. 11.1.4; Theophr. hist. plant. 3.2.5.3; 4.5.4.7; 4.5.5.6; später diverse Male bei Strab. u. a.). Zudem legt der Vergleich mit den Anfängen von 7 und 16 nahe, dass auch in 17 eine Naturgewalt aktiv wird: Dort sind es Flüsse, die die Steine aus den Bergen reißen – sie also von ihrem natürlichen Ursprung entfernen und die Betrachtung bzw. Bearbeitung durch den Menschen ermöglichen –, hier ist es der Berg selbst. — ἀνερρίζωϲεν: Die Bedeutung ‚(jmdn./etw.) entwurzeln‘, die das Verb an allen bezeugten Stellen hat (ed. pr. gegen LSJ: „root“, „implant in“), passt hier im metaphorischen Sinne sehr gut: ἀνερρίζωϲεν mag vorweg bereits die ‚abstoßende‘ Kraft des Steins ironisieren; ausgerechnet er, der als einziger in der Natur diese Fähigkeit besitzen soll, wird wörtlich zwar „entwurzelt“, aber faktisch abgestoßen.

87 Zur Bedeutung des für das verlorene Ende von V. 5 von der Erstherausgebern vorgeschlagenen αὐτοῦ s. Komm. zu V. 5.

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V. 2 τόνδε λίθον: Der wundersame Stein, zu dessen Betrachtung der Sprecher auffordert, bleibt auch im weiteren Fortgang des Gedichts namenlos. Der aus moderner Perspektive naheliegende Schluss, es handele sich um einen Magneten, wird durch den V. 4 angestellten Vergleich als irrtümlich erwiesen: Der beschriebene Stein verhält sich zwar wie der Magnetstein (μάγνηϲ οἷα λίθοϲ), indem er Eisen mit einer Seite anzieht, er ist aber kein Magnet, denn er kann mit seiner anderen Seite auch noch Eisen abstoßen. Poseidipp charakterisiert damit den Magnetstein im Einklang mit der antiken communis opinio: Er kann Eisen nur anziehen (vgl. u. zu V. 4). Vereinzelt wird auch berichtet, dass Eisen abgestoßen wird – entweder von einem anderen, nicht näher bezeichneten Stein (Plin. nat. 2.211; 20.2; 34.130) oder von dem Magnetstein, der Eisen „bald anzieht, bald abstößt“ (πολλάκιϲ μὲν … πολλάκιϲ δέ, vgl. Plut. mor. 2.23, der den unter Ptolemaios I. und II. lebenden ägyptischen Priester Manethon zitiert [FGrHist IIIC 609 F. 21]). Ähnlich betont auch Lukrez (6.1042 f.) die Ungleichzeitigkeit der beiden Vorgänge: Fit quoque ut a lapide hoc ferri natura recedat /interdum, fugere atque sequi consueta vicissim („Es kommt bisweilen auch vor, dass die Natur des Eisens vor diesem Stein zurückweicht, gewohnt, im Wechsel zu fliehen und zu folgen.“). In Poseidipps Beschreibung erscheinen das Anziehen und Abstoßen hingegen als (theoretisch) gleichzeitige Abläufe, da sie sich an zwei verschiedenen Seiten des Steins vollziehen (V. 3–5). Die Kenntnis eines solchen Steins ist erst im 5. Jh. n. Chr. bei Marcellus Empiricus De medicamentis 1.63 (CMG V [Liechtenhan, 1968], 60.2–5]) bezeugt: Als Heilmittel gegen Kopfschmerzen empfiehlt er einen Magnetstein, der antiphyson genannt wird und Eisen sowohl anzieht wie abstößt (magnetes lapis, qui antiphyson dicitur, qui ferrum trahit et abicit). Eine weitere Erwähnung eines Steins mit sowohl anziehenden als auch abstoßenden Kräften findet sich im 6. Jh. n. Chr. bei Johannes Philoponos (in Ph. 403.24; zu den antiken Vorstellungen vom Magnetismus vgl. ed. pr. 126 f., Bing 2005, 133 f.; Rommel 1928, 474 – 486; Radl 1988, 7). — θαυμάϲιον: Zum Topos des „Wunders“ bzw. des „Staunens“ in den Lithika vgl. 8.7, 13.2, 15.7 sowie die Einl. zur Sektion. Im vorliegenden Epigramm wird das Motiv in V. 5 wieder aufgenommen. V. 3 τῆιδε μὲν: Die Junktur korrespondiert mit τῆ‹ι›δε δ’ im folgenden Vers; beide werden erst in V. 5 durch πλευρῆι ergänzt. Die Pronomina weisen im Anschluss an die Aufforderung ϲκέψαι, mit der das Epigramm beginnt, deiktisch auf die beiden Seiten des Steins hin, als ob dieser nicht nur dem Sprecher, sondern auch dem Leser des Gedichts unmittelbar vorläge. Theoretisch ließen sich τῆιδε μὲν und τῆ‹ι›δε δ’ auch durch δυνάμει ergänzen und als Ausdifferenzierung der unmittelbar zuvor herausgestellten „doppeltem Wirkkraft“ (διπλῆι … δυνάμει̣) des Steins verstehen. Dann wäre jedoch der Bezug von πλευρῆι in V. 5 unklar. Dasselbe Problem ergibt sich, wenn man τῆιδε μὲν … τῆιδε δ’ im Sinne einer adverbiellen Unterscheidung (‚einerseits … andererseitsʻ) auffasst. Gegen diese Lösung (vgl. z. B. ed. min.; Angiò 2001a) spricht vor allem auch, dass τῆιδε μὲν … τῆιδε δ’ anstelle von τῆι μὲν … τῆι δέ erst sehr spät (z. B. bei Iamblich) und nur einige wenige Male belegt ist. — τὸν ἀντήεντα ϲίδη̣ρον: ist ἀπὸ κοινοῦ sowohl Objekt von ἕλκει als auch von ἐλᾶι. Die beiden Prädikate geben an, was der Stein mit dem ihm ‚begegnendenʻ bzw. ‚in den Weg kommendenʻ Eisen macht. Dieser Sachverhalt wird am besten durch ἀντήϲοντα, Lapinis Verbesserung des Papyrus-Textes αντηοντα, ausgedrückt. Die Verschreibung erklärt Lapini 2003b, 44 als Haplographie, die (ebenso wie Dittographie) bei Aufeinanderfolge der ähnlich aussehenden Buchstaben ε, ϲ, ο einige Male auf dem Papyrus vorkommt. Das Futur ist an dieser Stelle zwar unerwartet, verzerrt aber nicht den Sinn. Ob dagegen ἀντήειϲ, von dem sich die im abgedruckten Text übernommene Konjektur der ed. pr. ἀντήεντα ableitet, überhaupt die an dieser Stelle geforderte Bedeutung haben kann,

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ist fraglich: Zwar liegt der Sinn etymologisch nahe; das Adjektiv ist allerdings nur einmal in seiner dorischen Form ἀντάειϲ bezeugt (Pind. Pyth. 9.93) und hat dort die hier unpassende Bedeutung „feindlich“. V. 4 μάγνηϲ οἷα λίθοϲ: Die Bezeichnung magnes (lapis) leitet Plinius – im Anschluss an Nikander – von dem Namen seines Entdeckers ab, einem Hirten, der ihn zufällig auf dem Berg Ida in der Troas findet, als die Nägel seiner Sandalen und die Spitze seines Speeres daran hängen bleiben (nat. 36.127). Laut Plinius ist der Magnet das wundersamste Objekt der Natur, da es das stärkste Material der Natur, das ansonsten alles beherrschende Eisen, anzuziehen vermag: Es springt heran, sobald es dem Magnetstein näher kommt und wird von ihm festgehalten (nat. 36.127). Überdies habe der Magnetstein, so Plinius, die Fähigkeit, Eisen selbst zu magnetisieren und es zu „lebendigem Eisen“ (ferrum vivum) – so die Bezeichnung des „unerfahrenen Volkes“ – zu machen (nat. 34.147). Plinius’ Ansicht spiegelt die der Mehrheit der antiken Quellen über Magnete: Sie werden zumeist als ‚anziehendeʻ Körper beschrieben. V. 5 πλευρῆι: ergänzt ἀπὸ κοινοῦ das antithetische τῆιδε μὲν … τῆ‹ι›δε δ’ und bezeichnet mit den beiden Seiten des Steins das, womit er anzieht und wegstößt. Wenn man πλευρῆι allein von dem folgenden ἐναντιοεργόϲ abhängig macht und folglich unmittelbar zuvor, d. h. am Ende von V. 4, interpungiert, ist unklar, welche Seite mit πλευρῆι gemeint ist (s. das Lemma τῆιδε μὲν). — ἐναντιοεργόϲ: Das Adjektiv ist zwar sonst nicht bezeugt, ergibt aber guten Sinn (ὁ ἐναντία ἐργαζόμενοϲ, ed. pr.), wenn man es in der von der ed. pr. konjizierten Form prädikativ auf den Stein bezieht: Es beschreibt die zweite Wirkung des Steins, das Abstoßen des Eisens, als eine, die der ersten, dem Anziehen, entgegenwirkt. Gegen die überlieferte Form ἐναντιοεργέϲ spricht zweierlei: Zum einen könnte die Form hier nur als Adverb fungieren, von dem ein instrumentaler Dativ (πλευρῆι) abhängig gemacht werden müsste; zum anderen haben zusammengesetzte Adjektive auf -ήϲ, -έϲ gewöhnlich passive oder intransitive Bedeutung, während hier ein aktiver Sinn erforderlich ist (vgl. ed. pr.). Zu ἐναντιοεργόϲ vgl. die formal ähnliche Neuschöpfung τειρατοεργόν, die die Erstherausgeber in 19.10 anstelle des überlieferten Textes τερραγοεργον konjiziert haben. — ὃ καὶ τέραϲ: Der elliptische Ausdruck findet sich auch in 8.7 an gleicher Versposition; eine ähnliche Formulierung (ἧι καὶ θαῦμα) leitet das abschließende Distichon des 15. Epigramms ein. Das καί lässt – wie in 8 – ein neues Wunder (d. h. ein weiteres, zusätzlich zu einem bereits genannten) erwarten; es impliziert aber nicht notwendigerweise einen völlig neuen wundersamen Aspekt. Ähnlich wie in 15.5 (s. Komm.) verschiebt das letzte Distichon des vorliegenden Epigramms den Akzent nur ein wenig gegenüber dem vorher Gesagten: Bereits V. 2 wird die „doppelte Kraft“ des Steins als „wundersam“ (θαυμάϲιον) hervorgehoben. Im Folgenden wird beschrieben, worin sie besteht. Der überlieferte Text des letzten Distichons, der einige Schwierigkeiten bereitet (s. u.), scheint insofern etwas Neues zu bieten, als er dem Stein nicht nur zweierlei Kräfte zuschreibt, sondern die Nachahmung zweier Steine, die sich nach bisheriger Kenntnis durch je eine dieser Kräfte auszeichnen (vgl. dagegen die ed. pr., die κινεῖ καὶ anstelle von μιμιται vorschlägt, um aus dem letzten Distichon einen neuen Aspekt herauslesen zu können [s. u.], und Ferrari 2005, 189, der καὶ nicht mit „auch“, sondern mit „gerade“ [„proprio“, „appunto“] übersetzt). — ἐξ ἑνὸ̣ ϲ̣ ̣ … ου: Der Ausdruck gehört proleptisch bereits zu der indirekten Frage, die im nächsten Vers durch πῶϲ eingeleitet wird. Dies legt der Vergleich mit 8.7 f. nahe, wo die Feststellung ὃ καὶ τέραϲ durch einen unmittelbar angeschlossenen indirekten Fragesatz (εἰ) ergänzt wird. ἑνὸϲ steht offenbar im Gegensatz zu δύο im folgenden Vers; entsprechend ist zu ἑνὸϲ gedanklich χερμάδοϲ

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oder λίθου zu ergänzen. Der Präpositionalausdruck ἐξ ἑνὸϲ dürfte adverbiell zu verstehen sein: „Er ahmt allein, d. h. als nur ein Stein, zwei Steine nach.“ Dieser Gebrauch der Präposition ἐκ ist kausal bzw. instrumental (LSJ A.III.6); vergleichbare, zum Teil bereits phraseologisch gewordene Verbindungen aus ἐκ und neutrischem Adjektiv sind z. B. ἐξ ἀγχιμόλοιο i. S. v. ἀγχίμολον (Il. 24.352), ἐκ τοῦ φανεροῦ und ἐξ ἴϲου. Von dem letzten Wort des Verses ist in jedem Fall die Genitivendung -ου deutlich lesbar, die das Wort als zu ἑνόϲ gehörig markiert; die ed. pr. liest ein schwach erkennbares α̣ὐ̣τ̣οῦ, das ἑνὸϲ gegenüber δύο in geeigneter Weise betont: Er „ganz allein“ (ἐξ ἑνὸϲ αὐτοῦ) ahmt zwei Steine nach. V. 6 δύο μιμ‹ε›ῖται χερμάδαϲ εἰϲ προβολάϲ: Da die Bedeutung von εἰϲ προβολάϲ am Ende des Verses unklar ist, kann der Sinn des ersten Teils des Verses nur unter Vorbehalt bestimmt werden: Das Prädikat des indirekten Fragesatzes dürfte μιμ‹ε›ῖται (‚er ahmt nachʻ) sein, wenngleich sich ein derartiger Iotazimus – überliefert ist μιμιται – nur ein weiteres Mal auf dem Papyrus findet (37.8 μ‹ε›ίλια). Subjekt von μιμ‹ε›ῖται ist zweifellos wie im vorigen Satz der wundersame Stein. Er ahmt ‚zwei Steineʻ nach – χερμάϲ ist eigentlich der ‚Wurfsteinʻ, dürfte hier aber im generischen Sinne von ‚Steinʻ verwendet sein (Esposito 2002, 173). Welche Steine gemeint sind, legt der Kontext nahe: Die schon durch die Stellung suggerierte Verbindung δύο χερμάδαϲ bildet mit ἑνὸϲ αὐτοῦ eine plausible Antithese. Der eine Stein, der anzieht und abstößt, ahmt eben darin die Steine nach, die jeweils nur eine dieser Fähigkeiten besitzen. δύο μιμ‹ε›ῖται χερμάδαϲ ist also die theoretische Abstraktion der ausführlichen Beschreibung des erstaunlichen Phänomens ἕλκει /ἐλᾶι ϲίδη̣ρον. – Wie aber fügt sich der Schluss εἰϲ προβολάϲ in den bis hierhin klaren Gedanken ein? προβολή ist allgemein entweder das ‚Vorwärtsbewegen‘ oder ‚das, was vorsteht‘ bzw. ‚vorn übersteht‘ (LSJ A). In 15.6 bezeichnet das verwandte προβόλουϲ vermutlich die konvexen Formen einer Gravur; bei der Beschreibung des vorliegenden, nicht künstlerisch bearbeiteten Steins könnte sich προβολάϲ auf den Stein selbst beziehen und sein Äußeres, d. h. das, was an ihm nach vorn steht bzw. sich nach vorn richtet, meinen. In diesem Sinne kann προβολάϲ vielleicht als Variation des zuvor genannten Begriffs πλευρῆι verstanden werden. Während πλευρῆι je eine der beiden unterschiedlich wirksamen Seiten eines Steins meint, bezieht sich προβολάϲ jeweils auf die gesamte Oberfläche eines der beiden verglichenen Steine. Diese Deutung liegt auch deswegen nahe, weil in diesem Gedicht alle wichtigen Begriffe durch Synonyme oder bedeutungsähnliche Termini variiert werden (s. Interpr.; vgl. Angiò 2001a, Anm. 7). εἰϲ kann im Anschluss an μιμεῖται nur relational verstanden werden und den Bezug bzw. den Bereich der Nachahmung angeben (vgl. Angiò 2001a, 249, „in relazione a“, „per quanto riguarda“; sie verweist hierfür auf die Parallele ἐϲ πόλεμον in 31.2): Der Stein imitiert die zwei Steine „in ihrer Ausrichtung nach vorn“, also hinsichtlich der Wirkungen – des Anziehens und Abstoßens – des jeweiligen Steinäußeren. Da diese Deutung von εἰϲ προβολάϲ, wie die Übersetzungen der ed. min. zeigen („in their forward projections [?]“, „nello slancio [?]“), alles andere als sicher ist, erscheint ein leichter Eingriff in den Text, wie ihn Ferrari 2005 mit seiner Konjektur des Dativs προβολαῖϲ anstelle des überlieferten Akkusativs προβολάϲ vorgeschlagen hat, sinnvoll. Damit einher geht die veränderte Deutung der vorangehenden drei Buchstaben, die dann nicht als Präposition (εἰϲ), sondern als Zahlwort (εἷϲ) aufzufassen sind: Das Wunder bestünde demnach darin, „wie ein einziger (sc. Stein) zwei Steine mit ihren Vorsprüngen nachahmt“ („come da sola imiti con le sue spinte due pietre.“). Ferrari versteht προβολαῖϲ offenbar als instrumentalen Dativ mit metaphorischer Bedeutung („spinte“, „Schübe, Stöße, Impulse“). Der Vorteil von Ferraris Deutung bestünde darin, dass sie ohne die merkwürdige Junktur εἰϲ προβολάϲ auskommt und die Antithese zwischen dem einen Stein und seiner doppelten Wirkung (δύο χερμάδαϲ … εἷϲ) stärker betont als die zuvor besprochenen

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Interpretationen, die den Gegensatz allein in ἑνόϲ im vorangehenden Vers gegenüber δύο sehen. In Ferraris Deutung gehört ἐξ ἑνὸϲ αὐτοῦ hingegen nicht zum indirekten Fragesatz, sondern schließt direkt an ὃ καὶ τέραϲ an: ed è proprio un prodigio tutto suo („und es ist ein Wunder ganz besonderer Art“). Wenngleich Ferraris Konjektur den Text des letzten Distichons verständlich macht, bleibt der Einwand der Erstherausgeber bestehen, dass die letzten beiden Verse keinen inhaltlichen Fortschritt gegenüber der vorangehenden Beschreibung des wundersamen Steins bieten. Sie schlagen deshalb einen stärkeren Eingriff in den Text vor: κινεῖ καὶ anstelle von μιμιται. Der neue wundersame Aspekt bestünde dann darin, dass der Stein nicht nur Eisen, sondern sogar Steine in zwei Richtungen bewegen, also anziehen und wegstoßen könne (vgl. die Übersetzung: „ed anche questo è un prodigio che si manifesta in quest’ unica pietra, come possa muovere anche i sassi in due direzioni [?]“). Gegen diese Interpretation, von der auch die Erstherausgeber, wie das Fragezeichen hinter der Übersetzung zeigt, nicht überzeugt sind, spricht vor allem, dass die ihr zugrunde liegende Vorstellung, Magneten oder magnetähnliche Steine zögen andere Steine und nicht Metall bzw. Eisen an, im Widerspruch nicht nur zur modernen, sondern auch zur antiken Kenntnis steht (vgl. Livrea 2002). Rekonstruktionsvorschlag ϲκέψαι ὁ Μύϲιοϲ οἷον ἀνερρίζωϲεν Ὄλυμποϲ τόνδε λίθον διπλῆι θαυμάϲιον δυνάμει· τῆιδε μὲν ἕλκει ῥεῖα τὸν ἀντήϲοντα ϲίδηρον μάγνηϲ οἷα λίθοϲ, τῆιδε δ’ ἄπωθεν ἐλᾶι πλευρῆι ἐναντιοεργόϲ· ὃ καὶ τέραϲ ἐξ ἑνὸϲ αὐτοῦ πῶϲ δύο μιμεῖται χερμάδαϲ εἷϲ προβολαῖϲ. Betrachte diesen Stein, was für einer er ist, den der Mysische Olymp aus der Erde riss, wundersam durch ein doppeltes Vermögen: Mit der einen Seite zieht er leicht das ihm begegnende Eisen an wie ein Magnet, mit der anderen Seite stößt er es von sich ab, das Gegenteil bewirkend; dieses ist auch ein Wunder ganz besonderer Art, wie ein Stein zwei Steine mit ihren Impulsen nachahmt. Im Zentrum des Gedichts steht die doppelte Wirkung, die der unbenannte Stein durch seine beiden Seiten entfaltet: Mit der einen zieht er mühelos Eisen an, mit der anderen stößt er es von sich. Der Stein vereint also nicht nur verschiedene, sondern sogar gegenteilige Wirkungen. Das ganze Epigramm ist durch das große Erstaunen des Sprechers über die außergewöhnlichen Kräfte des Steins geprägt: So rahmt denn auch die Vorstellung eines „Wunders“ (θαυμάϲιον/τέραϲ) die Beschreibung dessen ein, was der Stein vermag. Das Staunen zu Beginn des Gedichts über die „doppelte Wirkkraft“ dürfte das Ende des Epigramms dahingehend akzentuieren, dass diese sich in einem einzigen Stein befindet. Das Motiv der Gegensätzlichkeit wird sprachlich durch Antithesen betont (διπλῆι / δύο vs. ἐξ ἑνόϲ, τῆιδε μὲν vs. τῆιδε δ’, ἕλκει vs. ἑλᾶι), das der ‚Zweiheit in Einemʻ mittels der Variation diverser Termini durch ihre Synonyme (οἷον vs. πῶϲ, λίθον vs. χερμάδαϲ, διπλῆι vs. δύο, θαυμάϲιον vs. τέραϲ, πλευρῆι vs. προβολαῖϲ, ἀντη‹ε›ντα vs. ἐναντιοεργόϲ; vgl. Angiò 2001a, 248 f.). Ähnlich wie das 13. Epigramm verbindet auch dieses die sachlich interessierte Beobachtung von Steinen mit dem Topos des „Wunders“. Dass der Beschreibung des Phänomens nicht, wie in 13, auch eine Erläuterung folgt, dafür aber das Erstaunen umso stärker betont wird,

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liegt offenbar an der Neuheit des Phänomens der gleichzeitigen Anziehung und Abstoßung von Eisen. Zumindest in der uns erhaltenen Literatur ist Poseidipp der erste, der einem Stein nicht nur beide Fähigkeiten zuschreibt, sondern sie sogar an den entgegengesetzten Seiten des Steins lokalisiert und damit implizit die Tatsache erklärt, dass der Stein prinzipiell beide Kräfte zugleich besitzt. Poseidipp beschreibt ein Novum, einen namenlosen, weil bisher unbekannten, Stein und ist mit seiner Darstellung vielleicht sogar der technischen Literatur voraus. Die Ursache der „doppelten Kraft“: die Dipolarität magnetisierter Körper, kennt Poseidipp allerdings ebenso wenig wie spätere Autoren, die vereinzelt Steine nennen, die zugleich Eisen anziehen wie abstoßen. 18 Inhalt und Aufbau der acht Verse sind aufgrund ihres schlechten Überlieferungszustandes unsicher. Es ist nicht auszuschließen, dass es nicht um ein, sondern um zwei Epigramme von jeweils vier Versen handelt. Das Erhaltene nennt keinen Stein; die Maßangaben, die den zweiten Teil des Textes dominieren, lassen aber auf einen – möglicherweise steinernen – Gegenstand schließen, der offenbar in einem symposiastischen Kontext beschrieben wird. In den ersten beiden Versen adressiert ein epigrammatisches Ich, dessen Identität die Fragmente nicht verraten, eine Gruppe von Personen; der erhaltene Text der Verse 3–8 lässt keinen Sprecher erkennen. III 20 δεῦ]τ’ ἐπ’ ἔμ’, ἐννέα φῶτεϲ̣, ἀνακλίνθητε̣ δ̣[…..]ε̣ιϲ̣.· 1 21 ..].ω γὰρ ἐγὼ τρεῖϲ .[…..].λι.[ 2 22 .οἰνο]χόωι ϲὺν παιδὶ μ[….] ἀ̣ποδ̣..[ 3 23 ῥηϊ]δίωϲ ἕκχουν δεξ[…. ἀ]μφο̣ρέα· 4 24 ἠνί]δε· τῆι μὲν πεντα[….] πά̣χ̣οϲ, ἧι δεδ̣[ 5 25 τῆ]ι δὲ τριϲπίθαμοϲ τ[.….] πιότ̣[ε]ροϲ 6 26 .] τετραγλώχιϲ πλε[…. ἐ]πὶ μῆκοϲ ε.[ 7 27 τῆι] μ̣ὲν ἐφ’ ἓξ προϲθε.[….]ε̣ϲι, τῆι δ’ ἀφ[ 8 20 δ̣’ [ἀολλ]ε̣ῖϲ̣ Austin 2001a, ed. min. : κ̣[ατὰ τρ]ε̣ῖϲ̣ Luppe 2002g : δ̣’ [ἐπὶ τρ]ε̣ῖϲ̣ Lapini 2007 21 ]η̣ω potius quam ]ϲ̣ω (εἰϲ] ἠ̣ῶ? ed. pr., min.) : ἐμπί]ϲ̣ω γὰρ De Stefani 2003  ε̣[ vel θ̣[ et ]κ̣ vel ]ϲ  λι.[: fort. λιθ̣ε̣[ ed. pr., min. : ἑ̣[τάρου]ϲ λιθ̣έ̣[ουϲ Ferrari 2005  ἐξίϲ]χ̣ω γὰρ ἐγὼ τρεῖϲ ἐ̣[φέδρα]ϲ̣ λιθ̣έ̣α̣[ϲ e.g. Luppe 2002g 22 μ[έθηϲ] Austin 2001a, def. Luppe 2002g  ἀ̣ποδ̣ώ̣τ̣[ορα τερπνῆϲ Austin 2001a (def. Luppe 2002g) : ἀ̣ποδ̣ώ̣τ̣[οραϲ ἴϲχων Ferrari 2005 23 δέξ[ομαι ἀ] μφο̣ρέα Austin 2001a, ed. min. : δ’ ἕξ[ομεν ἀ]μφο̣ρέα Lapini 2007 24 incipit novum carmen, ut videtur Ferrari per litt.  πεντά[πεδοϲ] ed. pr., min. : πέντ’ ἀ[γγέων] vel πέντ’ ἀ[νδρῶν] vel πέντε [ποδῶν] Fantuzzi 2002, Casanova 2004 : πεντα[χερὲϲ] Luppe 2002g  δέδ̣[εθ’ ἁρμόϲ vel ἡθμόϲ Austin 2001a : δέδ̣[οταί τι Luppe 2002g 25 τριϲπίθαμον Luppe 2002g  τ[ῆι πολὺ] πιότ̣[ε]ροϲ Austin 2001a, ed. min. : τ[ῆι δ’ ἔτι] πιότ̣[ε]ρον Luppe 2002g 26 καὶ] τετραγλώχιϲ πλε[ῖον δ’ ἐ] πὶ μῆκοϲ ἐτ̣ά̣[χθη e.g. Austin 2001a (καὶ] solum ed. min.) : καὶ] τετραγλώχιϲ πλε[ίων ἐ]πὶ μῆκοϲ ἑκ̣[άϲτη e.g. Luppe 2002g 27 πρόϲθεϲ̣ [πήχ]ε̣ϲι … ἄφ[ελε ed. pr., def. Luppe 2002g  ἐφ’ [ἑνί ed. pr. 26–27 ἡ δὲ] τετραγλώχιϲ πλε[υρὴ ἐ]πὶ μῆκοϲ ἐπ̣ῆ̣[λθε | τῆι] μ̣ὲν ἐφ’ ἓξ πρόϲθεν̣ [πήχ]ε̣ϲι, τῆι δ’ ἀφ’ [ἑνόϲ e.g. De Stefani 2003

(Hierher) zu mir, ihr neun Männer, lehnt euch zurück […] […] denn ich drei […]

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zusammen mit dem Knaben, der (den Wein) einschenkt […] (leicht) eine Amphore, die sechs Chous (ca. 20 Liter) fasst […] (Schaut!) Hier fünf[…] dick, wo […] und (hier) dreispannig […] fetter […] viereckig […] (in der) Länge (hier) zu sechs […], und hier […] V. 1 δεῦ]τ’ ἐπ’ ἔμ’: Das nach einer Lücke erhaltene ‚zu mirʻ kann sich inhaltlich nicht an den Imperativ ἀνακλίνθητε (‚lehnt euch zurückʻ) anschließen, sondern stellt vermutlich eine elliptische Aufforderung an die apostrophierten „neun Männer“ – analog zu ἀνακλίνθητε – dar: „‹Kommt› zu mir!“ — ἐννέα φῶτεϲ̣: Denkbar wäre, dass Poseidipp hier wie Kallimachos Artem. 193 den homerischen Gebrauch von ἐννέα aufgreift und die Zahl Neun zur Bezeichnung einer beliebigen größeren Menge verwendet (LSJ 2; Bornmann 1968, 92; ed. pr. 128). Auch an der einzigen Stelle, an der ἐννέα wie hier in Verbindung mit φώϲ vorkommt, Hom. Il. 18.785, ist das Zahlwort offenbar in diesem allgemeinen Sinne gebraucht: τρὶϲ δ’ ἐννέα φῶτεϲ ἔπεφνεν („dreimal neun Männer erschlug er“). Da die Junktur im vorliegenden Epigramm aber im Kontext mehrerer anderer konkreter Zahlenangaben erscheint, ist es wahrscheinlicher, dass der Sprecher nicht unspezifisch eine größere Gruppe von Leuten, sondern exakt neun Männer anredet. — δ̣[….]ε̣ιϲ̣·: Austins Vorschlag δ̣’ [ἀολλ]ε̣ῖϲ̣ („alle zusammen“) scheint passender als die Konjekturen von Luppe (2002g, 142: κ̣[ατὰ τρ]ε̣ῖϲ̣, „zu dritt“), oder, in ähnlichem Sinne, Lapini (2007, 205: δ̣’ [ἐπὶ τρ]ε̣ῖϲ̣); diese gehen von einer Verteilung der apostrophierten neun Männer in drei Gruppen auf drei Couchs aus, müssen aber dafür eine Wiederholung von τρεῖϲ im selben Distichon und vor allem den Widerspruch zur bezeugten Praxis – üblich waren zwei Symposiasten pro Kline – in Kauf nehmen. Eine sichere Entscheidung über das Versende kann nicht getroffen werden. V. 2 ].ω: Der Versanfang ist bis auf ein ω vor dem folgenden γάρ nicht erhalten. Die ed. pr. deutet die Reste des Buchstabens vor ω entweder als η oder als ϲ, wobei sie die erste Lesart für wahrscheinlicher hält. ]ϲ̣ω ließe sich als Endung einer 1. Ps. Sg. Fut. deuten, deren Subjekt durch ἐγώ explizit benannt würde (ed. pr. 129). Bei η̣ω könnte es sich um den Akkusativ von ἠώϲ (‚Morgendämmerungʻ) handeln; möglicherweise spricht das epigrammatische Ich im Kontext des Symposiums davon, dass es eine Tätigkeit „bis zur Morgendämmerung“ (εἰϲ ἠ̣]ῶ) vollzieht (ed. pr. 129; Ferrari 2005, 191 f.). Eine interessante Parallelle bietet ein Epigramm eines Zeitgenossen Poseidipps, Hedylos 6 Gow-Page (Ath. 11.473a), in dem ein Sokles, der Tag und Nacht trinkt, gerühmt wird, „süßer“ als Asklepiades dichten zu können. Das erste Distichon des Epigramms (ἐξ ἠοῦϲ εἰϲ νύκτα καὶ ἐκ νυκτὸϲ πάλι Ϲωκλῆϲ / εἰϲ ἠοῦν πίνει τετραχόοιϲι κάδοιϲ, „von Sonnenaufgang bis in die Nacht und wiederum von der Nacht bis zum Sonnenuntergang trinkt Sokles aus Gefäßen, die vier χόεϲ fassen“; vgl. dazu das Lemma ἕκχουν … ἀ]μφο̣ρέα), klingt an zwei Stellen im vorliegenden Epigramm an: Zum einen erschiene, wenn die Konjektur das Richtige trifft, in beiden Epigrammen jeweils zu Beginn von V. 2 die Formulierung „bis zum Morgengrauen“ (εἰϲ ἠοῦν /εἰϲ ἠ]̣ ῶ); zum anderen wird jeweils ein Gefäß genannt, dessen Fassungsvermögen mithilfe der Einheit χόεϲ angegeben wird (Ferrari 2005, 191 f.). Im Hinblick auf diese wörtlichen Anklänge ist es bemerkenswert, dass sich hinter dem Namen Sokles in Hedylos’ Epigramm möglicherweise Poseidipp verbirgt: Angiò vermutet, dass das florentinische Scholion zum Aitienprolog (fr.1 Pfeiffer) neben dem Pseudonym des Asklepiades „Sikelides“, unter dem dieser in Hedyl. 6.4 Gow-Page figuriert, auch „Sokles“ als

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Poseidipps Alternativnamen nennt (Ποϲειδίππωι τῶι ὀνο[μαζομ(έν)ωι Ϲωκλεῖ, MH 60 [2003], 6–21, hier 18–20). Wenn Hedylos mit dem Namen Sokles tatsächlich keinen unbekannten oder fiktiven Dichter, sondern Poseidipp bezeichnet, würde dieser im vorliegenden Gedicht darauf reagieren, dass er von Hedylos als ein Dichter dargestellt wird, der Tag und Nacht trinkt (vgl. Interpr.; Ferrari 2005, 191 f.). — τρεῖϲ .[…].: Es ist unklar, worauf sich die zweite Zahlenangabe des Gedichts bezieht, da der Vers danach eine größere Lücke aufweist, in der man vielleicht das Bezugswort von τρεῖϲ erwarten könnte. Abhängig davon, wen oder was man als Sprecher des Epigramms ansieht, lassen sich Spekulationen darüber anstellen, über welche „drei“, vermutlich „steinernen“, Objekte (vgl. das Lemma λι.[ ) das epigrammatische Ich hier spricht. Eine plausible, aber rein hypothetische Lösung ist ἑ[̣ τάρου]ϲ, das Ferrari (2005, 191) ausgehend von der Annahme konjiziert, dass der Sprecher ein Symposiumskrater ist (vgl. ed. pr. 129). Dieser habe „drei steinerne Gefährten“; d. h. dem Krater wären drei weitere Gefäße zur Seite gestellt, die dem Weinschenk dazu dienten, die Mischung aus Wasser und Wein in die Becher der Anwesenden zu füllen (Ferrari 2005, 191). — λι.[: Hinter den beiden erhaltenen Buchstaben sind vielleicht zwei weitere (θ̣ε̣) lesbar: λιθ̣ε̣[ könnte zu einer Form des homerischen Adjektivs λίθεοϲ (‚steinernʻ, Il.23.202; Od.13.107) ergänzt werden (ed. pr. 129; z. B. Ferraris auf ἑ̣[τάρου]ϲ bezogenes λιθ̣έ̣[ουϲ), das gleichbedeutend mit dem späteren λίθινοϲ ist; in den Lithika ist keine der beiden Formen bezeugt. Das Adjektiv erscheint dennoch hier sehr plausibel, da sich in den meisten Epigrammen der Gruppe der Steingedichte λίθοϲ (‚Stein‘) bzw. ein davon abgeleitetes Wort findet (vgl. Einl. zur Sektion, S. 19). Das Adjektiv bezöge sich möglicherweise auf ein Substantiv, das zugleich durch τρεῖϲ im selben Vers charakterisiert wird und daher im Akk. Pl. Fem. oder Mask. in der Lücke zwischen beiden Bestimmungen vermutet werden kann (ed. pr. 129). V. 3 οἰνο]χόωι ϲὺν παιδὶ: Die Ergänzung der ed. pr. ist so gut wie sicher. οἰνοχόοϲ (‚Mundschenk‘, ‚Weinschenk‘) kann als ‚Berufsbezeichnung‘ entweder allein stehen oder wie an der vorliegenden Stelle in Verbindung mit einem Wort, das Alter und Stand des Mundschenks anzeigt, wie hier παῖϲ (vgl. Hdt. 3.34; Plat. Kritias 33d; Theokr. eid. 15.124) oder θέραψ (Ion, eleg. 2.2); vgl. den Komm. zu 9.1 ἀνδρὸϲ ἀοιδοῦ. Der Anschluss des gesamten Ausdrucks an ἐγώ im vorangehenden Vers liegt nahe. — μ[….] ἀ̣ποδ̣.[: Die zweite Hälfte von V. 3 ist stark zerstört. Sowohl ed. pr. als auch Ferrari (2005) ergänzen das erhaltene μ zu μ[έθηϲ] („der Trunkenheit“) und die darauffolgende Buchstabenfolge zu einer Form des hapax ἀποδώτωρ („Geber, Spender“). Austin (2001a, 129) fasst μ[έθηϲ] ἀ̣ποδ̣ώ̣τ̣[ορα als Apposition zu ἕκχουν … ἀ]μφορ̣ έα im folgenden Vers auf und konjiziert am Versende τερπνῆϲ als Attribut zu μ[έθηϲ] („eine Amphore mit sechs χόεϲ, eine Spenderin angenehmer Trunkenheit“); Ferrari schlägt den prädikativen Akk. Pl. ἀ̣ποδ̣ώ̣τ̣[οραϲ vor, den er wie das von ihm konjizierte Objekt τρεῖϲ ἑ̣[τάρου]ϲ λιθ̣έ̣[ουϲ (vgl. die Lemmata τρεῖϲ .[….]. und λι.[) von einem am Ende von V. 3 ergänzten Partizip ἴϲχων abhängen lässt. Beide Ergänzungen des Verses werden erst durch Austins Vervollständigung des Hauptsatzes V. 4, der Ferrari sich anschließt, verständlich: „Eine Spenderin angenehmer Trunkenheit: eine Amphore, die zwanzig Liter fasst, werde ich [ein Krater] leicht in Empfang nehmen.“ (Austin, 2001a) bzw. „Bis zur Morgendämmerung werde ich [ein Krater], der ich drei steinerne Gefährten zusammen mit einem Mundschenk habe, leicht eine Amphore, die zwanzig Liter fasst, in Empfang nehmen.“ (Ferrari 2005). — ῥηϊ]δίωϲ: Zur Ergänzung der erhaltenen Buchstaben am Versanfang kommen – nach Ausschluss von δεδιώϲ, ἰδίωϲ und ῥᾳδίωϲ aus metrischen Gründen – nur die episch-ionische Form ῥηϊδίωϲ (‚leicht‘) oder ἀϊδίωϲ (‚ewig‘) in Frage. Da aufgrund des fragmentarischen Zustandes des Verses unklar ist, welcher Vorgang hier durch ein Adverb bestimmt wird, kann keine endgültige Entscheidung

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getroffen werden. — ἕκχουν … ἀ]μφο̣ρέα: Das Adjektiv ἕκχουϲ, das die nach einer Lücke (vgl. das Lemma δεξ[) genannte Amphore charakterisiert, ist bislang nicht bezeugt, seine Wortbildung und Bedeutung lassen sich aber leicht erschließen: Es setzt sich aus dem Zahlwort ἕξ und der Maßeinheit χοῦϲ zusammen (zur Vorsilbe ἑκ- und den Alternativen ἑξ- bzw. ἑξα- vgl. Threatte 1980, 587). Hier stellt es offenbar den Anfang einer Reihe von analog gebildeten hapax legomena dar, mit denen Poseidipp am Ende der Lithika Maße von Gegenständen angibt (vgl. 19.5: ἡμι]πλεθραίην, 19.13: τετρακαιεικοϲίπηχυν u. 20.3: ἑκατόργυοϲ). Das Hohlmaß Chous umfasst ca. 3.3l. Das nach einer Lücke folgende ἀμφορέα kann hier nicht im technischen Sinne als Maßeinheit (LSJ A.II) gebraucht sein, da ein Amphoreus 12 Chous fasst; es muss sich also um ein konkretes Gefäß handeln. In Austins Vervollständigung des Verses (vgl. das Lemma δεξ[) ist diese Amphore nicht das sprechende Trinkgefäß aus Stein selbst, sondern ein weiteres, imaginiertes Behältnis, das als indirektes Vergleichsobjekt für das behandelte Objekt dient („ich [ein Krater] werde leicht [sc. den Inhalt] eine[r] 20l fassenden Amphore aufnehmen“). Das entspricht dem durchschnittlichem Fassungsvermögen (20–25l) von Amphoren aus klassischer und hellenistischer Zeit (OCD s.v. „amphorae and amphorae stamps, Greek“). — δεξ[: Austins Konjektur δέξ[ομαι (‚ich werde aufnehmenʻ) erscheint im Anschluss an V. 1 ἐμ’ und V. 2 ἐγώ sinnvoll. Als Sprecher vermutet er einen Krater, der nach der Adressierung der Symposiumsteilnehmer in V. 1 hier sein Fassungsvermögen angäbe. Nicht auszuschließen sind aber die alternativen Lesarten δ’ ἐξ und δ’ ἑξ. Entscheidet man sich für eine von diesen, kann der Satz aufgrund der festgelegten Satzposition von δέ erst mit dem unmittelbar vorangehenden ἕκχουν beginnen. Denkbar ist δ’ ἕξομεν („Wir werden [sc. eine Amphore] haben“, Lapini 2007). V. 5 ἠνί]δε·: Austins Konjektur (‚Schaut her!ʻ, 2001a) ist die allgemein akzeptierte Ergänzung des Versbeginns. Die Interjektion dürfte eher zum zweiten Abschnitt des Epigramms überleiten (ed. pr.; ed. min.) als ein neues Gedicht beginnen (Ferrari per litt.). Nachdem der Sprecher, möglicherweise ein Krater (ed. pr.), im ersten Teil eine Gruppe aufgefordert hat, zu ihm zu kommen (V. 1), und vielleicht eher allgemeine, funktionale Informationen über seine Größe gegeben hat (V. 4), könnte er durch ἠνί]δε die Anwesenden auffordern, nun, nachdem sie nähergetreten sind, genau hinzuschauen, um die Maße, die der Sprecher im folgenden offenbar von sich nennt, zu verifizieren. Eine explizite Aufforderung, einen vorliegenden Gegenstand zu betrachten, findet sich auch am Anfang des vorangehenden Epigramms. — τῆι μὲν: korrespondiert mit τῆ]ι δὲ im folgenden Vers sowie mit τῆι] μ̣ὲν und τῆι δ’ in V. 8. Hierbei könnte es sich um feminine Dativobjekte handeln, die mehrere Objekte bezeichnen, die in V. 5–8 beschrieben werden (z. B. hier: „sie hat eine Dicke von fünf […]“); sinnvoller ist es jedoch, die Formen des Dat. Fem. im lokal-adverbialen Sinne zu verstehen (‚hier‘, ‚dort‘; vgl. ed. pr. 129). Auf das erste τῆι μέν würde passend ein korrelatives ἧι (‚wo‘) folgen: Zum einen passt das deiktische Moment zu der Annahme, dass das Epigramm durch viele Zahlen- und Maßangaben einen Gegenstand beschreibt, zu dessen Betrachtung zu Beginn mehrere Leute herbeigerufen werden; zum anderen scheint das, was beschrieben wird, eher durch die Adjektive V. 5–8 als durch τῆι μέν/δέ bezeichnet zu werden und daher maskulin zu sein. Möglicherweise deutet der Sprecher durch das adverbiale τῆι μέν/δέ auf verschiedene Teile eines Gegenstandes, deren Maße, Größe und Form er angibt. — πεντα[….] πά̣χ̣οϲ: Die vorliegende, nur unvollständig erhaltene Junktur bildet den Beginn einer Reihe von Maßangaben, mit denen wohl ein Objekt beschrieben wird (vgl. das Lemma τῆι μὲν), möglicherweise das, dessen Fassungsvermögen im vorangehenden Vers angegeben wird. πάχοϲ bezeichnet die ‚Dicke‘ (im Unterschied zu μῆκοϲ, ‚Länge‘ bzw. ‚Höhe‘). Unklar ist in dem elliptischen Satz, in dem ἐϲτι gedanklich

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ergänzt werden muss, die syntaktische Funktion von πά̣χ̣οϲ: In Verbindung mit der präferierten adverbiellen Deutung von τῆι μέν (vgl. das zugehörige Lemma) kann es entweder Subjekt oder Akkusativ der Beziehung sein. Für die zweite Möglichkeit spricht, dass dem Wort offenbar eine konkrete Angabe der Dicke vorausgeht (πεντα[), die am ehesten analog zu τριϲπίθαμοϲ im folgenden Vers (‚drei Spannen lang‘) Prädikatsnomen ist und den beschriebenen Gegenstand charakterisiert, der als Subjekt zu ergänzen ist. Für die Deutung von πάχοϲ als respektiver Akkusativ, der wohl auch zu τριϲπίθαμοϲ hinzuzudenken ist, spricht auch, dass ἐ]πὶ μῆκοϲ in V. 7 vielleicht ähnlich verwendet ist (vgl. das Lemma ἐ]πὶ μῆκοϲ). Als Ergänzung von πεντα[ haben die Erstherausgeber das Adjektiv πεντάπεδοϲ (‚fünf Fuß langʻ, d. h. ca. 148 cm) vorgeschlagen, das sich passend in die Reihe der anderen Komposita des Epigramms einfügt, die jeweils aus einem Zahlwort und einem zweiten Bestandteil, der eine Maßeinheit oder eine Form angibt, bestehen (ἕκχουν, τριϲπίθαμοϲ, τετραγλώχιϲ; πεντάπεδοϲ ist nur inschriftlich an einer Stelle bezeugt, IG VII 3073.75 [Lebad.]); belegt sind aber diverse parallel gebaute Formen: vgl. z. B. τετρακαιδεκάπεδοϲ, IG IV² 1.109 II 139 [Epid., 3. Jh. v. Chr.]). Entsprechend der syntaktischen Funktion von πάχοϲ (s. o.) ist entweder die Ergänzung der neutrischen Form (bezogen auf πάχοϲ als Subjekt) oder (vorzugsweise) der maskulinen Form (parallel zu τριϲπίθαμοϲ und πιότ[ε]ροϲ, V. 6, bezogen auf das zu ergänzende Subjekt) denkbar. Gegen die sinnvollste der Konjekturen zu dieser Stelle spricht lediglich, dass der Vers keine Mittelzäsur hätte, die im Epigramm fast immer realisiert wird (Bing 2004, 136; ed. min.). — ἧι δεδ̣[: Am Ende des Verses wird offenbar durch einen adverbialen Relativsatz die Stelle des beschriebenen Objekts angegeben, auf die sich die vorangehende Maßangabe bezieht; ἧι korreliert mit τῆι μέν: ‚hier … woʻ (vgl. das Lemma τῆι μέν). Als Ergänzung der im Anschluss an das Pronomen erhaltenen Buchstaben schlägt Austin δέδ̣[εθ’ ἁρμόϲ oder ἡθμόϲ vor: „wo der Haken“ bzw. „wo das Sieb angebracht ist“ (vgl. ed. pr. 129). V. 6 τῆ]ι δὲ: Austins Ergänzung des Versanfangs ergibt sich zwangsläufig aus τῆι μέν im vorangehenden Vers, das nach einem korrespondierenden τῆι δέ verlangt. Ebenso wie τῆι μέν ist auch die vorliegende Junktur im adverbial-lokativen Sinne (‚hier‘, vgl. ed. pr. 129) zu verstehen und scheint wie jene auf einen Aspekt des beschriebenen Gegenstandes hinzuweisen. — τριϲπίθαμοϲ: Das Adjektiv bedeutet ‚drei Spannen langʻ (vgl. Hes. erg. 426; Xen. kyn. 9.13), was ca. 66 cm entspricht. Es bemisst wohl analog zu der nicht vollständig erhaltenen Maßangabe des vorigen Verses πεντ[ die ‚Dickeʻ eines Gegenstandes an einer anderen Stelle (τῆ]ι δὲ), z. B. die Breite des Bauchs eines Gefäßes; der Akkusativ der Beziehung πάχοϲ dürfte daher auch zu τριϲπίθαμοϲ gedanklich zu ergänzen sein. Das Wort ist offenbar auch in 8.7 zu ergänzen, wo es auf den Umfang (περίμετρον) eines Steins bezogen ist. — τ[….] πιότ̣[ε]ροϲ: Der Komparativ von πίων dürfte hier eher – gemäß der Grundbedeutung des Adjektivs – ‚fetter‘ als im metaphorischen Sinne ‚reichhaltiger‘ bedeuten: Zwar könnte er sich in diesem zweiten Sinne auf den Inhalt eines Gefäßes beziehen, das V. 4 vielleicht impliziert; näher liegt aber, dass er sich in die Reihe der Größenangaben V. 4 –8 einfügt, welche die Ausmaße eines Gegenstandes, vielleicht des angedeuteten Gefäßes, beschreiben. Dafür spricht insbesondere, dass die beiden vorangehenden Maßangaben speziell die „Dicke“ – offenbar von verschiedenen Stellen eines Objekts – angeben. Dafür, dass der vorliegende Komparativ analog zu jenen gebraucht ist, spricht auch das nach τριϲπίθαμοϲ erhaltene τ, das sich im Anschluss an τῆι μέν (V. 4) und τῆ]ι δέ (V. 5) zu einem weiteren τῆι ergänzen ließe. Nach τ[ῆι konjiziert Austin plausibel das Adverb πολύ („viel fetter“). Allerdings würde man – parallel zum Versanfang τῆ]ι δέ und zu τῆι δ’ (V. 8) – ein δέ erwarten, für das der Platz der Lücke nicht ausreicht, wenn πολύ ergänzt wird.

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V. 7 τετραγλώχιϲ: Das Wort ist kommt ansonsten nur einmal, in einem Epigramm von Leonidas von Tarent (Ende 4.-Mitte 3. Jh.; Gigante 1971, 37– 42), vor (AP 6.334.3). Daneben sind jedoch zahlreiche andere Komposita mit γλωχίν oder seltener γλωχίϲ als zweitem Bestandteil belegt; bei Homer werden bereits τριγλώχιϲ („mit drei Spitzen“, Il. 5.393; 11.507) und τανυγλώχιϲ („mit langer Spitze“, Il. 8.297) von Pfeilen gebraucht (Gow-Page II 1965, 312). Das diesen Formen zugrunde liegende Substantiv γλωχίν bzw. γλωχίϲ bezeichnet allgemein einen ‚hervorstehenden Punkt‘ und ist speziell das pythagoreische Wort für γωνία („Winkel“, Heron def. 15). In diesem mathematisch-technischen Sinne ist es offenbar auch in τετραγλώχιν bei Leonidas gebraucht, wo es eine apostrophierte Herme als „vier Winkel habend“ bzw. genauer: „rechtwinklig“ charakterisiert und offenbar auf die Form des Sockels der Herme anspielt. Auch hier scheint die Bedeutung „mit vier Winkeln“ (bzw. „mit vier Ecken/Kanten“) zu passen: Nach vermutlich zwei Maßangaben (πεντα[… und τριϲπίθαμοϲ) und einer allgemeinen Beschreibung der Größe (πιότεροϲ) würde ein Adjektiv folgen, das die Form (eines Teils) eines Gegenstandes mathematisch genau angibt. Als Ergänzung des verlorenen Versanfangs schlagen die Erstherausgeber καί vor. — πλε[… Die erhaltenen Buchstaben lassen sich vielleicht zu einer Form des Komparativs πλείων (‚mehr‘), eventuell πλεῖον in Bezug auf das folgende μῆκοϲ (vgl. das folgende Lemma) oder zu einer Form von πλευρή (‚Seite‘), das im vorangehenden Epigramm 17 erscheint (πλευρῆι, 17.5), ergänzen (ed. pr. 129). Für den Komparativ spricht die Parallelität zu πιότεροϲ im vorangehenden Vers. — ἐ]πὶ μῆκοϲ: Diese Junktur kommt in der Bedeutung ‚in der Länge‘ entweder einem Akkusativ der Beziehung gleich oder bezeichnet eine bestimmte Ausdehnung (LSJ C.I.5: „of extension ‚over‘ a space“), z. B. in Verbindung mit dem davor zu ergänzenden Komparativ πλεῖον (‚über eine größere Länge‘). — ε.[: Das Versende ist zerstört; über das mit ε beginnende zu ergänzende Wort lässt sich nur spekulieren: Austin schlägt ἐ]τάχθη im Anschluss an seine Ergänzung des Vorangehenden πλε[ῖον δ’ ἐ]πὶ μῆκοϲ („[placed] at [greater] length“) oder alternativ den Vokativ ἑταῖροι („Gefährten!“) vor. V. 8 τῆι] μ̣ὲν ἐφ’ ἓξ προϲθε.[…]ε̣ϲι, τῆι δ’ ἀφ[: Die überlieferten Reste des letzten Verses des Epigramms sind in ihrer Bedeutung dunkel. Relativ sicher erscheint lediglich die Ergänzung der Lücke zu Beginn des Verses durch τῆι] aufgrund des erhaltenen μ̣έν, das eine Korrespondenz mit τῆι δ’ gegen Ende des Verses suggeriert (zur Bedeutung vgl. das Lemma V. 5, τῆι μέν). Über die zerstörte Mitte und das Ende des Verses lassen sich nur Vermutungen anstellen. Im Hinblick auf die Häufung der Angaben von Zahlen, Maßen und geometrischen Formen in diesem Epigramm liegt es nahe, in den überlieferten Buchstabenfolgen προϲθε.[ und ἀφ[ die technischen Begriffe für die Grundrechenarten Addition (προϲτιθέναι) und Subtraktion (ἀφαιρεῖν) zu erkennen. Die gegensätzlichen Begriffe würden sich passend in die durch μέν … δέ vorgegebene antithetische Struktur einfügen. Die Integration zweier Formen der Verben in den Vers bzw. in das Gedicht bereitet jedoch Schwierigkeiten: Im Anschluss an die deutlich erkennbaren Buchstaben προϲθε ist der ed. pr. zufolge eventuell schwach ein ϲ̣ zu lesen, so dass nur die Imperative πρόϲθεϲ̣ („füge hinzu“) und analog ἄφ[ελε („nimm weg“) in Frage kommen. Die 2. Ps. Sg. lässt sich jedoch schlecht mit der pluralischen Apostrophe des ersten Verses vereinbaren (ed. pr. 130). Zudem wird προϲτιθέναι, wenn es im mathematischen Sinne gebraucht ist, meist mit Dativ oder mit πρόϲ und Akkusativ verbunden, so dass unklar ist, wie sich die Präposition ἐφ’ daran anschließen könnte. Es liegt nahe, dass die nach einer Lücke erhaltenen Buchstaben ε̣ϲι die Endung eines Dat. Pl. (der sigmatischen Stämme der dritten Deklination) bilden, der von ἐφ’ abhängt. Da durch τῆι] μέν … τῆι δ’ die Aufzählung von Maßangaben fortgesetzt zu werden scheint und auf die Präposition tatsächlich eine Zahl (ἕξ,

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‚sechs‘) folgt, könnte der Dat. Pl. eine Maßeinheit nennen, etwa πήχ]ε̣ϲι (‚Ellen‘). Unklar bleibt jedoch, in welcher Bedeutung ἐφ’ gebraucht ist und wie sich diese Angabe syntaktisch in den Vers integrieren ließe. Rekonstruktionsvorschlag δεῦ]τ’ ἐπ’ ἔμ’, ἐννέα φῶτεϲ, ἀνακλίνθητε δ’ [ἀολλ]εῖϲ· εἰϲ] ἠῶ γὰρ ἐγὼ τρεῖϲ .[….]. λιθέ[αϲ /ουϲ οἰνο]χόωι ϲὺν παιδὶ μ[έθηϲ ἀποδ[ώτορα ῥηϊ]δίωϲ ἕκχουν δέξ[ομαι ἀ]μφορέα· ἠνί]δε· τῆι μὲν πεντά[πεδοϲ] πάχοϲ, ἧι δέδ[εθ’ ἡθμόϲ τῆ]ι δὲ τριϲπίθαμοϲ τ[ῆι πολὺ] πιότ[ε]ροϲ καὶ] τετραγλώχιϲ πλε[…. ἐ]πὶ μῆκοϲ ε.[ τῆι] μὲν ἐφ’ ἓξ προϲθε. [.πήχ]εϲι, τῆι δ’ ἀφ[ Hierher zu mir, ihr neun Männer, lehnt euch alle zusammen zurück: Denn bis zur Morgendämmerung […] ich drei […] aus Stein […] Zusammen mit dem Mundschenk werde ich eine Spenderin von Trunkenheit, eine Amphore, die zwanzig Liter fasst, mühelos aufnehmen. Schaut! Hier fünf Fuß dick, wo das Sieb befestigt ist, und hier dreispannig, hier viel fetter und rechteckig […] in der Länge […] hier zu sechs Ellen hinzu[…], und hier weg[…]. Die acht Verse sind so stark zerstört, dass Thema und Struktur des Epigramms nicht sicher erschlossen werden können. Wahrscheinlich handelt es sich um ein zusammenhängendes Epigramm (vgl. die Tendenz der zweiten Hälfte der Lithika zu längeren Gedichten, die sich gegen Ende noch verstärkt; ed. pr. 129); eine Teilung in zweimal vier Verse ist aber nicht auszuschließen, da die Stelle, an der man eine paragraphos erwartet, zerstört ist (vgl. Ferrari per litt.). Einen Stein, wie ihn die Einordnung des Epigramms in die Sektion Lithika impliziert, lassen die Überreste nicht erkennen. Ein von λίθοϲ abgeleitetes Wort ist lediglich anhand der V. 2 erhaltenen Silbe λι.[ zu erahnen. Der erhaltene Text zeigt aber zwei thematische Schwerpunkte des Gedichts: Zum einen scheint eine Szene aus dem Kontext des Symposiums beschrieben zu werden (vgl. dafür auch drei weitere Epigramme Poseidipps: 2 und 3 des Papyrus sowie AP 5.183); darauf deuten ἀνακλίνθητε̣, ἕκχουν … ἀ]μφο̣ρέα und οἰνο]χόωι ϲὺν παιδί hin. Zum anderen wird das Epigramm durch Zahlen-, Größen- und Maßangaben dominiert; fast alle sinntragenden Wörter entstammen diesem semantischen Bereich: ἐννέα, τρεῖϲ, ἕκχουν, πεντα[, πά̣χ̣οϲ, τριϲπίθαμοϲ, πιότ̣[ε]ροϲ, τετραγλώχιϲ, μῆκοϲ, ἕξ. Während der erste Teil des Epigramms (V. 1– 4) zwei Zahlwörter aufweist (ἐννέα, τρεῖϲ), bestimmen Maßangaben und physikalische Größen den zweiten Teil (V. 5–8). Das Epigramm verbindet deskriptive und dramatische Elemente. Während die erhaltenen Reste des zweiten Teils die Beschreibung mehrerer Gegenstände erkennen lassen, deutet sich gleich zu Beginn des Epigramms die Darstellung einer Szene an: Im ersten Vers wendet sich ein Sprecher durch einen Imperativ an eine Gruppe von Personen, die im Vokativ angesprochen werden. Im zweiten Vers erscheint der Sprecher noch einmal prononciert (ἐγώ). Der Rest lässt keinen Sprecher oder Adressaten erkennen. Dennoch scheint das Erhaltene den Schluss

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zuzulassen, dass die ersten vier Verse eher die Situation darstellen, die letzten vier eher den Gegenstand beschreiben. Wer der Sprecher der ersten beiden Verse des Epigramms ist, lässt sich aus dem Erhaltenen nicht sicher erkennen. Es könnte sich dabei entweder um eine Person oder um einen Gegenstand handeln. Sprechende Gegenstände kommen zwar in anderen Lithika-Epigrammen nicht vor (vgl. den Komm. zu 19.2), wohl aber mehrere Male auf dem Papyrus (38, 40, 64, 69 u. 116; vgl. Ferrari 2005, 191), und sind generell in hellenistischen Epigrammen nicht selten (vgl. Männlein-Robert 2007). Es wäre naheliegend, dass es sich bei dem sprechenden Objekt um den beschriebenen Stein handelt. Daher erscheint Austins These, dass der Sprecher ein steinernes Gefäß ist, aus dem den Symposiumsteilnehmern Wein eingeschenkt wird, plausibel. Es ruft zunächst einige Personen zu sich heran, gibt dann sein Fassungsvermögen und schließlich seine Maße und Form an. Eine Amphore wird offenbar als Vergleichsobjekt explizit genannt. Mischgefäße aus Stein sind durchaus gut belegt (vgl. z. B. Plin. nat. 36.59 über eine aus einem Onyxblock herausgeschnittene Weinamphore oder Joh. 2.6 über λίθιναι ὑδρίαι, ed. pr. 128). Für Austins Annahme spricht auch, dass zwei andere Epigramme der Lithika ebenfalls Trinkgefäße behandeln: Während die in 3 beschriebene Trinkschale wohl die Gravur eines Steins thematisiert, lässt es sich aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes von 2 nicht bestimmen, ob das dort genannte Trinkhorn aus Stein oder als Gravur in einen Stein geschnitten ist. Auffällig ist, dass 2/3 und 18 die ringkompositorische Tendenz von 1 und 19/20, die den politisch-geographischen Rahmen herstellen, zu verstärken scheinen, indem sie Trinkgefäße nennen und damit ein Symposium evozieren. Besonders raffiniert wäre diese Ringkomposition, wenn die Beschreibung symposialer Gravurmotive in 2 und 3 entsprechend der Entwicklung der Lithika-Gruppe, die zu Beginn kleine, gravierte Steine beschreibt und zu größeren Objekten fortschreitet, durch die Behandlung eines dreidimensionalen Trinkgefäßes in 18 aufgegriffen würde. Zwar fällt ein steinernes Trinkgefäß insofern aus dem letzten Teil der Lithika (ab 16) heraus, als dieser ansonsten nur naturbelassene Steine behandelt; dieser Einwand träfe aber auch die übrigen Vorschläge zur Identifizierung des thematisierten Objekts, die ebenfalls von zentralen Gegenständen des Symposiums bzw. des Festbanketts ausgehen.88 19 Das längste Epigramm der Lithika beschreibt auch den größten Stein dieser Sektion, einen riesigen Felsbrocken, den nur Poseidon zu bewegen imstande ist. Zusammen mit 74 und 78, die ebenfalls jeweils 14 Verse umfassen, handelt es sich um das längste Epigramm des Papyrus (und Poseidipps, soweit uns sein Werk bekannt ist). Möglicherweise ist es sogar noch sechs Verse länger: Dass das 20. Epigramm eigentlich das Ende des vorangehenden Gedichtes bildet (vgl. Ferrari per litt.), ist deshalb wahrscheinlich, da 20 selbst keinen Stein beschreibt und inhaltlich

88 Bing erwartet aufgrund der vielen Maßangaben und des „heroischen Kontexts“, den er an der homerischen Junktur ἐννέα φῶτεϲ festmacht (2004, 137), einen außerordentlich großen Gegenstand und hält das implizierte Trinkgefäß für zu klein (vgl. jedoch das Lemma ἕκχουν … ἀ]μφο̣ρέα); als Hauptgegenstand des Epigramms vermutet er entweder eine große κλίνη, auf der neun Leute Platz haben, oder einen (möglicherweise dreifüßigen) Tisch. Dass es aber im vorliegenden Epigramm nicht wie in 19 um die überdimensionale Größe von Objekten zu gehen scheint, zeigt gerade die geläufige Bemessung des Inhalts einer Amphore im vorangehenden Vers (vgl. das Lemma ἕκχουν … ἀ]μφο̣ρέα).

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gut an 19 anschließt (vgl. 20). Die Sprache des vorliegenden Epigramms ist durch zahlreiche epische, insbesondere homerische Anklänge geprägt und weist einige hapax legomena auf. III 28 .]λογιϲαι μεταλαντ̣[….] πόϲα κύμα̣[τα 1 29 τη]λ̣οῦ μαινομένηϲ ἐξ[ε….]ε̣ν ἁλόϲ· 2 30 .]ν̣δε Ποϲειδάων βρι̣α̣[ρ….]όνει καὶ ἀπ[ 3 31 ῥίμφ]{α} ἐφ’ ἑνὸϲ ϲκληροῦ κ[ύματο]ϲ̣ ἐ̣ξ̣έ̣βαλεν 4 32 ἡμι]πλεθραίην ὤϲαϲ πρ.[…]ά̣[.]τεα πέτρη̣ν, 5 33 τοῦ Πολυφημείου ϲκαιοτέρην θυρεοῦ· 6 34 οὐκ ἄν μιν Πολύφημοϲ ἐβάϲταϲε ϲὺν Γαλατείαι 7 35 πυκνὰ κολυμβήϲαϲ αἰπολικὸϲ δύϲερωϲ· 8 36 οὐδ’ Ἀνταί‹ου› ὁ γυρὸϲ ὀλοίτροχοϲ, ἀλλὰ τριαί̣νηϲ̣ 9 37 τοῦτο Καφηρείηϲ τειρατοεργὸν ἁλόϲ· 10 38 ἴϲχε, Ποϲείδαον, μεγάλην χέρα καὶ βαρ̣ὺ κῦμα 11 39 ἐκ πόντου ψιλὴν μὴ φέρ’ ἐπ’ ἠϊόνα· 12 40 τετρακαι̣εικοϲίπηχυν ὅτ’ ἐκ βυθοῦ ἤραο λᾶαν, 13 41 ῥεῖα καταμήϲειϲ εἰν ἁλὶ νῆϲον ὅλην. 14 III 28– 41 cum IV 1–6 coniungit Ferrari per litt. 28 μὴ] Austin 2001a  μὴ] λόγιϲαι μεγάλην τ̣[αύτη]ν̣ πόϲα κύμα̣[τα λᾶαν ed. pr., min. (vel πέτρην Austin 2001a) : μὴ] λόγιϲαί με, τάλαν Lapini 2002, Livrea 2002 (def. Ferrari per litt.) : ϲυλ]λογίϲαι‹ο› μέγ’ ἂν Luppe 2002b : ϲυλλόγιϲαί με ταλαντ̣[ιαῖο]ν̣ πόϲα κύμα[τα λᾶαν Lapini 2007  τ̣[όϲϲη]ν̣ Livrea 2002 : τ̣[οῦτον] et πέτρον Luppe 2002b 29 ἐξ[εφόρηϲ]ε̣ν ed. pr., min. (def. Lapini 2002, Luppe 2002b) : ἐξ[εκύλιϲ]ε̣ν Austin 2001a : ἐξ[εκύλι]ε̣ν Livrea 2002 30 τή]ν̣δε ed. pr., min. : τό]ν̣δε Luppe 2002b  βρι̣α̣[ρῶϲ Austin 2001a : βρι̣α̣[ρὴν Lapini 2007  ἐδ]όνει ed. pr., min.  ἀπ[οκλὰϲ ed. pr., min. : ἄπ[ωθεν vel ἀπ[οπρό Austin 2001a : ἀπ[ώϲαϲ Luppe 2002b : ἀπ[έκλα Gärtner 2006 31 ….]αεφενοϲ P : ῥίμφ]{α} ed. pr., min. (def. Di Benedetto 2003a) : κοῦφ]{α} De Stefani 2003 : αἶψ]{α} Magnelli 2004 : ὄφρ]{α} vel μέϲφ]{α} Gärtner 2006 : ῥεῖ]{α} Lapini 2007 32 ὤϲαϲ προ̣[τὶ τ]ἄ̣[ϲ]τεα Austin 2001a : ὤϲαϲ πρὸ[ϲ ἀν]ά̣[ν]τεα Lapini 2002 (def. Gärtner 2006) : ὡϲ ἄϲπρι̣[ν ἀν]ά̣[ν]τεα Luppe 2002b  πέτρο̣ν Luppe 2002b 33 Κυκλωπείου Gärtner 2006 (v. Schröder 2008)  ϲκαιοτέρην θυρεοῦ ed. pr., min., Luppe 2002b : ϲκαιοτερονθυρεου P : ϲκαιότερον θυρεόν Lapini 2002 34 αμμιν P 36 Ἀνταίου ὁ γυρὸϲ ὀλοίτροχοϲ ed. pr., min., Lapini 2002 : ανταιογυροϲολοοιτριχοϲ P : Ἀνταίου γυρὸϲ ὀλοίτροχοϲ Führer ap. Bernsdorff 2002 (def. Gärtner 2006) : Αἰτναῖοϲ ὁ Obbink 2002 (def. Ferrari per litt.) : ἀνταῖοϲ ὁ Livrea 2002 : ἀκταῖοϲ ὁ Lapini 2003b 37 τερραγοεργον P : fort. τ’ ἄγριον (vel θ’ ἱερὸν) ἔργον Lapini 2007 : τ’ ἄκρατον ἔργον Ferrari per litt. 36–37 (τριαί̣νηϲ̣ … Καφηρείηϲ τειρατοεργὸν) ἄγοϲ Gärtner 2006 (v. Schröder 2008) 40 ὃϲ Casanova 2002 (def. Ferrari per litt., Tammaro 2010)  εγβυθου P 41 καταμήϲαιϲ Tammaro 2010

[…] wie viele Wellen (weit weg) von dem tosenden Meer heraus[…]: […] Poseidon […] und […] (leicht) warf er auf einer einzigen rauen (Welle) heraus den Felsen von der Größe eines (halben) Plethrons stoßend […], einen unheilvolleren als Polyphems Türstein; nicht hätte ihn Polyphem emporheben können, der mit Galateia oft eintauchte, der unglücklich verliebte Ziegenhirt, und nicht kommt der runde Felsbrocken von Antaios, sondern von dem Dreizack, dieses Wunderwerk des Kaphareischen Meeres.

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Halte, Poseidon, deine große Hand zurück, und eine schwere Welle trage nicht aus dem Meer auf den nackten Strand; da du einen Stein von vierundzwanzig Ellen aus der Tiefe gehoben hast, wirst du leicht eine ganze Insel im Meer niedermähen. V. 1 .]λογιϲαι: Wahrscheinlich handelt es sich um den Imperativ λόγιϲαι, der durch μὴ, das am Anfang des Verses zu ergänzen ist, verneint wird (Austin 2001a). „Berechne [nicht], wie viele Wellen [diesen Stein] aus dem Meer an den Strand [getragen haben]“, lautet vermutlich die lückenhaft überlieferte Aufforderung, mit der das Gedicht beginnt (ed. pr.). Denkbar wäre auch, die erhaltenen Buchstaben zu dem Imperativ ϲυλ]λόγιϲαι zu ergänzen (Lapini 2007); eine Aufforderung, die Anzahl der Wellen zu errechnen, ist allerdings mit Blick auf die sofortige Auflösung des Rätsels (V. 3 f.), Poseidon habe nur eine einzige Welle benötigt (ἐφ’ ἑνὸϲ ϲκληροῦ κ[ύματο]ϲ̣ ἐ̣ξ̣έ̣βαλεν), nicht sinnvoll. Vielmehr impliziert die Aufforderung, die Wellenzahl nicht zu berechnen, die vorherige Überlegung des Betrachters angesichts der enormen Größe des Steins, wie viele Wellen es wohl brauchte, um den Brocken zu „heben“. Der negierte Imperativ deutet dadurch also bereits die Größe des Steins an, wie sie das Gedicht detailliert beschreibt. Der Adressat des Imperativs ist nicht genannt; somit liegt es nahe, ihn als Anweisung an einen imaginierten Betrachter, der den am Strand liegenden Stein inspiziert, oder an den Rezipienten des Gedichts zu verstehen. — μεταλαντ̣[….]: Die bisherigen Vorschläge, die den im Anschluss an den verneinten Imperativ überlieferten Text zu erhalten versuchen, machen den Stein selbst zum Sprecher, z. B. μὴ] λόγιϲαί με, τάλαν τ̣[όϲϲη]ν̣, „Berechne nicht, Unglücklicher, wie viele Wellen mich, der ich so groß bin …“ (Lapini 2002 u. Livrea 2002). In der Tat werden sprechende Objekte in hellenistischen Epigrammen häufig thematisiert (vgl. Männlein-Robert 2007), so auch in einigen des Mailänder Papyrus (vgl. z. B. die sprechende Tydeus-Statue in 69), vielleicht sogar in einem Steinepigramm (vgl. 18.1). Hier ist jedoch die Identifikation von Sprecher von behandeltem Objekt unwahrscheinlich, da der Stein im Folgenden ausschließlich distanziert und unpersönlich als von dem Sprecher verschiedenes Objekt betrachtet wird. Merkwürdig wäre auch, dass der Stein ein Gebet an Poseidon richtete, in dem er durch τετρακαι̣εικοϲίπηχυν (…) λᾶαν (V. 13) offenkundig sich selbst bezeichnet, ohne sich mit dem genannten Objekt zu identifizieren. Wollte man den Papyrustext in der vorgestellten Weise verteidigen, müsste man folglich entweder einen sehr abrupten Sprecherwechsel zu Beginn des folgenden Distichons akzeptieren oder den Stein ab V. 3 bis zum Ende des Gedichts von sich selbst in der 3. Ps. sprechen lassen. Auch die Deutungen der auf με folgenden Buchstabenfolge vermögen nicht zu überzeugen: Es ist nicht ohne weiteres einsichtig, warum der Stein einen Passanten als „Leidenden“ oder „Bejammernswerten“ (τάλαν; Lapini 2002; Livrea 2002) adressiert; es ist weder davon die Rede, dass dieser von dem Felsbrocken getroffen wurde, noch, dass er Schiffbruch erlitten hat (Livrea 2002, 61); ein Unglück soll das abschließende Gebet an Poseidon gerade verhindern. Lapinis ταλαντ̣[ιαῖο] ν̣ (2007) lässt den Stein „ein Talent schwer“ (LSJ A.II) und damit zu leicht (ca. 20 bis 40 kg nach den örtlich und zeitlich verschiedenen antiken Angaben) sein – er ist laut V. 13 etwa 11 m lang (24 Ellen; vgl. τετρακαιε̣ ικοϲίπηχυν) und entsprechend so schwer, dass nur Poseidon ihn wuchten kann. Aus diesen Gründen erscheint es notwendig, den überlieferten Text zu korrigieren: Die Konjektur der ed. pr. μεγάλην verlangt nur geringfügige Änderungen und bringt das entscheidende Charakteristikum des Steins auf den Punkt, bevor die Größe im Folgenden durch Maßangaben und Vergleiche ausführlich hervorgehoben wird. Das vor der Lücke erhaltene τ̣ wird sinnvoll zu τ̣[αύτη]ν̣ ergänzt (ed. pr.), mit dem der Sprecher ebenso wie durch τη]ν̣δε am Anfang von V. 3 auf den vor ihm liegenden bzw. als vor ihm liegend

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imaginierten Stein hindeutet (zur Deixis vgl. 3.1, 5.2, 6.1, 7.3, 8.1, 8.3, 13.1, 15.2, 16.1, 17.2). — κύμα̣[τα: Die Ergänzung der Pluralendung (ed. pr.) ist durch das vorangehende πόϲα evident. In der zweisilbigen Lücke am Ende des Verses ist wohl als Objekt des offenbar im folgenden Vers genannten Prädikats (ἐξ[ε….]εν̣ , s. dort) der „Stein“ zu ergänzen. Dafür spricht die sinngemäße Wiederholung in V. 4 f.: ἐ̣ξ̣έ̣βαλεν / […] πέτρη̣ν. In Frage kommen λᾶαν oder πέτρην (Austin 2001a; ed. pr. 130). Da πέτρην bereits in V. 5, λᾶαν aber erst in V. 13 wiederholt wird, dürfte hier eher letztere Bezeichnung gestanden haben. V. 2 τη]λ̣οῦ: Das von Austin ergänzte epische Adverb kann absolut oder mit Genitiv verwendet werden (‚weit wegʻ, ‚fern [von]ʻ). Hier scheint letzteres der Fall zu sein: τη]λο̣ ῦ μαινομένηϲ […] ἁλόϲ, ‚weit weg vom tosenden Meerʻ. Ebenso könnte der Genitiv aber auch von dem Prädikat abhängen, was dessen erhaltene Vorsilbe ἐξ- suggeriert. Vermutlich steht daher μαινομένηϲ […] ἁλόϲ, wie dies auch die Stellung nahelegt, ἀπὸ κοινοῦ. — ἐξ[ε…]ε̣ν: Hier ist ein Verb zu erwarten, das die mutmaßliche Beförderung des Steins aus dem Meer durch die Wellen analog zu ἐ̣ξ̣έ̣βαλεν (d. h. Poseidon „warf heraus“; V. 4) beschreibt. Austins Ergänzungsvorschlag ἐξ[εκύλιϲ]ε̣ν („sie wälzten heraus“, 2001a) ist dem der ed. pr. ἐξ[εφόρηϲ]ε̣ν („sie trugen heraus“) vorzuziehen: Zum einen beschreibt er treffend die eher mühsame, schleppende Bewegung des Steins durch viele Wellen im Gegensatz zum dynamischeren „Hinauswerfen“ des Steins durch eine einzige Welle Poseidons. Zum anderen kommt das Simplex κυλίνδω an zwei weiteren Stellen der Lithika in einem ähnlichen Sinn vor (7.1 u. 16.1); dagegen wird φορέω in der Gruppe der Steingedichte nur von einzelnen Körperteilen, die ein Schmuckstück tragen (8.1), und von einem Stein, der eine Gravur trägt (8.3), verwendet. — Ποϲειδάων: Indem Poseidipp hier die episch-homerische Form des Götternamens verwendet, verweist er auf die Odyssee, wo der Gott seine Macht in ähnlichem Maße wie hier gegen Odysseus und die Phäaken ausübt, und bereitet die in V. 6 folgende explizite Anspielung auf den 9. Gesang der Odyssee vor. — βρι̣α̣[ρ….]όνει: Die Lücke wurde von den Erstherausgebern relativ sicher zu βρι̣α̣[ρῶϲ ἐδ]όνει (sc. πέτρην), „er stieß (den Felsen) kraftvoll“ ergänzt. ἐδ]όνει beschreibt offenbar, wie Poseidon den Stein (z. B. durch Schlagen, Stoßen, Treiben) erschüttert, um ihn von dem Felsen zu lösen. So verstanden, zeigt ἐδ]όνει an, dass der Brocken hier noch Teil eines felsigen Meeresgrundes ist, von dem er zunächst abgebrochen werden muss — ἀπ[: Die passende Ergänzung scheint sich aus der Deutung des seinerseits zum Teil ergänzten ἐδ]όνει zu ergeben: Wenn Poseidon den am Meeresboden verankerten Felsen zunächst „erschütterte“, muss er ihn bzw. ein Teil von ihm (vgl. das Lemma πέτρη̣ν) zunächst von dem felsigen Grund getrennt haben, bevor er den Felsbrocken schließlich aus dem Meer warf (ἐξ̣ έ̣ β ̣ αλεν). ἀπ[οκλάϲ („nachdem er ihn abgebrochen hatte“) füllt daher genau die semantische Lücke zwischen den beiden Prädikaten. Analog schildert Od. 9.481 f., wie Polyphem, um sich nach seiner Blendung an Odysseus zu rächen, einen Stein abreißt (ἀπορρήξαϲ) und ihn auf Odysseus und seinen Gefährten schleudert (κὰδ δ’ ἔβαλε). Vor der Folie dieses Steinwurfs und des wenig später folgenden weiteren Steinwurfs seines Vaters Poseidon (9.537– 42; s. u.), ist die vorliegende Szene gezeichnet. Das legen auch die weiteren Anspielungen des Epigramms auf die Auseinandersetzung von Odysseus, Polyphem und Poseidon nahe. Austins Alternativvorschläge zur Ergänzung von ἀπ[ – ἄπωθεν (‚fernʻ) und ἀποπρό (‚weit wegʻ) – unterstreichen die nach Außen gerichtete Bewegung (ἐ̣ξ̣έ̣βαλεν) analog zu τη]λ̣οῦ … ἐξ[ε….]ε̣ν in V. 2, lassen aber die notwendige Handlung des Abbrechens unbenannt.

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V. 4 ῥίμφ]{α}: Das von der ed. pr. konjizierte Adverb ist die beste vorgeschlagene Ergänzung der Lücke am Versanfang (zur scriptio plena vgl. ed. pr. 130). Sein Bedeutungsspektrum umfasst sowohl die Mühelosigkeit als auch die Schnelligkeit, mit der Poseidon den Stein aus dem Meer befördert; alle anderen Vorschläge beinhalten jeweils nur den einen oder den anderen Aspekt. — ἐφ’ ἑνὸϲ ϲκληροῦ κ[ύματο]ϲ:̣ Die Ergänzung „Welle“ gibt der prononcierte Kontrast zu V. 1 πόϲα κύματα nahezu sicher vor. V. 5 ἡμι]πλεθραίην: Der erhaltene Teil des Wortes, das offenbar den am Ende des Verses genannten Felsen (πέτρη̣ν) näher bestimmt, zeigt an, dass Poseidipp hier die Länge des Steins mit Hilfe der Maßeinheit des Plethrons (πλέθρον) angibt, während er in V. 13 die Elle (πῆχυϲ) als Einheit verwendet. Im nachhomerischen Griechisch entspricht ein Plethron als Längenmaß etwa 100 griechischen Fuß und damit, abhängig von der regional verschiedenen Berechnung der Grundeinheit ‚Fuß‘ (πούϲ), etwa 27–35 m. In der Lücke am Versanfang ist eine numerische Angabe zu erwarten, die den ersten Teil des zusammengesetzten Adjektivs bildet. Die Entscheidung für ἡμι]πλεθραίην – gegenüber dem paläographisch auch möglichen τρι]πλεθραίην – ergibt sich aus der zweiten Längenangabe in V. 13 τετρακαι̣εικοϲίπηχυν, 24 Ellen, was ca. 11 m entspricht (s. dort): Mit dieser wäre τρι]πλεθραίην, drei Plethren (ca. 90 m) lang, unvereinbar (ed. pr.; Di Nino 2010, 277). Dagegen entspricht die Angabe ἡμι]πλεθραίην, ein halbes Plethron lang, mindestens 13,5 m und damit – jedenfalls im Vergleich zur alternativen Ergänzung – in etwa der zweiten Längenangabe des Epigramms. Das Adjektiv ist schon insofern bemerkenswert, als ansonsten bislang keine von πλέθρον abgeleiteten Komposita bezeugt sind (ed. pr.). Hinzu kommt, dass die Wortbildung ungewöhnlich ist: Entweder wäre entsprechend dem attisch gut bezeugten Simplex πλεθριαῖοϲ (von der Länge eines Plethrons, Xen. Kyr. 7.5.11; Xen. an. 1.5.4; Plat. Kritias 116a) das Kompositum ἡμιπλεθριαῖοϲ zu erwarten, welches auf das üblicherweise zur Längenangabe verwendete Suffix -ιαιοϲ endet, hier aber aus metrischen Gründen unbrauchbar ist; oder es wäre ἡμίπλεθρον analog zu τετρακαι̣εικοϲίπηχυν im selben Epigramm denkbar. Eine der vorliegenden vergleichbare Wortbildung ist erst für die Kaiserzeit belegt (Di Nino 2010, 278). Das Adjektiv ἡμι]πλεθραίην beziffert nicht nur die enorme Länge und Größe des Steins, sondern bildet diese auch sprachlich ab: Es nimmt beinahe die erste Hälfte des Hexameters ein und besteht ausschließlich aus ‚schweren‘ Spondeen, die das Gewicht des großen Brockens versinnbildlichen (Hunter 2004, 101). Als hapax legomenon betont ἡμι]πλεθραίην die Außergewöhnlichkeit der genannten Länge. — πρ.[…]ά̣[.]τεα: Austins προ̣[τὶ τ]ἄ̣[ϲ]τεα, ‚auf die Städte zu‘, ist treffender als Lapinis πρὸ[ϲ ἀν]ά̣[ν]τεα, ‚gegen das ansteigende Gelände‘. Denn die „Städte“ als ‚Zielscheibeʻ von Poseidons Steinwurf implizieren bereits die ‚Menschen‘, auf deren Verschonung das Gebet an Poseidon am Ende des Epigramms offenbar abzielt. V. 6 Πολυφημείου ϲκαιοτέρην θυρεοῦ: Nachdem der Felsbrocken durch eine exakte Maßangabe charakterisiert wurde, hebt ein zweites Attribut seine Größe durch einen Vergleich hervor: ϲκαιοτέρην (die Korrektur des überlieferten ϲκαιοτερον ist durch den eindeutigen Bezug auf πέτρη̣ν zwingend) beschreibt hier, ausgehend von der Grundbedeutung von ϲκαιόϲ ‚linke(r,s)‘ (LSJ A.I), den Stein als ‚unheilvollen‘ (LSJ A.II.2); vgl. Petrain 2002, 375; Hunter 2004, 102). Das Vergleichsobjekt ist der „Polyphemische Türstein“: Während das Adjektiv zu Πολύφημοϲ, dem im folgenden Vers genannten Namen des Kyklopen, bislang nicht bezeugt ist, verweist θυρεόϲ auf den 9. Gesang der Odyssee. Nur dort (V. 240,313,340) bezeichnet das Wort den

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„Türstein“, mit dem Polyphem den Eingang seiner Höhle versperrt. Die Vergleich mit dem „Polyphemischen Türstein“ soll den ultimativen Beweis für die noch nie dagewesene Größe des Felsbrockens liefern, weil dieser damit sogar den Stein übertrifft, dessen Größe bereits in Od. 9 als so gewaltig beschrieben wird, dass „zweiundzwanzig gute vierrädrige Wagen nicht in der Lage wären, ihn vom Boden wegzuwuchten“ (9.241 f.). Dagegen ist dies für den Kyklopen eine Leichtigkeit (9.313). Die homerische Beschreibung klingt im Epigramm nicht nur im folgenden Vers an: So wird die Mühelosigkeit, mit der Polyphem den Stein bewegt, durch die Bemerkung reflektiert, „Poseidon warf ihn mit einer einzigen Welle hinaus“ (V. 3 f.); vgl. auch ἤραο („du hobst hoch“, V. 13) vs. ὑψόϲ’ ἀείραϲ (Od. 9.240,340) sowie ἡμι]πλεθραίην ὤϲαϲ … πέτρη̣ν vs. ἀπώϲαϲθαι λίθον ὄβριμον (Od. 9.305). Interessant ist schließlich auch, dass Poseidon bereits in der Odyssee einen größeren Stein nach Odysseus wirft als Polyphem. Zu diesen und weiteren Bezügen auf Od. 9 vgl. Hunter 2004, 100–102. V. 7 ϲὺν Γαλατείαι: Galatea, Tochter des Nereus und der Doris, wurde auf Sizilien als Beschützerin der Herden verehrt (Harder 1996, 741). Das früheste Zeugnis für Polyphems unglückliche Liebe zu ihr ist ein Dithyrambos des Philoxenos (Phainias von Eresos fr. 13 Wehrli = Ath. 1.6e–7a). Im Anschluss wird die Geschichte v. a. von der Komödie (Nikochares fr. 3–6 Kassel-Austin; Antiphanes fr. 129–131 Kassel-Austin; Alexis fr. 37– 40 Kassel-Austin) und der Bukolik behandelt (Theokr. eid. 6.6–19; 11; Bion Apospasmata 16; Verg. ecl. 7.37– 40; 9.39; vgl. Roscher I.2 1586–1588; LIMC V.1 1000–1005 sowie Gutzwiller 1991, 60–65, 109–10; Fantuzzi 1995, 16 f.; Köhnken 1996, 172 f.) In dieser Tradition erscheint Polyphem als Ziegenhirt nicht mehr gefährlich und brutal, sondern tollpatschig in seinem Werben um Galateia (vgl. Roscher III.2 2698–2712; LIMC VIII.1 1011–1019). V. 8 πυκνὰ κολυμβήϲαϲ: Das Adverb πυκνά bestimmt den im Anschluss genannten Vorgang als ‚häufig‘. Das vergleichsweise seltene, homerisch nicht belegte Verb κολυμβᾶν hat vor Poseidipp die Bedeutungen ‚tauchen‘ und ‚kopfüber eintauchen‘ (LSJ A.1). Hier ist wohl eher letzteres gemeint. Die entscheidende Frage ist, in welchem Verhältnis das auf Πολύφημοϲ (V. 7) bezogene Partizip zum vorangehenden Hauptsatz steht und wie dementsprechend die Partizipialkonstruktion aufzulösen ist. Die Pointe – und zugleich die Schwierigkeit – der V. 7 f. liegt in der Tatsache, dass Poseidipp im Übergang vom Hauptsatz οὐκ ἄν μιν Πολύφημοϲ ἐβάϲταϲε („nicht hätte Polyphem ihn heben können“, V. 7) zur Partizipialkonstruktion ϲὺν Γαλατείαι / πυκνὰ κολυμβήϲαϲ („mit Galateia oft eintauchend“, V. 7 f.) den literarischen Referenzrahmen von Homer zu Theokrit wechselt. Eine zusätzliche Komplikation besteht darin, dass die Formulierung, Polyphem sei oft mit Galatea untergetaucht, der evozierten theokritischen Erzählung der Geschichte diametral entgegensteht (Hunter 2004, 103). Dort kann Polyphem nicht schwimmen; er wünscht sich, Kiemen zu haben, um Galatea ins Meer folgen zu können (11.54 –57), wozu er ohne diese Hilfsmittel nicht den Mut aufbringt. Daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, dass das Partizip konditional bzw. irreal verstanden werden muss: „auch wenn er mit Galatea tauchte“ (Petrain 2002) bzw. „getaucht wäre“ (Cozzoli 2008, 129). Einfacher ließe sich das Partizip attributiv übersetzen: „der oft mit Galatea untertauchte“ (Hunter, vgl. auch ed. min.). Dies würde bedeuten, dass Poseidipp an dieser Stelle Theokrit fortschriebe (Petrain 2003, 364; Bernsdorff 2002, 36–38) – ebenso wie Theokrit 6 die Geschichte von 11 weitererzählt (Köhnken 1996) – und Polyphem sich bei Poseidipp zum Sprung ins Meer überwunden hat. Eben diese Fortschreibung findet sich spätestens in einem Bild der Casa di Livia auf dem Palatin (ed. pr.; vgl. LIMC V.1 1001). Der Unterschied der beiden Deutungen

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ist nicht gravierend: Entscheidend ist die Tatsache, dass Poseidipp die Polyphem-Galatea-Geschichte ironisch dafür verwendet, Polyphems Anwesenheit im Meer zu erklären, von wo aus er den Felsstein in Richtung Land werfen kann. — αἰπολικὸϲ δύϲερωϲ: Hierbei handelt es sich eigentlich um zwei Adjektive, αἰπολικὸϲ (‚von/für Ziegenhirten‘; vgl. z. B. Theokr. eid. 1.56) und δύϲερωϲ (‚unglücklich verliebt‘ oder ‚unerfahren‘, ‚unbedarft‘, ‚unkundig in der Liebe‘). Die zugrunde liegende Theokrit-Stelle legt jedoch nahe, dass αἰπολικόϲ analog zu αἰπόλοϲ (‚Ziegenhirt‘) als Substantiv gebraucht ist (ed. pr.): βάλλει τοι, Πολύφαμε, τὸ ποίμνιον ἁ Γαλάτεια / μάλοιϲιν, δυϲέρωτα τὸν (Hss.; καὶ Gow) αἰπόλον ἄνδρα καλεῦϲα· „Polyphem, Galateia bewirft deine Herde mit Äpfeln, während sie dich einen in der Liebe unbedarften Ziegenhirten nennt.“ Folglich dürfte αἰπολικὸϲ δύϲερωϲ als eine aus Substantiv und Adjektiv bestehende Apposition zu Πολύφημοϲ zu verstehen sein. Zu den intertextuellen Bezügen zwischen Poseidipp und Theokrit vgl. Petrain 2003 u. Hunter 2004. V. 9 Ἀνταί‹ου› ὁ γυρὸϲ ὀλοίτροχοϲ: Der Papyrus überliefert im Anschluss an den Versanfang οὐδ’ die unverständliche Buchstabenfolge ανταιογυροϲολοοιτριχοϲ. Zu Beginn kann durch Ergänzung der Genitivendung -ου der Name Antaios rekonstruiert werden (ed. pr. 132). Der auf den Eigennamen folgende Text bedarf nur kleiner Veränderungen: durch die Korrektur, die bereits auf dem Papyrus vorgenommen worden ist, und die Verbesserung des überlieferten ι zu o ergibt sich das Subjekt ὁ γυρὸϲ ὀλοίτροχοϲ (ed. pr.). Zu dem Text scheint es keine Alternative zu geben; insbesondere die Bedeutung von ὀλοίτροχοϲ und die Rolle des Antaios sind aber nicht evident: Allgemein bedeutet ὀλοίτροχοϲ (bzw. ep. ὀλοοίτροχοϲ) ‚Felsblock‘ (LSJ), so auch an der einzigen Stelle bei Homer (Il.13.137). Dort bezeichnet es einen großen Felsbrocken, der im Flussbett herabrollend Hektors Ansturm auf die Griechen versinnbildlicht (Il. 13.136–142). Nicht nur das seltene Substantiv ὀλοίτροχοϲ verbindet das vorliegende Epigramm mit dem Gleichnis: Auch der Abbruch des Steins durch den Fluss bei Homer klingt zu Beginn des Epigramms an, wenn Poseidon den Felsbrocken vom Meeresgrund löst und stößt (vgl. Petrain 2003, 365). Diese wörtlichen Bezüge und der vergleichbare Kontext legen nahe, dass ὀλοίτροχοϲ auch hier ‚Felsbrockenʻ bedeutet und den Stein als „verderblich“ und „rund“ charakterisiert (zur doppelten Etymologie – ὁ ἐπὶ τὸ τρέχειν ὀλοὸϲ καὶ δεινόϲ vs. ὁλοϲ τροχειδήϲ – vgl. Schol. Hom. Il. 13.137 u. Petrain 2003, 366). Während der erste Aspekt bereits durch die Größe und durch ϲκαιοτέρην hervorgehoben worden ist, würde der zweite durch das Attribut γυρόϲ (‚rund‘) betont, jedoch nur an dieser Stelle des Epigramms thematisiert. Bei Ἀνταίου könnte es sich um einen genitivus pertinentiae handeln, d. h. der Satz würde verneinen, dass Antaios der Besitzer des Steins (vgl. Hunters Übersetzung „nor does this round boulder [?] belong to Antaeus [??]“) bzw. der Urheber des Steinwurfs (vgl. die Übersetzung der ed. min. „Nor from Antaeus comes the rounded boulder“) ist. Die Erwähnung des Antaios ist zwar insofern plausibel, als dieser wie der zuvor genannte Polyphem ein Sohn des Poseidon und eine starker Riese ist, aber Antaios wird sonst nirgends mit einem Stein in Verbindung gebracht.89

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Eine andere Interpretation vermag noch weniger zu überzeugen: Im Rückgriff auf Theokr. eid. 22.48–50, wo die unterhalb der Schultern befindlichen Muskeln des Boxers Amykos, der ebenfalls ein Sohn des Poseidon ist, mit „runden Felsbrocken“ verglichen werden, deutet Petrain (2003, 367 f.) Ἀνταίου ὁ γυρὸϲ ὀλοίτρ‹ο›χοϲ als „die runden Schulter(muskel)n des Antaios“, die ebenso wenig wie Polyphem den Stein gehoben haben. Problematisch ist hierbei nicht nur die metaphorische Deutung von ὀλοίτρ‹ο›χοϲ, das bei Theokrit in konkretem Sinne erscheint, sondern auch die Tatsache, dass das Wort bei Theokrit nicht im Singular mit „Schultern“ bzw. „Schultermuskeln“, sondern im Plural mit Oberarmmuskeln verglichen wird.

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V. 10 Καφηρείηϲ … ἁλόϲ: Hier wird der Steinwurf des Poseidon konkret verortet: vor Καφηρεύϲ, dem südöstlichen Kap der Insel Euböa. Das Kap ist berüchtigt als Gefahr für Seefahrer (Hdt. 8.7.1; Strab. 8.6.2; Ptol. geogr. 3.14.22; Plin. nat. 4.63; Mela 2.107). Die konkrete geographische Angabe „des Kaphereischen Meeres“ spielt möglicherweise nicht nur auf die allgemeine Gefährlichkeit dieser Gegend an, sondern auch auf ein spezielles historisches Naturereignis, etwa auf eine Riesenwelle, die riesige Felsbrocken an Land befördert hat. Dies legt der Vergleich mit 20.1 f. nahe, wo der Darstellung ebenfalls eine bezeugte Naturkatastrophe zugrunde liegt (vgl. 20.1: Ἑλίκην). Ein konkretes Ereignis, das hier als Vorlage gedient haben könnte, ist jedoch nicht bekannt. Zu Poseidons Verbindung mit dem Kaphereischen Kap vgl. Komm. zu 20.5. — τειρατοεργὸν: Der Papyrus bietet die Buchstabenfolge τερραγοεργον, die die Erstherausgeber zu dem hapax τειρατοεργόϲ korrigiert haben. Diese Rekonstruktion wird durch die Existenz mehrerer verwandter Wörter gestützt, die allerdings sämtlich erst nach Poseidipp, ab dem 1. Jh. n. Chr., belegt sind: Im Hinblick auf seine Wortbildung kommt τειρατοεργόν der Form τερατουργόϲ am nächsten, die als maskulines Substantiv, das den „Urheber eines Wunders“ angibt (Ptol. tetr. 3.14.18), und als Adjektiv („wundersam“, erst spät bei Philon De sacrificiis Abelis et Caini 28 [I, 213.4 Cohn]) bezeugt ist (ed. pr.). Bei τειρατοεργόν könnte es sich demnach um ein Adjektiv Neutrum handeln, das als Substantiv gebraucht ist (zur Dehnung in der ersten Silbe und zur fehlenden Kontraktion von οε zu ου vgl. Di Nino 2010, 280 f.); semantisch stimmt es mit τερατούργημα (Suda s.v. Διονύϲιοϲ ὁ Ἀρεωπαγίτηϲ) und τερατουργία „Wunder(werk)“ (Porphyr. abst. 2.42) überein (ed. pr.). Poseidipp lässt hier den Topos des „Wunders“ anklingen (vgl. 8.7, 13.2, 15.7 u. die Einl. zur Sektion, S. 23, Anm. 28), spielt aber offenbar auch mit den anderen beiden Bedeutungen von τέραϲ, ‚Götterzeichenʻ und ‚Ungeheuerʻ, die ebenfalls auf den monströsen, von Poseidon geworfenen Stein zutreffen (Di Nino 2010, 280). V. 13 τετρακαι̣εικοϲίπηχυν: Es handelt sich um ein hapax legomenon, dessen Wortbildung nach bekanntem Muster erfolgt. Komposita, die auf -πηχυϲ enden und ein Maß in Ellen angeben (δίπηχυϲ, τρίπηχυϲ usw.), sind bereits bei Homer gut bezeugt (Di Nino 2010, 278). Poseidipp selbst verwendet das klassisch belegte τετράπηχυϲ in 68.4. Als Längenmaß bezeichnet πῆχυϲ den Abstand vom Ellenbogen bis zum Mittelfinger, d. h. ca 45 cm. Der ‚vierundzwanzig Ellen lange‘ Stein ist damit 11 m lang. Dieses enorme Maß scheint die Länge des Wortes performativ darzustellen: Es nimmt fast die Hälfte des Verses ein. — ὅτ’: Die Konjunktion ist hier in kausaler Färbung gebraucht (LSJ: „when“, „seeing that“). Wenngleich es hier nicht wie meistens, wenn es diese Bedeutung annimmt, den Indikativ Präsens nach sich zieht, scheint eine Korrektur zu ὅϲ (‚der duʻ, Casanova 2002, Tammaro 2010, Ferrari per litt.) nicht notwendig. V. 14 καταμήϲειϲ: Das Verb (eig. ‚niedermähen‘) ist hier metaphorisch gebraucht; gemeint ist, dass Poseidon in der Lage ist, eine Insel durch eine „heftige Welle“ (βαρὺ̣ κῦμα, V. 11) zu überspülen und dem Meeresboden gleichzumachen. Rekonstruktionsvorschlag μὴ] λόγιϲαι μεγάλην τ[αύτη]ν πόϲα κύμα[τα λᾶαν τη]λοῦ μαινομένηϲ ἐξ[εκύλιϲ]εν ἁλόϲ·

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τή]νδε Ποϲειδάων βρια[ρῶϲ ἐδ]όνει καὶ ἀπ[οκλὰϲ ῥίμφ] ἐφ’ ἑνὸϲ ϲκληροῦ κ[ύματο]ϲ ἐξέβαλεν ἡμι]πλεθραίην ὠ´ ϲαϲ προ[τὶ τ]ἄ[ϲ]τεα πέτρην, τοῦ Πολυφημείου ϲκαιοτέρην θυρεοῦ· οὐκ ἄν μιν Πολύφημοϲ ἐβάϲταϲε ϲὺν Γαλατείαι πυκνὰ κολυμβήϲαϲ αἰπολικὸϲ δύϲερωϲ· οὐδ’ Ἀνταίου ὁ γυρὸϲ ὀλοίτροχοϲ, ἀλλὰ τριαίνηϲ τοῦτο Καφηρείηϲ τειρατοεργὸν ἁλόϲ· ἴϲχε, Ποϲείδαον, μεγάλην χέρα καὶ βαρὺ κῦμα ἐκ πόντου ψιλὴν μὴ φέρ’ ἐπ’ ἠϊόνα· τετρακαιεικοϲίπηχυν ὅτ’ ἐκ βυθοῦ ἤραο λᾶαν, ῥεῖα καταμήϲειϲ εἰν ἁλὶ νῆϲον ὅλην. Rechne nicht aus, wie viele Wellen diesen großen Stein weit weg von dem tosenden Meer herausgewälzt haben. Diesen erschütterte Poseidon heftig und, nachdem er ihn abgebrochen hatte, schleuderte ihn leicht auf einer rauen Welle heraus, indem er den Felsen von der Größe eines halben Plethrons auf die Städte zu schmetterte, einen unheilvolleren als den Polyphemischen Türstein; nicht hätte ihn Polyphem emporheben können, der mit Galateia oft ins Wasser eintauchte, der unglücklich liebende Ziegenhirt, und nicht kommt der runde Felsbrocken von Antaios, sondern von dem Dreizack, dieses Wunderwerk des Kaphareischen Meeres. Halte, Poseidon, deine große Hand zurück, und eine schwere Welle bringe nicht aus dem Meer auf den nackten Strand; da du einen Stein von vierundzwanzig Ellen aus der Tiefe gehoben hast, wirst du mühelos eine ganze Insel im Meer niedermähen. Der letzte Stein, den die Lithika behandeln (zum Zusammenschluss von 19 und 20, in dem kein Stein vorkommt, vgl. die Interpr. von 20), unterscheidet sich von allen Steinen, die im Vorangehenden beschrieben werden, in Größe und Material: Mit einer Länge von mindestens 11 m ist er um ein Vielfaches größer als der zweite Stein der Gruppe, dessen Größe Poseidipp für erwähnenswert erachtet (der Stein von 8, der „drei Spannen lang“ ist). Analog zu den kleinen Edelsteinen der ersten Gedichte der Sektion korreliert mit der Größe des Steins von 19 seine Wertlosigkeit: Er besteht aus gewöhnlichem Felsstein. Das Kriterium der Außergewöhnlichkeit, das die Steine der zweiten Untergruppe der Lithika eint, erfüllt der Stein zwar nicht durch seine Konsistenz, die weder selten ist noch ihm besondere Fähigkeiten verleiht, wohl aber durch seine enormen Ausmaße. Seine Größe ist jedoch so ausnehmend, dass sie an seinem Status als „Stein“ zweifeln lässt. Außerhalb der Sammlung der Steingedichte würde man das Felsstück jedenfalls nicht als „Stein“ wahrnehmen. Der Text deutet dies durch seine Begriffswahl an: Er verwendet zwar das neutrale λᾶαϲ („Stein“) und alternativ auch das die Sonderstellung anzeigende πέτρη („Fels[stück]“), an keiner Stelle jedoch den Standardterminus λίθοϲ, der in 11 von 20 Epigrammen erhalten ist bzw. sicher ergänzt werden kann. Als Grenzfall und Höhepunkt bildet der Brocken passend das Sujet des letzten Lithikons. Die Größe des Steins wird durch das ganze Gedicht hindurch betont: durch Adjektive, die seine Länge angeben (ἡμι]πλεθραίην, τετρακαι̣εικοϲίπηχυν), durch die dem Betrachter unterstellte Annahme, es habe viele Wellen gebraucht, um den Stein an Land zu befördern, durch den Vergleich mit Polyphems Türstein, durch die Nennung von Riesen, die den Stein nicht

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hätten hochheben können, durch suggestive Bezeichnungen wie ὀλοίτροχοϲ und τειρατοεργόν und durch die Bitte an Poseidon angesichts des von ihm geworfenen Brockens, die Küste von Katastrophen zu verschonen. Das literarisch anspruchsvollste der Steingedichte beschränkt sich aber nicht auf eine deskriptive Hervorhebung des Phänomens der Größe; vielmehr ist die Charakterisierung des Steins in eine raffinierte narrative Gestaltung eingebunden, die verschiedene Sprechsituationen, Zeitebenen und intertextuelle Anspielungen kombiniert. V. 1 f. evozieren (gemäß der oben erläuterten Rekonstruktion des Anfangs) mit der Anrede eines imaginierten Betrachters die Gegenwart des anonymen Sprechers; V. 3–6 erzählen das aktuelle Ereignis, Poseidons Steinwurf, dessen Zeitpunkt nicht definiert wird, den der Sprecher aber offenbar selbst erlebt hat, da er Poseidons Vorgehen genau beschreiben kann. Der Übergang zwischen beiden Passagen ist fließend, da die Aufforderung, nicht zu berechnen, wie viele Wellen den Stein an Land gebracht haben, das im Folgenden beschriebene Ereignis bereits nennt. Ebenso kommuniziert auch die Beschreibung indirekt mit dem Betrachter (und Leser), indem V. 4 die Antwort auf die Frage gibt, die nicht zu stellen V. 1 f. dem Adressierten nahelegen. Im Anschluss an den kurzen Bericht über Poseidons Steinwurf weisen V. 7–9a die potentielle ‚Täterschaft‘ zweier Söhne des Poseidon, der Riesen Polyphem und Antaios, zurück. Der Übergang vom zweiten (V. 3–6) zum dritten Teil (V. 7–9a) ist wiederum fließend, da Polyphem bereits in V. 6 durch den Vergleich seines Türsteins mit dem hier behandelten Brocken eingeführt wird. V. 7–9a rekurrieren auf eine mythische Vergangenheit, bevor V. 9b–10 wiederum auf das hier thematisierte Ereignis zurückkommen und die Urheberschaft des Steinwurfs festlegen sowie die Lokalisierung des Steins vornehmen. Darauf wird Poseidon apostrophiert und gebeten, von zukünftiger Untat abzusehen (V. 11–14). Es handelt sich also um eine mehrfache Ringkomposition: Die Apostrophen am Anfang und Ende des Textes rahmen den Bericht des Poseidonschen Steinwurfs ein, der wiederum eine kurze Sequenz mythologischer Beispiele umschließt. Deren Kern V. 7 f. bildet die raffinierte Mitte des Epigramms, wie es hier abgedruckt ist: Die Rezeption des 9. Gesangs der Odyssee, der mit anderen homerischen Passagen eine Folie bildet, vor der das Epigramm zu lesen ist, verschmilzt an dieser Stelle mit der Bezugnahme auf Theokrits Eidyllia 6 und 11. Zunächst formuliert V. 7 die logische Konsequenz aus dem vorangehenden Vergleich, der den von Polyphem geschleuderten Stein als „unheilvoller“ als Polyphems Türstein bestimmt: „Nicht hätte ihn Polyphem emporheben können …“ Diese Feststellung von Polyphems Machtlosigkeit ist eigentlich eine Aussage über den Stein: Nicht einmal der homerische Riese, der den überlebensgroßen Türstein mit spielerischer Leichtigkeit hin- und hersetzt, ist in der Lage, den vorliegenden Stein hochzuheben. In seinem Fortgang schaltet der Text jedoch völlig überraschend von der homerischen auf die theokriteische Version des Kyklopen um: „… der mit Galateia oft ins Wasser eintauchte, der unglücklich liebende Ziegenhirt“. Diese Charakterisierung Polyphems unterläuft die beschriebene Wirkung des ersten Teils des Satzes und relativiert für einen Moment die vorausgehende Betonung der Größe: Es ist ja nicht verwunderlich, dass der bukolische, bei Theokrit nicht wild, sondern friedfertig und weichlich gezeichnete Polyphem nicht in der Lage ist, einen großen Brocken zu heben. Er hätte vermutlich auch kein Interesse daran: Wenn er sich im Wasser, von wo aus sein Onkel den Stein warf, befindet, ist er nur an Galateia interessiert. Möglicherweise soll die Charakterisierung Polyphems eine irreale Relektüre des ersten Teils von V. 7 anregen: „Er hätte ihn nicht hochgehoben.“ Die plötzliche Überblendung der homerischen Folie durch das bukolische Bild Polyphems bricht ironisch die vorangehende Evozierung der Gefährlichkeit Polyphems und des Felsbrockens. Aber auch dieses neue Bild Polyphems ist kein statisch-stabiles Bild, das das zuvor

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beschriebene vollständig ersetzt, so dass die aufgebaute Angst vor dem Brocken obsolet würde. Dies zeigt ein genauer Blick auf die vermeintlich theokriteische Charakterisierung Polyphems: Nur die Apposition entspricht dem von Theokrit entworfenen Bild; das einträchtige Eintauchen mit Galateia ist hingegen gänzlich untheokriteisch. Auch die Theokritfolie wird also in dem Moment gebrochen, in dem sie aufgerufen wird. Poseidons Gefährlichkeit, die der geworfene Felsbrocken exemplifiziert, wird nur vorübergehend durch den ironischen Ton konterkariert (zum frappierenden Gegensatz von Inhalt und Ton in diesem Epigramm vgl. Gigante Lanzara 2003, 177–81). Ab V. 9 hebt der Text wieder die Größe des Steins und die Stärke Poseidons durch den impliziten Vergleich des Antaios mit seinem Vater hervor. In diesem Epigramm macht Poseidipp nicht nur intertextuelle Anspielungen – vor allem auf das archaische Epos und die zeitgenössische hellenistische Bukolik –, sondern verwebt sie auch kunstvoll miteinander: Indem er den homerischen Polyphem durch die Augen Theokrits betrachtet („window allusion“, vgl. Hunter 2004, 103; Petrain 2003, 360), stellt er seine eigene dichterische Perspektive her und konstruiert durch die produktive und innovative Rezeption der reichen literarischen Tradition seine Autorität als Dichter. Homer, an den Poseidipp mit seinem Epigramm anschließt, übertrifft er explizit durch die Wahl des Steines, der noch „unheilvoller als Polyphems Türstein“ ist, und auf linguistischer Ebene greift Poseidipp kreativ auf die Vergangenheit zurück, indem er im Anschluss an den homerischen Sprachgebrauch aufbauend einige neue Wörter bildet. Wie sein halber Namensvetter Poseidon den großen Brocken hebt und frühere große Steine übertrifft, so kann Poseidipp die sprachliche und literarische Vergangenheit handhaben und übertrumpfen. Neu geschaffen hat Poseidipp auch die Gattung der Lithika, deren aus den vorangehenden Epigrammen ablesbare Konventionen und Grenzen er in diesem Gedicht überschreitet: In der Länge übertrifft es alle vorangehenden Epigramme bei weitem, und auch der beschriebene Gegenstand unterscheidet sich von den zuvor behandelten wertvollen, gravierten, seltenen, glänzenden, wundersame Kräfte besitzenden Steinen. In der abschließenden Wahl des überdimensionierten Brockens liegt ein ironisches Moment. Obwohl die Größe des Felsstücks so nachdrücklich wie vielfältig hervorgehoben wird und das Gedicht einige der Topoi anklingen lässt, die die vorangehenden Steingedichte etabliert haben, wie den des „Wunders“ oder der „Herkunft des Steins“ (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 23, Anm. 28), könnte es sein, dass der Brocken letztlich vor allem eine Projektionsfläche für Poseidipps Reflexion über Literatur ist. Das Epigramm ist auch ohne die Verbindung mit 20 kompositorisch geschlossen. Die Wahrscheinlichkeit, dass 19 und 20 zusammengehören, beruht vor allem darauf, dass die letzten sechs Verse der Lithika keinen eigenen Stein behandeln und dass sich bei ihrem Zusammenschluss mit 19 ein Zusammenhang ergibt, der sich mit der beschriebenen Ringkomposition, die das 20. Epigramm konstituiert, überlappt: Auf die allgemeine Bitte an Poseidon, von schlimmeren Untaten abzusehen (19.11–14) würde der Hinweis auf eine tatsächlich und eine beinahe von Poseidon verursachte Katastrophe folgen, der die Furcht vor dem zukünftigem Wirken des Gottes begründet (20.1– 4); der Abschluss würde die Apostrophe Poseidons parallel zu 19.11–14 wiederaufnehmen und die anfängliche Bitte mit einem konkreten politischen und zeithistorischen Anspruch versehen. 20 Die letzten sechs Verse der Lithika thematisieren keinen eigenen Stein, weshalb es wahrscheinlich ist, dass sie zum vorangehenden 19. Epigramms gehören, obgleich sie von ihm durch eine paragraphos getrennt sind. Inhaltlich bildet 20 eine passende Fortsetzung von

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19 (vgl. Interpr.): Das 19.11 beginnende Gebet an Poseidon, der in den vorliegenden Versen durchgängig adressiert wird, scheint hier fortgeführt zu werden. IV 1 ὡ̣ϲ πάλαι ὑψηλὴν Ἑλίκην ἑνὶ κύματι παίϲαϲ 1 2 π̣ᾶϲαν ἅμα κρημνοῖϲ ἤγαγεϲ εἰϲ ἄμαθον, 2 3 ὥϲ̣ κ’ [ἐ]π’ Ἐλευϲῖνα πρηϲτὴρ ἑκατόγγυοϲ ἤρθηϲ 3 4 εἰ̣ μ̣ὴ Δη̣μήτηρ ϲὴν ἐκύν̣η̣ϲε χέρα· 4 5 νῦν δέ, Γ̣εραίϲτι’ ἄναξ, νή̣ϲ̣ων μέτα τὴν Πτολεμαίου 5 6 γαῖαν̣ ἀκ̣ινήτην ἴϲχε καὶ αἰγιαλούϲ. 6 2 ηγαγεν P (def. Lapini 2003b, Livrea 2007) 3 ωϲ̣τ[ P : ὥϲ̣ τ’ [ἐ]π’ Ἐλευϲῖν’ ἂ‹ν› Austin ed. min. (ep. 19 et 20 in unum coniungens), def. Lapini 2003b  εκατοργυοϲ P (def. Lapini 2003b, Livrea 2007, Ferrari per litt.)  ἤρθη Lapini 2003b 6 εϲχε P

Wie du vor langer Zeit die hochragende Helike mit einer einzigen Welle schlugst und sie vollständig mit ihren Klippen in den Sand stürztest, so hättest du dich (gegen) Eleusis als hundert Klafter hohe90 Wasserhose erhoben, wenn nicht Demeter deine Hand geküsst hätte. nun aber, Herrscher von Geraistos, lasse das Land des Ptolemaios mit seinen Inseln unerschüttert und die Küsten. V. 1 πάλαι: Das Adverb bezieht sich eher auf die Verbalhandlung παίϲαϲ … /ἤγαγεϲ („du schlugst […] und führtest“) als auf das folgende Adjektiv ὑψηλήν (ed. pr.). Es zeigt an, dass im Folgenden Ereignisse der Vergangenheit erzählt werden, bevor νῦν δέ am Anfang von V. 5 den Blick auf die Gegenwart bzw. Zukunft lenkt. — ὑψηλὴν: Dieses Attribut trägt die Stadt Helike (vgl. das folgende Lemma) auch in SH 1134 A1, 863. — Ἑλίκην: Die Stadt lag südöstlich von Aigion in Achaia im Norden der Peloponnes und war 12 Stadien, d. h. ca. zwei Kilometer, vom Meer entfernt. Sie wurde 373 v. Chr. durch ein nächtliches Erdbeben bzw. die daraus resultierende Flutwelle zerstört und versank größtenteils im Meer (Polyb. 2.41.7; Diod. 15.48 f.; Ov. met. 15.293 f.; Strab. 8.7.2; Paus. 7.24.5–25.4; ed. pr.; Bölte 1912, 2855–2858; Meyer, E. 1962: Art. Helike, RE Suppl. IX, 79.15 f.). In Helike befand sich der Tempel des Poseidon Helikonios; das Heiligtum wurde bei dem Beben ebenfalls überschwemmt (Paus. 7.24.12). Die Katastrophe wurde als Bestrafung durch den erzürnten Poseidon gedeutet (ed. pr.). In der Antike waren die Ruinen der Stadt noch zum Teil über Wasser sichtbar (Paus. 7.24.5–25.4), zum Teil unter Wasser zu sehen (Ov. met. 15.293 f.). Danach galt Helike als verschollen und die genaue Lage als unbekannt, bis im Jahre 2000 die Überreste der Stadt wiederentdeckt wurden. — ἑνὶ κύματι: Hier wird im Anschluss an 19 und den Steinwurf Poseidons im Kaphereischen Meer eine zweite Tat genannt, die Poseidon mit (sc. nur) einer einzigen Welle verübt hat (vgl. 19.4: ἐφ’ ἑνὸϲ ϲκληροῦ κ[ύματο]ϲ̣ ἐ̣ξ̣έ̣βαλεν). V. 2 ἤγαγεϲ: Die Korrektur des überlieferten ἤγαγεν kann als sicher gelten (ed. pr.).

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Die Übersetzung gibt die Überlieferung ἑκατόργυοϲ wieder, s. Komm. zu V. 3.

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V. 3 ὥϲ̣ κ’: Überliefert ist die Buchstabenfolge ωϲ̣τ, die sich als ὥϲτ’ (‚so dass‘) oder als ὥϲ̣ τ’ (‚und wie‘) verstehen ließe. Beide Möglichkeiten kommen nicht in Betracht: Die konsekutive Konjunktion ergibt keinen Sinn; gegen die parallele Fortführung des Vergleichssatzes V. 1 f. spricht, dass den beiden ὡϲ-Sätzen ein korrelativer Hauptsatz fehlen würde, da V. 5 neu ansetzt (vgl. das Lemma νῦν δέ). Zudem zeigt V. 4 („Wenn Demeter nicht deine Hand geküsst hätte“) an, dass es sich bei V. 3 um eine irreale Apodosis handelt, der in dem erhaltenen Text ein ἄν oder κε fehlt. Die Konjektur der ed. pr. ὥϲ̣ κ’ löst beide Probleme: ὥϲ̣ ist korrelativ zu V. 1 ὡϲ (‚wie …, so …‘); κ’ bildet mit ἤρθηϲ das Prädikat des irrealen Hauptsatzes („du hättest dich erhoben“). — [ἐ]π’ Ἐλευϲῖνα: Hier stellt sich die Frage, welches Eleusis durch Poseidons Wüten in Form eines Wirbelsturms bzw. einer Wasserhose (vgl. das Lemma πρηϲτὴρ ἑκατόγγυοϲ) bedroht wird: Zunächst liegt die Annahme nahe, dass es hier um das attische Eleusis, die berühmteste der Städte, die diesen Namen tragen, geht, besonders weil der folgende Vers die Rettung der Stadt auf Demeters Einwirken zurückführt. Dennoch spricht mehr dafür, dass es sich um das jüngere ägyptische Eleusis, einen Vorort von Alexandria, handelt, der nach der attischen Mutterstadt benannt worden ist (ed. pr.). Entscheidend ist die Erwähnung der Rettung von Eleusis zwischen dem ersten Verspaar, das die Zerstörung Helikes erzählt, und dem letzten, das Poseidon um Schutz für das ptolemäische Herrschaftsgebiet bittet. Durch den Bericht, dass die Zerstörung des ägyptischen, im Land des Ptolemaios liegenden Eleusis im letzten Moment abgewendet werden konnte, wird zum einen die folgende Bitte, das Land des Ptolemaios unerschüttert zu bewahren (vgl. das Lemma ἴϲχε), begründet: Bislang ist das Land zwar unversehrt geblieben, die Bedrohung ist aber real. Zum anderen wird der Gegensatz zwischen dem makedonischen Helike, das zerstört wird, und dem ptolemäisch-ägyptischen Eleusis, das verschont wird, hervorgehoben. Auch wenn wir für die Existenz des Demeterkults im ägyptischen Eleusis keine Zeugnisse besitzen, ist ist es wahrscheinlich, dass die Stadt den Hauptkult ihrer Mutterstadt übernommen hat (Hopkinson 1984, 32). Aufgrund seiner Verbindung zu den Ptolemäern kommt theoretisch auch noch ein drittes Eleusis in Frage, das Lehnus (2002, 11) als Alternative zu dem äygptischen nennt, und zwar die im Süden der Insel Thera (heute: Santorin) gelegene Stadt, die nur einmal (Ptol. geogr. 2.14.23) bezeugt ist und deren Hafen bis zur Zeit von Ptolemaios VI. Philometor (ca. 185–145) als Stützpunkt für die ptolemäische Flotte diente. Im Norden der Insel ist auch ein Demeterkult bezeugt, nicht jedoch in Eleusis (Hiller von Gaertringen 1905, 2338 f.). Die Verbindung zu den Ptolemäern ist aber im Falle des ägyptischen Eleusis viel deutlicher, weshalb letzteres dem theranischen Eleusis vorzuziehen ist. — πρηϲτὴρ ἑκατόγγυοϲ: Das Prädikativum nennt die Gestalt, in der Poseidon sich gegen Eleusis erhoben hätte. Generell bezeichnet πρηϲτήρ entweder einen Hurrikan, also einen großflächigen Wirbelsturm, oder eine Wasserhose, also einen kleinräumigeren Tornado. Die Betonung der aus dem Meer aufwärts gerichteten Bewegung bei der Entstehung des Sturms durch ἤρθηϲ könnte ein Indiz dafür sein, dass hier eine Wasserhose gemeint ist (Lapini, 2003b, 42 f.): Das Aufsteigen feuchter Luft aus dem Meer ist zwar Voraussetzung beider Wirbelstürme; während die Verbindung eines hurrikanartigen Wirbelsturms mit dem Meer aber nur für diejenigen offenkundig ist, die um seine physikalischen Ursachen wissen, scheint die Wasserhose das säulenartige Aufsteigen des Wassers oder, bildlich gesprochen, Poseidons aus dem Meer hin zu einer Gewitterwolke unverkennbar abzubilden. Für diese Deutung von πρηϲτήρ als ‚Wasserhoseʻ (Lapini 2003b und 2007) statt als ‚Hurrikanʻ bzw. hurrikanartiger Wirbelsturm (ed. pr.; ed. min.) scheint auch das Adjektiv zu sprechen, das πρηϲτήρ charakterisiert: Der Papyrus bietet das hapax ἑκατόργυοϲ, das Lapini 2003b, Livrea 2007, Di Nino 2010 und Ferrari per.litt. gegenüber der Konjektur der ed. pr. mit dem Hinweis darauf rechtfertigen, dass das Längenmaß ὄργυια/ὄργυια (‚Klafter‘) auch in der attischen

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Form ὄργυα/ὄργυα belegt ist (LSJ; Lapini 2003b, 42; Lapini 2007, 28; Di Nino 2010, 283). ὄργυια gibt den Abstand zwischen den ausgestreckten Armen an und entspricht einer Länge von sechs Fuß. 100 Klafter sind also knapp 180 m. Im Gegensatz dazu gibt die Konjektur ἑκατόγγυοϲ, für deren Wortbildung die Erstherausgeber aus Il. 9.579 πεντηκοντόγυοϲ als Parallele heranziehen, ein Flächenmaß an: „von hundert γυῖαι“. Da ein γύηϲ wohl einem Quadratplethron (875 m²) entspricht (vgl. Schol. Hom. Il. 9.579 Erbse II, 524), betrüge die flächenmäßige Ausdehnung des „Hurrikans“ (so die Deutung der ed. pr.) 87 500 m². Gemessen an dem Durchmesser, den große Hurrikane haben, ist diese Angabe durchaus angemessen. Allerdings wäre eine Flächenangabe im Anschluss an ἤρθηϲ merkwürdig. Wohl aus diesem Grund verstehen die Erstherausgeber das Adjektiv im Sinne einer allgemeinen Charakterisierung als „gigantisch“ oder „gewaltig“. Wie auch immer man πρηϲτήρ deutet (als Wasserhose oder als Wirbelsturm), das Wort kann nicht gemeinsames Subjekt der ersten beiden Distichen sein, da es sich bei einer durch ein Erdbeben ausgelösten Riesenwelle und einem Wirbelsturm (gleich welcher Art) um grundverschiedene Naturereignisse handelt (vgl. dagegen Lapini 2003b, 43, und im Anschluss daran Di Nino 2010, 282 f.). V. 4 Δη̣μήτηρ: Der Vers spielt nicht nur auf Demeters kultische Verehrung in Eleusis, sondern auch auf ihr besonderes Verhältnis zu Poseidon an. Zum einen sind Demeter und Poseidon Geschwister (Hes. theog. 454). Zum anderen teilen sie die Funktion der Fruchtbarkeits- und Erntegottheit, in der sie in einigen Kulten gemeinsam figurieren, beispielsweise in der zu Ehren von Demeter, Kore und Dionysos begangene Erntefeier der Haloen, zu der auch eine Ποϲειδῶνοϲ πομπή gehörte (vgl. Roscher III.2, 2820–2822 [E.H. Meyer]). Besonders eng sind die beiden Götter in einigen arkadischen Kulten miteinander verbunden, z. B. in dem der Demeter Erinys: Dort stellt Poseidon als Hengst Demeter nach, die sich als Stute vergeblich vor ihm zu verbergen sucht; nach ihrer Vergewaltigung gebiert sie die Tochter Despoina und das Pferd Areion (vgl. Roscher III.2, 2823 [E.H. Meyer]; Graf, 1997, DNP s. v., 424). V. 5 Γε̣ ραίϲτι’ ἄναξ: Geraistos ist der Name einer Stadt und eines Kaps an der Südspitze von Euboia, d. h. südlich des in 19.10 evozierten Kap Kaphereus. Mit dem Adjektiv Γεραίϲτιοϲ (‚von/aus Geraistos‘) wird Poseidon hier, wie auch Aristoph. equ. 561, deshalb verbunden, weil sich in Geraistos ein berühmtes Heiligtum des Gottes befand. Warum er hier aber ausgerechnet dieses Epitheton erhält, wird nicht aus den vorliegenden sechs Versen, sondern nur aus der Verbindung mit Epigramm 19 klar, das über Poseidons Wirken am Kaphereischen Kap spricht. Die Tatsache, dass sich die beiden Ortsnennungen Καφηρείηϲ … ἁλόϲ (19.10) und Γεραίϲτι’ nur erklären, wenn man sie in Bezug zueinander setzt, ist ein weiteres starkes Argument für den Zusammenschluss von 19 und 20 (vgl. die Interpr.). — Πτολεμαίου: Der Sprecher erbittet hier von Poseidon Schutz für das ptolemäische Herrschaftsgebiet und damit auch für Ptolemaios selbst. Welcher Ptolemaios hier gemeint ist, lässt sich nicht sicher sagen, vermutlich – wegen der Zeitgenossenschaft zu Poseidipp – Ptolemaios II. Philadelphos (ed. pr.). Diese erste Erwähnung des Herrschaftshauses der Ptolemäer auf dem Papyrus erfolgt wohl nicht zufällig prononciert am Ende der ersten Gedichtgruppe der Sammlung (vgl. die Einl. zur Sektion, S. 24). V. 6 ἴϲχε: Überliefert ist εϲχε; der Vokativ V. 5 verlangt jedoch einen Imperativ oder eine Verbform in der 2. Ps. Sg. Vermutlich handelt es sich also bei der erhaltenen Form um eine Verschrei-

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bung des Imperativs ἴϲχε (ed. pr.). Im Unterschied zu ἴϲχε in 19.11 hat der Imperativ hier die Bedeutung ‚bewahre‘, ‚erhalte‘. Die vorliegenden sechs Verse sprechen in einer klaren dreiteiligen Struktur über Poseidons mächtige Gewalt als eine, die er (1) bereits ausgeübt hat, (2) hätte ausüben können und (3) in Zukunft nicht ausüben soll. Die Verse werfen die entscheidende Frage auf, ob sie ein eigenständiges Epigramm darstellen oder den Abschluss des vorangehenden 19. Epigramms bilden. Das einzig valide Argument, das sich gegen den Zusammenschluss anführen lässt, ist die Paragraphos unter col. III 41, die den Abschluss des davor stehenden Epigramms markiert. Möglicherweise lässt sie sich als Irrtum des Schreibers erklären, der aufgrund der enormen Länge des Gedichts davon ausging, dass es sich um zwei Epigramme handeln müsse. Das wichtigste Argument für die Verbindung der auf dem Papyrus getrennt erscheinenden Epigramme ist, dass 20 keinen eigenen Stein behandelt und damit die conditio sine qua non eines Lithikons nicht erfüllt. Daneben spricht gegen die Eigenständigkeit des Epigramms, dass Poseidon, obwohl er im gesamten Gedicht adressiert wird, nur einmal in Periphrase als „Herrscher von Geraistos“ angeredet wird. Der antike Leser dürfte zwar wissen, wer sich hinter dieser Apostrophe verbirgt; passender stellte die Anrede aber infolge der Verbindung von 19 und 20 eine Variation, nicht den Ersatz der Namensnennung dar: Ποϲειδάων (19.3) … Ποϲείδαον (19.11) … Γ̣εραίϲτι’ ἄναξ (20.5). Die bemerkenswerte inhaltliche Nähe von 19 und 20 wird bisweilen nicht als Argument für, sondern gegen den Zusammenschluss der beiden Gedichte gewertet. Beide Epigramme behandeln jeweils in einem ersten Teil die Macht Poseidons, wie er sie exemplarisch in der Vergangenheit demonstriert hat, und wenden sich in ihrem zweiten Teil an Poseidon mit der Bitte um zukünftige Verschonung. 20 wird demgemäß als Gedicht betrachtet, dass das Sujet von 19 in kürzerer, abgewandelter Form repliziere und deshalb nicht ein Teil des vorangehenden Gedichts sein könne. Besonders die Parallele von 19.11 f. und 20.5 f. mit der Wiederholung des Imperativs spreche gegen die Verbindung der beiden Gedichte (ed. pr.). 20.1–6 scheinen jedoch die vorangehenden Verse nicht so sehr zu wiederholen als vielmehr unter Verlagerung des Akzents sinnvoll fortzusetzen. Nachdem 19.1–13 Poseidons gewaltige Kraft anhand eines riesigen Felsbrockens, den er aus dem Kaphereischen Meer in Richtung der Küste geworfen hat, darstellen (vgl. 19, Interpr.), wenden sich 19.11–14 mit der allgemeinen Bitte an Poseidon, nicht noch Schlimmeres als den betrachteten Steinwurf zu vollbringen. Dieses Gebet erweckt zwar ohne den Anschluss von 20.1–6 nicht den Eindruck von Unvollständigkeit, wäre aber durch die Verbindung mit den folgenden Versen Teil einer ausgefeilten Ringkomposition, die durch ihre Geschlossenheit ein starkes Argument für den Zusammenschluss der beiden Epigramme darstellt. Nach der allgemeinen Bitte an Poseidon am Ende von 19 würden 20.1– 4 die Angst vor neuen Gewalttaten und die daraus resultierende Bitte rechtfertigen, indem sie an Poseidons Gewaltausübung in der Vergangenheit erinnern: Innerhalb einer Vergleichsstruktur werden eine Tat, die er tatsächlich verübt haben soll und eine, von der er gerade noch abgehalten werden konnte, gegenübergestellt. Hiermit stellt der Sprecher den Bezug zur vorangehenden Beschreibung des Steinwurfs am Kap Kaphereus her. Während er weder dessen Auswirkungen auf die anwohnenden Menschen thematisiert noch dessen Zusammenhang mit einem bestimmten geschichtlich datierbaren Naturereignis andeutet, stellen die Verse 20.1– 4 Poseidon als Verursacher einer historisch belegten Naturkatastrophe, des Erdbebens und der daraus resultierenden Flutwelle, dar, die Helike zerstört hat. Auch der im letzten Moment verhinderte Angriff in Form einer Wasserhose auf Eleusis ist, im Anschluss der Beschreibung der Katastrophe von Helike, in diesem historisch konkreten Sinne zu verstehen. Die folgende Apostrophe Poseidons schließt formal den Bogen zu seiner Adressierung in

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19.11–14 und konkretisiert diese erste Bitte: Geht es dem Sprecher dort noch ganz global darum, Poseidon von weiteren Untaten im Bereich von Küsten und Inseln abzuhalten, so bittet er am Schluss Poseidon darum, speziell ptolemäisches Gebiet zu verschonen. Diese zweite Anrufung Poseidons knüpft nicht nur an die erste an, sondern setzt auch die mit der Schilderung der Katastrophe von Helike begonnene Historisierung des Erzählten fort. Durch die Erwähnung von Eleusis (V. 3) vollzieht das Gedicht den Wechsel des Settings von vor- bzw. nicht-ptolemäischen Orten (Kaphereus, Helike) hin zum Herrschaftsgebiet der Ptolemäer, noch bevor V. 5 durch νῦν δέ explizit auf die ptolemäische Gegenwart und Zukunft verweist. Die beiden Verspartien 19 und 20 knüpfen nahtlos aneinander an und würden bei einem Zusammenschluss eine vollendete kompositorische Einheit bilden. Sie sind durch Verweise aufeinander, Leerstellen, die durch den jeweils anderen Teil gefüllt werden, sowie sprachliche und stilistische Ähnlichkeiten miteinander verbunden. Es lässt sich also feststellen, dass die Gedichte entweder eine einzige Komposition darstellen oder aufeinander hin komponiert worden sind. Mit dem Bezug auf Ptolemaios schließen die vorliegenden sechs Verse die Gedichtgruppe passend ab – entweder als Teil von 19, das dann mit der außerordentlichen Länge von 20 Versen den gebührenden Abschluss bildet, oder als eigenständiges Gedicht, das als letztes Gedicht eine Sonderstellung einnimmt und die Sektion mit einem Gebet vollendet.

Oionoskopika Die im Papyrus mit dem Titel Oionoskopika (οἰωνοϲκοπικά) überschriebene zweite Sektion des Epigrammbuchs umfasst 15 Epigramme von jeweils zwei bis maximal vier (33) Distichen. Der Titel scheint dem 14. Epigramm (34.3) entnommen zu sein, wo die mantische Praxis der ‚Vogelschau‘ (oionoskopía) am Beispiel des Sehers Damon aus Telmessos beschrieben wird. Da die Sektion der Oionoskopika jedoch nicht nur Epigramme zur Vogelschau enthält, sondern auch andere Vorzeichen wie schwitzende Statuen (30) und verschiedene mantische Techniken (vgl. die Traumdeutung in 33) thematisiert, ist die Bedeutung des Titels offenbar im Sinne von ‚Vorzeichenschau‘ weiter gefasst. Begriffsgeschichtlich lässt sich diese Erweiterung der speziellen Bedeutung ‚Vogelschau‘ auf die mantische Praxis allgemein aus der Prominenz der Vogelmantik erklären, wie sie sich seit archaischer Zeit auch im Gebrauch des Wortes ‚Vogel‘ niedergeschlagen hat: Seit Homer können die Worte für ‚Raubvogel‘ bzw. ‚Vogel‘ – ὄρνιϲ und οἰωνόϲ – die Bedeutung ‚Zeichenvogel‘ oder allgemein ‚Zeichen‘ bzw. ‚Omen‘ annehmen (vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 125–126). In diesem Sinn wird οἰωνόϲ auch in den Oionoskopika verwendet (32.5), und mit Blick auf die ganze Sektion changiert die Bedeutung von οἰωνοϲκοπικά zwischen Vogelmantik und Mantik allgemein: Zwei Drittel der 15 Epigramme haben mit Vogelschau zu tun, während 5 Epigramme (25, 28, 30, 32, 33) andere Zeichen thematisieren. Die Thematik ‚Vogelschau‘ bzw. ‚Vorzeichenschau‘ ist für die Gattung Epigramm ungewöhnlich und stellt möglicherweise eine Innovation Poseidipps dar. Zwar finden sich ganz vereinzelt ähnliche Epigramme in der Anthologia Palatina – vgl. AP 9.534 (schwitzende Statue) oder AP 1.86 (Vogelorakel) –, Hinweise auf ein vor Poseidipp bekanntes epigrammatisches Subgenre Oionoskopika gibt es jedoch nicht (vgl. Krevans 2005, 88 f.). Es scheint vielmehr, dass Poseidipp – wie in anderen Sektionen des Epigrammbuches auch (vgl. bes. die Lithika und die Tropoi) – die traditionellen generischen Grenzen der Epigrammdichtung erweitern wollte, indem er Themen, die zuvor in anderen Gattungen behandelt wurden, für die Gestaltung von Epigrammen nutzte. Als mögliche Vorbilder für die Oionoskopika sind zum einen hellenistische Wunderbücher wie Kallimachos’ verlorene Sammlung von wundersamen Dingen (fr. 407– 411 Pfeiffer) zu nennen, in denen sich auch ungewöhnliche Verhaltensweisen von Vögeln finden, wie etwa die Wächtervögel auf der Insel des Diomedes, die Griechen von Nicht-Griechen unterscheiden können (fr. 407), oder Vögel, die für Vorhersagen gebraucht werden (ebd.). Poseidipp könnte solche, in Prosa verfasste Mirabiliensammlungen, die in hellenistischer Zeit sehr populär waren, für eine Poetisierung genutzt haben (vgl. Krevans 2005, 89–92). Gegen diese Annahme spricht jedoch, dass Poseidipps Oionoskopika gerade nicht singuläre Wundererscheinungen thematisieren, sondern Zeichen, die wiederholt und an verschiedenen Orten vorkommen und prinzipiell von jedermann wahrgenommen werden können. Entsprechend lässt sich auch die mit den Wunderbüchern verbundene Wirkungs- und Gestaltungsabsicht der Faszination1 in den Oionoskopika nicht finden. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass Kallimachos’ vermutlich stark aitiologisch ausgerichtete Schrift Über die Vögel (fr. 414 – 428 Pfeiffer) ein Vorbild für Poseidipp gewesen ist, da die Oionoskopika nicht nach den Ursprüngen von besonderen (Vogel) Zeichen fragen, sondern nach deren Wirkung und Bedeutung. Auch philosophische Aspekte –

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Vgl. Krevans 2005, 92, die von einer „aesthetic of surprise, a fascination with the incredible“ spricht.

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wie der in hellenistischer Zeit von Epikureern und Stoikern diskutierte Zusammenhang von Vorzeichen und göttlicher Existenz – lassen sich bei Poseidipp nicht finden.2 Wahrscheinlich hat sich Poseidipp von fachwissenschaftlichen Prosaschriften über Vorzeichen anregen lassen, und möglicherweise kannte er Theophrasts De signis (vgl. Gutzwiller 2005, 305). Konkrete Vorbilder lassen sich jedoch auch für einzelne Epigramme nicht finden. Siders (2005, 174 –176) Überlegung, hinter den Epigrammen 21–24 könne sich die Kenntnis eines (vielleicht sogar von dem in 24 erwähnten Archytas verfassten) Fachbuchs über Wetterzeichen verbergen, bleibt Spekulation. Ein möglicher literarischer Bezug könnte zu einer in den Hesiodscholien bezeugten Ornithomanteia Hesiods bestanden haben, die sich an die letzten Verse der Werke und Tage (826–828)3 angeschlossen haben mag (vgl. Baumbach/ Trampedach 2004, 150 f.). Poseidipp, der seine Oionoskopika von Beginn an programmatisch in einen literarischen Bezug zur homerischen Epik setzt (21) und mit homerisch-hesiodeischer Motivik spielt (27), könnte auf diese Weise versucht haben, die epische Gestaltung eines Themas in die Form des Epigramms zu ‚übersetzen‘ (vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 155). Diese Hypothese setzt voraus, dass die 15 Epigramme nicht nur als jeweils in sich geschlossene epigrammatische Einzeldichtungen betrachtet werden, sondern so gestaltet bzw. zusammengestellt worden sind, dass sie in einem sektionsinternen Zusammenspiel ein Thema systematisch darstellen können. Hierfür lassen sich thematische und sprachliche Hinweise finden, die ganz unabhängig von möglichen Vorbildtexten eine – möglicherweise didaktische – Struktur zumindest von Teilen der Sektion erkennen lassen. In der Forschung werden verschiedene Anordnungen der Epigramme diskutiert: Die Erstherausgeber schlagen eine Dreiteilung der Sektion vor (21–24; 25–33; 34 –35), wobei der Mittelteil allerdings keine klare Einheit bildet.4 Ähnlich problematisch ist Petrains Versuch, fünf Teile zu erkennen, da er hierfür Übergangsepigramme annehmen muss und seine Kategorien der Unterteilung nicht immer scharf voneinander trennt.5 Von einzelnen Epigrammgruppen gehen Gutzwiller (2004, 88) und Sider (2005) aus. Während Gutzwiller die Einheit von 30–33 mit Blick auf die militärische Bedeutung der dort beschriebenen Vorzeichen betont, deutet Sider die Epigramme 21–24 als ‚Übersetzung‘ eines prosaischen Fachbuches zur Mantik.6 Eine sektionsumfassende Anordnung erkennen Baumbach/Trampedach (2004), die mit Blick auf die dargestellten

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Vgl. dagegen Gutzwiller 2005, 305: „… Posidippus illustrates epigrammatically the Stoic argument that omens prove the existence of the gods, although the divine figures are now largely remade as all-powerful Hellenistic monarchs.“ Nicht nur finden sich keine inhaltlichen oder intertextuellen Bezüge, die auf eine solche Lesart deuten, sondern in 27 wird die Macht des Zeus (als Repräsentant der Götter) durch die Kraft des unabhängigen Geiers relativiert, was eine sektionsübergreifende Deutung eines Götterbezugs unmöglich macht. Hes. erg. 826–828: εὐδαίμων τε καὶ ὄλβιοϲ, ὃϲ τάδε πάντα / εἰδὼϲ ἐργάζηται ἀναίτιοϲ ἀθανάτοιϲιν, / ὄρνιθαϲ κρίνων καὶ ὑπερβαϲίαϲ ἀλεείνων („Glücklich ist und gesegnet derjenige, der all dies / weiß und in seinen Taten berücksichtigt, der schuldlos vor den Göttern ist, / auf Vogelzeichen achtet und Übertretungen meidet.“). Ed. pr., 25: „i primi quattro riguardano l’apparire di uccelli che costituiscono un buon auspicio per la navigazione o per la pesca (IV 8–29); poi vi sono nove testi in cui il presagio descritto è fornito da incontri casuali o da uccelli o da eventi di varia natura, portentosi oppure no (IV 30–V 39); e in conclusione sono posti due componimenti che non parlano di presagi, ma di indovini (VI 1–8).“ Petrain 2002, 10–11: „IV. 8–29: bird omens pertaining to maritime occupations; IV. 30–35: advice on finding a husband; IV. 36–V.15: omens pertaining to domestic affairs and land travel; V. 16–39: other types of omens (not birds); VI. 1–8: noteworthy interpreters of omens.“ Vgl. Sider 2005, 176: „We have seen that the four poems we have examined are versifications of material found in scientific prose treatises. Were it not for their brevity this would normally qualify them for consideration as examples of didactic poetry.“

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Situationen und Orte folgenden Aufbau der Sektion vorschlagen: Die ersten sechs Epigramme (21–26) konzentrieren sich auf die private Sphäre des Oikos und bieten Einblicke in das Leben eines griechischen Bürgers mit den Themen Seefahrt (21–22), Fischen (23–24), Heirat (25) und Sklavenkauf (26). Nach einem Übergangsepigramm (27), das mit der Geburt beginnt und mit dem Ausblick auf Krieg endet, folgen weitere sechs Epigramme (28–33), die sich mit negativen Vorzeichen beschäftigen, die aus dem friedlichen Leben herausführen und Krieg bzw. Tod ankündigen. Den Abschluss der Sektion bilden zwei Epigramme (34 u. 35), die die Kunst der Epigrammdeutung selbst am Beispiel von zwei Experten thematisieren. Dieser Ausklang der Sektion lässt eine didaktische Ausrichtung der 15 Epigramme vermuten: Die Rezipienten werden von anfänglich einfachen, durch Analogieschlüsse gekennzeichneten Vorzeichen im Verlauf der Sektion zu schwierigeren Zeichen und zum Schluss zu den Experten der Vorzeichen- und Vogeldeutung selbst geführt. Die neue Epigrammform der Oionoskopika folgt im Epigrammbuch auf die Sektion der Lithika, die ebenfalls eine Innovation Poseidipps darstellen (vgl. Bing 2001). Offenbar versucht der Dichter zwei neue Subgenera in die Gattungstradition des Epigramms zu integrieren und verweist programmatisch auf die Innovationskraft des ganzen Epigrammbuchs, die sich auch bei scheinbar etablierten Formen durch ungewöhnliche Neuerungen zeigt (vgl. besonders die Tropoi). Die Thematik der ersten beiden Sektionen verweist zudem auf den Gestaltungsraum des ganzen Epigrammbuches: Während die Lithika den geographischen Raum abstecken, in dem die ‚Inschriften‘ materiell ‚verortet‘ werden (vgl. Baumbach/Müller in diesem Band, S. 412– 415), eröffnen die Oionoskopika den Blick auf eine literarische, nicht materielle Ebene,7 die mit Blick auf die Mantik einer besonderen Kenntnis bedarf. Zwei Charakteristika der griechischen Mantik treten auch in den Oionoskopika besonders deutlich hervor: Zum einen sind die Zeichen in der Regel symbolisch konstruiert, so dass – etwa mit Blick auf die Vogelzeichen – aus den spezifischen Lebens- bzw. Verhaltensweisen eines Vogels ganz bestimmte Bedeutungen für das menschliche Leben abgeleitet werden können. Diese Verbindungen werden oft in Analogieschlüssen, die den Charakter von ‚Bauernregeln‘ haben können, hergestellt, so dass etwa das kraftvolle Überfliegen des Meeres von einem Falken als günstiges Omen für das Zu-Wasser-Lassen (und die Fahrt) eines Schiffes (21) gelten kann, wohingegen ein Kormoran, der ins Wasser taucht, ein schlechtes Omen für diesen Anlass ist. Zum anderen ergibt sich die Zeichenhaftigkeit im Sinne der Bedeutsamkeit eines Zeichens stets situativ: Erst im Zusammenspiel mit einem für den von einem Zeichen betroffenen Menschen wichtigen Ereignis wie Heirat, Reise oder Vorbereitung für den Krieg kann das Verhalten eines Vogels mantisch bedeutsam werden. Daher kommt auch nicht jedem fliegenden Falken oder jedem tauchenden Kormoran eine mantische Relevanz zu.8 Als Zeichen bedeutsam wird ein Vogel nur dann, wenn er vor oder während des entscheidenden Ereignisses gesehen wird. Eine besondere Schwierigkeit bei der Deutung stellt die mögliche Zuschreibung mehrerer Bedeutungen an ein und dasselbe Zeichen dar. In den Oionoskopika zeigt sich dieses Problem am Beispiel des Kormorans: Während das Untertauchen des Kormorans in 21 beim Zu-Wasser-Lassen des Schiffes ungünstig ist (da es den Untergang des Schiffes ankündigt), gilt dasselbe Verhalten für den Fischer in 23 als ein günstiges Omen für einen guten Fang. Entsprechend bedarf es für die Wahrnehmung und (richtige) Deutung von Zeichen des Wissens sowohl um 7 8

Gutzwiller (2005, 304) betont dagegen den Gegensatz zwischen der materiellen sichtbaren Welt und ihrer direkt fassbaren Bedeutung in den Lithika und dem „realm of the unseen“ in den Oionoskopika. Vgl. bereits Hom. Od. 2.181–182 (Übers.: W. Schadewaldt): ὄρνιθεϲ δέ τε πολλοὶ ὑπ᾿ αὐγὰϲ ἠελίοιο / φοιτῶϲ᾿, οὐδέ τε πάντεϲ ἐναίϲιμοι. […] („Vögel kommen und gehen viele unter den Strahlen der Sonne, / sind aber nicht alle von Vorbedeutung! […]“).

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die Zeichensymbolik als auch um die konkreten Vorhaben oder Lebensbedingungen der von diesem Zeichen betroffenen Menschen.9 Die größte Expertise in diesen Dingen besitzt ein Seher (34 u. 35) bzw. eine Seherin (26), die geringste der Mensch, der erstmals ein Zeichen erhält bzw. zu erhalten glaubt. Ein Rezipient der Oionoskopika bewegt sich zwischen diesen Polen, und je nachdem, welchen Zugang zur Mantik jemand – sei es durch seine (literarische oder mantische) Bildung, durch eigene Erfahrung oder auch durch Hörensagen – gewonnen hat, wird er dem mantischen Gehalt der Oionoskopika gegenüber eine eher affirmative oder eine eher kritische Rezeptionshaltung einnehmen. Als neues epigrammatisches Subgenre wird er sie über ihren kunstvollen (didaktischen) Aufbau, ihre z. T. enigmatische Gestaltung und über ihre intertextuellen Vernetzungen mit der literarischen Tradition ästhetisch zu schätzen lernen. 21 Die Sektion der Oionoskopika beginnt mit einem Epigramm über ein günstiges Omen für die Seefahrt. Während der tauchende Kormoran einen Untergang symbolisiert und für den Seefahrer daher kein (gutes) Vorzeichen ist, zeigt der Falkenflug eine schnelle (und sichere) Reise an. IV 8 νηῒ κα̣θ̣ε̣λκο̣μένηι πά̣ντα π̣λέ̣ο̣ϲ ἰνὶ φανήτω 1 9 ἴρηξ, α̣ἰ̣θυ̣ίη̣ϲ̣ οὐ καθαρ̣οπτέ̣ρυγο̣ϲ· 2 10 δύν̣ω̣ν εἰϲ̣ βυθὸν ὄρ̣νιϲ ἀνάρϲιοϲ, ἀλλὰ πετέϲθω 3 11 ὑψ̣ο̣ ..[…..]..[….].[..]φ̣’ ὅ̣λ̣ω̣ϲ· 4 12 οἷοϲ ἀπ̣ὸ̣ δ̣ρυ̣ὸϲ̣ ὦ̣ρ̣τ̣’ Ἰ̣α̣κῆ̣ϲ̣ ὠκ̣ύ̣π̣τ̣ε̣ροϲ ἴρηξ 5 13 __ ἱ̣ρ̣ῆι, Τί̣μ̣ω̣ν̣, ϲ̣ῆ‹ι› ν̣η̣ῒ καθελκομέν̣η‹ι›. 6 8 π̣λε̣ο̣ν̣ P (def. Gronewald 2001) : πλόον Lapini 2002 : πα̣ντᾶ‹ι› π̣α̣ρ̣ὰ̣ θ̣ινὶ Luppe 2004d : πλέον̣᾿ ἰνὶ Sider 2005 (def. Durbec 2007)  ἀντιφανήτω Lapini 2007  11 ὑψ̣ο̣ῦ vel ὑψ̣ο̣τ̣ά̣[τω ed. min.  ]α̣.[ vel ]λ̣.[ ed. min.  ]ε̣φ̣’ potius quam ]ι̣φ̣’ ed. min.  ὑψ̣ο̣ῦ π̣[ρὸϲ νεφέ]λ̣α̣[ϲ καὶ τ]α̣[χὺ κἀϲ]φα̣λ̣έ̣ωϲ e.g. Luppe 2004d

Wenn ein Schiff ins Wasser gezogen wird, zeige sich ganz kraftvoll ein Falke; ein Kormoran ‹ist dafür› kein richtiges Vogelzeichen. Ein in die Tiefe tauchender Vogel ist ungünstig, vielmehr soll er fliegen hoch […] gänzlich. So wie sich von einer ionischen Eiche der schnellflügelige Falke erhob, als, Timon, dein heiliges Schiff zu Wasser gelassen wurde. V. 1 κα̣θ̣ε̣λκο̣μένηι: Das Verb καθέλκειν (‚herabziehen‘, ‚‹vom Ufer› ins Wasser ziehen‘) ist der terminus technicus für das In-See-Stechen eines Schiffs. — π̣λέ̣ο̣ϲ: Die Überlieferung ist unsicher; bis auf das λ sind alle Buchstaben nur sehr undeutlich erkennbar. Drei10 Ergänzungen 9 10

Aufgrund der beiden Deutungskriterien innewohnenden Offenheit bzw. Unsicherheit wurde die Mantik in der Antike oft kritisiert; vgl. den bekannten Euripidesvers (fr. 973 Kannicht): μάντιϲ δ’ ἄριϲτοϲ ὅϲτιϲ εἰκάζει καλῶϲ. („Der beste Seher ist der, der gut vermuten kann.“) Lapinis (2007, 208) Vorschlag: πάντα πλόον ἀντιφανήτω ist paläographisch schwierig; zudem läge mit ἀντιφαίνεϲθαι i. S. v. „apparire al posto di“ ein hapax legomenon vor, das als lectio difficilior

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erscheinen paläographisch möglich und sinnvoll: 1) πλέον (‚mehr‘, ‚öfter‘, ‚eher‘) wird von Gronewald (2001, 1 f.) mit dem Hinweis verteidigt, dass αἰθυίηϲ als genitivus comparationis davon abhängig gemacht werden könne: „Wenn ein Schiff zu Wasser gelassen wird, zeige sich unbedingt öfter kraftvoll der Falke als die unreine Möwe.“ Abgesehen von der stilistisch auffälligen weiten Sperrung von αἰθυίηϲ ist diese Lesung inhaltlich problematisch: Der durch das folgende Distichon nahegelegte Gegensatz zwischen dem (hochfliegenden) Falken und dem tieftauchenden Kormoran, d. h. zwischen einem für das Zu-Wasser-Lassen eines Schiffes guten und einem dafür schlechten Omen würde bei der Lesung πλέον weniger stark zum Ausdruck kommen. 2) πλέον’ ἰνί (‚mit größerer Kraft‘): Siders (2005, 166 f.) Vorschlag ist unwahrscheinlich, da elidiertes Iota im Dat. Sg. selten ist. 3) π̣λέ̣ο̣ϲ (‚voll‘): Die Lesung der ed. pr. ist am plausibelsten, auch wenn für αἰθυίηϲ ein absoluter Genitiv ohne οὔϲηϲ angenommen werden muss. — φανήτω: Die Form ist vor Poseidipp nur einmal (Hom. Od. 20.101) belegt, interessanterweise im Zusammenhang mit einem Vorzeichen, das der heimgekehrte Odysseus von Zeus erbittet (Od. 20.98–101; Übers. W. Schadewaldt: „Zeus, Vater! Wenn ihr mich nach euerm Willen über das Feste und über das Feuchte in mein Land geführt habt, nachdem ihr mich gar sehr in Not gebracht: so möge mir einer von den Menschen, die wach sind in dem Hause drinnen, sagen ein Wort, hier draußen aber von Zeus ein anderes Zeichen erscheinen (ἔκτοϲθεν δὲ Διòϲ τέραϲ ἄλλο φανήτω).“ V. 2 ἴρηξ: Der Name wird für verschiedene Raubvögel gebraucht, wobei das Attribut „mit schnellen Flügeln“ auf einen Falken deutet.11 Die mantische Bedeutung des ἴρηξ ist seit Homer (Il. 13.62–65) bezeugt, wo sein Flug mit der Bewegung des Poseidon verglichen wird (vgl. V. 5); weitere Zeugnisse (Theophr. sign. 17 u. Dion. Periheg. De Aucupio 2.9) betonen seine Bedeutung als Wetterzeichen (vgl. Sider 2005, 167). — α̣ἰ̣θυ̣ίη̣ϲ̣ οὐ καθαρ̣οπτέ̣ρυγο̣ϲ: Die Bestimmung dieser Vogelart ist umstritten, es könnte sich entweder um einen Sturmtaucher (vgl. Thompson ²1966, 27–29 und Lunczer 2009, 59) oder um einen Kormoran (vgl. Arnott 2007, 12 f.) handeln. Für den Kormoran spricht, dass er größer ist als die meisten Spezies des Sturmtauchers; auch die anderen Meeresvögel in den Oionoskopika sind durchweg größere Tiere, deren Flug man aus der Ferne besser sehen kann. Das Kompositum καθαρ̣όπτερυξ ist ein hapax legomenon, das in Verbindung mit den beiden selten verwendeten Wörtern bzw. Formen aus dem ersten Vers (καθελκομένηι und φανήτω) die sprachliche Gewähltheit des ersten Epigramms der Sektion unterstreicht. V. 3 ἀνάρϲιοϲ: Dieses poetische Wort für ‚ungünstig‘ ist auch bei Homer belegt, vgl. Il. 24.365; Od. 10.459; 11.401, 408; 14.85; 24.111; Theokr. eid. 2.6; 17.101; Lyk. Alex. 1144; Arat. 1.125; Apoll. Rhod. 2.343; 2.630; 4.526. — πετέϲθω: Diese in der Dichtung seltene Form ist vor Poseidipp nur einmal bezeugt (Anakr. fr. 34b.1 Page).

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zwar vertretbar wäre, hier aber zu konstruiert erscheint. πλόον stellt inhaltlich keine Verbesserung dar, da ein Vogel wohl kaum die ganze Fahrt über als Omen fungieren konnte, geschweige denn dieses aus mantischer Sicht tun musste. Ebenfalls unwahrscheinlich ist Luppes πα̣ντᾶ‹ι› π̣α̣ρ̣ὰ̣ θ̣ινὶ. Vgl. Thompson (²1966, 114 –118) und Arnott (2007, 100), der zur Problematik der Zuordnung des ἴρηξ zu einer Spezies bemerkt (99): „Hierax (replaced by Irēx in the epic and Ionic dialects) is the name given in Aristotle (hist. an. 620a17–b5) and ancient Greek generally to all diurnal raptors smaller than the larger Eagles and Vultures (i. e. with a length less than about 60 cm) but excepting Kites.“

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V. 4 Der Vers ist bis auf den ersten und letzten Buchstaben verderbt. Am Schluss scheint -ωϲ (Adv.) ziemlich sicher; das Adverb könnte zu πετέϲθω (V. 3) gehören und den glückverheißenden Flug des Falken näher bestimmen.12 — ὅ̣λ̣ω̣ϲ: Der inhaltliche und syntaktische Bezug des Adverbs lässt sich aufgrund des Textausfalls nicht mehr rekonstruieren; eine Verbindung zu πετέϲθω ist aufgrund der weiten Sperrung unwahrscheinlich. V. 5 ἀπ̣ὸ̣ δ̣ρυ̣ὸϲ̣: Der Bezug des Epigramminhalts zur ionischen Eiche ist unklar (vgl. Gutzwiller 2005, 306), eine Anspielung auf die mantisch bedeutsame Eiche im Heiligtum des Zeus in Dodona am ionischen Meer liegt wohl nicht vor, da es keine Verbindung dieser Eiche mit dem Falken gibt. Durbec (2007, 35–36) verweist auf die passende sprachliche Rückbindung des ionischen ἴρηξ an den Ort des Geschehens. — ὠκ̣ύ̣π̣τ̣ε̣ροϲ: Die Junktur ὠκύπτεροϲ ἴρηξ in Verbindung mit der Verbform ὦρ̣τ’ ist eine intertextuelle Evokation der einzigen Stelle, an der das Adjektiv vor Poseidipp bezeugt ist: αὐτὸϲ δ’ ὥϲ τ’ ἴρηξ ὠκύπτεροϲ ὦρτο πέτεϲθαι (Hom. Il. 13.62).13 Der Vergleich steht in der Ilias im Zusammenhang mit der Verwandlung des Poseidon in den Seher Kalchas. Mit dem Vergleich wird die Schnelligkeit betont, mit der Poseidon sich entfernt, nachdem er den beiden Aias Anweisungen gegeben hat. Poseidipp spielt auf die Homerstelle an, um die positive mantische Bedeutung speziell dieses Vogels zu begründen, und verweist seine Rezipienten bei der Suche nach einer Deutung der Zeichen zugleich auf die Bedeutung der in den Epigrammen vorhandenen literarischen Anspielungen; vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 154. V. 6 Τί̣μ̣ω̣ν̣: Zur Identität des Timon lassen sich keine Aussagen machen. Wenn es sich um eine historische Person handelt, müsste man bei dem intendierten Rezipientenkreis der Epigramme eine genauere Kenntnis der Person voraussetzen, da das Epigramm selbst keine weiteren Informationen enthält und kein ‚heiliges Schiff‘ eines Timon bezeugt ist. Zur Verteilung und Funktion der Eigennamen in den Oionoskopika vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 129–131. Die Einfachheit des ersten Zeichens im sektionseröffnenden Epigramm legt die Vermutung nahe, dass die Oionoskopika ihre Rezipienten inhaltlich bei den einfachsten mantischen Vogelzeichen bzw. einem basalen mantischen Grundwissen abholen, um sie im Verlauf der Sektion an schwierigere mantische Zeichen und ihre Deutungen didaktisch heranzuführen (vgl. zu dieser Programmatik Baumbach/Trampedach 2004 und Sider 2005). Zugleich legt das Epigramm über die anspielungsreiche poetische Sprache und die intertextuellen Verknüpfungen Spuren für eine subtile Ausdeutung des Textes, dessen Bedeutung sich nicht in der Deutung zweier Vogelzeichen erschöpft, sondern bestimmte Lektüreerwartungen an die Oionoskopika weckt (vgl. Einl. zur Sektion, 115). Mit dem Übergang von den Lithika zu den Oionoskopika setzt eine räumliche Bewegung ein, die weg vom ptolemäischen Ägypten (20) in Richtung Ionien/Kleinasien führt, wo das neue epigrammatische Thema der Vogelschau an seine homerisch-epischen Ursprünge rückgebunden und ein poetischer Zeitsprung aus der hellenistischen in die archaische Epoche nahegelegt wird. Das Zu-Wasser-Lassen des Schiffes 12

Vgl. Luppes (2004d, 39– 40) Vorschlag: ἀλλὰ πετέϲθω / ὑψοῦ π[ρὸϲ νεφέ]λα[ϲ καὶ τ]α[χὺ κἀϲ]φαλέωϲ „sondern er soll in die Höhe zu den Wolken schnell und beharrlich fliegen“. 13 Die Junktur wird auch bei Apoll. Rhod. 2.1255 zur Beschreibung des Adlers, der Prometheus heimsucht, verwendet.

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kann poetologisch als Lancierung einer neuen epigrammatischen Subgattung gelesen werden, die sprachlich und inhaltlich durch die intertextuelle Verknüpfung mit der homerischen Epik nobilitiert wird. 22 Auf das Zu-Wasser-Lassen eines Schiffes (21) folgt eine Schiffsreise. Wieder werden zwei Vogelzeichen beschrieben, diesmal nicht kontrastiv, sondern analogisch: So wie der Boukaios dem Bauern, so soll der Kranich dem zur See Fahrenden Glück und gutes Gelingen bringen. IV 14 ὄ̣ρ̣νιϲ μὲ̣ν̣ β̣[ο]υ̣κ̣αῖοϲ ἐπήρατοϲ ἀν̣δρ̣ὶ̣ γ̣εωργῶι 1 15 φαινέϲθω, λ̣ή̣πτ̣η̣ϲ καὶ περὶ φύτ̣λ̣’ ἀ̣γ̣α̣θ̣ό̣[ϲ· 2 16 ἡμῖν δ’ Αἰγύπτου πέλαγοϲ μέλλουϲι διώκειν 3 17 Θρῆ‹ι›ϲϲα κα̣τ̣ὰ προτόνων ἡγεμονέοι γέρανοϲ, 4 18 ϲῆμα κυβερνήτη‹ι› κ̣α̣τ̣α̣δ̣έξιον, ἣ τὸ̣ μέγ̣[ 5 19 κῦμα, δι’ ἠερίων ϲω[ιζο]μ̣ένη πε̣δ̣ίων. 6 15 fort. ληπτὸϲ ed. pr. : ληιϲτὴϲ Gronewald 2001 : λήψειϲ Lapini 2003b : ‹κ›λ̣‹έ›πτ̣η̣ϲ De Stefani 2003  18 μέγ’ [εἶϲι ed. pr. : μέγ’ [ἀθρεῖ Austin 2001a, ed. min. : μέγ’ [ἔχθει Gronewald 2001 : μέγ̣’ [ἴϲχει Sider 2002 : μέγ̣’ [ἔργει Ferrari 2005 : μέγ̣[α τρεῖ Gärtner 2006 : μέγ᾿ [οὐ τρεῖ Lapini 2007 : μέγ̣[α πλεῖ De Stefani 2007

Der Boukaios möge sich als reizender Anblick dem Bauern zeigen; er ist ein guter Fänger auch bei Pflanzen. Uns aber, wenn wir das Ägyptische Meer erreichen wollen, soll der thrakische Kranich unter dem Vorstag den Weg zeigen als ein günstiges Zeichen für den Steuermann: er, der die große (Woge überquert14) und durch luftige Gefilde sicher ans Ziel gelangt. V. 1 β̣[ο]υ̣κ̣αῖοϲ: Das Wort wird nur an dieser Stelle als Vogelname verwendet; vor Poseidipp ist es bei Theokrit im 10. Idyll (10.1; 10.7; 10.57) substantivisch als Anrede eines verliebten, namentlich nicht näher bezeichneten Bauern verwendet. Es könnte sich entweder um einen Kuhreiher (Lunczer 2009, 55) oder um eine Schafstelze handeln, die laut Hesych (β 905 Latte) nicht nur κίγκλοϲ, sondern auch βουκολίνη (wohl wegen ihrer Gewohnheit, weidenden Rindern zu folgen) genannt wurde (vgl. Arnott 2007, 40 f.). — ἐπήρατοϲ: ‚entzückend‘, ‚reizend‘: häufiges episches Wort, das oft vor der bukolischen Diärese steht. V. 2 φαινέϲθω: Die Form wird sonst nur prosaisch verwendet. — λ̣ή̣πτ̣η̣ϲ: Das von λαμβάνω abgeleitete Nomen ist im Sinne des Aufpickens bzw. Fangens von Insekten zu verstehen, d. h. als ‚Fänger‘. Die Konjekturen von Gronewald (2001, 137: ληιϲτήϲ, ‚Räuber‘) und De Stefani (2003, 69–70: ‹κ›λέπτηϲ, ‚Dieb‘), die die prosaische Wendung durch eine metaphorische zu ersetzen suchen, sind unnötig.

14

Die Übersetzung nimmt den Vorschlag der ed. pr. auf (s. Komm. zu V. 5).

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V. 3 Αἰγύπτου πέλαγοϲ: Das ägyptische Meer schließt als Richtungsangabe das Land Ägypten als eigentliches Ziel ein. διώκειν ist hier i. S. v. ‚erstreben‘, ‚zu erreichen suchen‘ gebraucht. V. 4 Θρῆ‹ι›ϲϲα … γέρανοϲ: Die Spezifizierung „thrakischer“ Kranich erklärt sich aus den Nistplätzen der Kraniche in Thrakien, Skythien und am Schwarzen Meer, wobei Thrakien am häufigsten genannt wird (vgl. Ael. nat. anim. 2.1, Avian. fab. 15.1 und generell Arnott 2007, 80). – Laut Aristophanes (av. 710 f.) kündet der herbstliche Flug des Kranichs in den Süden das Ende der sicheren Seefahrt an. Hier ist er dagegen ein günstiges Zeichen für Seeleute, die nach Ägypten fahren wollen: Wie er werden sie sicher ans Ziel gelangen. Der Kranich erscheint auch an anderen Stellen als gutes Omen: Bei Arat (V. 1010) ist er ein Zeichen für Windstille, bei Theophrast (de sign. 52) kündet er schönes Wetter an. — κατὰ προτόνων: Die Junktur ist gebräuchlich (vgl. Orph. Arg. 1293; App. Anth. 108.2; FGE 1373); οἱ πρότονοι bezeichnen als terminus technicus die Seile, die in Längsrichtung des Schiffes vom Mast zum Bug laufen (Vorstag). Ihr Gegenstück, ἐπίτονοϲ (Achterstag), läuft vom Mast zum Heck. Die Verbindung dieser Angabe mit dem Flug des Kranichs könnte einerseits auf die niedrige Flughöhe verweisen, andererseits aber dessen positive Bedeutung als Zeichen symbolisieren: Da das Vorstag in das ἀκροϲτόλιον, das Zierbild am Bug des Schiffes, das in Tier- oder Göttergestalt ausgebildet sein konnte (vgl. Wachsmuth 1967, 82–97), mündete, ist ein sich ‚unter dem Vorstag‘ zeigender Kranich analog als ein für das Schiff positives Zeichen deutbar: Der Kranich fliegt aus Sicht der ihn beobachtenden Seeleute genau dort, wo sich das (Tier-) Zeichen am Bug des Schiffes befindet, und zeigt zudem im Vorausflug die Richtung der Reise an (vgl. ed. pr.). V. 5 κ̣α̣τ̣α̣δ̣έξιον: Das Adjektiv mit der intensivierten Bedeutung von δέξιοϲ ist nur hier bezeugt und vielleicht eine Schöpfung Poseidipps. — τὸ μέγ[: Die Rekonstruktion des verlorenen Versschlusses wird kontrovers diskutiert. Es ist eindeutig, dass ein finites Verb ausgefallen ist, was zu folgenden Ergänzungsvorschlägen geführt hat: Die ed. pr. und die ed. min. gehen von einer objektiven, neutralen Beschreibung des Kranichfluges i. S. v. ‚‹das Meer› durchqueren, überfliegen‘ bzw. ‚‹von oben› beschauen‘ (εἶϲι bzw. ἀθρεῖ) aus;15 τὸ κῦμα wird dabei als ‚Meer‘ aufgefasst. Entsprechend wäre das Partizip ϲω[ιζο]μένη mit ‚sicher ans Ziel gelangend‘ zu übersetzen (vgl. ed. min.: „safely gliding through the high expenses of the air“). Demgegenüber geht Gronewald (2001, 2) davon aus, dass der Kranich ein günstiges Zeichen ist, „weil er die hohen Wellen hasst“, d. h. vor einem Sturm flieht, und ergänzt τὸ μέγ’ [ἔχθει]. Diese Lösung schließt an die seit Homer (Il. 3.2–7) belegte Beobachtung an, dass Kraniche sich vor Winter und schlechtem Wetter bzw. vor beginnendem Sturm durch hohen Flug zu schützen suchen; vgl. Gärtner 2006, 78 f., der in Anlehnung an die Ilias-Stelle die Ergänzung τρεῖ (‚er flieht‘) vorschlägt und sich auf die längende Wirkung von muta cum liquida über die Wortgrenze hinaus in hellenistischer Dichtung berufen kann, die auch Hexameterschluss mit Monosyllabum kennt (vgl. Zoroddu 2005, 577–589). Folgt man dieser Lösung, so wäre ϲώιζεϲθαι mit ‚sich in Sicherheit bringen‘ zu übersetzen.16

15 16

Vgl. ähnlich De Stefani: πλεῖ. Daran anknüpfend hat Lapini (2007, 213 f.) als Alternative ἣ τὸ μέγ’ [oὐ τρεῖ („non teme il mare grosso perché vola alta“) vorgeschlagen.

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V. 6 δι’ ἠερίων … πε̣δ̣ίων: Die Junktur ist sonst nicht belegt und wahrscheinlich in Analogie zur metaphorischen Beschreibung des Meeres als πεδίον πόντου (vgl. Aristoph. ran. 150) gebildet. Das Epigramm baut einen Gegensatz zwischen dem Bauern und einer nicht näher genannten Gruppe von Personen auf, die „das ägyptische Meer erreichen wollen“. Mit Blick auf die geopoetische Ausrichtung des Epigrammbuchs (vgl. Baumbach/Müller in diesem Band, S. 413– 415), die am Ende der Lithika in Richtung des (ptolemäischen) Ägypten weist, ist auch hier ein Verlassen des (griechischen?) Festlands in dieselbe Richtung denkbar, wobei die in V. 3 genannten Sprecher in der 1. Ps. Pl. inklusiven Charakter haben und die Rezipienten symbolisch auf ihre Reise mitnehmen. Ein historischer Bezug zu einer konkreten Reise ist nicht ausgeschlossen, liegt aber wegen der Allgemeinheit der Aussage und des Fehlens jeglicher Hinweise im Text nicht nahe. Liest man das Epigramm als Fortsetzungsepigramm zu 21, dann wird nicht nur die begonnene Erzählung des Schiffes, mit dem Timon auf Reisen geht, weitergeführt, sondern zugleich die Relevanz des Zeichens erweitert: War es in 21 noch eine Person, die zugleich die Wirksamkeit des Zeichens erfahren hat und als Garant derselben fungiert, so sind es in 22 mehrere Personen, die nach Zeichen Ausschau halten. Zudem verlängert sich perspektivisch die Dauer bzw. Strecke der Reise in 22, was auf eine längere Beschäftigung mit Vogelzeichen in den Oionoskopika verweisen könnte, die zumindest solange dauern könnte, bis der Rezipient gedanklich in Ägypten ankommt, dem Schauplatz des ersten Epigramms der folgenden Sektion. Im Sinne der didaktischen Anlage der Sektion (vgl. Einl. zur Sektion, 115 f.) ist durch die beiden Zeichen in 22 nach der mantisch ganz einfachen Einteilung in ein gutes/schlechtes Zeichen, die das Einleitungsepigramm beherrschte, ein neuer Umgang mit Vorzeichen geboten. Das mantische Wissen erweitert sich von einem Lebens- und Tätigkeitsbereich auf mehrere und wird umfassender. 23 Wie im Einleitungsepigramm der Oionoskopika (21) ist auch hier der Kormoran als Zeichenvogel erwähnt, wobei er diesmal als gutes Omen für einen Fischer erscheint. Dort wo der Kormoran taucht, ist erfahrungsgemäß auch Nahrung zu finden. IV 20 ἠερίη̣ν̣ α̣ἴ̣θ̣υιαν ἰδὼ[ν ὑπ]ὸ̣ κῦμ[α] θα̣λάϲ[ϲηϲ 1 21 δυομένην, ἁλιεῦ{ϲ}, `ϲ´ῆ[μα φ]ύλα[ϲ]ϲ{ε} ἀγαθ[όν· 2 22 καὶ πολυάγκιϲτρον κ[αθίει] κ̣αὶ βά̣λλε ϲαγ[ήνην 3 23 κ]α̣ὶ̣ κύρτουϲ· ἄγρηϲ οὔ[ποτ’ ἄ]πε[ι] κεν̣εόϲ. 4 23 οὔ[τοι Gärtner 2006

Wenn du einen fliegenden Kormoran siehst, der unter die Meereswoge taucht, o Fischer, beachte das günstige Vorzeichen: Laß herab die vielhakige Angel und wirf aus das Netz und die Reusen, niemals wirst du ohne Fang zurückkehren. V. 1 ἠερίη̣ν̣ α̣ἴ̣θ̣υιαν: Zu αἴθυια vgl. Komm. zu V. 21.2; das Adjektiv dieser singulären Junktur nimmt die Beschreibung des – mantisch als positiv gedeuteten – Kranichflugs am Ende

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des vorangehenden Epigramms wieder auf: δι’ ἠερίων ϲω[ιζο]μ̣ένη πε̣δ̣ίων (22.6; vgl. auch Lapini 2007, 213) und erinnert zudem an das Auftauchen der Thetis in Hom. Il. 1.496– 497 (vgl. ed. pr.). Das Adjektiv wird dort in zeitlicher Bedeutung ‚frühmorgens‘ verwendet, was insofern zur Situation des Epigramms passt, als Fischer wie Vögel bei Tagesanbruch ihren Tätigkeiten nachgehen. Allerdings bilden die beiden ersten Wörter des ersten Distichons mit der Gegenüberstellung von ἠερίην und δυομένην eine pointierte räumliche Antithese, die für eine allgemeinere Bedeutung des Adjektivs i. S. v. ‚luftig‘, ‚in der Luft befindlich‘, ‚fliegend‘ spricht (vgl. ed. pr.). — ὑπ]ὸ̣ κῦμ[α] θα̣λάϲ[ϲηϲ: Dieselbe Junktur in Verbindung mit δύομαι findet sich in der Ilias 18.145, wo nach dem Gespräch zwischen Thetis und Achill Thetis’ Schwestern ‚unter die Meereswoge tauchen‘, um das Gesagte dem Meergreis zu verkünden. Wie im Eröffnungsepigramm könnte es sich auch hier um einen intendierten intertextuellen Verweis handeln, der dem Epigramm und seiner Botschaft göttliche Autorität verleihen und die Bedeutung nobilitieren soll. V. 2 φ]ύλα[ϲ]ϲ{ε: Das der Ergänzung zugrunde liegende Verbum φυλάττειν ist hier i. S. v. ‚beachten‘, ‚Folge leisten‘ zu verstehen (vgl. Pind. Isthm. 2.9 und Soph. Trach. 616). V. 3 f. πολυάγκιϲτρον: Durch die Verwendung dieses Wortes, das sonst nur in der Fachprosa und nur ein weiteres Mal, bei Oppian (hal. 3.78), für die Hexameterdichtung bezeugt ist, ergibt sich ein stilistischer Bruch zum vorangehenden Pentameter. Mit dem substantivisch verwendeten Adjektiv könnte entweder eine vielhakige Angelschnur gemeint sein (Austin 2001a, 136) oder ein Mehrfachhaken, wie er zum Fang größerer Fische verwendet wurde; vgl. Buchholz/ Jöhrens/Maull 1990, 174. Auch die übrigen Werkzeuge für Fischfang (ϲαγήνη/‚Netz‘ und κύρτοϲ/‚Fischreuse‘) entstammen der fachsprachlichen Prosa. V. 4 οὔ[ποτ’: Gärtner (2006, 79) hat als Alternative zu οὔ[ποτ’ (ed. pr.) οὔ[τοι ἄ]πε[ι] κενεόϲ vorgeschlagen; zwar findet sich Hiatkürzung nach τοι auch (und an gleicher Pentameterstelle) in 65.2 (= HE 3151) und in fr. 145 (= SH 698), sie ist aber vergleichsweise selten, so dass die Ergänzung der Erstherausgeber sprachlich wahrscheinlicher ist. — κεν̣εόϲ: Das zumeist auf Gegenstände bezogene homerische Adjektiv hat mit dem Genitiv die Bedeutung ‚‹einer Sache› beraubt‘, ‚ohne ‹eine Sache›‘: Der Fischer (d. h. sein Netz bzw. sein Schiff) ist ‚leer von Beute‘ (vgl. auch 50.5 f. i. S. v. ‚hinterblieben‘). Auch in diesem Epigramm wird die Deutung über einen Analogieschluss erreicht: Das Eintauchen des Kormorans zum Zweck der Nahrungsaufnahme wird mit dem Auswerfen und Eintauchen des Netzes (bzw. der mehrhakigen Angelschnur) gleichgesetzt und positiv gedeutet; zudem spielt die Alltagserfahrung eine Rolle. Im Zusammenspiel mit dem ersten Epigramm der Oionoskopika zeigt sich, dass die Bedeutung eines Zeichens stets vom Kontext abhängt, in den es gestellt wird bzw. in dem es sich ereignet (vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 146): In beiden Epigrammen ist das Vogelzeichen dasselbe – ein Kormoran, der unter das Wasser taucht –, die mantische (Be-)Deutung jedoch verschieden. Mit Blick auf die Rezeption der Oionoskopika als zusammenhängende Sektion wird deutlich, dass es in mantischen Dingen keine allgemeingültige Aussage gibt, die – einmal erschlossen – auf verschiedene Situationen übertragen werden kann. Durch diese Offenheit wird beim Rezipienten Spannung erzeugt, insofern keine feste Erwartungshaltung für ein bestimmtes Vogelzeichen geschaffen wird,

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die eine Deutungssicherheit des Zeichens und damit ein mögliches Interpretationsmuster der Texte bereitstellen könnte. 24 Trotz des sehr fragmentarischen Zustands lässt sich erkennen, dass es, wie im vorausgehenden Epigramm (23), um ein Vogelzeichen geht, das dem Fischer einen guten Fang signalisiert. IV 24 …]ε̣ο τὸν Θηβαῖον ἰδών, ἁ̣[λιεῦ,] μέλα[ν’ ὄρνιν· 1 25 αἰ]θυίηι πειϲθεὶϲ οὐκα.[….].α.[ 2 26 …[.]..[..]….[.].[………].ε`α´υτ.[. 3 27 τ̣ρηχη.ϲ̣ Ἀρχύ̣τα[….]θενεπα[ 4 28 ε̣ἰ̣ϲ γὰρ κυματοπλῆγ’ ἀκ[τὴν .].τοκρυρο[.]ο̣ρ̣[ 5 29 __ ϲ]ῆμ’ εὐαγρείηϲ οὐχ ἑτέ[….]κ̣ριτον. 6 24 ὄρϲ]ε̣ο ed. pr., min. : ἵζ]ε̣ο ed. pr. (comm.) : γήθ]ε̣ο De Stefani 2002 : ἔγρ]ε̣ο Condello ap. De Stefani 2002 : ἅζ]ε̣ο Ferrari 2005 : ἴϲχ]ε̣ο vel ἕζ]ε̣ο vel ἅζ]ε̣ο Ferrari per litt.  ἅ̣[λιον,] Luppe 2002a  25 οὐκ ἀπ̣[ vel οὐ κατ̣[ et ]ν̣ potius quam ]χ̣ ed. pr. : οὐκ ἀπ̣[ατᾶι,] ν̣ε̣αλ̣[ὲϲ Luppe 2002a : οὐ κατ̣[ὰ νύ]χ̣θ’ ἁλ̣[ι- (i. e. ἅλ̣[ιον, ἁλ̣[ίωι sim.) Ferrari 2005  26 ἑαυτο̣[ vel ἑαυτω̣[ P 27 τ̣ρηχηι̣ε̣ϲ̣ vel ηε̣ϲ̣ P. : τ̣ρηχεῖϲ̣ ϲ̣’, Ἀρχύ̣τα Luppe 2002a : .]τ̣ρηχηε̣ϲ̣ (ἀ]τ̣ρεκὲ̣ϲ̣ ? Ἀρχύ̣τα[ι) Ferrari 2005 : τ̣ρηχε̣ίηϲ̣ Lapini 2007  [πρόϲ]θεν ἐπᾶ[λτο] vel [πρόϲ]θ’ ἐνέπα[λτο] e.g. Austin 2001a : ἐπὰ[ν Luppe 2002a  π̣ήχει ἐϲ̣ Ἀρχύ̣τα [πρόϲ]θεν ἐπά[λλετ’ ἄγρη e.g. Lapini 2002  28 ε̣ἰ̣{ϲ} Luppe 2002a  ἷ]κ̣θ’ ὁ κριτὸ[ϲ] ὄ̣ρ̣[νιϲ ed. pr. : ἵ]ε̣θ’ ὁ κριτὸ[ϲ] ὄ̣ρ̣[νιϲ ed. min. : ἵκ]ε̣θ’ vel πέτ]ε̣θ’ ὁ κριτὸ[ϲ] ὄ̣ρ̣[νιϲ Fantuzzi 2002 : ὁ κλυτὸ[ϲ] ὄ̣ρ̣[νιϲ Ferrari 2005 : ἵ]κ̣τ’ ὄκκυγο[ϲ] ὀ̣μ̣φή Luppe 2002a et per litt. 2003 : κυματοπλῆγα (scil. ἀκτὴν) κ[αθίκ]ε̣το ἱερὸ[ϲ] vel κύριο[ϲ] ὄρ[νιϲ] Lapini 2007  29 ἑτέ[ροιϲ ἄ]κ̣ριτον ed. pr., min. : ἑτέ[ρωϲ πα]ριτόν Luppe 2002a : ἑτέ[ροιϲι] κ̣ριτόν Sider 2002

[…], wenn du den thebanischen (Vogel) siehst, (Fischer), den schwarzen, wenn du dem Kormoran vertraust, nicht […] …] selbst. rau, Archytas […] an das wellengeschlagene Ufer nämlich […] als Zeichen für guten Fang, nicht anders/für andere (?) […]. V. 1 f. …]ε̣ο: Für die Ergänzung des offenbar fehlenden Imperativs steht Raum für maximal zwei bis drei Buchstaben zur Verfügung.17 Die Erstherausgeber haben ἵζ]ε̣ο (vorausgesetzt, das ζ war auf dem Papyrus relativ breit geschrieben) oder ὄρϲ]ε̣ο (vorausgesetzt, die drei Buchstaben standen dicht nebeneinander) vorgeschlagen. Letzteres ist von der ed. min. übernommen worden. ὄρϲ]ε̣ο (‚steh auf! beeil dich!‘) ist eine typisch epische Form (vgl. Il. 3.250; 16.126; 18.170; 21.331, Od. 6.255 u. Hymn. Hom. Aphr. 177) und steht immer am Versanfang. Die Bedeutung wäre, dass sich der Fischer (s. Komm. zu ἁ̣[λιεῦ) beim Anblick des thebanischen 17

γήθ]ε̣ο (De Stefani 2002) ist aufgrund der Breite der vorgeschlagenen Buchstabenfolge unwahrscheinlich. Der auf Federico Condello zurückgehende Vorschlag ἔγρ]ε̣ο, der von De Stefani (2002, 165) nicht weiter kommentiert wird, ist möglich, stellt jedoch keine Verbesserung gegenüber dem episch gut belegten ὄρϲ]ε̣ο dar.

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schwarzen Vogels beeilen soll, auf das Meer hinauszufahren (vgl. ed.min: „Arise, Fisherman, when you see the black Theban bird“). Als Konsequenz müsste der im folgenden Vers genannte Kormoran als ein negatives Omen betrachtet werden (vgl. ed. pr.), was jedoch eine Spannung zum vorangehenden Epigramm 23 erzeugen würde, wo der Kormoran explizit als positives Omen für den Fischfang vorgestellt wurde. Sofern man bei 23 und 24 kein Spiel mit den Erwartungshaltungen der Rezipienten annimmt, wie es etwa in den Tropoi 102 und 103 der Fall ist, die als Kontrastepigramme konzipiert sind, dann erscheint der alternative Vorschlag der Erstherausgeber als die plausiblere Lösung: ἵζ]ε̣ο (‚bleib ‹ruhig› sitzen‘) rät dem Fischer, nicht hinauszufahren, wenn er den schwarzen Vogel sieht. Dazu würde auch die negative Konnotation von ‚schwarz‘ gut passen; diese Lösung ist auch deswegen wahrscheinlicher als ὄρϲ]ε̣ο, weil eher zwei als drei Buchstaben fehlen, wie Ferrari (2005) feststellt. Seine eigenen Vorschläge ἕζ]ε̣ο (mit Verweis auf Hom. Il. 6.354) und vor allem ἅζ]ε̣ο als Verbum, das „attenzione e scrupolo“ (mit Verweis auf Hom. Il. 5.830) ausdrückt, sind denkbare Alternativen. — ἁ̣[λιεῦ,] μέλα[ν’ ὄρνιν: Statt des von den Erstherausgebern parallel zu 23.2 ergänzten Vokativs schlägt Luppe (2002a) ἅλ̣ ιον (zu dem allgemein akzeptierten ὄρνιν) vor.18 Sein Versuch, den „schwarzen thebanischen Meeresvogel“ mit der im Pentameter genannten αἴθυια gleichzusetzen, kann aber nicht überzeugen, da das Epitheton ‚thebanisch‘ für den Kormoran nicht charakteristisch ist. Dagegen scheint es möglich, dass es sich, wie Austin vorgeschlagen hat, um einen Adler handelt: Diodor berichtet davon, dass die Thebaner den Adler besonders ehrten (1.87.9), und die schwarze Farbe von Adlern ist mehrfach bezeugt (vgl. zu den Belegstellen ed. pr. 137). Allerdings gibt es keine anderen Stellen, wo Adler als schwarze thebanische Vögel bezeichnet werden. V. 2 οὐκα.[: Das der Verneinung folgende Wort beginnt entweder mit ατ bzw. απ oder mit κατ bzw. καπ. Luppes (2002a, 207) Vorschlag οὐκ ἀπ̣[ατᾶι,] („Wenn Du dem Taucher vertraust, wirst Du nicht betrogen, d. h. enttäuscht werden“) würde nur dann einen Sinn ergeben, wenn er mit der Ansicht recht hätte, dass der schwarze thebanische Vogel und der Taucher ein und derselbe Vogel sind, was aber unwahrscheinlich ist (vgl. Komm. zu V. 1). V. 3 Der Vers ist bis auf eine Form des Reflexivpronomens (ed. pr.: ἑαυτο̣[ vel ἑαυτω̣[) verloren; es liegen keine Rekonstruktionsvorschläge vor. V. 4 Dieser Vers ist von einer anderen Hand geschrieben als der Rest des Epigramms. Die Ersther­ ausgeber vermuten, dass die Zeile vom ursprünglichen Schreiber – vielleicht weil seine Vorlage unleserlich war – leer gelassen und später ergänzt worden ist. Die Schrift ist sehr grob; entsprechend unsicher ist die Rekonstruktion. — τ̣ρηχηε̣ϲ̣: Die Endung des den Vers eröffnenden Adjektivs ist nur schwer zu lesen (ed. pr.: τ̣ρηχηι̣ε̣ϲ̣ vel ηε̣ϲ̣); dass es sich um eine Form von τραχύϲ handelt, kann jedoch als sicher gelten;19 zur Diskussion vgl. Lapini (2007, 214 –215), der τρ̣ ηχεί̣ ηϲ̣ (= τρ̣ αχεί̣ αϲ)̣ vorschlägt (als Attribut zu ἐπ᾽ ἀκτῆϲ im vorangegangenen Vers). Luppe (2002a, 208) nimmt – mit Verweis darauf, dass sich die Verschreibung von η 18 19

Luppe (2002a, 207): „Ob im Hexameter ein eingeschobener Vokativ ἁ[̣ λιεῦ] anzusetzen ist, erscheint mir fraglich, zumal im nächsten Distichon ja ein Archytas angeredet wird […].“ Sehr spekulativ ist Ferrari (2005, 195), der den Ausfall eines α- am Beginn des Verses postuliert und mit Verweis auf Hom. Il. 5.208 ἀ]τ̣ρεκὲ̣ϲ̣ in der Bedeutung „di precisione“ vorschlägt.

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statt ει auch an anderen Stellen des Papyrus findet – an, dass τ̣ρηχεῖϲ̣ ϲ̣’ (mit einem maskulinen Substantiv im Plural und dem zugehörigen Verb, von dem ϲ̣’ abhängt) gemeint sein könnte, und versteht die erhaltene Buchstabenfolge αρχυτα als Vokativ Ἀρχύ̣τα. — Ἀρχύ̣τα: Der Name Ἀρχύταϲ ist weitverbreitet (vgl. ed. pr.); wahrscheinlich handelt es sich um den Namen des angesprochenen Fischers; eine Identifizierung mit dem Archytas aus 98 erscheint ausgeschlossen. — θενεπα: Die Rekonstruktion des Versendes ist unsicher. Austin (ed. pr. 138) schlägt [πρόϲ]θεν ἐπᾶ[λτο] bzw. [πρόϲ]θ’ ἐνέπα[λτο] vor, was das in der ed. pr. ergänzte ὄρϲ]ε̣ο aus V. 1 wieder aufnehmen würde; er bietet aber keine Erklärung, in was für einen Kontext die Worte ‚er sprang vorwärts‘ gehören könnten. Lapinis (2002, 40) phantasievoller Versuch, den gesamten Vers zu rekonstruieren, vermag nicht nur wegen des Eingriffs in die Überlieferung – π̣ήχει (Dual) ἐϲ̣ statt τ̣ρηχη(ι̣)ε̣ϲ̣ – nicht zu überzeugen. Seine Ergänzung π̣ήχει ἐϲ̣ Ἀρχύ̣τα [πρόϲ]θεν ἐπά[λλετ’ ἄγρη – ‚‹kurz› zuvor sprang die Beute in die Arme des Archytas‘, geht von der Annahme aus, dass zu Beginn des Epigramms irgendein (fauler) Fischer angesprochen wird, dem als positives Beispiel Archytas vor Augen gestellt wird, der beim Fang keine Zeit verloren und dank der Vorzeichen einen guten Fang gemacht hat. Für die letzten drei erhaltenen Buchstaben erwägt Luppe (2002a, 208) ἐπὰ[ν, auf das ein Verb im Konj. Sg. gefolgt sein könnte. V. 5 ε̣ἰ̣ϲ: Luppes (2002a, 209) Vorschlag, εἰϲ als Verschreibung für εἰ anzusehen und ἷ]κτο mit dem direkten Akkusativobjekt zu verbinden, erscheint angesichts der unklaren Syntax des Epigramms und des nur ansatzweise erschließbaren Inhalts der vorangehenden Verse als zu hypothetisch. — ἀκ[τὴν .].τοκρυρο[.]ο̣ρ̣[νιϲ: Die zweite Hälfte des Hexameters ist sehr schlecht überliefert. Allgemein akzeptiert sind die Ergänzungen ἀκτὴν (‚‹an die von Wellen geschlagene› Küste‘) und, am Ende des Verses, ὄρ̣νιϲ. In den erhaltenen Resten zwischen diesen beiden Ergänzungen dürften sich am ehesten eine finite Verbform und ein den Vogel genauer bestimmendes Attribut verbergen. Bei der Rekonstruktion ist mit Fantuzzi (2002, 91) zu beachten, dass die Herrmannsche Brücke (kein Wortende nach Spondeus im 4. Versfuß) zu den Gesetzmäßigkeiten gehört, die im Hellenismus am striktesten eingehalten worden sind, und dass sich weder im Alten noch im Neuen Poseidipp Beispiele für eine Verletzung dieses Gesetzes finden lassen. Entsprechend kann das von den Erstherausgebern rekonstruierte Versende ἷ]κ̣θ’ ὁ κριτὸ[ϲ] ὄ̣ρ̣[νιϲ nicht überzeugen. Möglich wären dagegen ἵ]ε̣θ’ ὁ κριτὸ[ϲ] ὄ̣ρ̣[νιϲ (ed. min.) oder auch ἵκ]ε̣θ’ vel πέτ]ε̣θ’ ὁ κριτὸ[ϲ] ὄ̣ρ̣[νιϲ (Fantuzzi 2002). Alternativ zu κριτὸϲ, das die Erstherausgeber und Fantuzzi mit Verweis auf die Hesychglosse κ 4158 κριτόϲ· ἀγαθόϲ als ‚glückverheißend‘ verstehen, hat Lapini 2007, 18 κύριοϲ (‚königlich‘) vorgeschlagen; damit wäre der in V. 1 genannte Vogel, bei dem es sich um einen Adler handeln könnte, passend bezeichnet. Denkbar ist unter diesem Gesichtspunkt auch Ferraris κλυτὸϲ (2005). Hierdurch könnte sich jedoch eine Spannung zu 23 und möglicherweise auch zu V. 2 ergeben, da in 23 bereits der tauchende Kormoran als gutes Zeichen für Fischfang vorgestellt wurde, und nun der Adler dieselbe Zeichenqualität besitzen würde. V. 6 οὐχ ἑτέ[….]κ̣ριτον: Das von den Erstherausgebern vorgeschlagene οὐχ ἑτέ[ροιϲ ἄ]κ̣ριτον (‚anderen nicht zweifelhaft‘) würde betonen, dass die Bedeutung des Zeichens allgemein akzeptiert ist. Der Alternativvorschlag von Luppe (2002a, 208) – (οὐχ) ἑτέ[ρωϲ πα]ριτόν –

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würde dagegen herausstellen, dass ein guter Fang nur durch dieses Zeichen angekündigt wird.20 Nahe liegt dies allerdings nicht, da ein guter Fang – wie in 23 geschildert – auch durch ein anderes Zeichen angezeigt werden kann. Das von Sider (2002) konjizierte (οὐχ) ἑτέ[ροιϲι] κ̣ριτόν „a sign of a good catch not taken by others“21 ist inhaltlich nicht überzeugend: Dass am Schluss des Epigramms auf die Unwissenheit anderer verwiesen wird, wäre ungewöhnlich. In den Oionoskopika wird (so auch im vorhergehenden Epigramm zur selben Thematik) normalerweise das aus den Exempla für die Rezipienten gewonnene Wissen betont. Angesichts des ganz lückenhaft überlieferten Textes und der Unsicherheit der Rekonstruktion wird auf einen Lesetext verzichtet. In 24 wird, wie schon in 23, über ein Vogelzeichen gesprochen, das für die Fischerei als gutes Vorzeichen gilt. Dabei ergibt sich jedoch ein perspektivischer Unterschied: Während das Vogelzeichen in 24 offenbar am Ufer erscheint, taucht der glückverheißende Vogel in 23 unter die Wellen. Insofern könnte der in 24.5 erwähnte Vogel das Zeichen für den Fischer vor dem Auslaufen sein, während der Kormoran das Zeichen für den günstigen Moment des Fangs auf See sein würde. Beide Zeichen würden sich so ergänzen und ähnlich wie 21 und 22 dasselbe Thema aus unterschiedlicher lokaler und zeitlicher Perspektive beleuchten. Angesichts der schlechten Überlieferung bleibt die Identifikation der in V. 1 und V. 5 genannten Vögel unsicher. Wenn es sich in beiden Fällen um einen Adler handelt, dann wäre der Adler neben dem Kormoran aus 23 ein weiterer möglicher Zeichenvogel für dieselbe Botschaft. Sollte es sich um zwei verschiedene Vögel handeln, so käme dem Adler für den Fischfang keine besondere Bedeutung zu, so dass der Fischer bei seinem Erscheinen ruhig sitzen bleiben könnte (vgl. Komm. zu V. 1). Dieses würde gut zu 27 passen, wo der Adler im Vergleich hinter dem Geier als (positiver) Zeichenvogel zurückstehen muss. 25 Das Epigramm ist das erste in der Sektion, in dem kein Vogel als Zeichen fungiert, sondern ein alter Mann. Eine Begegnung mit ihm hat vor allem bei bevorstehenden Hochzeiten eine positive mantische Bedeutung. IV 30 π̣ρέϲβυϲ ἀνὴρ ἀγαθόϲ τε [καὶ εὐ]ά̣ντητοϲ ὁδ̣[ 1 31 καὶ περὶ ναυτιλίηϲ· καὶ γάμον εἰρομ̣[ε]ν̣[ 2 32 ἔϲτω δὴ ἱερεὺϲ ϲτεφανηφόροϲ ἢ κατ’ ἀκ̣[ου]ὴν 3 33 ἡβηταῖϲ ἤδη παιϲὶ μέγα φρονέων· 4 34 ὡϲ αἰϲχρῶϲ ἤ̣ντηϲε πατ̣ή̣ρ̣ τ̣ε ‹ϲ›ὸϲ οἵ τε ϲύ̣να̣ι̣`μ̣´οι, 5 35 __ εὐδαήρ τε γενοῦ, νύμφα, καὶ εὐέκυρο̣ϲ̣. 6 30 ὁδ[̣ οῖο ed. pr., min. : ὁδ[̣ ίτηι Luppe 2002f : ὁδ̣ [ίτηϲ vel ὁδ̣ [εύων vel ὁδ̣ [ίταιϲ Lapini 2007  31 γάμου Luppe 2002f  εἰρομ̣[έ]ν̣[ωι (vel -ν̣[ηι vel -ν̣[οιϲ) ed. pr. : εἰρομ̣[έ]ν̣[ηι Lapini 2002  32 δ’ ἢ Luppe 2002f  κατὰ κ̣[ώμ]ην Lapini 2007  34 ὡϲ ἐχθρῶϲ Lapini 2003b : {ὡϲ} αἰϲχρῶϲ ‹ϲοί γ’› Luppe 2002f  τ̣εοϲουτεϲ.ν.ιοι P, fort. μ supra α̣ι̣ script. : ϲ̣εο ϲοῦ τε Luppe 2002f : τεὸϲ def. Ferrari 20 21

Luppes Vorschlag ist mit der Beobachtung verbunden, dass auf dem Papyrus kein κ zu lesen sei (2002, 208). Ähnlich Nisetich (2005, 22): „… sign of a good catch, ignored by others.“

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2005  35 dist. Lapini 2002; Luppe 2002f (εὐδάηρ) : ευδαηρτεγενουνυμφακαιευεκυρο̣ϲ̣ P : εὖ δαήρ τε μὲν οὖ‹ν›, νύμφα, καὶ εὖ ἑκυρό̣ϲ̣ Austin 2001a

Ein alter Mann ist ein günstiges Zeichen, (und es ist gut,) ihm zu begegnen […] auch für eine Person, die sich über eine Seefahrt erkundigt und nach der Ehe fragt. Es soll ein Priester sein, bekränzt oder – wie man hört – stolz auf seine bereits erwachsenen Kinder. Wie schlimm begegneten dir ‹dagegen› der Vater und die Blutsverwandten; Sei gesegnet, o Braut, mit einem guten Schwager und einem guten Schwiegervater. V. 1 πρέϲβυϲ ἀνήρ: Die Junktur findet sich auch in Or. Sib. 11.163; vgl. auch die häufigere Wendung πρεϲβύτηϲ ἀνήρ (Aischyl. Ag. 530; Eur. fr. 317.4 u. 807 Kannicht, sowie mehrfach in der Komödie). Während für πρέϲβυϲ in 28.2 die Möglichkeit diskutiert wird, dass damit ein Vogel gemeint sein könnte (vgl. Petrain 2002 und den Komm. zu V. 28.2), handelt es sich im vorliegenden Epigramm eindeutig um einen alten Mann, dessen Erscheinen als Zeichen gilt. Das Alter ist neben der damit verbundenen Weisheit wahrscheinlich ein Hinweis auf ein langes, glückliches Leben, das sowohl beim Antritt einer (Land- bzw. See-)Reise als auch bei dem Wunsch nach einer Hochzeit in Aussicht gestellt wird. — εὐ]άν̣ τητοϲ: Sofern die Ergänzung stimmt, wäre das der früheste Beleg dieses Wortes, das später bei Opp. hal. 2.149 u. 2.388; Opp. kyn. 2.488; Nonn. Dion. 27.178; 35.316; 39.207; Pamprepius Epic. fr. 3.128 Livrea und mehrfach bei Kyrill v. Alexandrien vorkommt (zu den verschiedenen Bedeutungen des Wortes vgl. die Erläuterungen in der ed. pr.). — ὁδ[̣ : Der überlieferte Wortanfang lässt sich – passend zu εὐάντητοϲ – wohl nur mit einem Wort aus der Wortfamilie ‚gehen‘, ‚reisen‘ ergänzen, d. h. mit ὁδόϲ (Weg, Reise) oder ὁδίτηϲ (Wanderer). Eine Ergänzung im Dativ in Abhängigkeit von εὐάντητοϲ erscheint mit Luppe (2002f, 67) sinnvoll. Ebenfalls möglich ist ein von περί (V. 2) abhängiger Genitiv, wie ihn die ed. pr. u. min. sowie De Stefani (2003, 59) mit ὁδ[οῖο vorschlagen.22 Da die Oionoskopika sowohl Zeichen für einen bestimmten Vorgang (vgl. 21) sowie häufiger für eine handelnde Person enthalten, ist sowohl eine personale wie eine sachbezogene Ergänzung denkbar, wobei in beiden Fällen die Frage nach dem Numerus offen bleibt: Die meisten Zeichen werden exemplarisch für eine bestimmte Person oder für den Vertreter einer Zunft ausgesagt (vgl. 22–24), nur in zwei Fällen steht der Plural (22.3 u. 31.3), wobei der Plural entweder der 1. Ps. Pl. (22.3: ἡμῖν) oder einer konkreten Gruppe (Ἀργεάδαιϲ, 31.3) vorbehalten zu sein scheint. Daher scheint der Singular der Person (ὁδ[ίτηι), wie von Luppe (2002f, 67) vorgeschlagen, die beste Lösung. Die Ergänzung am Ende von V. 1 ist nur im Zusammenhang mit der Frage nach der Interpunktion in den V. 1 und 2 zu klären; vgl. hierzu Komm. zu V. 3: ἔϲτω δή. V. 2 περὶ ναυτιλίηϲ: Die Junktur findet sich sonst nur in Hes. erg. 642, wobei der Kontext keine intertextuelle Spur nahelegt. Mit dem Thema Seefahrt wird an die beiden ersten Epigramme der Sektion erinnert. Die Interpunktion nach der Junktur, die sich in den ed. pr. u. min. findet, ist aus sprachlich-stilistischen sowie inhaltlichen Gründen unwahrscheinlich (s. Komm. zu V. 3: ἔϲτω δή). — γάμον: Der Akkusativ zu dem (ergänzten) Partizip ἐιρόμ[ε]ν[οϲ ist möglich, vgl. 27.1. Ein Genitiv, wie von Luppe (2002f, 67) vorgeschlagen, der dann wie ναυτιλίηϲ

22 Nachgestelltes περί (dann anders akzentuiert: πέρι) ist eher selten; zur Mittelstellung einer Präposition bei zwei Objekten (ἀπὸ κoινοῦ) vgl. De Stefani (2003, 59) mit Parallelstellen für κατά und ἐν.

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von περί abhängig wäre, würde nur einen leichten Eingriff in die Überlieferung bedeuten und wäre stilistisch eleganter. — εἰρομ̣[ε]ν̣[: Analog zu V. 1 scheint eine Ergänzung im Singular wahrscheinlich, wobei das Geschlecht aufgrund der Allgemeinheit der Aussage und bei dem möglicherweise parallel ausgedrückten Bezug zur Seefahrt (vgl. Komm. zu περὶ ναυτιλίηϲ) eher auf eine männliche Person hindeutet, da Frauen weit weniger zur See fuhren und sich in der Regel auch nicht eigenständig nach einer Hochzeit erkundigen konnten.23 Gleichwohl hat Lapini (2002b, 13) mit Blick auf die Erwähnung der Braut im letzten Vers des Epigramms eine feminine Form vorgeschlagen; das letzte Distichon präsentiert aber offenbar neue Zeichen für eine andere Personengruppe. V. 3 ἔϲτω δή: Das zweite Distichon beginnt mit einer prosaischen Wendung aus der Wissenschaftsprosa und Philosophie. Luppe (2002f, 67) hat als erster die Ansicht vertreten, dass der neue Satz hier und nicht, wie die Erstherausgeber angenommen haben, in der Mitte von V. 2 beginnt; vgl. Höschele/Konstan (2006, 100), gefolgt von Whitehorne (2007) und Schröder (2008, 46), die diesen Vorschlag mit starken sprachlich-stilistischen sowie inhaltlichen Argumenten gestützt haben. Zwingend ist die Feststellung von Schröder, dass ἔϲτω δή in den über zweihundert Belegen, die der TLG ausweist, immer am Satzanfang steht. — ϲτεφανηφόροϲ: Das Adjektiv wird sonst fast nur prosaisch gebraucht; Theokrit verwendet es einmal (16.47) von siegreichen Pferden bei Wettkämpfen. Warum der Priester einen Kranz tragen muss, um als glückverheißendes Omen zu erscheinen, bleibt unklar (vgl. Schröder 2008, Anm. 72); es könnte sich um eine (lokale) Tradition handeln, vgl. Höschele/Konstan 2006, 101: „We presume that … the association between a priest, garlanded or with children, and a felicitous marriage, is traditional, unless there is some particular, topical reference now lost to us.“ — ἢ κατ’ ἀκ̣[ου]ὴν: Dieselbe Wendung findet sich sonst nur noch bei Empedokles (fr. 31 Diels-Kranz), und zwar im Zusammenhang mit der Diskussion über die Zuverlässigkeit von sinnlichen Wahrnehmungen, dort ebenfalls am Versende. Es betont den für das Zeichen wichtigen, durch allgemeine Bekanntheit bezeugten Stolz des Priesters, was in den Übersetzungen unterschiedlich akzentuiert wird, vgl. Austin/Bastianini („a priest … who is known to be proud of …“ bzw. „un sacerdote … che sia noto per …“), Nisetich („a priest … whose pride … is assured“), Höschele/Konstan („a priest … who, it is said, is proud of …“), Whitehorne („… one [a priest] who by common report is mighty proud of …“). Der Ausdruck ist insofern erstaunlich, als die Zeichen der Oionoskopika bislang ausschließlich visuell erfahrbar waren, während hier etwas Nicht-Sichtbares bei der Bewertung der Erscheinung des Priesters (i. S. v. des Zeichens) eine Rolle spielt. Whitehorne (2007, 58–59) vermutet Ironie, wobei die für diese Deutung angenommenen Bedeutungen der Wendung ungebräuchlich sind: „… the words κατ’ ἀκουήν at the end of line 3 may also introduce a certain irony and ambiguity, undercutting the old man’s pride in his grown-up sons. Indeed if κατ’ ἀκουήν means ‚by hearsay‘ or ‚according to his own story‘ rather than ‚by common report‘, then perhaps the words even question whether the old man’s proud claim has any basis at all in fact.“ V. 4 ἡβηταῖϲ: Das Wort ἡβητήϲ findet sich vor Poseidipp in der Hexameterdichtung nur noch im Homerischen Hermeshymnos V. 56, wo es im Zusammenhang mit der Erfindung der Leier

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Vgl. Luppe (2002f, 67), der dem Dat. Sg. Mask. aufgrund der Parallele in 27.1 den Vorzug geben würde, und Schröder (2004, 48– 49).

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und dem Symposion erwähnt wird; ein intertextueller Bezug ist jedoch nicht erkennbar. — μέγα φρονέων: Diese Junktur findet sich bei Homer, der sie gern im Zusammenhang mit Aristien gebraucht; eine negative Konnotation (‚stolz/hochmütig sein‘) ließe sich nur bei einer ironischen Deutung der Verse vertreten, vgl. Whitehorne 2007, 58. V. 5 ὡϲ αἰϲχρῶϲ: Der ästhetische Gegenbegriff zu καλόϲ wird seit Homer für ethisch verwerfliche Taten gebraucht und bedeutet dort ‚schändlich‘, ‚hässlich‘. Hier steht er in Opposition zu dem vorangehenden guten bzw. günstigen Zeichen (ἀγαθόϲ, V. 1) in der Bedeutung ‚schlimm‘, ‚ungünstig‘. Ähnlich wird αἰϲχρόϲ in Demosthenes’ Kranzrede (18.175) zur Beschreibung eines ungünstigen Zeitpunktes verwendet: αἰϲχρὸϲ γὰρ ὁ καιρόϲ.24 — ἤ̣ντηϲε: Der Aorist könnte gnomisch aufgefasst werden – was eine generelle, immer gültige und auf Erfahrung basierende negative mantische Bedeutung dieser Begegnung ausdrücken würde –, oder auf eine konkrete Situation in der Vergangenheit der Braut Bezug nehmen, die im Gedicht verhandelt wird. — τ̣ε ‹ϲ›ὸϲ οἵ τε: Die Änderung der stark fragmentierten Überlieferung des Versendes in den ed. pr. u. min. ist nicht zwingend. Näher an der Überlieferung und im Einklang mit epischen Vorbildern ist Ferrari (2005, 196), der ὡϲ αἰϲχρῶϲ ἤντηϲε πατὴρ τεὸϲ οἵ τε ϲύναιμοι vorschlägt.25 Eine weitere Möglichkeit wäre, mit der Überlieferung τεὸϲ οὗ τε ϲύναιμοι zu lesen, wobei οὗ auf den Vater zurückweisen würde, dessen Verwandtschaft gemeint sein könnte. Damit wäre die mütterliche Seite der Familie von einer negativen Zeichenhaftigkeit ausgenommen. V. 6 εὐδαήρ τε γενοῦ … εὐέκυρο̣ϲ̣: Es ist möglich, die Überlieferung gegen die Konjektur der Erstherausgeber (εὖ δαήρ τε μὲν οὖ‹ν›, νύμφα, καὶ εὖ ἑκυρό̣ϲ̣) zu halten, wenn man εὐδαήρ und εὐέκυρο̣ϲ̣ als von Poseidipp neugebildete Adjektive zusammen mit dem Imperativ γενοῦ auf die Braut bezieht und den Satz als abschließenden Wunsch für diese versteht, vgl. Luppe (2002f, 67 f.)26 und Lapini (2002b, 14): „Sei gesegnet (wörtl. „sei gut verschwägert etc.“) mit einem guten Schwager und einem guten Schwiegervater, o Braut!“ Rekonstruktionsvorschlag πρέϲβυϲ ἀνὴρ ἀγαθόϲ τε [καὶ εὐ]άντητοϲ ὁδ[ίτηι καὶ περὶ ναυτιλίηϲ καὶ γάμου εἰρομ[έ]ν[ωι. ἔϲτω δὴ ἱερεὺϲ ϲτεφανηφόροϲ ἢ κατ’ ἀκ[ου]ὴν ἡβηταῖϲ ἤδη παιϲὶ μέγα φρονέων· ὡϲ αἰϲχρῶϲ ἤντηϲε πατήρ τεὸϲ οὗ τε ϲύναιμοι· εὐδαήρ τε γενοῦ, νύμφα, καὶ εὐέκυροϲ.

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Lapini (2003b, 45) schlägt mit Verweis auf einen analogen Schreibfehler in Aischyl. sept. 695 ὡϲ ἐχθρῶϲ vor; inhaltlich ist mit der Konjektur jedoch wenig gewonnen. Er gibt die Übersetzung „Ma che vergogna per te incontrare tuo padre o i fratelli“ und verweist auf die Parallelen zu πατὴρ τεὸϲ in epischer Dichtung: „un nesso che troviamo nella stessa sede del verso in Hom. Il. 24,739, Od. 3,122; 16,188 e 424 e in Apoll. Rh. 1, 489 e 3, 1101.“ „Im Pentameter ist überhaupt nichts zu ändern, sondern γενοῦ zu belassen – wie sollte auch μὲν οὖν zu γενοῦ verschrieben worden sein?“

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Ein alter Mann ist ein günstiges Zeichen, und es ist gut für einen Reisenden, ihm zu begegnen ebenso für jemanden, der sich über eine Seefahrt erkundigt und nach der Ehe fragt. Es soll ein Priester sein, bekränzt oder – wie man hört – stolz auf seine bereits erwachsenen Kinder. Wie schlimm begegnen dir dagegen der Vater und seine Blutsverwandten! Sei gesegnet, o Braut, mit einem guten Schwager und einem guten Schwiegervater. Das Epigramm beschreibt – wie 28 und 29 – zunächst ein typisches ἐνόδιοϲ ϲύμβουλοϲ (‚Wegzeichen‘), das spontan, d. h. ohne Befragung eines Sehers/einer Seherin erscheint und vom Betroffenen nicht erwartet wird, sondern plötzlich im Vorfeld einer Handlung bzw. ‚auf dem Weg‘ (z. B. bei einer Reise) eintritt. Obwohl das Epigramm recht gut überliefert ist, ist die gedankliche Verbindung der drei Distichen unklar. Zwei Lösungswege bieten sich an: Die erste Möglichkeit wäre eine Trennung des Epigramms in zwei Epigramme, wobei die ersten beiden Distichen zusammen ein Epigramm bilden könnten: Im ersten Distichon würde zunächst die Begegnung mit einem alten Mann als grundsätzlich positives Omen für drei verschiedene Vorhaben geschildert, bevor im zweiten Distichon eine Spezifizierung des alten Mannes gegeben würde, in dem Sinne, dass das Zeichen dann besonders verheißungsvoll ist, wenn es sich um einen (alten) Priester handelt. Das zweite Epigramm (3. Distichon) würde dann ein negatives Omen für eine Braut vor ihrer Hochzeit beschreiben, wobei der genaue Kontext und die Begründung jedoch offenbleiben: Handelt es sich auch um ein ‚Wegzeichen‘, und warum und zu welchen Zeitpunkt ist die Begegnung mit der eigenen Familie negativ? Wahrscheinlicher erscheint es, einen Bezug zwischen den drei Distichen herzustellen, wobei Höschele/Konstan (2006) den folgenden Vorschlag machen: Sie verstehen den Priester in V. 3 als Spezifizierung des alten Mannes aus V. 1 – eine Annahme, die durch das Alter des Priesters, das mit der Erwähnung seiner erwachsenen Kinder indirekt angegeben wird, gestützt wird (Höschele/Konstan 2006, 100). Das auf einen sehr konkreten Anlass bezogene27 Schlussdistichon – Höschele/Konstan nehmen an, dass es sich um ein finanziell ungleich gestelltes Paar handelt – ließe sich dann unter der Annahme, dass nicht die Braut ihrem Schwager und Schwiegervater begegnet, sondern der Priester als gutes Omen diese Begegnung hat, in diese Argumentation einfügen, wobei Höschele/Konstan dem Text der Erstherausgeber im letzten Distichon folgen: „If the poem is at all coherent, the bride’s brother-in-law should have met up with an old man, indeed a priest wearing a garland or the father of the admirable grown-up children, as indicated in the first two couplets.“ (Höschele/Konstan 2006, 101). Die Deutung, die von Whitehorne (2007) mit der Einschränkung, dass er die Identifizierung des Priesters mit dem alten Mann ablehnt, unterstützt wird, basiert jedoch nicht nur auf Konjekturen im letzten Distichon, sondern auch auf eine Reihe von sehr spekulativen Annahmen (vgl. auch Schröder 2008, 46– 47): Zum einen möchten Höschele/Konstan das schlechte Omen (αἰϲχρῶϲ ἤ̣ντηϲε, V. 5) für Vater und Verwandte mit dem sehr hypothetischen Fall einer Heirat zwischen sozial und finanziell unterschiedlich gestellten Brautleuten erklären. Zum anderen ist eine Verbindung des letzten Distichons mit dem Rest des Epigramms nur möglich, wenn man hinter dem Vater der Braut den Priester selbst sieht, der für die Verwandten des Bräutigams, die ihm in V. 6 begegnen würden, ein gutes Omen bedeutet, – immer vorausgesetzt, die Braut wäre eine gute Partie. V. 5 würde dann die Begegnung ihrer Familie mit einem alten Mann

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Vgl. Luppe (2002f, 68): „Gewiß hatte dies Epigramm einen besonderen Anlaß; denn es handelt sich doch offensichtlich um einen speziellen Fall gegenüber dem was zuvor allgemein über einen πρέϲβυϲ ἀνήρ gesagt war.“

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als schlechtes Omen speziell dieser Hochzeit betrachten, weil die Familie der Braut eine schlechte Partie machen würde. Folgt man dagegen der Überlieferung im letzten Distichon, dann ergibt sich mit dem Wunsch an die Braut eine weitere Möglichkeit, die Einheit des Epigramms herzustellen: Das erste Distichon definiert die Begegnung mit einem alten Mann als ein positives Zeichen bei zwei möglichen Vorhaben: Reise (Land- bzw. Seereise) und Hochzeit. Das zweite Distichon spezifiziert den alten Mann, wobei die Spezifizierung besonders für die im ersten Distichon zuletzt genannte Frage nach Heirat sinnvoll ist, da sich mit dem Priesteramt nicht nur der Kontext von kultischen Hochzeitsriten eröffnet, sondern mit dem Hinweis auf die Kinder des Priesters auch ein günstiges Omen für den mit einer antiken Heirat eng verbundenen Gedanken an Nachkommenschaft verbunden ist. Im Schlussdistichon würde dann die von der Hochzeit betroffene Braut angesprochen, wobei ihre als negativ bewertete Begegnung mit dem eigenen Vater und dessen Verwandten den mit der Heirat erfolgenden notwendigen Weggang aus dem väterlichen Oikos betonen könnte: Eine Heirat bedeutet aus Sicht der Frau die räumliche Abwendung vom Oikos des Vaters, so dass eine Begegnung mit dem väterlichen Geschlecht für eine Braut symbolisch der falsche Weg wäre – ihr Ziel, und das drückt der Wunsch im Schlussvers aus, ist vielmehr das Haus des Ehemanns mit hoffentlich einem guten Schwager und Schwiegervater. Die Abfolge der drei Distichen würde so den Ablauf einer Hochzeit von den Planungen (erstes Distichon) über die rituellen Vorbereitungen (zweites Distichon) bis zum Übergang in das Haus des Ehemanns (drittes Distichon) chronologisch abbilden und die drei für diese Phasen wichtigsten Vorzeichen beschreiben. Das Epigramm endet mit dem Wunsch an die Braut, in eine gute Familie einzuheiraten, wobei die beiden Adjektive εὐδαήρ und εὐέκυρο̣ϲ̣ einen günstigen Ausblick auf die Zeit nach der – von guten Vorzeichen begleiteten – Hochzeit geben. 26 Das Epigramm handelt von der Bedeutung eines Graureihers für den Sklavenkauf. Als Beispiel dient der erfolgreiche Kauf zweier Sklaven durch einen Mann namens Hieron. IV 36 οἰκῆα κτήϲαϲθαι ἐρωιδιὸϲ ὄρνι‹ϲ› ἄριϲτοϲ 1 37 πελλόϲ, ὃν Ἀ[ϲ]τ̣ε̣ρ̣ί̣η̣ μάντιϲ ἐφ’ ἱρὰ καλεῖ· 2 38 ὧι πειϲθεὶϲ Ἱέρ̣ω̣ν ἐκτ̣[ή]ϲ̣α̣το τὸν μὲν ἐπ’ ἀγροῦ 3 39 τὸν δ’ οἴκων ἀ̣γαθῶι ϲὺν ποδὶ κηδεμόνα. 4 36 ορνη P  37 ὅτ’ Lapini 2003b  39 ϲυμποδι P

Um einen Sklaven zu erwerben, ist ein Reiher der beste Vogel, der graue, den Asteria, die Seherin, zu ihren Opfern herbeiruft. Ihm vertraute Hieron, und er erwarb einen Sklaven für den Acker, und einen anderen für das Haus als Aufseher, womit er einen guten Schritt tat. V. 1 f. ἐρωιδιὸϲ … πελλόϲ: Der Vogel aus der Familie der Reiher (vgl. Arnott 2007, 73) wird von Aristoteles (hist. an. 609b21–28; 616b33–617a8) speziell mit dem Graureiher in Verbindung gebracht, der auch hier gemeint sein könnte. Die früheste Erwähnung des Reihers als günstiges Omen findet sich in der Ilias (10.274 –282), wo Odysseus im Zusammenhang der sogenannten

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Dolonie den Schrei eines von Athene gesandten Reihers, den er in der Dunkelheit nicht sehen kann, als positives Omen für seine Unternehmung deutet (vgl. ed. pr.). — ὄρνι‹ϲ› ἄριϲτοϲ: Die Korrektur des im Papyrus überlieferten ορνηαριϲτοϲ ist unstrittig (zur Entstehung der Korruptel vgl. die Erklärung der Erstherausgeber). Die Verbindung des Adjektivs ἄριϲτοϲ mit einem Zeichenvogel findet sich auch im Eröffnungsvers des folgenden Epigramms (27.1: οἰωνὸϲ ἄριϲτοϲ, vgl. Komm.). V. 2 ὃν: Das Relativpronomen lässt sich entweder als Spezifizierung verstehen, so daß das Vorzeichen nur beim Erscheinen eben jenes Reihers eintritt, den Asteria zu ihren Opfern herbeiruft (‚der Reiher, den …‘); in diesem Fall hätte Hieron die Seherin aufgesucht und um ein Vogelorakel gebeten.28 Oder es ist verallgemeinernd gebraucht in dem Sinne, dass es sich bei dem Zeichenvogel für Hieron um einen ähnlichen Reiher handelt, wie ihn auch die Seherin konsultiert (‚ein Reiher, wie ihn …‘). Beide Deutungen sind möglich, wobei Asterias Graureiher in jedem Fall die bereits in der Antike beobachtete Sesshaftigkeit dieser Vogelart (vgl. Arnott 2007, 74) andeutet, da ihre Tätigkeit nicht durch ein beliebiges Herbeirufen irgendeines Reihers gekennzeichnet ist, sondern auf einem Nahverhältnis zu einem bestimmten Tier basiert. Eine spezifische Verbindung von einem Seher mit speziellen Vögeln in seiner Umgebung ist auch das Thema im Abschlussepigramm der Sektion (35). — Ἀ[ϲ]τ̣ε̣ρ̣ί̣η̣ μάντιϲ: Von einem Orakelspruch einer gleichnamigen Seherin Asteria berichtet auch Eusebios (praep. ev. 5.28.4) im frühen 4. Jh. n. Chr. Der Eigenname ist insofern sprechend, als ἀϲτερίαϲ eine Unterart des Reihers bezeichnen kann, die von Aristoteles (hist. an. 609b23–25 u. 616b33–617a1) als Ergebnis einer Metamorphose von faulen Sklaven beschrieben wird (vgl. Plin. nat. 10.164 und Arnott 2007, 74); zu dem Wortspiel vgl. auch Lavigne-Romano 2004, 19. V. 3 Ἱέρω ̣ ν̣ : Bei diesem verbreiteten Eigennamen könnte es sich um einen sprechenden Namen handeln, der ähnlich wie Asteria zum Zweck des Wortspiels verwendet worden ist: Der „heilige“ Hieron wird mit einem göttlichen Zeichen belohnt; vgl. hierzu und zu weiteren sprechenden Namen in der Sektion Baumbach/Trampedach 2004, 130–131.29 V. 4 ἀ̣γαθῶι ϲὺν ποδὶ: Die ungewöhnliche Wendung – ϲύν mit Dativ von ποῦϲ kommt sonst nur im periphrastischen Gebrauch anstelle von Personennamen vor (vgl. Eur. Hipp. 661: ϲὺν ποδὶ πατρόϲ) – könnte sich entweder auf den zuletzt genannten Sklaven (‚mit gutem Fuß‘ i. S. v. ‚tüchtig‘) beziehen oder auf Hierons Kauf, der damit im übertragenen Sinn ‚einen guten Schritt tat‘. Das Epigramm verbindet die beiden Distichen durch eine wechselseitige Beglaubigungsstrategie: Im ersten Distichon wird die Sehergabe der Asteria gelobt, im zweiten der Kauf des Hieron. Obwohl nicht explizit formuliert, scheint der gute Kauf die Kunst der Seherin ebenso zu autorisieren, wie deren Tun die Grundlage für Hierons guten Kauf gewesen sein könnte. Eine solche Verbindung von allgemeiner Aussage über das Vorzeichen zu Beginn und folgendem 28 29

So deutet es auch Lapini (2007, 39), dessen Konjektur ὃν zu ὅτ’ i. S. v. ‚als‘ (2003b, 45) jedoch unnötig ist: „Il senso sarebbe che l’airone, quando appare nel momento in cui Asteria chiama (i fedeli) al rito, rappresenta un buon auspicio per chi voglia comprare un servo.“ Siehe auch Gutzwiller 2005, 309 und – skeptisch – Lapini 2007, 41– 43.

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konkreten Beispiel ist für viele Epigramme der Sektion charakteristisch. Das Epigramm würde in dieser Lesart eine kleine Geschichte erzählen, die von der Anfrage an Asteria über das positive Omen bis zum erfolgreichen Kauf reicht. Alternativ könnte der Verweis auf Asteria ohne direkten Zusammenhang mit dem konkreten Kauf des Hieron als Beglaubigung der Zeichenhaftigkeit des Graureihers gelesen werden, auf die Hieron vertraut. Auffällig ist im Unterschied zu den übrigen Vogelzeichen, dass der Graureiher keine bestimmte Bewegung machen oder in bestimmten Konstellationen gesehen werden muss, um mantisch bedeutsam zu sein: Allein sein Erscheinen bedeutet Glück. Mit Blick auf die Struktur der Oionoskopika lässt sich mit 26 das Ende einer Bewegung von der friedlichen Außenwelt zum Inneren des Oikos erkennen, auf dessen Sphäre die letzte Zeile des Epigramms explizit verweist (vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 131–137). 27 Mit dem Erscheinen des Geiers bei der Geburt von Kindern hat das Epigramm ein Vorzeichen zum Thema, das eine sehr umfassende Wirksamkeit besitzt und einen breiten Rezipientenkreis anspricht, da die Geburt von Kindern prinzipiell jeden Oikos betrifft bzw. interessiert. 1 IV 40 τέκνων εἰρ̣[ο]μ̣ένωι γενεὴν οἰωνὸϲ ἄριϲτοϲ, V 1 φήνη μαρτυρίην οὐδὲ θεοῦ δέχεται 2 2 οὐδὲ ϲυνεδρεῦϲαι μέγαν ἀετόν, ἀλλὰ τελείη{ι} 3 3 φαίνεται· οἰωνῶν χρῆμα τελειότατον, 4 4 φήνη παῖδ’ ἀγαγο̣ῦϲα καὶ ἐν θώκοιϲ ἀγορητὴν 5 5 ἡδυεπῆ θήϲει καὶ θοὸν ἐν πολέμωι. 6 40 ]μ̣ενων P  1 υριην P2, ριην P oder ριην P a.c.  1–2 post φήνη dist. Lapini 2003a, 2007  2 ἀλλ’ ὅτε λαιῆι Lapini 2003a (def. Ferrari per litt.)

Für jemanden, der sich nach der Geburt von Kindern erkundigt, ist der beste Vogel der Geier; weder empfängt er das ‹bestätigende› Zeugnis eines Gottes, noch billigt er es, dass ein großer Adler mit ihm zusammensitzt, sondern er erscheint vollständig für sich: als das verheißungsvollste Omen von allen wird ein Geier, der ein Kind ‹bei der Geburt› begleitet hat, es in Versammlungen zu einem süß-sprechenden Redner machen und im Krieg gewandt sein lassen. V. 1 f. Gegen die ed. pr. und ed. min. sollte mit Lapini (2003a, 43) und Gronewald (2003, 63) ein Hochpunkt hinter φήνη (V. 2) gesetzt werden (vgl. 26.1 f.). Die Parallelität der Epigramme 26 und 27 wird durch die Variation von ὄρν‹ιϲ› ἄριϲτοϲ (26.1) und οἰωνὸϲ ἄριϲτοϲ (27.1) unterstrichen. — οἰωνὸϲ ἄριϲτοϲ: Es ist auffällig, dass das Adjektiv ἀγαθόϲ in fast allen Oionoskopika der ersten Sektionshälfte für die positive mantische Qualität eines (Vogel-) Zeichens verwendet wird, vgl. 22.2, 23.2, 25.1, 26.1, 27.1.30 Zum Aufbau der Sektion vgl. die Einl. zur Sektion, 114 –116.

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In 34.2 bezeichnet ἀγαθόϲ die Qualität eines Sehers.

134

Oionoskopika 27

V. 2 φήνη: Mit φήνη wird von Aristoteles (hist. an. 7.592b5–6) ein aschfarbener Raubvogel bezeichnet, der im Unterschied zum γύψ größer als ein Adler ist. Nach heutigen ornithologischen Kategorien handelt es sich entweder um den Lämmergeier (vgl. Arnott 2007, 272) oder um den Mönchsgeier (vgl. Lunczer 2009, 74). Eine Identifizierung mit der für Kindesgeburt (s. u.) zuständigen ägyptischen Gottheit Nechbet ist im Kontext des ptolemäischen Ägypten (und für dortige Rezipienten) denkbar,31 aber keineswegs zwingend oder durch eindeutige Textsignale nahegelegt. Die Bedeutung des Geiers als eines mantischen Zeichens bei der Geburt hängt möglicherweise mit der Beobachtung zusammen, dass sich dieser seinen Kindern in besonderem Maße zuwendet (vgl. Aristot. hist. an. 619b34 –620b1; für weitere Stellen vgl. ed. pr.). In der römischen Mantik spielt der Flug von Geiern eine wichtige Rolle, u. a. bei der Gründung Roms (vgl. Ael. nat. anim. 10.22 und Arnott 2007, 92 mit weiteren Stellen). V. 2 f. μαρτυρίην οὐδὲ θεοῦ δέχεται οὐδὲ ϲυνεδρεῦϲαι μέγαν ἀετόν: δέχομαι ist doppelt konstruiert: Zunächst mit direktem Objekt (μαρτυρίην) i. S. v. ‚nicht annehmen/akzeptieren‘, wobei μαρτυρίην θεοῦ zum Ausdruck bringt, dass der Geier in keiner direkten Verbindung zu einer bestimmten Gottheit steht; die anschließende AcI-Konstruktion verändert den Sinn des Verbs: Der Geier hält es nicht für angemessen, mit einem großen Adler Rat zu halten. ϲυνεδρεῦϲαι überträgt die für Menschen gebräuchliche Vorstellung des ‚Rat halten‘, ‚diskutieren‘ auf die Tierwelt, wobei nicht nur die Zeichenhaftigkeit des gemeinsamen Erscheinens, die in 29 eine Rolle spielen wird, sondern auch die göttliche Einwirkung des Zeus ausgeschlossen wird: Als festes Symbol des Zeus ist der Adler ein Beispiel für einen Zeichenvogel, der an bestimmte Gottheiten rückgebunden ist, weshalb die Ablehnung der Synhedrie mit dem Adler zugleich den Ausschluss des Zeus als Zeichengeber bedeutet. Der Geier ist – wie es am Ende von V. 3 heißt – ein autarkes Zeichen. — μέγαν ἀετόν: Der Adler ist Symbol des Zeus und findet sich als Omen vor allem in Kriegssituationen; vgl. auch 31. V. 3 ἀλλὰ τελείη{ι}: Der leichte Eingriff der ed. pr. u. min. in die Überlieferung ist Lapinis (2003b, 43) Konjektur ἀλλ’ ὅτε λαιῆι (ex parte sinistra) nicht nur paläographisch, sondern vor allem inhaltlich vorzuziehen, da es in der griechischen Mantik keine reglementierte Zeichenhaftigkeit ‚von links/rechts fliegend‘ gibt; vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 140. Die Bezeichnung des Geiers als τελείη scheint beide Bedeutungen des Adjektivs aufzurufen: Er ist ‚vollendet‘, d. h. als Zeichen sowohl ‚autark‘ als auch ‚sicher‘, womit auf die Untrüglichkeit dieses Vorzeichens, das sich sicher erfüllen wird, angespielt wird, die bereits bei Homer mit dem Adjektiv τέλειοϲ beschrieben wird, dort interessanterweise vom Adler als dem vermeintlich sichersten Vorzeichen, da es von Zeus stammt (vgl. den Iteratvers Il. 8.247 u. 24.315). Poseidipp überträgt die Qualität des homerischen Adlers auf seinen Geier, um dessen Zeichenhaftigkeit besonders zu nobilitieren. Dieser Bezug wird noch deutlicher im folgenden Vers mit der ungewöhnlichen Wendung οἰωνῶν χρῆμα τελειότατον, die das homerische τελειότατον πετεηνῶν ‚den verheißungsvollsten der Vögel‘ (Il. 8.247 u. 24.315) variiert.

31

Vgl. Thompson 21966, 281: „For an Egyptian reader of these poems, the identification of the vulture of AB 27 as the Egyptian goddess Nechbet would seem inescapable.“

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V. 5 ἀγαγο̣ῦϲα: Zur Kinderliebe der Geier vgl. die Erstherausgeber. Daran anschließend verweist Gronewald (2003, 63) auf den Erziehungsgedanken, der bei dem Omen eine Rolle zu spielen scheint: „Der Geier, der ein Junges erzogen hat, gewährleistet die perfekte Erziehung des menschlichen Kindes. Indem παῖδα nur einmal gesetzt wird, vermischen sich Symbol und Realität.“ Ein durativ ausgelegter Erziehungsgedanke widerspricht jedoch der teleologisch ausgerichteten Mantik, bei der ein Zeichen nur kurz erscheint und proleptisch auf ein Resultat bzw. einen bestimmten Ausgang verweist. Unter diesem Gesichtspunkt kann ἀγαγοῦϲα hier auch nicht mit ‚erziehen‘ übersetzt werden, sondern ist i. S. v. ‚‹durch seine Erscheinung› geleiten/begleiten‘ gebraucht. Gegen Gronewalds Annahme spricht zudem, dass es beim Erscheinen eines Geiers schwer zu erkennen sein dürfte, ob es sich um ein Elterntier handelt, sofern das Junge nicht in der Nähe ist. Daher liegt es näher, eine Parallele zu dem seit Homer (Od. 8.167–177) und Hesiod (theog. 81–97) bezeugten Topos des Erscheinens von Musen bzw. Göttern bei der Geburt eines Kindes zu ziehen. V. 5 f. ἀγορητὴν […] πολέμωι: Die Verbindung von guter Rede und heroischer Kampfkraft im letzten Vers entspricht dem homerischen Erziehungsideal. Zu θοόϲ (‚schnell‘, ‚geschickt‘) als Attribut eines tüchtigen Kämpfers vgl. z. B. Il. 5.571, wo Aineias als θοὸϲ πολεμίϲτηϲ bezeichnet wird; ἡδυεπήϲ wird von Nestor in Il. 1.248 gesagt und findet sich als Attribut der Musen in Hymn. Hom. 21.4 und 32.2. Das Epigramm fungiert als Übergangsepigramm innerhalb der Oionoskopika. Nach den ersten sechs Omina, die allesamt in friedlichen Kontexten und weitgehend im Bereich des Privatlebens von Bürgern auftraten, gewinnen ab 27 Vorzeichen an Bedeutung, die die Öffentlichkeit betreffen und zumeist negative Bedeutung haben, da sie Unglück, Tod und Krieg ankündigen (vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 132). Das Epigramm endet mit einem Ausblick auf den Krieg, der zwar nicht als bedrohlich erscheint, jedoch ein Themenfeld aufzeigt, das in den direkt folgenden Epigrammen negativ mit Tod besetzt wird. Die stark an Homer angelehnte Sprache dient einerseits der sprachlichen Nobilitierung, andererseits wird ein Agon mit der homerischen Vorstellung von Mantik bzw. von der Zeichenhaftigkeit von Vögeln eröffnet. Poseidipps Geier ist kein ‚klassischer‘ Zeichenvogel (μαρτυρίην οὐδὲ θεοῦ δέχεται) und hat auch kein Interesse, sich mit Zeus’ Adler zu beraten. Vielmehr ist die betonte Unabhängigkeit des Geiers von den Göttern und seine Autarkie (τελείη) auffällig, verweist beides doch auf ein der traditionellen Vogelmantik (vgl. Baumbach/Trampedach 2004) entgegenstehendes Konzept, in der Vögel in der Regel als Mittler göttlicher Botschaften fungieren. Poseidipps Geier steht für eine Dichtung, die sich von der Tradition abgrenzt. Mit Blick auf die situative Verortung des Zeichens scheint ein intertextueller Bezug zu Hesiods Theogonieproömium (V. 81–97) vorzuliegen, wo die positive Vorbedeutung der Anwesenheit von Musen bei der Geburt von Kindern betont wird, die zu eben den Qualitäten im öffentlichen Auftreten führt, die auch im letzten Vers des Epigramms betont werden. Die Zuschreibung dieser Wirkkraft an einen Geier deutet eine ironisch-distanzierende Wirkungsabsicht an, da an die Stelle der Musen bei Poseidipp ein autarker Geier getreten ist.

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Oionoskopika 28

28 Der ganz am Schluss des vorangehenden Epigramms erwähnte Krieg (27.6) wird zum Thema dieses Epigramms. Anstelle eines Vogelzeichens wird die Begegnung mit einem alten Mann am Dreiweg mantisch bedeutsam, was am Beispiel des Soldaten Timoleon belegt wird. V 6 ἢν ἀνδρὸϲ μέλλοντοϲ ἐπ’ Ἄρεα δήϊον ἕρπειν 1 7 ἀντήϲη‹ι› κλαίων πρέϲβυϲ ἐπὶ τριόδου, 2 8 οὐκέτι νοϲτήϲει κεῖνοϲ βροτόϲ· ἀλλ’ ἀναθέϲθω 3 9 τὴν τόθ’ ὁδοιπορίην εἰϲ ἕτερον πόλεμον· 4 10 καὶ γὰρ Τιμολέων κεκλαυμένοϲ ἦλθεν ὁ Φωκεὺϲ 5 11 ἐ̣κ πολέμου τούτωι ϲήματι μεμψάμενοϲ. 6 Wenn einem Mann, der sich anschickt, in einen verderblichen Krieg zu ziehen, ein weinender alter Mann an einem Dreiweg begegnet, dann wird jener Sterbliche nicht mehr nach Hause zurückkehren. Vielmehr soll er seinen Marsch auf einen anderen Krieg verschieben! Denn auch Timoleon, der Phoker, kam beweint zurück aus dem Krieg, weil er dieses Zeichen missachtet hatte. V. 1 ἐπ’ Ἄρεα: Ares steht synonym für Krieg; vgl. auch die mögliche Ergänzung in 32.1. V. 2 ἀντήϲη‹ι›: Der überlieferten Form fehlt das für die geforderte Konjunktivendung im Nebensatz nötige ι; solche Auslassungen sind im Neuen Poseidipp häufig (vgl. Lapini 2007, 203). — πρέϲβυϲ: Das Wort hat zwei Bedeutungen: Neben der gebräuchlichen Bezeichnung für einen alten Mann wird es nach Aristoteles (hist. an. 609a16 u. 615a19) und Hesych (π 3249) auch als Vogelname verwendet und bezeichnet einen Kiebitz (τροχίλοϲ). Scheint im Kontext der Vogelschauepigramme letztere Bedeutung zunächst naheliegend (vgl. Petrain 2002), so sprechen zwei Überlegungen für den ‚alten Mann‘: Zum einen ist die Verbindung des Verbums κλαίω mit Vögeln in der Bedeutung ‚(klagend) rufen‘ zwar belegt (vgl. Od. 16.216) und würde gut zum charakteristischen Ruf des Kiebitz passen, sie lässt sich aber nur schwer mit ἀντάω (begegnen, aufeinander treffen) verbinden, was fast ausschließlich von Personen oder Tieren in Fabeln (vgl. Petrain 2002) ausgesagt wird, jedoch nicht von Tieren allgemein. Zum anderen deutet der Kontext des Dreiwegs auf eine Begegnung zwischen Menschen bzw. Heroen, wie sie oft im Mythos zu finden ist (vgl. Ödipus und Herakles). Das Fehlen eines Vogels als Vorzeichen ist typisch für die zweite Hälfte der Oionoskopika, die mit 28 beginnt (vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 136).32 V. 3 ἀλλ’ ἀναθέϲθω: Zur Verwendung des exhortativen ἀλλά (‚wohlan‘, ‚vielmehr‘) im Papyrus vgl. Lapini 2007, Anm. 15.

32

Weiterhin könnte mit Blick auf die in der Sektion oft zu findende Variation der Eingangsverse der vorangehenden Epigramme ein intendierter Kontrast zwischen dem Fragen nach Kindern (27.1) und der Begegnung mit einem alten Mann vorliegen.

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V. 4 ὁδοιπορίην: Die ionische Form ist typisch für die Dialektmischung der Sammlung; vgl. Sens 2004, 67. V. 5 Τιμολέων […] ὁ Φωκεὺϲ: Der häufige Eigenname lässt keine genauere Identifizierung mit einer historischen Person zu. Es könnte sich um einen sprechenden Namen (‚der den Löwen ehrt‘) handeln (dagegen Lapini 2007, 41 f.); vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 130: „Timoleon, who ‚respects the lion‘, is killed, because he did not respect a bad omen on his way to war.“ Phokis ist die Gegend am Parnass in Mittelgriechenland, wo die Orakelstätte Delphi liegt. V. 6 μεμψάμενοϲ: Die Konstruktion mit dem Gegenstand des Tadels im Dativ ist zwar ungewöhnlich, aber in der Bedeutung ‚zurückweisen‘, ‚missachten‘, ‚verschmähen‘ – in Analogie zur getadelten Person im Dativ (vgl. Aischyl. sept. 560; Soph. Trach. 470) – in der Epigrammdichtung mehrfach belegt (vgl. AP 5.52.6 und ed. pr. mit weiteren Stellen). Ähnlich wie beim zweiten Epigramm der Sektion (22) handelt es sich bei 28 um ein Fortsetzungsepigramm. Das in 27 erwähnte Kind, dessen politische und militärische Zukunft am Schluss angedeutet wird, zieht nun als erwachsener Mann in den Krieg. Dabei fallen drei inhaltliche Änderungen auf, die nicht nur den Dialog der beiden Epigramme, sondern darüber hinaus die Struktur der Sektion bestimmen: Während in den ersten sieben Epigrammen der Oionoskopika für die erwähnten Figuren positive Omina beschrieben werden, verlagert sich der Fokus mit 28 auf die Beschreibung von negativen Vorzeichen und deren Erfüllung. Zudem wechselt die Thematik der Epigramme vom Oikos und verschiedenen Tätigkeiten des privaten Lebensunterhalts zur Außenwelt (vgl. Baumbach/Trampedach 2004). Schließlich sind es nicht länger immer nur Vögel, die als Vorzeichen fungieren; nunmehr gewinnen ungewöhnliche Begegnungen mit Menschen mantische Qualität. Die Sektion erweitert so den Blick von der Vogelschau im engeren Sinne auf die Mantik allgemein. Wichtig erscheint, dass der Krieg nicht generell abgelehnt oder kritisch als ein Ort negativer Erfahrung gesehen wird: Timoleon soll vielmehr in einen anderen Krieg ziehen bzw. auf bessere Vorzeichen warten. Damit wird einerseits Entscheidungsfreiheit konstatiert, andererseits aber das dafür notwendige mantische Wissen bzw. die Fähigkeit zur richtigen Zeichendeutung betont. 29 Das Epigramm beschreibt die unglückverheißende Bedeutung des gemeinsamen Anblicks von Lerche und Distelfink anhand des Schicksals eines gewissen Euelthon. V 12 ἐχθρὸν ἀνὴρ κορυδοὺϲ καὶ ἀκανθί‹δ›αϲ ἢν ἑνὶ χώρωι 1 13 ἀθρήϲη‹ι›· χαλεποὶ ϲύνδυο φαινόμενοι· 2 14 ὣϲ Εὐέλθων εἶδε· κακοὶ δέ μιν αὐτὸν ὁδίτην 3 15 κλῶ̣πεϲ Ϲιδήνη‹ι› κτεῖναν ἐν Αἰολίδι. 4 12 εχθροϲ P  ακανθιαϲ P  13–14 φαινόμενοι, | ὡϲ Angiò 2002b (def. Ferrari per litt.)  14 οδιταν P, ν ex ι corr. m²

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Oionoskopika 29

Es ist ein widriges Zeichen, wenn ein Mann Lerchen und Distelfinken an einem Ort erblickt: sie sind gefährlich, wenn sie zusammen als Paar erscheinen. So sah ‹sie› Euelthon, und ihn töteten auf der Reise böse Räuber im äolischen Sidene. V. 1 ἐχθρὸν: Das überlieferte εχθροϲ lässt sich leicht als Verschreibung erklären, die durch den fälschlichen Bezug auf das folgende Nomen ἀνήρ entstanden ist. — ἀκανθί‹δ›αϲ: Die Überlieferung ακανθιαϲ als Akk. Pl. von ὁ ἀκανθίαϲ (zu ἄκανθα, ‚Stachel‘, ‚Dorn‘), ein Wort, das als Bezeichnung für eine Haifisch- und für eine Heuschreckenart bezeugt ist, ist aus inhaltlichen Gründen nicht zu halten, da in Verbindung mit den Lerchen eine zweite Vogelart erwartet wird. Der Distelfink (ἀκανθίϲ) ist nach Aristoteles (hist. an. 592b29–593a3) fast ausschließlich in der Umgebung der namensgebenden Pflanzen anzutreffen und daher weniger am Meer und in städtischer Umgebung als im Binnenland zu finden. Eine besondere mantische Qualität scheint ihm im Unterschied zur Lerche (κορυδόϲ) nicht zugeschrieben worden zu sein. Von letzterer gibt es zwei Unterarten (vgl. Arnott 2007, 172–174), wobei die Haubenlerche volksetymologisch den im Epigramm thematisierten Kampf und Tod symbolisieren könnte, da Hippodameia in eine Haubenlerche verwandelt worden sein soll, weil sie bei ihrem Kampf gegen die Stuten, die ihren Sohn getötet hatten, einen Helm (κόρυϲ) trug (vgl. Ant. Lib. 7.6). Das Zusammentreffen von Lerche und Distelfink findet sich auch in der bukolischen Dichtung bei Theokrit, eid. 7.141, dort jedoch in einem heiteren Ambiente beim Erntefest. V. 1–2 ἑνὶ χώρωι […] ϲύνδυο φαινόμενοι: Das ungewöhnliche und damit zeichenhafte Zusammentreffen der beiden Vogelarten, die als einander feindlich galten (vgl. ed. pr.), wird durch die sprachliche Doppelung ‚an einem Ort‘ und ‚sich zusammen zeigen‘ betont. ἑνὶ χώρωι steht als Lokativ ohne Präposition; das Zahlwort ἑνὶ betont im Zusammenspiel mit ϲύν- das gemeinsame Erscheinen der beiden Vögel, die für sich genommen keine Vorzeichen sind (vgl. ed. pr. 143). V. 3 ὣϲ: Je nach Akzentuierung von ωϲ ändert sich die Bedeutung und die Syntax: ὡϲ i. S. v. ‚wie‘ schlösse sich als Vergleich an χαλεποὶ ϲύνδυο φαινόμενοι an (so Angiò 2002b, 266), während ὥϲ i. S. v. ‚so‘ einen neuen Hauptsatz einleitet. Der Inhalt ist in beiden Fällen gleich und weist Euelthon als tragisches Beispiel für die negative Bedeutung des Omens aus. Eine sichere Entscheidung kann aufgrund der fehlenden Akzente im Papyrus nicht getroffen werden; eine ähnliche Problematik findet sich in 76.1, vgl. Lapini 2007, Anm. 15. — Εὐέλθων: Der sprechende Name ‚der Glücklich-Reisende‘ weckt eine falsche Erwartung an sein im Epigramm geschildertes tragisches Schicksal, vgl. hierzu Baumbach/Trampedach 2004, 130–131 und Gutzwiller 2005, 308. — ὁδίτην: Im Papyrus hat eine zweite Hand den falschen Nom. Pl. οδιται (Angleichung an κακοὶ) in oδιταν korrigiert (vgl. ed. pr. 143); die dorische Form ist in ionisch ὁδίτην zu verbessern. V. 4 Ϲιδήνη‹ι› […] ἐν Αἰολίδι: Gemeint ist die am Fluss Granikos gelegene Stadt Sidene an der Nordwestküste Kleinasiens, die nach Strabo 13.581, 587, 593 von Kroisos zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde. — κτεῖναν: Der Ausfall des Augments aus metrischen Gründen findet sich bei Poseidipp häufiger; vgl. in den Oionoskopika 31.4 (mit unsicherer Lesart) und 35.3 sowie die Bemerkungen von Di Nino 2010, 128 und Lapini 2007, 219.

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Das Epigramm beginnt mit einer kurzen Beschreibung und Deutung des Wegzeichens, ehe es im zweiten Distichon mit Euelthon ein konkretes Beispiel gibt. Hieraus ergibt sich eine zirkuläre Struktur, insofern die allgemeine Beschreibung der Zeichenhaftigkeit nicht nur das Schicksal des folgenden Beispiels vorwegnimmt, sondern durch dieses zugleich inhaltlich bestätigt wird. Anders als in 28 gibt es hier jedoch kein Entrinnen, so dass der Betroffene durch etwaiges mantisches Wissen nicht vor dem drohenden Schicksal bewahrt werden kann. Das negative Omen wird sich erfüllen, allein der Zeitpunkt der Erfüllung ist offen: Euelthon weiß ebenso wenig wie die Rezipienten dieses Epigramms, ob sich das Zeichen auf die unmittelbar bevorstehende Reise bezieht oder für eine spätere Reise (oder vielleicht sogar für eine andere Tätigkeit) gilt. Damit ist das Epigramm sowohl offen für eine engere situative Auslegung auf den angedeuteten Kontext der Reise, vor oder auf der Euelthon das Zeichen gesehen hat, als auch für eine allgemeinere Deutung des Omens als gefährlich wofür und für wen auch immer. Für den Rezipienten der Sektion stellt das eine bewusst erzeugte Leerstelle dar, die zur stärkeren mantisch-interpretativen Mitarbeit auffordert. 30 Thema des Epigramms ist das Schwitzen einer hölzernen Statue als negatives Vorzeichen für die Bürgerschaft. V 16 ξέϲματοϲ ἱδρώϲαντοϲ ὅϲοϲ πόνοϲ ἀνδρὶ πολίτηι 1 17 καὶ δοράτων ὅϲϲο‹ϲ› προϲφέρεται νιφετ̣ό̣ϲ̣· 2 18 ἀλλ̣ὰ̣ τὸν ἱδρ[ώϲα]ντα κάλει θεόν, ὅϲτιϲ ἀπώϲε̣[ι 3 19 πῦρ ἐπὶ δυ[ϲμε]νέων αὔλια καὶ καλάμα[ϲ. 4 17 οϲϲη P  18 κάλει θεόν, ὅϲτιϲ ἀπώϲε̣[ι Gronewald 2001, Lloyd-Jones 2001, ed. min. : καλεῖ θεὸν ὅϲτιϲ, (sic) ed. pr.

Wenn eine hölzerne Statue schwitzt, welch großes Leiden und welch großer Hagel von Speeren kommt dann auf die Bürgerschaft zu! Aber rufe den Gott, der schwitzt, an: Er wird das Verderben auf die Häuser und Felder der Feinde zurückwenden. V. 1 ξέϲματοϲ ἱδρώϲαντοϲ: ξέϲμα (zu ξέω ‚schnitzen‘, ‚kratzen‘, ‚glätten‘) ist ein seltenes, meist im Plural gebrauchtes Wort, das allgemein einen geformten Gegenstand bezeichnet (vgl. AP 9.328) und speziell als Synonym für ξόανον ‚hölzernes Götterbild‘ verwendet wird (vgl. Hesych. s.v. ξόανα). Schwitzende Statuen (aus verschiedenen Materialien) waren in der Antike Vorzeichen von Unglück (vgl. die zahlreichen Beispiele in ed. pr. 143 f.). Das Phänomen wurde in der Antike z. T. naturwissenschaftlich erklärt: So deutet Theophrast das Schwitzen als Flüssigkeitsabfluss im (frischen) Holz bei feuchter Luft (hist. plant. 5.9.8 u. caus. plant. 5.4.4), worauf auch Cicero in div. 2.58 verweist. Andere Erklärungen ergeben sich mit Blick auf die Praxis, dass vor Elfenbeinstatuen wie der Athenastatue in Athen aus Konservierungsgründen ein Becken mit Wasser bzw. Öl (vgl. Paus. 5.11.10) gestanden hat, wodurch es zu einer Erhöhung der Luftfeuchtigkeit kam, die das ‚Schwitzen‘ der Statuen ausgelöst haben könnte (vgl. hierzu Lapatin 2001, 85–86 und Boardman 1967, 343–345). — ἀνδρὶ πολίτηι: Die Junktur ist ein

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terminus technicus für ein Mitglied der Bürgerschaft einer Polis; hier kollektiv gebraucht für die gesamte Polis, die vom Krieg bedroht wird. V. 2 ὅϲϲο‹ϲ›: Die Konjektur des überlieferten οϲϲη ist zwingend, weil νιφετόϲ (eigentl. ‚Schneefall‘, ‚Schneegestöber‘, hier übertragen gebraucht) immer Maskulinum ist; zu möglichen Erklärungen des Fehlers vgl. ed. pr. V. 3 κάλει … ὅϲτιϲ: Die in der ed. pr. vorgeschlagene Akzentuierung καλεῖ ist von Gronewald (2001, 2) und Lloyd-Jones (2001, 6) korrigiert worden. Der Imperativ richtet sich an den Rezipienten des Epigramms, der bei einer solchen Beobachtung zum Gebet aufgerufen wird. ὅϲτιϲ ist individualisierend gebraucht wie in 45.5 und 47.1. Ein – grammatisch möglicher – Rückbezug auf das Subjekt von κάλει (vgl. Gärtner 2006, 80)33 ist weniger wahrscheinlich: Jeder Bürger wird eine solche drohende Gefahr abwehren wollen, weshalb dieses Interesse nicht eigens formuliert werden muss. — θεόν: In Verbindung mit dem folgenden ὅϲτιϲ (s. o.) muss es sich um eine männliche Gottheit handeln. Zusammen mit dem Partizip ἱδρ[ώϲα]ντα greift die Wendung ξέϲματοϲ ἱδρώϲαντοϲ aus V. 1 chiastisch wieder auf, womit die allgemeine Aussage präzisiert wird. Um welche Gottheit es sich handelt, bleibt jedoch ungewiss. Es liegt nahe, an eine Ares-Statue zu denken; in Frage kommen aber alle männlichen Gottheiten, die mit Krieg zu tun haben, von Apollon bis Zeus. V. 4 πῦρ: Feuer ist hier im übertragenen Sinn von ‚Verderben‘, ‚Unglück‘ gebraucht. — καλάμα[ϲ: καλάμη bedeutet allgemein ‚Halm‘, ‚Stängel‘, ‚Rohr‘, wobei hier speziell der Getreidehalm gemeint ist, der im Plural (Synekdoche) für das Getreidefeld (vgl. ed. pr. 145) steht. Mit einer schwitzenden Statue erweitert sich das Spektrum der Prodigien in den Oionoskopika um eine weitere Zeichenart, die auch im folgenden 31 im Mittelpunkt steht. Im Unterschied zu allen vorangehenden Epigrammen ereignet sich das Zeichen nicht notwendig in der Öffentlichkeit bzw. außerhalb des Oikos – wie es für Vogelzeichen typisch ist –, sondern an einem nicht näher genannten Aufstellungsort, bei dem es sich möglicherweise um einen Tempel oder einen heiligen Bezirk (Temenos) handelt. Ein solcher Standort würde die Relevanz des Zeichens unterstreichen, das bereits aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine Götterstatue handelt, besonders nobilitiert ist und eine hohe Prodigienqualität besitzt. Bewusst scheint auf eine Spezifizierung der Gottheit verzichtet zu werden, wohl um angesichts der zahlreichen Berichte von schwitzenden Statuen in der Antike eine Aussage zu formulieren, die allgemeingültig ist. Dabei ist es auffällig, dass das Zeichen für den Betrachter keine direkte Auswirkung hat, da man seine negative Wirkung – bei rascher und richtiger Reaktion – von sich abwenden kann. Dies ist in der Sektion einzigartig, da es eine spezifische Kommunikationssituation zwischen göttlichem Zeichen und menschlichem Empfänger schafft, die den Zeichenempfänger in die Lage versetzt, mit dem zeichengebenden Gott zu kommunizieren und dadurch eine Weiterleitung der (negativen) Bedeutung an dritte Personen zu erreichen. Dadurch korrespondiert 33

Gärtner 2006, 80: „Ein schwitzendes Götterbild bedeutet akute Gefahr für die politische Gemeinschaft (ἀνδρὶ πολίτηι) des Betrachters; wenn man (i. S. v. du) aber diese Gefahr von der eigenen Stadt abwehren (Medium) und auf die Feinde übertragen will, soll man (i. S. v. sollst du) den Gott, der geschwitzt hat, anrufen.“

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die negative Wirkmacht des Zeichens mit der positiven Wirkmacht des Zeichenempfängers, das Zeichen (von sich und seiner Bürgerschaft) abzuwenden. Dagegen tritt die mit derartigen Wunderzeichen oft verbundene Faszination, die Krevans (2005, 91 f.) beobachtet und in die Tradition von hellenistischen Wunderbüchern stellt, deutlich zurück: Das Epigramm stellt nicht die Merkwürdigkeit des Zeichens selbst heraus, sondern den bemerkenswerten Umgang mit dem Zeichen. 31 Nach der Erwähnung eines Vogelzeichens wird die plötzliche Bewegung einer Athena-Statue als Prodigium beschrieben. Mit dem Verweis auf Alexander und die Argeaden wird ein Bezug zu historischen Persönlichkeiten hergestellt. V 20 ἀετὸϲ ἐκ νε[φέω]ν καὶ ἅμα ϲτεροπὴ καταβᾶ[ϲα 1 21 νίκηϲ οἰων[οὶ δε]ξιοὶ ἐϲ πόλεμον 2 22 Ἀργ‹ε›άδα‹ι›ϲ βα̣[ϲιλε]ῦϲιν, Ἀθηναίη‹ϲ› δὲ πρὸ ναο[ῦ] 3 23 ἴχνοϲ̣ κινη[θὲν δε]ξιὸν ἐκ μολύβου· 4 24 οἷον Ἀλεξά[νδρ]ω̣ι ἐφάνη τέραϲ, ἡνίκα Περϲ̣[ῶν 5 25 ταῖϲ̣ ἀν̣α̣ρ̣[ιθμ]ή̣τοιϲ πῦρ ἐκύει ϲτρατιαῖ̣[ϲ. 6 20 εγνε[ P καταβα[ίη vel καταβα[ῖεν Tammaro 2005  21 post πόλεμον dist. Gronewald 2001  22 αργαδαϲ P  22–23 Ἀθηναίη‹ϲ› … κινη[θὲν δε]ξιὸν Lapini 2002 : Ἀθηναίη‹ι› … κινη[θὲν δε]ξιὸν Ferrari 2005 : Ἀθηναίη … κίνη[ϲεν δε]ξιὸν ed. pr., min. : Ἀθηναίη … κινή[ϲαϲ’ ἐ]ξιὸν Schröder 2002 : κινή[ϲαι Gronewald 2003 (def. Tammaro 2005)  22 Προνάο[υ] Lapini 2007 : Πρόναο[ϲ] Tammaro 2005  23 εγμολυβου P  24 οἶον Lapini 2003b : οἴωι Lloyd-Jones 2003, Ferrari 2005

Ein Adler, der aus den Wolken kommt, und ein zugleich niedergehender Blitz waren günstige Siegeszeichen mit Blick auf den Krieg für die argeadischen Könige. Aber Athenas rechter Fuß, der sich vor dem Tempel aus dem Blei heraus bewegte, erschien allein Alexander als Zeichen, als er für die unzähligen Armeen der Perser Feuer ersann. V. 1 ἀετὸϲ […] καὶ ἅμα ϲτεροπὴ: Adler und Blitz sind die Epitheta des Zeus und wurden von den Ptolemäern symbolisch als Ausdruck ihres Herrschaftsanspruches verwendet, u. a. auf Münzen; vgl. Stephens 2004a, 166. — καταβᾶ[ϲα: Die Rekonstruktion des Versendes ist umstritten. Während die Erstherausgeber ein auf ϲτεροπὴ bezogenes participium coniunctum annehmen, schlägt Tammaro (2005, 169) eine finite Verbform vor, durch die ein Prodigienwunsch für die Argeaden ausgedrückt wird: καταβα[ίη bzw. καταβα[ῖεν. Dies ergibt aber nur einen Sinn, wenn man unter den Argeaden die zeitgenössischen ptolemäischen Könige annimmt, was keineswegs naheliegend ist; vgl. Komm. zu V. 3. V. 2 πόλεμον: Die von Gronewald 2001, 2 f. vorgeschlagene Interpunktion hinter πόλεμον basiert auf der Überlegung, dass die in V. 1 genannten Zeichen Adler und Blitz altbekannt und sehr unspezifisch sind, weshalb eine spezielle Bedeutung dieser Zeichen für das Königshaus der

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Argeaden merkwürdig erscheint. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Ptolemäer sich gerade diese Zeichen als Symbole ihres Machtanspruches gewählt haben (vgl. Komm. zu V. 1) und dass der Zusatz ἐϲ πόλεμον die in verschiedenen Kontexten als Omen betrachteten Zeichen Adler und Blitz (vgl. die Auseinandersetzung zwischen Hektor und Polydamas in Hom. Il. 12. 200 f.) auf den für den Machterwerb und -erhalt wichtigen militärischen Kontext fokussiert. Zudem bringt Gronewalds Vorschlag das Problem mit sich, dass die Partikel δέ (V. 3) sehr weit vom Satzbeginn entfernt ist; das ist zwar möglich (Denniston ²1954, 187 f.), kommt jedoch bei Poseidipp und in der Epigrammdichtung sonst nie vor (vgl. Schröder 2002, 28).34 V. 3 Ἀργ‹ε›άδα‹ι›ϲ βα̣[ϲιλε]ῦϲιν: Die argeadischen Könige verweisen zunächst auf das aus Argos stammende makedonische Königshaus (vgl. Hdt. 8.137) und werden in hellenistischer Zeit zu einem Synonym für die ptolemäischen Könige; vgl. Stephens (2005, 234 u. 237). Entsprechend könnte das Epigramm einen Zeitbezug enthalten und auf eine bestimmte erfolgreiche Schlacht verweisen, bei der Adler und Blitz den Sieg der Ptolemäer angekündigt haben.35 Da jedoch konkrete Hinweise fehlen, müsste man eine besondere Kenntnis dieser Umstände bei den von Poseidipp intendierten Rezipienten voraussetzen. Wahrscheinlicher ist daher die Deutung, dass es sich um Vorzeichen handelt, die einer Reihe von makedonischen Königen erschienen sind, während dem einzigartigen Alexander ein spezielles Zeichen zuteil wurde. V. 3 f. Ἀθηναίη‹ϲ› […] κινη[θὲν δε]ξιὸν: Die Lücke hat zu unterschiedlichen Vorschlägen geführt, die z. T. die Interpunktion am Ende von V. 4 und den syntaktischen Anschluss zu Beginn von V. 5 betreffen. Die Erstherausgeber haben zunächst den augmentlosen Aorist κίνη[ϲεν als finites Verb zu Ἀθηναίη ergänzt und hinter μολύβου interpungiert, wobei im folgenden Satz οἷον (V. 5) zusammen mit τέραϲ als Subjekt aufgefasst werden müsste: ‚Ein solches Wunder zeigte sich Alexander.‘ Diese Lösung weist jedoch zwei Probleme auf: Zum einen gibt es augmentlose Formen im Neuen Poseidipp nur aus metrischen Gründen (und hier wäre ἐκίνη[ϲεν metrisch möglich); zum anderen würde das Epigramm inhaltlich in zwei Teile zerfallen, wie Schröder 2002, 28 zu Recht konstatiert: „Diese Interpretation geht nicht auf, denn von Alexander ist erst in dem οἷον-Satz die Rede, und sein Fall erscheint als ein Beispiel für etwas Allgemeineres, das in den Worten Ἀθηναίη – μολύβου liegen müsste. Diese wiederum ergeben für sich genommen keinen akzeptablen Gegensatz zu dem in den ersten zweieinhalb Versen Ausgesagten, und es fehlt ihnen in merkwürdiger Weise an einer Verankerung in der Zeit und in einem Zusammenhang.“36 Schröder (2002, 29) hat deswegen κινή[ϲαϲ’ mit folgendem ἐ]ξιὸν vorgeschlagen, wobei er οἷον in V. 5 als Ausruf verstehen möchte: „Athena, die aus dem Tempel beide Füße aus dem Blei heraus bewegte, – welch ein Wunder zeigte sie dem Alexander“. Diese Lösung erscheint möglich; allerdings ist die „Ergänzung zu einem ausmalenden ἐ]ξιὸν“ (Schröder 2002, 29) unnötig. Lapini (2002, 44) schlägt vor, Ἀθηναίηϲ […] κινηθέν sowie οἶον zu lesen, das adverbiell als „nur“ zu verstehen sei: „per i re Argeadi era segno di vittoria l’aquila e la folgore scesa dal cielo, ma il piede destro di Atena mosso dal piombo davanti al santuario si presentò come τέραϲ al solo Alessandro.“ Dieser Vorschlag betont die Einmaligkeit des Zeichens, das in der Tat in der 34

Es kommt hinzu, dass Poseidipp, wie Lapini zu Recht feststellt, leicht βα̣[ϲιλε]ῦϲι δ᾽ Ἀθηναίη hätte schreiben können. 35 Vgl. Tammaro 2005, 170: „L’occasione potrebbe essere data da una delle guerre siriache: nella terza, ad esempio, scoppiata nel 246 a.C.“ 36 Vgl. auch Ferrari 2005, 196.

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Überlieferung keine Parallelen hat,37 und erzeugt eine klare Antithese zwischen den allgemeinen Siegesvorzeichen für die Argeaden und dem einzigartigen Zeichen für Alexander vor einem (einzigartigen) Feldzug. Doch auch dieser Vorschlag ist nicht unproblematisch, da der Wegfall des Sigma am Wortende von Ἀθηναίη‹ϲ› erklärt werden muss und οἶον durch den möglichen Doppelbezug zu Alexander (‚allein‘) und zu τέραϲ (‚einziges‘) missverständlich ist.38 Diese Ambivalenz sucht Lloyd-Jones (2003, 62) in Anlehnung an Schröders Vorschlag durch οἴωι („to Alexander alone“) zu vermeiden. Auch wenn dadurch in V. 5 ein ungewöhnlicher doppelter Hiat entsteht, ist dieser Vorschlag allen anderen vorzuziehen. — δε]ξιὸν: Sofern richtig, nimmt die Ergänzung der ed. pr. u. min. das ebenfalls ergänzte δε]ξιοὶ aus V. 2 (jetzt im wörtlichen Sinne des Wortes) wieder auf. Das Vorsetzen des rechten Fußes ist ein positives Omen.39 — πρὸ ναο[ῦ: Die Ergänzung des Versschlusses „vor dem Tempel“ (ed. pr. u. min.) ist überzeugend, weil so ausgedrückt wird, was für ein besonderes Omen in der geschilderten Situation wichtig ist, nämlich die Sichtbarkeit des Zeichens in der Öffentlichkeit. Eine Alternative wäre, das Epitheton Πρόναοϲ (Tammaro 2005 bzw. Προνάο[υ] Lapini 2002 u. 2007 mit Bezug auf den von ihm vorgeschlagenen Genitiv Ἀθηναίη‹ϲ›) anzunehmen. Damit würde an die bekannte ‚Athena Pronaia‘, die in Delphi verehrt wurde, erinnert und eine Lokalisierung des Vorzeichens möglich. Allerdings ist πρόναοϲ sonst immer dreiendig. — ἐκ μολύβου: Bronzestatuen wurden an den Füßen mit Blei an der Basis fixiert (vgl. Zimmer 1990, 155 und Formigli 1984, 135–137 zu den sog. Riace-Kriegern), und bei Marmorstatuen, die samt Plinthe in die Basis eingepasst wurden, wurden Bleiklammern und Bleiguss festgestellt (vgl. Boardman 1985, 14). Es muss sich bei der Athenastatue daher in jedem Fall um eine wertvolle und große Statue handeln. V. 5 οἴωι: Zur Diskussion des überlieferten οιον vgl. oben zu V. 3 f. — Ἀλεξά[νδρ]ω̣ι: Die erste von insgesamt vier Erwähnungen Alexanders des Großen im Epigrammbuch (31, 35, 65, 70). Der Kontext lässt offen, ob sich das Vorzeichen bei einem bestimmten seiner drei Siege über die Perser ereignet hat oder sich auf den gesamten Feldzug gegen die Perser bezieht. Möglicherweise ergibt sich jedoch mit Blick auf die zweite Erwähnung Alexanders in den Oionoskopika eine relative Chronologie: Während 35 nach den drei Siegen verfasst ist (vgl. Komm.), beschreibt 31 offenbar ein Zeichen, das Alexander zu Beginn seines Persien-Feldzugs als positives (Start-)Signal für den gesamten Feldzug erhalten hat. V. 6 ἐκύει: Während das Verb bei Homer noch ausschließlich in der Bedeutung ‚schwanger sein/ werden‘ verwendet wird, ist es hier in der übertragenen Bedeutung ‚mit etwas schwanger gehen, ersinnen‘ gebraucht (vgl. z. B. Plat. symp. 209a u. Theait. 151b.) Das Epigramm steht mit dem vorangehenden (30) nicht nur wegen der besonderen Art des Vorzeichens und der den Epigrammen 28–33 gemeinsamen Kriegsthematik (vgl. Einl. zur Sektion) in einem engen Dialog, sondern auch durch den unerwarteten Aufbau: Anstatt nach einem ersten positiven Omen (Adler und Blitz) ein negatives zu formulieren, wie es in anderen Epigrammen mit zwei Zeichen zumeist der Fall war (vgl. 21, 24, 25), steigert 31 mit dem 37 38 39

Vgl. Schröder 2002, 29 mit weiterführender Literatur. In eine ähnliche Richtung geht Ferrari (2005), der vorschlägt, Ἀθηναίη‹ι› als dativus auctoris zu lesen. Vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 149; dagegen hat Schröder 2002, 29 die Wiederholung als wenig gelungen kritisiert.

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Zeichen für Alexander die bereits im ersten Distichon etablierte positive Bedeutung von Zeichen für die Argeaden (vgl. Lavigne/Romano 2004, 21). Dieses geschieht sowohl durch die allumfassende Wirkung (V. 6) als auch durch die Art des Zeichens: Nach dem aus den Zeichen eines Gottes (Zeus) abgeleiteten positiven Omen für die Argeaden gibt bei Alexander die Gottheit selbst bzw. die sie repräsentierende Götterstatue ein Zeichen, das dadurch unmittelbarer wirkt und einen Gegensatz zwischen dem Kollektiv der argeadischen Könige und Alexander schafft, dem ein einzigartiges Zeichen zuteil wird.40 Dabei setzt die Deutung der Bewegung einer Statue als ein für den Betrachter positives Zeichen ein entsprechendes Wissen voraus, das entweder im Nachhinein erworben oder aufgrund von Präzedenzfällen abgeleitet werden konnte.41 Letztere sind in der antiken Mythologie sowie in der Historiographie, aber auch Buntschriftstellerei vielfach bezeugt, wobei die Bedeutung des Omens jeweils von der Situation und dem Betrachter abhängt. 32 Thema des Epigramms ist ein Omen für einen gewissen Antimachos, das sich im Vorfeld eines Kriegszugs ereignet. V 26 Ἀντιμά̣χ̣[ωι ϲπ]εύδοντι τὸν Ἰλλυρικὸν ποτ[ 1 27 τεύχεα κα[ὶ ζώϲ]τραϲ ἐξέφερεν θεράπων· 2 28 ἀμ̣φ̣ὶ̣ δὲ λαϊν̣[έην] ο̣ἴκου μέϲϲαυλον ὀλιϲθὼν 3 29 ἤριπεν· Ἀντ̣[ιμάχ]ου δ’ ἦτορ ἀνετράπετο 4 30 οἰωνῶι θεράποντοϲ, ὃϲ αὐτίκα τὸν βαρὺν ἥρω̣ 5 31 ἐκ δή‹ι›ων ὀλίγην ἦλθεν ἄγων ϲποδιήν. 6 26 ποτ[ὶ ληὸν ed. pr. (def. Di Benedetto 2003a, potius λαὸν) : ποτ[ὶ δῆιον Austin 2001a, ed. min. : ποτ[ὶ μῶλον De Stefani 2002 : ποτ’ [Ἄρηα Lapini 2003b  31 εγδηων P

Dem Antimachos, der sich beeilte, gegen das illyrische ‹Heer› zu ziehen, brachte ein Diener Rüstung (und Gürtel) heraus. Aber an der steinernen Tür des Hauses zum Innenhof glitt er aus und fiel zu Boden. Antimachos war bestürzt wegen des Vorzeichens seines Dieners, der bald darauf zurückkehrte und den ‹eben noch› schweren Helden vom Feind als Häuflein Asche zurückbrachte. V. 1 Ἀντιμάχ̣ [̣ ωι: Die Ergänzung ist aufgrund des folgenden Dativs ϲπ]εύδοντι sicher. Es könnte sich um eine historische Gestalt oder um einen fiktiven sprechenden Namen (‚der gegen jemanden kämpft‘)42 handeln; auch der Bezug zum illyrischen Krieg ist zu unspezifisch, um eine konkrete

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Vgl. zur Diskussion auch Schröder 2002, 28: „Vielleicht sollte man den glatten Kontrast zwischen den Argeaden und anderen Herrschern und Heerführern wieder aufgeben zugunsten des weniger scharfen Kontrastes zwischen Alexander und den übrigen Argeaden.“ Anders dagegen Gronewald 2001. Hierzu Baumbach/Trampedach 2004, 148. Vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 130; dagegen lässt sich die Bedeutung ‚Anti-Kämpfer‘, die Lavigne/Romano 2004, 21 annehmen – „Antimachus’ name too is a pun (Mr. Anti-Battle) which

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Kriegssituation aufzurufen (vgl. ed. pr. 146). — ποτ[: Die in Analogie zu epischen Vorlagen (vgl. λαὸν Ἀχαιϊκόν in Il. 9.521; 13.349; 15.218) vorgeschlagene Ergänzung ποτ[ὶ ληὸν (ed. pr.) ist Austins ποτ[ὶ δῆιον (‚gegen den Feind‘) vorzuziehen, da – wie Di Benedetto 2003a gezeigt hat – singularisches δήιοϲ in der Bedeutung ‚Feind‘ ungewöhnlich ist (vgl. auch den Plural von δήιοϲ in V. 6).43 Lapinis ποτ’ [Ἄρηα (‚in den illyrischen Krieg‘) und De Stefanis (2002) ποτ[ὶ μῶλον (‚in das illyrische Kriegsgetümmel‘) sind denkbare Alternativen. V. 2 ζώϲ]τραϲ: Wenn die Ergänzung richtig ist, kann das Wort nicht die bei Theokrit (eid. 2.122) bezeugte Bedeutung ‚Haarband‘ haben. Vielmehr bezeichnet es, wie das homerische Wort ζωϲτήρ, das – oft verzierte – ‚Wehrgehänge‘ eines Kriegers (vgl. z. B. Il. 4.132); die allgemeine Bedeutung ‚Gürtel‘ ist für das Neutrum der Wortfamilie ζώϲτρον einmal bei Homer für den Gürtel der Nausikaa (Od. 6.38) belegt. V. 3 ἀμ̣φ̣ὶ̣ δὲ λαϊν̣[έην] ο̣ἴκου μέϲϲαυλον: Es handelt sich um eine Synekdoche, insofern in antiken Häusern nur die Türschwellen aus Stein (oder Holz) gefertigt wurden (vgl. Reber 1998, 120–125 mit Beispielen aus Eretria); sowohl Türstürze als auch die Türen selbst waren oft aus Holz, und auch die Schmalseiten der Türmauern scheinen mit Holz verkleidet gewesen zu sein. V. 4 Ἀντ̣[ιμάχ]ου: Die Ergänzung kann als sicher gelten. — ἀνετράπετο: Die Aoristform wird bei Homer zweimal verwendet (Il. 6.64 u. 14.447), in beiden Fällen konkret im Sinn von ‚zu Boden stürzen‘; hier hat der Aorist wie bei Theokrit eid. 8.90 die passivische übertragene Bedeutung ‚bestürzt sein‘. V. 5 οἰωνῶι θεράποντοϲ: Der Genitiv drückt die Zugehörigkeit des Zeichens zu seinem Träger aus, das ‚Dienerzeichen‘, d. h., das sich an dem Diener (und seinem Sturz) manifestierende Vorzeichen. — αὐτίκα: Das Adverb betont in der leicht futurischen Bedeutung ‚gleich‘, ‚schon bald‘ (LSJ A.I.3) die Schnelligkeit, mit der sich das Omen erfüllt hat. Der Sturz einer Person oder eines Tieres kurz vor einer kriegerischen Auseinandersetzung ist ein öfter bezeugtes, stets den Tod ankündigendes Vorzeichen (vgl. ed. pr. 146 mit Beispielen). 32 reiht sich damit thematisch in die vorangehenden, mit Kriegssituationen verbundenen Epigramme 28, 30 und 31 ein und ergänzt diese zugleich um eine neues Zeichen: Nach der Begegnung mit einem alten Mann am Dreiweg in 28 und der Betrachtung einer schwitzenden (30) sowie einer sich bewegenden (31) Götterstatue wird nun das Missgeschick einer dem Betroffenen nahestehenden Person zum Zeichen. Damit findet innerhalb der Epigramme mit Kriegssituationen eine sukzessive räumliche Annäherung an den Wohnort der von dem Zeichen betroffenen Personen statt, insofern 28 außerhalb der Polis, 30 und 31 aufgrund der indicates the fact that Antimachus should stay as far away from the war as possible.“ –, semantisch nicht mit ἀντιμαχέω, ἀντιμάχομαι (‚kämpfen‘, ‚Widerstand leisten‘) in Verbindung bringen. 43 Dabei schlägt Di Benedetto 2003a die dorische Form λαὸν vor, was einen sprachlich engeren Bezug zu den Illyrern hätte und als Homerismus gut zu Poseidipps Sprachgebrauch passen würde (vgl. auch Lapini 2007, 222), im Kontext des Epigramms, das in V. 6 bei δή‹ι›ων gerade nicht die dorische Form benutzt, jedoch nicht naheliegt.

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vermutlichen Aufstellungsorte von Götterstatuen in Tempelbezirken innerhalb der Polis und 32 auf der Schwelle des Hauses des Antimachos selbst verortet ist. In der Betonung der Eile des Antimachos (V. 1) liegt tragische Ironie, da der Sturz des (heraneilenden) Dieners durch die Eile des Helden ausgelöst worden ist. Wie bei den meisten (Vogel-)Zeichen (vgl. aber 29), erfüllt sich die Vorhersage unmittelbar nach der Wahrnehmung des Zeichens, was durch αὐτίκα (V. 5) betont wird: Zwar dürfte zwischen dem Verlassen des Hauses und dem Tod des Kämpfers eine längere Zeitspanne vergangen sein, dennoch sind das Zeichen und seine Erfüllung in einer relativen Zeitlichkeit fest aufeinander bezogen. Es gibt eine Kausalkette, die mit dem Zeichen in Gang gesetzt wird, das seine Wirkung „sofort“ entfaltet. Zur Ironie trägt die Überhöhung des Antimachos als „Held“ bei, von dem statt einer möglichen Aristie nur die Fehldeutung des Omens in Erinnerung bleibt. 33 Das Epigramm thematisiert die Fehldeutung eines Traumgesichts und deren Folgen: Nach dem Traum, mit der Göttin Athene zu schlafen, stürzt sich ein gewisser Aristoxenos in eine Schlacht und wird getötet. V 32 μεῖζον Ἀριϲτόξεινοϲ ἐνύπνιον ἢ καθ’ ἑω‹υ›τὸν 1 33 Ὡρκὰϲ ἰδὼν μεγάλων νήπιοϲ ὠρέγετο· 2 34 ὤιετ’ Ἀθήν{αι}ηϲ γαμβρὸϲ Ὀλυμπίου ἐν Διὸϲ οἴκωι 3 35 εὕδειν χρυϲείωι πάννυχοϲ ἐν θαλάμωι· 4 36 ἦ̣ρι δ’ ἀνεγρόμενοϲ δήιων προϲέμιϲγε φάλαγγι, 5 37 ὡϲ τὸν Ἀθηναίηϲ ἐν φρενὶ θυμὸν ἔχων· 6 38 τὸν δὲ θεοῖϲ ἐρίϲαντα μέλαϲ κατεκοίμιϲεν Ἄρηϲ, 7 39 ὠίχετο δὲ ψευδὴϲ νυμφίοϲ εἰϲ Ἀΐδεω. 8 32 εωτον P  33 οαρκαϲ P  37 εμφρενι P  39 δ’ ἀψευδὴϲ Lapini 2002

Als der Arkader Aristoxenos ein bedeutenderes Traumgesicht sah, als ihm zukam, begehrte der Tor, Großes zu vollbringen: Er glaubte, als Bräutigam der Athene im Haus des olympischen Zeus zu schlafen, in einem goldenen Gemach, die ganze Nacht. Früh am Morgen, ‹gerade› erwacht, stürzte er sich in eine feindliche Schlachtreihe, so als ob er den Mut der Athene in seiner Brust hätte. Ihn aber, der mit Göttern wetteifern wollte, bettete der schwarze Ares zur Ruhe, und der vermeintliche Bräutigam entschwand in den Hades. V. 1 Ἀριϲτόξεινοϲ: Obschon der Zusatz Ὡρκὰϲ Historizität suggeriert, handelt es sich wahrscheinlich um einen fiktiven sprechenden Namen (‚der beste Gastfreund‘),44 da sich außerhalb von diesem Epigramm kein sicherer Bezug zwischen einem Arkader Aristoxenos und einem Krieg 44

Vgl. Gutzwiller 2005, 308, die einen ironischen Unterton annimmt: „Another example of an ironical speaking name may be Aristoxenus whose name indicates an excellence in matters pertaining to hosts and guests. But he misinterpretes a dream about sleeping in the house of Zeus as the bridegroom of Athena and so ends up dying in battle, a bridegroom in the house of Hades.“

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feststellen lässt. Zur ionischen Form des Namens und inschriftlichen Verbreitung in Arkadien vgl. ed. pr. 147. — ἐνύπνιον: Das Epigramm ist das einzige der Sektion, in dem ein Traum das Vorzeichen ist. Da Träume den mantischen Bereich darstellten, der in der Antike am wenigsten einer professionellen Technik und Ausbildung bedurfte, ist der Zugang zur Traumdeutung offener als in anderen mantischen Feldern (vgl. Artemidors Proömium zu den Oneirokritika). Als besondere Traumdeuter galten u. a. die Telmesser (Tert. anim. 46.39), aus deren Umfeld im folgenden Epigramm (34) ein Seher erwähnt wird, der allerdings in der Vogelschau Ruhm erworben hat. In der antiken Traumdeutung wird mit ἐνύπνιον oft ein bedeutungsloser Traum bezeichnet (vgl. Kessels 1969), was hier jedoch von vornherein durch den Zusatz μεῖζον (V. 1) ausgeschlossen ist. Vielmehr weist das Epigramm bereits im ersten Wort auf die im Traum inszenierte Hybris des Aristoxenos hin, der mehr sieht (und begehrt), als er sehen (und begehren) darf. — καθ’ ἑω‹υ›τὸν: Livrea (2002, 71) glaubt, dass die Formulierung an die seit Aischylos (Schol. Prom. 887 f.) fassbare sprichwörtliche Wendung τὴν κατὰ ϲαυτὸν ἔλα (‚Geh Deinen eigenen Weg‘, ‚Bleib bei dem, was Dir zusteht‘) erinnert (vgl. auch Kallim. epigr. 1.12,16 Pfeiffer und Aristoph. nub. 25). Dies kann jedoch nicht überzeugen, da die Verbindung mit dem Traumgesicht proleptisch auf die mangelnde intellektuelle Fähigkeit des „törichten“ (νήπιοϲ, V. 2) Aristoxenos zur Deutung des Traumes verweist; vgl. zur Diskussion ed. pr. 147 f. und Di Benedetto 2003a, 8–9. V. 3 Ἀθήν{αι}ηϲ γαμβρὸϲ: Die (Vorstellung einer) Hochzeit mit einer Göttin, noch dazu mit der jungfräulichen Göttin Athene (vgl. Hymn. Hom. Aphr. 8–15) ist nicht nur ein Akt extremer Hybris,45 sondern bezeugt eben die Torheit, die Aristoxenos in V. 2 durch νήπιοϲ bereits attestiert worden ist: Er kennt sich offensichtlich weder in der Traumdeutung noch im Mythos aus, so dass er – anders als die Rezipienten des Epigramms, die seinem Verhalten in wissender Distanz gegenüberstehen – weder weiß, dass die zu große Nähe von Menschen zu Göttern im Traum stets Unglück anzeigt und konkret das Schlafen mit einer Gottheit immer den bevorstehenden Tod bedeutet (vgl. das Proömium zu Artemidors Oneirokritika), noch sieht, wie sehr sein Handeln im Traum dem hybriden Verlangen des Ixion ähnelt. V. 6 ἐν φρενὶ: Überliefert ist εμφρενι; die Assimilation von ἐν vor einem Labial findet sich auf dem Poseidipp-Papyrus mehrfach; vgl. Di Nino 2010, Anm. 273 zu 26.4, 54.2 und 82.5. V. 7 θεοῖϲ ἐρίϲαντα: Lapini 2007, 224 versteht die Wendung als Hinweis darauf, dass Aristoxenos meint, mit Athena auf seiner Seite sich ähnlich wie ein Gott als einzelner gegen eine ganze Phalanx behaupten zu können. Dagegen beziehen die Erstherausgeber (148) das Partizip zu Recht zurück auf das Traumgesicht und betonen, dass es Aristoxenos nicht zukam, als Mensch um eine Position zu ‚streiten‘, die sonst nur Götter beanspruchen können. In diesem Sinne scheint das letzte Distichon des Epigramms ein Resümee zu ziehen; ἐρίζω ist nicht kriegerisch, sondern im Sinne der positiven Eris Hesiods als Antrieb zum Wettstreit zu verstehen, was hier konkret den einem Menschen nicht zukommenden Wettstreit um die Liebe einer Göttin

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Vgl. Alcm. 1.16 f., wo im Zusammenhang mit dem Tod der Söhne des Hippokoon davor gewarnt wird, dass Menschen begehren, in den Himmel zu fliegen und dort versuchen, Aphrodite zu heiraten.

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bezeichnet. — μέλαϲ […] Ἄρηϲ: Das Bild des ‚schwarzen‘ i. S. v. todbringenden Ares ist gängig; dieselbe Junktur findet sich auch bei Aisch. Ag. 1511. V. 8 ψευδὴϲ: Das Adjektiv ist hier entweder in der passivischen Bedeutung ‚getäuscht‘ oder als ‚falsch‘ bzw. ‚vermeintlich‘ zu übersetzen (vgl. ed. pr. 148). In jedem Fall wird im Pentameter ψευδὴϲ von νυμφίοϲ durch eine metrische Pause getrennt, so dass der Versschluss an das euphemistische Bild der Vermählung mit dem Tod erinnert (vgl. etwa Soph. Ant. 815).46 Die Pointe dabei liegt darin, dass der ‚Bräutigam‘ nicht mit Athene im goldenen Schlafgemach auf dem Olymp schläft, sondern von Ares im finsteren Hades zur Ruhe gebettet wird. Das Epigramm schafft bereits vor der Präsentation des eigentlichen Vorzeichens Distanz zwischen den Rezipienten und Aristoxenos, der aus der Perspektive des wissenden Erzählers als Tor (V. 2) bezeichnet wird. Dadurch wird die Möglichkeit der Identifikation mit der Figur bzw. des Empfindens von Mitleid mit einer unwissentlich in ihr Schicksal laufenden Figur ausgeschlossen und stattdessen Raum für Ironie eröffnet; vgl. Obbink (2004, 17), der das Epigramm allerdings als Grabepigramm verstehen möchte,47 was es jedoch aufgrund des Fehlens von typischen Charakteristika – wie etwa der Anrede an einen ξένοϲ, der genealogischen und lokalen Verortung sowie des obligatorischen Lobes des Verstorbenen – nicht sein kann. 33 steht im Dialog mit dem vorangehenden Epigramm, insofern beide Figuren nach einem Zeichen in den Krieg ziehen und sterben. Während Antimachos in 32 das Omen noch richtig, als schlechtes Omen, deutet und dennoch falsch (d. h. gegen das Zeichen) handelt, wird Aristoxenos durch die Fehlinterpretation seines Traumes zu einer vermeintlich richtigen Handlung ermuntert – als Bräutigam der Kriegsgöttin scheint ihm die größte Autorität in diesem Bereich zur Seite zu stehen –, die sich jedoch als falsch herausstellt. Beide Epigramme illustrieren die unumstößliche Gültigkeit von Vorzeichen und das Unglück, das aus der falschen Deutung eines Zeichens bzw. aus fehlerhaftem Verhalten folgt.48 Zum sektionsübergreifenden thematischen Bezug zwischen 33 und 36, dem Eröffnungsgedicht der Anathematika, vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 158 und Stephens 2004a, 162.

46 Lapinis (2002, 45) Konjektur δ’ ἀψευδὴϲ νυμφίοϲ „wahrhaftiger Bräutigam“, die betont, dass Aristoxeinos tatsächlich gestorben ist und daher zum wahren Bräutigam des Hades wurde, stellt keine Verbesserung des Sinns dar. 47 Obbink 2004, 17: „AB 33 is a grave epigram that describes the death of the deceased as ironically and tragically determined by acting on an erroneous interpretation of a dream.“ 48 Vgl. Baumbach/Trampedach 2004, 149.

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34 Das vorletzte Epigramm beschreibt kein konkretes Vorzeichen und dessen mögliche Bedeutung, sondern den Ort, an dem Zeichendeutung professionell betrieben wird. Konkret wird ein Damon aus Telmessos erwähnt, der sich auf die Vogelschau spezialisiert hat. VI 1 ἐκ τούτου ‹τοῦ› πάντα περιϲκέπτοιο κολωνοῦ 1 2 Δάμων Τελμηϲϲεὺϲ ἐκ πατέρων ἀγαθὸϲ 2 3 οἰωνοϲκοπίαϲ τεκμαίρεται· ἀλλ’ ἴτε φήμη̣ν 3 4 καὶ Διὸϲ οἰωνοὺϲ ὧδ’ ἀναπευϲόμ̣ε̣[νοι. 4 1 εκτουτουπαντα P : ἐκ ‹ταὐ›τοῦ τοῦ πάντα dub. Casanova 2002 : ἐκ τούτου ‹περὶ› πάντα Lapini 2007  2 τελμεϲϲευϲ P : Τελμηϲεὺϲ Lapini 2003b  ἀγαθῶν Obbink 2005

Von diesem Hügel aus, der nach allen Seiten einen Rundblick bietet, macht Damon aus Telmessos, durch Tradition befähigt, seine Verkündigungen aus der Vogelschau. Kommt also hierher, um die Stimme und die Zeichen des Zeus zu erfahren. V. 1 In der Überlieferung εκτουτουπαντα (P) fehlt vor πάντα eine Silbe, weshalb die Erstherausgeber του‹του› του konjizieren. Casanovas Konjektur ἐκ ‹ταὐ›τοῦ τοῦ πάντα i. S. v. ex eodem colle (2002, 133) möchte dagegen einen stärkeren inhaltlichen Bezug zum folgenden ἐκ πατέρων (V. 2) herstellen: Damon betreibe die Vogelschau von ‚demselben Hügel‘ wie seine Vorfahren. Das ist denkbar, bleibt aber spekulativ, da mit ἐκ πατέρων die Betonung auf der Familientradition der Weissagekunst liegt, die jedoch nicht notwendig an einen bestimmten Ort gebunden ist. Lapinis Vorschlag (2007, 225) ἐκ τούτου ‹περὶ› πάντα („auspicii su tutto“/“Weissagungen über alle Arten von Angelegenheiten“) geht von einem möglichen Ausfall der Präposition περὶ (wegen des folgenden περιϲκέπτοιο) aus und versucht, den ungewöhnlichen Gebrauch von πάντα i. S. v. ‚in alle Richtungen‘, ‚überallhin‘ (vgl. Schröder 2004, 51), zu vermeiden. Die Ergänzung ist jedoch aufgrund der weiten Sperrung von Verb und zugehörigem Präpositionalausdruck unwahrscheinlich.49 V. 2 Δάμων: Der Eigenname ist sehr gebräuchlich und lässt keine Rückschlüsse auf die historische Identität des Sehers zu. — Τελμεϲϲεὺϲ: Die Herkunftsangabe ermöglicht eine Lokalisierung des Epigramms, sofern man annimmt, dass der Seher aus Telmessos seine Kunst ebendort ausübt. Ob es sich dabei jedoch um das karische oder das lykische Telmessos handelt, muss offenbleiben, da für beide Orte mantische Praxis bezeugt ist50 und es bereits in der Antike zu Verwechslungen gekommen zu sein scheint.51 Auch die Schreibweise des Namens ist nicht

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Inhaltlich und metrisch nicht überzeugend ist Lapinis (2007, 225) Überlegung, ἐκ το‹ιο›ύτου zu ergänzen, auch wenn die Verletzung des Hilbergschen Gesetzes bei Poseidipp mehrfach vorkommt. 50 Vgl. Bean/Cook 1955, 151 f.: „The uncertainty is complicated by the apparent fact that divination was practised at both places; the Telmissian diviners had indeed considerable celebrity, and are mentioned with some frequency.“ 51 So scheint Cicero (div. 1.91), der von der Wahrsagekunst der karischen Telmesser spricht, das lykische Telmessos gemeint zu haben (vgl. Bean/Cook 1955, 153).

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einheitlich: Neben der Schreibung mit Eta oder Iota (vgl. Τελμήϲϲοϲ,52 Τελμήϲοϲ, Τελμίϲϲοϲ53 und Τελεμηϲϲῆϲ)54 ist in einer in der Nähe von Halikarnass in Karien gefundenen und um 300 v. Chr. datierten Inschrift auch die Form Τελεμεϲϲοῦ überliefert (BMI 896; vgl. Paton/ Myres 1896, 234 f.). Letztere ist ein Beleg für die Möglichkeit, dass zumindest der karische Ortsname wie auf dem Papyrus mit Epsilon geschrieben werden konnte, weshalb die von den Erstherausgebern vorgeschlagene Änderung Τελμηϲϲεύϲ unnötig ist, zumal auf dem Papyrus sonst keine Verschreibungen von Eta zu Epsilon vorkommen (vgl. auch Lapini 2003b, 46). Eine sichere Verortung des in 34 erwähnten Telmessos in Karien lässt sich aus der Übereinstimmung der Schreibweise im Papyrus und in der karischen Inschrift jedoch nicht ableiten, zumal der inschriftliche Befund aus Karien noch andere Schreibweisen von Telmessos kennt.55 Der Mythos, Telmessos sei ein Sohn des Apollon und eponymer Heros gewesen, auf den das Sehergeschlecht der Telmesser zurückgeht, ist erst spät bei Stephanos von Byzanz belegt (vgl. Bouché-Leclercq ²1978, 58 f.). Interessant für das Epigramm sind Erwähnungen eines Sehers aus Telmessos namens Aristandros,56 der zum Gefolge Philipps und später Alexanders des Großen gehörte und herausragende Fähigkeiten in Eingeweideschau sowie Traum- und Prodigiendeutung gehabt haben soll. Hier scheint gerade im Zusammenhang mit der Erwähnung Alexanders in 31 und 35 insofern ein außertextlicher Referenzpunkt gewonnen, als Telmessos für die Rezipienten des Epigramms eine Autorität in genau der Profession darstellte, die das Epigramm abbildet. — ἐκ πατέρων ἀγαθὸϲ: Die Verbindung bedeutet ‚seit Generationen gut ‹qualifiziert›‘ bzw. ‚durch Tradition befähigt‘: Die Autorität des Sehers begründet sich – wie schon bei homerischen Sehern – aus der Familientradition dadurch, dass ein einmal erworbenes mantisches Wissen bzw. erworbene mantische Fähigkeiten vererbt werden. Obbinks (2005, Anm. 8) Konjektur ἀγαθῶν ist unnötig, da sie lediglich die Abstammung des Sehers von ‚guten Vorfahren‘ betont, was in der überlieferten Formulierung impliziert ist. V. 3 οἰωνοϲκοπίαϲ τεκμαίρεται: Nur an dieser Stelle wird der bereits im Titel der Sektion eingeführte terminus technicus für die Vogelschau verwendet. Im Sinne der didaktischen Anlage der Sektion scheint nun ein Endpunkt erreicht, insofern die eingangs noch neue epigrammatische Thematik formal etabliert ist und im Lichte der vorgestellten Zeichen Kontur gewonnen hat. Dabei scheint durch die Lokalisierung des Sehers auf dem Hügel eine Fokussierung auf die Vogelschau als spezielle, auch die Sektion dominierende Vorhersagekunst gegeben. τεκμαίρεϲθαι ist hier mit dem Genitiv (οἰωνοϲκοπίαϲ) konstruiert, während es in der Bedeutung ‚aus etwas/auf der Basis von etwas Vorhersagen machen‘ in der Prosa zumeist mit dem Dativ oder mit den Präpositionen ἐκ oder ἀπό (vgl. Plat. Phaid. 108a5) verbunden wird. Der reine Genitiv ohne Präposition ist dagegen selten (vgl. Thuk. 3.53). Transitives τεκμαίρoμαι in der Bedeutung ‚vorhersagen‘, ‚verkünden‘, ‚anzeigen‘ ist bei Homer belegt (vgl. Od. 11.112; 12.139), hier jedoch aus inhaltlichen Gründen ausgeschlossen, da der Seher die Vogelschau nicht vorhersagt oder verkündet, sondern mit ihrer Hilfe seine Aussagen macht.

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Vgl. Hdt. 1.78: Τελμηϲϲέων; zur Problematik der Verortung von Herodots Telmessos vgl. Müller 1997, 382–386. 53 Zur Verbindung von Apollon mit Telmessos vgl. auch Head, B.V. ²1911: Historia Numorum. A Manual of Greek Numismatics, Oxford: 698. 54 Aristoph. fr. 548 Kassel-Austin 55 Eine zweite Inschrift, die auf ca. 200 v. Chr. datiert wird und ebenfalls aus der Nähe von Halikarnass stammt, bietet die Schreibweise: Ἀπόλλωνα Τελμιϲϲῆ (Paton/Myres/Hicks). 56 Vgl. Bouché-Leclercq ²1978, 76–78, mit Hinweis auf Arrian, Plutarch, Curtius und die Hesychglossen.

Manuel Baumbach

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Da der Titel der Sektion im dritten Vers des Epigramms evoziert wird, scheint 34 eine besonders wichtige Aussage über die Lektüre nicht nur dieses Epigramms, sondern der Oionoskopika als Ganzes zu enthalten. In jedem Fall wird der Rezipient auf den Beginn der Sektion rückverwiesen und damit zu einer zweiten Lektüre animiert, die den didaktischen Aufbau der Oionoskopika (vgl. Einleitung zur Sektion) betont: Das Lesen der Epigramme ist in Analogie zum Dekodieren der Zeichen selbst gesetzt, so dass sich der Leser am Schluss der Sektion in Damon (ebenso wie in dem Seher des folgenden Schlussepigramms) wiederfinden kann, der besondere mantische Fähigkeiten (im Akt des Lesens erworben) hat.57 Das Epigramm ist zudem viel stärker als die vorangehenden als Inschrift konzipiert, die auf der fiktiven Inhaltsebene Werbung für den Seher macht, während es für den Rezipienten der Sektion das Programm und den Titel der Oionoskopika ‚inschriftlich‘ fixiert.58 35 Den Abschluss der Sektion bildet ein Grabepigramm für den Seher Strymon, der drei Siege Alexanders über die Perser voraussagte, wobei ihm Raben als Zeichenvögel dienten. VI 5 μάντιϲ ὁ τῶι κόρακι Ϲτρύμω̣[ν] ὑ̣π̣[ο]κ̣ε̣ί̣μ̣ε̣ν̣[ο]ϲ ἥρωϲ 1 6 Θρήϊξ ὀρνίθων ἀκρότατοϲ ταμίηϲ· 2 7 ὧι τόδ’ Ἀλέξανδροϲ ϲημήνατο, τρὶϲ γὰρ ἐνίκα 3 8 Πέρϲαϲ τῶι τούτου χρηϲάμενοϲ κόρακι. 4 7 ϲῆμ’ ἤνυτο Lapini 2002 : ϲῆμ’ εἵϲατο De Stefani 2003

Der Seher, der unter dem Raben (begraben) liegt, ist Strymon, der Heros aus Thrakien, der trefflichste Gebieter der Vögel. Ihm verlieh Alexander dies als Zeichen; denn er besiegte dreimal die Perser, nachdem er sich von dem Raben dieses Mannes ein Orakel hatte geben lassen. V. 1 τῶι κόρακι: Der Rabe galt als prophetischer Vogel (Pollard 1977, 127 f.) und ist eng mit der Weissagungskraft Apollons verbunden (vgl. Hes. fr. 60 Merkelbach-West und Ael. nat. anim. 1.48 sowie Arnott 2007, 165 u. Gutzwiller 2005, 291 u. 309), dessen Nachrichten er (mithilfe von Sehern) verbreitet.59 Zum Zeichenvogel war der Rabe wohl besonders aufgrund der ihm zugeschriebenen Fähigkeit, die menschliche Sprache nachzuahmen (vgl. Plin. nat. 10.121, 123), seines hohen Alters (Hes. fr. 308 Merkelbach-West) sowie seiner leichten Zähmbarkeit (Ael. nat. anim. 4.26) und damit großen Nähe zu den Menschen geeignet. Er galt vor allem 57 58 59

Vgl. auch Lavigne/Romano 2004, 13: „Damon from Telmessus can be seen as a metaphor for the reader of the roll, the prophet who overlooks the whole and sees the parts for what they are and what they signify to one who recognizes both the sign and the meaning of the sign.“ So verstanden greift Schröders (2004, 51) ästhetische Abwertung des Epigramms deutlich zu kurz: „Hier springt die Banalität ins Auge. Müßte nicht ein Meisterepigrammatiker, bei dem ein Vogelschauer ein Reklameschild für seinen Beobachtungshügel in Auftrag gibt, mehr zustandebringen?“ Zur Verbindung des Raben mit Apollon im Mythos vgl. Schmidt 2002; zum Raben als Attribut des Gottes in der bildenden Kunst vgl. die delphische Kylix des Pistoxenos-Malers (um 460 v. Chr. Inv. 8140); zu Verbreitung und Unterarten vgl. Arnott 2007, 163–166.

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Oionoskopika 35

als sicherer Vorbote von Wetterlagen (vgl. Hor. carm. 3.27.7–12). — Ϲτρύμω̣[ν] … ἥρωϲ: Der Name des aus Thrakien stammenden Sehers ist identisch mit dem eines thrakischen Flusses, der in der Antike eng mit der Heimat von Kranichen verbunden war (vgl. Verg. georg. 1.120; Aen. 10.262–266), die ihrerseits mantische Zeichenkraft besaßen (vgl. 22). Ein historischer Seher dieses Namens ist nicht bekannt. Die Bezeichnung ἥρωϲ (‚Heros‘) deutet auf die außergewöhnliche Verehrung, die dem Seher zuteil wurde. Neben halbgöttlichen mythischen Figuren könnten auch besonders verehrte historische Personen einen Heroenstatus erlangen, der mit kultischer Verehrung, oft in Verbindung mit dem Totenkult, einherging (vgl. Antonaccio 1995). — ὑ̣π̣[ο]κ̣ε̣ί̣μ̣ε̣ν̣[ο]ϲ: Das schlecht lesbare Partizip kann in doppelter Weise verstanden werden: entweder im übertragenen Sinn von ‚unterworfen‘, ‚unterstellt‘ (ed. pr.) oder wörtlich i. S. v. ‚darunter liegend‘ (ed.min). Letztere Bedeutung dürfte hier intendiert sein und würde die Inschrift als Grabepigramm erkennbar werden lassen (vgl. Schröder 2002, 27 f.), das mit den folgenden deiktischen Pronomina τόδε (V. 3) und τούτου (V. 4) auf das Grabmal bzw. auf den unter diesem Begrabenen verweisen würde. V. 3 ϲημήνατο: Die von Austin/Bastianini vorgeschlagene Übersetzung „Alexander gab ihm diesen Ehrentitel“,60 ist für das mediale ϲημαίνεϲθαι nicht bezeugt, weshalb Lapini (2002, 46; vgl. auch Lapini 2007, 227) ϲῆμ’ ἤνυτο vorschlägt mit der Übersetzung ,für ihn ließ Alexander dieses Grab errichten‘. In eine ähnliche Richtung geht De Stefanis (2003, 70) Vorschlag ϲῆμ’ εἵϲατο, der paläographisch jedoch schwerer zu erklären ist als Lapinis Konjektur. Da ϲῆμα generell und in anderen Epigrammen Poseidipps (vgl. 61) sowohl als terminus technicus für ein Grabmal als auch für das Vogelzeichen (24) gebraucht ist, könnten bei diesen Konjekturen beide Bedeutungen des Wortes mitschwingen: Alexander errichtet ein Grabmal für Strymon mit dem Raben als Zeichenvogel.61 Eine Möglichkeit, die Überlieferung zu halten, wäre, mit Gutzwiller (2005, 310) ϲημαίνεϲθαι ähnlich wie das Aktiv im Sinne des Gebens bzw. Erschaffens eines Zeichens zu verstehen: „for whom Alexander made this sign.“62 — τρὶϲ γὰρ ἐνίκα: Die drei Siege über die Perser errang Alexander in den Jahren 334 v. Chr. (am Granikos), 333 v. Chr. (bei Issos) und 331 (bei Gaugamela); historisch ist das Rabenorakel (τῶι τούτου χρηϲάμενοϲ κόρακι, V. 4) nicht bezeugt. Das Schlussepigramm der Oionoskopika greift das Thema der Sektion mit dem ersten Wort μάντιϲ pointiert auf, wobei das letzte Wort (κόρακι) die besondere mantische Bedeutung der Vögel in den Oionoskopika in Erinnerung ruft. Im Unterschied zum ersten Epigramm (21), das mit Erfahrungswissen arbeitete und noch ohne Seher auskam, wird die Seherkunst betont, was auf eine teleologisch angelegte Anordnung der Epigramme von einfachem zu speziellem mantischen Wissen schließen lässt (vgl. Einl. zur Sektion, 115). Während es in vielen Epigrammen der Sektion zu verschiedenen Deutungen und Fehlinterpretationen mantischer Zeichen kommt, scheint am Ende der Oionoskopika ein sicherer Weg gefunden, die Zeichen zu dekodieren.63 In den beiden professionellen Seherfiguren von 34 und 35 ist das über die

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Ed. min. 57: „A lui questo riconoscimento diede Alessandro.“ („This is the title Alexander gave him with his seal.“) 61 Vgl. auch Sider 2005, 164: „AB 35 is a sepulchral epigram for Strymon of Thrace, noting and explaining why an image of a (prophetic) crow marks his grave.“ 62 Vgl. die Belegstellen bei Gutzwiller 2005, Anm. 70. 63 Vgl. auch Lavigne/Romano 2004, 22: „In this poem, however, sign and interpreter become one. There is no misreading of this omen.“

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Einzelepigramme entfaltete mantische Wissen kumuliert, nimmt konkret Gestalt an und wird konkret verortet, wobei in 35 Vogel und Seher eine besonders enge Verbindung eingehen.64 Wie 34 ist auch das Schlussepigramm stärker als die anderen Oionoskopika als Inschrift gestaltet, womit sich die thematisch neue epigrammatische Subgattung formal in die Tradition des inschriftlichen Epigramms einschreibt. Ferner suggeriert gerade der inschriftliche Charakter der beiden Schlussepigramme einen stärkeren Bezug zur außertextlichen Wirklichkeit, insofern beide Epigramme als ‚reale‘ Inschriften konzipiert sind und mit der Nennung von Person und Herkunft sowie – in 35 – mit dem Bezug auf Alexander und seine historisch bezeugten Siege historische Glaubwürdigkeit beanspruchen (vgl. ed. pr.). Zur sektionsübergreifenden Verbindung von 35 als mögliches Weihepigramm mit dem Beginn der Anathematika (36) vgl. Stephens 2005, 236 f.

64 Lavigne/Romano 2004, 21: „The last epigram of this section … moves into new territory by condensing bird and prophet into one figure.“

Anathematika Der Titel der Sektion weist die Epigramme 36– 41 als Weihepigramme aus. Die Gattungsbezeichnung, die auch aus der Anthologia Palatina (AP) bekannt ist,1 leitet sich von dem Verbum ἀνατίθημι (‚weihen‘) ab, das in dedikatorischen Inschriften für die Aufstellung und Zueignung von Weihgegenständen jeder Art verwendet wird.2 Im Vergleich mit den beiden vorangehenden Gruppen, den Lithika (126 Verse) und den Oionoskopika (80 Verse), sowie den nachfolgenden Epitymbia (116 Verse) fällt die Gruppe der Anathematika mit ihren 38 Versen durch ihre besondere Kürze auf. Angesichts der enormen Bedeutung, die das Weihepigramm in der epigraphischen und literarischen Überlieferung von Epigrammen spielt, muss das erstaunen. Allerdings finden sich auch in anderen Gruppen des Mailänder Papyrus noch Epigramme mit anathematischem Charakter – so etwa in der Gruppe mit dem bis dahin unbekannten Titel Iamatika, in der es um Heilungen geht und zwei der sieben Epigramme den Dank für Heilung mit der Weihung eines Gegenstands verbinden (das Eingangsepigramm 95 und 97). Eine mögliche Erklärung für die ungewöhnliche Kürze der vorliegenden Sektion könnte also in der generischen Überschneidung mit anderen bzw. neuen, spezifischeren Untergruppen liegen, die dazu geführt hat, dass Epigramme mit anathematischem Charakter z. T. in anderen Gruppen angesiedelt worden sind. Dass Poseidipp bzw. der unbekannte Herausgeber der Sammlung die epigrammatischen Subgenres neu überdenkt, zeigen beispielsweise die Schiffbruchepigramme, die sich als eine Untergruppe der Epitymbia verstehen lassen, aber separat unter dem neuartigen Titel Nauagika erscheinen. Ähnliches gilt für die Tropoi, die, ebenfalls in einem weiteren Sinne, den Grabepigrammen zugeordnet werden könnten. Die literarische Tradition der Weihgedichte zeigt ein breites Spektrum an unterschiedlichen Gestaltungsformen.3 Das ein oder andere topische Merkmal lässt sich allerdings, bei aller Vorsicht, doch bestimmen: Die wichtigsten konstitutiven Elemente der Gattung sind die Nennung des Gegenstands, des Spenders sowie der Gottheit, an die sich die Weihung richtet. Meistens sind auch der Ort und die Umstände der Weihung formuliert. Dabei lassen sich die Kontexte der Weihungen grundsätzlich in zwei Gruppen gliedern: Entweder geht der Weihung ein Geschehen voraus, für das sich der oder die Weihende bei einer Gottheit bedankt (z. B. für eine schmerzfreie Geburt, AP 6.202, oder für einen errungenen Sieg, AP 6.213), oder die weihende Person hofft, mit der Weihung die beschenkte Gottheit zur Erfüllung einer Bitte (z. B. Glück bei der Jagd, AP 6.188) bewegen zu können.

1

2 3

In der Anthologia Palatina, die allerdings auf nachposeidippische Sammlungen (beginnend mit dem 70 v. Chr. von Meleager von Gadara zusammengestellten „Kranz“ ϲτέφανοϲ) zurückgeht, sind die in Buch 6 zusammengestellten Weihepigramme ebenfalls mit ἀναθεματικά überschrieben. Zu den 358 unter diesem Titel zusammengestellten Epigrammen gehören neben vorhellenistischen (u. a. Simonides, Bakchylides, Anakreon, Herodot, Platon) und hellenistischen (u. a. Kallimachos, Leonidas von Tarent) vor allem nachklassische Epigramme. Die Echtheitsfrage der Epigramme ist oft schwer zu entscheiden, da gerade in hellenistischer Zeit Epigramme zuweilen in der Absicht verfasst wurden, ältere Autoren zu imitieren und eine entsprechende Zuschreibung hervorzurufen; vgl. dazu Petrovic 2007, 54. Die nachklassischen Epigramme sind für die Rekonstruktion der Gattungsmerkmale jedoch insofern relevant, als sie etablierte Muster verwenden und reflektieren. S. hierzu die Tituli Dedicatorii, in: Hansen, P. A. 1983/1989: Carmina Epigraphica Graeca, I und II; Wachter, R. 1995: Non-Attic Greek Vase Inscriptions, Oxford. Inwieweit diese Vielfalt aus der langen Entwicklungsgeschichte erklärt werden kann, lässt sich wegen der oft ungeklärten Datierung der Epigramme nur schwer sagen.

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Anathematika 

Die Geschenke stehen dabei auf unterschiedliche Weise in einem Bezug zu dem Geschehen, das der Weihung vorausgeht bzw. durch die Weihung hervorgerufen werden soll. Oftmals waren sie selbst Bestandteil des Geschehens (z. B. ehemalige Arbeitsinstrumente, wie Fischernetze, Weberschiffchen und Gartensicheln, oder ein glückbringender Gegenstand), beziehen sich auf das Geschehen, indem sie es materialisieren (wie das bei der Weihung eines ehernen Froschs der Fall ist, mit dem sich ein Wanderer für das Quaken bedankt, das ihn kurz vor dem Verdursten zu einem Teich geführt hat, AP 6.43) oder weisen symbolisch (wie beim Haaropfer, AP 6.164) auf ein vergangenes bzw. erwünschtes Geschehen hin. Auch die Sprechersituation der Epigramme ist variabel: Als Sprecher figurieren auktoriale Erzähler, Akteure der Weihung oder auch Betrachter des Weihgegenstands.4 Daneben finden sich nicht selten Epigramme, in denen die Weihgeschenke selbst zu Wort kommen (etwa der Helm in AP 6.241).5 Nicht zuletzt sind auch die inhaltlichen Schwerpunkte der Epigramme unterschiedlich gesetzt.6 Nicht immer steht die Weihung im Vordergrund, und hin und wieder kommt es vor, dass die Erzählung der Geschichte, die die Weihung motiviert hat (AP 6.221 über einen unvermutet zahmen Löwen), oder die Beschreibung des geweihten Gegenstandes (AP 6.223 über ein verstümmeltes Seeungeheuer und dessen Auffindung) den Hinweis auf die Weihung ganz in den Hintergrund drängt. Auffällig ist schließlich, wie häufig die Adressierung einer Gottheit fehlt. Da viele der in Buch 6 der AP unter dem Titel Anathematika zusammengestellten Epigramme nicht einmal mehr einen religiösen Kontext erkennen lassen,7 stellt sich die Frage, ob der Charakter eines literarischen Weihgedichts zwingend an einen religiösen Kontext gebunden war. Während die Zusammenstellung von Weihepigrammen in der AP eine große thematische Vielfalt erkennen lässt, sind die ersten vier Anathematika des Mailänder Papyrus durch den gemeinsamen Adressaten eng miteinander verbunden: Die Epigramme 36–39 richten sich allesamt an Arsinoë, und zwar vermutlich an Arsinoë II., die auch in 78 (Hippika) sowie in 116 und 119 erwähnte Schwester und Gattin des Ptolemaios Philadelphos (Regierungszeit 282–246 v. Chr.), die spätestens seit ihrer Heirat (zwischen 280 und spätestens 272/271 v. Chr.)8 mit 4 5 6

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Je nach Sprechersituation unterscheiden sich der Wissenshorizont, aus dem heraus die Weihung und ihr Kontext dargestellt werden, und die Intensität, mit der der präsentische Charakter des Weihgegenstandes (etwa durch deiktische Pronomina) unterstrichen wird. Ganz aus dem Rahmen fällt AP 6.163, in dem sich Ares über ungebührliche Geschenke empört und die Gottheit somit nicht als Adressat der Weihung, sondern selbst als sprechendes Subjekt hervortritt. Eine Sonderstellung etwa nimmt die symbolische Rückgabe von gottgegebenen Geschenken ein: Die Weihung des Spiegels, mit der eine verblühte Hetäre gegenüber Kypris den Verlust ihrer Schönheit anzeigt (AP 6.1 und 19), oder der Trompete, mit der Pherenikos gegenüber der Athene die Entsagung von Krieg und Theater zum Ausdruck bringt (AP 6.46), drücken weder Dank noch Bitte, sondern den Verlust einer früheren Eigenschaft bzw. Tätigkeit der spendenden Person aus. Hier steht weniger der Gegenstand an sich als vielmehr der Akt des Weihens im Vordergrund: Durch die Abgabe eines Gegenstandes soll der Verlust des Zustands, den er symbolisiert hat, bestätigt werden. Vgl. auch AP 6.47 über eine Weberin, die ihr Webschiffchen der Athene weiht, nachdem sie den Beruf gewechselt hat und zu einer Hetäre geworden ist, oder AP 6.204 und 205 über einen Tischler, der seine Werkzeuge vor seinem ‚Ruhestand‘ an Athene zurückgibt. Vgl. hierzu etwa die Epigramme, die den beschriebenen Gegenstand in die Nähe einer Trophäe rücken (AP 6.262 und 263 auf das Fell eines Raubtiers, das das Zerreißen eines Schafes oder Kälbleins mit dem Tod bezahlen musste) oder diesen einfach nur benennen (AP 6.136 auf ein Kleid, das eine Künstlerin und eine Näherin kunstvoll gewirkt haben). Vgl. hierzu 21.

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diesem gemeinsam regierte. Angesprochen wird sie als Kriegsherrin (36) sowie als Patronin der Poesie (37), der Freiheit (38) und der Seefahrt (39). Auch in ihrem Aufbau ähneln sich die Epigramme 36–39. Alle vier benennen die Empfängerin der Weihgabe, die Weihgabe selbst sowie deren Spender oder Spenderin. In den Epigrammen 36 und 38 wird überdies der Anlass des Weihgeschenks benannt. In den beiden letzten Epigrammen der Sektion, 40– 41, spielt Arsinoë offensichtlich keine Rolle. In 40 spricht ein Opferstock in der Gestalt eines Wolfes, in dessen Maul für Leto ein Depositum hinterlassen werden kann; in 41 geht es um eine herabfallende Schildkröte. Ob der Weihgegenstand einen Bezug zum ptolemäischen Königshaus hatte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Da das Schlussepigramm, wie mit gutem Grund vermutet worden ist, auf die Anekdote über den Tod des Aischylos Bezug nimmt, liegt die Annahme nahe, dass mit dieser Anspielung eine Überleitung zu den nachfolgenden ‚Grabepigrammen‘, den Epitymbia, geschaffen werden sollte. Die Vermutung, dass die Anathematika durch thematische Verbindungen in die gesamte Sammlung eingebunden waren – und damit vielleicht an eine fortlaufende Lektüre der ganzen Sammlung gedacht war –, lässt sich durch die Beobachtung stützen, dass das erste Gedicht der Anathematika, das eine Traumerscheinung thematisiert, Themen der vorausgehenden Gruppe, den Oionoskopika (‚Vogelzeichen‘), wiederaufgreift.9 36 Die Makedonierin Hegeso weiht Arsinoë II. Philadelphos ein Tuch, das diese im Traum von ihr erbeten hat, um sich nach ihren Anstrengungen als Kriegerin den Schweiß von der Stirn zu wischen. VI 10 Ἀρϲινόη, ϲοὶ τοῦτο διὰ ϲτολίδων ἀνεμοῦϲθαι 1 11 βύϲϲινον ἄγκειται βρέγμ’ ἀπὸ Ναυκράτιοϲ, 2 12 ὧι ϲύ, φίλη, κατ’ ὄνειρον ὀμόρξαϲθαι γλυκὺν ἱδρῶ 3 13 ἤθελεϲ, ὀτρηρῶν παυϲαμένη καμάτων· 4 14 ὣϲ ἐφάνη‹ϲ›, Φιλάδελφε, καὶ ἐν χερὶ δούρατοϲ αἰχμήν, 5 15 πότνα, καὶ ἐν πήχει κοῖλον ἔχουϲα ϲάκοϲ· 6 16 ἡ δὲ ϲοὶ αἰτηθεῖϲα τὸ λευχέανον κανόνιϲμα 7 17 __ παρθένοϲ Ἡγηϲὼ θῆκε γένοϲ Μακέ̣[τη. 8 11 {β}ρέγμ’ Griffiths 2006 : ῥάμμ’ De Stefani 2003 14 ὡϲ Luppe 2004a  εφανη P 16  τολευκεανον P : τόδ’ εὐκταῖον (vel ἐκ κτεάνων vel ἐξ ἕδνων) Lapini 2002 : τὸ λευκαῖνον Angiò 2004a

Arsinoë, dir ist, vom Wind durchweht zu werden durch die Falten hindurch, dies linnene Kopftuch, aus Naukratis geweiht worden,

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Zum Rückbezug von 36 auf die vorausgehende Sektion vgl. Gutzwiller 2004, 88: „The poem links back to the previous section, which included a sweating deity, and so fosters a theme of Ptolemaic inheritance of the Argead hegemony. But Arsinoë, who in her epiphany has ceased her labours, may here signal a pax ptolemaica in contrast to the military expansiveness emphasized in the omen section.“ S. ferner Baumbach/Trampedach 2004, 158 f., die auf die sektionsübergreifenden Motive von Traum (33, 36), Schifffahrt (21–22, 36, 37, 39) und Schwitzen (30, 36) hinweisen; ähnlich Stephens 2004a, 161–176; Müller 2009, 217.

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Anathematika 36

mit dem du, meine mir freundlich Gesinnte, im Traum den süßen Schweiß abwischen wolltest, nachdem du die schnellen Anstrengungen beendet hattest. So erschienst du, Bruderliebende: in der Hand den spitzen Speer, Herrin, und in der Armbeuge den hohlen Schild haltend. Die aber, die du ‹darum› gebeten hast, hat dir dies Stück weißen Stoffs dargebracht, Hegeso, ein junges Mädchen makedonischer Abkunft. V. 1 Ἀρϲινόη: Zu Arsinoë II., der Schwester und Gattin des Ptolemaios Philadelphos, vgl. o. S. 156 sowie die Interpr. zu 36. — τοῦτο: Das Demonstrativum deutet auf den Weihgegenstand, das βύϲϲινον … βρέγμα, ein linnenes Tuch (s. zu V. 2). Eingeschlossen in das Hyperbaton ist ein finaler Infinitiv, der darauf hinweist, was mit dem Tuch geschehen soll. — διὰ ϲτολίδων ἀνεμοῦϲθαι: Der Weihgegenstand soll offenbar im Winde flattern (ἀνεμοῦϲθαι). Wodurch der Wind verursacht wird, geht aus dem Text nicht hervor. Bings Vermutung (2002/3, 257–260), dass das Weihgeschenk im Tempel der Arsinoë-Aphrodite-Zephyritis zu denken ist, einem aufgrund der Lage windigen Ort (s. die Interpr. zu 39), ist nicht zwingend. V. 2 βύϲϲινον: Das Adjektiv bezeichnet ein besonders feines Linnen aus Byssos; in einem Epigramm der Nossis wird der Hera ein gewebtes βύϲϲινον εἷμα geweiht (AP 6.265.3). — βρέγμα: Weder die normale Bedeutung des Wortes (‚[Vorder]Kopf‘) noch seine Spezialbedeutungen (s. ed. pr.) sind an dieser Stelle passend, und leider hilft auch die genauso unklare Bestimmung des von Arsinoë erbetenen Geschenks als κανόνιϲμα in V. 7 nicht weiter (s. dort). Die Erstherausgeber denken an ein Taschentuch, Lapini (2002, 47) vermutet ein Stirnband. Möglicherweise ist ein um den Kopf zu legendes Stück Stoff gemeint, mit dem sich Arsinoë den Schweiß von der Stirn wischen will (vgl. V. 3 f.). — Ναυκράτιοϲ: Ναύκρατιϲ ist eine im 7. Jh. gegründete griechische Stadt am westlichen Nilarm, etwa 75 km südlich von Alexandria, die große Bedeutung als Hafen- und Handelsstadt besaß. V. 4 ὀτρηρῶν … καμάτων: Die Junktur „schnelle Anstrengungen“ ist ungewöhnlich. Dass Arsinoë mit den Insignien einer Kriegerin erscheint (V. 5 f.), legt nahe, dass sich ihre „schnellen Anstrengungen“ auf eine vorausgehende Kampfhandlung beziehen. V. 5 ἐφάνη‹ϲ›: Dass die Erscheinung prophetisch ist (so Stephens 2004a, 162 u. 167 mit Verweis auf den Gebrauch des Verbs in den Oionoskopika 21.1, 22.2, 27.4, 29.2, 31.5), erscheint nicht als zwingend. Gemeint ist wohl einfach die Epiphanie der vergöttlichten Arsinoë. — δούρατοϲ αἰχμήν: Zum Ausdruck vgl. Hom. Il. 6.319 (= 8.494). Hier kann jedoch nur der Speer bzw. Schaft des Speeres gemeint sein (nicht die Spitze des Speers). V. 7 λευχέανον κανόνιϲμα: Der Papyrus bietet λευκεανον. Die Konjektur der Erstherausgeber ist zwingend.10 Die Bildung des sonst nicht bezeugten Wortes entspricht den Komposita εὐέανοϲ 10

Das von Angiò (2004a, 15) vorgeschlagene λευκαῖνον ist zwar bei Eur. Hypsipyle (fr. 757 Kannicht, col. XV, fr. 60i, V. 13 [= V. 844] K) belegt (λευκαῖνον ἐξ ἅλμηϲ ὕδωρ), hat dort aber die Bedeutung ‚weiß machend‘, ‚weiß schäumend‘.

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‚reich bekleidet‘, ‚schön angezogen‘ (Moschos 4.75) bzw. οἰέανοϲ ‚mit einem einzigen Kleid‘ (Apoll. Rhod. 3.646) und muss demnach ‚weißgewandig‘ bzw. ‚aus weißem Stoff‘ bedeuten. — κανόνιϲμα: Das Wort war bisher in den Bedeutungen ‚Lineal‘ (AP 6. 295.3: ϲελίδων κανόνιϲμα) und ‚(grammatische) Regel‘ (Eustathios in Il. I 693, 12) bezeugt; beide ergeben an dieser Stelle keinen Sinn. Es muss also offen bleiben, worum genau es sich bei dem von Arsinoë erbetenen weißen Tuch (?) aus Leinen gehandelt hat. V. 8 Ἡγηϲὼ: Der Name ist vereinzelt für Ionien, Thessalien, Boötien, Amorgos und Syros bezeugt; in Makedonien und Athen ist er häufiger (vgl. LGPN I 201; II 201; IIa 180). Die Vermutung, dass es sich um einen sprechenden Namen handelt, durch den der Hegemonialanspruch der Ptolemäer zum Ausdruck gebracht werden solle (Müller 2009, 218, im Anschluss an eine Vermutung von Stephens 2005, 239), erscheint als abwegig. — Μακέ̣[τη: Das Ethnikon ‚makedonisch‘ kommt auch in 78.14, 82.3, 87.2 sowie AP 7.51.3 vor. Aus Makedonien stammen nicht nur die Ptolemäer; makedonischer Herkunft, nämlich aus Pella, ist auch Poseidipp selbst; vgl. 118.17, vgl. dazu Stephens 2005, 31 f. Wie öfter bei Poseidipp akzentuiert das Epigramm die für Selbstverständnis und Selbstdarstellung des Königshauses so zentrale makedonische Abstammung der Ptolemäer.11 Die Adressatin des Gedichts, Arsinoë II., erhält von Hegeso ein Weihgeschenk. Spenderin und Empfängerin verbindet nicht nur die gemeinsame makedonische Herkunft.12 Die emphatische Anrede (Ἀρϲινόη, ϲοὶ … ϲύ, φίλε … Φιλάδελφε … ἡ δὲ ϲοὶ αἰτηθεῖϲα)13 und das vertrauliche φίλη (‚Freundin‘, ‚du, die du mir freundschaftlich gesinnt bist‘) suggerieren auch eine enge Vertrautheit. Gegenstand des Epigramms und Anlass der Stiftung ist ein Traum der Hegeso,14 in dem ihr Arsinoë mit Speer und Schild in den Händen erschienen ist und sich ein Tuch erbeten hat, um sich nach einer „schnellen“, offenbar kriegerischen Anstrengung den Schweiß von der Stirn zu wischen. Dieses Tuch wird ihr nun von Hegeso geweiht. Die militante Erscheinung Arsinoës und der epiphanische Charakter der Vision haben verschiedentlich zu der Überlegung geführt,

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Vgl. Bingen 2002, 55–59 sowie Stephens 2005. Der Vorschlag von Bing 2002/3, 257–260, die Makedonierin Hegeso gehöre zu den „reinen Töchtern der Griechen“, die in 116.7–8 aufgefordert werden, in das Heiligtum der Aphrodite Zephyritis zu pilgern, kann nicht überzeugen. Der Vorschlag soll ganz offenbar Bings Vermutung stützen, dass in der Empfängerin des Schweißtuchs die mit Aphrodite Zephyritis vergöttlichte Arsinoë zu erkennen und das Weihgeschenk im Tempel am Kap Zephyrion zu lokalisieren sei. Die Aufforderung an die „griechischen Jungfrauen“ (116.7–8), das Heiligtum der Aphrodite Zephyritis (an Stelle anderer griechischer Aphrodite-Heiligtümer) zu frequentieren, ist allerdings weniger als eine realistische Beschreibung von regelmäßigen Besuchern des Zephyritis-Heiligtums, als vielmehr vor dem Hintergrund der Rolle zu verstehen, welche die Aphroditekulte in der Herrschaftslegitimation der ptolemäischen Königinnen vor einem griechischen Publikum spielten; siehe zu letzterem Gutzwiller 1992a, 364. Vgl. die Anrufung in 37 (s. Gutzwiller 2004, 86, Anm. 12). Di Nino 2010, 258 vermutet aufgrund der Parallele zu 98.3 und der allerdings sehr spät datierten Inschrift SEG XII 294.6 (3. Jh. n. Chr.), dass sich der Ausdruck κατ’ ὄνειρον auf einen Tempelschlaf beziehen könnte. Auf einen Heilkontext findet sich in dem Epigramm aber kein Hinweis.

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dass die Königin hier mit Athena15 oder der kriegerischen Aphrodite16 gleichgesetzt werde. Naheliegender ist es jedoch, Arsinoë in der Rolle einer Kriegsherrin zu sehen und von einer Gleichsetzung mit Aphrodite oder einer anderen Göttin abzusehen.17 Obwohl Ptolemäerköniginnen als Heerführerinnen in Erscheinung treten konnten,18 wird allerdings kaum eine reale Teilnahme der Königin an einer militärischen Aktion gemeint sein. Das Gedicht rückt eher ganz allgemein Arsinoë als Garantin der kriegerischen Überlegenheit und Sieghaftigkeit der Dynastie sowie der militärischen Sicherung neuerrungener Territorien in den Blick, eine offenbar bedeutende symbolische Rolle der Königin in der Reichspropaganda, wie die zahlreichen von den Ptolemäern eroberten und teilweise in Flottenstützpunkte umgewandelten griechischen Hafenstädte zeigen, die in Arsinoë umbenannt worden sind.19 In ähnlicher Funktion wurde die Königin in Zephyrion offenbar als Aphrodite Euploia, als Schutzherrin der Seefahrt, verehrt (s. zu 39). Zwar ist nicht auszuschließen, dass die Beschwörung einer kriegerischen Arsinoë auf aktuelle (allerdings erst nach dem Tod der Arsinoë stattfindende) Kriegshandlungen anspielt, etwa den Chremonideischen Krieg (ab 268 v. Chr.), wie dies die Erstherausgeber vorgeschlagen haben.20 Das Gedicht liefert jedoch keine Anhaltspunkte hierfür und lässt sich allein aufgrund der Bezeichnung von Arsinoë als Philadelphos auch nicht auf einen präzisen Zeitraum beziehen: Arsinoë trug den Beinamen seit ihrer Erhebung zur Königin und ihrer Heirat mit Ptolemaios II. (zwischen 280 und spätestens 272/271 v. Chr.),21 und obwohl ein expliziter Hinweis auf ihre – vielleicht erst postume – Divinisierung (wohl 270/269 oder 269/268 v. Chr.)22 fehlt, ist auch nicht auszuschließen, dass sie Hegeso als vergöttlichte Königin erschienen ist. Offen bleiben muss schließlich nicht nur, in welches Heiligtum Hegeso das Schweißtuch stiftete, sondern auch, ob sich dieses in Ägypten befand. Zwar könnte der Hinweis auf den Wind, der das Tuch durchwehen soll (V. 1), darauf hindeuten, dass es an einem windigen Ort zu denken ist; zwingend ist ein solcher Realitätsbezug jedoch keineswegs.

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Lelli 2002, 21 f. und Stephens 2004a, 167–169 können eine bewaffnete Arsinoë nicht anders verstehen denn als Verweis auf Athena. Für die von ihnen vorgeschlagenen historischen Bezugnahmen (laut Lelli: Bezug zur antimakedonischen Allianz der Ptolemäer mit Sparta; laut Stephens: Bezug zu Alexander-Prägungen mit Athena sowie zur Parteinahme der Ptolemäer im Chremonideischen Krieg für Athen) bietet das Gedicht jedoch keinerlei Anhaltspunkte. So zuerst Bing 2002/3, 257–260. In Betracht zu ziehen wäre in diesem Fall eine Gleichsetzung der Königin mit Aphrodite Nikephoros, der siegbringenden Aphrodite (vgl. hierzu Flemberg 1991, 12–28), die freilich für Arsinoë II. bislang nicht belegt ist; vgl. zu den Divinisierungen der Arsinoë durch Götterangleichung Tondriau 1948, 15–21. Vgl. Pfrommer 2002, 40– 45. Vgl. Pfrommer ebenda zu Arsinoë III. (217 v. Chr.). Vgl. Hauben 1970, 65 f.; Hauben 1983, 113 f.; Barbantani 2004, 143 mit Anm. 36. Zur propagandistischen Rolle Arsinoës als ‚Befreierin Griechenlands‘ im Chremonideischen Krieg vgl. Hauben 1983, 114 –119; Lapini (2007, 163–165) ist dagegen der Ansicht, das Epigramm 36 spiele auf den ersten Syrischen Krieg (274 –271 v. Chr.) an. Zur gegenwärtig kaum zu entscheidenden Diskussion um das Datum der Heirat von Arsinoë II. und Ptolemaios II. s. Bennett: www.tyndalehouse.com/egypt/ptolemies/arsinoe_ii.htm, Anm. 14 (Zugriff: 14.7.2014). Zu den Daten des Todes Arsinoës II. und ihrer Divinisierung als Thea Philadelphos s. Grzybek 1990, 69–112, bes. 103–112 u. Hauben 1992, 160–162, die überzeugend gegen die – erneut von Cadell 1998 verteidigte – communis opinio ein Todesdatum im Juli 268 v. Chr. (statt Juli 270 v. Chr.) vertreten; vgl. die ausführliche und ausgewogene Evaluierung der kontroversen Argumente bei Chris Bennett, der ebenfalls eher der Spätdatierung zuneigt: www.tyndalehouse.com/egypt/ptolemies/ arsinoe_ii.htm, Anm. 17 (Zugriff: 14.7.2014).

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37 Das Epigramm thematisiert eine Weihung, mit der Arsinoë II. als Patronin der Poesie geehrt wird. VI 18 Ἀ̣ρϲινόη, ϲοὶ τ̣ή̣[ν]δε λύρην ὑπὸ χειρ[……]ῦ̣ 1 19 φ̣θ̣εγξαμ[ένην] δ̣ελφὶϲ ἤγαγ’ Ἀριόνιο̣[ϲ 2 20 ο̣υ̣.ε̣λου[….]α̣ϲ ἐκ κύματοϲ αλλοτ[ 3 21 κεῖνοϲ ἀν[….]ϲ λευκὰ περᾶι πελά[γη 4 22 πολλα̣πο[….].τητι καὶ αἰόλα τῆι .[ 5 23 φωνῆ̣ι π[….]ακον κανον ἀηδον̣[ 6 24 ἄνθεμα δ̣’, [ὦ Φιλ]ά̣δελφε, τὸν ἤλαϲεν [……]ίων, 7 25 τόνδε δέ̣[χου, .]υϲου μείλια ναοπόλο̣[υ. 8 18 χειρ[ὸϲ ἀοιδο]ῦ̣ Austin 2001a, ed. pr. (def. Bettarini 2003, Lapini 2003b, Luppe 2003a, Gronewald 2004, Puelma 2006) : χειρ[ὸϲ ἀδήλο]υ̣ Austin 2001a : χειρ[ὶ μελωιδο]ῦ ̣? ed. min. : χείρ[ονοϲ ὠιδο]ῦ̣ Lapini 2002 20 ο̣ὐ̣ρ̣ῆ̣ι̣ ἕ̣λ’ οὐ [βλάψ]α̣ϲ Austin 2001a, ed. min. : ο̣ὐ̣κ̣ ἀ̣μ̣ε̣λοῦ[ϲαν ἰ]ῆ̣ϲ Luppe 2002d (def. Angiò 2004c) : οὐ δ̣ί̣χ̣’ ἐοῦ[ϲαν ἰ]ῆϲ̣ Luppe 2003a : ο̣ὔ̣[τι] π̣λοῦ[ν δείϲ]α̣ϲ Puglia 2006 : α̣ἶ̣ψ̣{α} ἥ̣λου [μάρψ]α̣ϲ Livrea 2007  ὅ̣λου Ferrari 2005  ϲώϲ]α̣ϲ vel κέλϲ]α̣ϲ vel ἐρύϲ]α̣ϲ ed. pr.  ἀλλ’ ὅτ[ε ϲώϲαϲ Austin 2001a, ed. min. (def. Lapini 2003b) : ἀλλ’ ὅτ’ [ἔχων μιν Luppe 2003a : ἄλλοτ[ε δ’ οὕτω Lapini 2003b : ἄλλοτ[ε δ’ ἄλλη Bettarini 2003 : ἀλλ’ ὅτ[ε ναύτηϲ Gronewald 2004 : ἀλλ’ ὅτ[ε πόντου vel ἀλλ’ ὅτ’ [ἐλαφρῶϲ Angiò 2004c : ἀλλ’ ὅτ̣’ [ἔπειτα Ferrari 2005 : ἀλλ’ ὅτ[ε νῶτα (vel νῶτον) Puglia 2006 : ἀλλ’ ὅτ[ε ϲῶοϲ Puelma 2006 : ἀλλ’ ὅτ[ε νεκρόϲ Livrea 2007 21 ἀν[ὴρ ϲῶο]ϲ ed. pr. (def. Lapini 2003b) : ἀν[ιηθεὶ]ϲ ed. pr. brevius spatio : ἀν[ωΐϲτω]ϲ Austin 2001a, ed. min. (fort. longius); def. Luppe 2003a. : ἀν[ίδρυτο]ϲ Bettarini 2003 : ἀν[αΐξα]ϲ Angiò 2004c (def. Ferrari 2005, Puelma 2006) : ἄν[ευ νηὸ]ϲ Gronewald 2004 : ἀν[αρρίψα]ϲ Puglia 2006 : ἀν[ιηρῶ]ϲ Livrea 2007  πελά[γεα Bettarini 2003  22 πολλὰ̣ πο[εῖ φιλ]ότ̣ ητι Austin 2001a, ed. min. (πο[ῶν Lapini 2003b, Bettarini 2003) : πο[δῶν ἰ]ό̣τητι De Stefani 2003 : τ̣ε̣[ῆι θε]ό̣τητι Luppe 2003a (def. Angiò 2004c) : πο[θῆϲ ἰ]ό̣τητι Ferrari 2005 : πολλ’ ἀπό[νωϲ (vel ἀπό[νωι) νε]ό̣τητι Puglia 2006 : πο[νῶν κακ]ότητι Livrea 2007  π̣[ανοδύρτωι Austin 2001a, ed. min. : π̣[αρομοίηι Lapini 2003b : π̣[ολυχόρδωι Neri ap. De Stefani 2003 : π̣[ερικαλλεῖ Angiò 2004c (def. Puglia 2006) : μ̣[ελιγήρει Bettarini 2003 (def. Puelma 2006) : π̣[ολυηχεῖ (vel π̣[ολυδευκεῖ) Durbec 2006 : π̣[ανομοίωι Livrea 2007  23 π[ῆμ’ ἔλ]ακον Austin 2001a, ed. min. (Lapini 2003b) : π[αμμαλ] ακὸν Lapini 2003b : π[ῆγμ’ ἔλ]ακον Bettarini 2003 : π[ῆμα λ]ακὸν Gronewald 2004 : π[ότν’ ἔλ] ακον Angiò 2004c : π[λοῦν ἔλ]ακον Bing 2005 : π[αῖγμ’ ἔλ]ακον Ferrari 2005 (def. Puglia 2005) : π[ῆμα λ]ακὼν Puelma 2006  κανον P : κα‹ι›νὸν Austin 2001a, ed. min. : κ‹λ›αῖον Lapini 2003b : κά‹μ›νεν De Stefani 2003 : κε‹ῖ›νον Angiò 2004c : κα‹ι›νοῦ Puelma 2006  ἀηδον̣[ίδεϲ Austin 2001a, ed. min. (Lapini 2003b, Luppe 2003a) : ἀηδον̣[ὶϲ ὥϲ De Stefani 2003 : ἀηδόν̣[ιον Gronewald 2004 : ἀηδον̣[ίου Puelma 2006 : ἀηδον[ίδι Livrea 2007  24 [οἶμον Ἀρ]ίων Austin 2001a : [ὕμνον Bettarini 2003 : [ἵππον Lapini 2003b : [ἰχθὺν Lapini 2003b, Angiò 2004c (def. Puelma 2006, Puglia 2006) : [ἄλλοϲ Gronewald 2004 : [ἄλλοτ’ Livrea 2007 : [ὄκχον Ferrari per litt.  25 vel δέ̣[χευ ed. pr. (vel δέ̣[χεο Bettarini 2003)  Λ]ύϲου, Μ]ύϲου, Ν]ύϲου (aeditui nomen) ed. pr. min. : ῥ]υϲοῦ Di Marco ap. Bertazzoli 2002 : χρ]υϲοῦ Puglia 2005 (def. Puelma 2006, Puglia 2006) : το]ῦ ϲοῦ ed. pr. (comm. p. 154: ‚ma forse troppo lungo‘), def. Livrea 2007  μιλια P

Arsinoë, dir brachte diese Lyra, die unter (der Hand) […] erklang, ein arionischer Delphin

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[…] aus einer Welle. (Aber als?) jener […] die weiße See durchquert (viel?) […] und Schillerndes mit der […] Stimme […] (neues? Nachtigall/-en) Als Weihgeschenk, Philadelphos, den trieb […] den hier (empfange) […] liebliche Gaben des Tempelaufsehers. V. 1 Ἀρϲινόη: Zu Arsinoë II., der Schwester und Gattin des Ptolemaios Philadelphos, vgl. o. S. 156, sowie die Interpr. zu 36. — τ̣ή̣[ν]δε λύρην: Das deiktische τ̣ή̣[ν]δε verweist darauf, dass der Leser sich den Gegenstand als realiter vor Augen stehend, also als das Weihgeschenk, denken soll. Zu der Frage, wie die beiden Angaben zu dem Weihgeschenk in V. 1 f. (Lyra) und in V. 7 f. (Objekt maskulinen Geschlechts) zusammenpassen, s. den Komm. zu V. 7 f. und die Interpr.— ὑπὸ χειρ[……]ῦ̣: Der Ausdruck muss die ‚erklingende Leier‘ näher bestimmt haben. χειρ[ kann entweder zu χειρόϲ oder zu χειρί ergänzt werden. Das zweite Wort, von dem lediglich das auslautende ῦ erhalten ist, könnte ein Attribut gewesen sein; denkbar wäre ein Nomen im Genitiv (‚unter wessen Hand‘) oder ein Adjektiv (‚unter was für einer Hand‘). Austins Konjektur (2001a) χειρ[ὸϲ ἀοιδο]ῦ̣ ‚unter der Hand des/eines Sängers‘ ist weithin akzeptiert. Die Übersetzung ‚ein Sänger‘ geht – ebenso wie der von den Erstherausgebern genannte Alternativvorschlag ὑπὸ χειρ[ὸϲ ἀδήλο]υ̣ ‚unter einer unbekannten Hand‘ – davon aus, dass der Text auf ein der Arion-Erzählung ähnliches Geschehen anspielt. Viel wahrscheinlicher aber ist es, dass ἀοιδο]ῦ̣ konkret auf Arion verweist. V. 2 δ̣ελφὶϲ … Ἀριόνιο̣[ϲ: Das Adjektiv Ἀριόνιο̣[ϲ kann entweder den Besitzer (‚des Arion‘) oder die Qualität (‚nach der Art [des Delphins] des Arion‘) anzeigen (vgl. dazu Puelma 2006, 63 f.). Für Rekonstruktion und Verständnis des Gedichts ist das insofern relevant, als nach der ersten Auslegung des Adjektivs der Arion-Mythos selbst erzählt wird, während die zweite Auslegung bedeuten würde, dass von einem Geschehen die Rede ist, das an den Mythos lediglich erinnert. V. 3a ο̣υ̣.ε̣λου[….]α̣ϲ ἐκ κύματοϲ: Austins Vorschlag ο̣ὐ̣ρ̣ῆ̣ι̣ ἕ̣λ’ οὐ [βλάψ]α̣ϲ (‚nahm [sie] mit der Schwanzflosse, ohne ihr Schaden zugefügt zu haben‘) geht davon aus, dass der Delphin das Subjekt des Satzes ist und hier die Art und Weise beschrieben wird, wie dieser die Lyra aus dem Meer (ἐκ κύματοϲ) fischt. Die bei dieser Konjektur entstehende asyndetische Reihung zweier Prädikate (V. 2 f.: ἤγαγʼ … ἕλʼ) erscheint als recht hart (vgl. Ferrari 2005, 198). Die Vorschläge, die gemacht worden sind, um eine solche Konstruktion zu vermeiden, können allerdings nicht überzeugen: Dass von der Lyra gesagt wird, sie sei „nicht ohne Stimme“ (Luppe 2002d: ο̣ὐ̣κ̣ ἀ̣μ̣ε̣λοῦ[ϲαν ἰ]ῆ̣ϲ bzw. ders. 2003a: οὐ δ̣ί̣χ̣’ ἐοῦ[ϲαν ἰ]ῆϲ̣), ist ebenso überflüssig wie ein Zusatz, dass der Delphin „die Reise durch das Meer nicht fürchtet“ (Puglia 2006: ο̣ὔ̣[τι] π̣λοῦ[ν δείϲ]α̣ϲ). V. 3b– 4 αλλοτ[ … /κεῖνοϲ ἀν[….]ϲ λευκὰ περᾶι πελά[γη: Die Buchstabenfolge αλλοτ[ wird von fast allen Interpreten als ἀλλ’ ὅτ[ε, ‚aber als‘ gelesen.23 Syntaktisch setzt dies voraus, dass mit

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Lapini 2003b, 40 erwägt ἄλλοτ[ε δ’ οὕτω – allerdings ohne überzeugende Erläuterung.

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ἀλλ’ ὅτ[ε ein neuer Satz beginnt, der durch einen Temporalsatz (ὅτ[ε …) eingeleitet wird. Umstritten ist, wo dieser Nebensatz endet (dazu s. u. zu V. 5 f.) und wer der κεῖνοϲ ist, der das Meer durchquert. Die meisten Interpreten gehen davon aus, dass der Delphin weiterhin Subjekt ist, und ergänzen am Anfang von V. 4 die partizipiale Form eines Verbums, das zum Verhalten des Delphins passt. Von den zahlreichen Vorschlägen könnten Austins ἀλλ’ ὅτ[ε ϲώϲαϲ / κεῖνοϲ ἀν[ωΐϲτω]ϲ … περᾶι (‚als jener aber unerwartet [die Lyra] gerettet hat und … durchquert‘) und Puglias ἀλλ’ ὅτ[ε νῶτα (vel νῶτον) κεῖνοϲ ἀν[αρρίψα]ϲ … περᾶι (‚als jener aber den Rücken in die Höhe geworfen hat und … durchquert‘) am ehesten das Richtige treffen.24 Lapini (2003b), Puelma (2006) und Livrea (2007) sind dagegen der Ansicht, dass sich κεῖνοϲ auf Arion (Lapini und Puelma) bzw. den unbekannten Sänger aus V. 1 (Livrea)25 bezieht. Hierfür spricht die den Satz einleitende adversative Partikel ἀλλ’ sowie die Tatsache, dass κεῖνοϲ einen Subjektwechsel impliziert: Die Verwendung von κεῖνοϲ deutet darauf, dass das dadurch bezeichnete Subjekt dem Leser zwar bereits bekannt ist, die Erinnerung daran aber aktiviert werden muss.26 Zwar wird Arion in den vorausgehenden Versen nicht genannt; der Leser kann ihn aber aus der Nennung des Lyra spielenden Sängers und aus dem Adjektiv Ἀριόνιοϲ leicht ergänzen. In V. 3 f. wäre, wenn κεῖνοϲ denn Arion bezeichnet, ἀλλ’ ὅτ’ [ἔπειτα / ἀν[ὴρ ϲῶο]ϲ … περᾶι (‚als jener Mann danach, gerettet, über die weiße See fährt‘) besser als Puelmas ἀλλ’ ὅτ[ε ϲῶοϲ /κεῖνοϲ ἀν[αΐξα]ϲ … περᾶι (‚aber als sich jener, unversehrt, aufgerichtet hatte und … durchfuhr‘), da ἀν[αΐξα]ϲ kaum das Aufrichten des geretteten Arion auf dem Delphin bezeichnen kann. V. 5 f. πολλα̣πο[….].τητι καὶ αἰόλα τῆι .[ /φωνῆι π[….]ακον κανον ἀηδον[: Das dritte Distichon ist sehr schlecht erhalten. Sicher ist lediglich, dass von ‚Vielem‘ (πολλα̣), ‚Verschiedenem‘27 (αἰόλα), einer ‚Stimme‘ (φωνῆι) und vermutlich von etwas ‚Neuem(?)‘ (κανον, dazu s. u.) sowie, am Ende des Verses, von einer oder mehreren Nachtigallen (ἀηδον[) die Rede ist. Als sicher gilt auch, dass das Distichon den Hauptsatz enthält, dem der ἀλλ’ ὅτ[ε-Satz vorausgeht. Unklar ist allerdings, an welcher Stelle der Hauptsatz beginnt und wer als sein Subjekt zu denken ist. Austin (ed. min.) geht davon aus, dass der Anfang von V. 5 noch zum Nebensatz gehört, d. h., dass es der Delphin ist, der vielerlei verschiedene Dinge aus (Menschen-)Liebe tut (πολλὰ̣ πο[εῖ φιλ]ό̣τητι καὶ αἰόλα, als parenthetischer Einschub; vgl. auch Lapini: πολλὰ̣ πο[ῶν φιλ]ό̣τητι καὶ αἰόλα, mit asyndetischem Anschluss des Hauptsatzes). Livrea 2007 schließt die ersten Worte an seinen hypothetischen Gedanken an, dass der tote Sänger durch das Meer treibt (vgl. Anm. 25) und schlägt πολλὰ πο[νῶν κακ]ότητι (‚vieles erleidend in der schlimmen Situation‘) vor. Luppes und Ferraris Versuche, den Hauptsatz bereits am Anfang von V. 5 beginnen zu lassen und die Nachtigallen „aus Sehnsucht“ (Ferrari 2005: πο[θῆϲ ἰ]ό̣τητι) oder „als Klage um die verstorbene, nun als Göttin verehrte Arsinoë“ (Luppe 2003a) singen zu lassen, ergeben beide wenig Sinn. Als plausibel erscheint dagegen Puelmas Vorschlag, nach dem Arion aus Freundschaft zu dem Delphin, der ihn gerettet hat, während

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Ein hübscher Einfall ist Gronewalds Vorschlag: ἀλλ’ ὅτε ναύτηϲ /κεῖνοϲ ἄνευ νηὸϲ … περᾶι, in dem der Delphin als „Seemann ohne Schiff“ bezeichnet wird. Livreas Ergänzung ἀλλ’ ὅτ[ε νεκρόϲ / κεῖνοϲ ἀν[ιηρῶ]ϲ λευκὰ περᾶι πελά[γη krankt daran, dass ein Toter kaum unter Schmerzen (ἀν[ιηρῶ]ϲ) das Meer durchqueren kann. Vgl. Bonifazi, A. 2009: Discourse Cohesion Through Third Person Pronouns. The Case of κεῖνοϲ and αὐτόϲ in Homer, in: Bakker, S. u. Wakker, G.C. (Hg.): Discourse Cohesion in Ancient Greek, Leiden: 1–19, hier: 10. S. dazu S. 164 u. den Komm. zu αἰόλα.

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der Fahrt von dem Leid singt, das ihm widerfahren ist, vgl. dazu den Komm. zu τῆι .[ / φωνῆ̣ι π[….]ακον κανον ἀηδον[̣ . — αἰόλα: αἰόλοϲ bezeichnet entweder eine schnelle Bewegung; vgl. Hom. Il. 19.404 (πόδαϲ αἰόλοϲ ἵπποϲ) oder das Glitzern bzw. Schillern eines Gegenstandes; vgl. Hom. Il. 5.294 f. (τεύχεʼ … αἰόλα). Darüber hinaus kann es metaphorisch benutzt werden („verschiedenartig“, „wechselnd“), so etwa Eur. Ion 498 f., wo es sich (auf) den ‚bunten‘ Klang der Flöte bezeichnet (ϲυρίγγων ὑπ αἰόλαϲ ἰαχάϲ). Es ist daher gut möglich, dass es hier den Gesang des Arion beschreibt. — τῆι .[ /φωνῆ̣ι π[….]ακον κανον ἀηδον̣[: Am Schluss von V. 5 stand mit Sicherheit ein Attribut zu τῆι φωνῆ̣ι, wie z. B. π̣[ανοδύρτωι, ‚mit seiner alles beklagenden‘ (Austin 2001a) oder π̣[ερικαλλεῖ ‚mit seiner wunderschönen Stimme‘ (Angiò 2004c; zahlreiche weitere Vorschläge im app. crit.). Die Buchstabenfolge ἀηδον am Ende von V. 6 lässt sich zu ἀηδονίδεϲ (‚Nachtigallen‘) bzw. einem Kasus von ἀηδονίϲ (de Stefani 2003, Livrea 2007), zu einer Form des Diminutivs ἀηδόνιον28 (Gronewald 2004, Puelma 2006) oder auch des Adjektivs ἀηδόνιοϲ ergänzen. Die Lücke am Anfang von V. 6 enthielt vermutlich das Bezugswort zu κανον (die sinnlose und metrisch falsche Buchstabenfolge κανον ist wahrscheinlich eine Verschreibung von καινόν ‚neu‘, ‚neuartig‘)29 sowie das Prädikat, dessen Ende in ]ακον erhalten sein dürfte. Inhaltlich hat das Prädikat, da die Handlung durch φωνῆ̣ι näher bestimmt wird, vermutlich etwas mit Gesang zu tun. In Frage kommt also beispielsweise das allgemein akzeptierte ἔλ]ακον (Aorist von λάϲκω),30 bei dem es sich um die 3. Ps. Pl. oder auch um die 1. Ps. Sg. handeln könnte.31 Denkbar ist aber auch das Neutrum des Partizips Aorist: λακὸν (zu ἀηδόνιον vgl. Gronewald). κανον (bzw. καινον) könnte das nicht mehr erhaltene Objekt des Gesangs (V. 6: π…) attributiv bestimmt haben, etwa πῆμ’ ἔλακον καινόν (‚sie beklagten das unerhörte Leid‘, Austin 2001), oder zu ἀηδόνιον gehören. Der Gedanke des Satzes lässt sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Als Sänger kommen die am Versende angesprochenen Nachtigallen in Frage (falls ἀηδον[, wie von Austin 2001 vorgeschlagen, zu einem Nom. Pl. ἀηδονίδεϲ zu ergänzen ist). Es ist jedoch alles andere als klar, wie Nachtigallen in das Geschehen eingebunden gewesen sein könnten. Warum sollten, während der Delphin mit Arion (oder einem anderen Sänger) und dessen Lyra das Meer durchquert, Nachtigallen singen? De Stefani (2003), Gronewald (2004),32 Puelma (2006) und Livrea (2007) haben mit unterschiedlichen Vorschlägen versucht, die unpassenden Nachtigallen aus ihren Rekonstruktionen der beiden Verse herauszuhalten: Livrea versteht das offenbar alternativlose ἔλ]ακον als 1. Ps. Sg. und glaubt, dass es die auf dem Rücken des 28 29

ἀηδόνιον ist anderweitig nicht belegt bzw. findet sich nur als Konjektur zu Dion Chrys. 66.11. Schon aus metrischen Gründen kann κανον hier nicht dem ursprünglichen Text entsprechen: Die erste Silbe muss lang sein. 30 λάϲκειν bezeichnet das jammernde Geschrei von Tieren, u. a. auch der Nachtigall, vgl. Hes. erg. 202–212 (die Fabel vom Habicht und der Nachtigall), 207: τί λέληκαϲ, wo das Klagen durch die physische Gewalt des Habichts ausgelöst wird. Der Gebrauch dieses Verbums würde in 37.6 nur dann passen, wenn es auch einen Gegenstand der Klage gibt, wie von Austin 2001, ed. min., Lapini 2003b, Gronewald 2004 und Puelma 2006 vorgeschlagen, die das der Lücke vorausgehende π[ – offensichtlich das Objekt der Handlung – zu π[ῆμα bzw. πῆμ’ (‚Leid‘) ergänzen. 31 Der dadurch entstehende Tempuswechsel (αλλοτ[ε… περᾶι ., ἔλ]ακον) ist überraschend; περᾶι kann aber als erzählendes Präsens / als praesens historicum verstanden werden. 32 Dass die Nachtigallen hier selbst als Sprecherinnen zu denken sind, wie das mit Blick auf das dem Philipp von Thessalonike zugewiesene Epigramm AP 9.88 (um 40 n. Chr.) vermutet worden ist (De Stefani 2002, Gronewald 2004, Bing 2005), ist kaum plausibel. Zwar berichtet in AP 9.88 eine sprechende Nachtigall davon, wie sie von einem Delphin getragen wurde; auch enthält das Epigramm den einzigen weiteren Beleg für das in 37.2 verwendete Ἀριόνιο̣[ϲ. Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass das in AP 9.88 verwendete Motiv auf 37 zurückgeht (vgl. dazu Puelma 2006).

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Delphins das Meer durchquerende Lyra ist, die singt, hier also das Weihgeschenk spricht; Puelma (2006) hat vorgeschlagen, ]ακον (V. 6) als Verschreibung für ]ακὼν zu verstehen, und den so möglichen Nominativ Singular des Partizips Aorist λακὼν auf Arion zu beziehen. Demnach sänge Arion mit seiner „süßklingenden“ (μ[̣ ελιγήρει) Stimme viel Buntes – entweder (a) „(als) eine neu(artige) Nachtigall“33 (Praedicativum bzw. Apposition; ähnlich de Stefani 2003: ἀηδον[̣ ὶϲ ὥϲ, „wie eine neue Nachtigall“), oder (b) „mit der süßklingenden Stimme einer neuen Nachtigall“ (μ̣[ελιγήρει / φωνῆ̣ι π[ῆμα λ]ακὼν κα‹ι›νοῦ ἀηδον̣[ίου). Die Hypothese, dass in den Versen 3–6 durchgehend an Arion gedacht ist, der auf dem Delphin reitend ein Lied singt, ist plausibel, der Eingriff in den an dieser Stelle gestörten Text (κανον) vertretbar.34 V. 7 f. ἄνθεμα: Das Substantiv ist prädikativ zu verstehen: ‚als Weihgabe‘. — [ὦ Φιλ]ά̣δελφε: Die Konjektur ist unbestritten: Arsinoë wird bereits in V. 1 als Empfängerin der Weihgabe genannt; zum Beinamen der Arsinoë s. S. 160. — τὸν ἤλαϲεν [……]ίων, / τόνδε δέ̣[χου: τὸν leitet einen vorangestellten Relativsatz ein, dessen Subjekt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Arion ist. In der Lücke davor muss das Bezugswort zu τόνδε gestanden haben. Das deiktische Demonstrativpronomen bezeichnet die konkrete Weihgabe und weist, wie schon das τ̣ή̣[ν]δε in V. 1, darauf hin, dass der Leser sich vorstellen soll, den Gegenstand unmittelbar vor sich zu sehen. Allerdings ist unklar, welches Substantiv als Bezugswort zu τόνδε zu ergänzen ist und was demnach geweiht worden ist. Auf die in V. 1 genannte Lyra kann τόνδε sich nicht beziehen. Auf ihrer Suche nach einem (maskulinen) Wort, das zu der Lyra passen könnte, haben Austin 2001a (οἶμον) und Bettarini 2003 (ὕμνον) vorgeschlagen, dass hier ein poetischer Text gemeint sein könnte. Austins Vorschlag, dass neben der Lyra ein Gedicht (οἶμον) Arions geweiht worden sein könnte, ist allerdings ebenso wenig überzeugend, wie Bettarinis Idee, dass das Epigramm selbst der Weihgegenstand sei: ὕμνοϲ kann wohl kaum ein Epigramm bezeichnen.35 Wahrscheinlicher ist deshalb, dass ein Synonym bzw. eine Metapher für den Delphin zu ergänzen ist; in Frage kommen z. B. [ἵππον (Lapini 2003b), [ὄκχον (Ferrari 2005) oder [ἰχθὺν (Lapini 2003b, Angiò 2004c Puelma 2006, Puglia 2006); die genannten Vorschläge würden alle gut zu dem erhaltenen Prädikat ἤλαϲεν passen. Es spricht also einiges dafür, dass es sich bei dem Weihgeschenk um eine Figurengruppe handelt, die Arion mit der Lyra auf dem Delphin zeigt. V. 8 .]υϲου μ‹ε›ίλια ναοπόλο̣[υ: Ähnlich wie in 36.8 (Ἡγηϲὼ θῆκε γένοϲ Μακέ̣[τη) und 38.4 (καὶ δέξ̣ α[ι ….]ν δῶρον Ἐπικρατίδ[οϲ), in denen die Weihenden jeweils zum Schluss des Epigramms genannt werden, wird wohl auch hier mit dem am Versende erwähnten Tempelaufseher der Stifter der Weihgabe bezeichnet sein. Bei .]υϲου könnte es sich, wie die Erstherausgeber vermutet haben, um die Reste eines Namens handeln (z. B. Λ]ύϲου, Μ]ύϲου, Ν]ύϲου). Sehr viel wahrscheinlicher ist es jedoch, dass sich hinter ναοπόλο̣[υ (‚der, der sich im Tempel aufhält‘) der Nauarch Kallikrates verbirgt, (s. hierzu auch die Interpr. zu 39).36 .]υϲου dürfte also die

33 34 35 36

Zur Bezeichnung des Dichters als Nachtigall vgl. Bakchyl. 3,97; AP 7.44.3, 80.5, und Poseidipp 118.19, in dem Archilochos als „Nachtigall von Paros“ bezeichnet wird. Puelma 2006, 66, Anm. 16: „Die Verwechslung von kurzem und langem o-Laut ist in der Überlieferung griechischer Texte keine Seltenheit“; vgl. Dain, A. 1975: Les manuscrits, Paris: 45. Das gilt auch für Austins οἶμον. Hinzu kommt, dass ἐλαύνω zwar das Spielen eines Instruments, aber kaum das Verfassen oder Vortragen eines Hymnos bezeichen kann. Puelma 2006, 71–74 u. Bing 2005, 128.

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Endung eines Genitivs sein, der sich auf μείλια bezieht, also χρ]υϲοῦ „die Schmuckstücke aus Gold“ (so Puglia 2005, Puelma 2006, Puglia 2006). Hdt. 1.24.8 spricht in seiner Arion-Erzählung (s. Interpr.) allerdings von einem ἀνάθημα χάλκεον. — μείλια: Meist pluralisch verwendet, taucht das Wort auch im Singular auf, etwa in AP 6.75.8, wo es ebenfalls eine Weihgabe bezeichnet. Das Wort bezeichnet besänftigende Gaben jeder Art für Götter und Tote (μειλίϲϲω, ‚beruhigen‘, ‚besänftigen‘). Rekonstruktionsvorschlag Ἀρϲινόη, ϲοὶ τή[ν]δε λύρην ὑπὸ χειρ[ὸϲ ἀοιδο]ῦ φθεγξαμ[ένην] δελφὶϲ ἤγαγ’ Ἀριόνιο[ϲ οὐρῆι ἕλ’ οὐ [βλάψ]αϲ ἐκ κύματοϲ. ἀλλ’ ὅτ’ [ἔπειτα κεῖνοϲ ἀν[ὴρ ϲῶο]ϲ λευκὰ περᾶι πελά[γη πολλὰ πο[εῖ φιλο]τῆτι καὶ αἰόλα τῆι [περικαλλεῖ φωνῆι π[ῆμα λ]ακὼν, καινὸν ἀήδον[ιον. ἄνθεμα δ’, [ὦ Φιλ]άδελφε, τὸν ἤλαϲεν ἰχθὺν Ἀρίων, τόνδε δέ[χου, χρ]υϲοῦ μ‹ε›ίλια ναοπόλο[υ. Arsinoë, dir hat diese Leier, die unter der Hand des Sängers erklungen ist, der arionische Delphin gebracht; ohne sie zu beschädigen, hat er sie mit der Schwanzflosse aus der Flut gehoben. Aber als jener danach, gerettet, das weiße Meer durchquert, dichtet er aus freundschaftlicher Zuneigung viel Buntes mit seiner wunderschönen Stimme, sein Leid klagend, eine neue Nachtigall. Als Weihgeschenk, teure Philadelphos, nimm diesen Fisch, den Arion antrieb, goldene Gaben des Tempelaufsehers. Trotz des fragmentarischen Erhaltungszustands ist deutlich, dass in 37 von einer Lyra, einem „arionischen Delphin“, einer Fahrt über das Meer und von einem Weihgeschenk die Rede ist. Gerahmt wird das Gedicht durch die Nennung zweier Personen: Zu Beginn des Epigramms wird Arsinoë angerufen, den Abschluss bildet der (anonyme) Tempelaufseher, von dem die „Geschenke“ offensichtlich stammen. Zwischen der Anrufung der Adressatin (V. 1) und der im Schlussdistichon erwähnten Übergabe des Weihgeschenks (V. 7 f.) befindet sich eine längere Erzählung, deren Inhalt infolge der gestörten Überlieferung im Einzelnen umstritten ist, die aber zweifellos an die Geschichte von der Rettung des Arion anknüpft, die vor Poseidipp nur bei Herodot (Hdt. 1.24.8) bezeugt ist.37 Nach Herodots Erzählung hat der Sänger Arion bei einem Sängerwettstreit in Sizilien große Reichtümer erworben. Während der Heimfahrt beschließen die Seeleute, auf deren Schiff er fährt, ihn über Bord zu werfen, um an seine Schätze zu kommen. Der Sänger fleht vergeblich

37

Der Lyriker Arion war ein Schüler des Alkman, seine ἀκμή fällt laut der Suda in die 38. Olympiade (628–624 v. Chr.). Herodots Version ist der erste uns erhaltene literarische Beleg der in späteren Texten vielfach gestalteten Arion-Geschichte (vgl. etwa Ov. fast. 2.79 ff.; Plin. nat. 9.8.12; Gell. 1.16.19; Paus. 25; Lukian. dial. marit. 8; Hyg. fab. 194). Zu den verschiedenen antiken Versionen der Geschichte s. Schamp, J. 1976: Sous le signe d’Arion, AC 45: 95–120; Inglese, L. 2002: La leggenda di Arione tra Erodoto e Plutarco, SemRom 5: 55–82. Zu Poseidipps Bezügen auf Herodot s. Puelma 2006, 64; Fantuzzi 2004a, 31.

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um sein Leben. Schließlich bittet er darum, vor seinem Tod noch ein einziges Mal singen zu dürfen. Er singt ein Lied und springt ins Meer, wird aber von einem Delphin gerettet, der ihn und seine Lyra sicher an das Kap Tainaron bringt, wo später ein Denkmal geweiht wird, das an die wundersame Rettung erinnert. Poseidipp greift (wenn die Rekonstruktion des Textes das Richtige trifft) die abschließende Sequenz der Geschichte auf: Als der Delphin (Arion und) die Lyra aus dem Meer rettet, begleitet der Dichter die Überfahrt mit seinem Gesang. Bei der Rekonstruktion der Details ergeben sich jedoch Probleme: Unklar ist vor allem, was sich der Leser als Weihgegenstand vorzustellen hat. Sicher ist – daran lassen die beiden deiktischen Pronomina keinen Zweifel –, dass der Weihgegenstand aus mindestens zwei Elementen besteht: τήνδε λύραν (‚diese Lyra hier‘, V. 1) weist darauf hin, dass eine Lyra geweiht wird; τόνδε deutet auf einen zweiten Weihgegenstand, bei es sich nach der in den ersten Versen erzählten Geschichte von der wundersamen Rettung Arions sehr wahrscheinlich um einen Delphin handelt. Die Feststellung, dass Arion den Delphin geritten hat (andere Ergänzungen des Verschlusses -ιων sind nicht denkbar, und das ἤλαϲεν lässt sich kaum anders als ‚er ritt‘ verstehen), macht es darüber hinaus vorstellbar, dass zu dem Ensemble, das Arsinoë geschenkt wird, auch die Figur des Arion gehörte. Das Monument dokumentiert und perpetuiert ein mythisches Ereignis, das als Allegorie der kulturbringenden Leistungen der Ptolemäer und insbesondere Arsinoës II. zu verstehen ist: Ähnlich wie einst der Kitharode Arion aus Methymna auf Lesbos von einem Delphin gerettet und auf dessen Rücken reitend nach Kap Tainaron an der Südspitze der Peloponnes gebracht wurde, hat nun derselbe „arionische“ Delphin eine Lyra durch die Wogen des Meeres transportiert, und zwar, wie das Weihgeschenk demonstriert, nach Ägypten an den Ptolemäer­ hof; und ähnlich wie Arion in Erinnerung an seine glückliche Rettung eine Bronzestatue am Kap Tainaron erhalten hatte, die ihn und den Delphin verewigte, wird nun der Arsinoë als Weihgabe ein Monument des arionischen Delphins samt Lyra (und Arion?) dargebracht. Die Weihung an Arsinoë evoziert und wiederholt gleichsam die vorausgegangene Statuenstiftung des Arion ebenso wie den Anlass, der zu ihr führte, und setzt so die Sangeskunst Arions, die am Hof Perianders von Korinth eine Heimstatt fand, in Analogie zu der vom ptolemäischen Hof protegierten Poesie. Arsinoë II. wäre damit erstmals überhaupt in der Rolle einer Schutzherrin von Kultur und Bildung am ptolemäischen Hof bezeugt.38 Wie schon der Ring des Polykrates in 9 erweist sich hier erneut ein Gegenstand, die Lyra, als Kulturbringer und sein Besitz als symbolische Aneignung der großen poetischen Tradition Griechenlands.39 Die Ikonographie der Weihung – der Delphin mit der Lyra (und Arion?) – dürfte in Verbindung mit ihrer Kennzeichnung im Epigramm als „arionisch“ den Bezug zu Lesbos und die Heimatstadt Arions, Methymna, unterstützt haben: Die autonomen Münzprägungen Methymnas weisen seit dem 5. Jh. v. Chr. als Emblem der Stadt die Lyra gemeinsam mit wechselnden Beizeichen (unter anderem dem Delphin) aus, seit der Mitte des 4. Jh.s v. Chr. auch Arion als Reiter auf dem Rücken des Delphins.40 Lesbos und insbesondere Methymna dürften in diesem Zusammenhang also eine weitere Bedeutung gehabt haben, die die kulturpolitischen Ambitionen der Ptolemäer im größeren Rahmen ihrer ägäischen Expansionsund Machtpolitik situierte. Der Flottenstützpunkt Methymna – Arions Heimatstadt – war die wichtigste strategische Basis des ptolemäischen militärischen Engagements in der Nordägäis und wurde, gerade auch unter Ptolemaios II., durch erhebliche, vor allem religionspolitische 38 39 40

Vgl. zu den bisher dafür in Anspruch genommenen Zeugnissen Bertazzoli 2002. So vor allem Bing 2002/3, 260–264; vgl. auch Stephens 2004a, 173 f. Vgl. Buchholz 1975, 28. 166–176. Zur Ikonographie Arions generell LIMC II 602 f.

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Investitionen zu einem Eckpfeiler des ptolemäischen Seereichs ausgebaut, unter anderem durch die Einrichtung des Herrscherkults für Ptolemaios II., von Ptolemaia nach dem Vorbild des Fests in Alexandria, und vielleicht auch von göttlichen Ehrungen für Arsinoë II.41 Der nicht namentlich genannte Stifter der Weihung für Arsinoë II. wird offenbar nur mit seinem Amt als Tempelaufseher (ναοπόλοϲ) ausgewiesen, was die Annahme nahe legt, dass es sich um eine Person handelt, die der Leser leicht erschließen konnte. Man hat an den ptolemäischen Flottenadmiral Kallikrates von Samos gedacht, den Stifter des Heiligtums der als Aphrodite vergöttlichten Arsinoë in Zephyrion (s. hierzu und zu Kallikrates Komm. und Interpr. zu 39), und die Stiftung auch im Heiligtum von Zephyrion lokalisieren wollen,42 obwohl ναοπόλοϲ als Metapher für den Stifter eines Heiligtums schwerlich überzeugen kann und der Arsinoë zugeeignete arionische Delphin nicht zwingend in ein Heiligtum der Arsinoë geweiht worden sein muss. Dennoch kann Kallikrates als Stifter des Weihgeschenks wahrscheinlich gemacht werden. Er amtierte im Jahr 273/272 oder 272/271 v. Chr. als erster eponymer Priester des neu eingerichteten Herrscherkults für Alexander den Großen und die Theoi Adelphoi, das regierende Königspaar,43 ein jährlich neu besetztes, äußerst prestigereiches, wenn nicht sogar das bedeutendste kultische Amt in Alexandria, das durchaus poetisch mit ναοπόλοϲ umschrieben sein kann: „Hüter des Tempels“ der Theoi Adelphoi, des wichtigsten Tempels der dynastischen Herrscherpropaganda in Alexandria.44 Die hohe Auszeichnung durch das Königshaus begründet und erklärt zwanglos die Gegenleistung in Form einer Stiftung, die im Gegenzug die kulturpolitische Leistung der Königin hervorhebt, zumal in einem Heiligtum, das ihr gemeinsam mit ihrem Bruder geweiht ist. Wenn diese Vermutung das Richtige trifft, so sind dadurch nicht nur Weihung und Epigramm annähernd datiert – auf jeden Fall nach Einrichtung von Kult und Tempel der Theoi Adelphoi, am ehesten aber in das Amtsjahr der Priesterschaft des Kallikrates selbst (entweder 273/272 oder 272/271 v. Chr.) –, sondern ist auch eine bedeutende, an Arsinoë II. adressierte Stiftung des Kallikrates im Zusammenhang mit der ihm verliehenen hohen Ehre der inauguralen Übernahme des Priesteramts für die Theoi Adelphoi nachgewiesen. 38 Eine weiter nicht bekannte Epikratis weiht Arsinoë zum Dank für die ihr geschenkte Freiheit eine Phiale. Die Stellung des Gedichts legt die Annahme nahe, dass es sich bei der nicht näher bezeichneten Adressatin der Weihung wie in den beiden vorausgehenden Epigrammen und im nachfolgenden Gedicht um Arsinoë II. handelt. VI 26 Ἀρϲινόηι μ̣’ [ἀνέθ]η̣κεν Ἐπικρατὶϲ ὧδ’ ε[……]ρ 1 27 ἐκ φιάληϲ̣ [.….] π̣ρῶτον ἐλευθέριον, 2 28 εἶπέ τεν[.….] χαῖρέ τ’, ἐλευθερίηϲ μ[ 3 29 καὶ δέ̣ξα[ι ….]ν δῶρον Ἐπικρατίδ[οϲ. 4 41 42

43 44

Vgl. Buchholz 1975, 53 f. 151. 213 f.; Brun 1991; Kotsidu 2000, 230–233; Bing 2002/3, 264. So u. a. Bing 2002/3, 261; Bettarini 2003, 44 f.; Angiò 2004a, 21. 23; Fantuzzi 2004a, 31–33; Stephens 2004a, 163. Eher schon als Kallikrates selbst käme als „Tempelhüter“ des Aphrodite-Arsinoë-Zephyritis-Heiligtums allenfalls dessen Sohn Simon in Frage, der als Priester des neugegründeten Tempels amtierte (vgl. zu Simon Anm. 52). Zum Priesteramt des Kallikrates s. Clarysse, van der Veken 1983, 4; Hauben 1970, 41 f.; zur Diskussion um das Datum der Einrichtung des Kults der Theoi Adelphoi vgl. Chris Bennett: www. tyndalehouse.com/egypt/ptolemies/arsinoe_ii.htm, Anm. 16 (Zugriff: 14.7.2014). Zum Tempel der Theoi Adelphoi in Alexandria vgl. McKenzie 2007, 51.

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26 μ[̣ ιν ἔθ]ηκ̣ εν Lapini 2007  ἐ[πεὶ ὕδω]ρ ed. pr., min. 27 [ἔπιεν] ed. pr., min. 28 εἶπέ τε· „ν[ίϲϲεο] Austin 2001a, ed. min. : εἶπέ τε ν[ῦν μοι] Lapini 2003b  μ[εδέουϲα ed. pr., min. : μ[εταδοῦϲα Lapini 2003b  29 δέ̣ξα[ι’ Handley 2004  φιάλη]ν Gronewald 2001 : βαιὸ]ν Austin 2001a : πρόφρω]ν De Stefani 2002 : ἐρατὸ]ν Handley 2004 (def. Angiò 2007b)

Der Arsinoë (weihte) mich Epikratis so […] aus einer Schale […] das erste freiheitliche […]. Sagte […]: Sei gegrüßt […] der Freiheit und nimm […] als Geschenk der Epikratis. V. 1 μ’ [ἀνέθ]η̣κεν: ἀνατίθημι ist die gebräuchliche Bezeichnung für das Aufstellen des Weihgegenstands (vgl. z. B. 36.2). Daneben ist aber auch das einfache τίθημι möglich (vgl. z. B. 36.8). Die Konjekturen μ’ [ἀνέθ]η̣κεν (ed. pr.) und μ̣[ιν ἔθ]η̣κεν (Lapini 2007) unterscheiden sich vor allem dadurch, dass sie verschiedene Sprecher annehmen: Nach dem Vorschlag der Erstherausgeber spricht der Weihgegenstand selbst („Epikratis stellte mich auf“), nach Lapini ist ein Sprecher anzunehmen, der von der Weihung der Epikratis berichtet („Epikratis stellte es auf“). — Ἐπικρατὶϲ: Der Name ist u. a. in Ionien, Thessalien, Lakonien, aber nicht in Makedonien oder im ptolemäischen Ägypten epigraphisch belegt (ed. pr. ad loc.; LGPN IIIa 147; IIIb 138; Va 159). Stephens 2004a, 163 vermutet einen sprechenden Namen („Mistress“), der – ähnlich wie der in 29.3 genannte Εὐέλθων – das wahre Schicksal seines Trägers ironisch verkehrt: Εὐέλθων („Mr. Good Journey“) kommt auf der Reise zu Tode. Überzeugen kann das nicht, da das Schicksal der Epikratis ja offensichtlich einen guten Verlauf nimmt: Ἐπικρατίϲ war zwar zum Zeitpunkt der Namensgebung noch eine Sklavin. Sie wird aber, wenn auch keine „Mistress“, so doch offenbar freigelassen. Als ironisch gelesen werden könnte die Namensgebung nur dann, wenn (wie in 29) das Missverhältnis von Namen und Schicksal im Epigramm selbst eine Rolle spielte. V. 1 f. Die von den Erstherausgebern vorgeschlagenen Ergänzungen ἐ[πεὶ ὕδω]ρ am Ende von V. 1 und [ἔπιεν bzw. ἐρόφει] am Anfang von V. 2 sind überzeugend: „als sie das ‚erste‘ freiheitliche (d. h. in Freiheit getrunkene) Wasser aus der Schale trank bzw. schlürfte.“ Zur Wortverbindung vgl. Antiphanes fr. 26.4 Kassel-Austin: εἰ δὲ μή, μηδέποθ’ ὕδωρ πίοιμι ἐλευθέριον („andernfalls dürfte ich niemals mehr das Wasser der Freiheit trinken“). Es ist zwar nicht zwingend, aber doch wahrscheinlich, dass es sich bei Epikratis um eine in die Freiheit entlassene Sklavin handelt. V. 3 εἶπέ τεν[…] χαῖρέ τ’: Liest man εἶπέ τε, so schließt dieses erste τε das εἶπέ an das vorausgehende [ἀνέθ]η̣κεν an (‚Epikratis weihte und sprach:‘). Das zweite τε (χαῖρέ τ’) würde dann bedeuten, dass dem Gruß der Epikratis ein erster Imperativ (beginnend mit ν) vorausgegangen ist. Der von Austin vorgeschlagene Imperativ ν[ίϲϲεο] (‚Komm‘) ist möglich. Alternativ dazu ließe sich aber auch eine Konstruktion denken, in der τε … καὶ die beiden Imperative in V. 3 und 4 verbindet (χαῖρέ τ’… / καὶ δέ̣ξα[ι).45 Die Grußformel χαῖρε erinnert an eine typische Anredeform in Aufschriften archaischer und klassischer Vasen und könnte darauf hindeuten,

45

Die von Lapini vorgeschlagene Einleitungsformel (z. B. ν[ῦν μοι χαῖρέ, ‚Sei mir gegrüßt‘ [Lapini 2003b, 46, mit Verweis auf Aischyl. fr. 221.1–2 Radt]) kann allerdings nicht wirklich überzeugen.

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dass die beiden Schlussverse die auf der Weihung selbst aufgebrachte Dedikationsinschrift zitieren.46 — ἐλευθερίηϲ μ[: In der Lücke am Ende des Verses kann das Partizip eines Verbums gestanden haben, von dem der Genitiv ἐλευθερίηϲ abhängig ist. Die beiden Vorschläge ἐλευθερίηϲ μ[εδέουϲα ‚die du für die Freiheit Sorge trägst/Beschützerin der Freiheit‘ (ed. pr.) und ἐλευθερίηϲ μ[εταδοῦϲα ‚die du ‹mir› Anteil an der Freiheit gewährst‘ (Lapini 2003b), gehen syntaktisch von einem Vokativ aus, mit dem Arsinoë als Patronin der Freiheit gepriesen wird. Denkbar wäre auch ein entsprechendes mit einem μ beginnendes Substantiv. V. 4 δέξ̣ α[ι ….]ν δῶρον: Syntaktisch kommen drei Möglichkeiten in Frage: 1. ein Attribut zu δῶρον, z. B. βαιὸ]ν ‚klein‘ (Austin 2001a) oder ἐρατὸ]ν ‚lieblich‘ (Handley 2004 und im Anschluss Angiò 2007b); 2. ein Objekt zu δέ̣ξα[ι, z. B. φιάλη]ν, die bereits erwähnte Schale (vgl. Gronewald 2001), die durch das prädikativ verwendete δῶρον „als Geschenk“ ausgewiesen wird; und 3. ein prädikatives Partizip zu δέ̣ξα[ι, durch das die Haltung der Beschenkten zum Ausdruck kommt (z. B. πρόφρω]ν ‚gnädig‘, so der Vorschlag von De Stefani 2002). Rekonstruktionsvorschlag Ἀρϲινόηι μ’ [ἀνέθ]η̣κεν Ἐπικρατὶϲ ὧδ’ ἐ[πεὶ ὕδω]ρ ἐκ φιάληϲ [ἔπιεν] πρῶτον ἐλευθέριον, εἶπέ τε ν[ίϲϲεο] χαῖρέ τ’, ἐλευθερίηϲ μ[εδέουϲα καὶ δέξα[ι φιάλη]ν δῶρον Ἐπικρατίδ[οϲ. Der Arsinoë weihte mich Epikratis auf diese Weise, nachdem sie aus einer Schale das erste Wasser der Freiheit getrunken hatte und sagte: „Komm und sei gegrüßt, Beschützerin der Freiheit, und nimm die Phiale als ein Geschenk der Epikratis in Empfang.“ Trotz der bestehenden Lücken ist der Inhalt des Gedichts klar: Die allem Anschein nach in die Freiheit entlassene Epikratis – vgl. zu diesem Motiv auch 48 (Epitymbia) – weiht Arsinoë II., die als Empfängerin der Weihgabe den Status einer Göttin besitzt, eine Phiale, die mit dem Beginn ihres neuen Status in Verbindung steht: Offenbar hat sie nach Erlangen der Freiheit aus einer Schale Wasser getrunken und das Gefäß, vielleicht verziert mit den ersten Worten, die sie als Freie gesprochen hat, zum Dank gestiftet. Der Ort der Weihung wird nicht genannt.47 39 Das Epigramm feiert Königin Arsinoë II. Philadelphos, die mit Aphrodite Euploia, der Be­ schützerin der Seefahrt, gleichgesetzt wird. Anlass des Lobgedichts scheint die Stiftung des Tempels für Arsinoë-Aphrodite am Kap Zephyrion (nahe Alexandria) durch den ptolemäischen Flottenadmiral Kallikrates zu sein. 46 47

Zu den chaire-Inschriften s. Wachter, R. 2004: Drinking Inscriptions on Attic Little-Master Cups: A catalogue (AVI 3), Kadmos 42: 141–189. Für die Vermutung von Lelli (2002, 12. 23), das Weihgeschenk habe sich im Aphrodite-Zephyritis-Heiligtum befunden, gibt es keinerlei Hinweise.

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VI 30 καὶ μέλλω̣ν ἅλα νηῒ περᾶν καὶ πεῖϲμα καθάπτειν 1 31 χερϲόθεν, Εὐπλοίαι ‚χα`ῖ´ρε’ δὸϲ Ἀρϲινόηι, 2 32 πό]τνιαν ἐκ νηοῦ καλέων θεόν, ἣν ὁ Βοΐϲκου 3 33 ναυαρχῶν Ϲάμιοϲ θήκατο Καλλικράτηϲ, 4 34 ναυτίλε, ϲοὶ τὰ μάλιϲτα· κατ’ εὔπλοιαν δὲ διώκει 5 35 τῆϲδε θ̣εοῦ χρήιζων πολλὰ καὶ ἄλλοϲ ἀνήρ· 6 36 εἵνεκα καὶ χερϲαῖα καὶ εἰϲ ἅλα δῖαν ἀφιεὶϲ 7 37 εὐχὰϲ εὑρήϲειϲ τὴν ἐπακουϲομένην. 8 32 εγνηου P 34 κατ’ … διώκει (Tmesis) Livrea 2007  36 οὕνεκα Schröder 2004, Tammaro 2004 (def. Ferrari per litt.)  χερϲαῖε Gärtner 2006 (v. Angiò 2007b, Schröder 2008)

Sei es, dass du das Meer mit dem Schiff durchfahren, sei es, dass du am Festland das Tau festmachen willst: Schenk Arsinoë, der Hüterin der Seefahrt, einen Gruß und rufe die hehre Göttin aus dem Tempel, den der Sohn des Boiskos, als er Nauarch war, Kallikrates aus Samos, vor allem für dich, Seefahrer, geweiht hat. Oft aber strebt auch ein anderer Mann nach glücklicher Seefahrt und bedarf dieser Göttin. Deswegen, wenn du ‹wieder› an Land gehst und wenn du aufs erhabene Meer hinausfährst, wirst du in ihr eine Göttin finden, die deinen Bitten Gehör schenkt. V. 1 f. μέλλων̣ ἅλα νηῒ περᾶν καὶ πεῖϲμα καθάπτειν / χερϲόθεν: Angesprochen wird der Seefahrer, der kurz davor ist, in See zu stechen (vgl. 22.3: ἡμῖν δʼ Αἰγύπτου πέλαγοϲ μέλλουϲι διώκειν, „Uns aber, wenn wir das Ägyptische Meer erreichen wollen“) oder – nach einer Reise – anzulegen. Die als Beschützerin der Seefahrt verehrte Arsinoë Euploia48 soll in beiden Momenten, bei der Ausfahrt und bei der Ankunft, als Göttin angesprochen werden: einmal mit der Bitte, die bevorstehende Fahrt zu sichern, einmal zum Dank für den gewährten Schutz. — ‚χαῖρε‘: Der Gruß umfasst beide Anlässe: Abschied und Wiedersehen. — πεῖϲμα καθάπτειν / χερϲόθεν: Das Tau wird beim Anlegen ‚vom Land aus‘ angebunden. V. 2 Εὐπλοίαι: Mit Blick auf 116 (v. a. V. 8 f.) ist erwogen worden, die in dem Epitheton Εὔπλοια ausgedrückte Schutzfunktion der Arsinoë als Beschützerin der Seefahrer auch metaphorisch als den Schutz von Liebe und Ehe zu verstehen (Gronewald 2001, Livrea 2002, Gärtner 2008). Zum einen wird der stürmische Verlauf der Ehe gerne in der Schiffsmetaphorik zum Ausdruck gebracht; vgl. Fantuzzi/Hunter 2004, 382 u. Livrea 2007, 82; zum anderen gehören Kypris und Aphrodite zu den Beinamen, mit denen Arsinoë im Zusammenhang mit der Weihung des Tempels angesprochen wird (vgl. auch Kallim. epigr. 5.1 u. 5.8 Pfeiffer). Dafür, dass hier mehr als der Schutz der Seefahrt angesprochen wird, bietet der Text allerdings keinen Anhaltspunkt; vgl. auch den Komm. zu V. 5 und V. 6. 48

Vgl. hierzu auch Poseidipp 119.5 f.: ἡ δὲ καὶ εὐπλοίην δώϲει καὶ χείματι μέϲϲωι / τὸ πλατὺ λιϲϲομένοιϲ ἐκλιπανεῖ πέλαγοϲ. („Die aber wird gelingende Seefahrt gewähren und mitten im Sturm denen, die sie anrufen, das breite Meer glatt machen“). Als maritime Schutzgottheit wird Arsinoë auch bei Kallimachos epigr. 5 Pfeiffer angesprochen, dem Weihgedicht einer früheren Muschel (ναυτίλοϲ, zugleich ein Wort für ‚Seefahrer‘), die, als Weihgeschenk dargeboten, um die Gunst Arsinoës bittet.

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V. 3 ἐκ νηοῦ: Der hier nicht näher lokalisierte Tempel ist der Tempel der in 116.6 und 119.2 mit Kypris gleichgesetzten Arsinoë II. am Kap Zephyrion. Beide Epigramme bezeichnen Kallikrates als den Stifter des Heiligtums. Der Tempel wird auch von Strabon (17.1.16: καὶ τὸ Ζεφύριον, ἄκρα ναίϲκον ἔχουϲα Ἀρϲινόηϲ Ἀφροδίτηϲ) erwähnt, kann archäologisch bislang aber nicht nachgewiesen werden und ist auch nicht exakt zu lokalisieren: Strabon und Poseidipp, die ihn beide an der Küste östlich von Alexandria situieren, bieten unterschiedliche Angaben zu seiner Entfernung von Alexandria.49 — ἐκ νηοῦ καλέων θεόν: Das Herausrufen der Gottheit hat hier nichts mit der späteren römischen Religions- und Kriegspraxis der evocatio zu tun (Herausrufen der Gottheit mit dem Ziel, deren Schutzfunktion aufzuheben; vgl. dazu Rüpke, J. [2001]: Die Religion der Römer, München: 134 f., Stek, T.D. [2009]: Cult Places and Cultural Change in Republican Italy, Amsterdam: 30 f.), sondern steht vermutlich in der Tradition des hymnos kletikos, in dem eine Gottheit aufgefordert wird, zu erscheinen (Epiphanie); vgl. etwa Sapp. fr. 1 Voigt, in dem die Göttin Aphrodite angerufen wird, ihr himmlisches Haus zu verlassen; zum hymnos kletikos vgl. Burkert, W. (1994): Griechische Hymnoi, in: Burkert, W. u. Stolz, F. (Hg.): Hymnen der Alten im Kulturvergleich, Göttingen: 11. V. 4 Καλλικράτηϲ: Zu dem Nauarchen Kallikrates, den Poseidipp auch in 74, 116 und 119 nennt, vgl. Interpr. zu 39 und Komm. zu 37.8. — ναυαρχῶν: statt der substantivischen Berufsbezeichnung (ναύαρχοϲ, ‚Admiral‘) ist hier – wohl zur Unterstreichung des temporalen Aspekts (‚während seiner Zeit als Admiral‘) – eine partizipiale Form des Verbums ναυαρχεῖν gewählt. V. 5 f. Die in dem von Kallikrates gestifteten Tempel verehrte Arsinoë Euploia ist zwar in erster Linie die Göttin der professionellen Seefahrer, schützt aber auch jeden anderen, der eine Seereise unternimmt. Gronewald 2001, Livrea 2007 und Gärtner 2006 möchten εὔπλοιαν hier metaphorisch, im Sinne von ‚Wohlfahrt‘, ‚Lebensglück‘ verstehen und fassen die Präposition κατὰ im Sinne von ‚wegen‘, ‚auf der Suche nach‘ (vgl. LSJ III.B) auf und πολλὰ als Akkusativ­ objekt zu διώκει. „Auf der Suche nach Wohlfahrt verfolgt auch manch anderer Mensch (der nicht zur See fährt) vieles, indem er seine Wünsche an die Gottheit richtet“ (Gärtner 2006). Es gibt aber, wie Schröder 2008 richtig feststellt, sonst keinerlei Hinweise darauf, dass „der als Aphrodite vergöttlichten Arsinoë neben der ihr begreiflicherweise zugeschriebenen, auch sonst belegten und der Anlage des Heiligtums entsprechenden maritimen eine unspezifisch allgemeine Zuständigkeit“ gegeben worden ist. Auch die Formulierung καὶ ἄλλοϲ ἀνήρ spricht gegen diese Deutung. Das καὶ kann ja nur bedeuten, dass der ἄλλοϲ ἀνὴρ, genauso wie der Seemann, um eine glückliche Fahrt über das Meer bittet. Es ist also besser, κατ’ … διώκει als Tmesis zu erklären (zur Bedeutung von καταδιώκειν als ‚verfolgen‘ bzw. ‚zu erreichen versuchen‘ vgl. Thuk. 1.49.5 bzw. Polyb. 6.42.1), εὔπλοιαν als Objekt dazu aufzufassen und πολλὰ adverbiell zu verstehen: „Häufig möchten auch andere Menschen eine glückliche Fahrt erreichen und brauchen dafür ‚wie die Seeleute‘ diese Göttin.“ V. 7 εἵνεκα: Der durch die Einleitung des Satzes mit εἵνεκα (bzw. οὕνεκα, Schröder 2004) suggerierte Grund wird in den vorangehenden Versen nicht explizit formuliert. Schröder 2004

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Vgl. hierzu McKenzie 2007, 52 mit Anm. 155.

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nimmt an, dass er aus dem Relativsatz V. 3 f. zu erschließen ist: Kallikrates hat den Tempel der Arsinoë Euploia gestiftet, um allen, die eine Seereise unternehmen wollen, die Gelegenheit zu geben, eine sichere Fahrt zu erbitten. Es erscheint allerdings auch möglich, aus dem in den vorangehenden Versen formulierten Gedanken, dass alle zur See Fahrenden die Hilfe der Göttin benötigen, zu ‚deswegen‘ ein ‚rufe sie an‘ zu ergänzen, das ja auch in dem Versprechen impliziert ist, dass die Gebete erhört werden. — χερϲαῖα: Das Adjektiv zu χέρϲοϲ (‚das trockene Land‘) bezeichnet „das, was auf dem Land lebt bzw. sich auf oder im Innern des Landes befindet“; vgl. z. B. πόλιϲ χερϲαία (‚die im Inland gelegene Stadt‘) im Gegensatz zur ‚Hafenstadt‘ (ἐπιθαλαττίδιοϲ), Plat. leg. 704b. — καὶ χερϲαῖα καὶ εἰϲ ἅλα δῖαν ἀφιεὶϲ: Gärtners Konjektur χερϲαῖε (2006, 80) ist sprachlich kaum möglich (vgl. auch Schröder 2008, 42 zu den „durch nichts gestützten Vokativen“) und auch nicht erforderlich: χερϲαῖα kann entweder als Akkusativ verstanden werden, der wie ἅλα δῖαν von εἰϲ abhängig ist (so ed. pr.; für die Stellung der Präposition vgl. 14.2; weitere Parallelen bei Schröder 2004, 55), oder es handelt sich um die adverbiale Verwendung des Neutr. Pl. (so Livrea 2007 mit Verweis auf Arat. 919 und Eratosth. fr. 16,13 Powell). Auch in diesem Fall verbietet die Verbindung mit ἀφιεὶϲ (sc. ναῦν oder πλοῖον) die Annahme, dass von einer Reise zu Lande die Rede ist. Es handelt sich wie in V. 1 f. um Anfang und Ende einer Seereise. Schröder 2004, 38 hat die chiastische Wiederholung des Gedankens kritisiert („Die Wiederholung wirkt umso unglücklicher als zwischen V. 2 und V. 7 wenig gedankliche Entwicklung festzustellen ist.“, vgl. auch Schröder 2008). Nicht nur wegen dieser inhaltlichen Wiederholung im Schlussdistichon, sondern auch weil 39 sowohl stilistisch (vgl. die zahlreichen Wortwiederholungen: ἅλα V. 1 u. 7; χερϲόθεν, V. 2, χερϲαῖα, V. 7; Εὐπλοίαι, V. 2, εὔπλοιαν, V. 5; θεόν, V. 3, θε̣ οῦ, V. 6) als auch kompositorisch gegenüber dem thematisch ähnlichen 119 stark abfalle, hat sich Schröder 2004, 38 f. dazu veranlasst gesehen, auch für 39 einen anonymen Autor anzunehmen, der sich an einer Nachahmung von 119 versucht habe. Zumindest gedanklich ist das letzte Distichon allerdings keine „Wiederholung“ des ersten: Der Aufforderung, die Göttin anzurufen, folgt am Ende das Versprechen, dass sie alle Gebete erhören werde. Es kommt hinzu, dass sich die Wiederaufnahme eines den Anfang bildenden Gedankens am Ende des Epigramms, wie Schröder selbst konstatiert, in einer ganzen Reihe von Epigrammen findet (vgl. 21, 28, 35, 39, 46). Im Zentrum des Gedichts steht der von Kallikrates zu Ehren der mit Aphrodite Euploia gleichgesetzten Arsinoë II. am Kap Zephyrion errichtete Tempel, dem auch die Epigramme 116 und 119 gewidmet sind. Der Sprecher fordert nicht nur Seeleute, sondern alle, die zur See fahren wollen, auf, sich ihrem Schutz anzuvertrauen und verspricht ihnen die Erfüllung ihrer Gebete. Dass es sich um ein Weihepigramm handelt, geht zunächst einmal nur aus der Aufnahme des Textes in die Sektion der Anathematika hervor. Auf einen Weihgegenstand gibt es – wie auch bei einigen der Anathematika in der AP – keinen Hinweis. Möglich ist, dass sich der Leser des Textes das Gedicht an der Tempelwand oder in der Nähe des Tempels vorzustellen hat und der Tempel selbst die Funktion eines Weihgegenstandes einnimmt. Hierfür spräche die in der Mitte des Epigramms platzierte Nennung seines Stifters Kallikrates, der auf gleich vierfache Weise – mit dem Namen seines Vaters, seiner Funktion am Hofe, seiner Herkunft und seinem Namen – Erwähnung findet, sowie die Verwendung des Verbums τίθημι (νηοῦ, ἣν θήκατο Καλλικράτηϲ, V. 3– 4). Die Sprechersituation suggeriert darüber hinaus, dass das Gedicht in unmittelbarer Nähe des Tempels zu finden ist: das deiktische Demonstrativpronomen τῆϲδε jedenfalls (V. 6: τῆϲδε θεοῦ ‚dieser Göttin hier‘) legt nahe, dass der Tempel der Göttin von dem als Leser angesprochenen Seemann nicht allzu weit entfernt ist. Damit würde das Epigramm die Schnittstelle zwischen Land und Meer nicht nur thematisieren (Ausfahrt und Ankunft), sondern wäre, da der Tempel an der Küste vorzustellen ist (s. u. sowie 36), auch

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selbst an einer solchen situiert – sei es nun realiter oder, da es sich vermutlich um literarische Fiktion handelt (dazu s. u.), in der Imagination des Lesers, der das Epigramm an welchem Ort auch immer liest. Das Epigramm ist für das Verständnis der Selbstdarstellung eines hohen Günstlings der ptolemäischen Könige durch eine prominente Stiftung, die zugleich Dank für verliehene Ehren ist und das Königshaus feiert, von großer Bedeutung; es ergänzt und vervollständigt zudem das bereits aus anderen Epigrammen – unter anderem auch Poseidipps – bekannte Wissen über den von ihm gestifteten Tempel. Der Stifter ist eine der bedeutendsten und am besten dokumentierten Persönlichkeiten des ptolemäischen Hofs: Kallikrates von Samos, Sohn des Boiskos.50 Er diente Ptolemaios II. offenbar über einen längeren Zeitraum in einem der höchsten militärischen Ämter als „Nauarch“ (Admiral) – so wird er hier auch bezeichnet (V. 4) – und hatte möglicherweise das oberste Marinekommando inne. Dem Königshaus war er besonders eng verbunden: Ptolemaios machte ihn zum philos, zur engen Vertrauensperson, und ernannte ihn zum ersten eponymen Priester des neu gegründeten Kults Alexanders des Großen und der Theoi Adelphoi, des vergöttlichten regierenden Geschwisterpaars (vgl. dazu S. 156 f., 160, 168). Ehreninschriften und Weihungen für Kallikrates in seiner Funktion als Nauarch an verschiedenen Orten in der Ägäis zeigen, dass er ein wichtiger und umtriebiger Sachwalter der Ptolemäer in deren griechischer Interessensphäre war und offenbar auch stellvertretend für das Königshaus die Anliegen der ptolemäischen Selbstdarstellung in Griechenland betrieb, und dies an prominentester Stelle: In Olympia, exakt in der zentralen Blickachse des Heiligtums, errichtete er als Stifter zwischen 280 und 268 v. Chr. ein prätentiöses Weihgeschenk zu Ehren Ptolemaios’ II. und Arsinoës II., das sog. Ptolemäerweihgeschenk, das mit seinen zwei hohen, von den Statuen des Königspaars gekrönten Säulen ein spektakuläres, das Heiligtum optisch dominierendes Monument bildete.51 In vergleichbarer Weise stellte sich Kallikrates vielleicht auch im Apollon-Heiligtum von Delphi mit seinem Sieg im Wagenrennen der Fohlen (wohl 270 v. Chr.) in den Dienst der ptolemäischen Selbstdarstellung, indem er das für den Sieg gestiftete Weihgeschenk Ptolemaios und Arsinoë zueignete (s. dazu Komm. zu 74). Schließlich trat Kallikrates in Ägypten zweimal als Stifter eines Heiligtums zu Ehren des Königshauses in Erscheinung: einmal, im Fall des Isis-Anubis-Heiligtums in Kanopos, im Namen und Auftrag des Königspaars, und ein zweites Mal mit dem weit bekannteren Heiligtum der als Aphrodite verehrten Arsinoë in Zephyrion, das Gegenstand dieses Gedichts ist.52 Beim Heiligtum der Arsinoë-Aphrodite in Zephyrion handelt sich um das einzige Architekturdenkmal, das mehrfach Gegenstand frühhellenistischer Epigramme geworden ist; es war

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Grundlegend zu Kallikrates Hauben 1970; zuletzt Bing 2002/3; Lapini 2007, 180–187; vgl. ferner PP VI, 27 f. Nr. 14607. Kallikrates von Samos ist zu unterscheiden von Kallikrates aus Makedonien, einem ranghohem Militär und philos des Ptolemaios I.; s. zu diesem Hauben 1970, 21–31. Zum olympischen Ptolemäerweihgeschenk s. Hoepfner 1971, 11–54; Hintzen-Bohlen 1992, 77–81; Bing 2002/3, 252–255. In den Stifterinschriften (IvO 306–307), in denen sich Kallikrates mit vielsagender Zurückhaltung bloß als Samier und Sohn des Boiskos, aber ohne den Nauarchentitel bezeichnet, wird Arsinoë als basilissa ausgewiesen; das Monument muss also nach ihrer Erhebung zur Königin (frühestens 280 v. Chr., s. Anm. 21) und vor ihrem Tod im Juli 268 v. Chr. (s. dazu Anm. 22) dediziert sein. Die Stiftung blieb offenbar auch später noch mit der Familie des Kallikrates verbunden: als einer der Priester des Kults ist im 3. Jh. v. Chr. ein Sohn des Kallikrates, Simon, nachgewiesen: PP III, Nr. 6502; Hauben 1970, 80.

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zuvor schon aus insgesamt drei Gedichten bekannt, von denen zwei von Poseidipp stammen: 53 116.1–6 betont vor allem die windige Küstenlage (s. hierzu den Komm. zu 36.1) zwischen der Insel Pharos und dem etwa 15 km östlich von Alexandria gelegenen Hafen Kanopos: μέϲϲον ἐγὼ Φαρίηϲ ἀκτῆϲ ϲτόματόϲ τε Κανώπου ἐν περιφαινομένωι κύματι χῶρον ἔχω, τήνδε πολυρρήνου Λιβύηϲ ἀνεμώδεα χηλήν, τὴν ἀνατεινομένην εἰϲ Ἰταλὸν Ζέφυρον, ἔνθα με Καλλικράτηϲ ἱδρύϲατο καὶ βαϲιλίϲϲηϲ ἱερὸν Ἀρϲινόηϲ Κύπριδοϲ ὠνόμαϲεν. ἀλλ’ ἐπὶ τὴν Ζεφυρῖτιν ἀκουϲομένην Ἀφροδίτην, Ἑλλήνων ἁγναί, βαίνετε, θυγατέρεϲ, οἵ θ’ ἁλὸϲ ἐργάται ἄνδρεϲ· ὁ γὰρ ναύαρχοϲ ἔτευξεν τοῦθ’ ἱερὸν παντὸϲ κύματοϲ εὐλίμενον. Mitten zwischen der Küste von Pharos und der Mündung des Kanopos habe ich an der weithin sichtbaren Flut meinen Platz, diesen windreichen Vorsprung des herdenreichen Libyen, der sich hinstreckt zum italischen Zephyros, wo mich Kallikrates erbaute und mir den Namen ‚Heiligtum der Königin Arsinoë Kypris‘ gab. Auf, kommt zu ihr, die Zephyritis Aphrodite genannt werden wird, ihr reinen Töchter Griechenlands, und auch ihr, ihr Arbeiter der See: Der Nauarch errichtete dieses Heiligtum als schönen Schutz gegen jede Welle.

Und auch das von Athenaios in den Deipnosophistai (7.106d)54 zitierte 119 betont die felsige Lage (119.1– 4): τοῦτο καὶ ἐν πόντωι καὶ ἐπὶ χθονὶ τῆϲ Φιλαδέλφου Κύπριδοϲ ἱλάϲκεϲθ’ ἱερὸν Ἀρϲινόηϲ, ἣν ἀνακοιρανέουϲαν ἐπὶ Ζεφυρίτιδοϲ ἀκτῆϲ πρῶτοϲ ὁ ναύαρχοϲ θήκατο Καλλικράτηϲ· Macht Euch zu Wasser und zu Lande geneigt dieses Heiligtum der Arsinoë Philadelphos Kypris, die als erster der Nauarch Kallikrates zur Herrscherin über dem Felsvorsprung von Zephyris55 geweiht hat.

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Grundlegend zum frühhellenistischen Architekturepigramm von Hesberg 1981; zum Heiligtum von Zephyrion, zu den Epigrammen und zu Arsinoë-Aprodite Zephyritis s. Abel 1972: s.v. Zephyritis, RE X A1: 230–234; Hauben 1970, 42– 46; von Hesberg 1981, 63. 70–72; Hauben 1983, 111–114; Bing 2002/3, 255–257; Lapini 2007, 146–191. Ath. 7.106.16: ἔγραψε δὲ καὶ Ποϲείδιπποϲ εἰϲ τὴν ἐν τῶι Ζεφυρίωι τιμωμένην ταύτην Ἀφροδίτην τόδε τὸ ἐπίγραμμα. Zephyris verdankt seinen Namen dem Westwind Zephyros.

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Poseidipp hat sich offenbar als Verfasser von Epigrammen über berühmte ptolemäische Großbauten in besonderer Weise profiliert: Neben den nunmehr drei Epigrammen zum Tempel in Zephyrion stammt von ihm auch das einzige zeitgenössische Gedicht zum Pharos von Alexandria (115).56 Die Tatsache, dass sich drei Epigramme Poseidipps mit ganz unterschiedlichem Wortlaut als Weihinschriften desselben Monuments ausgeben, spricht dagegen, dass es sich bei einem von ihnen um die Dedikationsinschrift handeln könnte und lässt eher an rein literarische Lobgedichte denken, die sich – wie häufig in der hellenistischen Epigrammatik – des Modus der Weihinschrift nur bedienen.57 Die Epigramme Poseidipps heben vor allem die exponierte, von Wind und Wellen umtoste Lage des Heiligtums am Kap Zephyrion (östlich von Alexandria) hervor58 und unterstreichen so die Schutzfunktion der hier verehrten Göttin, die den Seefahrern, die sie darum bitten, eine gute Fahrt verheißt (39) und Zuflucht (116.10) bietet. Von der Architektur des Heiligtums erfahren wir nichts: im Fokus stehen vielmehr der Stifter, Kallikrates, und Arsinoë II., die Empfängerin der Stiftung.59 Arsinoë wurde im Heiligtum von Zephyrion mit Aphrodite bzw. Kypris gleichgesetzt (116.6 f.; 119.1 f.), der für sie weitaus häufigsten Form der Götterangleichung; in 39 wird sie zusätzlich mit der für Aphrodite reich belegten Epiklese ‚Euploia‘ ausgezeichnet, die explizit ihre Rolle als Beschützerin der Seefahrt hervorhebt.60 Das Gründungsdatum des Heiligtums ist nicht eindeutig zu bestimmen: die Frage, ob Arsinoë II. schon zu Lebzeiten oder erst nach ihrem Tod als Aphrodite verehrt worden ist, lässt sich kaum entscheiden.61 Einen Hinweis könnte allenfalls die Bezeichnung Arsinoës als „Königin“ in 116.5 geben; versteht man sie als Beschreibung ihrer aktuellen Funktion (und nicht bloß als poetische Charakterisierung der Person), so müsste das Heiligtum vor ihrem Tod (270 oder 268 v. Chr.)62 errichtet worden sein. Darüber zu spekulieren, ob die Stiftung des Kallikrates auf seine eigene Initiative hin erfolgte oder ob er – wie beim Isis-Anubis-Heiligtum – vom Königshaus dazu veranlasst 56 57

Zum Pharos-Gedicht zuletzt Schröder 2008. Zur Frage, ob hellenistische Architekturepigramme als rein literarische Gattung oder als Inschriften an den Bauten selbst, im Einzelfall gar als die Dedikationsinschriften zu verstehen sind, vgl. von Hesberg 1981, 61 f., Anm. 20. 58 Möglicherweise sind aufgrund der Küstenlage auch zwei weitere Divinisierungsformen der Arsinoë als Aktia und Aphrodite Akraia auf das Heiligtum der Arsinoë Zephyritis zu beziehen: Tondriau 1948, 17. 59 In das Heiligtum der Aphrodite Zephyritis hat Berenike II. – die Nachfolgerin Arsinoës II. – ihre Haarlocke gestiftet, die Gegenstand des berühmten Gedichts von Kallimachos ist (Ait. fr. 110 Pfeiffer), und ein Epigramm desselben Dichters (epigr. 5 Pfeiffer) gilt einem weiteren außergewöhnlichen Gegenstand, der in das Heiligtum geweiht wurde: einer weitgereisten und symbolträchtigen Nautilusmuschel. Zur Locke der Berenike s. Gutzwiller 1992a; zur Nautilusmuschel der Selenaia (GP I, 60 f. und II, 168–171 s.v. Callimachus XIV) vgl. Gutzwiller 1992b; Bing 2002/3, 264 f. Das von Hedylos geschilderte technische Wunderwerk des Ktesibios, ein Rhyton, das einen schrillen Gesang von sich gibt (GP I, 101 und II, 292 f. s. v. Hedylus IV), kann hingegen nicht zweifelsfrei dem Tempel der Aphrodite Zephyritis zugewiesen werden, obwohl dies stets angenommen worden ist, so u. a. zuletzt von Bing 2002/3, 265 f.: der „Tempel der Arsinoë“, in den Ktesibios sein Werk stiftete, lässt sich nicht bestimmen (am ehesten das Arsinoeion in Alexandria?). Die Zusammenstellung der Weihungen bei Lelli (2002, 10), die sich angeblich alle im Heiligtum befunden haben sollen, entbehrt bis auf die genannte Nautilusmuschel und die Locke der Berenike jeder Grundlage. 60 Zur Divinisierung Arsinoës als Aphrodite vgl. Tondriau 1948, 16–18; nicht zwingend in Zusammenhang mit dem Aphrodite-Zephyritis-Heiligtum ist der von einem unbekannten Autor verfasste „Hymnus auf Aphrodite“ (Papyrus Goodspeed 101) zu verstehen, in dem Arsinoë ebenfalls mit Aphrodite Euploia gleichgesetzt wird; vgl. Barbantani 2004. 61 Vgl. Hauben 1983, 112 f. sowie grundsätzlich zu den unterschiedlichen Divinisierungsoptionen ptolemäischer Herrscher Hauben 1989. 62 Zur Diskussion um das Todesdatum der Arsinoë II. s. Anm. 22.

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wurde, ist müßig. Wie das Ptolemäerweihgeschenk in Olympia oder die Wagenweihung für den Sieg in Delphi dürfte eine derartig aufwendige Stiftung, die sich so demonstrativ in den Dienst der macht- und religionspolitischen Ziele des Königshauses stellt, nur zu verstehen sein im Rahmen eines Geflechts von königlichen Gunstbezeugungen und Ehren und mehr oder minder ‚freiwillig‘ erfolgten Gegenleistungen des Begünstigten, die wiederum den Interessen der königlichen Selbstdarstellung Rechnung tragen. Anders als im Fall der Weihungen in griechischen Städten und Heiligtümern, wo Kallikrates von den Ptolemäern wohl als Stifter wie auch als Empfänger von Ehrungen vorgeschoben wurde, um den Eindruck einer allzu aufdringlichen Selbstdarstellung der Ptolemäer in Griechenland zu vermeiden, muss im Fall der Stiftung des Heiligtums in Zephyrion ein anderer Gesichtspunkt ausschlaggebend gewesen sein: Der Flottenkommandant der Königin und Arsinoë in ihrer Rolle als Aphrodite Euploia waren als Verteidiger und Garanten der ptolemäischen Seeherrschaft in der Ägäis eng miteinander verbunden;63 Kallikrates erweist der Göttin seinen Dank, die den Kriegserfolg seiner Schiffe gewährleistet, und lässt seine militärischen Unternehmungen als von der Gunst seiner vergöttlichten Königin begleitet und gelenkt erscheinen. 40 Das Epigramm handelt von einem Opferstock mit einem Aufsatz in Gestalt ein Wolfes. Der Stifter hat den Opferstock der Göttin Leto geweiht. VI 38 ἔμβαλε τῆι Λητοῖ κατ’ ἐμὸν ϲτόμα, μηδὲ φοβηθῆιϲ 1 39 δοῦναι παρθήκην εἰ λύκοϲ ὢν ἔχανον· 2 VII 1 θηϲαυρ̣[όν μ’] ἀ̣νέθ̣[ηκε] Λύ̣[κοϲ,] ϲὺ δὲ̣ [τῆϲ ἱε]ρείηϲ 3 2 πεύθεο̣ [….]ηκ[ ±11 ]ε̣λυ̣[ 4 1 παρείηϲ vel χαρείηϲ Austin 2001a  2 πεύθεο [παρθ]ήκ[ην εἴ ποτ’ ἔκλεψ]ε̣ Λύ̣[κοϲ e.g. Gronewald 2004 ([παρθ]ηκ[ et ]ε̣ Λύ̣[κ- iam Austin 2001a)

Wirf für Leto in mein Maul das Depositum hinein und fürchte dich nicht, es zu geben, auch wenn mein Maul, da ich ein Wolf bin, weit offen steht. Als Opferstock hat mich Lykos(?) geweiht. Du aber erkundige dich […] V. 1 ἔμβαλε: Die Einladung an den Leser, eine Spende in den Mund des Wolfs zu werfen, entspricht in ihrer Wortwahl den Aufschriften griechischer Opferstöcke; die typische Formel dafür ist ἐμβάλλεϲθαι ἐϲ τὸν θηϲαυρόν; vgl. Kaminski 1991, 72 (mit Nachweisen). Besonders gut vergleichbar ist ein Opferstock im Sarapieion A von Delos (dazu s. Anm. 277), der von einem Untier – vielleicht einer Gorgo – beschützt wurde und ähnlich wie hier dazu auffordert, die Spende durch dessen Schlund in seinen „geräumigen Magen“ einzuwerfen (εἰϲ ἐμὸν εὔδεκτον ϲῶμα διὰ ϲτόματοϲ: IG XI 4, Nr. 1247 = Kaminski 1991, 161 Nr. 3, Z. 10).

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Zu Arsinoë als ‚Herrin der Meere‘ s. Hauben 1983; Barbantani 2004, 140–143; vgl. auch zu den auf Arsinoë umbenannten ptolemäischen Flottenstützpunkten in der Ägäis S. 160, zu 36.

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V. 2 παρθήκην: παρ(α)θήκην bezeichnet etwas, das man bei jemandem hinterlegt; hier ist eine Spende an die Göttin gemeint. — λύκοϲ ὢν: Als Mutter des Apollon Lykeios ist Leto mit dem Wolf verbunden. Aristoteles (hist. an. 6.35.580a) und später Aelian (nat. anim. 10.26) berichten von der Verwandlung der Göttin in einen Wolf; spätere Ausdeutungen (nach Antonius Liberalis 35 kam Leto, von Wölfen geführt, ins lykische Xanthos und hat dem Volk der Lykier seinen Namen gegeben) knüpfen an diesen Zusammenhang an. V. 3 θηϲαυρ[όν: Das Wort ist der seit dem 4. Jh. v. Chr. belegte Terminus für Opferstock, vgl. Kaminski 1991, 68–72. Λύ̣[κοϲ,]: Dass der Name des Spenders mit der Bezeichnung des Weihgegenstandes identisch ist, wie das Austin 2001a mit dieser Ergänzung vorgeschlagen hat, ist zwar nicht zwingend, wäre aber eine schöne Pointe (vgl. u. Anm. 281). V. 4 Der Vers ist bis auf das Eingangswort verloren. Denkbar ist, dass sich der Leser des Epigramms erkundigen soll, wieviel er zu bezahlen hat. Das Epigramm gibt sich als Aufschrift eines Opferstocks (θηϲαυρόϲ) zu erkennen, die sich, wie bei solchen Einrichtungen üblich, mit der Aufforderung zu einer Geldspende an den Besucher des Heiligtums richtet, die Gottheit ausweist, der die Gabe zukommt, und den Stifter nennt.64 Die Sprechersituation ist nicht ungewöhnlich: Der ‚Sprecher‘ des Epigramms, das sich direkt an die Besucher des Heiligtums richtet, ist der geweihte Gegenstand selbst.65 Zusätzlich wird die Gestalt des Opferstocks angesprochen, ein Wolf, der als gleichsam lebendiger Opferstock die Geldspende mit seinem Maul entgegennimmt und dabei die Spender auffordert, sich von seinem offenen Maul nicht abschrecken zu lassen. Das Epigramm ist von eminenter Bedeutung: Es dürfte sich um das erste bislang bekannte seiner Art handeln, das nicht als Inschrift auf einem materiell erhaltenen Opferstock, sondern als literarisches Werk in einer Gedichtsammlung überliefert ist und auch einem Autor zugewiesen werden kann. Opferstöcke befanden sich stets in unmittelbarer Nähe der Kultstätte der Gottheit, der man einen Geldbetrag spendete.66 Ihre Aufschriften dienten nicht zuletzt dazu, den Zweck der Spende – häufig für erwiesene oder erwünschte Hilfeleistungen der Gottheit – anzuführen und bisweilen auch den Tarif zu nennen, der zu entrichten war.67 Auch hier könnte der nicht

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Grundlegend zu griechischen Opferstöcken Kaminski 1991; vgl. ferner zuletzt ThesCRA IV, 123–125 s.v. Thesauros II. Vgl. zu Weihinschriften und -epigrammen in der ‚Ich‘-Form: Lazzarini, M. L. 1973/4: I nomi dei vasi greci nelle iscrizioni dei vasi stessi, ArchClass 25/26: 341–375; ders. 1976: Le formule delle dediche votive nella Grecia arcaica, Memorie, Acc. naz. dei Lincei. Classe di scienze morali, storiche e filologiche, Ser. 8.19, Rom: 47–354; Häusle, H. 1979: ZOOPOIEIN – HYPHISTANAI. Eine Studie der frühgriechischen inschriftlichen Ich-Rede der Gegenstände, in: Muth, R. u. Pfohl, G. (Hg.): Serta Philologica Aenipontana III, Innsbruck (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft); Svenbro, J. 1993: Phrasikleia. An Anthropology of Reading in Ancient Greece, übers. v. J. Lloyd, Ithaca/London [erstmals frz.: Paris 1988]; Baumbach u. a. 2010 mit mehreren Beiträgen; Day, J.W. 2010: Archaic Greek Epigram and Dedication. Representation and Reperformance, Cambridge; und zuletzt, mit weiteren Literaturhinweisen, Stähli 2014. Zu den Standorten von Opferstöcken: Kaminski 1991, 115–120. Kaminski 1991, 70–72.

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mehr zu ergänzende V. 4 dazu aufgefordert haben, bei der Priesterin den fälligen Betrag zu erfragen. Die erhaltenen Dedikationsepigramme auf Opferstöcken sind meist kürzer als 40, können aber auch beträchtlich länger sein.68 Die Opferstöcke sind aus Stein, Bronze oder Holz gefertigt; erhalten haben sich vorwiegend steinerne. Man wird auch hier an einen steinernen Opferstock denken wollen, ein mobiler Opferstock aus anderem Material ist jedoch nicht auszuschließen.69 In der Regel waren die Opferstöcke von kubischer oder zylindrischer Form und nahmen in ihrem Innern die Münzen auf, die durch eine kleine Öffnung von oben oder auch von der Seite eingeworfen wurden; ein seitlicher oder rückwärtiger Verschluss oder ein Türchen erlaubte die Entnahme des Geldes. Gelegentlich besaßen sie figürliche Aufsätze oder Attaschen, häufig Tiere als Schatzwächter, die dann – wie hier – zugleich den Einwurfschlitz für das Geld aufnahmen; mehrfach nachgewiesen sind Schlangen; ein Wolf hingegen bisher nicht.70 Der Wolf, den man sich als – vielleicht bronzene – Statuette oder Protomenattasche vorstellen muss,71 ist sowohl als Wächter des Geldschatzes wie auch in Bezug auf Leto eine naheliegende Wahl. Ob es einen engeren Bezug zwischen dem Wolf und dem Stifter gibt, dessen schlecht überlieferter Name von den Erstherausgebern zu Lykos ergänzt worden ist, muss offen bleiben. Auch lässt sich der Aufstellungsort der Weihung nicht mehr bestimmen. Man würde zwar gerne an eines der bedeutenderen Apollon-Artemis-Heiligtümer denken, in denen die Ptolemäer besonders aktiv in Erscheinung traten (Delos, Delphi oder Kyrene) oder an das Letoon im lykischen Xanthos, in dem die Wolfssage der Leto ihren nächst Delos wohl prominentesten Ort besaß.72 Im Prinzip kommt aber jede Statue, jeder Altar, Kultschrein oder Tempel der Leto in jedem Heiligtum und auf jedem öffentlichen Platz der griechischen Welt in Frage, wo die Göttin verehrt wurde. Wortwahl und Textformular sprechen dafür, dass es sich um ein Epigramm handelt, das tatsächlich auf einem Opferstock gestanden hat, zugleich aber auch als literarisches Werk verbreitet und tradiert wurde; für die Diskussion, ob hellenistische Epigramme auch als reale Weihinschriften verfasst wurden oder ein rein fiktionales literarisches Genre darstellen, ist das Gedicht damit von größter Bedeutung. 41 Das nur spärlich erhaltene Epigramm, in dem offenbar ein Mann durch eine Schildkröte verletzt wird, die ein Adler auf seinen Kopf fallen lässt, dürfte auf die bekannte Anekdote anspielen, nach welcher der Tragiker Aischylos durch eine herabfallende Schildkröte getötet worden ist. VII 3 ἀετοῦ ἐ[ξ ὀνύ]χ̣ω̣[ν ±11 ] χ̣[ελ]ώ̣νη 1 4 ὑψόθ[εν ±19 κεφα]λὴ 2 68

Opferstock, um 200 v. Chr., in Delos, Sarapieion A, Inv. E 722: Kaminski 1991, 161 Nr. 3 Taf. 33, 1–2. 69 Zu mobilen kleinformatigen Opferstöcken (römischer Zeit) aus Bronze: Kaufmann-Heinimann 1998, 168–180. 70 Kaminski 1991, 91–98. Vgl. die Schlange aus schwarzem Granit mit Einwurfschlitz in ihrem Körper von einem römisch-kaiserzeitlichen Opferstock in Kairo, Ägyptisches Museum, Inv. C.G. 27511: Kaminski 1991, 96 Abb. 8; 168 Nr. 11. 71 Vgl. die Statuette des Opferstocks in Kairo (Anm. 70). 72 Dass der Name auf den eponymen Heros von Lykien anspielt (Lykos) und damit auf eine Weihung in Lykien (gar im Letoon von Xanthos) hindeutet, derjenigen Region, die der Wolfssage der Leto in besonderem Maße verpflichtet ist, wäre denkbar, ist aber schlicht nicht zu beweisen.

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5 ἀνδ[ ±23 ἡ]μ̣ιθανὴϲ δ’ ἐὼν 3 6 ην.[ ±25 ]ϲ̣ 4 7 λαβρ̣.[ ±25 ]νηϲ 5 8 οϲτ̣[ ±25 ].οϲ. 6 3– 4 ἀετοῦ ἐ[ξ ὀνύ]χ̣ω̣[ν ἔπεϲεν βριθεῖα] χ̣[ελ]ώ̣νη | ὑψόθ[εν· ἐβλάφθη δ’ εἰϲ μέϲον ἡ κεφα]λὴ e.g. ed. pr., min.  5 Ἀνδ[ρομένουϲ ed. min.  7 χελώ]νηϲ ed. pr., min.  8 ὄϲτ̣[ρακον Ἀνδρομένηϲ ὧδ’ ἀνέθηκε ϲ]ό̣οϲ e.g. ed. min. (v. iam ed. pr.)

Aus den Krallen eines Adlers […] eine Schildkröte von oben […] der Kopf (den Mann?) […] da/obwohl er halbtot war […] (heftig?) […] (Scherbe?) […] V. 1 f. Die Verse sind zwar zu zerstört, als dass der verlorene Text sicher rekonstruiert werden könnte. Austins Ergänzung der beiden Verse (ἀετοῦ ἐ[ξ ὀνύ]χ̣ω̣[ν ἔπεϲεν βριθεῖα] χ̣[ελ]ώ̣νη /ὑψόθ[εν· ἐβλάφθη δ’ εἰϲ μέϲον ἡ κεφα]λὴ, Übers. s. Rekonstruktionsvorschlag) dürfte den Sinn jedoch treffen: Die ersten Worte des Epigramms scheinen mit dem Beginn von Aischylos’ Grabinschrift identisch zu sein (TrGF 3, test. A1, Z. 67 Radt: αἰετοῦ ἐξ ὀνύχων βρέγμα τυπεὶϲ ἔθανον). Die wenigen erhaltenen Überreste legen daher nahe, dass in dem Epigramm auf die Anekdote über Aischylosʼ Tod angespielt wird (test. A1, Z. 36–39 Radt, und test. M, Z. 96–99 Radt). V. 3 ἀνδ[: Das von Austin exempli gratia vorgeschlagene Ἀνδ[ρομένουϲ setzt voraus, dass hier in einem von κεφα]λὴ (V. 2) abhängigen Genitiv der Name desjenigen gestanden hat, auf dessen Kopf – ähnlich wie im Fall des Aischylos – eine Schildkröte gefallen ist. V. 5 λαβρ̣.[: Die Buchstaben könnten zu einer Form von λάβροϲ ‚heftig‘, ‚gewaltig‘ gehören. V. 6 ὄϲτ[: Die am Anfang des letzten Verses erhaltenen Buchstaben sind mit großer Sicherheit der Beginn von ὄϲτρακον. Da das Epigramm offenbar die Anekdote über Aischylosʼ Tod aufgreift, ist hier allerdings nicht an eine Scherbe, sondern an den Panzer einer Schildkröte zu denken, vgl. h. Merc. 33 (πόθεν τόδε καλὸν ἄθυρμα αἰόλον ὄϲτρακον ἕϲϲο χέλυϲ ὄρεϲι ζώουϲα; – „woher hast du diesen schönen Schmuck, die schillernde Schale, du Schildkröte, die in den Bergen lebt?“). — ].οϲ.: könnte das Ende von ϲ]ό̣οϲ (‚unversehrt‘) sein. Austin hat den Vers exempli gratia wie folgt ergänzt: ὄϲτ̣[ρακον Ἀνδρομένηϲ ὧδ’ ἀνέθηκε ϲ]ό̣οϲ („having recovered, Andromenes here dedicated the shell of the tortoise“). Mit der Ergänzung von ϲόοϲ würde das Epigramm am Ende von V. 6 pointiert schließen.

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Rekonstruktionsvorschlag ἀετοῦ ἐ[ξ ὀνύ]χω[ν ἔπεϲεν βριθεῖα] χ[ελ]ώνη ὑψόθ[εν· ἐβλάφθη δ’ εἰϲ μέϲον ἡ κεφα]λὴ Ἀνδ[ρομένουϲ vv- ἡ]μιθανὴϲ δ’ ἐὼν ην.[ ±25 ]ϲ λαβρ.[ ±25 χελώ]νηϲ ὄϲτ[ρακον Ἀνδρομένηϲ ὧδ’ ἀνέθηκε ϲ]όοϲ Aus den Krallen eines Adlers fiel eine schwere Schildkröte von hoch oben herab. In der Mitte verletzt wurde der Kopf des Andromenes […] und da/obwohl er halbtot war […] (heftig?) […] hat Andromenes den Panzer der Schildkröte, als er ‚wieder‘ gesund war, hier geweiht. Das Gedicht spielt offensichtlich auf eine seit dem 3. Jh. v. Chr. belegte Anekdote aus der Kategorie der merkwürdigen Todesfälle berühmter Personen an: Demnach ist der Tragiker Aischylos durch eine Schildkröte zu Tode gekommen, die ein Adler auf seinen Kopf fallen ließ – im Glauben, die Glatze des Dichters sei ein Felsen, auf dem der Panzer der Schildkröte aufbrechen und so ihr Fleisch freigeben würde.73 Die mehrfach bezeugte Geschichte74 muss Poseidipp bekannt gewesen sein. Die ersten Worte des Epigramms stimmen mit dem Anfang des Pentameters überein, der angeblich auf der Grabstele des Aischylos gestanden hat (s. Komm. zu V. 1). Dass der in 41 von der Schildkröte Getroffene ein anderer ist als Aischylos, darf als sicher gelten (vgl. auch den Ergänzungsvorschlag zu V. 3); um wen es sich handelt, lässt sich aus dem erhaltenen Resten des Textes aber nicht erschließen. Es wäre eine besondere Pointe, wenn auch in dem Epigramm ein Dichter von einer Schildkröte getroffen würde, jenem Tier, aus dem nach dem homerischen Hermes-Hymnus (V. 25–55) die Lyra entstanden ist.75 Inwieweit das Epigramm auch auf den Hermes-Hymnus anspielt, lässt sich zwar nicht mehr sagen. Da der noch ahnungslose kleine Hermes dort den Panzer der Schildkröte als ὄϲτρακον bezeichnet (s. Komm. zu V. 6) und das am Anfang von V. 6 erhaltene ὀϲτ̣[ mit hoher Wahrscheinlichkeit zu ὄϲτρακον zu ergänzen ist, könnte eine entsprechende Assoziation jedoch naheliegen. Obwohl der Schluss des Gedichts schlecht erhalten ist, spricht viel dafür, dass 73 74

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Zu der Technik des Adlers, einen Schildkrötenkörper durch Wurf aufzubrechen, s. Ael. nat. anim. 7.16 und Plin. nat. hist. 10.7. Vgl. auch Arnott 2003, 38– 42. Das früheste Zeugnis sind die von Stobaios Flor. 98.9 erwähnten Sotadeen des Sotades (3. Jh.v. Chr.), s. [Sotades] fr. 15.12 Powell – falls die Zuweisung richtig ist. Ansonsten ist die Anekdote erst durch spätere Quellen und in leicht verschiedenen Varianten bezeugt: Erwähnt wird sie in der Vita Aeschyli 10, bei Plinius nat. 10.3.7, Valerius Maximus 9.12, Aelian nat. anim. 7.16, und in der Suda αι 357 Adler (vgl. Aischylos test. A1, Z. 36–39 Radt, und test. M, Z. 96–99 Radt). Auch die Tatsache, dass Aristophanes die Episode in den Fröschen unerwähnt und damit ungenutzt lässt, scheint zunächst einmal dafür zu sprechen, dass es sich um eine spätere Erfindung handelt. Allerdings ist kaum denkbar, dass die Anekdote erst aus Poseidipps Worten ‚herausgesponnen‘ wurde. Vielmehr muss sie Poseidipp, der darauf anspielt, bereits bekannt gewesen sein. Ob sie bereits zu Zeiten Demokrits in Umlauf war, wie Radt (Aischylos test. M, S. 64 f.) mit Blick auf ein bei Simplicius angeführtes Zitat des Demokrit (Simpl. in Aristot. phys. 2.4 = 68 A 68 Diels-Kranz) erwägt, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Zu den Quellen und zum Motiv des gewaltsamen Todes von Dichtern vgl. die ausführliche Untersuchung von Arnott 2003. Ähnlich schon Stephens 2004a, 172.

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der hier von der Schildkröte Getroffene – anders als Aischylos – den Unfall überlebte und das ὄϲτρακον, den auseinandergebrochenen Panzer der Schildkröte, aus Dankbarkeit für seine Rettung geweiht hat; am ehesten käme demnach die Stiftung in das Heiligtum einer Heilgottheit in Frage.76 Dass der Weihgegenstand erst im letzten Vers genannt wird, entspräche dem auch aus den Epigrammen 36–38 bekannten Schema. Da aus dem Erhaltenen nicht hervorgeht, wem der Schildkrötenpanzer geweiht ist, lässt sich nicht mehr feststellen, ob der für die Epigramme 36–39 zentrale Bezug zum ptolemäischen Königshaus auch in diesem Epigramm gegeben war.

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In der Tat hat es vergleichbare Weihungen für wundersame Heilungen oder Rettungen gegeben: Eine kaiserzeitliche Skulptur im Museum von Beirut wurde dem Sarapis von einem Mann als Dank für die Heilung seines Fußes geweiht und zeigt einen fliegenden Adler, der einen Fuß, beschriftet mit dem Hexameter der Inschrift, herbeiträgt (vgl. SGO IV, 290 f. mit Abb.).

Epitymbia1 Grabepigramme gehören, zusammen mit den Weihepigrammen, zu den ältesten epigrammatischen Subgenres. Während sie in archaischer Zeit überwiegend in hexametrischen Einzeilern verfasst wurden, wird ab etwa Mitte des 6. Jh.s v. Chr. zunehmend das elegische Distichon (in dem auch Poseidipp seine ἐπιτύμβια verfassen wird) benutzt, das ab dem 5. Jh. v. Chr. für alle Epigramme zur Regel wird.2 Die Entwicklung und Ausbreitung der Epigrammproduktion zeigt geographisch große Unterschiede. In klassischer Zeit, bis zum Ende des 5. Jh.s v. Chr., war das Grabepigramm besonders in Attika zu Hause (mehr als 100 der insg. 175 für den ganzen griechischsprachigen Raum bezeugten Grabepigramme dieser Zeit stammen aus Attika). Auch Thessalien weist zwischen dem 8.–5. Jh. v. Chr. eine gegenüber anderen Gegenden verhältnismäßig bemerkenswerte, auch literarisch anspruchsvolle Epigrammproduktion auf (vgl. die Grabepigramme im CEG I 116–126, und die Weihepigramme, ebd. 341–343). Demgegenüber sind im makedonischen Raum die ersten Grabepigramme erst für das 4. Jh. v. Chr. inschriftlich nachweisbar (CEG II 719–726). Eine Epigrammproduktion, die mit derjenigen Attikas oder Thessaliens vergleichbar wäre, lässt sich aber auch im 4. Jh. v. Chr. nur sehr vereinzelt finden. Nur aus Böotien sind für diese Zeit immerhin zwei Dutzend Epigramme erhalten (CEG I 109–115: Grabepigramme; 326–340: Weihepigramme; 444 – 448: Epigramme auf Vasen). In allen anderen Regionen ist die nachweisbare Produktion deutlich schwächer.3 Aus Naxos und Thasos sind jeweils zwischen fünf und zehn Epigramme bekannt (CEG I 150–151: Grabepigramme, 401– 405: Weihepigramme [Naxos]; 157–162: Grabepigramme, 415– 417: Weihepigramme [Thasos]). Etwas unerwartet dürfte der Befund sein, dass aus Lakedaimon etwa ein ganzes Dutzend Weihepigramme stammt (CEG I 367–378), während Grabepigramme teilweise wegen der dortigen Gesetzgebung völlig fehlen. Der Grund ist, dass gemäß der Lykurgischen Gesetzgebung in Lakedaimon nur die Männer, die im Krieg gefallen waren, und die Frauen, die während ihres Dienstes als Priesterinnen starben, ihre Namen auf Stelen einmeißeln lassen durften.4 Es ist jedoch bemerkenswert, dass die ungleiche Verbreitung des epigrammatischen Genres mit dem Bild übereinstimmt, wie es sich aus den frühesten epigrammatischen Sammlungen ergibt: Die ältesten antiken epigrammatischen Sammlungen – die attischen (Epigrammata Attika) und die thebanischen Epigramme (Epigrammata Thebaika) – versammeln Texte

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Die Erstherausgeber teilen im Vorwort mit, dass ein großer Teil der Kommentare zu den Epitymbia von Giovanni Benedetto stammt: „Giovanni Benedetto si è assunto l’onere di preparare il commento di una quindicina di epigrammi inseriti nella sezione del rotolo contenente epitaffi.“ Es handelt sich um die Epigramme 45– 47, 49–50, 53–61. Die wichtigsten Sammlungen, die inschriftlichen Grabepigrammen gewidmet sind oder sie einschließen, sind (neben CEG I u. CEG II) GV; GG; SGO I–V. Einen ausgezeichneten Überblick über die ältere Forschung zu griechischen Grabepigrammen gibt Pfohl 1964, 27–36. Wichtige Arbeiten zur Grabdichtung: Griessmair 1966; Di Tillio 1969; Clairmont 1970; Pfohl 1972; Lorenz 1976; Pfohl 1983; Day 1989; Ecker 1990; Bruss 2000. Tsagalis 2008 ist die anspruchsvollste neuere Studie zu Grabversinschriften generell, auch wenn sie primär den attischen Grabepigrammen des 4. Jh.s v. Chr. gilt. Zur Verbreitung des elegischen Distichons in der Mitte des 6. Jh.s v. Chr. anstelle des bis dahin in Versinschriften dominierenden Hexameters s. Wallace 1984. Einen guten Überblick über die Literatur zu inschriftlichen Epitymbia hellenistischer Zeit findet man bei Cairon 2009 und Wypustek 2013. Zu thessalischen Grabepigrammen s. Lorenz 1976; zu böotischen s. Peek 1937; Fraser/Rönne 1957. Vgl. Plut. Lyk. 27.2 u. Plut. mor. 238d.

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Epitymbia 

aus genau den Gegenden, aus denen uns auch heute noch die meisten Texte dieses Genres überliefert sind.5 Der titulus der im Mailänder Papyrus versammelten Grabepigramme beruht auf einer Ergänzung; er greift den Titel auf, mit dem das siebte Buch der Anthologia Palatina überschrieben ist. Ebensogut als Titel derartiger epigrammatischer Sammlungen ist aber auch ἐπιτάφια bezeugt.6 Mit ihren insg. 20 Epigrammen (42–61) in drei Kolumnen (coll. VII 9–X 6) stellt die Sektion der Epitymbia den zweitlängsten Abschnitt innerhalb der Sammlung dar. Eingerahmt wird sie von einer Gruppe Weihepigramme (Anathematika), einem sehr traditionellen epigrammatischen Subgenre, und den sogenannten Statuenepigrammen (Andriantopoiika), einem post-klassischen epigrammatischen Subgenre.7 Die Qualität der Gedichte, die in die Sektion der Epitymbia aufgenommen wurden, ist – darin ist sich die Forschung weitgehend einig – sehr uneinheitlich.8 Die unterschiedliche literarische Qualität lässt sich jedoch auch als ein bewusster Tribut an den Realismus deuten, gewissermaßen als die Inszenierung einer Begegnung des Lesers mit der realen Vielfalt an Grabgedichten unterschiedlichster Provenienz: Die Gedichte sollen möglicherweise einen so realistischen Eindruck erwecken, dass der Leser glauben könnte, die verschiedenen Grabsteine, auf denen sie zu lesen sind, direkt vor sich zu haben. So als befände er sich auf einem tatsächlichen Friedhof, begegnet der Leser einem qualitativ vielfältigen Spektrum an Gedichten unterschiedlichster Qualität: Neben literarisch Anspruchsvollem finden sich bescheidene Verse. Stützen ließe sich diese Vermutung dadurch, dass diese Variabilität nicht nur auf formal-stilistischer, sondern auch auf inhaltlicher Ebene in Szene gesetzt wird: In den Epitymbia begegnet man unter anderem Sklaven, jungen Mädchen sowie alten Frauen und zwei alten Männern. Dass die Epitymbia des Mailänder Papyrus gerade diese Schichten der Gesellschaft in den Blick nehmen, korrespondiert mit dem Bild, das die Epigramme des Leonidas von Tarent entwerfen. Auch Leonidas’ Epigramme gelten einfachen Menschen: Weberinnen, Fischern, Tischlern und so fort.9 Auf der anderen Seite ist es nicht erstaunlich, dass 17 der 20 Epitymbia verstorbenen Frauen gelten. Dieses Bild fügt sich gut in die prominente Rolle, die Frauen in der gesamten Sammlung der Epigramme beigemessen wird.10 Nicht nur in den Lithika und in den überwiegend an Arsinoë II. gerichteten Anathematika erfahren gerade Frauen eine herausragende Würdigung; auch in den Hippika, die die Leistung ptolemäischer Königinnen und – innerhalb der Pfer-

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Dazu s. Petrovic 2007, 93–95. Dabei muss betont werden, dass unser Wissen über die Sammlung thebanischer Epigramme (FHG III test. 1–3 [dazu s. Radtke 1901] und BNJ 22 allerdings ohne test. 1d.) zwar sehr begrenzt ist, aber dass sie anscheinend überwiegend Epigramme fiktiven Charakters umfasst hat. Philochoros’ Sammlung der attischen Epigramme (FGrHist 328 test. 1) scheint dagegen echte Versinschriften umfasst zu haben. Darüber, ob die beiden anderen bekannten Sammlungen inschriftlicher Epigramme auch Grabepigramme eingeschlossen haben oder nicht, lässt sich nur spekulieren: Neoptolemos von Parion (3. Jh. v. Chr., FGrHist 702 fr. 1) „Über Epigramme aus Chalkedon“ und Polemon Periegetes (2. Jh. v. Chr., FHG III test. 79–80) „Über Epigramme nach Städten“. Garulli 2004a, 169 verweist außerdem auf ἐπιτυμβίδια; zur Frage des Titels s. auch Di Nino 2010, 285. Dazu s. Kosmetatou 2004b. Zur uneinheitlichen Qualität der Epigramme der Sammlung allgemein s. Lloyd-Jones 2003a u. Nisetich 2005. Zur Vielfalt an implizierten oder real existierenden Kontexten sowie zum Anspruch auf Originalität und Bewusstheit der vorhandenen Tradition vgl. die ausgezeichnete Diskussion von Garulli 2004b, 43– 45. Vgl. Höschele 2010, 173. Dazu Austin 2001a, 157; Dignas 2004, 179–180.

Andrej Petrovic – Bernd Seidensticker – Francesca Angiò – Silvio Bär

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dewelt – von Stuten besonders hervorheben, wird das weibliche Geschlecht in besonderer Weise gewürdigt. Dabei lassen sich die Frauen, die in den Epitymbia eine Rolle spielen, noch einmal in bestimmte Untergruppen einteilen. Die ersten drei Gedichte sind Frauen gewidmet, die (offensichtlich) in einen Mysterienkult eingeweiht waren (42: Hekate?; 43: Triptolemos – möglicherweise in Eleusis; 44: Dionysos). Die anschließenden vier Grabgedichte (45– 48) lassen sich in zwei Paare mit ähnlicher Struktur aufteilen: einem Grabepigramm für eine freie, alt gewordene Frau (45; 47) folgt jeweils ein Epigramm für eine Dienerin bzw. Sklavin (46; 48). Die darauf folgenden sieben Gedichte widmen sich zu früh verstorbenen Frauen (ἄωροι), die entweder als κόραι oder als παρθένοι gekennzeichnet sind (49–51; 53–55), bzw. adressieren neben dem Toten eine Parthenos (52). Die Gedichte 56 und 57 beschäftigen sich mit Frauen, die in Geburtswehen verstorben sind. Die letzten beiden der Frauen gewidmeten Grabepigramme (58–59) machen Frauen zum Thema, die ein relativ langes und recht glückliches Leben gehabt haben und bereits zu ihren Lebenszeiten die Versprechen der Mysterienkulte erfüllt sehen konnten. Das Ende der Sektion schließlich gilt mit zwei Grabgedichten Männern, die ein seliges Leben gehabt haben (60–61). In einem gewissen Sinne spiegeln diese beiden Grabepigramme die beiden ihnen vorausgehenden Gedichte (58–59) wider: Selbst wenn man von dem Namensspiel in 59 und 60 (Menestrate – Mnesistratos) absieht, lassen sich thematische Überschneidungen leicht erkennen (z. B. das Motiv der zwei Generationen, die der/die Verstorbene erleben durfte, oder das Motiv eines ‚leichten‘ Todes nach einem erfüllten Leben). Die auffällig geringe Zahl an Grabepigrammen für Männer wird unterschiedlich erklärt: Tueller unterstellt dem Dichter den Versuch, sich als eine weibliche Stimme zu präsentieren.11 Tuellers Beobachtung ließe sich eventuell durch die oben erwähnte Beobachtung stützen, dass es dem Dichter, indem er die stilistische Einheitlichkeit seiner Texte unterläuft und den Leser bewusst in die Irre führt, darum zu tun ist, seine Identität als Produzent des Textes aufzulösen und hinter seinem Text zu verschwinden. Möglich wäre aber auch, dass die gesamte Sammlung an eine weibliche Adressatin gerichtet ist und diesem Umstand auch thematisch Rechnung trägt12, oder aber dass der Dichter durch die ungewöhnliche Hervorhebung des weiblichen Geschlechts einen besonderen Anspruch auf Originalität erhebt: Soweit sich dies feststellen lässt, rückt keine andere Sammlung von Grabepigrammen die Frauen unter den Verstorbenen so sehr in den Vordergrund, wie das im Mailänder Papyrus der Fall ist. Zwingend sind diese Erklärungsversuche jedoch nicht. Auch wenn sich die genannten Vorschläge nicht von der Hand weisen lassen, so lässt sich doch nicht ausschließen, dass die in diesem Abschnitt der Sammlung vorliegende Gewichtung ganz einfach nur die Befunde widerspiegeln, wie sie auch historisch bei den Grabepigrammen in Makedonien nachzuweisen sind: Zwar sind paläodemographisch basierte Überlegungen nicht immer zuverlässig; die Annahme, dass Pella und die Städte Makedoniens gegen Ende des 4. Jh.s v. Chr. eine große Zahl an Männern verloren haben, die im Dienste Alexanders und der Diadochen ums Leben gekommen waren und daher anders als ihre Gattinnen außerhalb von Makedonien begraben worden sind (so ein Vorschlag von I. Petrovic, mdl.), liegt jedoch nahe. Die Tatsache, dass in den ersten drei Epigrammen auch die Berufe der Frauen verzeichnet sind, entspricht den epigrammatischen 11 12

Tueller 2008: „Preponderance of female sepulchral epigrams among the epitymbia of the Milan Posidippus could well have been evaluated as to how genuinely feminine a voice Posidippus may (or may not) have found.“ Bing (2005, 271) hält es für möglich, dass die gesamte Sammlung eine weibliche Adressatin hat: „We may even contemplate a collection shaped to the interests of a Ptolemaic queen or to one in her service.“

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Epitymbia 42

Darstellungen von Frauen im Attika des 4. vorchristlichen Jahrhunderts, in denen ebenfalls die berufliche Beschäftigung der verstorbenen Frauen erwähnt wird.13 42 Das erste Epitymbion preist eine Frau wegen ihrer Nachkommenschaft. VII

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ηεκατ[ ± 26 ].ων κεῖτα̣[ι ± 18 ].[…..].[ ϲῶϲ ἔτι κ̣[ ± 11 ]η̣ϲιη ἐκδ.[…]ω̣ν γνήϲιον ἀμφοτέρω̣ν̣ αἷμ’, ἀγαθὴ γε̣ν̣ε̣ή̣.

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10 ἡ Ἑκάτ[ηϲ πρόπολοϲ vel ἡ ἑκατ[ονταέτιϲ e.g. ed. min.  11–12 ὁ γὰρ οἶκοϲ | ϲῶϲ ἔτι κ̣[αὶ κληδὼν e.g. Austin 2001b  12 διπλ]η̣ϲίη ed. pr., min.  εγδ.[ P : ἐκ δύ̣[ω υἱ]ῶ̣ν ed. pr., min. : ]η̣ϲίη· ἐκ δ[ὲ τοκή]ω̣ν vel γονή]ω̣ν Lapini 2007

(Hekate?) […] liegt […] sicher noch […] legitimes Blut von beiden, eine gute Nachkommenschaft. V. 1 ηεκατ[: Die meisten Editoren und Kommentatoren ergänzen ἡ Ἑκάτ[ηϲ πρόπολοϲ] (‚Dienerin der Hekate‘); erwogen worden sind aber auch ἑκατονταέτιϲ oder ἑκατόν ‚ἐνιαυτοὺϲ‘ (‚hundertjährig‘) o. ä. (ed. pr.; Dignas 2004, 181). Möglich ist schließlich auch: ἡ Ἑκατ[αίη: Der Frauenname Hekataie ist mehrfach bezeugt: auf Chios und Kos (in hellenistischer Zeit) sowie in Nordgriechenland und auf Thasos (überwiegend erst in der Kaiserzeit); in Makedonien ist der Name Hekataie seit dem 4. Jh. v. Chr. bekannt (vgl. LGPN IV 115 [Amphipolis u. Apollonia-Sozopolis]). Die Annahme, dass es sich bei der bestatteten Person (s. u. zu κεῖται) um eine Frau handelt, wird dadurch nahegelegt, dass es üblicherweise Frauen sind, die in Grabepigrammen wegen ihrer Nachkommenschaft gerühmt werden (vgl. V. 4), sie kann dadurch gestützt werden, dass sich der erste Buchstabe als weiblicher Artikel (Nom. Sg. Fem.) interpretieren lässt. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass der erste Buchstabe als Partikel ἦ (‚wahrlich‘) zu fassen ist, da diese Partikel wiederholt am Anfang von Epigrammen zu finden ist (vgl. AP 7.84.1, 464.1, 629.1). Hier könnte die Partikel bekräftigend zu der Betonung des hohen Alters der Toten treten. Für die Ergänzung ἡ Ἑκάτ[ηϲ πρόπολοϲ] spricht, dass auch die beiden folgenden Epigramme die bestatteten Frauen als Initiandin der Demeter (43) bzw. Dienerin des Dionysos (44) vorstellen. Mysterien der Hekate sind für Ägina (Paus. 2.30.2) und für Samothrake (Aristot. mir. 173, Suda s.v. Samothrake) bezeugt. In Erwägung ziehen ließe sich aber auch, dass es sich bei der Verstorbenen – wie in 43 – um eine Eleusinische Mystin gehandelt hat: Hekate spielte in den Eleusinischen Mysterien eine wichtige Rolle; sie diente möglicherweise als Anführerin der Initianden (zu ihrer Rolle und den damit verbundenen Problemen vgl. Parker, R. 2005: Polytheism and Society at Athens, Oxford, 340 f.) und ist

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Tsagalis (2008, 316–317) nennt vier derartige Epigramme, eines davon für eine Priesterin, zwei für Ammen und ein viertes für eine Hebamme.

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zudem selbst als propolos der Demeter bekannt, cf. Johnston, Sarah Iles 1999: Restless Dead: Encounters Between the Living and the Dead in Ancient Greece, Berkeley: 18 u. 144 f. V. 2 κεῖτα[ι: Der Gebrauch dieses Wortes am Anfang eines Pentameters ist seit dem 4. Jh. v. Chr. häufig belegt; in den Epigrammen, die aus zwei Distichen bestehen, folgt gelegentlich der Name des Verstorbenen (vgl. z. B. CEG 474, Attika, 4. Jh. v. Chr.: κεῖται Ἀθηνοκλῆϲ ἐνθάδε ἀνὴρ ἀγαθόϲ) sowie eine kurze Würdigung des Genannten im zweiten Distichon. In der zweiten Pentameterhälfte erwartet man zudem einen Hinweis auf die Grabstätte wie z. B. τῶιδ’ ὑπὸ τύμβωι. V. 3 ϲῶϲ ἔτι κ[  ±11  ]ηϲιη ἐκ δ.[…]ων: Die Erstherausgeber vermuten, dass im 2. Distichon von den Angehörigen der Toten die Rede ist; ϲῶϲ (‚sicher‘, ‚wohlbehalten‘, ‚unversehrt‘, ‚am Leben‘) könnte den in V. 2 zu ergänzenden Ehemann als ‚wohlbehalten‘, ‚noch am Leben‘ (ed. pr.) bezeichnen, und mit καὶ würde etwas zweites angeschlossen, das unversehrt ist. Austins Vorschlag ὁ γὰρ οἶκοϲ / ϲῶϲ ἔτι καὶ κληδὼν ergibt einen guten Sinn. Es ist aber auch denkbar, dass mit V. 3 ein neuer Satz beginnt, und das καὶ als ‚auch‘ zu verstehen ist. Der Rest des Verses ist sehr schlecht erhalten. Wenn die ganz unsichere Ergänzung διπληϲίη korrekt ist, könnte das Adjektiv die Nachkommenschaft (γενεὴ, V. 4) der Toten als ‚doppelt‘ bezeichnen (ed. pr.) oder den Ruhm (κληδὼν) des Hauses (ed. min.). In der zweiten Hälfte des Verses könnte διπληϲίη ἐκ δύο ὑιῶν gestanden haben (Lapinis alternative Vorschläge scheinen zu lang für die Lücke zu sein). Vor διπληϲίη hat Austin καὶ κληδὼν ergänzt (‚der doppelte Ruhm, den das Haus wegen der beiden Söhne genießt‘). Besser als die nicht belegte Junktur διπληϲίη κληδὼν ist aber wohl διπληϲίη τιμή (vgl. McCabe, D.F./Brownson, J.V. 1986: Chios Inscriptions. Texts and Lists, Princeton: 23; Jeffery, L.H. 1956: The Courts of Justice in Archaic Chios, ABSA 51: 157–167, A1.l.8): ‚die doppelte Ehrenbezeugung ‚von Seiten der beiden Söhne‘.‘ V. 4 γνήϲιον … αἷμ’: Das Adjektiv bezeichnet die legitime Herkunft. Die Blutsverwandtschaft spielte in den Bestattungsrechten eine wesentliche Rolle: Söhne, die mit ihrer Mutter verwandt, d. h. keine Adoptivsöhne waren, durften im selben Grab bestattet werden. Als eine identische Parallele im Epigramm verweisen die Erstherausgeber auf AP 9.447.3; vgl. auch die Inschrift I.Iznik 195, 16–17, (2./3. Jh. n. Chr.): [ἢν δ]ή τιϲ ἆρα γνηϲίων ἀφ’ αἵματοϲ / [θάπ]τειν θελήϲῃ, τοῦτο ϲυγχωρεῖ νόμοϲ („wenn jemand von den Blutsverwandten die Bestattung vornehmen möchte, so erlaubt dies das Gesetz“). Der letzte Vers preist in einer syntaktisch locker angeschlossenen Apposition die in V. 3 genannten Söhne als eheliche und tüchtige Nachkommenschaft und ehrt damit die Tote, deren Grab mit dem Epigramm geschmückt ist. Rekonstruktionsvorschlag ἡ Ἑκάτ[ηϲ πρόπολοϲ] κεῖτα[ι ϲῶϲ ἔτι κ[αὶ τιμὴ διπλ]ηϲίη ἐκ δ[ύο υἱ]ῶν, γνήϲιον ἀμφοτέρων αἷμ’, ἀγαθὴ γενεή.

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Epitymbia 43

Die Dienerin der Hekate […] liegt hier bestattet […] sicher noch ist ihr auch die doppelte Ehrung von Seiten der beiden Söhne, beide legitim geboren, eine tüchtige Nachkommenschaft. Das Gedicht ist sehr fragmentarisch erhalten. Es kann nicht einmal als ganz sicher gelten, dass es sich um das Grabepigramm für eine Frau handelt (die erste von den 17 Frauen, denen sich die Epitymbia widmen). Für die plausible Ergänzung am Anfang von V. 1 gibt es Alternativen, und auch aus der Erwähnung von Kindern (und der vermutlich von ihnen ausgeführten Grabrituale) ergibt sich das Geschlecht der verstorbenen Person nicht zwingend. Denn diese Motive finden sich auch in den beiden einzigen Epigrammen für Männer (60; 61). Sogar die Verbindung der Verstorbenen mit Hekate, so wahrscheinlich sie auch ist, bleibt letztlich eine Hypothese. Daher ist es schwierig zu erkennen, ob bzw. inwiefern das erste Epitymbion als programmatisches Gedicht aufzufassen ist. 43 Grabepigramm für Nikostrate, die in die Mysterien der Demeter und Kore eingeweiht war. VII

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ἦλθεν ἐπ’ εὐϲεβέων Νικοϲτράτη ἱερὰ μυ̣ϲ̣τῶν ὄργια καὶ καθαρὸν πῦ̣ρ ἐπὶ Τριπτολέ̣[μου, ἣν αψηφ̣..[.….]… Ῥαδαμάνθυοϲ [ Αἰακὸϲ ε[……]. δῶ̣μ̣α̣ πύ̣λα̣ϲ̣ τ̣ε̣[ τ̣έκνων̣ [……]ιδο̣ῦ̣ϲαν· ἀεὶ δ̣’ ἁπα[λώτερο]ϲ̣ οὕτω ἀνθρώπ̣[οιϲ ….]ο̣ῦ γήραόϲ ἐϲτι λιμή[ν.

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15 ἔπι Livrea 2002  Τριπτόλε̣[μον Ferrari 2005  16 ἂψ ἡ φ̣ι̣λ̣[ίη τε πά]λ̣α̣ι̣ [ἠδὲ Austin 2001b : ἂψ ἡ φ̣ι̣λ̣[ίη κάτε]χ̣ε̣ν̣ [αὐλή Livrea 2002 : ἂψ ἡ φ̣ι̣λ̣[ίη δέχε]τ̣α̣ι̣ [ἠδὲ vel [ἕδρη De Stefani 2003 : forma quaedam vocum ἄψηφ̣ο̣ϲ̣ vel ἀψήφ̣ι̣ϲ̣[τοϲ Lapini 2003b: ἀψηφ̣ί̣ϲ̣[τωι μεγ]ά̣λ̣ο̣υ̣ Santamaría 2010 : ἀψήφ̣ι̣ϲ̣[τοι βου]λ̣α̣ὶ̣ Ferrari per litt. (μέ]λ̣α̣ν̣ Ferrari 2005)  [αὐλή Livrea 2002 : [αἴϲηι dub. Zanetto 2002 : [ἠδὲ vel [ἕδρη De Stefani 2003  17 ε[ἰϲῆγ’ εἰ]ϲ̣ Austin 2001b : ἔ[ϲχ’ αὐτὴ]ν̣ Livrea 2002: ε[ἰϲ Ἀΐδε]ω̣ Lapini 2003b (def. Ferrari 2005) : ἐ[κπέμπε]ι̣ De Stefani 2003  τ̣{ε̣} [Ἀΐδεω ed. pr., min. : τ̣’ ἐ̣[κάλουν Lapini 2003b (def. Ferrari 2005) : ἐ[κάλει Santamaría 2010  16–17 ἣν ἀψηφ̣ί̣ϲ̣[τωι ὁϲ]ί̣ο̣υ̣ Ῥαδαμάνθυοϲ [ὀμφῆι | Αἰακὸϲ ε[ἰϲ Ἀίδε]ω̣ δῶ̣μ̣α̣ πύ̣λα̣ϲ̣ τ̣’ [ἐκάλει e.g. Bremer 2006  18 [πλῆθοϲ] ἰδο̣ῦ̣ϲαν Austin 2001a. : [τέκν’ ἐπ]ιδο̣ῦ̣ϲαν Zanetto 2002 (def. De Stefani 2003) : [θ’ ἅμματ’] ἰδο̣ῦ̣ϲαν Livrea 2002  19 λυγρ]ο̣ῦ ed. pr., min.

Nikostrate kam zu den heiligen Riten der frommen Mysten und zum reinen Feuer vor Triptolemos sie, die […] des Rhadamanthys […] Aiakos […] Haus und Tore der Kinder […] nachdem sie […] gesehen hatte. Immer […] auf diese Weise den Menschen […] des Alters Hafen. V. 1 f. Die Erstherausgeber sind der Ansicht, dass in den ersten beiden Versen drei Bestimmungen des Ortes genannt sind, an den Nikostrate nach ihrem Tod gelangt ist: zum Land/Haus der

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Frommen (ἐπ’ εὐϲεβέων ‹χώραν oder οἶκον›), zu den heiligen Riten der Mysten und zum reinen Feuer vor Triptolemos. Dagegen spricht aber das Fehlen einer Konjunktion zwischen den ersten beiden Gliedern der Aufzählung. — εὐϲεβέων … μυϲτῶν: Die Junktur εὐϲεβὴϲ μύϲτηϲ ist auch epigraphisch bezeugt, unter anderem auf einem Täfelchen, das wohl aus dem Kontext der Dionysischen Mysterien in Pella stammt und den Namen des Dichters (oder seines Großvaters) trägt: SEG 42.619, Φερϲεφόνηι. Ποϲείδιπποϲ μύϲτηϲ εὐϲεβήϲ (ca. 300 v. Chr.); vgl. Dickie 1995, 81–86. Zur Bedeutung von μύϲτηϲ vgl. Burkert 1985, 276–278) — ἦλθεν ἐπ’… ἱερὰ … ὄργια: Die Sprache ist hier anscheinend von den Versen 473– 478 des homerischen Hymnus an Demeter beeinflusst, wo Demeter den Triptolemos (und andere Heroen) die heiligen (ἱερά) Rituale und Mysterien (ὄργια) lehrt. Hier wird der Tod der Nikostrate offenbar als ein Besuch der ‚heiligen Mysterien‘ geschildert, die im Jenseits gefeiert werden. Eine solche Feier von Mysten schildert auch Aristophanes in den Fröschen (V. 150–160). Das Dasein der Mysten in der Unterwelt wird dabei durchaus als idyllisch dargestellt: sie sammeln sich bei strahlendem Licht und Aulosmusik, „genau wie in Athen“, und feiern in fröhlicher Stimmung; zu den Eleusinischen Mysterien vgl. Graf, F. 1974: Eleusis und die orphische Dichtung Athens in vorhellenistischer Zeit, Berlin; Clinton, K. 1992: Myth and Cult. The Iconography of the Eleusinian Mysteries, Stockholm. — καθαρὸν … Τριπτολέ[μου: Höhepunkt der mystischen Feier ist der Moment, in dem der Myste dem kathartischen Feuer begegnet, dessen Licht er bereits in der Dunkelheit des Telesterions kennengelernt hat. Zur Rolle des Feuers in den Mysterien vgl. Clinton, K. 2004: Epiphany in the Eleusinian Mysteries, ICS 29: 85–109, hier: 89–90; zu den kathartischen Qualitäten des Feuers vgl. Parker, R. 1983: Miasma: pollution and purification in early Greek religion, Oxford: 227; für die Junktur καθαρὸν πῦρ in inschriftlichen Grabepigrammen (der Kaiserzeit) vgl. z. B. IG II² 11140.1: ἐνθάδε Διάλογοϲ καθαρῶι πυρὶ γυῖα καθήραϲ („Hier hat Dialogos im reinen Feuer die Glieder gereinigt …“). — ἐπὶ Τριπτολέ[μου: Die Erstherausgeber ziehen die Präposition zu dem folgenden Genitiv und übersetzen: „puro fuoco davanti a Trittolemo“. Angesichts der Tatsache, dass ἐπὶ in V. 1 die erste Ortsbestimmung regiert, dürfte es hier aber eher als Postposition zu καθαρὸν πῦρ gehören (vgl. Livrea 2002; Dimitrova 2008, 90). Zu Triptolemos vgl. Richardson, N.J. 1974: The Homeric Hymn to Demeter, Oxford: 194 –196; Schwarz, G. 1987: Triptolemos. Ikonographie einer Agrar- und Mysteriengottheit, Graz; dies.: Triptolemos am Nil, in: Böhr, E. u. Martini, W. (Hg.) 1986: Studien zur Mythologie und Vasenmalerei, Mainz: 175–179; dies.: LIMC VII 56–58; zur Rolle des Triptolemos in den Eleusinischen Mysterien vgl. Parker, R. 1996: Athenian Religion, Oxford: 99–101. — Νικοϲτράτη: Die meisten epigraphischen Belege des Namens kommen aus Attika und stammen aus dem Zeitraum zwischen dem 4. und dem 2. Jh. v. Chr. (vgl. z. B. IG II² 839.78; 1524.58; 1536.8). Außerhalb von Attika begegnet man dem Namen verhältnismäßig selten, und wenn, dann stammen die Belege in der Regel aus wesentlich späterer Zeit (z. B. SGLIBulg 241; 6. Jh. n. Chr.). Angesichts dieses Befunds ist es eher unwahrscheinlich, dass Nikostrate nicht in Eleusis, sondern in Alexandria oder an einem anderen Ort in die Mysterien der Demeter eingeweiht worden ist (vgl. ed. pr. 159 f.). V. 3 f. Das zweite Distichon ist sehr schlecht erhalten. Klar ist nur, dass von Rhadamanthys und Aiakos sowie vom Haus des Hades die Rede war; die Ergänzung εἰϲ Ἀΐδεω bzw. Ἀΐδεω vor bzw. nach δῶμα πύλαϲ τε kann als sicher gelten. Die Junktur ε[ἰϲ Ἀΐδε]ω̣ δῶμα gehört zu den häufigsten Motiven/Formeln im hellenistischen und nachhellenistischen Grabepigramm (vgl. z. B. SGO 05/03/05.2; 16/36/99; 16/23/98; 17/17/01); Ἀΐδεω πύλαι erscheint innerhalb der hellenistischen Epitymbia hier zum ersten Mal, obwohl die Verbindung in der vorhellenistischen Literatur mehrfach bezeugt ist (vgl. Hom. Od. 14.156; Aischyl. Ag. 1291; Eur. Hipp. 56 f.: οὐ γὰρ οἶδ’

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Epitymbia 43

ἀνεωιγμέναϲ πύλαϲ / Ἅιδου, φάοϲ δὲ λοίϲθιον βλέπων τόδε;) für die Verbindung δῶμα πύλαϲ τ’ verweisen die Erstherausgeber auf Eur. Hel. 430 f.; ähnliche Wendungen sind in der epitymbischen Dichtung erst in wesentlich späterer Zeit bezeugt; vgl. SGO 16/06/1.22 (Kaiserzeit): θύραι καὶ πρὸϲ Ἀΐδαν ὁδοί. Sehr wahrscheinlich ist auch, dass am Ende von V. 3 ἠδὲ die beiden Unterweltsrichter miteinander verbunden hat. Alle anderen Vorschläge lassen sich nur exempli gratia verstehen. — ἣν αψηφ.̣ .[: Austin (2001b) deutet die Buchstabenfolge als ἣν ἂψ ἡ φι̣ λ̣ [̣ ίη und ergänzt die lesbaren Reste des Distichons zu τε πά]λα ̣ ι̣ ̣ Ῥαδαμάνθυοϲ [ἠδὲ / Αἰακὸϲ ε[ἰϲῆγ’ εἰ]ϲ δῶ μ α πύ λ αϲ τ’ [Αΐδεω] („sie, die die alte Freundschaft mit Rhadamanthys und Aiakos wieder ̣ ̣ ̣ ̣ ̣ zurück zu Haus und Toren des Hades geführt haben“). Es bleibt allerdings unklar, was das für eine alte Freundschaft mit Rhadamanthys sein soll, die Nikostrate zurück in den Hades führt. Kaum vielversprechender sind Vorschläge, die davon ausgehen, dass nach ἣν eine Form des sehr seltenen Adjektivs ἀψήφιϲτοϲ ‚unwillkommen‘ gestanden hat (vgl. LSJ: „not voted for, unwelcome“). Der Vorschlag von Ferrari (2005): ἀψήφι̣ ϲ̣ [̣ τοι βου]λα ̣ ὶ̣ ̣ in Verbindung mit τ’ ἐ[κάλουν am Ende von V. 4 (Lapini 2003b) hieße, dass die unwillkommenen Beschlüsse des Rhadamanthys und Aiakos die Tote in das Haus des Hades gerufen haben. Aber βουλαὶ müsste als poetischer Plural verstanden werden, das Imperfekt ἐκάλουν ergibt keinen rechten Sinn, und es stellt sich die Frage, warum die Totenrichter, die üblicherweise über die Menschen im Hades befinden, hier Nikostrate in die Unterwelt rufen sollten. Bremmers Vorschlag (2006) ἣν ἀψηφί̣ ϲ̣ [̣ τωι ὁϲ]ίου Ῥαδαμάνθυοϲ [ὀμφῆι / Αἰακὸϲ ε[ἰϲ Ἀίδε]ω δῶμ ̣ α ̣ ̣ πύλ̣ α ̣ ϲ̣ ̣ τ’̣ [ἐκάλει („die Aiakos aufgrund des unwillkommenen Spruchs des frommen Rhadamanthys zu Haus und Toren des Hades gerufen hat“) vermeidet nur das erste der beiden Probleme. Vor allem stellt sich – bei allen Vorschlägen mit einer Form von ἀψήφιϲτοϲ – die Frage, warum der Tod der Initiandin Nikostrate so negativ als „unwillkommener Beschluss des Rhadamanthys“ beschrieben sein sollte. V. 5 f. τέκνων [……]ιδοῦϲαν: Es ist schwierig, zwischen den beiden Ergänzungsvorschlägen πλῆθοϲ (Austin in ed. pr.) bzw. τέκνα (Zanetto 2002, 107) zu entscheiden. Sowohl die Fülle an Kindern als auch der Reichtum an Enkelkindern wird in den Grabepigrammen Poseidipps wiederholt als etwas Erstrebenswertes und als Bestandteil eines erfüllten und gelungenen Lebens dargestellt. — ἁπα[: Die Ergänzung der Erstherausgeber ἀεὶ δ’ ἁπα[λώτερο]ϲ οὕτω … λιμή[ν ist naheliegend; ἁπαλόϲ (‚sanft‘, ‚weich‘) wird auch in einem Fragment des Kratinos in Verbindung mit einem Begriff der Seefahrt verwendet (fr. 383 Kassel-Austin: ἁπαλὸϲ εἴϲπλουϲ λιμένοϲ). In epitymbischen Epigrammen findet sich wiederholt die melancholische Idee der letzten Fahrt der Lebensreise; solche Epitymbia sind gelegentlich mit Reliefs von Schiffen, üblicherweise ohne Segel, geschmückt (vgl. SGO 02/06/08; 08/01/33; 09/14/01 mit weiteren Parallelen). Der Hafen steht für den Tod (vgl. u. zu V. 6), während die Schiffe ohne Segel die Botschaft mitteilen, dass es keine weitere Fahrt geben wird. Die Erstherausgeber erklären den Komparativ damit, dass die Überfahrt ins Totenreich für Nikostrate als Mystin sanfter ist als für Nicht-Eingeweihte. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Nikostrates Hafen sanfter ist, weil sie auf eine Fülle an Kindern und Enkelkindern zurückblicken kann (vgl. V. 6). — γήραόϲ ἐϲτι λιμή[ν: ‚Hafen des Alters‘ steht hier metaphorisch für das Jenseits. Der Hafen ist als Metapher für den Tod gut belegt. Am häufigsten begegnet man der Vorstellung als Hafen ohne Ausfahrt bzw. als letzter Landeplatz (vgl. ed. pr. 161). Der Hafen, den das Epigramm Nikostrate in Aussicht stellt, ist allerdings der Hafen der Seligen, der nicht nur den Eleusinischen Mysten versprochen wird; vgl. dazu das Grabepigramm eines Isismysten aus späthellenistischer (?) Zeit, SGO 09/14/01.2: μακάρων δ’ ἔδραμον εἰϲ λιμέναϲ („Sie sind in die Häfen der Seligen eingelaufen“). Innerhalb der Sammlung findet sich ein vergleichbarer Ausdruck in 58.6: εὔπλουϲ ὤχετ’ ἐπ’ εὐϲ[εβέων. — …]οῦ̣ γήραόϲ: Die Erstherausgeber ergänzen λυγρ]οῦ̣ , ‚traurig‘. Inhaltlich passender wäre sicher λιπαρ]οῦ̣ :

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λιπαρόϲ, das in der Bedeutung von ‚gesegnet, behaglich, komfortabel‘ seit Homer mit der Idee eines angenehmen Altwerdens verbunden ist (Od. 4.210–215; 11.136; 19.368; vgl. auch Pind. Nem. 7.99), erscheint als angemessenere Beschreibung für das Alter einer Frau, deren Leben durchaus als vollendet dargestellt wird. Mit 59.5 f. (λιπαροῦ … γήρωϲ) läge auch eine Parallele für die Junktur vor. Die Lücke bietet jedoch, wie es scheint, nur Platz für vier Buchstaben. Rekonstruktionsvorschlag ἦλθεν ἐπ’ εὐϲεβέων Νικοϲτράτη ἱερὰ μυϲτῶν ὄργια καὶ καθαρὸν πῦρ ἔπι Τριπτολέ[μου, ἣν ἀψήφιϲ[τοι βου]λαὶ Ῥαδαμάνθυοϲ [ἠδὲ Αἰακὸϲ ε[ἰϲ Ἀΐδε]ω δῶμα πύλαϲ τ’ ἐ[κάλουν, τέκνων [πλῆθοϲ] ἰδοῦϲαν· ἀεὶ δ’ ἁπα[λώτερο]ϲ οὕτω ἀνθρώπ[οιϲ λυγρ]οῦ γήραόϲ ἐϲτι λιμή[ν. Nikostrate ist zu den heiligen Festen der frommen Mysten gegangen und zum reinen Feuer des Triptolemos, sie, die die unwillkommenen Beschlüsse des Rhadamanthys und Aiakos zum Haus und zu den Toren des Hades riefen, nachdem sie viele Kinder gesehen hatte. Immer ist so für Menschen sanfter der Hafen des jammervollen Alters. Das zweite Epitymbion der Sektion steht im starken Gegensatz zum ersten: es gibt keinen Hinweis auf ein Grab, und während die verstorbene Person in 42 als passiv liegend dargestellt wird (κεῖται), ist Nikostrate im Leben wie im Tod in kontinuierlicher Bewegung: Bereits das erste Wort des Epigramms (ἦλθεν) führt diese Dynamik ein, und auch im Hades ruht Nikostrate nicht etwa, sondern feiert mit anderen Initianden das Mysterienfest. Statt der im Jenseits üblicherweise herrschenden Finsternis, die in Grabgedichten oft hervorgehoben wird, kommt sie zum hellen, heiligen Feuer des Triptolemos. Erst mit dem letzten Wort des Epigramms kommt die mit einer Schiffsmetapher symbolisierte Lebensreise der Nikostrate zum Stillstand. Der mitreisende Leser bewegt sich mit ihr von der Grabstätte fort, wirft einen ersten Blick auf das Jenseitsgeschehen, wird dann zum Zeugen von Rhadamanthys’ Urteil und verlässt Nikostrate schließlich, als sie im ruhigen Hafen des Jenseits angekommen ist. 44 Grabepigramm der jungen Niko, Dienerin des Dionysos. VII

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ἐκ τέκνω̣[ν ….]η̣ν δυοκαίδεκα καὶ .[.….]ϲ̣αν̣ παρθένο̣[ν ἔκλαιο]ν Πέλλ̣[α] καὶ Εὐιάδ̣[εϲ αἶ̣ τρίϲ, ἐπ[ειδὴ Μοῖ]ρα Διωνύϲοιο θερά[πνην Νικὼ Β̣αϲ̣[ϲαρικῶν] ἤγαγε̣ν ἐξ ὀρέων̣.

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20 νεάτ]η̣ν ed. pr., min. (Bremmer 2006) : πρώτ]η̣ν vel ἐνάτ]η̣ν Garulli 2004a : λοιπ]ὴ̣ν Lapini 2007  καὶ ἱ̣ [μερόεϲ]ϲ̣ αν̣ Austin 2001b : καιν̣ [ὰ παθοῦ]ϲ̣αν̣ Handley 2004  22 ἃϲ̣ Ferrari 2005  ἐπ[όρϲαϲ’ ἐφ’ ἱ]ρὰ Ferrari 2005 (ἱ]ρὰ iam Lapini 2002)  θερά[πνη Ferrari 2005

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Epitymbia 44

Von den Kindern […] zwölf und […] die Jungfrau (beweinten) Pella und die Euiaden – ai, dreimal ! – (nachdem Moira) die Dienerin des Dionysos Niko aus den Bassarischen Bergen herabgeführt hatte. V. 1 ἐκ τέκνω[ν ….]ην: Garullis Überlegung, dass in der Lücke eine Ordinalzahl gestanden haben dürfte, ist plausibel: Man erwartet hier die Angabe, das wievielte der zwölf Kinder Niko gewesen ist. ἐνάτ]ην (‚die neunte‘) erscheint daher als besser als die epigraphisch recht schlecht belegte Ergänzung der Erstherausgeber νεάτ]ην (‚die jüngste‘); dies gilt natürlich nur unter der Voraussetzung, dass Poseidipp sich an der Sprache inschriftlicher Grabepigramme orientiert. Garullis πρώτ]ην (‚die erste‘) kommt, wie Bremmer (2006, 37) zu Recht festgestellt hat, schon deswegen nicht in Frage, weil Niko als parthenos bezeichnet wird, d. h. kaum mehr als 15 Jahre alt sein und folglich kaum elf jüngere Geschwister haben kann. Ebenso wenig wahrscheinlich ist Lapinis (2007, 238) Vorschlag λοιπ]ὴν i. S. v. ‚die einzige ‚noch lebende‘‘ Tochter. Eine weitere, vielleicht etwas näherliegende Möglichkeit wäre, dass die Ordinalzahl keine Angabe über die Anzahl der Kinder in einer Familie enthält, sondern die Anzahl der ‚Kinder‘ bezeichnet, die dem dionysischen Verein der Euiaden (s. u.) angehörten (diese Beobachtung verdanke ich Don Lavigne). Es fällt auf, dass das Epigramm keinerlei Hinweis auf die Familie oder die Eltern der zwölf Kinder enthält; erwähnt werden lediglich der dionysische Thiasos der Euiaden sowie die Stadt Pella. Legt man diese Überlegung zu Grunde, könnte man vielleicht auch ϲεμν]ὴν ergänzen. Das Adjektiv ist in Junktur mit παρθένοϲ bezeugt. — καὶ .[…]ϲαν: Die von den Erstherausgebern vorgeschlagene Ergänzung ἱ̣[μερόεϲ]ϲαν (vgl. Colluth. 293: νύμφην ἱμερόεϲϲαν) ist plausibel, auch wenn die Junktur des Adjektivs mit παρθένοϲ ohne Parallele und der Hiat καὶ ἱ[μερόεϲ]ϲαν auffällig ist. V. 2 παρθένο[ν: Da Niko als Mädchen bezeichnet wird, muss man sie sich wohl als zur jüngsten Klasse der Mänaden gehörig vorstellen (vgl. dazu Henrichs 1978, 121–160 u.u. zu Εὐιάδεϲ). Während das zweite Epitymbion ein Idealszenario entwirft, indem es betont, dass Nikostrate ein überdurchschnittlich langes und gelungenes Leben gehabt hat, hat das dritte eine Aoros, eine zu früh Verstorbene, zum Gegenstand, ein Thema, das in den Epigrammen 49–51 und 53–55 wieder aufgenommen wird. — ἔκλαιο]ν: Es handelt sich hier um ein iteratives Imperfekt (vgl. ed. pr. 162). — Πελλ[̣ α]: Bei Poseidipp wird Pella sonst nicht genannt; allerdings verwendet er den Ausdruck Πελλαῖοϲ in 118.17 zur Bezeichnung seiner Herkunft (Πελλαῖον γένοϲ ἀμόν); zur Rolle der Heimatstadt in seiner Dichtung vgl. Stephens 2005. — Εὐιάδ[εϲ: Es handelt sich um junge Frauen aus Pella, die in die Dionysischen Mysterien eingeweiht waren (Dignas 2004, 182) bzw. zum Kreis der Mänaden gehörten; der Name der religiösen Vereinigung leitet sich von εὐαί, dem rituellen Ausruf der Mänaden, her. Dieser Name für Mänaden ist nur für Makedonien, namentlich das Mygdonische Lete, bezeugt (vgl. SEG 35.751; die Inschrift stammt allerdings aus dem 2. Jh. n. Chr.). Poseidipp bedient sich also möglicherweise der lokalen makedonischen Terminologie für den dionysischen Kultverein; vgl. dazu Bremmer 2006, 37 f.; grundlegend zu den Dionysischen Mysterien in Pella Dickie 1995, 81–86. V. 3 αἶ τρίϲ: Im Kontext des Bestattungsrituals wurden die Verstorbenen dreimal angerufen; vgl. Hom. Od. 9.65; Theokr. eid. 23.44 (ed. pr. 162). Ferrari (2005) liest am Anfang des Verses ἃϲ, was jedenfalls aufgrund der Buchstabenreste nicht auszuschließen ist. Sein Ergänzungsvor-

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schlag für V. 3 f. lautet: ἁϲ̣ τρὶς̣ ἐπ[όρϲαϲ’ ἐφ’ ἱ]ρα Διωνύϲοιο θερά[πνη / Νικὼ β̣ασ̣[ϲαρικῶν] ἤγαγεν̣ ἐξ ὀρέων̣ (‚‚die Euiaden‘, die Niko, die Dienerin des Dionysos, nachdem sie sie dreimal angestachelt hatte, aus den bacchischen Bergen zurückführte‘). Dass bei dieser Ergänzung der einzige Hinweis auf den Tod das (ergänzte) Verb ἔκλαιο]ν wäre, ist kein zwingendes Argument gegen ihre Richtigkeit, da bereits frühklassische Grabinschriften gelegentlich keinen Hinweis auf ein Grab enthalten; vgl. EG: Sim. XXIIa-b; XXIII. — ἐπ[ειδὴ Μοῖ]ρα … ἤγαγεν: Der übliche Ausdruck ist Μοῖρα ἥρπαϲε (o.ä.), und gewöhnlich sind die Moira (bzw. die Moiren) durch Adjektive wie βαρεῖα oder κακή negativ bestimmt. Hier fällt auf, dass Poseidipp für den Tod eine vox media gewählt hat und dass negative Konnotationen völlig fehlen (Garulli 2004b, 28). Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass Niko während der rituellen Oreibasie (vgl. u. zu Βαϲ[ϲαρικῶν]) ums Leben gekommen ist (vgl. Dignas 2004, 183). — Διωνύϲοιο θερά[πνην: Ferrari geht bei seinem Ergänzungsvorschlag (mit Verweis auf Hymn. Hom. 3.157) davon aus, dass Niko eine „sacerdotessa di Dioniso“ ist; das Substantiv θεράπνη bezeichnet jedoch keineswegs eine genau bestimmte religiöse Expertin, geschweige denn eine spezifische Priesterin, sondern jede Frau, die einer Gottheit dient bzw. ein Ritual für eine Gottheit durchführt. Nikos Status als Mänade ist aus den Erwähnungen der Euiaden und der Anspielung auf die rituelle Oreibasie deutlich (grundlegend dazu Bremmer 2006). Die ionisch-epische Form des Genitivs ist in der poetischen Sprache der hellenistischen Grabepigramme gängig. V. 4 Νικὼ: Zu dieser Form des Akkusativs vgl. Kühner/Blass I 453– 455. Der Name ist in Makedonien relativ gut belegt (allerdings bisher nicht in Pella; vgl. LGPN IV 256: die frühesten Belege stammen aus dem 5./4. Jh. v. Chr.) und auch für Attika (LGPN II 340–341), Thessalien und Böotien (LGPN IIIb 310) sowie in den Inventaren von Delphi häufig bezeugt, allerdings meist ohne Angabe der Herkunft oder sogar ohne Patronym; es handelt sich um der Gottheit geweihte Sklavinnen. Aufgrund der Erwähnung der dionysischen Vereinigung und der Angabe, dass die gesamte Stadt das Mädchen beweint, vermutet Bremmer (2006, 37 f.), dass Niko zur Elite von Pella gehört hat. — Β̣αϲ̣[ϲαρικῶν]: Die Ergänzung der Erstherausgeber kann als sicher gelten. Das Attribut βαϲϲαρικόϲ bezeichnet keinen bestimmten Ort, sondern steht generisch für jedes Gebirge, durch welche die Mänaden schwärmen. Etymologisch leitet es sich von dem Terminus für die Kleidung der thrakischen Mänaden ab, die aus Fuchspelz (ἡ βαϲϲάρα) gefertigt war. Das Ritual der ὀρειβαϲία, des rituellen Schweifens durch Bergwälder, ist für junge Mädchen und Mänaden bezeugt und lässt sich typologisch mit anderen weiblichen rites de passage, zum Beispiel mit den Arkteia von Brauron, vergleichen; vgl. Dignas 2004 u. Bremmer 2006. Rekonstruktionsvorschlag ἐκ τέκνω[ν ϲεμν]ὴν δυοκαίδεκα καὶ ἱ[μερόεϲ]ϲαν παρθένο[ν ἔκλαιο]ν Πέλλ[α] καὶ Εὐιάδ[εϲ αἶ τρίϲ, ἐπ[ειδὴ Μοῖ]ρα Διωνύϲοιο θερά[πνην Νικὼ Βαϲ[ϲαρικῶν] ἤγαγεν ἐξ ὀρέων. Von den zwölf ‚Kindern‘ beweinten Pella und die Euiaden ein verehrungswürdiges und liebliches Mädchen, – dreimal Weh! – als Moira die Dienerin des Dionysos, Niko, aus den Bassarischen Gebirgen wegführte.

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Das dritte Epitymbion der Sektion führt den Leser noch weiter als das vorangehende fort vom Grab der Toten in die Welt der rituellen Verehrung, hier des Dionysos in den Bergwäldern. Alles was wir über den Tod der Niko erfahren, ist, dass sie bei der Oreibasie, vielleicht durch einen Unfall, umgekommen ist. Ihr Schicksal wird ganz neutral benannt („Moira führte sie fort“); ausgeführt werden nur die Konsequenzen des Todes. Die sind allerdings weitreichend: die ganze Stadt und die anderen Mänaden beweinen die Verstorbene. Auffallend ist der Kontrast der beiden Rituale, die das Epigramm aufruft: Auf die wilde Oreibasie der Mänaden, folgen Jammer und dreifacher Klageruf am Grab. Jenseitsgeographie und entsprechende Vorstellungen fehlen völlig; stattdessen führt das dritte Epitymbion den Leser in die Lebenswelt der Verstorbenen, eine Tendenz, die sich im vierten Grabepigramm der Sektion fortsetzt. 45 Ein Grabepigramm für eine Frau, die bis ins hohe Alter tatkräftig geblieben ist. VII 24 ἡ Μαραθη[νὴ τῆιδ]ε φίλαϲ ἀνέπαυϲε Κ̣[.….]α̣ 1 25 ϲὺν γήραι̣ [χαλεπῶ]ν χεῖραϲ ἀφ’ ἱϲτοπόδ[ων, 2 26 ὀγδωκοντ[αέτιϲ μέ]ν̣, ἔτι κρέξαι δὲ λιγε[ίαι 3 27 κερκίδι λε[πταλέον] ϲ̣τήμονα δυναμ̣έ̣[νη· 4 28 χαιρέτω ἐκ̣ [καμάτ]ων ὁϲίη γυνή, ἥτι̣ϲ̣ ἀ̣τ̣[ρ]ύ̣[τ]ω̣[ι 5 29 ζωῆι θυγατέρων πέμπτον ἐπεῖδε θέροϲ. 6 24 Κ̣[όρινν]α̣ Austin 2001a  25 [καμάτω]ν Garulli 2004 : [μογερῶ]ν vel potius [δολιχῶ]ν Magnelli 2004  εφ P, def. Garulli 2004  28 ἐγ̣ [μακάρ]ων Garulli 2004.

Die Frau aus Marathos […] ließ ruhen […] im Alter […] die Hände vom Webstuhl achtzig(jährig) noch im Stande, mit helltönendem Weberschiffchen […] Kettfäden zu knüpfen. Lebe wohl […] fromme Frau, die in einem unermüdlichen Leben die fünfte Ernte von Töchtern gesehen hat. V. 1 ἡ Μαραθη[νὴ: Das Adjektiv ist von dem Toponym Marathos abgeleitet. Es gibt zwei Städte dieses Namens, eine in Akarnanien und eine in Phönizien. Hier dürfte es sich um die Stadt in Phönizien handeln (ed. pr. 163), die nach Alexander dem Großen ihre Blütezeit erlebte und zum Einflussbereich der Ptolemäer gehörte (Garulli 2004a, 170). Das Adjektiv ist epigraphisch in Delischen Weihinschriften aus dem 3. und 2. Jh. v. Chr. bezeugt (z. B. F.Delph. 1927.11; 1937.6), was auf wachsenden Reichtum der Bürger von Marathos hindeuten könnte. Vielleicht hat die Familie der gestorbenen Frau von dieser Entwicklung profitiert und konnte so Poseidipp damit beauftragen, ein Grabgedicht für die Verstorbene zu verfassen; zu den durchaus hohen Kosten, die mit solchen Aufträgen verbunden waren, s. Petrovic 2009, 210. — τῆιδ]ε: Falls tatsächlich ein Demonstrativpronomen zu ergänzen ist (ed. pr.), wird der Leser hier nicht unbedingt aufgefordert, sich ein real existierendes Grab vorzustellen; das Ortsadverb verweist wohl eher auf den Ort, an dem die Frau gestorben ist. Es ist bemerkenswert, dass das Demonstrativpronomen ὅδε, das in anderen Gruppen vielfach benutzt wird, wenn der Leser sich den beschriebenen Gegenstand als präsent vorstellen soll und in inschriftlichen Grabepigrammen

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gerne für den Hinweis auf das Grab verwendet wird, in den Epitymbia Poseidipps äußerst selten vorkommt (vgl. noch 53.1). Häufiger finden sich οὗτοϲ/αὕτη/τοῦτο, was in der Forschung gelegentlich als Indiz für den fiktiven Charakter solcher Epigramme verstanden wird (47.1: οὗτοϲ Ὀναϲ̣αγορᾶτιν ἔχει τάφοϲ; 48.1: τοῦθ’ ἱκανὸ̣ν̣ ϲ̣υνετῆι Βιθ̣υνίδι; vgl. Schmolling 1916, 30 f.). — φίλαϲ: Das Adjektiv wird hier nach homerischem Sprachgebrauch als Possessivpronomen gebraucht (φίλα γυῖα). — Κ̣[όρινν]α̣: Der zu ergänzende Frauenname ist dreisilbig; weder κ noch α sind sicher zu lesen; Der Vorschlag der Erstherausgeber ist plausibel, der Name aber epigraphisch ansonsten nicht gesichert. Die Belege im LGPN stammen entweder aus literarischen Quellen (LGPN II 270 [aus Lukian. dial. meretr. 6] und LGPN IIIb 243 [Suda]) oder aus Italien (Transkription von Corinna aus Pompeji, LGPN IIIa 255). V. 2 ϲὺν γήραι̣: Der verhältnismäßig seltene Ausdruck bedeutet wörtlich ‚mit dem Alter‘, d. h. ‚im hohen Alter‘, die Erstherausgeber verweisen auf GV 2023.8; er ist in derselben Bedeutung auch in epigraphischen Grabgedichten erhalten (vgl. z. B. IG XII² 383.8: ὤχετο ϲὺν γήρα); zu ϲὺν + Dat. als Bezeichnung der begleitenden Umstände vgl. LSJ A.5. — [……]ν … ἀφ’ ἰϲτοπόδ[ων: ἰϲτόποδεϲ sind die aufrecht stehenden Balken des großen stehenden Webstuhls, zwischen denen das Gewebe aufgehängt wurde (vgl. Pollux 10.124 f.). Das von den Erstherausgebern ergänzte [χαλεπῶ]ν bezeichnet die Mühe beim Weben; die Anfertigung von Textilien war mit großer körperlicher Anstrengung verbunden. Attraktiv sind auch Magnellis (2004) Ergänzungsvorschläge [μογερῶ]ν ‚mühevoll‘, ‚unglücklich‘ und [δολιχῶ]ν ‚lang‘, da die Balken tatsächlich lang waren. Am überzeugendsten erscheint Garullis καμάτω]ν (vgl. 36.4), weil es die Korrektur des überlieferten ἐφ’ ἰϲτοπόδ[ων unnötig macht: Der Tod hat die „Mühen am Webstuhl“ beendet. V. 3 f. κρέξαι … λε[……] ϲ̣τήμονα: ϲτήμων bezeichnet die sogenannte Kette, die senkrecht am Webstuhl hochgespannten Fäden, die beim Weben unter großer Spannung stehen; vgl. dazu Cleland/Davies/Llewellyn-Jones 2007, 179 u. 208. – Für ihren Vorschlag λε[πταλέον] als Attribut zu ϲτήμονα (‚die zarten Kettfäden‘) verweisen die Erstherausgeber auf Nonn. Dionys. 18.215: νήματι λεπταλέωι; zur Bedeutung von λεπταλέοϲ vgl. Komm. zu 1.4 — λιγε[ίαι / κερκίδι: Bei schneller Bewegung erzeugt das Weberschiffchen einen hellklingenden Ton, der mit Gesang verglichen wird (ed. pr.); zur κερκὶϲ vgl. Cleland/Davies/Llewellyn-Jones (2007, 103): „Tool that carried the weft, also pin-beater“. In der epigrammatischen Dichtung ist die Junktur mehrfach bezeugt; vgl. AP 6.160.1 (Antip. Sid.) und 288.5 (Leon. Tar.). V. 5 χαιρέτω ἐκ̣ [….]ων: Die Erstherausgeber haben καμάτ]ων vorgeschlagen. ἐκ ist dann wohl am besten temporal aufzufassen (vgl. LSJ A.II.1 u. 2): ‚Möge sie Freude finden nach den Mühen‘. Die Ergänzung ist inhaltlich plausibel, würde aber, sofern man an Garullis überzeugender Ergänzung [καμάτω]ν in V. 2 festhalten will, zu einer wenig wahrscheinlichen Wiederholung des Wortes führen. Garulli schlägt daher für V. 5 ἐγ [μακάρ]ων vor, das er als „forma di augurio, anzi quasi di esortazione imperiosa“ deutet (2004a, 173): ‚Möge sie von den Göttern willkommen geheißen werden‘ bzw. ‚möge ihr von den Göttern Freude zuteilwerden‘. — ὁϲίη γυνή: Die Junktur wird fast ausschließlich für Verstorbene gebraucht (ed.pr).

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V. 5 f. ἀ̣τ̣[ρ]ύ̣[τ]ω̣[ι … θέροϲ: ἄτρυτοϲ ζωή bezeichnet ein Leben, in dem es keine Gelegenheit zur Ruhe gibt. Zu dem übertragenen Gebrauch von θέροϲ (‚Ernte‘) i. S. v. Generation vgl. ed. pr. u. Garulli 2004b, 34 f.; πέμπτον θέροϲ bezeichnet die Enkel der Urenkel, welche die Verstorbene noch zu sehen bekommen hat (ed. pr. 164). Rekonstruktionsvorschlag ἡ Μαραθη[νὴ τῆιδ]ε φίλαϲ ἀνέπαυϲε Κ[όρινν]α ϲὺν γήραι [καμάτω]ν χεῖραϲ ἐφ’ ἱϲτοπόδ[ων, ὀγδωκοντ[αέτιϲ μέ]ν, ἔτι κρέξαι δὲ λιγε[ίαι κερκίδι λε[πταλέον] ϲτήμονα δυναμέ[νη· χαιρέτω ἐκ [μακάρ]ων ὁϲίη γυνή, ἥτιϲ ἀτ[ρ]ύ[τ]ω[ι ζωῆι θυγατέρων πέμπτον ἐπεῖδε θέροϲ. Korinna aus Marathos hat hier im Alter ihre Hände von den Anstrengungen am Webstuhl ruhen lassen. Sie war schon achtzig, konnte aber immer noch mit hell klingendem Weberschiffchen die feinen Kettfäden schlagen. Möge der seligen Frau von den Göttern Freude zuteilwerden, ihr, die in ihrem rastlosen Leben die fünfte Ernte von Töchtern sah. Ähnlich wie im vorhergehenden Epigramm ist von dem Grab nicht die Rede, und auch hier wird der Tod nicht genannt. Es scheint, als habe die Frau lediglich für einen Moment eine Pause eingelegt, um sich von der anstrengenden Arbeit am Webstuhl zu erholen. Gleichzeitig bildet das Epigramm aber auch eine Antithese zu dem vorangehenden Epigramm, das an den Tod eines sehr jungen Mädchens erinnert: Die Frau ist im hohen Alter von achtzig Jahren gestorben, und sie hatte das Glück, gleich fünf Generationen von weiblichen Nachkommen zu erleben. Nirgendwo findet sich einer der topischen Hinweise auf Trauer. Stattdessen wird die Verstorbene als selige Frau (ὁϲίη γυνή) gepriesen. Nach drei Epigrammen, in denen der Leser Dienerinnen der Götter begegnet, wirft die Bezeichnung der Verstorbenen als „selige Frau“ die Frage auf, was es eigentlich heißt, die Gunst der Götter zu erleben: Göttern zu dienen, am Kult teilzunehmen oder eine große Familie zu haben und dank eines langen Lebens mehrere Generationen von Nachkommen heranwachsen zu sehen? 46 Grabepigramm für eine tüchtige Amme. VII

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γρηῢϲ ἐγὼ χερνῆτιϲ ἐπὶ̣ βρεφέεϲϲιν ἐγήρων, μιϲθία Φωκαϊκῆϲ Βατὶϲ Ἀθηνοδίκηϲ, εἴρια παιδεύουϲα κομεῖν̣ καὶ νήματα μίτραι̣ϲ̣ ποικίλα ‹κ›αὶ τρητῶν πλέγματα κεκρυφάλων· αἱ δ’ ἤδη θαλάμων ἐπὶ νύμφιον οὐδὸν ἰοῦϲ̣α̣ι τὴν ναρθηκοφόρον γρηῢν ἔθαπτον ἐμέ.

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31 μίϲθια Gronewald 2003 (def. Ferrari per litt.)  τωκαικηϲ P  33 ποιπαλεαι P : παιπαλέαι‹ϲ› Livrea 2002 (def. Ferrari per litt.)  34 αϲ … ιουϲ̣α̣ϲ̣ P

Ich einfache alte Frau wurde als Kindermädchen alt, ‚ich‘, Batis, im Dienst der Athenodike aus Phokaia. Wolle lehrte ich ‚die Mädchen‘ zu kämmen und die bunten Fäden für Haarbinden herzustellen und geflochtene Haarnetze. Sie aber, die nun zur Schwelle des Brautgemachs kommen, haben mich, die narthextragende Alte, bestattet. V. 1 γρηῢϲ ἐγὼ: Dies ist das erste Epigramm innerhalb der Sektion, dessen Sprecherin in der 1. Ps. spricht. Es ist bemerkenswert, dass alle Figuren im Epigramm weiblich sind: die verstorbene Batis, die Kinder, um die sie sich als Amme gekümmert hat, sowie die Herrin der Amme, Athenodike. — χερνῆτιϲ: Das Wort bedeutet ‚Tages‘- bzw. ‚Lohnarbeiterin‘ und ist hier höchst passend gebraucht: Es bezeichnet eine Frau, die von ihrer Hände Arbeit lebt (vgl. Apollon. Lex. Hom. 167.22: ἡ ἀπὸ τῶν χειρῶν ζῶϲα ‚die von ihren Händen lebende Frau‘, ‚vom Handwerk lebend‘). Im Epigramm werden die vielen Arbeiten der Amme in Erinnerung gerufen: von der Betreuung der Babies über das Kämmen von Wolle, die Herstellung von Haarbinden und das Flechten von Haarnetzen. Vor Poseidipp ist das Wort nur durch Hom. Il. 12.433 bezeugt, wo es für eine Frau gebraucht wird, die ihren Unterhalt mit Weben verdient; möglicherweise spielt Poseidipp auf diese Stelle an: Homers Erwähnung dieser Weberin findet sich mitten in der Beschreibung des blutigen Kampfes um das Schiffslager. Der Sänger vergleicht das zwischen Griechen und Trojanern herrschende Gleichgewicht mit der feinen Balance, die eine Tagelöhnerin zwischen Webgewichten und Wolle herstellt: Was die beiden Szenen verbindet, ist also die Verbindung von filigraner Handarbeit und Tod. — ἐπὶ̣ βρεφέεϲϲιν: βρέφοϲ bezeichnet ein neugeborenes Kind oder Tier; hier bezieht sich das Wort auf kleine Kinder im Allgemeinen. Die Form des äolischen Dativs mit distractio epica steht im Einklang mit epischen Wendungen (vgl. z. B. Nonn. Dion. 17.485) und ist hier wohl metrisch bedingt. Die Verwendung der Präposition ἐπὶ (mit dem Dativ) im Zusammenhang mit Tätigkeiten bzw. Aufgabenbereichen ist gut bezeugt (vgl. LSJ B.III.6). Hier wird mit der Konstruktion der Beruf der Batis als Amme angedeutet. Grabepigramme für Ammen sind ab dem 4. Jh. v. Chr. bezeugt; vgl. Tsagalis 2008, 316–318. V. 2 μιϲθια: Die ed. pr. versteht die Buchstabenfolge μιϲθια als Nom. Sg. Fem. μιϲθία (‚bezahlte Dienerin‘, ‚Lohnarbeiterin‘) und führt als Parallele für μίϲθιοϲ AP 6.283.3 an, wo das Wort, im Akk. Pl. Neutr., in Bezug auf die Arbeit einer alt gewordenen Hetäre verwendet wird, die sich früher großer Aufmerksamkeit bei Freiern erfreut hat, jetzt aber „mit ärmlichen Webkämmen die in Lohnarbeit durchgeschossenen Fäden schlägt“ (μίϲθια νῦν ϲπαθίοιϲ πενιχροῖϲ πηνίϲματα κρούει). Gronewald (2003, 64) schlägt dagegen vor, die Buchstabenfolge auch hier nicht als Nominativ, sondern, wie in AP 6.283.3, als Akk. Pl. zu verstehen (μίϲθια) und in Enallage mit εἴρια im nächsten Vers zu verbinden, da μιϲθία „zweisilbig zu lesen wäre“ und daher prosodisch problematisch sei; außerdem sei die Beziehung von Batis zu Athenodike bereits im ersten Vers angesprochen. Diese Einwände sind jedoch nicht überzeugend, da es ganz unwahrscheinlich ist, dass Batis die Töchter der (freien) Athenodike die Lohnarbeit (μίϲθια … εἴρια) gelehrt hat. Vielleicht sollte man angesichts des vorliegenden Epigramms eher daran denken, auch in AP 6.283.3 statt μίϲθια das in P bezeugte μιϲθία zu lesen. — Βατὶϲ: Die männliche Form des

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Namens (Βάτιϲ) findet sich einmal auf einer Münze aus Phokaia, die etwa gleichzeitig mit dem Epigramm ist; die weibliche Form (Βατίϲ) ist außerdem nur noch zweimal für die nahegelegene Troas (Ilion und Lampsakos) bezeugt (s. LGPN VA 100). – Der Name des berühmten Βάτιϲ, des Eunuchen des Dareios, stellt aller Wahrscheinlichkeit nach die gräzisierte Form seines persischen Namens dar. Die Herrin der Batis kommt aus der Stadt Phokaia an der Westküste Kleinasiens. War Batis vielleicht eine Perserin? Für den Namen Athenodike lassen sich keine weiteren Belege finden. V. 3 παιδεύουϲα: Der Terminus wird meist im Zusammenhang mit Männern benutzt; für Erzieherinnen wird er weit seltener verwendet; anscheinend liegt hier der erste bezeugte Fall vor. — μίτραι̣ϲ̣: μίτρα kann verschiedene Kopfbedeckungen von Männern und Frauen bezeichnen; hier handelt es sich um einen kunstvoll verzierten Kopfschmuck von Frauen (vgl. Tölle-Kasten­ bein, R. 1977: Zur Mitra in klassischer Zeit, RA: 23–36). Sappho beklagt in fr. 98b.1–3 Voigt, dass sie ihrer Tochter Kleis keine Mitra hat mitbringen können (s. Ferrari 2010, 6 f.). Direkt angespielt wird auf dieses Fragment wohl nicht. Dagegen erweist sich die vergleichende Lektüre mit dem neuen Sappho-Fragment, in dem die Sprecherin bei ihren jungen Schülerinnen ihr Alter beklagt, als instruktiv (P.Köln Inv. 58 Nr. 21351) für die Bedeutung eines solchen Kopfschmucks für junge Mädchen. Dass die Mitra in spätarchaischer Zeit zu den wichtigeren Accessoires einer Dame gehörte, zeigt auch Alkmans Louvre-Parthenos (fr. 1 PMG), wo sie von jungen Mädchen bei Festlichkeiten getragen wird. V. 4 πλέγματα κεκρυφάλων: Die Wendung πλεκτοὺϲ κεκρυφάλουϲ (‚geflochtene Haarnetze‘) findet sich in der epigrammatischen Dichtung auch bei Agathias (AP 5.276.10); dort sind die Haarnetze, wie auch bei Paulus Silentiarius (AP 5.270.2) mit kostbaren Steinen verziert; Poseidipp betont die kunstvolle netzartige Herstellung. Zu Haarbinden und -netzen s. Jenkins, I. u. Williams, D. 1985: Sprang Hair Nets. Their Manufacture and Use in Ancient Greece, AJA 89: 411– 418. V. 5 θαλάμων ἐπὶ νύμφιον οὐδὸν: Zu den Topoi der Grabepigramme auf junge Mädchen gehört die Schilderung des Todes vor der Hochzeit bzw. vor dem Gang in das Brautgemach (θάλαμοϲ); vgl. dazu SGO V 338; Poseidipp evoziert das Motiv des Todes vor der Hochzeit als Folie für den vollendeten Lebenszyklus der Batis: Sobald die von ihr aufgezogenen und unterrichteten Mädchen das Heiratsalter erreicht haben, kann die alte Amme beruhigt sterben. V. 6 ναρθηκοφόρον γρηῢν: Der mit Weinlaub umwundene Stängel des Riesenfenchels (narthex) bildete den Thyrsosstab, ein wichtiges Attribut des Dionysos und seiner Anhänger; für die Junktur vgl. Philostr. imag. 1.19.2,5: ναρθηκοφόροϲ γέρων; auch der Gott selbst wird gelegentlich als Narthekophoros bezeichnet (vgl. Themistius Basanistes 254b.2; Orph. hymn. 42.1). Berühmt und weit verbreitet ist der Spruch, dass es „viele Narthekophoroi (Anhänger des Dionysos), aber nur wenige Bakchoi (wirklich vom Gott Ergriffene)“ gibt (Plat. Phaid. 69c8). Dass das Adjektiv als Hinweis auf Batis’ Teilnahme an Bacchischen Ritualen aufzufassen ist, kann nicht als völlig sicher gelten, selbst wenn wir wissen, dass das Adjektiv ναρθηκοφόροϲ als Bezeichnung für die an dionysischen Festen teilnehmenden Bacchantinnen gebraucht wurde (Murr 1969, 231 f.). Die Erstherausgeber weisen auf die Möglichkeit hin, dass der Narthexstab

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mit Batis’ Rolle als Erzieherin der Mädchen verbunden ist, da der Narthex in der Antike der Züchtigungsstock κατ’ ἐξοχήν für Schüler und Kinder war (vgl. Schol. Eur. Or. 1481). Mit den beiden ersten Worten wird die Ringkomposition eingeführt, die in V. 6 mit den Worten γρηῢν … ἐμέ abgeschlossen wird. Batis, die zunächst als agierendes Subjekt vorgestellt wird, erscheint am Ende als passives Objekt. Zwischen den beiden Hinweisen auf das hohe Alter der Toten am Anfang und am Ende des Epigramms durchmessen die sechs Verse thematisch den gesamten Kreis des Lebens, von der Geburt über die Erziehung und Ehe bis zum Tod. Auffällig ist, dass – anders als in den vorangehenden Epigrammen – keinerlei Zahlen genannt sind: Der Leser erfährt weder, um wie viele Mädchen Batis sich gekümmert hat noch wie alt sie war, als sie starb. Die immer komplizierter werdenden handwerklichen Fähigkeiten, die Batis den Mädchen beibringt, evozieren den Lebensweg der Alten: Auf die einfache, schon für kleine Mädchen zu leistende Aufgabe des Wolle Kämmens folgt erst, mit der Herstellung von Fäden, eine Arbeit für etwas ältere Kinder und schließlich das technisch anspruchsvolle Flechten von Haarnetzen, eine Aufgabe für Mädchen im Heiratsalter. So spiegelt sich das Leben der Amme im Heranwachsen ihrer Schützlinge als das Leben einer einfachen Frau, die ihre Aufgaben als Kinderfrau vollkommen erfüllt und die ihr anvertrauten Kinder vom Säuglingsalter bis an die Schwelle des Brautgemachs begleitet hat. Diese danken es der Alten, indem sie sie nicht nur bestatten, sondern auch mit einem Epigramm ehren. 47 Grabepigramm für die Onasagoratis, die einhundert Jahre alt geworden ist. VII 36 37 38 39 VIII 1 2

οὗτοϲ Ὀναϲαγορᾶτιν ἔχει τάφοϲ, ἥτιϲ ἐπεῖδε τέκνα τε καὶ τέκν[ω]ν εἰρομέναϲ γενεάϲ, τετράκιϲ εἴκοϲι πλῆθοϲ· ἐν ὀγδώκοντ’ ἀ̣[ρα] παίδω[ν χερϲὶ παλαίγηρωϲ ϲτήθεϲι τ’ ἐτρέ̣[φετ]ο. ἣν ἑκατονταέτιν Πάφιοι μακαριϲτὸν Ὀν[αϲᾶ θρέμμα πυ[ριβρώτ]ωι τῆιδ’ ἐπέθεντο κόνει.

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36 οναϲ̣αγορατιϲ P  38 τετρακαι P  38–39 ἐν ὀγδώκοντ̣’ ἄ̣[ρα] … ϲτήθεϲι τ’ (Kassel ap. Austin 2002b, ed. min. : ενογδωκον.[.] … ϲτηθεϲιν P : ἕν’ ὀγδώκοντ’̣ ἀ[̣ πὸ] … ϲτήθεϲιν ed. pr. : ἐν ὀγδώκοντα ̣ ̣ [δὲ] … ϲτήθεϲι τ’ Lloyd-Jones 2002 (def. Ferrari per litt.) : ἐν … ἤθεϲι τ’ Cuypers  2 επεθοντο P : ἀπέθεντο Gronewald 2007

Dieses Grab bewahrt Onasagoratis, sie, die Kinder sah und nachfolgende Generationen von Kindern, viermal zwanzig an der Zahl. Von den Händen und Herzen ihrer achtzig Kinder wurde sie im hohen Alter (gepflegt). Hundertjährig haben die Paphier sie, den glückseligen Zögling des Onasas, in ‹Form› dieser vom Feuer verzehrten Asche beigesetzt. V. 1 οὗτοϲ … ἔχει τάφοϲ: Der für Grabepigramme topische Gebrauch des deiktischen Pronomens οὗτοϲ (statt ὅδε) wird gelegentlich als eines der Merkmale literarischer Grabepigramme aufgefasst. Die Junktur von οὗτοϲ mit τάφοϲ ist aber sowohl in inschriftlichen als auch in literarischen

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Grabgedichten gut bezeugt (vgl. z. B. GV 643 [Athen, 4. Jh. v.Chr; vgl. Agora XVII 656]; GV 583: Μηνόφιλον τάφοϲ οὗτοϲ ἔχει.). Hier ist οὗτοϲ zudem mit ἥδε (κόνιϲ) kombiniert, so dass (trotz des οὗτοϲ) durchaus an ein reales Grab gedacht werden kann; zu den Pronomina s. o. 45.1 zu τῆιδε. — Ὀναϲαγορᾶτιν: Die Editoren haben den überlieferten Nominativ korrigiert, da das formelhafte οὗτοϲ … ἔχει τάφοϲ den Akkusativ verlangt (vgl. ed. pr. mit Verweis auf AP 14.126.1). Der Name ist anderweitig nicht belegt, er scheint in Anlehnung an den Männernamen Ὀναϲαγόραϲ gebildet zu sein, der im 4. Jh. für Athen bezeugt ist. Die Erstherausgeber deuten den Namen als eine weibliche Form von Onasas und nehmen an, dass die Familie zypriotischer Herkunft war, da der Name Ὀναϲαγόραϲ/Ὀνεϲαγόραϲ/Ὀνηϲαγόραϲ auf Zypern (unter den Ptolemäern) mehrfach belegt ist („tipico del possedimento tolemaico di Cipro“). V. 1 f. ἥτιϲ … γενεάϲ: Der Gedanke, dass das Leben durch Kinder und Kindeskinder zu einem erfüllten Leben wird, ist einer der häufigeren Topoi der Grabgedichte seit dem 4. Jh. v. Chr. So wird z. B. in einer Grabversinschrift des 4. Jh.s eine Athenerin als glückselig gepriesen, weil sie anscheinend 88 Jahre alt geworden ist und – so wie Onasagoratis – vier Generationen von Nachkommen erleben durfte (IG II² 3453.3 f.): [ὀγδώκοντ’ ὀκτὼ δ’ ἐ]ξεπέρα[ϲ]εν ἔτη …/ [λατρεύϲαϲα γένη τ]έϲϲαρ’ ἐπεῖδε τέκνων „sie lebte acht und achtzig Jahre … als Lohnarbeiterin und sah vier Generationen von Kindern.“) Die Erstherausgeber vergleichen die Junktur εἰρομέναϲ γενεάϲ mit 27.1: τέκνων εἰρ̣[ο]μ̣ένω‹ι› γενεὴν οἰωνὸϲ ἄριϲτοϲ / φήνη. Hier gehört εἰρομέναϲ aber offensichtlich zu εἴρω ‚anfügen‘, ‚aneinanderreihen‘ und ist demnach als ‚aneinander anschließend‘, ‚kontinuierlich‘ zu verstehen. Die 80 Kinder und Kindeskinder erscheinen sinnbildlich als eine nicht endende Kette von Geburten und Generationen. V. 3 τετράκιϲ εἴκοϲι: Das überlieferte τετρακαιεικοϲι muss, wie das gleich darauf folgende ὀγδώκοντ’ zeigt, in τετράκιϲ εἴκοϲι korrigiert werden. Das Leben der Verstorbenen wird im Gedicht in besonderem Maße durch Zahlen dokumentiert, die ihr Alter und die große Zahl der Nachkommen betonen (τετράκιϲ εἴκοϲι, ὀγδώκοντα, ἑκατονταέτιν). V. 3 f. ἐν … χερϲὶ …: Der von den Erstherausgebern vorgeschlagene Text ἕν’ ὀγδώκοντ’ ἀ̣[πὸ] παῖδων / χερϲὶ παλαίγηρωϲ ϲτήθεϲιν ἐτρέ̣[φετ]ο („uno tra gli ottanta, sebbene vecchissima di forze, lei con lo spirito seguiva ad allevare“) ist von Lloyd-Jones (2002) und Kassel (ap. Austin 2002b) korrigiert worden. V. 4 παλαίγηρωϲ: Das Wort ist ein hapax legomenon. Ein ähnliches Kompositum, ebenfalls ein hapax, ist in 60.5 bezeugt (ἀπ’ ἠέροϲ οὐ βαρύγηρωϲ). Beide Schöpfungen sind parallel zu dem in Grabinschriften bezeugten εὐγήρωϲ gebildet; vgl. z. B. IG II² 9052, Athen, 3. Jh. v. Chr.: [ὄλβιοϲ, εὐ]γ[ή]ρωϲ ἐϲθλὸϲ ἀνὴρ [γεγαώϲ] („er war ein glückseliger, glücklich alt gewordener, tüchtiger Mann“). Vgl. auch βαθύγηρωϲ (AP 6.247.7). Die Verse 3 f. führen das Thema eines mehr als erfüllten Lebens ein: Die Frau, die sich in ihrem langen Leben um so viele Kinder und Kindeskinder gekümmert hat (ἐφοράω), wird selbst von diesen bis ins hohe (παλαίγηρωϲ) Alter gepflegt (χερϲὶ) und geliebt (ϲτήθεϲι).

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V. 5 f. ἑκατονταέτιν: Auch wenn die statistisch niedrige Lebenserwartung – nach epigraphischen Zeugnissen lag die Lebenserwartung von Frauen im klassischen Athen bei 36,2 Jahren (Tsagalis 2008, 200) – in erster Linie durch Tod bei Geburt bzw. im Kindbett verursacht ist, stellt das von Onasagoratis erreichte Alter von hundert Jahren sicher eine Ausnahme dar. Es sind aber mehrere weitere Grabepigramme auf Hundertjährige und noch Ältere überliefert: GV 269; AP 7.224 (ed. pr.) CEG 477.2; vgl. RAC XII 1001–1003. Die Grabepigramme aus klassischer und hellenistischer Zeit tendieren dazu, als Altersangaben runde Zahlen zu bieten. — μακαριϲτόν … θρέμμα: Onasagoratis hat mit ihren zahlreichen Nachkommen und dem hohen Alter ein erfülltes Leben gehabt. Daher ist das preisende Adjektiv μακαριϲτόϲ völlig angebracht und steht in Einklang mit epigraphisch überlieferten Epitymbia (vgl. dazu Tsagalis 2008, 204 –207). – θρέμμα‚ das ‚von Menschen oder Tieren Aufgezogene‘, wird häufig für Pflegekinder und Sklaven benutzt. Darüber, dass Onasagoratis ein Pflegekind bzw. eine Adoptivtochter des Onasas war, lässt sich nur spekulieren, selbst wenn uns dies im Lichte der späteren präzisen Nomenklatur in Grabinschriften als naheliegend erscheint (vgl. z. B. IG VII 50). — Πάφιοι: Paphos gehörte lange Zeit zum Herrschaftsbereich der Ptolemäer (Bagnall 1976, 61 f.). — πυ[ριβρώτ]ωι … κόνει: πυρίβρωτοϲ ‚vom Feuer verzehrt‘, ist sonst nur noch einmal belegt (Strab. 17.1.27). Die Erstherausgeber vergleichen die Wortschöpfung mit Kallim. Del. 145: πυρίκμητοί τε λεβήτεϲ. Für τῆιδ’ ἐπέθεντο κόνει vgl. SEG 15.510 (1): τᾶιδε κόνε[ι κρύφεται], Kos, 2. Jh. v. Chr. Das Motiv der Pflege bzw. des Nährens wird sprachlich besonders stark betont: Onasagoratis, die selbst von Onasas aufgezogen worden ist (θρέμμα), kümmerte sich dann um eine Fülle an Kindern, bis sie schließlich im hohen Alter selber von diesen Kindern gepflegt und am Ende zur Nahrung des Feuers wurde. Als Sprecher fungiert in diesem Epigramm wieder ein anonymer Erzähler bzw. das Grab selbst. Zu den Hauptthemen zählen das außerordentliche Alter, das Onasagoratis erreicht hat, sowie der Reichtum an Nachkommen. Nach Athen (43), Pella (44), dem phönikischen Marathos (45) und Phokaia in Ionien (46) wird der Leser nun nach Paphos (auf Zypern) geführt. Im Zentrum des Bildes, das das Epigramm von der Toten präsentiert, steht Onasagoratis als Mutter und Urahnin mehrerer Generationen. Im Gegensatz zum vorangehenden Epitymbion preist das Grabepigramm ihr Leben vor allem mit Zahlen: Sie lebte hundert Jahre und hatte achtzig Nachkommen, von deren Händen und Herzen sie im Alter umsorgt wurde. 48 Grabepigramm für die Sklavin Bithynis, die neben ihren Besitzern beigesetzt worden ist. VIII

3 4 5 6

τοῦθ’ ἱκανὸ̣ν̣ ϲ̣υνετῆι Βιθ̣υνίδι τοὐγγύθι κεῖϲ[θαι τῆι δούλη̣[ι χ]ρ̣ηϲτῶν, ὦ Θέμι, δεϲποτέων· οὐ γὰρ] ἐ̣λευθ̣ερί̣ηι προϲεμόχθεον, εὖ χαριτοῦμ[αι, ἥτιϲ ἔ]χ̣ω̣ ϲ̣τήλην κρέϲϲον’ ἐλευθερίηϲ.

3 τοενγυθι P

Dies ist hinreichend für die verständige Bithynis, dass sie, die Sklavin, ‹hier› liegt neben ihren guten Herren, o Themis.

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Epitymbia 48

(Denn) ich strebte (nicht) nach Freiheit, ‹und› gut wurde ich belohnt, ich, die ich ein Grabmonument besitze, das besser ist als Freiheit. V. 1 ἱκανὸ̣ν̣: Das Adjektiv, das auch ‚passend‘, ‚geziemend‘ heißen kann, ist hier als ‚hinreichend‘, ‚genug‘ aufzufassen. Auch in diesem Epigramm arbeitet Poseidipp mit gattungstypischen Elementen. Das Motiv eines bescheidenen Grabs für einen Armen erscheint z. B. in einem Simonides zugeschriebenen Epigramm (Epigr.Gr. Simon. 80 Page): ἄνθρωπ’, οὐ Κροίϲου λεύϲϲειϲ τάφον· ἀλλὰ γὰρ ἀνδρόϲ / χερνήτεω μικρὸϲ τύμβοϲ, ἐμοὶ δ’ ἱκανόϲ („Mensch, Du siehst ‹hier› nicht das Grab des Krösus; ‹es ist› vielmehr der kleine Grabhügel eines armen Mannes; mir aber reicht er aus.“); vgl. auch AP 7.507a.2 (FGE Alexander 6): μικκὸϲ τύμβοϲ, ἐμοὶ δὲ ἱκανόϲ („ein kleines Grab, mir aber hinreichend“). — Βιθυνίϲ: Das Wort ist in dieser Form als ein Herkunft bezeichnendes Adjektiv durch eine attische Grabinschrift bezeugt (IG II² 8412; LGPN bietet keine Belege für Βιθυνίϲ als Eigenname). Im Epigramm handelt es sich wahrscheinlich um einen nach dem Herkunftsland der Sklavin gebildeten Eigennamen. Es ist jedoch nicht ganz auszuschließen, dass ϲυνετῆι (V. 1) als Name und nicht als Attribut zu δούληι (vgl. ed. pr.) aufzufassen ist; in diesem Falle wäre Syneté der Eigenname der Verstorbenen, während Βιθυνίϲ als eine Herkunftsangabe aufzufassen wäre: Syneté ‚aus Bithynien‘. Syneté ist als Eigenname vor allem für Attika (seit dem 4. Jh. v. Chr.; vgl. z. B. IG II² 12680 und LGPN II 410) und Kleinasien bezeugt (vgl. LGPN Va 415); zu Syneté als Sklavenname, allerdings aus wesentlich späterer Zeit, vgl. SEG LIII 513, C.1 (Thessalien 3. Jh. n. Chr.). — τοὐγγύθι: Der Papyrus bietet τοενγυθι; zu der Schreibung vgl. ed. pr. — τοὐγγύθι κεῖϲ[θαι: Das Motiv von Sklaven, die neben oder von ihren Besitzern bestattet worden sind, ist in hellenistischen Epigrammen mehrfach bezeugt: AP 7.178 (Dioskurides 38, 3. Jh. v. Chr.) betont, dass der Sklave neben seinem Herrn bestattet ist: ϲὸϲ ἐγώ, δέϲποτα, κἠν Ἀίδηι („Dir gehöre ich, Herr, selbst im Hades“), während AP 7.371 (Krinagoras, 1. Jh. v. Chr.) von einem Sklaven handelt, der von seinem Herren bestattet worden ist. Die Erstherausgeber führen als weiteres Beispiel eines Sklaven, der neben seinem Besitzer bestattet worden ist, AP 7.304.2–3 an; das Epigramm erwähnt die Namen des gefallenen Kriegers, seines Pferdes, Hundes und Sklaven (in dieser Reihenfolge), die offenbar alle in dem Grab liegen. V. 2 ὦ Θέμι: Es ist plausibel, dass sich Bithynis an die Göttin Themis wendet, um sie als Zeugin für den Wahrheitsgehalt ihrer Worte und als Bestätigung für die Bezeichnung ihrer Herren als ‚tüchtig‘/‚anständig‘ zu gewinnen. Die Erstherausgeber verstehen die Anrufung der Themis zudem als Hinweis darauf, dass die Bestattung der tüchtigen Sklavin neben ihren guten Herren ein Akt der Gerechtigkeit ist. Ebenfalls naheliegend ist es, dass sich gerade eine Unfreie, deren gesellschaftlicher Status und Schicksal von menschlichen Entscheidungen und dem Wohlwollen ihrer Herren abhängt, an eine Göttin wendet, die das von den Göttern gegebene Recht personifiziert, das für alle Menschen gilt. Wir wissen, dass Themis interessanterweise in Ichnae, in unmittelbarer Nähe von Pella, eine Kultstätte besaß (vgl. Hesych s.v. Ἰχναίη) und dass ihr Kult besonders in Nordgriechenland verbreitet war (dazu vgl. bes. K. Latte, RE Va 1628). — χ]ρηϲτῶν … δεϲποτέων: Die Erstherausgeber verweisen als Parallelen für die Junktur auf Eur. fr. 529 Kannicht u. Men. fr. 787 Kassel-Austin. Die Tatsache, dass χρηϲτόϲ in Grabinschriften normalerweise Verstorbene charakterisiert, könnte darauf hindeuten, dass die Herren der Sklavin schon vor dieser gestorben sind und ihr im Testament eine würdige Bestattung in ihrer Nähe vermacht haben.

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V. 3 οὐ γὰρ] ἐλευθερίηι προϲεμόχθεον: Die Erstherausgeber haben sich als Ergänzung des verlorenen Anfangs von V. 3 gegen οὔ ποτ’ und für οὐ γὰρ entschieden, weil das zweite Distichon in kausaler Verbindung zum ersten zu stehen scheint. Das Kompositum προϲμοχθέω ist sonst nicht bezeugt, während das Simplex μοχθέω i. S. v. ‚hart arbeiten; sich sehr anstrengen‘ seit Homer belegt ist (Il. 10.106); die Konstruktion mit Dativ wird hier von der Präposition bestimmt. — εὖ χαριτοῦμ[αι: χαριτόω ist verhältnismäßig selten und spät bezeugt (vgl. LSJ); die Erstherausgeber haben Spuren des Buchstaben μ vor der lacuna erkannt, was auf χαριτοῦμ[αι hindeutet; die Bedeutung der passivisch aufzufassenden Form entspricht dem Ausdruck ἔχω χάριταϲ (‚mir wird [eine] Gunst erwiesen‘). V. 4 ἥτιϲ ἔ]χ̣ω̣ ϲ̣τήλην κρέϲϲον’ ἐλευθερίηϲ: κρέϲϲονα bedeutet hier ‚stärker‘ i. S. v. ‚dauerhafter‘. Die Erstherausgeber machen darauf aufmerksam, dass die Pointe des Epigramms in einer Inversion des aus heroischen Epitymbia bekannten Topos besteht, dass „nichts mächtiger als die Freiheit“ sei (vgl. IG II² 5225 = GV 26.1: ο[ὐδ]ὲν ἐλευθερίαϲ κρεῖττ[ον]). Auf den ersten Blick sind das Bild und die Pointe jedenfalls unerwartet, da ausgerechnet einer Grabstele eine solche Bedeutung zugeschrieben wird: Vermutlich ist in der letzten Zeile des Epigramms ausgedrückt, dass die Stele als ewiges Andenken an Bithynis bestehen bleiben wird, während die Freiheit samt dem Leben vergeht. Unter dem Aspekt der Dauer ist der Grabstein tatsächlich stärker als die Freiheit; für die verbreitete Ansicht, dass eine Grabstele auf ewige Erinnerung abzielt, ist Simonides’ Protest (PMG fr. 76) ein frühes Zeugnis. Austin (2001a, 167) hat erwogen, ob das gesamte Epigramm als eine Aussage der Bithynis aufzufassen ist. Diese Annahme erscheint jedoch als eher unwahrscheinlich. Denn in diesem Falle müsste sich Bithynis selber als ϲυνετή bezeichnen. Es ist also wohl davon auszugehen, dass sich die Erzählperspektive – ähnlich wie in 60 – mit dem Übergang vom ersten zum zweiten Distichon ändert: Während das erste Distichon von einem Außenstehenden – von einem Freunde oder vom Grab – gesprochen wird, wendet Bithynis sich im zweiten Distichon selbst an den Leser. Unter den 20 Epitymbia Poseidipps gibt es nur drei, in denen der bzw. die Verstorbene selbst zu Wort kommt (46, 48 und 60), und interessanterweise handelt es sich in zweien der Epigramme um einfache Frauen (die Sklavin Bithynis in 48 und die Tagelöhnerin Batis in 46). Mit der anrührenden Freude der Sklavin über das Geschenk ihrer Herren werden darüber hinaus übliche Erwartungen an das Leben in Frage gestellt: Mehr als über ein mögliches Geschenk der Freiheit freut sich die Sklavin darüber, dass sie neben ihren Herren bestattet werden durfte. 49 Epigramm auf Hegedike, die jung verstorben ist. VIII 7 8 9 10 11 12

.……]ύ̣ουϲ̣α Φιλαίνιον ὧδε ϲὺν αὐλῶι [.……. μ]ελέην Ἡγεδίκην ἐτίθει ὀκ̣[τωκαιδε]κέτι̣ν, μέγα δάκρυον· αἰ δὲ λίγ̣[ε]ι̣α̣ι̣ κεκ[.……].νω̣[ν] αἶψα καθ’ ἱϲτοπόδω̣ν̣ ε.[……].[…].κα· τὸ γὰρ χρύϲεο̣ν̣ ϲ̣τό̣μα κο̣ύ̣[ρ]η̣ϲ̣ ……] ζ̣ο̣φερῶι τῶιδε μένει θαλάμωι.

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Epitymbia 49

7 ὀξέα κωκ]ύ̣ουϲ̣α Austin 2001a, ed. min. (Livrea 2002, Garulli 2004b) : μήτηρ κωκ]ύ̣ουϲ̣α Luppe 2003d  8 [μήτηρ τὴν μ]ελέην Austin 2001a, ed. min. (Livrea 2002, Battezzato 2003, Garulli 2004b) : [τύμβωι τὴν μ]ελέην Luppe 2003d : [γῆν ὕπο τὴν μ]ελέην De Stefani 2003  10 κε‹ρ›κ[ίδεϲ ed. pr., min.  αἰ]η̣νῶ̣[ν] Austin 2001a, ed. min. : αἰπε]ι̣νῶ̣[ν] Livrea 2002 (def. Ferrari 2005)  11 ἐρ̣ρ̣[ίπτοντο·] π̣[έφρ]ι̣κα ? Austin 2001b (ἐρρίπτοντο def. Battezzato 2003) : ἔρ̣ρ̣[ιπτον βόμβ]υ̣κα Livrea 2002 : ἔρ̣ρ̣[ιπτον λί]ν̣[α λε]υ̣κά Ferrari 2005 : ἔρ̣ρ̣[εον ε(ἰ)ϲ et acc. sg. ].κα Lapini 2003b : ἔξ̣έ̣[πεϲον De Stefani 2003  12 ἄψυχον] Austin 2001a : ἔμψυχον] Livrea 2002 : ϲιγῶν ἐν] Luppe 2003d : ϲιγηλὸν] Battezzato 2003 (def. Ferrari 2005) : ϲιγῆι (vel κωφὸν vel αἰεὶ vel αὖον) ἐνὶ Lapini 2007  μενεῖ Lapini 2002

[…] Philainion so mit der Flöte […] die arme Hegedike bestattet die achtzehnjährige, viel beweinte; und die hellklingenden […] schnell vom Webstuhl herab […] denn der goldene Mund des Mädchens […] bleibt in diesem dunklen Zimmer. V. 1 …]ύ̣ουϲ̣α: Auch wenn das erste υ auf den Fotos des Papyrus kaum zu lesen ist, kann Austins Ergänzung (ed. pr. 168 κωκύουϲα) als sicher gelten. κωκύω ‚aufschreien‘, ‚jammern‘, ‚klagen‘ (intr.), bzw. ‚jemanden beklagen‘, ‚bejammern‘ (tr.) wird in der Poesie ausschließlich für die Klage von Frauen verwendet. Wer wie Austin absolutes τιθέναι in der Bedeutung ‚bestatten‘ für möglich hält und die Bestimmung der Philainion als Mutter an den Anfang von V. 2 stellt, kann am Anfang von V. 1 ein Adverb wie ὀξέα (‚hell aufschreiend‘) ergänzen; vgl. z. B. Il. 18.71 oder Bion 1.23. — Φιλαίνιον: Das Diminutivum von Philainis/Philaina findet sich in hellenistischen Epigrammen auch bei Asklepiades (HE 842) und bei Philodem von Gadara (Epigr. 17 Sider), sowie später auch in AP 7.487 und 9.254. Der Name könnte darauf deuten, dass die Mutter der Toten eine Hetäre ist: In dem Epigramm des Asklepiades wird der Dichter von einer gleichnamigen Hetäre verführt, und bei Philodem (V. 121) wird eine Philainion dafür gelobt, „dass sie alles anbietet, und häufig den Preis zu nennen vergisst“; in einem anonymen Epigramm (AP 6.284) treffen wir eine Philainion, die für einen schönen Mantel mit einem jungen Mann schläft, und in Plautus’ Asinaria 746–796 erscheint eine Philainion, die anscheinend zu den bestbezahlten Prostituierten zählt. Tarán (1979, 115–132) hat hellenistische Epigramme analysiert, die von Weberinnen handeln, die Hetären geworden sind; und auch im Haushalt unserer Philainion begegnen wir einem Webstuhl (s. V. 3–5). Es scheint, dass nach der Kinderfrau Onasagoratis (47) und der Sklavin Bithynis (48) nun die Tochter einer Hetäre zum Thema eines Epigramms wird. Angesichts der Tatsache, dass in Epigrammen auf jung verstorbene Mädchen „oft die Trauer und Klage der Mutter allein erwähnt oder besonders hervorgehoben wird“ (Seelbach 1964, 64), liegt die Annahme nahe, dass Philainion die Mutter der Toten ist; und da die Ergänzung κωκύουϲα als sicher gelten kann, kann μήτηρ nur am Anfang von V. 1 (Luppe 2003d) oder am Anfang von V. 2 (Austin, ed. pr.) gestanden haben. Für Luppes Vorschlag spricht, dass ἐτίθει allein für „‚bestattete‘ nicht ausreichend zu sein scheint“, der Platz am Anfang von V. 2 also besser mit τύμβωι (Luppe) oder mit γῆν ὕπο (de Stefani 2003b, 74 f.) zu füllen ist. — ὧδε ϲὺν αὐλῶι: ὧδε ist entweder modal zu verstehen (‚so‘, ‚auf diese Weise‘ bzw. ‚so sehr‘) oder lokal (‚hier‘, d. h. ‚an diesem Grab‘). Zur Rolle des Aulos in Bestattungsriten vgl. West 1992, 23 u. Tsagalis 2008, 172 f.; Garulli (2004b, 41 f.) verweist als Parallele auf GV 695.5 f., wo die Tote von ihrem Gatten „mit Gesängen und Rhythmen (Musik)“ bestattet worden ist. Dass ϲὺν αὐλῶι bedeuten soll, dass Hegedike zusammen mit ihrem Aulos

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bestattet worden ist, halten die Erstherausgeber für unwahrscheinlich. Diese Möglichkeit kann aber, wie Luppe zu Recht anmerkt (s. u. zu V. 5 f.), nicht ausgeschlossen werden. V. 2 τὴν μ]ελέην Ἡγεδίκην: Die Ergänzung der Erstherausgeber kann als sicher gelten: μέλεοϲ (‚unglücklich‘, ‚elend‘, ‚arm‘), das ansonsten häufiger für Lebende als für Tote verwendet wird, beschreibt bei Poseidipp auch in 54.2 ein junges Mädchen, das allzu früh gestorben ist. Der Eigenname Ἡγεδίκη ist sonst nicht belegt. Möglicherweise ist der Name mit dem (allerdings auch nur einmal bezeugten) Männernamen Ἀγέδικοϲ verwandt (IG VII 3167.3, Orchomenos, 3. Jh. v. Chr.). V. 3 ὀκ̣[τωκαιδε]κέτι̣ν: Dieselbe Altersangabe (‚die Achtzehnjährige‘) findet sich mehrfach – in literarischen wie in inschriftlichen Grabgedichten – am Anfang eines Hexameters: AP 7.167.5 (Dioskurides): ὀκτωκαιδεκέτιϲ δ’ αὐτὴ θάνον, „achtzehnjährig starb ich“; IG XII VIII 38.4 (Lemnos, 2. Jh. n. Chr. = GV 1162): ὀκτωκαιδε[κέ]τιν με χυτὴ κ[όν]ιϲ ἥδε καλύπτει, „mich, die achtzehnjährige, birgt diese über mir aufgeschüttete Erde“; vgl. ferner IG V I 1222.9 = GV 991.5 (Teuthrona, Lakonien, 2. Jh. n.Chr): ὀκτωκαιδεκέτη δὲ χρόνον ζήϲαϲα, „achtzehn Jahre lebte sie…“ (vgl. ed. pr.). — μέγα δάκρυον: Hier wird δάκρυον (Träne) offenbar i. S. v. δάκρυμα (Grund des Weinens) gebraucht (vgl. LSJ ‚δάκρυμα‘: „that which is wept for, a subject of tears“); die Erstherausgeber verweisen als genaue Parallele (auch in Junktur mit κωκύω) auf AP 7.527.1 f. (Theodoridas): Θεύδοτε, κηδεμόνων μέγα δάκρυον, οἵ ϲε θανόντα / κώκυϲαν, „Theudotos, große Trauer der Pfleger, die dich nach deinem Tod bejammerten.“ — αἱ δὲ λίγ̣[ε]ι̣α̣ι̣: Das Adjektiv ist auch in 45.3, sowie bei zwei weiteren Dichtern hellenistischer Zeit am Ende des Verses belegt (Kallim. Artem. 242: Enjambement mit ϲύριγγεϲ, Apoll. Rhod. 4.892: Enjambement mit Ϲειρῆνεϲ). V. 4 κεκ[. . . .].νω̣[ν]: In Anlehnung an 45 haben die Erstherausgeber vorgeschlagen, am Anfang des Verses κε‹ρ›κ[ίδεϲ zu konjizieren; zur κερκίϲ vgl. o. 45.3. — αἰπε]ι̣νῶ̣[ν]: Livreas (2002) Ergänzung mit dem Gen. Pl. von αἰπεινόϲ, ‚hoch‘, ‚steil‘ ist in Bezug auf die hohen Balken des großen stehenden Webstuhls plausibler als Austins αἰ]ην̣ ῶ[̣ ν] (ed. pr.), von αἰηνήϲ (‚andauernd‘, ‚endlos‘, ‚mühselig‘); wirklich befriedigend ist keiner der beiden Vorschläge, da beide Adjektive vor allem in Bezug auf Natur (Berge, Straßen und Städte) bzw. Zeit/Dauer und nicht auf Gegenstände gebraucht werden (vgl. LSJ). — αἶψα: Das Adverb (‚schnell‘, ‚plötzlich‘) gehört zu dem am Anfang von V. 5 verlorengegangenen finiten Verb. Wahrscheinlich bringt das plötzliche Zur-Erde-Fallen der Weberschiffchen die Plötzlichkeit des Todes zum Ausdruck. Zu einer ähnlichen Vorstellung in einem Grabepigramm, allerdings aus wesentlich späterer Zeit, vgl. IG XIV 63.1. V. 5 ε.[……].[…].κα: Für den fast vollständig verlorenen Anfang des Verses ist bisher keine überzeugende Lösung gefunden worden, zumal die vorhandenen Buchstabenreste zwischen den beiden lacunae und vor κα unterschiedlich gedeutet worden sind. Bei Austins ἐρρ̣ [̣ ίπτοντο·] π̣[έφρ]ι̣κα (‚‹die Weberschiffchen› wurden ‹weg›geworfen; ich schaudere‘) bleibt offen, wer denn da die Weberschiffchen wegwirft und warum plötzlich ein persönlicher Sprecher des Epigramms eingeführt werden sollte; bei Livreas ἔρ̣ρ̣[ιπτον βόμβ]υ̣κα (‚‹die Weberschiffchen› warfen das Gewebe zu Boden‘) und Ferraris ἔρ̣ρ̣[ιπτον λί]ν̣[α λε]υ̣κά (‚‹die Weberschiffchen›

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Epitymbia 49

warfen die weißen Fäden zu Boden‘) bleibt unverständlich, wie Weberschiffchen das Gewebe vom hohen Webstuhl werfen (fallen lassen) können. Soll der Webstuhl vielleicht metaphorisch als Freund des Mädchens verstanden werden, der seine Trauer um das Mädchen zum Ausdruck bringen will? De Stefanis ἔξ̣έ̣[πεϲον (‚‹die Weberschiffchen› fielen herab ‹vom Webstuhl›‘) würde inhaltlich besser passen, ist aber paläographisch kaum vertretbar. — χρύϲεο̣ν̣ ϲ̣τό̣μα κο̣ύ̣[ρ]η̣ϲ̣: Als Parallele hat Garulli (2004b, 42 f.) auf GV 1938.8 (IGUR III 1305, 2 Jh. n. Chr.) hingewiesen, wo von einer gewissen Petronia Musa, die als honigsüße Nachtigall bezeichnet wird, gesagt wird, dass „ihr goldener Mund verschlossen ist“ (ϲτόμα πέφρακται τὸ χρύϲεον). V. 6 Da der in V. 5 beginnende Satz syntaktisch vollständig ist, dürfte in der Lücke am Anfang des Verses ein Adjektiv als Attribut zu χρύϲεον ϲτόμα oder eine adverbielle oder partizipiale Ergänzung zu μένει gestanden haben. Von den vorgeschlagenen Adjektiven ist Battezzatos ϲιγηλὸν ‚schweigend‘, ‚still‘ (prädikativ zu μένει) am überzeugendsten. Battezzato bemerkt zu Recht, dass Austins ἄψυχον redundant und Livreas ἔμψυχον nicht sinnvoll ist. Wenn man zu dem lokalen Dativ ζ̣ο̣φερῶι τῶιδε θαλάμωι (‚in dieser dunklen Kammer‘) die in poetischen Texten nicht erforderliche Präposition ἐν bzw. ἐνὶ ergänzt, kommen auch Lapinis ϲιγῆι ἐν oder κωφὸν ἐνὶ in Betracht. Mit dem auf θάλαμοϲ (‚Hochzeitsgemach‘) bezogenen Adjektiv ζοφερόϲ (‚dunkel‘) wird das häufig belegte Motiv des Todes vor bzw. an Stelle einer Hochzeit angedeutet, wie es in 50.2 f. explizit entwickelt wird (vgl. u.). ζοφερόϲ wird in Grabepigrammen gern für das Grab sowie für die Unterwelt und ihre Bewohner gebraucht (vgl. GV 1511.8, Kerkyra, 3./2. Jh. v. Chr.: „dunkle Erde“ birgt den Toten; GV 1989.20, Pantikapaion, 1. Jh. v. oder n. Chr.: Hades hat „dunkle Hände“). Statt sich an Hymenaios, an den Fackeln beim Hochzeitsumzug und am Brautgemach zu erfreuen, bleibt Hegedike stumm im Dunkel der Unterwelt; vgl. SGO 16/46/2.1 f. (Phrygien, Kaiserzeit): ο̣ὐ̣ γάμον οὐ θάλαμον γαμβροῦ ἴδον οὐθ’ ὑμέναιον / οὐ λύχνουϲ γαμικοὺϲ ὁ τρίταλοϲ ἐγώ „Nicht sah ich die Hochzeit, nicht das Gemach eines Bräutigams, nicht das Hochzeitslied und nicht die Hochzeitsfackeln, ich Dreimal-Unglücklicher.“ Zum selben Motiv vgl. GV 1821; 1826; 1853; 2038.19 und SGO V 338. — μένει: Zu erwägen wäre auch das von Lapini (2002) vorgeschlagene μενεῖ, das die ewige Dauer von Hegedikes Aufenthalt in der Unterwelt stärker ausdrückt als das Präsens μένει. Rekonstruktionsvorschlag μήτηρ κωκ]ύουϲα Φιλαίνιον ὧδε ϲὺν αὐλῶι γῆν ὕπο τὴν μ]ελέην Ἡγεδίκην ἐτίθει ὀκ[τωκαιδε]κέτιν, μέγα δάκρυον· αἰ δὲ λίγ[ε]ιαι κε‹ρ›κ[ίδεϲ αἰπε]ινῶ[ν] αἶψα καθ’ ἱϲτοπόδων ε. . [. . . .] .[. .] .κα· τὸ γὰρ χρύϲεον ϲτόμα κού[ρ]ηϲ ϲιγηλὸν] ζοφερῶι τῶιδε μενεῖ θαλάμωι. Hellaufschreiend hat die Mutter Philainion hier, begleitet vom Aulos, die unglückliche Hegedike bestattet, die achtzehnjährige, viel beweinte. Und die hell tönenden Weberschiffchen (fielen?) auf einmal vom hohen Webstuhl […]. Denn der goldene Mund des Mädchens wird schweigend in diesem dunklen Brautgemach bleiben.

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Battezzato (2003, 31 f.) hat darauf hingewiesen, dass das Epigramm in den Ohren des Lesers eine Art Kadenz hervorruft: die imaginierten Geräusche werden schrittweise leiser, bis sich am Ende mit dem schweigenden Mund des verstorbenen Mädchens, das einst offenbar wunderbar singen konnte, eine endgültige Stille einstellt: ὀξέα κωκ]ύ̣ουϲ̣α … ϲὺν αὐλῶι (V. 1) …λίγ̣[ε]ι̣α̣ι̣ (V. 3– 4) …χρύϲεο̣ν̣ ϲ̣τό̣μα (V. 5). Außerdem evoziert das Epigramm eine fast symbiotische Beziehung zwischen dem Mädchen und dem Webstuhl: der goldene Mund des Mädchens (χρύϲεο̣ν̣ ϲ̣τό̣μα κο̣ύ̣[ρ]η̣ϲ̣) und die hellklingenden Töne (λίγ̣[ε]ι̣α̣ι̣ κε‹ρ›κ[ίδεϲ) des Webstuhls, die einstmals reizend zusammen sangen, verstummen fast gleichzeitig. Das plötzliche Herabfallen der Weberschiffchen (vgl. o.) ist einerseits ein Omen: Es verkündet den Tod des Mädchens. Andererseits symbolisiert es die realen Gegebenheiten: Das Resultat des Webens – das vermutlich für ihr Brautkleid gedachte weiße Gewebe – wird Hegedike in ihrem dunklen Brautgemach nicht mehr brauchen. Das Gedicht scheint in der Zusammenschau mit dem folgenden Epigramm ein Diptychon zu bilden; vgl. dazu u. die Interpret. zu 50. 50 Epigramm auf Hedeia, die vor ihrer Hochzeit verstorben ist. VIII 13 14 15 16 17 18

κ̣υάνεον νέφοϲ ἦλθε δι’ ἄϲτεοϲ, ἡνίκα κούρην τοῦθ’ ὑπὸ ϲῆμα τιθεὶϲ ἔϲτενεν Ἠετίων, ἀγκαλέων Ἡδεῖαν ἑὸν τέκοϲ, ἧϲ Ὑμέναιοϲ ἠρίον οὐ θαλάμου χερϲὶν ἔκοψε πύλην· εὐπαθὲϲ ἄλγ̣[οϲ ……] πόλει, ἀλλὰ τὰ κεινῶν ἀϲτῶν ἀ̣ρ̣κε̣[.…….]α καὶ ϲτοναχαί.

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16 ἠρίου Lloyd-Jones 2002  17 ευπαθεϲ P, susp. (def. Gronewald 2003) : ϲυμπαθὲϲ ed. pr., min. (def. Casanova 2002) : ἐμπαθὲϲ ? Lloyd-Jones 2002  ἔην πάϲηι] Austin 2001a, ed. min. : ἔοι πάϲηι] Gronewald 2003 : ἐὸν μὲν ὅληι] De Stefani 2003, fort. spatio longius  τὰ κεινῶν ed. pr., min. (def. Austin 2002b) : τὰ κεινὰ Gronewald 2001 : τὰ κείνων Lloyd-Jones 2002 : ταπεινῶν Casanova 2002 : τὰ κείνηϲ Handley 2004 : τὰ Κείων Tammaro 2010  18 ἀ̣ρ̣κε̣[ίτω δάκρυ]α ed. pr., min.

Eine dunkle Wolke ging durch die Stadt, als Eetion, das Mädchen unter diesem Grabmal bestattend, aufstöhnte, den Namen seiner Tochter Hedeia rufend, bei der Hymenaios an das Grab, nicht an die Tür des Brautgemachs mit seinen Händen klopfte. Leicht erlittener Schmerz […] der Stadt, aber die der beraubten Mitbürger […] und die Seufzer. V. 1 κ̣υάνεον νέφοϲ ἦλθε δι’ ἄϲτεοϲ: κ̣υάνεον νέφοϲ ‚eine dunkle/schwarze Wolke‘ kann metaphorisch für die Dunkelheit verwendet werden, die einen Sterbenden umfängt; die homerische Wendung (vgl. z. B. Hom. Il. 20.417 f.: νεφέλη δέ μιν ἀμφεκάλυψε / κυανέη, „ihn aber umhüllte eine dunkle Wolke“; 16.359: θανάτου μέλαν νέφοϲ, „schwarze Wolke des Todes“) findet sich auch in Grabepigrammen; vgl. z. B. AP 7.251.2 (FGE, Sim. IX): κυάνεον θανάτου ἀμφεβάλοντο νέφοϲ, „sie hüllten sich in eine schwarze Wolke des Todes“. Das Bild wird bei Homer aber auch für die Trauer verwendet, die jemanden überkommt; vgl. etwa Hom. Od. 24.316: τὸν δ’ ἄχεοϲ

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νεφέλη ἐκάλυψε μέλαινα („ihn hüllte die schwarze Wolke der Trauer ein“), und schließlich kann νέφοϲ auch eine große Masse von Menschen oder Tieren bezeichnen; vgl. z. B. Il. 4.274: νέφοϲ πεζῶν oder 16.66: νέφοϲ Τρώων. Der Zusatz δι’ ἄϲτεοϲ zeigt, dass hier eher der Bestattungszug, der durch die Stadt führt, gemeint ist als nur die Wolke der Trauer, die sich schwarz über die ganze Stadt legt (vgl. ed. pr.). Evoziert wird damit auch die dunkle Trauerkleidung, die die Bürger bei der Bestattung der Hedeia getragen haben, und die Menge der Trauernden, die die Tote bis zum Grab begleiteten. Zum Motiv des Todes einer Person, die von der ganzen Stadt betrauert wird, vgl. u. V. 5 zu ἄλγοϲ. — κούρην: Wie Hegedike in 49.5, wird Hedeia als κούρη (‚Mädchen‘) bezeichnet, da sie noch vor der Hochzeit starb. V. 2 τοῦθ’ ὑπὸ ϲῆμα τιθεὶϲ: Der Ausdruck für die Bestattung ist ungewöhnlich; das von den Ersther­ ausgebern angeführte ϲῆμα τιθεὶϲ Τρώεϲϲι, „den Troern ein Zeichen ‹für den Sieg› gebend“ (Hom. Il. 8.171) ist, wie die Editoren selbst einräumen, keine Parallele. Poseidipp verwendet τιθέναι auch im vorangehenden Epigramm (49.2) für die Bestattung der Hegedike. Die Verbindung τιθέναι ὑπὸ ϲῆμα stützt De Stefanis γῆν ὕπο (s. Komm. zu 49.1 f.) — ἔϲτενεν: Zur Klage bei der Bestattung vgl. Alexiou 2002, 32–36. Dem Motiv der stöhnenden Eltern begegnet man in inschriftlichen wie in literarischen Grabepigrammen auf den Tod von vorzeitig/vor der Hochzeit verstorbenen Kindern; vgl. CEG 587 (SEG 12.193); AP 7.547.3 f. — Ἠετίων: Der Name des Vaters findet sich überwiegend in myth-historischer Zeit: In der Ilias tragen diesen Namen drei Menschen aus der Troas und der davor liegenden Insel Imbros (Hom. Il. 6.396: Vater der Andromache; Il. 21.43: ein Gast des Priamos von Imbros; Il. 17.590: ein Trojaner); dazu kommen ein attischer Heros (BNP 5) und der Vater des Tyrannen Kypselos (BNP 6). In historischer Zeit ist der Name laut LGPN nur einmal bezeugt (vgl. LGPN IV 151); allerdings findet sich dieser Beleg interessanterweise in einem Epigramm des Kallimachos (24 Pfeiffer), wo ein Mazedonier aus Amphipolis diesen Namen trägt. Die Anmerkung von Gow-Page: „Eetion was a common name“ (HE II 212), ist irreführend. V. 3 ἀγκαλέων: Das Verb evoziert die rituelle Klage bzw. die Anrufung des toten Mädchens bei der Bestattung. Das Motiv findet sich seit archaischer Zeit immer wieder im Epigramm: Day (1989 passim, bes. 25–27) hat darauf hingewiesen, dass die Epitaphien, die sich auf eine rituelle Klage beziehen, das bei der Bestattung stattfindende Ritual im Akt des lauten Lesens mimetisch reproduzieren. Als Parallelen aus Grabepigrammen hellenistischer Zeit verweisen die Herausgeber auf AP 7.486.3, wo die Mutter die Seele ihrer vor der Hochzeit gestorbenen Tochter anruft, sowie AP 7.542.7 f. mit der Anrufung des Kindes und der Beschwörung seines Todes und der Bestattung in direkter Rede. — Ἡδεῖαν: Der Name Hedeia (wörtlich: ‚die Süße‘) ist sehr geläufig und seit klassischer Zeit von Attika bis Kleinasien ebenso für Angehörige der Oberschicht wie für Hetären gut bezeugt (vgl. Dillon 2002, 203). — Ὑμέναιοϲ: Statt des bei der Hochzeit gesungenen Liedes erscheint hier der Gott der Hochzeit, eine seit Pindar bekannte Personifikation (vgl. Pind. fr. 28c Snell-Maehler, sowie Eur. Tr. 310 u. 314 mit Bremmer in BNP); zum Hymenaios als Lied vgl. Contiades-Tsitsoni, E. 1990: Hymenaios und Epithalamion, Stuttgart. V. 4 ἠρίον … πύλην: Der Papyrus gibt ἠρίον: ‚‹Hymenaios› klopft an das Grab, nicht an die Tür des Brautgemachs.‘ Lloyd-Jones’ (2002) Konjektur ἠρίου (‚‹Hymenaios› klopft an die Tür nicht des Grabes, sondern des Brautgemachs‘) ist zwar nicht zwingend, aber attraktiv. Austin

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bezeichnet die durch ἠρίου entstehende Reihe von ου-Lauten als „unelegant“. Man kann aber der Auffassung sein, dass ihre Anhäufung gerade in den Worten, die die Antithese zwischen dem Grab und Brautgemach zum Ausdruck bringen (ἠρίου οὐ θαλάμου), klanglich die seufzende Wehklage des Vaters wiedergibt. Zur Klage der Eltern am Grab des Kindes vgl. Petrovic 2010. Zu einer vergleichbaren Antithese vgl. CEG 587.1 f. (4 Jh. v. Chr., Athen): οὐ ϲὲ γάμων πρόπολοϲ, Πλαγγών, Ὑμέναιοϲ ἐν οἴκοιϲ / ὤλβιϲεν, ἀλλ’ ἐδάκρυϲ’, „Plangon, der Diener der Hochzeit, Hymenaios, hat dich im Hause nicht glückselig gepriesen, sondern beweint.“ Tod vor bzw. statt der Hochzeit ist eines der häufigsten Motive in Grabepigrammen für vorzeitig Gestorbene (ἄωροι); vgl. ed. pr. sowie SGO V 338, wo die Belege aus den inschriftlichen Grabepigrammen aus dem Osten gesammelt sind. Es handelt sich um eine Antithese, die bereits im Epos (Hom. Od. 20.307) und bei Sophokles (Ant. 813–816) vorkommt; vgl. Lattimore 1962, 192–194 ; Griessmair 1966, 63–75 sowie Wypustek 2013, 99–102 mit dem Überblick über die neuere Literatur. — χερϲὶν ἔκοψε: Wie die Erstherausgeber anmerken, wird mit dem Klopfen an die Tür ein am Abend des Hochzeitstages stattfindendes Ritual evoziert: Wenn das frisch verheiratete Ehepaar sich in sein Brautgemach zurückgezogen hat, klopfen die Gäste an die Tür und singen dabei (Oakley/Sinos 1993, 36 f., mit Ηesych κ 4329– 4330); auf dieses Ritual wird auch in anderen Grabepigrammen angespielt (AP 7.711.7 f.; 7.182.3 f.). V. 5 f. εὐπαθὲϲ ἄλγ̣[οϲ ……] πόλει: Das übliche Bedeutungsfeld von εὐπαθήϲ ist kaum mit dem darauf folgenden αλγ[ und mit dem Sinn des letzten Verses in Einklang zu bringen; vgl. LSJ: „enjoying good things, easy, luxurious, easily affected, susceptible.“ Die Erstherausgeber nehmen deshalb ein Versehen des Kopisten an und schlagen ϲυμπαθὲϲ vor, das gut zu dem beliebten Motiv der gemeinsamen Klage der Stadt passen würde. Lloyd-Jones erwägt auch ἐμπαθὲϲ (‚tiefgefühlt‘, ‚brennend‘), das allerdings im Epigramm nicht belegt ist. Gronewald (2003, 65) hat dagegen versucht, das überlieferte Oxymoron εὐπαθὲϲ mit dem Hinweis auf den stoischen Begriff der εὐπάθεια zu verteidigen, „mit welchen die Stoa den als krankhaft empfundenen Affekten berechtigte Gefühle zur Seite stellt.“ Mit der darauf folgenden Ergänzung ἄλγ[οϲ ἔοι πάϲηι] πόλει in der lacuna ergäbe sich die Empfehlung Poseidipps, den Schmerz maßvoll zu empfinden. Gronewalds Vorschlag für V. 6 lautet entsprechend: ἀλλὰ τὰ κεινὰ / ἀϲτῶν ἀ̣ρ̣κε̣[ίτω δάκρυ]α καὶ ϲτοναχαί („doch der nutzlosen Tränen und Klagen der Bürger sei es ‹nun› genug“, s. u. zu V. 6). — ]πόλει: Die von den Erstherausgebern vorgeschlagene Ergänzung ἄλγοϲ ἔην πάϲηι] πόλει ist überzeugend. Dass die gesamte Stadt trauert, ist in literarischen Epigrammen und Versinschriften aus hellenistischer Zeit gut belegt; bei Poseidipp beklagt die ganze Stadt den Tod eines Mädchens auch in 55 (ähnlich, ohne πᾶϲα, auch in 44); bei Kallimachos erscheint das Motiv in epigr. 20 Pfeiffer (= AP 7.517.5 f.): κατήφηϲεν δὲ Κυρήνη / πᾶϲα τὸν εὔτεκνον χῆρον ἰδοῦϲα δόμον „Ganz Kyrene verstummte, als sie das mit Kindern gesegnete Haus verwaist sah“; als inschriftliche Belege vgl. GV 1068.7 u. 1823.7. In 50 liegt der Focus der Trauer zunächst auf dem Vater und dann auf der gesamten Stadt (vgl. AP 7.363.9 f.). — κεινῶν: Die Erstherausgeber deuten die Buchstabenfolge κεινων als Gen. Pl. zu κεινόϲ (ionisch-epische Form von dem bei Poseidipp auch belegten κενόϲ [89.1: ὁ κενὸϲ τάφοϲ]) in der Bedeutung ‚beraubt‘ (vgl. SH 705,19 und LSJ A.II.1), während Lloyd-Jones (2002) vorschlägt, κείνων („of those citizens, i. e. the members of the family“) zu lesen. Gronewalds Konjektur κεῖνα ist unnötig. V. 6 ἀ̣ρ̣κε̣[…….]α καὶ ϲτοναχαί: Der Ergänzungsvorschlag der Erstherausgeber: ἀ̣ρ̣κε̣[ίτω δάκρυ]α καὶ ϲτοναχαί ist so gut wie sicher. Die Verbindung von Tränen und Wehklagen (δάκρυ]α καὶ

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ϲτοναχαί) ist seit Homer gut belegt (vgl. Od. 5.83) und findet sich auch in inschriftlichen und literarischen Epitymbia; vgl. z. B. IG II² 13124 = GV 1361.5 (Athen 2. Jh. v. Chr.) oder GV 855.4 (Split, Kaiserzeit), sowie AP 7.344.4. Im letzten Vers rät der Sprecher des Epigramms der Stadt, die Trauer den Hinterbliebenen zu überlassen. Die Aufforderung erinnert, wie die ed. pr. anmerkt, an die in Grabepigrammen häufiger belegten Anweisungen der Toten, ihnen nicht (mehr) nachzuweinen; zu den sog. Trostmotiven vgl. Griessmair 1966, 83–97 und Tsagalis 2008, 58–60. Zugleich ist sie als eine Reaktion auf die Gesetzgebung zu lesen, mit der exzessives Trauern in der Öffentlichkeit begrenzt und reguliert wurde; gerade in hellenistischer Zeit finden wir an mehreren Orten strenge gesetzliche Regelungen, die darauf abzielen, das Verhalten der Prozessionsteilnehmer, die Länge der Trauerzeit, die Kleidung der Verwandten der Verstorbenen, die Form der Bestattungen und anderes mehr zu regulieren; vgl. dazu Dillon 2004, 272–288. Rekonstruktionsvorschlag κυάνεον νέφοϲ ἦλθε δι’ ἄϲτεοϲ, ἡνίκα κούρην τοῦθ’ ὑπὸ ϲῆμα τιθεὶϲ ἔϲτενεν Ἠετίων, ἀγκαλέων Ἡδεῖαν ἑὸν τέκοϲ, ἧϲ Ὑμέναιοϲ ἠρίου οὐ θαλάμου χερϲὶν ἔκοψε πύλην· ϲυμπαθὲϲ ἄλγ[οϲ ἔην πάϲηι] πόλει, ἀλλὰ τὰ κεινῶν ἀϲτῶν ἀρκε[ίτω δάκρυ]α καὶ ϲτοναχαί. Eine dunkle Wolke ging durch die Stadt, als, das Mädchen unter diesem Grabmal bestattend, Eetion aufstöhnte, Hedeia, sein Kind, laut anrufend; Hymenaios klopfte mit den Händen an die Tür ihres Grabs, nicht ihres Ehegemachs. Mitfühlende Trauer herrschte in der ganzen Stadt; aber nun sei es genug der Tränen und des Stöhnens der Bürger, die sie verloren haben. Das Epigramm 50 auf Hedeia und das Epigramm 49 auf Hegedike zeichnen zwei sehr unterschiedliche Szenarien des Todes unverheirateter Mädchen und fordern den Leser auf, die beiden Gedichte als eine Art Diptychon zu lesen: nacheinander bzw. nebeneinander findet der Leser zwei kurze bewegende Thanatographien zweier durchaus vergleichbarer junger Frauen, die, wie es scheint, aus ganz verschiedenen Gesellschaftsschichten stammen und ganz unterschiedliche Begräbnisse erhalten haben: Hegedike, die Tochter der Hetäre (?) Philainion wird, nur von Aulosmusik begleitet und von ihrer Mutter beweint, ins Grab gelegt. Außer dieser scheint sie nur ihr Webstuhl zu vermissen; die herabgefallenen Weberschiffchen symbolisieren auch das nicht erfüllte Leben des Mädchens: So wie aus dem begonnenen Gewebe kein Kleidungsstück mehr werden wird, so wird aus dem Mädchen niemals mehr eine Frau und Mutter werden können. Nach der Atmosphäre der im Jenseits herrschenden Dunkelheit, Einsamkeit und Stille, mit der 49 endet, wird der Leser mit 50 mit dem lauten Klagegeschrei eines großen Bestattungsumzugs konfrontiert. Hedeia wird von ihrem Vater, dessen Name Eetion aristokratische Herkunft suggeriert, angerufen und von der ganzen Stadt beklagt und bejammert. Was beide Epigramme, abgesehen vom Alter des verstorbenen Mädchens aber doch verbindet, ist die Stille, die jeweils am Ende der beiden Gedichte herrscht: der Mund der Hegedike bleibt verschlossen, und die Bürger werden aufgefordert, ihre Wehklagen zu beenden. Die

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Toten können nicht mehr sprechen und die Lebenden sollen schweigen. Nach dem Tod des reichen Mädchens aus aristokratischer Familie ist die Stille – ähnlich wie nach dem Tod der armen Hetärentochter – alles, was bleibt. 51 In dem schlecht erhaltenen Epigramm werden die Frauen von Karyai dazu aufgefordert, die Tote nicht nur zu beweinen, sondern mit Blumen (?) und sapphischen Liedern zu ehren. 1 VIII 19 δακρυόεϲϲα[……. θε]οῖϲ ἀνατείνατε πήχειϲ, 20 τοῦτ’ ἐπιπα[.……. αὐ]τ̣ό̣μ̣αται, Καρύαι, 2 21 Τηλεφίη̣ϲ̣, ἧϲ̣ [………]ϲ̣ ἠρίον· ἀλλὰ φέρουϲαι 3 22 εἴαρι πορ̣φυρέ̣[ου …. ἐϲ ἀ]γῶνα νέμουϲ 4 23 θῆλυ ποδην[εμ…….] ἀ̣είδετε, δάκρυϲι δ’ ὑμέων 5 24 κολλάϲθω Ϲα[πφῶι’ ἄιϲμ]ατα, θεῖα μέλη. 6 19 δακρυόεϲϲα[ι ἕπεϲθε, θε]οῖϲ Austin 2001a, ed. pr., min. (def. Battezzato 2003) : δακρυόεϲϲα[ι ἄδην ἀνέμ]οιϲ Livrea 2002  20 ἐπὶ πα[ιδὸϲ ἐρεῖτ’ Austin 2001a, ed. pr. min. : ἐπὶ πα[ιδὸϲ ἐμῆϲ Livrea 2002 : ἐπὶ πα[ιδὸϲ ϲῆμ’ D’Alessio ap. Battezzato 2003 : ἐπιπά[ϲϲατε vel ἐπιπά[ϲϲετε ϲῆμ’ Lapini 2003b : ἐπὶ πα[ιδὸϲ δρᾶτ’ Ferrari 2005 : ἐπὶ πα[ιδὶ (Τελεφίηϲ̣ )̣ Lapini 2007  fort. Καρύηι Livrea 2002  21 τειλεϲι̣ ηϲ̣ ̣ P (def. Livrea 2002, Battezzato 2003, Ferrari 2005) : Τελεφίηϲ̣ ̣ Lapini 2007  [κεῖϲθε πρὸ]ϲ̣ Austin 2001a., ed. pr. min. : [νεῖϲθε πρὸ]ϲ̣ Gronewald 2001 (def. Livrea 2002, Battezzato 2003, Ferrari 2005)  22 πορφ ̣ υρέ[̣ ωι Livrea 2002 (def. Di Nino 2004b)  κλῶν’ ἐϲ ἀ]γῶνα Austin 2001a., ed. pr. min. : φύλλ’ ἐϲ ἀ]γῶνα Battezzato 2003  23 θῆλυ ποδήν[εμον ἔρνοϲ] ed. pr., min. (def. Livrea 2002) : ἴχνοϲ] Führer ap. Bernsdorff 2002 : ποδήν[εμοι Battezzato 2003 : θηλύποδ’ ἠν[εκῆ ὕμνον] ἀε̣ ίδετε vel θηλύποδ᾿· ἠν[εκῆ ὕμνον] ἀε̣ ίδετε Lapini 2005, 2007 : θῆλυ ποδήνεμον ἆιξαν Tsantsanoglou 2012  24 Ϲα[πφοῦϲ (ἄϲμ]ατα (non ἄιϲμ]ατα) Lapini 2003b : ϲά[φ’ ὑμῶν Livrea 2002

Weinend […] zu den Göttern erhebt die Arme dies […] spontan, du Karyai/ihr Frauen aus Karyai, der Telephia, an/zu deren Grab […]; aber tragend im Frühling […] zum Wettstreit der purpurfarbenen Waldwiese weiblich […] singt, und mit euren Tränen mögen sich (sapphische Lieder) verbinden, göttliche Melodien. V. 1 f. δακρυόεϲϲα[……. θε]οῖϲ: Austin (s. ed. pr.) geht bei seiner Rekonstruktion des ersten Distichons davon aus, dass der erste Vers des Epigramms in direkter Rede die Worte enthält, mit denen die Frauen von Karyai sich selber zu Trauer und Gebet am Grab des toten Mädchens aufrufen. Er ergänzt deswegen im ersten Vers zu dem Partizip δακρυόεϲϲαι einen zweiten Imperativ: ἕπεϲθε (Ferrari 2005 verweist als Parallelen dafür auf Hom. Il. 18.387 und Od. 5.91 sowie auf Eur. Hipp. 58) und in V. 2 ἐρεῖτ’: ‚Dies (i. S. v. diese Worte) werdet ihr sagen‘ (vgl. 60.1); zur Elision in der Pentameterfuge vgl. Lapini 2005, Anm. 30; Ferrari 2003, Anm. 63. V. 2 ἐπιπα[: Für die vor der Klammer erhaltene Buchstabenfolge hat Austin ἐπὶ πα[ιδὸϲ vorgeschlagen: ‚anlässlich ‹des Todes bzw. der Bestattung› des Mädchens‘, dessen Name am Anfang

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von V. 3 erscheint. Lapini hält ἐπὶ παιδὸϲ Τηλεφίηϲ für „seltsames Griechisch“ und zieht ἐπὶ παιδὶ vor. Telephie wäre dann nicht der Name des toten Mädchens, sondern der ihrer Mutter, und die Tote bliebe, wenn ihr Name nicht in V. 3 oder V. 5 zu ergänzen ist (Lapini macht dafür allerdings keinen Vorschlag) anonym. Diese Lösung erscheint jedoch als unglücklich, weil damit die Beziehung des Relativsatzes missverständlich würde. Andere Alternativvorschläge zu Austins Rekonstruktion der beiden ersten Verse vermögen ebenfalls nicht zu überzeugen: Livreas Versuch (2002), ἀνατείνατε nicht als Imperativ, sondern als Ind. Aor. aufzufassen, scheitert schon daran, dass Poseidipp augmentlose Formen offenbar nur aus metrischen Gründen verwendet (vgl. Lapini 2002, 44 und Battezzato 2003, 33); bei seinem Vorschlag δακρυόεϲϲα[ι ἄδην ἀνέμ]οιϲ bleibt unklar, warum die Frauen ihre Arme zu den Winden statt zu den Göttern erheben sollen, und die Ergänzung ἐπὶ παιδὸϲ ἐμῆϲ, die die Mutter des toten Mädchens zur persona loquens macht, führt zu einer ganz unwahrscheinlichen Ellipse (vgl. Lapini 2002b, 44; Battezzato 2003, 33; Ferrari 2005, 203). Unmöglich erscheint auch Lapinis alternative Ergänzung eines dritten Imperativs: ἐπιπάϲϲατε [Form?] oder ἐπιπάϲϲετε ϲῆμ’, da bei ἐπιπάϲϲειν (‚darauf streuen/sprenkeln‘) der Akkusativ das, was auf etwas gestreut bzw. gesprenkelt wird, bezeichnet, und der Empfänger des Streuens bzw. Sprenkelns im Dativ steht. Besser ist D’Alessios ἐπὶ παιδὸϲ ϲῆμ’; allerdings weist Battezzato (2003, Anm. 20) zu Recht darauf hin, dass so in V. 2 und 3 zweimal vom Grab des Mädchens die Rede ist und zudem die Ergänzung der Lücke in V. 3, für die D’Alessio keinen Vorschlag gemacht hat, schwierig ist. Und schließlich vermag auch der Vorschlag δρᾶτ’ (statt Austins ἐρεῖτ’) nicht zu überzeugen, mit dem Ferrari (2005) erreichen möchte, dass der Sprecher der Imperative in V. 1 und V. 5 derselbe ist. Es ist nicht ersichtlich, warum die beiden Imperative des ersten Verses mit einem ganz überflüssigen τοῦτο δρᾶτε noch einmal eingeschärft werden sollen und wie dann noch von αὐτόμαται die Rede sein kann. – αὐτόμαται ergibt allerdings auch bei Austins Rekonstruktion wenig Sinn. Einwandfrei zu lesen sind nur die letzten vier Buchstaben. An dieser Stelle wäre eine andere Ergänzung – ein Attribut zu Καρύαι – wünschenswert. Einen Vorschlag gibt es dafür jedoch bisher nicht. — Καρύαι: Die lakonische Stadt Karyai lag an der Grenze zu Arkadien (zu dem Mythos, wie die Stadt zu ihrem Namen ‚Nüsse‘ kam, vgl. Servius ad Verg. ecl. 8.29). Pausanias (3.10.7) berichtet, dass die jungen Mädchen der Stadt in jedem Jahr eine unter freiem Himmel stehende Statue der Artemis mit Tänzen feierten; vgl. Calame, C. 1977: Les Chœurs de jeunes filles en Grèce archaïque, Rom: I 264 –276. Der Ort steht hier entweder stellvertretend für die Frauen bzw. jungen Mädchen von Karyai (dafür hat Ferrari mit Eur. Or. 965 – γᾶ Κυκλωπία für den Chor der jungen Mädchen – eine gute Parallele beigebracht), oder Poseidipp wollte mit der Wahl dieses Vokativs, wie in anderen Epitymbia (vgl. 44.2; 50.1 u. 5; 55.4), betonen, dass die ganze Stadt die Tote betrauert und ehren will. V. 3 Τηλεφίηϲ̣ :̣ Dass am Anfang von V. 3 der Name des toten Mädchens gestanden hat, ist allgemein akzeptiert (nur Lapini denkt an den Namen der Mutter; s. Komm. zu V. 2). Der Papyrus bietet τειλεϲι̣ ηϲ̣ .̣ Austin und die Erstherausgeber halten den Namen Teilesie, weil weder bezeugt noch mit einem bezeugten Namen verwandt, für unmöglich und schlagen deshalb in Anlehnung an den auf der Peloponnes häufigen Namen des arkadischen Helden Telephos die weibliche Form Telephie vor. Livrea hat dagegen auf die Möglichkeit hingewiesen, dass Teilesie sich, wenn man von metrischer Dehnung ausgeht, mit den bezeugten Namen Telesias und Telesilla verbinden lässt (vgl. auch Battezzato und Ferrari). — ἧϲ[̣ ………]ϲ̣ ἠρίον: Von den beiden Vorschlägen für die Lücke ist Gronewalds νεῖϲθε πρὸϲ (‚zu deren Grab ihr kommen werdet‘) Austins [κεῖϲθε πρὸϲ (‚an deren Grab ihr liegt‘) vorzuziehen, das nicht gut zu den Imperativen in V. 1 passt. Zudem wird κεῖμαι in Grabepigrammen in der Regel für das (Da)liegen des Toten verwendet.

Bernd Seidensticker

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V. 4 πορ̣φυρέ̣[: In V. 4 ist erstens zu entscheiden, ob das Farbattribut πορ̣φύρεοϲ, wie Austin glaubt, die Waldwiese bestimmt, die fehlende Endung also als Genitiv zu ergänzen ist (vgl. AP 7.23.2), oder zu dem Frühling gehört: εἴαρι πορφυρέωι (Livrea), wofür Di Nino (2004) so gute Parallelen, vor allem aus der lateinischen Literatur, beigebracht hat (vgl. Verg. ecl. 9.40 f.; Lygd. 5.4; Colum. 10.256 f.; AP 9.363.2), dass der Dativ vorzuziehen ist. Zweitens fehlt ein Objekt zu φέρουϲαι (V. 3). Die Erstherausgeber verweisen für Austins Vorschlag κλῶν’ auf Eur. El. 324, wo ein Zweig als Zeichen der Trauer erscheint. Klanglich ist die Verbindung κλῶν(α) ἐϲ ἀγῶνα eher unschön (vgl. Lapini 2005), und außerdem passt der Zweig weniger gut zu νέμουϲ (ein Zweig von der ‹purpurfarbenen?› Waldwiese) als Battezzatos φύλλ’. Das Wort kann nicht nur ‚Blätter‘, sondern auch ‚Blütenblätter‘ und ‚Blüten‘ bezeichnen (vgl. Theokr. eid. 11.26 u. 18.39; AP 6.154.6). Für Blumen (und Kränze) als Grabopfer verweist Battezzato auf AP 7.485.1 f. und Verg. Aen. 6.882–886, wo Anchises verspricht, purpurne Blumen auf das Grab des Marcellus zu streuen. — ἐϲ ἀ]γῶνα: Von Wettkämpfen ist in den Zeugnissen zu Karyai (s. Komm. zu V. 2) und den Tänzen für Artemis nicht die Rede. Wenn die Ergänzung ποδήνεμον in V. 5 richtig ist, mit der die Schnellfüßigkeit des toten Mädchens betont wird, könnte man an einen Laufwettbewerb denken, wie er für spartanische Mädchen bezeugt ist. Denkbar ist aber eher, dass es sich um einen Wettbewerb von Mädchenchören handelt. V. 5 θῆλυ ποδην[εμ…….] ἀ̣είδετε: Es fehlt ein Objekt zu ἀείδετε, das durch θῆλυ und vielleicht durch ein weiteres Attribut (Austin: ποδήνεμον) bestimmt werden kann. Die Erstherausgeber haben sich für ἔρνοϲ (‚Spross‘, ‚Schössling‘) als Metapher für die Tote entschieden und ihr mit ποδήνεμον (‚schnell wie der Wind‘) ein Attribut zugeschrieben, das die besonderen Leistungen des Mädchens als Läuferin (ed. pr.), aber auch als Tänzerin beschreiben könnte (s. Komm. zu V. 4). Die schon im Kommentar der ed. pr. als unsicher bezeichnete Junktur ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Bernsdorff (2002) und Führer (2002) haben unabhängig voneinander für ἴχνοϲ plädiert. Die Synekdoche (Battezzato: ἴχνοϲ, „footstep here in fact must refer to the foot, which is also swift-footed“) ist aber keine Verbesserung. Nicht zu überzeugen vermag auch Tsantsanoglous (2012) Vorschlag: θῆλυ ποδήνεμον ἆιξαν (i. S. v. „sing your dance fellow, who rushed away rapidly“), da sich weder für θῆλυ noch für ἀίϲϲω in den angenommenen Bedeutungen ‚Tanzgefährte‘ bzw. ‚davonstürzen‘ (i. S. v. ‚sterben‘) Parallelen finden. Für ἔρνοϲ spricht auch, dass Poseidipp die Metapher ebenso wie θάλοϲ (126.3) auch in 55.5 für ein junges Mädchen verwendet. Die verschiedentlich geäußerte Kritik, Zweige hätten keine Füße (Battezzato 2003, 36; Lapini 2005, 240), ist angesichts der Tatsache, dass es sich bei ἔρνοϲ offensichtlich um eine habitualisierte Metapher handelt, gegenstandslos. Battezzato schlägt als Ergänzung von ποδην[ den Nom. Pl. ποδήνεμoι vor. Das prädikative Adjektiv würde sich auf die Mädchen von Karyai beziehen, die den Gesang, mit dem sie die Tote ehren, mit leichtfüßigen Tänzen begleiten sollen. Das ist, wie die von ihm angeführten Parallelen zur Charakterisierung von Tänzen bzw. Tanzenden zeigen, eine durchaus sinnvolle Möglichkeit, hat aber den Nachteil, dass dann das Objekt von ἀείδετε nicht mehr angibt, was der Chor denn als besondere Eigenschaft des Mädchens besingen soll; vgl. auch Lapini 2005, 240, der die Verbindung θῆλυ ἔρνοϲ ohne ποδήνεμον als „ausgesprochen dünn“ („decisamente scarno“) bezeichnet. Sein eigener Vorschlag θηλύποδ’ ἠν[εκῆ ὕμνον] (‚einen von Mädchen-Füßen getanzten ununterbrochenen Hymnos‘), der auf einer anderen Trennung der am Anfang des Verses erhaltenen Buchstabenfolge beruht, passt nicht zu den sapphischen Liedern, die die Mädchen singen sollen (s. zu V. 6), und die Erklärung des Vorschlags vermag nicht zu überzeugen: Er fasst δάκρυϲι am Ende von V. 5 als instrumental auf und glaubt, dass

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die durch Tränen verbundenen Lieder Sapphos den von ihm konjizierten Hymnos ergeben. – Gärtner, Th. 2012: Der Erotikerkatalog in der Elegie Leontion des Hermesianax von Kolophon: Überlegungen zu Aufbau und Überlieferung, ZPE 180: 77–103, hat darauf hingewiesen, dass Austins Konjektur ποδήνεμον (‚schnell wie der Wind‘) auch die vieldiskutierte Bezeichnung der Bittis als θοή (Hermesianax 7,77 Powell) bestätigen könnte. V. 6 Ϲα[πφῶι’ ἄιϲμ]ατα: Dass in V. 6 von Liedern Sapphos die Rede ist, ist allgemein akzeptiert. Die Erstherausgeber verstehen ihre Ergänzung Ϲα[πφῶι’ ἄιϲμ]ατα als ‚Lieder wie die Lieder Sapphos‘; für das Adjektiv Ϲαπφῶιοϲ können sie sich auf 55.2 u. 122.5 stützen. – Die Apposition θεῖα μέλη lässt aber kaum einen Zweifel daran, dass es sich um die Lieder der göttlichen Sappho handeln muss, die die Mädchen singen sollen. Lapini hat deswegen (und um die ungewöhnlich große Zahl von Elisionen zu reduzieren) Ϲα[πφοῦϲ ἄϲμ]ατα vorgeschlagen; aber auch Ϲα[πφῶι’ ἄιϲμ]ατα kann natürlich als ‚Lieder Sapphos‘ verstanden werden. – Zu Sappho bei Poseidipp vgl. 55 u. 122.5. Auch wenn die Lieder zu Ehren der Toten gesungen (und getanzt?) werden sollen, muss es sich nicht unbedingt, wie Battezzato (2003, 37–39) meint, um Threnoi oder Epikedeia handeln; die Mädchen sollen ihre Freundin ja nicht bei der Bestattung, sondern im Frühling mit sapphischen Liedern (wie sie sie früher zusammen gesungen haben?) ehren. Rekonstruktionsvorschlag δακρυόεϲϲαι ἕπεϲθε, θεοῖϲ ἀνατείνατε πήχειϲ, τοῦτ’ ἐπὶ παιδὸϲ ἐρεῖτ’ αὐ]τόμαται, Καρύαι, Τειλείϲιηϲ, ἧϲ νεῖϲθε πρὸϲ ἠρίον· ἀλλὰ φέρουϲαι εἴαρι πορφυρέωι φύλλ’ ἐϲ ἀγῶνα νέμουϲ θῆλυ ποδήνεμον ἔρνοϲ ἀείδετε, δάκρυϲι δ’ ὑμέων κολλάϲθω Ϲαπφοῦϲ ἄιϲματα, θεῖα μέλη. „In Tränen kommt herbei, zu den Göttern erhebt eure Arme!“ Dies werdet ihr bei dem Mädchen spontan sagen, ihr Frauen von Karyai bei Teilesie, zu deren Grab ihr gelangen werdet. Aber bringt im purpurnen Frühling Blumen von der Wiese zum Wettkampf und besingt den weiblichen schnellfüßigen Spross! Und mit euren Tränen sollen sich Gesänge Sapphos verbinden, göttliche Lieder! Trotz der recht großen Lücke in der Mitte aller sechs Verse, ist klar, dass das Grabepigramm den Tod eines jungen Mädchens aus Karyai zum Anlass hat. Überraschend ist, dass der Leser – anders als sonst – so gut wie nichts über die Tote erfährt. Es gibt keinen Hinweis auf die Familie des Mädchens und auch nicht auf den Zeitpunkt oder die Art und Weise, wie sie gestorben ist. Wir lesen nur, dass es sich um ein Mädchen handelt, das, wenn die Ergänzung in V. 5 das Richtige trifft, eine schnelle Läuferin oder eine leichtfüßige Tänzerin war. Solange keine bessere Erklärung für das τοῦτο am Anfang von V. 2 (bzw. eine bessere Ergänzung der Lücke) gefunden ist, ist mit Austin davon auszugehen, dass die Imperative in V. 1 und V. 5 nicht von denselben Sprechern stammen: Während am Beginn die Frauen von Karyai (oder auch die ganze Stadt?) die Altersgenossinnen des Mädchens (oder auch sich selbst?) dazu aufrufen, herbeizukommen und die Tote mit zu den Göttern erhobenen Händen

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zu betrauern, fordert im zweiten Teil des Epigramms, der mit dem adversativ-adhortativen ἀλλὰ eingeleitet (und gegen den ersten Teil abgegrenzt) wird, ein nicht spezifizierter Sprecher dieselben Adressaten auf, die Tote mit Blumen und sapphischen Liedern zu feiern. Die beiden Aufforderungen der verschiedenen Sprecher beziehen sich offenbar auf zwei verschiedene Zeitpunkte an zwei verschiedenen Orten: Die Tränen und Anrufungen der Götter gehören zur Bestattung (vgl. V. 3); die Blumen und Lieder sollen die Altersgenossen der Toten im Frühling darbringen, wenn sie zu ihrem Wettbewerb im Artemisheiligtum zusammenkommen. Da die jährlichen Tänze der Mädchen, wie Pausanias bezeugt, für Artemis aufgeführt werden, ist es wahrscheinlich, dass mit der Formulierung „im purpurnen Frühling“ nicht jeder Frühling, sondern der nächste Frühling gemeint ist. Dafür spricht auch, dass Pausanias von einem traditionellen lokalen Tanz spricht, während das Epigramm die Mädchen auffordert, ihre Tränen (in Erinnerung an die Tote) mit einer Aufführung sapphischer Lieder zu verbinden, die man sich wohl als einmaligen Zusatz zu dem Artemisfest zu denken hat. 52 Das Epigramm 52 unterscheidet sich von den drei vorangehenden wie von den drei folgenden Gedichten darin, dass es nicht der Trauer um ein zu früh verstorbenes Mädchen gewidmet ist. Bei dem Toten handelt es sich um Timon, den Erbauer einer Sonnenuhr. Ein Wanderer wünscht Timons Tochter Aste, dass sie ein hohes Alter erreichen möge. Der Text weist in den Versen 2– 4 leider größere Lücken auf und ist deswegen schwer zu interpretieren. VIII 25 26 27 28 29 30

Τίμω̣ν̣, ὃ‹ϲ› ϲκιό[θηρον ἐθή]κατο τοῦθ’, ἵνα μετρῆι ὥραϲ, ν̣ῦ̣ν ιδεκ̣[ ±10 ]αι πεδίον· Ἄϲτη παῖϲ θ[ ±8 ὁ]δοιπόρε, τὴν ἔλιφ’, εἵωϲ ἐνδέχετ’ ἐλπ[ι ±6 π]α̣ρθένον ὡρολογε̣ῖν· ἀλλὰ ϲὺ γῆραϲ ἱκ̣οῦ, κούρ̣η· παρὰ ϲήματι τούτω̣ι̣ ϲωρὸν ἐτέων μέτρει τὸν καλὸν ἠέλιον.

1 2 3 4 5 6

25 Τίμω̣ν̣’ Danielewicz 2005  οϲκιο[ P  26 ἴδ’ ἐκ̣[εῖ κεῖται ὑπ]αὶ ed. pr., min. : ἐκ̣[εῖ θεῖον ὁρ]ᾶι Gronewald 2003 : ἐκ[̣ εῖϲ’ ἱρὸν ὁρ]ᾶι Puelma-Angiò 2005 : ἔχ[̣ ει τύμβοϲ ὑπ]αὶ Danielewicz 2005 : κ[̣ εῖν’ οἰκεῖ ὑπ]αὶ πεδίον Gärtner 2007 : ἰδ’ ἔβ[̣ η (et κἄλλο περ]ᾶι?) Ferrari per litt. : ἐμ[̣ ὲ κρύψεν ὑπ]αὶ πεδίον Russo 2010  27 αϲτη P : αὕτη Bowie 2002 (def. Danielewicz 2005, Nisetich 2005, Ferrari per litt.)  θ[εραπεύει ed. pr., min. : θ[εραπεύω Puelma-Angiò 2005 : θ[ηρεύϲει Bowie ap. Danielewicz 2005 : θ[ρηνεῖ Staab ap. Gärtner 2007 : θ[ρηνεῖ μιν Gärtner 2007 : θ[ρηνοῦμαι Russo 2010  ηωϲ P : ἥ‹ρ›ωϲ· Lapini 2002 : ἦοϲ Ferrrari per litt.  28 ἐνδέχετ’ ἐλπ[ίδ’ ἔχειν ed. pr., min. : ἐλπ[ίδ’ ἑήν, π]αρ̣ θένον, ὡρολογεῖ̣ ν De Stefani 2003 : ἕνδεκ’ ἔτ’ ἐλπ[ὶϲ ἔοι Danielewicz 2005 (v. Angiò 2006: 41) : ἐλπ[ίδ’ ἔχων Gärtner 2006 : ἐλπ[όμενοϲ Gärtner 2007 : ἕνδεκ᾿ ἔτ᾿ ἐλπ[ὶϲ ἐτέων Russo 2010  29–30 ἱκο̣ ῦ· κούρη ̣ παρὰ … μετρεῖ Gutzwiller 2002b (def. Danielewicz 2005, Ferrari per litt., Russo 2010; v. Angiò 2011: 21 f.) : μετρεῖν Lapini 2002 (v. Angiò 2003d)  30 τῶι καλῶι ἠελίωι Angiò 2003d

Timon, der diese Sonnenuhr aufgestellt hat, damit er die Stunden messe, nun (sieh?) […] Ebene. Aste, die Tochter, die er zurückgelassen hat, […] o Wanderer, solange es möglich ist, (die Hoffnung) […], dass ein Mädchen die Stunden zählt. Aber du erreiche ein hohes Alter, Mädchen; bei diesem Grabmal miss einen Haufen Jahre lang die schöne Sonne.

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Das Epigramm weist keine Dialektmerkmale auf. Aus lexikalischer Perspektive ist das Wort ϲκιό[θηρον, ‚Schattenfänger‘, interessant, da es statt des fachsprachlichen Begriffs ὡρολόγιον bzw. ὡρολογεῖον auf eine volkstümliche Bezeichnung für die Sonnenuhr zurückgreift und dies der älteste direkte Beleg für dieses Wort ist. Auch ὡρολογεῖν taucht hier zum ersten Mal in einem poetischen Text auf. Zu den umgangssprachlichen Elementen kann man auch ἴδ’ (V. 2?) und ϲωρὸν ἐτέων (V. 6) zählen (s. Puelma/Angiò 2005a, Anm. 3 u. Anm. 44). V. 1 Τίμω̣ν̣: Die Herausgeber der ed. pr. erwägen die Möglichkeit, dass es sich bei dem Erbauer der Sonnenuhr um den Dichter Timon von Phleius handeln könne. Sie halten es für möglich, dass ὡρολογε̣ῖν (V. 4) auf den aus zwei hapax legomena zusammengesetzten spöttischen Ausdruck λαβάργυροϲ ὡρολογητήϲ anspielt, mit dem Timon in den Silloi (SH 792) die großen Einnahmen kritisiert, die der Sophist Prodikos von Keos als Honorar für die Lesungen seines Werks Ὧραι erzielte (vgl. dazu Di Marco, M. 1989: Timone di Fliunte, Silli, Introduzione, edizione critica, traduzione e commento, Roma: 35 u. 151–152); bemerkenswert ist auch, dass Poseidipp in 63.6 mit ἀληθείηϲ ὀρθὸν […] κανόνα genau dieselbe ungewöhnliche Formulierung verwendet wie Timon in SH 842.2. Angesichts der Unsicherheit von Timons Todesdatum ist allerdings große Vorsicht geboten. — ϲκιό[θηρον: Die Beziehung zwischen ϲκιό[θηρον und ϲῆμα V. 5 (παρὰ ϲήματι τούτω̣ι̣, s. u. V. 5) ist von Puelma/Angiò 2005a, 16 f. erläutert worden: Entweder fungiert die Sonnenuhr gleichzeitig auch als Grabdenkmal (mit der Möglichkeit einer Grabaufschrift) oder es liegt der Fall eines Doppelgebildes von Grab und Sonnenuhr vor, wie es der – archäologisch gut belegten – Rolle von Sonnenuhren im sepulkralen Kontext entspricht; Puelma/Angiò verweisen als Parallele auf zwei Epigramme aus Sillyon (SEG 48.1558 = 18/14/01 M/S, SGO IV 142), die überraschende terminologische Übereinstimmungen mit diesem Epigramm aufweisen; vgl. Wiemer, H.-U. 1998: Zwei Epigramme und eine Sonnenuhr im kaiserzeitlichen Sillyon, EA 30: 149–152. – 52 ist das älteste literarische Zeugnis für eine Sonnenuhr. Die AP bietet nur wenige Epigramme auf Sonnenuhren: AP 9.779(?), 780, 806, 807 (zu 806 u. 807 vgl. Angiò, F. 2006: La meridiana del patriarca Sergio [Anth. Pal. IX 806 e 807], Nea Rhome 3: 123–130), 10.43 (alle anon.); AP 7.641 (Antiphilos) und 9.782 (Paul. Sil.) betreffen Wasseruhren; dazu kommt der γρῖφοϲ AP 14.6 (Metrodoros); allgemein zu Sonnenuhren s. Gibbs, S. L. 1976: Greek and Roman Sundials, New Haven/London. — ἵνα μετρῆι / ὥραϲ: Die Junktur korrespondiert mit ὡρολογε̣ῖν (V. 4) und μετρεῖν τὸν καλὸν ἠέλιον (V. 6). Die Enjambement-Stellung von ὥραϲ betont die Wichtigkeit, die der Messung der Zeit im Epigramm zukommt. Zur Bedeutung von ὧραι (‚Stunden‘) vgl. 124.6 und Kallimachos fr. 550 Pfeiffer sowie die Überlegungen von Puelma/Angiò 2005a, 27–28. V. 2 ιδεκ̣[ ±10 ]αι πεδίον: In der ed. pr. ist die Lücke mit ἐκ̣[εῖ κεῖται ὑπ]αὶ πεδίον ergänzt worden. Die Herausgeber merken jedoch an, dass die Verbindung ὑπ]αὶ πεδίον in der Bedeutung ‚unter der Erde‘ (als Äquivalent zu ὑπὸ γῆν) anderweitig nicht bezeugt ist (auch nicht in der Form ὑπὸ πεδίον); vgl. zu dem Problem auch Di Nino 2010, 285–286. Gronewald (2003, 65), dem darüber hinaus die Gleichsetzung von πεδίον und γῆν als fraglich erscheint, interpretiert den Vers als einen Verweis auf die Elysischen Gefilde und schlägt unter Heranziehung von GV 1772.1 f. und AP 7.407.8 ἐκ̣[εῖ θεῖον ὁρ]ᾶι πεδίον vor. Puelma/Angiò 2005a haben diesem Vorschlag im Wesentlichen zugestimmt und als Alternative ἐκ̣[εῖϲ’ ἱρὸν ὁρ]ᾶι πεδίον vorgeschlagen (ἐκ̣[εῖϲ’ impliziert dabei ein Verb der Bewegung: ‚dort ‹angekommen›‘). Gärtner (2007) wendet dagegen ein, dass der Leser ἴδ’ kaum als Verweis auf das Jenseits verstehen könne. Seine Lösung κ̣[εῖν’ οἰκεῖ ὑπ]αὶ πεδίον (‚er wohnt unter jener ‹Grab›fläche‘) geht von der Hypothese aus,

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dass das Epigramm auf der Sonnenuhr steht, neben der sich ‚jene (etwas fernere) Grabfläche‘ (κεῖνο … πεδίον) befinde. „Im Schlußdistichon werden πεδίον und ϲκιόθηρον begrifflich zusammengefaßt zu dem die gesamte ‚Grabanlage‘ umfassenden ϲῆμα“ (παρὰ ϲήματι τούτωι̣ )̣ . Der Leser werde mit einem deiktischen Hinweis (ἴδ’) von ϲκιόθηρον … τοῦτο auf κεῖνο … πεδίον verwiesen. Dass in V. 1 und V. 5 dasselbe Demonstrativpronomen benutzt wird, legt jedoch die Annahme nahe, dass es sich um ein einziges Denkmal handelt: die Sonnenuhr. Puelma weist (per litteras) darauf hin, dass die geringe Entfernung zwischen der Sonnenuhr und der von Gärtner angenommenen Grabfläche den Gebrauch von κεῖνο nicht rechtfertige. Danielewicz (2005), der es für möglich hält, die vor der Lücke erhaltenen Buchstabenreste nicht als κ, sondern als χ zu lesen, ergänzt in V. 2 ἔχ̣[ει τύμβοϲ ὑπ]αὶ πεδίον und schlägt vor, im ersten Vers Τίμω̣ν̣᾽ als davon abhängigen Akkusativ zu lesen, räumt allerdings selber ein, dass die Schwierigkeit des ὑπ]αὶ πεδίον so nicht gelöst wird. Ferrari (per litt. Februar 2012) liest γ anstatt des unsicheren κ der ed. pr. und denkt, mit Verweis auf Hom. Od. 3.16, Aischyl. Prom. 570 und AP 7.388.6, an ἴδε γ̣[ῆ κεύθει, dem nach seinem Rekonstruktionsvorschlag in V. 1 die auch von Danielewicz favorisierte Lesart Τίμω̣ν̣’ vorausgeht und in V. 2 die Lesart der ed. pr. ὑπ]αὶ πεδίον folgt. Ganz anders rekonstruiert Russo (2010) das Epigramm: Russo geht davon aus, dass der Tote nicht Timon, sondern dessen im Alter von elf Jahren verstorbene Tochter Aste sei. In den Buchstabenresten vor der Lücke in V. 2 erkennt er kein κ, sondern ein μ und schlägt ἐμ̣[ὲ κρύψεν ὑπ]αὶ πεδίον (‚er barg mich unter der Erde‘) vor. V. 3 Ἄϲτη παῖϲ θ[: Bowie 2002 – gefolgt von Danielewicz 2004 und 2005, Nisetich 2005 sowie Gutzwiller 2005 – ersetzt Ἄϲτη, den Namen der Tochter Timons, durch αὕτη; Ferrari (per litt. Februar 2012) denkt an αὐτή, für das er als Parallele 126.1 heranzieht. Gutzwiller 2005 stimmt Bowies Vorschlag in der Überzeugung zu, dass mit „Mädchen“ (παῖϲ, V. 3, παρθένοϲ, V. 4, κούρη, V. 5) die Statue eines Mädchens unter der Sonnenuhr bezeichnet wird. In der Tat sind Sonnenuhren gefunden worden, die von Figuren junger Frauen gestützt werden. Diese stammen allerdings alle aus späteren Epochen. Gegen Gutzwillers Deutung spricht aber vor allem die Tatsache, dass es an keiner gut erhaltenen Textstelle des Epigramms irgendeinen Hinweis auf das Material der Figur gibt, wie das sonst im Epigramm üblich ist. Im ersten der herangezogenen Beispiele, der Inschrift auf dem Grab des Midas, die als ein wichtiger Intertext (AP 7.153) angeführt wird, ist gleich das erste Wort χαλκῆ (χαλκῆ παρθένοϲ εἰμί), und die Position der Bronzefigur wird zweimal mit ἐπί näher bestimmt (V. 1: ἐπὶ ϲήματι, V. 5: πολυκλαύτωι ἐπὶ τύμβωι). Weder die von Gutzwiller zur Entkräftung dieses Einwands angeführten angeblichen Parallelen noch Bowies Konjektur vermögen zu überzeugen. Puelma/Angiò (2005a, Anm. 18) haben zudem darauf hingewiesen, dass nicht nur die Parallele zwischen dem Namen des Vaters am Anfang des Gedichts und dem seiner Tochter am Anfang des zweiten Distichons, sondern auch der Sprachgebrauch der Grabdichtung gegen die von Bowie vorgeschlagene Konjektur αὕτη spricht: παῖϲ […], τὴν ἔλιφ’, […] kann sich nur auf ein lebendes junges Mädchen (παρθένοϲ, V. 4) beziehen, das der verstorbene Timon hinterlassen hat. Statt der Ergänzung θ[εραπεύει (ed. pr.) schlagen Ferrari (per litt. Februar 2012) θ[εραπεύϲει und Puelma/Angiò (2005a) θ[εραπεύω vor (s. Interpret.). Die Ergänzungen von Staab (bei Gärtner 2007) und Russo 2010 fokussieren den Bestattungskontext. Im Epigramm liegt der Schwerpunkt aber eindeutig auf der Sonnenuhr und auf der Kontinuität, die das Mädchen für die Konstruktion des Vaters gewährleistet (vgl. auch Krevans 2005, Anm. 46).

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Epitymbia 52

V. 4 ἐνδέχετ’ ἐλπ[ι ±6 π]: Das unpersönliche ἐνδέχεται gehört eher der Prosa an. – Gärtner ändert den Text der ed. pr. ἐλπ[ίδ’ ἔχειν in ἐλπ[ίδ’ ἔχων (2006, 82) bzw. ἐλπ[όμενοϲ (2007): „Seine Tochter Aste […], die er zurückließ, hoffend, das Mädchen werde, solange es möglich ist, die Stunden (mit der Sonnenuhr seines Grabmonuments) messen können“. Die Stellung des Partizips erscheint jedoch mehr als problematisch (vgl. Angiò 2010, 14 f.). Zu den problematischen Vorschlägen von Danielewicz und Russo s. Angiò 2006, 41 u. 2011, 21 f. V. 5–6 Gutzwiller 2002b und 2005 – gefolgt von Danielewicz 2004 und 2005, Nisetich 2005 sowie Russo 2010 – ist der Ansicht, dass die Apostrophe in V. 5 sich an den ὁδοιπόροϲ von V. 3 wendet, und schlägt daher vor, das Semikolon nach ἱκοῦ, nicht nach κούρη zu setzen und μετρεῖ statt μέτρει zu lesen. Dazu hat Gärtner (2006, 82) richtig festgestellt, dass in diesem Falle „der gute Wunsch an den Wanderer und das Tun des Mädchens beziehungslos nebeneinander“ stünden (vgl. auch Lapini 2007, 246, der von einem „harten Asyndeton“ spricht). Zur Unterstützung des Textes der ed. pr., der den Wunsch, das Mädchen möge ein hohes Alter erreichen, mit der daraus folgenden Bitte verbindet, es möge nahe dem Denkmal für eine große Anzahl an Jahren die schöne Sonne messen, lässt sich anführen, dass in der Regel – so auch im Alten und im Neuen Poseidipp – die Person, die mit ϲύ angesprochen wird, unmittelbar nach der Anrede durch einen Vokativ genauer bestimmt wird: so in 3.3– 4 (ϲὺ δὲ … /…, πότνια); 36.3 (ϲύ, φίλη); 53.1 (Καλλιόπη, ϲὺ μὲν ὧδε); 56.7–8 (Ἀϲιῆτι γύναι, …/… καὶ ϲὺ κομεῖϲ); 84.1 ( Ὀλυ]μπιονῖκα, ϲὺ κτλ.); 93.3 (πόντου πάτερ, εἰ δὲ ϲὺ κεύθειϲ); 97.3– 4 (ϲὺ …, / δαῖμον); 118.9 (καὶ ϲὺ …, Κύνθιε); 121.3– 4 (ἀλλὰ ϲὺ … /…, Ἀττικέ); 127.5 (Κύπρι φίλη, ϲὺ δὲ κτλ.); 138.2 (ϲὺ δ᾽, Ἔρωϲ). Das spricht dafür, κούρη in der Sequenz ἀλλὰ ϲὺ γῆραϲ ἱκοῦ κούρη als Vokativ zu interpretieren und nicht als Subjekt des folgenden Satzes, in dem übrigens sonst ein δέ zu erwarten wäre, mit dem der Wanderer dem Mädchen gegenübergestellt würde (vgl. Angiò 2011, 21 f.; dort auch eine kritische Auseinandersetzung mit Russos Deutung des Schlussdistichons). V. 5 παρὰ ϲήματι τούτωι̣ :̣ „Im Rahmen einer Grabaufschrift kann der in der Gattung seit den Anfängen unzählig oft belegte Fachausdruck ϲῆμα in Verbindung mit einem Demonstrativpronomen nichts anderes bedeuten als ‚Grabmal‘ i. S. v. τύμβοϲ, τάφοϲ, χῶμα, ἠρίον, ϲτήλη, πέτροϲ, μνῆμα, λίθοϲ“ (Puelma/Angiò 2005a, 15). V. 6 Die Verbindung καλὸϲ ἠέλιοϲ findet sich auch in 13.4 (πρὸϲ καλὸν ἠέλιον) und in 16.6 (auch dort am Ende des Epigramms). Zur Kritik Schröders (2004, 68), der „die Wiederholung dieser Schlussformel als Indiz einer des Poseidippos unwürdigen Stilqualität“ betrachtet, vgl. Puelma/ Angiò (2005b, Anm. 6), die auch darauf hinweisen, dass das Epitheton καλόϲ ungewöhnlich für Helios ist und dass ihm von den zahlreichen Epitheta des Sonnengottes, die den Glanz des Sonnenlichts anzeigen – wie z. B. φαέθων (Hom. Il. 11.735; Od. 5.479; 11.16; 19.441; 22.388; Hes. theog. 760; Hymn. Hom. Helios 2), λαμπρόϲ (Hom. Od. 19.234), ἠλέκτωρ (Hom. Il. 19.398; Hymn. Hom. Ap. 369), φαεϲίμβροτοϲ (Hom. Od. 10.138,191; Hes. theog. 958), παμφανόων (Hom. Od. 13.29), χρυϲοφαήϲ (Eur. Hek. 636) –, die Komposita καλλιλαμπέτηϲ (Anakr. 106 PMG) und καλλιφεγγήϲ (Eur. Phaet. 781.11 K) am nächsten kommen (Puelma/ Angiò 2005b, Anm. 1). Die Junktur soll vielleicht Sappho fr. 58.26 Voigt evozieren (vgl. auch Di Benedetto 2003a, 13), auf die auch 51.6 (mit der Lesung der ed. pr.), 55.2 und 122.5

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anspielen; zu den Sappho-Resonanzen von 53 und 55 vgl. Di Benedetto (2003a, 11–13 u. 2006) sowie Angiò (u. zu 53). Rekonstruktionsvorschlag ‚Τίμων, ὃϲ ϲκιό[θηρον ἐθή]κατο τοῦθ’, ἵνα μετρῆι ὥραϲ, νῦν ἴδ᾽ ἐκ[εῖϲ᾽ ἱρὸν ὁρ]ᾶι πεδίον· Ἄϲτη παῖϲ θ[εραπεύω, ὁ]δοιπόρε, τὴν ἔλιφ’, εἵωϲ ἐνδέχετ’ ἐλπ[ίδ᾽ ἔχειν π]αρθένον ὡρολογεῖν.‘ ‚ἀλλὰ ϲὺ γῆραϲ ἱκοῦ, κούρη· παρὰ ϲήματι τούτωι ϲωρὸν ἐτέων μέτρει τὸν καλὸν ἠέλιον.‘ „Timon, der diesen Schattenfänger geschaffen hat, um damit die Stunden zu messen, erlebt nun, wie du siehst, im Jenseits angelangt das Gefilde der Seligen; ich, Aste, die Tochter, die er hinterließ, leiste daran meinen Pflichtdienst, o Wanderer, solange man damit rechnen kann, dass einer Jungfrau das Zeitmessen möglich ist.“ „Doch du, junges Mädchen, erreiche ein hohes Alter: Bei diesem Grabmal hier miß viele Jahre lang die schöne Sonne!“ In dem Rekonstruktionsvorschlag, den Puelma/Angiò 2005a vorgelegt haben, hat das Gedicht eine dialogische Struktur: Die ersten vier Verse werden von Aste (V. 3), der Tochter des toten Timon, gesprochen, die letzten beiden von einem vorüberkommenden Wanderer, an den sich das Mädchen in V. 3 wendet, und nicht etwa von dem Grabmonument, dem Dichter oder dem toten Vater. Eine Parallele stellt das durchgehend dialogische Epigramm Poseidipps auf die berühmte Kairos-Statue Lysipps (142) dar, das in die Sammlung des Mailänder Papyrus nicht aufgenommen worden ist. Die Interpretation von Puelma/Angiò 2005a basiert auf der glücklichen Ergänzung von V. 2 durch Gronewald (2003). Der Hinweis auf den Aufenthalt des toten Timon in den Elysischen Gefilden hat Parallelen in den Epitymbia 42 (soweit sich das aufgrund des Erhaltungszustands beurteilen lässt), 43, 44 sowie 58 und, ganz besonders, in 118.24 –28 (vgl. Santamaría Álvarez 2010, 470). Sowohl in 118 als auch in 52 ist die „Totenklage […] überflüssig, weil der durch sein Werk allgemein beliebte und verehrte Dichter (wie der Sonnenuhrstifter Timon) nach seinem Tod den ‚mystischen Weg zu Rhadamanthys‘, dem traditionellen Wärter des Elysischen Gefildes der Seligen, finden wird“ (Puelma/Angiò 2005a, Anm. 16). Die Bedeutung, die dem Bau der Sonnenuhr zukommt, erklärt das Insistieren auf die Zeitmessung in allen drei Distichen, die noch dadurch unterstrichen wird, dass μετρεῖν in den V. 1 und 6 – also sowohl am Anfang als auch am Ende des Gedichtes – in einer Art Ringkomposition wiederholt wird, wobei der Fokus auf der Tochter liegt, die sich weiterhin um die Sonnenuhr kümmern soll und damit die Unterbrechung der vom Vater begonnenen Aktivität verhindern wird. In den Versen 3– 4 kommt deutlich „die bange Erwartung zum Ausdruck, ob ihr als παρθένοϲ eine für ein nachhaltiges ὡρολογεῖν ausreichende Lebenszeit beschieden sein werde (εἵωϲ / ἐνδέχετ’ ἐλπ[ίδ᾽ ἔχειν π]α̣ρθένον ὡρολογε̣ῖν)“ (Puelma/Angiò 2005a, 22). Für heiratsfähige junge Frauen wie Aste war in der Tat die durchschnittliche Lebenserwartung kurz, wie gerade die Gedichte, die 52 einrahmen (49–51 und 53–55), zeigen (vgl. Puelma/ Angiò 2005a, Anm. 21). So ist die große Intensität des Wunsches verständlich, das Mädchen möge sich eines Lebens erfreuen, das länger dauert als alle pessimistischen Prognosen, und ein hohes Alter erreichen, verbunden mit der glücklichen Aussicht, das Licht der Sonne zu genießen. Auch der Gegensatz zwischen dem Schatten des Todes, der wohl die Wahl des

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Epitymbia 53

Wortes ϲκιόθηρον für die Sonnenuhr am Anfang des Gedichtes erklärt, und dem Bild des Sonnenlichtes, mit dem das Epigramm schließt, scheint die vorgeschlagene Interpretation eher zu bestätigen als ihr, wie Gärtner (2007) meint, zu widersprechen: Sie eröffnet eine tröstende Perspektive, wie man sie auch in 58–61 und erneut in 118 beobachten kann (vgl. Zanetto 2002, Bremer 2003, Gutzwiller 2004, 89 u. 2005, 317 f., Dickie 2005 sowie Di Nino 2005c). Das Motiv der Kinder, das den größten Teil der Gedichte dieser Sektion in unterschiedlicher Weise durchzieht, liefert eine weitere Bestätigung dafür, dass die Annahme, das in V. 3 genannte „Mädchen“ sei eine Statue, nicht zutrifft. Trotz der sektionsinternen Besonderheit, dass der Vater hier der Tote ist, während die Tochter überlebt, und der einzigartigen Aktivität des Mädchens lassen sich für dieses Epigramm sowohl innerhalb der Epitymbia-Sektion (42 [?], 43, 44, 58) als auch außerhalb des Mailänder Papyrus (118) eine ganze Reihe von signifikanten Entsprechungen finden. 53 Das Epigramm ist vollständig erhalten. Thema des Gedichtes – das erste einer zweiten Serie von drei dem Tod junger Mädchen gewidmeten Epigrammen (53–55) – ist die Trauer der Gefährtinnen über den Tod der jungen Kalliope, die bei einem nächtlichen Fest vom Dach gestürzt ist. VIII 31 32 33 34

Καλλιόπη, ϲὺ μὲν ὧδε· ϲὲ δὲ κλαίουϲιν ἑταῖραι, παρθένε, καὶ λυπρὴν τὴν τότε παννυχίδα, ἧι ϲὺ καθ’ ὑψηλοῦ τέγεο̣ϲ κάλλιϲτον ἄγαλμα μητρὶ πα̣ρ’ Οὐρανίηϲ Κύπριδοϲ ἐξέπεϲεϲ̣.

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Kalliope, du ‹liegst› hier ‹begraben›; die Freundinnen beweinen dich, Jungfrau, und das traurige Fest, damals zur nächtlichen Stunde, in der du von dem hohen Dach, du schönste Zierde für die Mutter von Seiten der kyprischen Urania, herabgestürzt bist. V. 1 Der erste Teil des Namens Καλλιόπη klingt in dem Ausdruck κάλλιϲτον ἄγαλμα an, mit dem die Verstorbene in V. 3 bezeichnet wird (vgl. Rampichini in Zanetto 2008, 146). Die Wiederholung des Personalpronomens, ϲύ in V. 1 und 3 sowie ϲέ in V. 1 (in chiastischer Anordnung mit den beiden Vokativen), unterstreicht die große Trauer über den Verlust des Mädchens (vgl. Zoroddu 2005, Anm. 60). Hier weinen die Gefährtinnen, wie es in 51 wahrscheinlich die Mädchen aus Karyai sind, die zum Weinen aufgefordert werden. V. 1 f. Besonders interessant sind die ‚sapphischen Resonanzen‘, auf die Di Benedetto (2003a, 11–12) hingewiesen hat: ἑταῖραι in V. 1 nimmt das Schlüsselwort für die Beziehung der Mädchen im sogenannten Kreis der Sappho auf (vgl. Sapph. fr. 126,142,160 Voigt), und auch παρθένε und παννυχίδα in V. 2 finden ihr Pendant bei Sappho (fr. 23.13 u. 30.3 Voigt: παννυχίζω; fr. 27.10, 30.2 Voigt: παρθένοϲ). Vor allem aber verdient der Anklang von Καλλιόπη, ϲὺ μὲν ὧδε an αὔτα δὲ ϲὺ Καλλιόπα (Sappho fr. 124 Voigt) Beachtung, „quasi una volutamente perspicua reminiscenza“. Di Benedetto kommt wiederholt auf seine Beobachtung zurück, z. B. bei seiner Ergänzung [Κ]αλλ[ιόπα, ϲὺ δ᾽ α]ὔταν in Sapphos fr. 58.7 Voigt (mit dem Namen der Göttin

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im Vokativ), die er durch 53.1 bestätigt sieht. Sowohl bei Sappho als auch bei Poseidipp geht es um den Tod einer jungen Frau: Bei Sappho ist es Eurydike, die von Kalliope beerdigt wird; bei Poseidipp ist Kalliope der Name des toten Mädchens (Di Benedetto 2006, 17). Die sapphischen Reminiszenzen, die von Di Benedetto (2003a u. 2006) festgehalten sind, werden von anderen Bezügen auf die Dichterin von Lesbos im Alten und Neuen Poseidipp flankiert: 51.6 (mit der Ergänzung der ed. pr.), 55.2 und 122.5; zum sapphischen Kolorit der Junktur τὸν καλὸν ἠέλιον in 52.6 s. o. V. 2 f. Die παννυχίδεϲ waren nächtliche Feste, die Aphrodite, Dionysos oder anderen Gottheiten gewidmet sein konnten. In der ed. pr. wird daran erinnert, dass die Lesart τέγεοϲ̣ in V. 3 Cameron (1995, 94, Anm. 141) verdankt wird, der der Ansicht ist, dass Kalliope vom Dach gestürzt ist, als man dort die Adonien abgehalten hat. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass das Fest zu Ehren der in V. 4 erwähnten kyprischen Urania gefeiert worden ist (vgl. die Anrufung Aphrodites als Οὐρανία in V. 1 und als φιλοπάννυχοϲ in V. 2 des Orph. hymn. 55). González González 2010, 227–229, hält trotz des möglichen Bezugs auf die Adonien, die in der attischen Komödie – wenn auch nicht ausschließlich – mit der Welt der Hetären verbunden sind, die Hypothese für falsch, dass in dem Epigramm auf die Welt der Hetären angespielt werde, da die Verführung im ptolemäischen Alexandria bei diesen Festen nicht dieselbe Rolle wie in Athen gespielt habe. Poseidipp spiele offenbar auf das Ritual der Adonis-Gärten an, das im Epigramm ein trauriges Ende finde. Für λυπρόϲ, ‚elend‘, ‚unglücklich‘, ‚traurig‘ – auch wenn nicht auf Personen bezogen – vgl. z. B. Eur. Hek. 364 λυπρὰν … ἡμέραν oder Lyk. Alex. 975 λυπρὸν … βίον. González González möchte dem Adjektiv hier die Bedeutung ‚in schlechtem Zustand‘, ‚von schlechter Qualität‘, ‚unfruchtbar‘ geben, das laut Chantraine (1974) einen Land(strich) oder den (Erd)boden bezeichnen kann; Angiò (2011, 22 f.) hat jedoch darauf hingewiesen, dass λυπρόϲ wohl kaum von einer Pannychis gesagt werden könne. V. 3 f. In der AP finden sich zwei Epigramme, die an Personen erinnern, die durch einen Sturz vom Dach ums Leben gekommen sind: AP 9.158.5 f. (anon.), wo es ebenfalls um ein junges Mädchen geht, und AP 7.579.3 f. (Leontius Scholast.), wo ein Mann zwar mit mehreren anderen von einem Theaterdach stürzt, aber als einziger dabei zu Tode kommt. Die ed. pr. verweist außerdem auf das berühmte Epigramm des Kallimachos (23) auf den Philosophen Kleombrotos von Ambrakia, der sich nach der Lektüre von Platons Phaidon von einer Mauer in den Tod gestürzt hat. Bemerkenswert ist das starke, den Sturz abbildende Hyperbaton καθ’ ὑψηλοῦ τέγεο̣ϲ … /ἐξέπεϲεϲ̣. Für weitere Beispiele von Hyperbata im Alten und Neuen Poseidipp vgl. Conca (2002, 68, Anm. 3), der das Hyperbaton „als besonderes Merkmal der Diktion des Dichters“ bezeichnet. – Zu ἄγαλμα ‚Zierde‘, ‚Stolz‘ (Grund, stolz zu sein) in Bezug auf die eigenen Kinder vgl. z. B. Aischyl. Ag. 208: τέκνον … δόμων ἄγαλμα („Tochter … Zierde des Hauses“) oder, mit dem Dativ wie hier, Eur. Hik. 373: καλὸν δ᾽ ἄγαλμα πόλεϲιν („ein schöner Grund für die Stadt, stolz zu sein“). — πα̣ρ’ Οὐρανίηϲ Κύπριδοϲ: Die Verbindung kann zu κάλλιϲτον ἄγαλμα μητρί gehören („die schöne Zier, die die Mutter der kyprischen Urania verdankt“) oder zu ἐξέπεϲεϲ̣ („du bist auf Veranlassung der kyprischen Urania gefallen“). Für die erste Möglichkeit spricht, wie die Erstherausgeber zu Recht feststellen, dass es wenig wahrscheinlich ist, dass Aphrodite Urania den Tod des Mädchens verursacht hat. Zu Aphrodite Urania vgl. vor allem Plat. symp. 180d u. Xen. symp. 8.9; in der Dichtung ist die nächste Parallele AP 6.340.1 f. (Theokr.); vgl. Rossi, L. 2001: The Epigrams Ascribed to Theocritus: A Method of Approach, Leuven/Paris/Sterling: 239–246. Akzeptiert man die Ergebnisse von

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Epitymbia 54

Rossi 2000 (La chioma di Berenice: Catullo 66, 79–88, Callimaco e la propaganda di corte, RFIC 128: 299–312) u. 2001 (s. o.) zum Kult für Aphrodite Urania und verbindet sie mit den ideologischen Motiven der vom ptolemäischen Hof verbreiteten religiösen Propaganda, die mit der Figur der Arsinoë II. Philadelphos als Beschützerin der Ehe und der ehelichen Liebe verbunden war, könnte man meinen, das Mädchen habe sich dem Kult der Göttin in Vorbereitung auf ihre Hochzeit gewidmet. Damit ließe sich auch die Hypothese von Dickie 2005, 23 verbinden, nach der die Gefährtinnen der toten Kalliope als Mädchenchor vorzustellen seien, die Teil des Kultes für Aphrodite Urania waren. Der Ausdruck κάλλιϲτον ἄγαλμα / μητρὶ πα̣ρ’ Οὐρανίηϲ Κύπριδοϲ klingt wie ein Geschenk der Göttin für Mädchen wie Kalliope, die sich ihrem Kult widmeten; vgl. 55.5 Ἥρηϲ τὸ τραφὲν ἔρνοϲ ὑπ᾽ ὠλένοϲ („der in Heras Armen gehegte Schössling“) und 116.7–8 mit der explizit formulierten Einladung an die ἁγναί, … , θυγατέρεϲ („keuschen Mädchen“) der Hellenen, sich in den Tempel der Arsinoë Zephyritis zu begeben. Nicht überzeugend ist die Interpretation von Gutzwiller (2005, 297), nach der die metaphorische Wendung κάλλιϲτον ἄγαλμα („schönste Statue“) die Aufstellung einer κόρη auf einem Mädchengrab evoziere. Die Trauer um die junge Kalliope kommt besonders in den beiden Vokativen (Καλλιόπη, παρθένε) zum Ausdruck, die jeweils vom Personalpronomen verstärkt werden und emphatisch am Versanfang stehen; sie lösen durch den Hinweis auf die Schönheit und das noch junge Alter des Mädchens Mitleid aus. Die sapphischen Resonanzen machen die Ausdrucksweise des Epigramms kostbarer. Das παννυχίδα vorausgestellte Adjektiv λυπρήν antizipiert das unheilvolle Geschehen, indem es das Gefühl der Freude aufhebt, das dem Fest innewohnt, an dem vielleicht die Gefährtinnen teilgenommen haben, die Kalliope nun beweinen. Mit Hilfe des stilistischen Mittels des Hyperbaton (καθ’ ὑψηλοῦ τέγεο̣ϲ … / … ἐξέπεϲεϲ̣), das dazu dient, die unheilvolle Folge des Sturzes zu illustrieren, präsentiert Poseidipp – wie in einem Medaillon – das Bildnis des Mädchens, die der Mutter von der kyprischen Urania geschenkte stolze Zierde des Hauses. Das Motiv des durch den unglücklichen Zufall verursachten allzu frühen Todes der Kalliope verbindet sich – wenn die vorgeschlagene Interpretation zutrifft – mit dem propagandistischen Element des Verweises auf den Kult der kyprischen Urania, zu deren Ehren die παννυχίϲ möglicherweise abgehalten worden ist. 54 Das letzte Distichon des Epigramms ist verloren gegangen. Im erhaltenen Gedichtteil wird um die zehnjährige Myrtis getrauert, ein Mädchen aus kyrenischem Geschlecht, das von ihren Brüdern eingeäschert worden ist, als ihr Vater (?) Nikanor auf Reisen war. VIII 35 36 37 38

δάκρυϲι, γαῖα, πέφυρϲαι· ἀδελφειοὶ γὰρ ἔθαψαν ϲὺν πυρὶ τὴν δεκ̣έτιν Μυρτίδα καὶ μελέην, αἷμ̣α τὸ Κυρηναῖον· ὁ δὲ ζώων τότ̣’ ἀπευ̣θ̣ὴϲ Νικάνωρ ἄλλουϲ γῆϲ ἐπέ̣βαι̣ν̣εν ὅρου̣ϲ ..... desunt vv. 2

1 2 3 4

36 ϲυμπυρι P  μελέην ed. pr., min. (def. Angiò 2003d, 36, Puelma ibid. 56, Gronewald 2007 [v. Angiò 2009]) : μέλεϲιν Lapini 2003b : τὴν μελέην Μυρτίδα δωδεκέτιν Gronewald 2007  37 ζωοντοα. απευ̣θ̣ηϲ P : ἀπενθὴϲ Lapini 2007

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Mit Tränen, Erde, bist du benetzt worden; denn die Brüder haben mit Feuer die zehnjährige und unglückliche Myrtis bestattet, das kyrenische Blut. Er jedoch, ‹noch› am Leben zu der Zeit, ‹aber› ahnungslos, Nikanor, betrat andere Grenzen der Erde. ..... V. 1 Das Motiv der Tränen, mit dem das Epigramm beginnt, kommt auch in anderen Gedichten der Sektion vor, die zu früh verstorbenen Mädchen gewidmet sind – in 44.2 (mit der Ergänzung der ed. pr.), 49.3, 50.6 (mit der Ergänzung der ed. pr.), sowie in 51.1, 51.5, 53.1, 56.6 – während in 60.3 und 61.3 dazu aufgefordert wird, nicht über den Tod von Personen zu weinen, die lange und unbeschwert gelebt haben. Zur Verbindung von Weinen und Grab s. auch 94.1–2 in der ναυαγικά-Sektion. Die Homer-Reminiszenz (Il. 24.162; Od. 17.103; 18.173; 19.596) wird in der Weise variiert, dass die Erde (γαῖα) angerufen wird, die zwar von den Tränen der Brüder benetzt worden ist, der aber die Tränen Nikanors, bei dem es sich wahrscheinlich um den Vater des Mädchens handelt, versagt sind, weil er gerade andere Länder bereist (V. 4). Die poetische Form γαῖα – passend zum schmerzerfüllten Ton der Apostrophe und im Einklang mit der episch-lyrischen Form ἀδελφειοί – wird in V. 4, wo die emotionale Betroffenheit geringer ist, von dem gebräuchlicheren γῆϲ abgelöst. V. 2 Auch wenn nur sehr wenige Grabepigramme auf zehnjährige Kinder überliefert sind, ist das kein Grund, den überlieferten Text, wie Gronewald vorschlägt, zu ändern. Lapinis Ersetzung von μελέην durch μέλεϲιν (2003b, 48 u. 2007, 247) hat keine Zustimmung gefunden (vgl. Angiò 2003d, 36 und Puelma ap. Angiò 2003d, 56 sowie Gronewald 2007). Der überlieferte Text ist korrekt. 49.1–3 stellt eine gute Parallele dar: Nicht nur wird das Mädchen in beiden Epigrammen als μελέη (,bedauernswert‘) bezeichnet; beide Epigramme weisen auch dieselben wesentlichen Elemente und dieselbe Satzstruktur auf (s. auch zu V. 1); als weitere Parallele lässt sich das analog gebrauchte τάλαιναν (‚unglücklich‘) in 55.3 anführen. V. 3 Für Wortfügungen wie αἷμ̣α τὸ Κυρηναῖον vgl. ed. pr. 166 u. 175. Überliefert ist ζωοντοα. απευ̣θ̣ηϲ. Dieselbe Hand, die den Text des Mailänder Papyrus geschrieben hat, hat über dem ersten α ein ο eingefügt, offenbar um das Omikron aus τότ̣᾽ an der Stelle des ersten Alpha einzusetzen. Die ed. pr. hat in einem zweiten Schritt den Text geheilt; zu Korrekturen im Papyrus vgl. ed. pr. 15. V. 3 f. Puelma ap. Angiò 2003d, 56 hat den Sinn der V. 3– 4 geklärt: Die Brüder haben das Mädchen bestattet, weil der Vater, dem normalerweise diese Aufgabe zugefallen wäre, abwesend war. Diese Abwesenheit rührt nicht von dem Umstand her, dass er im Moment des Begräbnisses (τότε) nicht mehr am Leben war (ζώων dient dazu, dies zu betonen), sondern daher, dass er auf Reisen in fremden Gebieten weilte und deswegen nichts von dem Tod seiner Tochter wissen konnte (ἀπευθήϲ). — ἀπευθήϲ: Das Adjektiv schwankt wie ἄπυϲτοϲ zwischen aktiver (‚einer, der nicht weiß‘, ‚unwissend‘) und passiver Bedeutung (‚unbekannt‘, ‚von dem man nichts weiß‘), und zwar bereits seit der Odyssee, wo es bald aktiv (3.184), bald passiv gebraucht ist (3.88); hier scheint die aktive Bedeutung besser, da ja Nikanor noch am Leben ist (vgl. Kallim.

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Epitymbia 55

fr. 282.1 u. 176.5 Pfeiffer; SH 275 = 194 Massimilla; Cerc. 2.3 Livrea = Lomiento; D. P. 194; AP 16.303.1). V. 4 Für den Akkusativ des Ortes ἄλλουϲ . . . ὅρου̣ϲ mit ἐπιβαίνω s. Soph. Ai. 144 und AP 6.358.4 (Diotimus). Auf die Apostrophe an die mit Tränen benetzte Erde folgt das Motiv der Familienangehörigen, in diesem Falle der Brüder, die das Mädchen verbrannt und die Urne bestattet haben. Die Zehnjährige wird durch das Epitheton μελέη (‚bedauernswert‘) charakterisiert. Zur Trauer über den Tod der Schwester kommt für die Brüder der schmerzliche Umstand, dass der Vater (?) Nikanor, dem eigentlich die Aufgabe zugefallen wäre, für die Bestattung zu sorgen, gänzlich ahnungslos auf Reisen in fremden Ländern war. Laut Benedetto 2001 (ed. pr. 176) könnte in den beiden verloren gegangenen Versen die Rede davon gewesen sein, dass nun auch Nikanor gestorben sei. 55 Wie die beiden vorangegangenen Epigramme ist auch 55 ein Grabgedicht auf ein vor der Hochzeit gestorbenes Mädchen. Der Text des Epigramms ist – sieht man von einer Reihe von Verschreibungen ab – gut erhalten. IX

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πάντα τὰ Νικομάχηϲ καὶ ἀθύρματα καὶ πρὸϲ ἑώιαν κερκίδα Ϲα‹π›φώιουϲ ἐξ ὀάρων ὀάρουϲ ὤιχετο Μοῖρα φέρουϲα προ{ϲ}ώρια· τὴν δὲ τάλαιναν παρθένον Ἀργείων ἀμφεβόηϲε πόλιϲ, Ἥρηϲ τὸ τραφὲν ἔρνοϲ ὑπ’ ὠλένοϲ· ἆ τότε γαμβρῶν τῶν μνηϲτευομένων ψύχρ{α} ἔμενον λέχεα.

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1 κάλ’ ἀθύρματα Cuypers  2 ϲαμφωιουϲεξοανων P (ϲυμφώνου Cuypers) ἐ‹κ› ξοάνων Calderón Dorda 2008  5 υπωλενονατοτε P : ὑπωλέν‹ι›ον{α} τά τε Cuypers  6 ψυχραεγενονλοχεα P : ἐγένον‹το› λέχη Livrea 2002 (ἐγένον‹το› def. Calderón Dorda 2008, Ferrari per litt.)

Alles, was Nikomache besaß, ihre Spielzeuge/Schmuckstücke und die sapphischen Gespräche auf Gespräche zum Klang des morgendlichen Weberschiffchens, hat die Schicksalsgöttin mit sich fortgenommen, vor der Zeit; und die ganze Stadt der Argiver hat das unglückliche Mädchen laut beklagt, den im Arm der Hera aufgezogenen Spross. Ach, da blieben die Betten der Freier, die um sie warben, kalt. V. 1 f. Νικομάχηϲ: Der Name ist gut bezeugt; vgl. LGPN I 336; II 337; IIIA 325; IIIB 307; IV 254; VA 336. — ἀθύρματα: Das von ἀθύρω (‚spielen‘) gebildete Substantiv ἄθυρμα kann sowohl ‚Spielzeug‘, ‚Zeitvertreib‘ (z. B. Hom. Il. 15.363; Hymn. Hom. Herm. 40) heißen als auch ‚Schmuckstück‘ (Hom. Od. 15.416; Sappho fr. 44.9; 63.8 Voigt); eine sichere Entscheidung darüber, welche der beiden Bedeutungen Poseidipp hier intendiert, ist nicht möglich. Die von den Erstherausgebern angeführte Parallele AP 7.190.3 spricht für Spielzeug, die sapphischen

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Konnotationen des Epigramms (s. Interpret.) für Schmuckstück. — πρὸϲ ἑώιαν κερκίδα: Das Weberschiffchen (zu κερκίϲ vgl. Blümner ²1912, 151) steht hier pars pro toto für die (früh am Morgen beginnende) Arbeit am Webstuhl. Die Erstherausgeber verstehen das πρὸϲ zu Recht i. S. v. ‚zur Begleitung‘, ‚zum Klang (eines Instruments)‘; vgl. z. B. Eur. Alk. 346 (LSJ C.III.6), und können sich dafür auf eine Reihe von hellenistischen Epigrammen berufen, in denen das Weberschiffchen als ‚singend (und tanzend)‘ beschrieben wird (AP 6.160, 174, 288); vgl. HE II 36. Pretagostini (2002) plädiert dagegen mit Verweis auf Ausdrücke wie πρὸϲ ὄρθρον für eine räumlich-zeitliche Bedeutung und übersetzt: „al mattino, stando al teleio“. — Ϲαπφώιουϲ ἐξ ὀάρων ὀάρουϲ: ὄαροϲ (meist im Pl.) bedeutet ‚das vertrauliche Gespräch‘, ‚zärtliche Worte‘; vgl. Hom. Il. 14.216; 22.127 f.; Hes. theog. 205; Chantraine 1974; Pfeiffer ad Kallim. fr. 500: ὄαροι sunt colloquia, confabulationes omnis generis, nonnumquam amantium. Zu ἐκ (mit Wiederholung desselben Wortes) i. S. v. ‚auf‘, ‚anschließend an‘ vgl. z.Β. κακὸν ἐκ κακοῦ (‚Übel auf Übel‘). Das die Gespräche bestimmende Adjektiv ‚sapphisch‘ (die Konjektur der Erstherausgeber kann als sicher gelten) evoziert hier nicht wie in 122.5 und – wahrscheinlich – in 51.6 die sapphische Dichtung (so aber Calderón Dorda 2008); es bezeichnet die Gespräche vielmehr als Gespräche von Frauen und Mädchen über Liebe und Hochzeit (so wie zwischen Sappho und ihren Mädchen; vgl. Pretagostini 2002; González González 2010, 229).14 Da es sich um Gespräche bei der Arbeit am Webstuhl handelt, ergibt Di Benedettos Interpretation der Wendung als „conversazioni tra giovani di sesso diverso, tra ragazze e ragazzi“ (2003a, 12 f., mit Verweis auf Hom. Il. 22.127 f.) wenig Sinn. V. 3 ὤιχετο Μοῖρα φέρουϲα: ‚Moira hat davongetragen und ist fort; Moira hat mit sich fortgenommen‘; zu οἴχομαι + Partizip vgl. LSJ I; eine gute Parallele findet sich in einem Grabepigramm der hellenistischen Dichterin Anyte (AP 7.190.3 f.): διϲϲὰ γὰρ αὐτᾶϲ / παίγν᾽ ὁ δυϲπειθὴϲ ὤιχετ᾽ ἔχων Ἀίδαϲ („ihre beiden Spielzeuge hat der nicht leicht zu überredende Hades mit sich fortgenommen“). — προ{ϲ}ώρια: Diese Bildung des Adjektivs mit der Bedeutung ‚vor der Stunde‘ i. S. v. ‚vor der Zeit‘, ‚vorzeitig‘, ‚verfrüht‘ war bisher nur bei Nonnos bezeugt (Dionys. 33.53); häufiger findet sich die Form πρόωροϲ, einmal auch in der Verbindung mit Moira (nicht personifiziert): AP 7.143.3 (Krinagoras, 2. Hälfte 1. Jh. v. Chr.): ὦ ἄλλιϲτ᾽ Ἀΐδη, τί πρόωρον ἐφίειϲ / μοῖραν τῆι πάντωϲ ϲεῖό ποτ᾽ ἐϲϲομένηι („Ach, erbarmungsloser Hades, warum hast du ihr ein so vorzeitiges Schicksal gesandt, die einst doch auf jeden Fall die deine sein würde.“) V. 4 ἀμφεβόηϲε: Eine aktive Form des Verbs war bisher gar nicht bezeugt; das Passiv findet sich einmal (PCair. 67120 F39, 6. Jh. n. Chr.) in der Bedeutung ‚gefeiert‘, ‚geehrt werden‘ (vgl. auch das Adjektiv ἀμφιβόητοϲ, das zuerst für Kallimachos [Del. 303] in der Bedeutung ‚rings umtönt‘ bezeugt ist, und später ‚weithin berühmt‘ heißt [zuerst AP 9.241]). Hier dürfte das Verb aber in der Bedeutung ‚‹mit lauten Rufen› beklagen‘ verwendet sein; für diese Bedeutung verweisen die Erstherausgeber auf das Simplex βοάω in AP 7.486.2 und AP 7.226.1 f.: Ἀβδήρων προθανόντα τὸν αἰνοβίην Ἀγάθωνα / πᾶϲ᾽ ἐπὶ πυρκαιῆϲ ἥδ᾽ ἐβόηϲε πόλιϲ („den furchtbar starken Agathon, der ‹im Kampf› für die Abderer gefallen ist, beklagte auf dem Scheiterhaufen die ganze Stadt“); weitere Stellen bei Di Nino 2010, 286 f., die feststellt, dass das Präverb

14 Zu weiteren Anspielungen auf Sappho vgl. Di Benedetto (2003a, 11–13), Casadio (2004) und Calderón Dorda (2008); die sapphischen Parallelen sind allerdings keineswegs alle überzeugend.

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Epitymbia 55

ἀμφι- darauf hinweist, dass sich die Klagen über die ganze Stadt hin verbreiten – ein Motiv, das sich häufig in Grabepigrammen findet (vgl. o. S. 212). V. 5 f. τὸ τραφὲν ἔρνοϲ: ἔρνοϲ, ‚der Trieb‘, ‚Spross‘, ‚Schössling‘ findet sich im übertragenen Sinne (für junge Mädchen oder Männer) wiederholt auch in Grabgedichten (vgl. AP 7.407; GV 1541.1 u. 810.5). Die Verbindung von ἔρνοϲ und τρέφειν hat reiche homerische Konnotationen: Il. 18.53 (Klage um ein jung gestorbenes Mädchen); Il. 18.56 (Thetis’ Klage um Achill); Od. 14.174 f. (Eumaios’ Klage um Telemach). — ὑπ’ ὠλένοϲ: Die Korrektur des Papyrus durch die Erstherausgeber kann als sicher gelten, auch wenn die Nebenform von ὠλένη (‚der Ellbogen‘, ‚der ‹Unter›arm‘) sonst nur noch in der Suda (s.v. ὠλήν) erscheint. Dass das junge Mädchen ‚in Heras Arm aufgezogen worden ist‘, liegt angesichts der Funktion der Göttin als Schutzgöttin der Frauen und der besonderen Rolle, die sie in Argos spielt, nahe. — γαμβρῶν τῶν μνηϲτευομένων: γαμβρόϲ kann nicht nur jeden männlichen angeheirateten Verwandten (Schwiegersohn, Schwiegervater, Schwager) bezeichnen, sondern auch den Bräutigam oder, wie hier, den Freier (s. Kerkhecker, A. 1999: Callimachus’ Book of Iambi, Oxford: Anm. 58). Der Gedanke, dass die Schicksalsgöttin Moira den Freiern das Mädchen, um das sie werben, entreißt, findet sich auch in einem Epigramm der Anyte (AP 7.490): „Ich beklage die Jungfrau Antibia, um die zu werben viele Freier zum Haus des Vaters kamen, angezogen von ihrer Schönheit und Verständigkeit; aber Moira rollte ihrer aller Hoffnungen weit fort.“ — ψυχραεγενονλοχεα: Die Korrektur der unverständlichen Buchstabenfolge des Papyrus durch die Erstherausgeber ψύχρ{α} ἔμενον λέχεα (‚die Betten ‹der Freier› blieben kalt‘) ist überzeugender als Livreas Vorschlag ψύχρ{α} ἐγένον‹το› λέχη (zum Plural ἔμενον vgl. z. B. Hom. Il. 11.724, 15.173). Dass die Betten kalt wurden (so als seien sie vorher schon von einer Frau gewärmt gewesen), würde allenfalls zu Witwern, nicht aber zu Freiern passen. Wie die Erstherausgeber anmerken, ist das Motiv, dass das Bett eines Bräutigams oder Freiers durch den Tod seiner Braut kalt bleibt, ungewöhnlich. Magnelli vermutet, dass Properz 4.7.5 f. (cum mihi somnus ab exsequiis penderet amoris / et quererer lecti frigida regna mei [„als nach der Bestattung der Schlaf über mir schwebte und ich die kalte Herrschaft meines Lagers beklagte“]) von Poseidipp angeregt sei (vgl. 2002 und erneut 2008 gegen Lapini 2007, der die Verbindung bezweifelt hat); vgl. auch Ov. epist. 1.7; 19.69 u. am. 3.5.42. – Der Gedanke, dass die Freier durch den vorzeitigen Tod des Mädchens all ihrer Hoffnungen beraubt werden, findet sich in einem Epigramm der Anyte (AP 7.490). Das Epigramm auf Nikomache, das eine Reihe von sechs Epigrammen auf vor der Hochzeit gestorbene Mädchen (ἄωροι) abschließt, betont in den ersten drei Versen, dass das Mädchen vor der Zeit (προώριοϲ), d. h. bevor sie das Glück von Ehe und Kindern erfahren konnte, gestorben ist, und preist dann die Tote dadurch, dass es den Verlust beschreibt, den ihr Tod bedeutet: Ganz Argos klagt laut um das Mädchen, und die Männer, die um sie geworben haben, bleiben ohne die Erfüllung ihrer Wünsche zurück: ihre Betten bleiben kalt. Dass das Mädchen als „im Arm der Hera aufgezogener Spross“ (V. 5) bezeichnet wird, lässt sich, wie die Erstherausgeber feststellen, aus der Rolle der Hera als Schutzgöttin aller Frauen im Allgemeinen und als Schutzgöttin von Argos im Besonderen erklären. Es könnte darüber hinaus – und dafür spricht vielleicht die Betonung, dass die ganze Stadt das Mädchen beklagt (V. 4) – aber auch bedeuten, dass das Mädchen eine Rolle im Herakult der Stadt gespielt hat.

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56 Das sehr gut erhaltene Epigramm gilt einer nicht namentlich genannten Frau, die bei der Geburt ihres sechsten Kindes gestorben und zusammen mit ihrem kurze Zeit später gestorbenen Baby beigesetzt worden ist. IX

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πέντε μὲν ὠδίνεϲϲιν ἐπήρατο τόξον Ἐλευθώ, δῖα γύναι, κ̣ατὰ ϲ̣ῶν ἱϲταμένη λ̣ε̣χέων· ἕ]κτηϲ δ’ ἐξ ὠδῖνοϲ ἀπώλεο, καὶ τὸ ϲὸν ἔϲβη τέ̣κνον ἐν ἑβδομάτωι νήπιον ἠελίωι μ̣αϲτὸν ἔτι ϲπαργῶντα μετατρέ̣χον, ἠδὲ ϲυναπτὸν δ̣ά̣κρυ κατ’ ἀμφοτέρων ἤλυθε τυμβοχοῶν· π̣έντε μὲν οὖν, Ἀϲιῆτι γύναι, μακάρεϲϲι μελήϲει τέκνων, ἓν δ’ ἐπὶ ϲοῖϲ γούναϲι κ̣α̣ὶ̣ ϲ̣ὺ κομεῖϲ.

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11 ειδε P : ὧδε Magnelli 2004 (def. Ferrari per litt.) : εἶτα Neri ap. Magnelli 2004 : ἓ‹ν› δὲ vel εἴθε (…) Lapini 2004c : εἰ δὲ Giangrande 2006 (… μετατρέ̣χον. εἰ δὲ ϲυναπτὸν δ̣ά̣κρυ κατ’ ἀμφοτέρων ἤλυθε τυμβοχοῶν, π̣έντε μὲν …)  12 τυμβοχοῶν (-χόη) Lapini 2003b (def. Magnelli 2004, Ferrari per litt.) : τυμβοχόων (-χόοϲ) ed. pr., min.

Bei fünf Geburten hat Eleutho den Bogen erhoben, und stand, du edle Frau, an deinem Bett; Doch in Folge der sechsten Geburt bist du gestorben, und dein kleiner Sohn erlosch, als zum siebten Mal die Sonne aufging, während er noch die schwellende Brust suchte; und eine gemeinsame Träne fiel herab auf beide Gräber. Um fünf deiner Kinder, Frau aus ‹Klein›Asien, werden die Götter sich kümmern, für eins aber wirst auch du ‹selber›, es auf den Knien haltend, sorgen. V. 1 πέντε μὲν ὠδίνεϲϲιν: ὠδῖνεϲ – und seltener der Sg. ὠδίϲ (V. 3) – bezeichnet die Geburtswehen, aber auch die Geburt und im Sg. das geborene Kind; zum Gebrauch des Singulars in Grabepigrammen vgl. die Parallelen in ed. pr. — Ἐλευθώ: Eine von mehreren Namensformen für die Geburtsgöttin Eileithyia (vgl. AP 7.604.3), die den Gebärenden beisteht (Bedeutung des Namens: ‚sie, die ‹zu Hilfe› kommt‘), die aber auch mit dem Bogen töten kann; vgl. Il. 11.269–271: „Wie wenn in den Wehen das scharfe Geschoß ein Weib trifft, / das schneidende, das die Mühen erzeugenden Eileithyien entsenden, / die Töchter der Here, die die bitteren Wehen verwalten: / so … .“ Zu Eileithyia(i) vgl. Willets, R.F. 1958: Eileithyia, CQ 52: 221–223; Olmos, R.: Eileithyia, LIMC III 534 –540. V. 2 δῖα γύναι: Die Frau, an deren Schicksal das Epigramm erinnert, bleibt anonym; in V. 7 wird lediglich gesagt, dass sie aus Kleinasien stammt. δῖοϲ wird seit Homer nicht nur für Götter, sondern – in der Bedeutung ‚edel‘, ‚berühmt‘, ‚stattlich‘ – auch für Menschen, Tiere und Dinge verwendet. Bremer (2003) vermutet, dass das Epitheton δῖα andeuten soll, dass das Mädchen im Jenseits den Status der Glückseligkeit erreicht hat (zur Verbindung δῖα bzw. θεῖα γυνὴ in Grabepigrammen vgl. Vox 2006).

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Epitymbia 56

V. 3 ἔϲβη: Die hier für den Tod gewählte Metapher ϲβέννυϲθαι (‚verlöschen‘ – wie Feuer oder Licht) bildet einen wirkungsvollen Kontrast zur „siebten Sonne“ als Metapher für den siebten Tag, an dem das Leben des Babys erlischt. V. 5 μ̣αϲτὸν ἔτι ϲπαργῶντα μετατρέ̣χον: Die Stellung des ἔτι spricht dafür, dass es zu ϲπαργῶντα gehört: Die Brust der Mutter ist noch geschwollen; die Zeitangabe (am siebten Tag nach ihrem Tod) spricht allerdings dafür, dass es zu μετατρέχον gehört (vgl. Lapini 2004, 6, Anm. 3). – μετατρέχω, wörtlich: ‚‹einer Sache/jemandem› nachlaufen (um es zu holen)‘ kann auch die Bedeutung ‚suchen‘, ‚begehren‘, ‚streben nach‘ haben. — ἠδὲ: Der Papyrus bietet ειδε; zur Verschreibung/Verwechslung von η statt ει und – häufiger – ει statt η vgl. ed. pr., 173 (zu 52.3). Magnelli 2004 hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Konjektur der Erstherausgeber eine sehr seltene Verwendung von ἠδὲ (i. S. v. καὶ) zur Verbindung zweier selbständiger Gedanken mit zwei verschiedenen Subjekten voraussetzt (vgl. auch Lapini 2007, Anm. 10). Die bisher gemachten alternativen Vorschläge vermögen jedoch ebensowenig zu überzeugen wie Giangrandes (2006) Versuch, die Überlieferung zu verteidigen. V. 5 f. τυμβοχοῶν: Die Buchstabenfolge kann als Gen. Pl. von τυμβοχόη (‚das Aufwerfen eines Grabhügels‘) verstanden werden (so Lapini 2003b u. a. mit Verweis auf Hom. Il. 21.323 sowie GV 734.5 f. u. 1683.1 f.); in diesem Fall ist τυμβοχοῶν mit κατ’ ἀμφοτέρων zu verbinden (‚über beide Gräber, bei beiden Bestattungen‘); es könnte sich aber auch um den Gen. Pl. von τυμβοχόοϲ (‚der Grabhügel-Aufwerfer‘, ‚Bestatter‘) handeln (so ed. pr. mit Verweis auf AP 8.200.1; vgl. auch Aischyl. Sept. 1027); so verstanden gehört der Genitiv τυμβοχόων zu δάκρυ, und κατ’ ἀμφοτέρων bezeichnet die beiden Toten (‚über beide floss die gemeinsame Träne derer herab, die ihnen das Grab aufschütteten‘, bzw. – allgemeiner – ‚derer, die sie bestatteten‘). — ϲυναπτὸν δ̣ά̣κρυ: Für die überraschende Verbindung von ϲυναπτὸϲ (‚zusammengebunden‘, ‚‚miteinander‘ verbunden‘) mit δάκρυ verweisen die Erstherausgeber auf ein Scholion zu Eur. Or. 335 f., in dem die Wendung δάκρυα ϲυνάπτειν erscheint; ϲυναπτὸν δάκρυ bezeichnet offenbar die gemeinsame Totenklage für Mutter und Kind, die zwar im Abstand von sieben Tagen gestorben, aber gemeinsam bestattet worden sind. Vielleicht ist auch gemeint, dass die beiden Bestattungen so schnell aufeinanderfolgten, dass es gar keine Unterbrechung der Tränen gab. V. 7 Ἀϲιῆτι γύναι: Die Erstherausgeber deuten den überlieferten Text als Adjektiv (‚Frau aus ‹Klein›Asien‘); Fantuzzi hat jedoch angemerkt, dass es sich auch um einen Frauennamen handeln könnte (Fantuzzi-Hunter 2004, 300, Anm. 55). Auch wenn sich für die Verbindung des Namens mit γύναι eine Parallele finden läßt (GV 411.1), erscheint diese Möglichkeit als weniger wahrscheinlich. V. 8 ἐπὶ ϲοῖϲ γούναϲι … κομεῖϲ: Das epische Verb κομέω heißt wie κομίζειν ‚sorgen für‘, ‚sich kümmern um‘. Angesichts der Tatsache, dass es Grabstelen gibt, auf denen ein Grabepigramm von der Darstellung einer Mutter begleitet wird, die ihrem Baby die Brust gibt, halten es die Erstherausgeber für möglich, dass Poseidipps Epigramm für eine Grabstele geschrieben ist bzw. eine solche evozieren soll, die die Tote mit ihrem Baby auf den Knien zeigt. Sie verweisen auf den alten Vorschlag von Alphonse Hecker (1852, Commentatio Critica de Anthologia

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Graeca pars prior, Leiden: 93), dass das letzte Distichon des Poseidipp (und Kallimachos) zugeschriebenen Grabepigramms AP 7.170 = HE 1374 –1379) auf den im Alter von drei Jahren ertrunkenen Archianax darauf deute, dass das Epigramm von einer solchen Darstellung begleitet war: ἐπὶ γούνοιϲ / ματρὸϲ κοιμαθεὶϲ τὸν βαθὺν ὕπνον ἔχει („auf den Knien der Mutter eingeschlummert schläft er den tiefen Schlaf ‹des Todes›“). Gow-Page (1965, 501) haben Heckers Vermutung mit dem Hinweis auf das Präsens (ἔχει) gestützt, das sich auch in 56.8 findet (κομεῖϲ). — κ̣α̣ὶ̣: Das kaum zu lesende καὶ bedeutet (wenn es richtig ist), dass die Götter sich nicht nur um die fünf lebenden Kinder, sondern – zusammen mit der Mutter – auch um das gestorbene Kind kümmern werden. An die Reihe der Epigramme auf vor der Hochzeit gestorbene Mädchen schließt Poseidipp ein Epigramm auf eine Mutter an, die bei der Geburt ihres sechsten Kindes gestorben ist. Dass Eileithyia, die Göttin der Geburt, fünf Mal am Lager der Gebärenden gestanden und den Bogen erhoben hat, heißt zunächst einmal, dass sie immer wieder Unheil von der Toten abgewehrt hat. Zugleich deutet der erhobene Bogen aber auch drohend voraus auf die sechsten Wehen (3 f.), die ihr den Tod gebracht haben. Mit der Beschreibung, wie das Baby nach der Brust der toten Mutter sucht, bis es nach Tagen ebenfalls stirbt, und der für beide gemeinsamen (oder unmittelbar aneinander anschließend?) erhobenen Totenklage steigert der Sprecher der Verse, ähnlich wie in dem sich anschließenden Epigramm, das Pathos erheblich, bevor er die Tote damit tröstet, dass die Götter sich um ihre fünf lebenden Kinder kümmern werden, während sie selber im Jenseits für das sechste sorgen kann. 57 Das Epigramm ist der Erinnerung einer Frau namens Philonis gewidmet, die als junge Frau im Moment der Geburt ihres Sohnes von einer furchterregenden, schwarzen Schlange überrascht wurde. Sie selbst ist damals gestorben – entweder vor Schreck oder sie wurde von der Schlange gebissen –, doch ihr Sohn hat den Angriff überlebt. Das Epigramm gedenkt der Verstorbenen aus der Perspektive des ergrauten Sohnes. IX

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τικτούϲηϲ ποτὲ παῖδα Φιλωνίδοϲ̣ ἄ̣γ̣ρ̣ι̣ο̣[ϲ] ο̣ὕ̣τ̣ω ϲπ̣εῖραν ὑπὲρ κεφαλῆϲ ἐξεκύλιε[ κ]υ̣άνεον φολίδωμα· πυρὸϲ δ’ αἰ̣θ̣ω̣[ αὐ]χενίουϲ ἤδη τείνετ’ ἐπὶ π̣λ̣[οκάμουϲ· κα]ὶ̣ τὸν μὲν κόλποιϲ ὠρέξατο π̣α̣ιδ[ …].ον, τῆϲ δὲ φόβωι γυῖ{α} ὑπέλυϲε̣[ ἔϲχα]τά γ’ ἐκ τεράων ἔπαθεϲ, γύναι, ἀλ̣[λ …] τότε καὶ πολιὴν ἔϲχε χρόνωι κε[φαλήν.

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16 ἐξεκύλιε[ν ὄφιϲ ed.  pr., min. (def. Livrea 2002) : -ιε [δράκων Austin 2001a (def. Livrea 2004)  17 αἴ̣θ̣ω̣[ν ϲέλαϲ ὄϲϲοιϲ, Austin 2001a, ed. pr. min. (def. Livrea 2004) : ἀϲ̣τ̣ρ̣[άπτετον ὄϲϲε De Stefani 2002  19 π̣α̣ῖδ[α λαβέϲθαι ed. pr. : π̣α̣ῖδ’ [ἐπιμάρψαι ed. min. : π̣α̣ῖδ[α πάϲαϲθαι Livrea 2002 : παῖδ[α λαφύξαι? Ferrari per litt.  20 δει]ν̣όν ed. pr., min. : νήπ]ι̣ον vel τέκ]ν̣ον Cuypers : μοῦ]ν̣ον Lapini 2007 : τυν]ν̣όν Magnelli 2008  θέη Ferrari per litt. ὑπέλυϲε̣ [λεχοῦϲ ed. pr., min : ὑπέλυϲε̣[ν ὄφιϲ Livrea 2004  21 εἰκό]τα γ’ Lapini 2007  21–22 ἀλ̣[λὰ ϲὸϲ υἱὸϲ | ϲῶϲ] ed. pr., min. : ἀλ̣[λὰ τὸ θρέμμα | ϲῶν] Livrea 2002 : ἀλ̣[λ’ ἐϲαώθη | παῖϲ] Ferrari 2005 (def. Angiò 2006): ἀλ̣[λὰ ϲὸϲ ἔζη | παῖϲ] Lapini 2007

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Epitymbia 57

Als Philonis einst einen Sohn gebar, rollte fürchterlich so eine Windung über ihrem Kopf aus […] ein dunkles Schuppentier; des Feuers (entzündend) […] schon streckte es sich aus gegen die Nacken(haare) und reckte sich den Knaben im Schoß […] […], deren Glieder aber lösten sich aus Furcht […] (Das Äußerste) hast du in Folge der Omina erlitten, Frau, aber […] damals und bekam mit der Zeit einen grauen (Kopf). V. 1 f. τικτούϲηϲ ποτὲ παῖδα Φιλωνίδοϲ̣: Der Frauenname Φιλωνίϲ ist vielfach bezeugt (vgl. LGPN II 463; IIIa 464). — ἄ̣γ̣ρ̣ι̣ο̣[ϲ]: Für die Lesung der schlecht erhaltenen Buchstabenfolge verweist die ed. pr. als Parallelen auf die Kollokationen ἄγρια θηρία in Kallim. Artem. 12 sowie ἄγριοϲ κλυδών in GV 1501.4 (= GG 225). — ο̣ὕ̣τ̣ω: Gronewald (2003, 66) vermutet, dass sich das deiktische Adverb οὕτω auf die Darstellung einer Schlange auf dem Grabstein bezieht. Schröder (2002, 27) verweist im Kontext seiner Diskussion von 35 auf eine Reihe von Grabepigrammen, die mit Tierskulpturen auf den zugehörigen Gräbern einhergehen, darunter auch auf GV 1260 (= Steinepigramme I 01/02/01 M/S), mit der Darstellung einer Schlange. — ϲπ̣εῖραν […] ἐξεκύλιε[: Daran, dass am Ende von V. 2 ein Wort für Schlange zu ergänzen ist, lässt der Kontext keinen Zweifel. Metrisch sind sowohl ὄφιϲ als auch δράκων möglich. Im Falle einer Ergänzung von δράκων wäre die anlautende muta cum liquida δρ- nicht positionsbildend, was zwar gängiger hellenistischer Praxis widerspricht (vgl. West 1982, 160), jedoch in 15.1 ἀλλὰ δράκοντοϲ eine einwandfreie Parallele findet. Für δράκων spricht nicht nur die mehrfache Alliteration (κεφαλῆϲ ἐξεκύλιε[ δράκων, / κ]υ̣άνεον), sondern auch die Tatsache, dass das Adjektiv κυάνεοϲ (IX 17) poetisch häufig mit δράκων verknüpft wird; (vgl. den nachstehenden Komm.).15 — ϲπεῖρα: Dieses Wort bezeichnet oft die Windung(en) einer Schlange; die Kombination mit dem Verb (ἐκ)κυλίειν ist jedoch singulär und somit an dieser Stelle als expliziter Poetizismus auffällig. Für die Verwendung des Verbs κυλίειν im Zusammenhang mit Schlangen verweist die ed. pr. auf Theokr. eid. 24.17–18 τὼ δ᾿ ἐξειλυϲθέντεϲ ἐπὶ χθονὶ γαϲτέραϲ ἄμφω / αἰμοβόρωϲ ἐκύλιον als Parallele (von den beiden Schlangen, die sich Herakles und Iphikles nähern). V. 3 κ]υ̣άνεον: Das Adjektiv κυάνεοϲ ist poetisch mehrfach in Kollokation mit dem Substantiv δράκων bezeugt; vgl. z. B. Il. 11.26: κυάνεοι δὲ δράκοντεϲ; Il. 11.39: κυάνεοϲ ἐλέλικτο δράκων; Aischyl. Pers. 81: κυάνεον […] δέργμα δράκοντοϲ; Theokr. eid. 14.14: κυανέαιϲ φρίϲϲονταϲ ὑπὸ ϲπείραιϲι δράκονταϲ. In 50.1 f. verwendet Poseidipp dasselbe Farbadjektiv als Todessymbol: κυάνεον νέφοϲ ἦλθε δι᾿ ἄϲτεοϲ, ἡνίκα κούρην / τοῦθ᾿ ὑπὸ ϲῆμα τιθεὶϲ ἔϲτενεν Ἠετίων. Intratextuell gesehen lässt sich somit das Adjektiv κύανεοϲ als Epitheton für das Schuppentier (φολίδωμα) hier ebenfalls als Todesomen lesen. — φολίδωμα: Das hapax legomenon – eine Ableitung von φολίϲ, das die Schuppen von Reptilien bezeichnet – ist vermutlich eine poetisierende Augenblicksbildung mit dem Nominalsuffix -μα und bedeutet ‚schuppiges Ding‘, ‚Schuppentier‘. Das Wort ruft den Namen der Mutter auf: durch die spiegelverkehrte Anordnung der o- und i-Laute (Φιλωνίδοϲ – φολίδωμα) werden Mutter und

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Livrea sieht in ἄργιοϲ […] δράκων die Beschreibung einer Tigerpython, „il gigantesco serpente di origine indiana“ (2004, Anm. 34, mit ausführlichen Stellen- und Literaturverweisen).

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Schlange in ihrem Schicksal sprachlich miteinander verknüpft, und das Sich-Winden der Schlange wird mimetisch abgebildet. Aus rein sprachlicher Sicht ist das Wort φολίδωμα das stärkste Indiz dafür, dass am Ende von V. 2 ein Wort für Schlange zu ergänzen ist (vgl. den Komm.). — πυρὸϲ: Der Vergleich des Schlangenblicks mit Feuer ist ein verbreiteter Topos (vgl. z. B. Eur. Ion 1262–1263: οἵαν ἔχιδναν τήνδ’ ἔφυϲαϲ ἢ πυρὸϲ / δράκοντ’ ἀναβλέποντα φοινίαν φλόγα). — αἴ̣θ̣ω̣[: Für die Ergänzung der Lücke am Ende des Verses zu αἴ̣θ̣ω̣[ν ϲέλαϲ ὄϲϲοιϲ verweisen die Erstherausgeber auf Hom. Il. 19.365–366: τὼ δέ οἱ ὄϲϲε / λαμπέϲθην ὡϲ εἴ τε πυρὸϲ ϲέλαϲ sowie AP 12.93.9 ϲέλαϲ ὄμμαϲιν αἴθει; zum Strahlen des Schlangenblicks vgl. auch Snell 1975, 13–14.16 V. 4 αὐ]χενίουϲ […] ἐπὶ π̣λ̣[οκάμουϲ: Adjektiv und Substantiv sind hier in stilistisch auffälliger Weise vertauscht (‚die Locken im Nacken‘ statt ‚der lockenbehangene Nacken‘); dieselbe Wendung findet sich bei Nonn. Dion. 20.119 und 25.187: αὐχενίου πλοκάμοιο sowie bei Triph. 317 und Hld. 10.28.4: αὐχενίων τριχῶν. V. 5 κόλποιϲ: Der attributiv zwischen τὸν […] πα ̣ ῖ̣ δ[α gestellte Dativ ist wohl am ehesten lokativisch zu verstehen. — ὠρέξατο: Die ed. pr. verweist als Parallele auf Hymn. Hom. Dem. 15–16: ὠρέξατο χερϲὶν ἅμ᾿ ἄμφω / καλὸν ἄθυρμα λαβεῖν. Die Stelle lässt sich auch zur Stützung der Konjektur λαβέϲθαι heranziehen. Keine Einigkeit besteht in der Frage nach dem Subjekt von ὠρέξατο. Communis opinio ist, dass die Schlange das Subjekt ist, doch wird zuweilen auch ein Subjektswechsel von der Schlange zur Mutter angenommen (vgl. Kosmetatou/Acosta-Hughes: „she stretched out her hands to enfold her child at her breast“). — π̣α̣ιδ[: Die Ergänzung παῖδα ist zwingend; für die folgende Lücke bestehen dagegen zahlreiche Ergänzungsvorschläge (abhängig u. a. von der Frage, ob als Subjekt von ὠρέξατο die Schlange oder die Mutter verstanden wird). Auf der Basis der sprachlichen Nähe des Verses zu Hymn. Hom. Dem. 15–16 ὠρέξατο χερϲὶν ἅμ᾿ ἄμφω / καλὸν ἄθυρμα λαβεῖν erscheint die Ergänzung der ed. pr. als die plausibelste. Zur medialen Verwendung von λαμβάνεϲθαι mit einem personalen Akkusativobjekt vgl. Od. 4.388: τόν γ᾿ εἴ πωϲ ϲὺ δύναιο λοχηϲάμενοϲ λελαβέϲθαι (Schwyzer II 230). V. 6 …].ον: Die Ergänzung δει]ν̣όν (ed. pr.) im Sinne eines adverbialen Ausrufs (‚wie schrecklich!‘) wirkt reichlich künstlich, und Lapinis Vorschlag (2007, Anm. 86) μοῦ]ν̣ον („solo per toccarlo“) würde bedeuten, dass die Schlange dem Kind nichts Böses tun will (vgl. Livrea 2004, 36). Eher ist wohl ein Adjektiv oder Substantiv mit Bezug auf π̣α̣ῖδ[α (als Attribut bzw. Apposition) zu ergänzen. Weder τέκ]ν̣ον noch τυν]ν̣όν vermögen zu überzeugen, da τέκνον eine stilistisch schwer vorstellbare Doppelung (‚den Sohn, das Kind‘) ergäbe, während der alexandrinische Dorismus τυννόν i. S. v. μικρόν (vgl. Kallim. fr. 471 Pfeiffer; Theokr. eid. 24.139) zwar semantisch durchaus passt, aber für den sprachlichen Kontext allzu gesucht erscheint. Eine plausible Alternative stellt das von Cuypers vorgeschlagene (aus metrischen Gründen bisyllabisch zu lesende) νήπ]ι̣ον dar, das ‚(noch) nicht sprechend‘, ‚nicht erwachsen‘ heißt und seit Homer für Kinder und junge Tiere gebraucht wird (vgl. LfgrE; Frisk 1970). 16

De Stefani (2002, 167) schlägt in Anlehnung an Euphor. fr. 57.7 vG (= fr. 51 P) ἠϲτράπτετον [ὄϲϲε (suppl. Schubart) die Ergänzung ἀϲ̣τ̣ρ̣[άπτετον ὄϲϲε vor. Das Verb ἀϲτράπτω wird zwar durchaus in Junkturen mit dem menschlichen Auge verwendet (vgl. Plat. Phaidr. 254b, Xen. kyn. 6.15, Aischyl. Prom. 358, AP 12.110), die erhaltenen Buchstabenreste sprechen aber gegen den Vorschlag.

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Epitymbia 57

— γυῖ{α} ὑπέλυϲε̣[: Die Phrase ist ein dezidierter Homerismus, der entweder den Tod eines Gegners durch eine tödliche Wunde bezeichnet (vgl. z. B. Od. 14.236: πολλῶν ἀνδρῶν ὑπὸ γούνατ᾿ ἔλυϲε [vom Trojanischen Kriegszug, der vielen Männern den Tod brachte]) oder auch bloß das In-die-Knie-Brechen durch einen gegnerischen Schuss, Wurf oder Schlag. Livrea (2004, 35–36) möchte die vorliegende Stelle in diesem Sinne verstanden wissen und als Hinweis darauf deuten, dass die Mutter weder von der Schlange getötet wird noch vor Schreck stirbt (vgl. u. Interpret., Anm. 18). Die Ergänzung des Versendes muss spekulativ bleiben. Der Vorschlag der ed. pr. λεχοῦϲ (Genitiv zu λεχώ: Wöchnerin) ist plausibel, da das Wort auf Grabepigrammen zur Erinnerung an bei der Geburt eines Kindes gestorbene Frauen häufig vorkommt (vgl. Bernand 1969, 157; ed. pr. 180). V. 7 ἔϲχα]τά γ’ […] ἔπαθεϲ…: Die Ergänzung der ed. pr. ist allgemein akzeptiert. Der Ausdruck τὰ ἔϲχατα πάϲχειν ist ein nur leicht euphemistischer Ausdruck für ‚sterben‘. Die von Livrea (2004, 36) vertretene Auffassung, der Ausdruck könne nicht den Tod bezeichnen, ist unzutreffend (zu seiner Deutung des Epigramms vgl. u. Interpret., Anm. 18). — ἐκ τεράων: τέραϲ kann einerseits ein Vorzeichen, ein Wunderzeichen, ein (böses) Omen bezeichnen und andererseits ein Ungeheuer, ein Monster. Für diese Stelle wird wegen des Plurals in der Regel erstgenannte Bedeutung angenommen (vgl. ed. pr., wo die Stelle mit Od. 12.394: τοῖϲιν δ᾿ αὐτίκ᾿ ἔπειτα θεοὶ τέραα προὔφαινον verglichen wird; ferner Livrea 2004, 36 sowie Lapini 2007, 255–256). Die Möglichkeit einer gezielten Ambiguität – die Schlange ist ein Ungeheuer und kündigt als solches ein unmittelbar bevorstehendes, durch sie selbst verursachtes Unglück an – ist bisher nicht bedacht worden. Anders als die ed. pr. deutet Livrea die Wendung ἐκ τεράων (und somit die ganze Schlangenerscheinung) nicht als böses, sondern als gutes Omen (vgl. u. Interpret., Anm. 18). V. 7 f. ἀλ̣[λ… /….: Der Sinn des in der Lücke zu Ergänzenden kann nur sein, dass das Baby der Verstorbenen überlebt hat und nun selbst ein alter Mann geworden ist; die Rekonstruktion des genauen Wortlautes bleibt jedoch spekulativ (vgl. Lapini 2007, 256 für eine Diskussion verschiedener Lösungsansätze). Klingt die Lösung der ed. pr. leicht kakophon (ἀλ̣[λὰ ϲὸϲ υἱὸϲ / ϲῶϲ]), so ist Livreas Ergänzung (θρέμμα) zu gesucht; beiden Vorschlägen ist zudem der Nachteil zu eigen, dass sie verkennen, dass τότε in V. 8 ein Prädikat erfordert (so zu Recht Ferrari 2005, 204; gefolgt von Angiò 2006, 42). Die plausibelste Ergänzung ist die von Ferrari, da sie den geforderten Sinn in unprätentiöser Sprache trifft und die Wiederholung von παῖϲ (V. 1) am Schluss des Gedichts durchaus guten Sinn ergibt. — πολιὴν […] κε[φαλήν: Die Erstherausgeber verweisen als Parallelen auf AP 7.650.4 u. 164.9. Letztgenanntes Epigramm ist 57 auch inhaltlich verwandt: Der Sprecher des Epigramms tritt mit einer Frau, die bei einer Geburt gestorben ist, in Dialog und wünscht ihrem jetzt dreijährigen Jungen ein langes Leben. Das totum pro parte „grauer Kopf“ statt „graues Haar“ ist bereits homerisch (vgl. z. B. Od. 24.317: ἐκ κεφαλῆϲ πολιῆϲ). Rekonstruktionsvorschlag τικτούϲηϲ ποτὲ παῖδα Φιλωνίδοϲ ἄγρ̣ιο[ϲ] οὕτω ϲπεῖραν ὑπὲρ κεφαλῆϲ ἐξεκύλιε[ δράκων κ]υάνεον φολίδωμα· πυρὸϲ δ’ αἴθω[ν ϲέλαϲ ὄϲϲοιϲ αὐ]χενίουϲ ἤδη τείνετ’ ἐπὶ πλ[οκάμουϲ·

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κα]ὶ τὸν μὲν κόλποιϲ ὠρέξατο παῖδ[α λαβέϲθαι νήπ]ιον, τῆϲ δὲ φόβωι γυῖ’ ὑπέλυϲε[ λεχοῦϲ. ἔϲχα]τά γ’ ἐκ τεράων ἔπαθεϲ, γύναι, ἀλ[λ’ ἐϲαώθη παῖϲ] τότε καὶ πολιὴν ἔϲχε χρόνωι κε[φαλήν. Als Philonis einst einen Sohn gebar, da wand sich so wie hier zu sehen eine fürchterliche Schlange über ihrem Haupt, ein dunkles Schuppentier; ein Feuerschein glänzte in seinen Augen, und schon streckte es sich aus nach ihrem lockigen Nacken; und es reckte sich nach dem Jungen in Philonis Schoß, ihn zu packen, den Kleinen, und es lösten sich die Glieder der Wöchnerin aus Furcht. Du hast dein letztes Schicksal erlitten durch das böse Schlangen-Omen, Frau. Doch gerettet wurde damals dein Sohn und hat mit der Zeit einen grauen Kopf bekommen. Das erste Distichon legt die Basis für eine Geschichte, die der Vergangenheit angehört (V. 1: ποτέ); gleichzeitig wird das Grabgedicht als narratives Epigramm ausgewiesen (vgl. zu diesem Subgenre Bowie 2010): Eine Frau namens Philonis wird, als sie gerade einen Sohn gebiert, von einer Schlange, die sich über ihren Kopf an sie heranschlängelt, überrascht. Stilistisch bemerkenswert sind das Hyperbaton ἄγριοϲ […] δράκων und die pointierte Endstellung des Schlangenworts am Ende des ersten Pentameters. Mit οὕτω wird vermutlich auf die begleitende bildliche Darstellung einer Schlange auf dem Grabmal hingewiesen, die sich der Leser so vorstellen soll, wie im Epigramm beschrieben. Die beiden Verse wecken so die Erwartung, dass Mutter und Neugeborenes, die beide hilf- und wehrlos daliegen, dem sicheren Tod geweiht sind. Das zweite Distichon beschreibt zuerst das furchterregende Aussehen der Schlange – ihre dunkle Farbe, ihre Schuppen, das Glühen ihrer Augen – und zögert so den befürchteten tödlichen Angriff hinaus; im Pentameter wird die aufgebaute Erwartung dann eingelöst: die Schlange nähert sich dem Hals der Frau, ihrer verletzlichsten Stelle, um sie – so ist anzunehmen – mit einem Biss zu töten. Im dritten Distichon scheint sich die Schlange dann aber auf das Baby im Schoß der Mutter stürzen zu wollen, und der Mutter „lösten sich die Glieder“, eine Wendung, die sowohl eine Ohnmacht als auch den Tod (ausgelöst durch den Schrecken) bezeichnen kann. Das Verständnis des Hexameters des letzten Distichons ist umstritten. Verweist ἐκ τεράων auf die Schlange (‚das Ungeheuer‘) oder bezeichnet es ein durch die Schlange symbolisiertes Prodigium – und wenn ja, was kündigt es an? Auch die Möglichkeit einer gezielten Ambiguität wäre in Betracht zu ziehen, da die Schlange ja ein Ungeheuer ist und als solches ein unmittelbar bevorstehendes, durch sie selbst verursachtes Unglück ankündigt. Klar hingegen ist, dass der Ausdruck ἔϲχατα […] ἔπαθεϲ den Tod der Mutter bezeichnet. Gleichzeitig findet mit der direkten Anrede an die tote Mutter (ἔπαθεϲ) ein Wechsel der Kommunikationssituation statt: der Sprecher des Grabepigramms geht von einem dramatisch verdichteten, narrativen Erzählstil zu einer direkten Apostrophe der hier begrabenen Frau über (zum Du-Stil in Grabepigrammen vgl. Puelma/Angiò 2005a, 24 und Vestrheim 2010, 64 –71).17 Hierin scheint das eigentliche Aprosdoketon des ganzen Gedichts zu liegen: Aus kommunikativer Sicht wird in den vorange17

Zum Vergleich: Ein Extrembeispiel wechselnder Kommunikationssituationen in einem vierzeiligen Grabgedicht findet sich in CEG 530 (Attika, ca. 365–340 v. Chr.), wo zuerst das Grab angesprochen wird, dann die Verstorbene in der dritten Person genannt wird, dann diese in der zweiten Person angesprochen wird und schließlich selbige auch noch persönlich spricht. Vgl. dazu Vestrheim 2010, 72.

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Epitymbia 58

gangenen drei Distichen der Leser des Epigramms angesprochen. In dem Moment jedoch, als sich der Sprecher direkt an die Tote wendet, werden der implizit Angesprochene (der Leser) und die explizit Angesprochene (die Tote) – zumindest für einen Augenblick – eins. Damit wird der Leser indirekt aufgefordert, sich mit der Toten zu identifizieren. Das Grabepigramm auf eine individuelle Tote wird so zu einem Gedicht über die condition humaine, welches das Sterben als solches thematisiert; gleichzeitig jedoch wird es auch zu einem Trostgedicht, denn so wie die Tote sich damit trösten kann, dass wenigstens ihr Sohn gerettet worden ist und ihm ein langes Leben beschieden war, so mag sich auch der Leser trösten, dass seine Nachgeborenen ein langes – und vielleicht schöneres und besseres – Leben haben werden.18 58 Der Text des Epigramms auf eine Frau namens Protis ist leider an inhaltlich bedeutungsvollen Stellen lückenhaft. Sicher ist, dass der Sprecher der Toten eine lange und glückliche Ehe, erfolgreiche Kinder und einen leichten Tod bescheinigt. IX

23 24 25 26 27 28

ὡϲ ἐ]π̣ὶ̣ νύμφιον ἦλθε λέχοϲ Πρῶτιϲ̣ [ …].οθε παρθενίουϲ οὐκέτ’ ἔβη θα[ ….]αϲα νόμον Β̣οιώτιον, ἀλλ’ ἐνιαυτ̣[ῶν πέντ]ε φιληθείϲαϲ ἀνδρὶ ϲυνῆν δεκά̣[δαϲ .….]ωϲ καὶ τέκνα μετ’ ἀνδράϲιν η̣[ ε]ὔ̣[πο]ρ̣[{α}] ἰ̣δοῦϲ’ εὔπλουϲ ὤιχετ’ ἐπ’ εὐϲ̣[εβέων.

1 2 3 4 5 6

23 [κιθαρωιδὸϲ Austin 2001a, ed. pr., min.  24 μητ]ρ̣όθε, Austin 2001a, ed. pr., min.  ουμετεβη P (def. Gronewald 2007)  θα[λίαϲ ed. pr., min. (def. Gronewald 2007) : θα[λάμουϲ Cuypers  25 ἠχήϲ]αϲα ed. pr., min.  26 φιληδήϲαϲ’ Lapini 2007  27 ἡϲυχί]ωϲ, ed. min.  η̣[λικιώταιϲ Austin 2001a, ed. pr., min. (def. Garulli 2004b) : ἠ̣[δὲ γυναιξὶν Gronewald 2004  28 ]ὔ̣[.]ρ̣[.]ι̣δουϲ P

Als Protis zum bräutlichen Lager gekommen war […], […] ging sie nicht mehr zu jungfräulichen (Festlichkeiten) […] die böotische Weise, sondern (fünf) geliebte Dekaden von Jahren lebte sie zusammen mit ihrem Mann […] und als sie die Kinder mit Männern […] (gut versorgt) gesehen hatte, fuhr sie fort zum (Land der Seligen) mit günstigem Wind.

18

Im Kontrast zu der hier vorgetragenen Interpretation steht die Deutung von Livrea 2004, 35–36, nach der die Schlange weder Mutter noch Kind etwas Böses will, sondern als „serpente-guardiano“ dem Kind im Moment seiner Geburt ein langes und glückliches Leben ankündigt. So verstanden, umschreiben die Verse 6 und 7 nicht den Tod der Mutter, sondern bezeichnen eine Grenz- oder Ex­trem­ erfahrung. Diese Deutung des Epigramms vermag jedoch nicht zu überzeugen: Das Epigramm ist offenkundig von Beginn an darauf angelegt, dem Leser die Angst der Frau vor der Schlange und die von dem fürchterlichen Tier ausgehende Todesgefahr eindrücklich vor Augen zu führen. Dazu passt die angebliche positive Bedeutung der Schlange nicht. Vor allem jedoch wäre das Epigramm, wenn die Mutter überlebt und das Kind ein hohes Alter erreicht, gar kein wirkliches Grabepigramm mehr.

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V. 1 ὡϲ ἐ]πὶ̣ ̣ νύμφιον ἦλθε λέχοϲ: Zu der Wendung ‚in die Brautkammer/zum Brautbett gehen‘ i. S. v. ‚heiraten‘ vgl. 46.5; zur Kollokation νύμφιον […] λέχοϲ verweist die ed. pr. auf νύμφια λέκτρα (Kallim. fr. 63.11 Pfeiffer u. AP 7.583.1) sowie Soph. OT 1242–1243: πρὸϲ τὰ νυμφικὰ / λέχη. Zu der Möglichkeit, dass der Gang ins Brautgemach einen bedrohlichen Unterton hat, der dem Leser suggeriert, dass das Mädchen jung gestorben ist, vgl. die Interpret. — Πρῶτιϲ:̣ Der Frauenname Πρῶτιϲ ist in erster Linie im Norden Griechenlands (Thrakien, Thasos) und in Kleinasien bezeugt; vgl. LGPN IV 293; Va 384. Austins Ergänzung κιθαρωιδὸϲ am Versende ist angesichts von νόμον Βο̣ ιώτιον in V. 3 zwar spekulativ, doch inhaltlich plausibel. Alternative Vorschläge existieren bislang nicht (s. aber u. Goldhill). Zu der Frage, ob eine weibliche Kitharödin in hellenistischer Zeit denkbar sei, vgl. Lightfoot (2002, 212): „There is no dearth of women in the musical profession with the highest status of all, that of the kitharode.“ Goldhill (2005, 285) hält es für möglich, dass am Ende von V. 1 eine Herkunftsangabe ausgefallen ist (vgl. Komm. zu V. 2 u. Interpret.). V. 2 μητ]ρ̣όθε: Die Erstherausgeber begründen Austins Ergänzung mit dem Hinweis darauf, dass die Erwähnung der Mutter zu dem der Ergänzung von κιθαρωιδὸϲ zugrunde liegenden Hetärenkontext passen würde. Goldhill (2005, 285) schlägt stattdessen – korrespondierend mit der Annahme einer Herkunftsangabe am Ende von V. 1 – πατρόθε vor. — ουμετεβη: Die Erstherausgeber haben den überlieferten Text zu οὐκέτ’ ἔβη geändert (vgl. auch Lapini 2007, 257). Gronewald (2007, 33) hat jedoch mit Verweis auf Opp. hal. 4.418 (μεταβαινέμεν ἄγρην) die Überlieferung zu Recht verteidigt: „μεταβαίνω […] hat dieselbe Bedeutung wie μετέρχομαι, welches auch in der Prosa ganz geläufig ist […]. Dagegen bedeutet es eine gewisse Härte, βαίνω mit dem Richtungsakkusativ zu verbinden – außer bei Ortsangaben […] –, welche durch die Glätte eines οὐκέτι nicht kompensiert wird.“ Am Versende ist θα[λίαϲ (ed. pr.) der Ergänzung von Cuypers (θα[λάμουϲ) vorzuziehen. V. 3 ….]αϲα: Dass hier ein auf Protis bezogenes Part. Aor. gestanden hat, erscheint als evident. Die Erstherausgeber haben, passend zum folgenden Objekt νόμον Β̣οιώτιον, das verbum canendi ἠχήϲ]αϲα ergänzt; alternative Vorschläge existieren nicht; νόμοϲ als Objekt zu ἠχέω ist nirgendwo sonst bezeugt. Goldhill (2005, 285) vertritt die Auffassung, dass „[t]he participle at the beginning of line 3 need not imply performance at all, but rather that the girls’ choruses in which young Protis, as a proper girl, participated were accompanied by the Boeotian nomos“, ohne jedoch einen konkreten Ergänzungsvorschlag zu bieten. — νόμον Β̣οιώτιον: Das Substantiv νόμοϲ ist hier in der musikterminologischen Spezialbedeutung ‚Melodie‘, ‚Weise‘ zu verstehen (vgl. West 1992, 214 –217). Innerhalb der musikalischen Nomenklatur des Griechischen ist νόμοϲ ein vergleichsweise unspezifischer terminus technicus mit der Bedeutung „a set of notes or intervals performed in certain sequences in a particular manner“, der aber in einem engeren Sinne auch für „a musical idiom with a definite mode and rhythm“ stehen kann (Fleming 1997, 222). Der „böotische Nomos“ ist gemäß Soph. fr. 966 Radt durch einen ruhigen Anfang, der sich nach und nach bis ins Ekstatische steigert, charakterisiert (vgl. ed. pr. 181 [mit Stellen- und Literaturverweisen]; Goldhill 2005, 273–274; Angiò 2009, 18–19). V. 3 f. ἐνιαυτ̣[ῶν / πέντ]ε … δεκά̣[δαϲ: Die Kollokation findet sich poetisch auch bei Opp. hal. 2.686 πολλαῖϲ ἐν δεκάδεϲϲιν ἑλιϲϲομένων ἐνιαυτῶν; vgl. auch den Komm. zu 59.2. Der zweite Teil des

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Epitymbia 58

Epigramms bedient den Topos der kinderreichen, sich für Gatten und Nachwuchs aufopfernden, selbstlosen Ehefrau, der χρηϲτὴ γυνή, der auf Grabinschriften weit verbreitet ist (vgl. Pircher 1979, 39– 40).19 Die Erstherausgeber vergleichen 58 mit GV 666, einer Grabinschrift aus dem ersten oder zweiten nachchristlichen Jahrhundert, die eine Frau kommemoriert, die im Alter von dreizehn Jahren geheiratet hatte (das in der griechischen Antike übliche Heiratsalter für Frauen; vgl. Wiesehöfer 1998, 256) und ebenfalls nach fünfzig Ehejahren gestorben ist. Das Konzept der χρηϲτὴ γύνη bestimmt auch das folgende Epigramm. — φιληθείϲαϲ: Lapini (2007, 258) nimmt an der passiven Diathese des Verbs Anstoß und konjiziert φιληδήϲαϲ’ (φιληδέω, ‚sich an etwas erfreuen‘). Die überlieferte Enallage ist jedoch durchaus verständlich: Die Frau war mit ihrem Ehemann „fünf geliebte Jahrzehnte lang“ zusammen – will sagen: Sie war fünfzig Jahre mit ihm zusammen und wurde während dieser Zeit von ihm immer geliebt. V. 5 ….]ωϲ: Die Ergänzung ἠϲυχίωϲ passt gut zum Topos der χρηϲτὴ γυνή und ihrem glücklich-friedvollen Leben. — μετ’ ἀνδράϲιν η[̣ : Die Ergänzung von ed. pr. und ed.min. ἡ[λικιώταιϲ ist von Garulli (2004b, 34) verteidigt worden (vgl. auch Lapini 2007, 257). Problematisch ist allerdings, dass damit das geschlechtsunspezifische τέκνα als ‚Töchter‘ verstanden werden muss, wofür der Text keinen Anhaltspunkt bietet; außerdem ist nicht einsichtig, weshalb die Gleichaltrigkeit innerhalb der Ehe, die in der Antike in der Regel nicht gegeben war, hier betont werden sollte. Gronewald 2004, 51 schlägt als Alternative ἠ̣[δὲ γυναιξὶν vor. Die Junktur ἀνδράϲιν ἠδὲ γυναιξίν findet sich einmal bei Homer (Od. 19.408) und in der Folge dann mehrfach (vgl. z. B. Mimn. fr. 1.5 West; Emp. fr. 112.14 Kannicht; Greg. Naz. carmina quae spectant ad alios p. 1462.10 und p. 1545.3 [hier am Versende]; Orph. Arg. 1324). Zu μετά mit Dativ vgl. in der Sammlung des Poseidipp auch 74.9: θήλεια μετ᾿ ἄρϲεϲιν. V. 5 f. Der Schlussvers nimmt den verbreiteten Topos der Unterweltsfahrt auf.20 Der Ausdruck ἐπ᾿ εὐϲεβέων findet sich ein weiteres Mal in 60.6, ferner ἐϲ ἐυϲεβέων in 43.1; vgl. auch Kallim. epigr. 12 ἐν εὐϲεβέων oder Plat. Ax. 371c: ὁ τῶν εὐϲεβῶν χῶροϲ. Aus stilistischer Sicht ist das dreifache ευ- auffällig. Das Motiv, dass der/die Verstorbene sterben durfte, nachdem er/ sie seine/ihre Kinder (und Kindeskinder) hat heranwachsen und groß werden sehen, findet sich in den Epitymbia (wie auch sonst in der Grabepigraphik) mehrfach; vgl. 43.5 f., 45.5 f., 47.1 f., 59.1 f., 61.5 f. Poseidipp verwendet die in Grabepigrammen verbreitete, variable Formel τέκνα/παῖδαϲ (ἐπ-)ιδεῖν bzw. τέκνων/παίδων [u. Bezugswort] (ἐπ-)ιδεῖν (zu dieser Formel vgl. ausführlich Garulli 2004b, Anm. 19 für Belege außerhalb von Poseidipps Sammlung). Die ed. pr. weist zudem, als Parallele für das Motiv des Elternstolzes auf die erwachsenen Kinder, auf 25.4 (ἡβηταῖϲ ἤδη παιϲὶ μέγα φρονέων) hin. Zu dem Gedanken, dass nur ein kinderreiches Menschenleben ein wirklich erfülltes Leben sei – und dies insbesondere dann, wenn die eigenen Kinder wiederum selber Kinder haben – vgl. die berühmte herodoteische Anekdote, Tellos sei vor allem deswegen der glücklichste Mensch auf Erden gewesen, weil er „schöne und tüchtige Kinder hatte und diese alle selbst auch wieder Kinder hatten und alle am Leben blieben“ (Hdt. 1.30.4).

19 20

Der Begriff der χρηϲτὴ γυνή ist tel quel auf entsprechenden Grabinschriften belegt; vgl. z. B. CEG 530.1: χρηϲτὴ γυνὴ ἐνθάδε κεῖται. Vgl. auch Men. sent. 1.634: χρηϲτὴ γυνὴ κτῆμ’ ἐϲτὶν ἀνδρὶ ϲώφρονι. Zur griechischen Jenseitsmythologie im Allgemeinen vgl. Burkert 2011, 298–304.

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Rekonstruktionsvorschlag ὡϲ ἐ]πὶ νύμφιον ἦλθε λέχοϲ Πρῶτιϲ [κιθαρωιδὸϲ μητ]ρόθε, παρθενίουϲ οὐ μετέβη θα[λίαϲ ἠχήϲ]αϲα νόμον Βοιώτιον, ἀλλ’ ἐνιαυτ[ῶν πέντ]ε φιληθείϲαϲ ἀνδρὶ ϲυνῆν δεκά[δαϲ ἡϲυχί]ωϲ καὶ τέκνα μετ’ ἀνδράϲιν ἠ̣[δὲ γυναιξὶν ε]ὔ[πο]ρ’ ἰδοῦϲ’ εὔπλουϲ ὤιχετ’ ἐπ’ εὐϲ[εβέων. Nachdem Protis, eine Kitharaspielerin wie die Mutter, zum Brautbett gegangen war, nahm sie nicht mehr an den Festen der jungen Mädchen teil, wo sie zuvor die böotische Weise hatte ertönen lassen, sondern lebte fünf geliebte Jahrzehnte lang zusammen mit ihrem Mann ein ruhiges Leben, und nachdem sie die Kinder mitsamt ihren Männern und Frauen gut versorgt gesehen hatte, fuhr sie davon mit gutem Wind zum Land der Seligen. Das vorliegende Gedicht gehört zum verbreiteten Typus der erzählenden Grabepigramme.21 Es kommemoriert eine Frau namens Protis, die dem in Grabepigrammen oft gepriesenen Ideal einer χρηϲτὴ γυνή zu entsprechen scheint, d. h. einer Frau, die in ihrer Lebensaufgabe als treue Ehegattin und Mutter (und Großmutter) aufgeht. So jedenfalls beschreiben sie die letzten drei Verse: sie lebte mit ihrem Mann fünfzig Jahre lang in Eintracht zusammen, brachte Kinder zur Welt, lebte ansonsten ein friedliches Leben und trat, nachdem ihre Kinder alle eine ‚gute Partie‘ gemacht hatten, ihre letzte Reise an. Der Anfang des Epigramms ist wegen der Lücken im überlieferten Text weniger klar; Austins Ergänzung κιθαρωιδὸϲ ist nicht zwingend. Sollte Goldhills Idee zutreffen, dass am Ende des ersten Verses eine Herkunftsangabe verloren gegangen ist, haben wir es vielleicht nur mit dem traditionellen Gedanken zu tun, dass Protis, bevor sie glückliche Ehefrau und Mutter wurde, als Parthenos auf den Festen der jungen Mädchen im Chor gesungen und getanzt hat. Wenn die Ergänzung κιθαρωιδὸϲ am Ende des ersten Verses das Richtige trifft, könnte gemeint sein, dass Protis auch als Ehefrau weiter als Kitharödin aufgetreten ist. In dieser Deutung, die durch die Wortstellung nahegelegt wird, hätte, wie Goldhill (2005, 273) feststellt, das Epigramm aufschlussreiche soziokulturelle Implikationen: „If the supplement of Austin is right, what we see here is a remarkable insight into a gendered world of music-making, where mothers and daughters, either hetairas or of citizen birth, pride themselves in a tradition of serious kithara playing and singing, and publicly record such pride.“ Möglicherweise arbeitet Poseidipp aber auch nur mit der Spannung zwischen dem Leben als musizierender Hetäre, das Protis vor der Hochzeit geführt hat, und ihrem späterem Leben als Ehefrau und Mutter. Durch das ἀλλά in V. 3 ist der Gegensatz auf jeden Fall stark betont.

21

Vgl. dazu Puelma/Angiò 2005a, 24; zur Idee des Epigramms als Form der διήγηϲιϲ vgl. Bowie 2010.

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Epitymbia 59

59 Die Tote, an die in diesem Grabepigramm erinnert wird, ist eine im Alter von achtzig Jahren verstorbene Frau namens Menestrate, die für ihr hohes Alter und für ihre Kinder und Kindeskinder, die ihr die Grabstätte errichtet haben, glücklich gepriesen wird. IX

29 30 31 32 33 34

ὄλ̣βια γηράϲκουϲα Μενεϲτράτη [ ὀγδοάτην ἐτέων εἶδεϲ ὅλην̣ [δεκάδα, καὶ δύο ϲοὶ γενεαὶ παίδων ἐπιτή̣[δεον ὤρθουν ϲηκόν· ἔχειϲ ὁϲίαϲ ἐκ μακάρων χάρι[ταϲ· γρηῢ φίλη, μετάδοϲ λιπαροῦ μεγα[ γήρωϲ τοῖϲ ἱερὸν ϲῆμα παρ̣ε̣ρ̣[χομένοιϲ.

1 2 3 4 5 6

29 [ἐν ϲυνερίθοιϲ vel vocativum ut Ἀδραμυτηνέ Austin 2001a/b  31 ϲοι Ferrari per litt.  32 ἔχουϲ’ Ferrari per litt.  εγμακαρων P  33 μεγα[λοφρονέουϲα Austin 2001a, ed. min. : μέγα [πένθοϲ ἔχουϲιν Gronewald 2003 (v. Angiò 2003d: 37) : μέγα [δῶρον ἅπαϲι Magnelli 2004 : μέγα [τέρμ’ ἐφικοῦϲα vel μέγα [λαῖτμα περᾶϲα vel μέγα[ν ὄλβον ἰδοῦϲα De Stefani ap. Magnelli 2004 : μέγα [τ’ ὀλβίου αἰεί Ferrari per litt.

Glücklich alternd Menestrate […] die achte (Dekade) an ‹Lebens›jahren hast du ganz gesehen und zwei Generationen von Kindern haben dir ein angemessenes Grab (errichtet); ‹erhalten› hast du fromme Belohnungen von den Glückseligen Liebe Alte, gib Anteil am glänzenden groß […] Alter den am heiligen Grab Vorüberkommenden. V. 1 ὄλ̣βια γηράϲκουϲα: Zu der adverbialen Verwendung des Adjektivs im Neutr. Sg. oder Pl. vgl. Gow, Theokr. eid. 1.15 u. 41; die Kollokation als solche ist singulär. — Μενεϲτράτη[: Der Frauenname Μενεϲτράτη ist zahlreich für den gesamten griechischen Raum bezeugt; vgl. LGPN II 307; IIIb 279; IV 230; Va 298. Der Name ist hier als Vokativ zu verstehen, da Menestrate direkt angesprochen wird (vgl. auch 105.3). Am Versende könnte eine Herkunftsangabe, ein Patronymikon o.ä. gestanden haben; Austin (ed. pr.) zieht ferner ἐν ϲυνερίθοιϲ („with your fellow-workers“) in Erwägung. V. 2 ὀγδοάτην: Das Alter als letzter Lebensabschnitt des Menschen beginnt im griechischen Denken mit dem sechzigsten Lebensjahr (vgl. Binder/Saiko 1999, 1208; ein Beispiel für einen in diesem Alter verstorbenen Mann findet sich gleich im folgenden Epigramm 60.5). Literarischer locus classicus ist Solons Elegie der menschlichen Altersstufen (fr. 27 West), nach der ein Menschenleben in der Regel siebzig Jahre dauert. Die emphatische Glückseligpreisung zu Gedichtbeginn beruht also auch auf dem außergewöhnlich hohen Alter, in dem Menestrate gestorben ist. Allerdings finden sich allein in Poseidipps Epitymbia drei Epigramme, die den Tod eines achtzigjährigen Menschen kommemorieren (45.3, 47.3 u. 100.3), und die ed. pr. nennt als weitere Beispiele GV 1153.9 und GV 1610.10. Bei den in 45 und 47 Genannten handelt es sich ebenfalls um Frauen; in beiden Fällen wird auch dort das hohe Alter mit dem Topos der χρηϲτὴ γυνή verknüpft, die zahlreiche Kinder und Kindeskinder hervorgebracht hat (zu diesem Topos vgl. auch den Komm. zu V. 3 sowie ausführlich zu 58.4). — ἐτέων […]

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[δεκάδα: Die allgemein akzeptierte Ergänzung kann aufgrund der analogen Formulierung im vorhergehenden Gedicht 58.3– 4 ἐνιαυτ̣[ῶν / […] δεκά̣[δαϲ als gesichert gelten; zu der Kollokation vgl. auch Kallim. fr. 489 Pfeiffer: τῶν ἐτέων ἡ δεκὰϲ οὐκ ὀλίγη und Greg. Naz. carmina quae spectant ad alios p. 1474.11: πολλὰϲ εἰϲ ἐτέων δεκάδαϲ. V. 3 f. δύο […] γενεαὶ παίδων: Der Kinderreichtum macht die hochbetagt verstorbene Menestrate zu einer χρηϲτὴ γυνή, einer sich für Gatten und Kinder aufopfernden, treuen Ehefrau, deren Lebensaufgabe darin besteht, gesunden Kindern das Leben zu schenken, die im Erwachsenenalter ihrerseits wieder mit Kindern gesegnet sein werden. Ein ähnlicher Gedanke findet sich bereits im vorhergehenden Gedicht für Protis, die mit ihrem Gatten fünfzig Jahre lang verheiratet war und ihre Kinder gut situiert mit deren Männern und Frauen sehen durfte, ehe sie starb (zum Frauenbild der χρηϲτὴ γυνή und zum Topos des erfüllten Lebens vgl. die Komm. zu 58.4 u. 58.5 f.). — ἐπιτή̣[δεον ὤρθουν /ϲηκόν: Für ὀρθόω als Terminus zur Errichtung eines Grabmals verweisen die Erstherausgeber auf AP 7.198.7 f.: τοῦτο δ᾿ ἐφ᾿ ἡμῖν / τὠλίγον ὤρθωϲεν ϲᾶμα πολυϲτροφίηϲ („dieses kleine Grabmal hat er für uns errichtet als Denkmal unseres bunten Gesangs“) und auf GV 221.2–3: τοῦ πολυκώθωνοϲ τοῦτ᾿ ἠρίον Ἀρκαδίωνοϲ / ἄϲτεοϲ ὤρθωϲαν τᾶιδε παρ᾿ ἀτραπιτῶι („diesen Erdhügel haben sie für Arkadion, den Mann der vielen Krüge, am Rand einer Gasse der Stadt errichtet“). — ϲηκόϲ: Das Wort heißt zunächst einmal ‚Einzäunung‘, ‚Stall‘; es kann aber auch ‚Grab‘, ‚Grabstätte‘, ‚heiliger Bezirk‘ bedeuten. Die Qualifizierung der Grabstätte als ‚angemessen‘, ‚verdient‘ betont ganz allgemein die Verdienste der Verstobenen, zu denen auch die Erfüllung ihrer Pflichten als Mutter und Großmutter gehören. — ἔχειϲ ὁϲίαϲ ἐκ μακάρων χάρι[ταϲ: Der Papyrus bietet εγμακαρων, was unschwer als Assimilation des stimmlosen Verschlusslauts an die nachfolgende Liquida zu erklären ist (vgl. ed. pr. 182). Die Erstherausgeber verstehen den Vers in dem Sinne, dass die Verstorbene als tugendhafte χρηϲτὴ γυνή den Lohn (χάριϲ) der Götter bereits zu Lebzeiten erhalten hat. χάριϲ findet sich häufig in Grabinschriften zur Bezeichnung des Lohns, den der bzw. die Verstorbene für seine/ihre Leistungen im Leben bekommt. In den Epitymbia finden sich die χάριϲ-Idee und das Wort selber allerdings nur hier. ὅϲιοϲ kann dann als heilig (weil von den Göttern verliehen) oder als fromm (als Belohnung für die Frömmigkeit) verstanden werden. V. 5 f. μεγα[: Die Ergänzung des Versschlusses ist schwierig. Der Ergänzungsvorschlag der ed. pr. ist insofern problematisch, als μεγαλοφρονεῖν (wie μέγα φρονεῖν) sowohl positiv (‚hochgesinnt sein‘) als auch negativ (‚hochmütig sein‘) konnotiert sein kann; in diesem Kontext, in dem die Verstorbene ausschließlich gelobt wird, erscheint eine derartige Ambivalenz als unpassend. Die übrigen Ergänzungsvorschläge müssen allesamt als spekulativ bezeichnet werden; am ehesten zu überzeugen vermag – da inhaltlich passend und sprachlich unprätentiös – Gronewalds (2003, 66) Vorschlag μέγα πένθοϲ ἔχουϲιν, der sich auf GV 1243.3 κλαύϲατε τὴν δύϲτηνον, ἐφ’ ἧι μέγα πέν[θοϲ] ἔχουϲιν als Parallele stützen kann. — λιπαροῦ […] γήρωϲ: λιπαρόϲ ‚fett‘, ‚wohlgenährt‘, ‚glänzend (von Öl)‘ kann im übertragenen Sinne auch ‚reich‘, ‚gesegnet‘ heißen. Die Vorstellung eines ‚glänzenden Alters‘ als Vorstufe zu einem linden, schmerzfreien Tod ist bereits homerisch; vgl. Od. 11.134 136 θάνατοϲ […] / ἀβληχρὸϲ […], ὅϲ κέ ϲε πέφνῃ / γήρᾳ ὑπὸ λιπαρῷ ἀρημένον („ein Tod, ein gelinder, der dich tötet, in gesegnetem Alter entkräftet“). Möglicherweise soll ebendiese Stelle – es handelt sich um Teiresias’ Todesprophezeiung an Odysseus – hier anklingen; das Glück, das Menestrate beschieden war – nämlich alt zu werden, bis ins hohe Alter gesund zu bleiben und dann einen schönen Tod zu haben –, soll auf die Vorbeikommenden abfärben. — γήρωϲ: Die Initialstellung des Wortes korrespondiert mit

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Epitymbia 59

der Initialstellung des etymologisch verwandten γρηῢ im vorhergehenden Vers und schlägt gleichzeitig eine Brücke zum Partizip γηράϲκουϲα im ersten Vers. Dadurch wird die Altersthematik zum Gedichtschluss hin noch einmal pointiert hervorgehoben. — ἱερὸν ϲῆμα: Das Grab ist ‚heilig‘, weil es unter göttlichem Schutz steht (vgl. LSJ A.II.3). Die Idee vom „göttlich protegierten Grab“ nimmt sowohl die Bezeichnung der Grabstätte als „angemessen/verdient“ (V. 3) wieder auf als auch die Vorstellung von den „frommen Belohnungen“ vonseiten der Götter (V. 4). Stilistisch wird die Wendung dadurch hervorgehoben, dass sie die Mittelzäsur des Pentameters flankiert und zugleich als Objekt zu τοῖϲ […] παρ̣ε̣ρ̣[χομένοιϲ von diesem Ausdruck eingeschlossen wird. Zur Vorstellung, dass der Verstorbene selber ἱερόϲ sei, also unter göttlicher Protektion stehe, verweist die ed. pr. auf AP 7.518.2 und 7.658.4. — παρε̣ ρ̣ [̣ χομένοιϲ: Die Nennung oder Anrede des Passanten und somit die Involvierung des Rezipienten bzw. Lesers gehört zu den typischen Konventionen der Gattung Epigramm (vgl. dazu Gutzwiller 1998, 203–204; Tueller 2010). Locus classicus ist das Thermopylenepigramm des Simonides (FGE, Sim. 22b). In der Sammlung des Poseidipp findet sich z. B. die Anrede ὁδοιπόρε in 52.3 oder der stereotype Vokativ ξεῖνε in 107.3 und 142.12 (vgl. Tueller 2010, 51–54). Rekonstruktionsvorschlag ὄλβια γηράϲκουϲα Μενεϲτράτη [ἐν ϲυνερίθοιϲ ὀγδοάτην ἐτέων εἶδεϲ ὅλην [δεκάδα, καὶ δύο ϲοὶ γενεαὶ παίδων ἐπιτή[δεον ὤρθουν ϲηκόν· ἔχειϲ ὁϲίαϲ ἐκ μακάρων χάρι[ταϲ· γρηῢ φίλη, μετάδοϲ λιπαροῦ μέγα[ πένθοϲ ἔχουϲιν γήρωϲ τοῖϲ ἱερὸν ϲῆμα παρερ̣[χομένοιϲ. Menestrate, glücklich bist du alt geworden und im Kreis der Altersgenossinnen hast du ein ganzes achtes Jahrzehnt an Jahren gesehen, und zwei Generationen von Kindern haben dir eine angemessene Grabstätte errichtet; erhalten hast du heilige Belohnungen von den Glückseligen. Liebe Alte! Gib denen, die in großer Trauer an deinem göttlich protegierten Grab vorüberkommen, Anteil an deinem glänzenden Alter! Das vorliegende Gedicht gehört zu dem in den Epitymbia etwas weniger verbreiteten Typus von Grabepigrammen, in denen der Sprecher den Toten direkt anspricht (vgl. dazu Puelma/ Angiò 2005a, 24 und Vestrheim 2010, 64 –71). Es ist außerdem das letzte Gedicht innerhalb der Epitymbia, welches eine Frau kommemoriert. In seiner Thematik ist es dem vorangegangenen Gedicht 58 eng verwandt, indem es die Verstorbene, eine Frau namens Menestrate, in den ehrenvollen Rang einer χρηϲτὴ γυνή erhebt, der es vergönnt war, Kinder und Kindeskinder zu haben und – als Höhepunkt eines erfüllten (Frauen-)Lebens – von Kindern und Kindeskindern bestattet zu werden. Im Fall der Menestrate kommt noch ihr ungewöhnlich hohes Alter von achtzig Jahren hinzu. So ist sie in doppelter Hinsicht glücklich zu preisen – ein Glück, das als Geschenk der ihr wohlgesonnenen Götter und Belohnung für ihr musterhaftes Leben verstanden wird (V. 4). In diesem Gesamtkontext ist denn auch das Schlussdistichon zu begreifen: Nachdem der Sprecher in den vorangegangenen beiden Distichen die Frau zwar in der 2. Ps. angesprochen, aber dann nur aus der Perspektive des Betrachters von ihrem Leben erzählt hat, richtet er hier am Schluss eine direkte Bitte an sie: Sie möge von ihrem Glück den Vorübergehenden ein Stück abgeben, ihr Glück möge gewissermaßen über ihren Tod hinaus

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auf die Besucher ihres Grabs abfärben. Auf diese Weise wird zum Gedichtschluss auch der Rezipient in die Kommunikation zwischen dem Sprecher und der angesprochenen Toten involviert, denn er ist ja in dem Augenblick, in dem er das Gedicht liest, einer der Besucher. 60 Das Epigramm preist einen Sechzigjährigen (?), der, als er sterben musste, seine Kinder bat, nicht um ihn zu weinen, weil ihm ein glücklicher Tod im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte beschieden war. IX

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τοῦτ’ ἐπαραϲάμενοϲ Μνηϲίϲ̣τ̣ρ̣α̣τ̣[οϲ τὴν ἀπὸ πυρκαϊῆϲ εἰϲ Ἀΐδεω κατέβη· ‚μὴ κλαύϲ̣ητέ με, τέκνα, φίλην δ’ ἐπὶ πατρὶ κονίην ψ̣[υχρ]ῶ̣ι παππώιωϲ χώϲατ’ ἐπ’ ἐ̣ϲχατιῆϲ· ἑξηκον]τ̣αέτηϲ γὰρ ἀπ’ ἠέροϲ οὐ βαρύγηρωϲ ἔρχομ’ ἐπ’ ε]ὐ̣ϲεβέων ἀλλ’ ἔτι κοῦφοϲ ἀνήρ.‘

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35 Μνηϲίϲ̣τ̣ρ̣α̣τ̣[οϲ ἄρτι κέλευθον ed. pr., min. : Μνηϲίϲ̣τ̣ρ̣α̣τ̣[οϲ ἰθὺϲ ὁδίτηϲ (et 36 τὴν sc. κέλευθον) De Stefani 2003 : [οϲ ἦλθε κέλευθον Bär 2013 : [οϲ τὴν ὁδὸν ἄφνω Angiò 2014  38 παπποιωϲ P : παππώιων Lapini 2002  ἐπ ἐϲχατιῆι ? Austin 2001a

Nachdem er so gebetet hatte, Mnesistratos […] vom Scheiterhaufen ins Haus des Hades hinab: „Beweint mich nicht, Kinder, sondern streut endlich willkommenen Staub auf den ‹schon› kalten Vater nach großväterlicher Sitte. Sechzigjährig nämlich gehe ich fort von der Luft, nicht vom Alter beschwert, zum Land der Glückseligen, sondern ein noch rüstiger Mann. V. 1 ἐπαραϲάμενοϲ: Eine Änderung der attischen Form ἐπαραϲάμενοϲ zu ἐπαρηϲάμενοϲ, die man neben den ionischen Formen in den folgenden Versen erwarten könnte, ist nicht erforderlich, da die Sprache Poseidipps von Dialektmischungen geprägt ist, die auch gelegentliche Attizismen zulässt (vgl. ed. pr., 21–22; Battezzato 2003, 42; Sens 2004 u. 2005, Janko 2005). — Μνηϲίϲ̣τ̣ρ̣α̣τ̣[οϲ …: Der Männername Μνηϲίϲτρατοϲ ist im gesamten griechischen Raum gut bezeugt; vgl. LGPN II 318 (28 × Athen); IIIa 304; IV 238; Va 319. Zur Ergänzung der Lücke am Versende schlagen die Erstherausgeber ἄρτι κέλευθον (und – als Alternativen für ἄρτι – ὧδε und adverbiales ἡδύ) vor; in ähnlicher Weise auch Angiò 2014, 16 τὴν ὁδὸν ἄφνω. Diese Lösungsvorschläge erscheinen jedoch als syntaktisch problematisch, denn es fehlt die Klammerstellung zwischen Artikel und Bezugswort, wie sie die Parallelstelle AP 7.545.1 zeigt: τὴν ἀπὸ πυρκαϊῆϲ ἐνδέξιά φαϲι κέλευθον. De Stefani (2003, 76) schlägt vor, die Lücke mit einer Apposition zu Menestratos zu füllen (ἰθὺϲ ὁδίτηϲ – der schnelle Wanderer) und das ‚Weg‘-Wort nur gedanklich zu ergänzen, bietet aber keine Parallele für die dadurch im folgenden Vers entstehende Ellipse. Zu überlegen wäre ferner, ob man τὴν in V. 2 nicht als Relativpronomen auffassen und am Ende von V. 1 ein Prädikat ergänzen könnte, z. B. ἦλθε κέλευθον (zur Kollokation vgl. Od. 9.261–262 οἴκαδε ἱέμενοι, ἄλλην ὁδὸν ἄλλα κέλευθα / ἤλθομεν u. Aischyl.(?) Prom. 962 κέλευθον ἥνπερ ἦλθεϲ ἐγκόνει πάλιν; vgl. dazu ausführlich Bär 2013).

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Epitymbia 60

V. 2 τὴν ἀπὸ πυρκαϊῆϲ εἰϲ Ἀΐδεω κατέβη: Die geläufige epische Phrase εἰϲ Ἀΐδεω ‚ins ‹Haus› des Hades‘ findet sich bei Poseidipp auch 33.8; zu den Bestattungsritualen im Allgemeinen vgl. Kurtz/Boardman, Thanatos 1985; Burkert 2011, 291–297. V. 3 μὴ κλαύϲ̣ητέ με: Die Aufforderung des Toten an die Lebenden, nicht um ihn zu weinen, ist ungewöhnlich; normalerweise wird der Passant zum Weinen und Klagen ausdrücklich aufgefordert (vgl. z. B. CEG 27,28,34,51,68; dazu Lattimore 1962, 234 –235; Vestrheim 2010, 72). Erstaunlich ist die Bitte umso mehr, als der Tote im folgenden Distichon betont, dass er angesichts seines guten Gesundheitszustands noch nicht hätte sterben müssen. Allerdings findet sich das ‚Klageverbot‘ auch sonst, und Poseidipp verwendet das Motiv nicht nur in seiner Sphragis (118.24 = SH 705.24: μηδέ τιϲ οὖν χεύαι δάκρυον), sondern auch gleich im folgenden Epigramm noch einmal (vgl. 61.3: τὸν ἀδάκρυτον βλέψον λίθον). Dort ist die Bitte, nicht um den Toten zu weinen, gewissermaßen schon eingelöst, weil es sich um einen Glückseligen handelt, der nicht beweint werden muss (vgl. Komm. u. Interpret. zu 61). Zur Aufforderung, keine Tränen zu vergießen; vgl. auch Poseidipps Altersgedicht μηδέ τιϲ οὖν χεύαι δάκρυον (118.24 = SH 705.24). V. 4 παππώιωϲ: Der Papyrus bietet παπποιωϲ; der Fehler (-ο- statt -ω- und umgekehrt) findet sich häufig. Das Adverb παππῴωϲ (‚großväterlich‘, ‚nach Art der Großväter‘) ist sonst nirgends belegt. — ἐπ’ ἐ̣ϲχατιῆϲ: Der Ausdruck ist hier zeitlich zu verstehen (vgl. LSJ A.I.3: „of time, ἀν᾿ ἐϲχατιάν at last“). V. 5 ἑξηκον]τ̣αέτηϲ: Die Vorstellung, dass das Alter, als letzter Lebensabschnitt des Menschen, mit sechzig beginnt, ist im griechischen Denken topisch (vgl. den Komm. zu 59.3). Anders als heute war ein Sechzigjähriger in der Antike in der Regel körperlich verbraucht (vgl. Binder/ Saiko 1999, 1208; Wiesehöfer 1999). Auf diesem Hintergrund ist auch die folgende Aussage des Verstorbenen zu verstehen, er sei noch nicht βαρύγηρωϲ, sondern noch ein κοῦφοϲ ἀνήρ gewesen. V. 5 f. ἔρχομ’ ἐπ’ ε]ὐ̣ϲεβέων: Die Ergänzung der ed. pr. kann sich auf 58.6 stützen (vgl. ferner ἐϲ ἐυϲεβέων in 43.1 sowie den Komm. zu 58.6). Zur Elision eines auslautenden Diphthongs bei Poseidipp vgl. 52.4 ἐνδέχετ᾿ (dazu ed. pr. 173 u. West 1987, 10). Als Alternative zu ἔρχομ᾿ erwägt die ed. pr. ἦλθον. — οὐ βαρύγηρωϲ / […] ἀλλ’ ἔτι κοῦφοϲ ἀνήρ: Gronewald (2003, 66) verweist auf „[ä]hnlich rüstige Senioren“ an zwei Stellen bei Kallimachos, ait. fr. 24.5 Pfeiffer ὠμογέρων ἔτι πουλὺϲ ἀνήρ („ein rüstiger Greis, ein stattlicher Mann noch“) sowie epigr. 61 Pfeiffer Αἴνιε, καὶ ϲὺ γὰρ ὧδε, Μενέκρατεϲ, οὐκ ἐπὶ πουλύ / ἦϲθα („Mann aus Ainos, Menekrates, du warst doch noch gar nicht lange hier“)22. Dass der Tote betont, dass er zu seinem Todeszeitpunkt körperlich noch fit war, aber nicht erklärt, weshalb bzw. woran er gestorben ist, wo es doch offenbar keinen Grund für sein Ableben gab, eröffnet eine Leerstelle, die den Leser zur Spekulation auffordert, zumal das hapax legomenon βαρύγηρωϲ und die

22

Übers. Asper 2004, 86; 480.

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ebenfalls ungewöhnliche Junktur κοῦφοϲ ἀνήρ die Aussage auch stilistisch pointieren. Die Erstherausgeber vergleichen den Neologismus βαρύγηρωϲ mit παλαίγηρωϲ in 47.4 (ebenfalls ein hapax) und βαθύγηρωϲ in AP 6.247.7 (61.1 bietet das geläufige εὔγηρωϲ) und verweisen für das rüstige Alter, das sich gerade in der Beweglichkeit und Kraft der Beine (κοῦφοϲ) zeigt, auf die sogenannte Sphragis Poseidipps (SH 705.25 f.). Rekonstruktionsvorschlag τοῦτ’ ἐπαραϲάμενοϲ Μνηϲίτρατ[οϲ ἦλθε κέλευθον, τὴν ἀπὸ πυρκαϊῆϲ εἰϲ Ἀΐδεω κατέβη· ‚μὴ κλαύϲητέ με, τέκνα, φίλην δ’ ἐπὶ πατρὶ κονίην ψ̣[υχρ]ῶι παππώιωϲ χώϲατ’ ἐπ’ ἐϲχατιῆϲ· ἑξηκον]ταέτηϲ γὰρ ἀπ’ ἠέροϲ οὐ βαρύγηρωϲ ἔρχομ’ ἐπ’ ε]ὐϲεβέων ἀλλ’ ἔτι κοῦφοϲ ἀνήρ.‘ Nachdem er so gebetet hatte, beschritt Mnesistratos den Weg, den er vom Scheiterhaufen ins Haus des Hades hinunterging: „Beweint mich nicht, Kinder, sondern streut endlich willkommenen Staub auf den schon kalten Vater nach großväterlicher Sitte. Sechzigjährig nämlich gehe ich fort von der Luft, nicht vom Alter beschwert, zum Land der Glückseligen, sondern ein noch rüstiger Mann. Nach einer Reihe von Gedichten, die den Tod von Frauen kommemorieren, ist dies das erste der beiden Grabepigramme auf einen Mann. Was die Kommunikationssituation anbelangt, so ist 60 insofern ein Sonderfall, als dieses Epigramm als einziges der Epitymbia den Toten als Sprecher in der Ich-Form reden lässt.23 Die meisten Epitymbia sind erzählende Epigramme; in einigen wenigen wird der/die Tote vom Sprecher in der Du-Form angesprochen (53, 56, 59) oder er/sie spricht selber (46, 48), und ein Gedicht (57) stellt eine Mischform zwischen Erzählform und Du-Form dar (vgl. Puelma/Angiò 2005a, 24 zu den verschiedenen Kommunikationssituationen in den Epitymbia). Auch hier in 60 liegt eine Mischform vor: Das erste Distichon führt den Toten in erzählender Form ein, während die beiden folgenden Distichen in die direkte Rede wechseln und den Toten selber sprechen lassen. Inhaltlich sind in diesem Gedicht zwei Auffälligkeiten zu vermerken: Erstens ist die Tatsache erstaunlich, dass der sprechende Tote – ein Mann namens Mnesistratos – seine Kinder auffordert, nicht um ihn zu weinen (μὴ κλαύϲ̣ητέ με, τέκνα), sondern Staub über ihn zu streuen und es damit gut sein zu lassen. Poseidipp verkehrt hier einen Topos in sein Gegenteil, denn in der Regel bitten Verstorbene Passanten, sie zu beklagen und zu beweinen (vgl. auch 61.3 mit Komm.); auffällig ist zweitens, wie stark der Tote betont, dass er trotz seines relativ hohen Alters noch fit und rüstig gewesen sei. Nicht nur sind diese beiden Aussagen für sich genommen eher ungewöhnlich und widersprechen verbreiteter Topik bzw. lebensweltlicher Erfahrung; auch ihre Kombination erscheint als widersprüchlich: Auf der einen Seite würde man von einem Toten, der die an seinem Grab verweilenden Menschen bittet, nicht um ihn zu weinen, eine Erklärung erwarten, weshalb es keinen Grund zur Klage gibt (wie z. B. ein glückliches 23

Zum Vergleich: In Peeks Sammlung griechischer Grabgedichte (GG) spricht der Tote in 21 von insg. 105 Epigrammen; vgl. Vestrheim 2010, 63; in der Nauagika-Sektion findet sich ebenfalls ein einziges Epigramm, in dem der Tote der Sprecher ist (94).

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Epitymbia 61

und erfülltes Leben und/oder ein überdurchschnittlich hohes Alter; vgl. 59 u. 61); sollte der Hinweis des Toten auf seine Rüstigkeit aber suggerieren, dass er allzu früh gestorben sei, würde man eher als ein ‚Klageverbot‘ eine eigene Klage oder aber die Bitte, ihn zu beklagen, erwarten. Da der Text keinerlei Hinweise auf die Todesursache bietet, ist jeder Leser aufgerufen, die Leerstelle zu füllen und sich einen Reim auf die scheinbaren Widersprüche zu machen. Und diese lassen sich tatsächlich auflösen, wenn der Leser die Verse 3–6 als Trostgedicht liest: Bedenkt man, dass der Verstorbene sich in V. 3–6 an seine Kinder wendet, so liegt die Annahme nahe, dass er sie damit trösten will, dass er in rüstigem Alter sterben durfte, also die Mühen und Beschwerden noch höheren Alters, die ihrerseits einen verbreiteten Topos der antiken Dichtung seit der frühgriechischen Lyrik darstellen (dazu s. Brandt 2002), nicht tragen musste. Möglicherweise wird dabei auch die Vorstellung evoziert, dass ein verstorbener Mensch im Jenseits dasjenige Leben weiterführt, welches er im Diesseits geführt hat (vgl. z. B. Od. 11.482– 486: Achill als König in der Unterwelt). So verstanden, würde der Hinweis auf den Tod in rüstigem Alter noch einen zusätzlichen Trost für die Angehörigen bedeuten. 61 Das letzte Epigramm der Sektion spricht den Passanten direkt an und bittet ihn, stehen zu bleiben und sich dem Toten – einem Mann namens Aristippos – und seinem „unbeweinten Grabstein“ zuzuwenden. Aristippos hatte das Glück, von seinen eigenen Kindern bestattet worden zu sein, und durfte darüber hinaus auch noch seine Enkelkinder erleben, weshalb ihm sein Grab eine „leichte Last“ ist. X

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ἴϲχε π̣όδαϲ παρὰ ϲῆμα, τὸν εὔγηρώ τε προϲεῖπον πρέϲβυν Ἀρίϲτιππον – τῆιδε γάρ ἐ̣ϲτ̣ι̣ θ̣αν̣ώ̣ν̣ – καὶ τὸν ἀδάκρυτον βλέψον λίθ̣ον· οὗτοϲ ἐκ̣είνωι τῶι κ̣α̣τὰ γῆϲ ὁ λίθο̣ϲ κοῦφο̣ν ἔπεϲτι βάροϲ· τέκν̣α γὰρ αὐτὸν ἔθαπτε φιλαίτα̣τ̣ον ἀν̣δ̣ρ̣ὶ̣ γ̣έροντι κτῆ̣μ{α̣}, ὁ δὲ θυγατ̣έ̣ρ̣ω̣ν εἶδε καὶ ἄλλ̣ο γένοϲ.

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6 θέροϲ De Stefani 2003

Hemme ‹deinen› Schritt am Grabe, und sprich den glücklich alt gewordenen Greis Aristippos an – denn ‹genau› hier ist er ‹begraben›, der Tote – und schau dir den unbeweinten Stein an! Dieser Stein liegt auf jenem, der unter der Erde ‹weilt›, als ein leichtes Gewicht. Denn seine Kinder haben ihn bestattet – das ist der liebste Besitz für einen alten Mann! –, und er sah, von seinen Töchtern ‹geboren›, sogar eine weitere Generation ‹heran­wachsen›. V. 1 ἴϲχε πό̣ δαϲ […] τε προϲεῖπον: Die Ansprache vonseiten des Grabes, des Toten oder aber einer übergeordneten Erzählerinstanz an den Passanten bzw. die Aufforderung an diesen, beim Grab stehen zu bleiben und die Inschrift zu lesen, ist eine der verbreitetsten Konventionen der Grabepigraphik (vgl. Gutzwiller 1998, 203–204; Tueller 2010); zur Sprechersituation s. Interpret. In den Epitymbia ist das Schlussepigramm das einzige Epigramm dieses Typs; in 59.6

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werden die Vorübergehenden zwar auch genannt, jedoch nicht direkt angesprochen. — πόδαϲ ἴϲχειν: Die Junktur findet sich auch Theokr. eid. 7.54 (vgl. auch βάϲιν ἴϲχειν in AP 7.430.7 und absolutes ἴϲχε in GV 1312.4 5 [= GG 176]); zur Verbindung der Bitte, stehen zu bleiben, mit der Aufforderung zu sprechen, verweist die ed. pr. auf GV 1312.4 5 (= GG 176). — εὔγηρώ: Das Adjektiv zur Bezeichnung rüstigen Alters ist seit hellenistischer Zeit häufig auf Grabinschriften zu finden; vgl. auch das parallel gebildete hapax legomenon βαρύγηρωϲ in 60.5 und den Komm.; über das Adjektiv εὔγηρωϲ tritt 61 mit dem vorangehenden Gedicht in einen intratextuellen Dialog, da auch dort ein Mann kommemoriert wird, der noch rüstig war (οὐ βαρύγηρωϲ „vom Alter ‹noch› nicht beschwert“).24 — προϲεῖπον: Die Form εἶπον ist als Imperativ gut belegt, so etwa Aristoph. Eccl. 255, Plat. Menon 71d, Theokr. eid. 14.11; vgl. Schwyzer I 745.803. Der hier vorliegende Imperativ inkludiert semantisch sowohl die Nuance der Zuwendung als auch die des Ansprechens; für parallele Verwendungen auf Inschriften vgl. ed. pr. V. 2 Ἀρίϲτιππον: Der Männername Ἀρίϲτιπποϲ ist im gesamtem griechischen Sprachraum zahlreich bezeugt; vgl. LGPN I 64; II 53; IIIa 58; IIIb 53; IV 43; Va 63. — τῆιδε γάρ ἐ̣ϲτ̣ι̣ θ̣αν̣ώ̣ν̣: Die parenthetische Begründung präzisiert das παρὰ ϲῆμα in V. 1 und intensiviert die Aufforderung des Sprechers an den Passanten: „Hier – ja, genau hier! – sollst du stehenbleiben!“ V. 3 τὸν ἀδάκρυτον βλέψον λίθ̣ον: Die Aufforderung des Sprechers an den Passanten, sich dem unbeweinten Grab des Toten zuzuwenden, kann zunächst nur so verstanden werden, dass der Tote niemanden hat, der um ihn weint (zu dem verbreiteten Topos, dass Tote, die auf Grabepigrammen direkt zum Passanten sprechen, diesen auffordern, um ihn zu weinen und zu klagen, vgl. den Komm. zu 60.3); zur Korrektur dieses ersten Eindrucks vgl. die Interpret. V. 4 τῶι κ̣α̣τὰ γῆϲ: Zu der möglicherweise leicht kolloquialen Wendung ‚der unter der Erde‘ vergleicht die ed. pr. GV 1330.1 (= Steinepigramme I 03/06/05 M/S) ἰχνεύειϲ, ὦ ξεῖνε, τίϲ εἰμ᾿ ἐγὼ ἡ κατὰ γαίηϲ („du fragst, Fremder, wer ich bin, die ‹hier› unter der Erde ‹ruht›“). — κοῦφον̣ […] βάροϲ: Das Oxymoron zwingt den Leser dazu, sein erstes Verständnis des „unbeweinten Steines“ zu korrigieren (vgl. Interpret.). Dieselbe contradictio in adiecto (allerdings abgemildert dadurch, dass es sich dort nicht um eine Aussage, sondern um einen Wunsch an den Verstorbenen [ein dreijähriges Kind] handelt), findet sich auf GV 231.5: κοῦφον ἔχοιϲ γαίηϲ βάροϲ εὐϲεβίηϲ ἐνὶ χώρῳ (ed. pr. 185). V. 5 f. ἀν̣δ̣ρ̣ὶ̣ γ̣έροντι: Das Allerweltswort γέρων findet sich erstaunlicherweise nur zweimal in Poseidipps Epitymbia: hier (als Adjektiv) und in 63.8 (als Substantiv). Der Versschluss variiert die homerische Formel ἄνδρα γέροντα (Od. 18.53 u. 18.81, jeweils am Versanfang). — φιλαίτατ̣ ο̣ ν ἀν̣δ̣ρ̣ὶ̣ γ̣έροντι /κτῆ̣μ{α̣}: Die Wendung ist als parenthetischer Einschub zu verstehen, der den vorausgehenden Satz τέκν̣α γὰρ αὐτὸν ἔθαπτε als Ganzes qualifiziert. Stilistisch fällt auf, dass in dem kurzen Grabepigramm gleich zwei längere parenthetische Einschübe zu finden sind 24

Vgl. auch Claes 2004, der eine über Analogien in der Lexik stattfindende concatenatio zwischen den Gedichten 59, 60 und 61 postuliert, sowie Bremer 2003 zu weiteren intratextuellen Querbezügen zwischen diesen drei und weiteren Epitymbia. Zusammenfassend zu diesen beiden auf Niederländisch verfassten Arbeiten vgl. Angiò 2009, 16.

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Epitymbia 61

(V. 2 u. V. 3 f.). Mit dem Wort κτῆμα klingt der thukydideische Gedanke des κτῆμα ἐϲ αἰεί an (Thuk. 1.22.4), d. h. die Vorstellung eines immateriellen Besitzes, der über den Tod und die Zeit hinaus Bestand hat und seinen Wert für immer behält. Zum Motiv, dass der/die Verstorbene sterben durfte, nachdem er/sie seine/ihre Kinder (und Kindeskinder) hat heranwachsen und groß werden sehen, und zur herodoteischen Vorstellung, dass nur ein kinderreiches Menschenleben wirklich ein erfülltes Leben sei – und dies insbesondere dann, wenn die eigenen Kinder wiederum selber Kinder haben –, vgl. den Komm. zu 58.5 f. — γένοϲ: Die von De Stefani (2003, 76) aufgrund der intratextuellen Parallele zu 45.6 (θυγατέρων πέμπτον ἐπεῖδε θέροϲ) vorgeschlagene Änderung von γένοϲ zu θέροϲ ist unnötig und würde zudem die viel unmittelbarere intratextuelle Verbindung zu 59.3 beseitigen, wo der Gedanke, dass es einem Toten beschieden ist, von zwei Generationen Nachkommen bestattet zu werden, mit dem parallelen Ausdruck δύο γενεαὶ formuliert ist. Zu der Technik der concatenatio zwischen aufeinanderfolgenden Gedichten vgl. Claes 2004. Das Schlussepigramm der Sektion ist das einzige unter Poseidipps Epitymbia, welches dem sonst in der Grabepigraphik überaus verbreiteten Typus der Ansprache an den Passanten angehört (vgl. dazu den Komm. zu V. 1). Anders als die meisten Gedichte dieses Typs sprechen hier jedoch weder der Tote noch das Grab zum Passanten, sondern ein undefiniert bleibender Sprecher als eine zwischen dem Toten und dem Vorbeigehenden vermittelnde dritte Instanz. Im ersten Distichon wird der Passant zuerst aufgefordert, stehen zu bleiben und auf das Grab, vor dem er sich befindet, aufmerksam gemacht. Mit dem deiktischen τῆιδε (V. 2) wird sodann das hic et nunc noch einmal eindeutig fixiert. Die sich daran anschließende Aufforderung des Sprechers an den Passanten, den unbeweinten Grabstein des Toten zu betrachten (V. 3), kann zunächst nur so verstanden werden, dass der Tote niemanden hat, der ihn beweint und beklagt; der anonyme Sprecher scheint also im Auftrag des Toten zu handeln, wenn er vom Passanten Zuwendung und Tränen erbittet. Diese erste Deutung erfährt jedoch in der Folge eine Korrektur: Das Grab ist dem Toten eine „leichte Last“ (V. 4), weil er, wie das Schlussdistichon verrät, das Glück hatte, Kinder und Kindeskinder zu haben und von diesen bestattet zu werden (vgl. zu dem Topos den Komm. zu 58.5). Der Reiz des Epigramms liegt in dem Umweg, den es einschlägt: zuerst wird der Topos des ‚bitte, weine um mich!‘ insinuiert; dann jedoch wird ebendieses Verständnis des „tränenlosen Grabs“ (V. 3) ins Gegenteil verkehrt: Der Tote ist in der Tat unbeweint – aber dies ist in diesem Fall positiv konnotiert, denn ein kinderreich Verstorbener war ein glücklicher Mensch und ist deshalb nicht zu beweinen. Damit aber wird auch die Rolle des Passanten und des Lesers im Laufe der Lektüre neu definiert, indem die anfängliche vermeintliche Aufforderung an diesen, er möge den Toten beklagen, in eine implizite Aufforderung zur Glückseligpreisung umgedeutet wird, und in diesem Kontext ist letztlich auch die Funktion der übergeordneten Erzählerinstanz zu verstehen: Indem nicht der Tote von sich selber spricht, sondern ein undefinierter Sprecher, bekommt die Aussage eine über den konkreten Fall hinausgehende, universelle Gültigkeit.

Andriantopoiika Die fünfte Sektion der Sammlung bilden neun Epigramme über Statuen und über die Künstler, die sie geschaffen haben. Beschreibungen von Kunstwerken finden sich von Homer bis in die Spätantike in allen Gattungen der antiken Literatur.1 Meistens sind sie, wie das erste und berühmteste Beispiel – die Schildbeschreibung im 18. Buch der Ilias – nicht selbstständig, sondern eingebettet in einen größeren Zusammenhang,2 und meistens handelt es sich um Produkte des Kunsthandwerks wie Waffen, Kleidung und Schmuck, Gefäße und Gewebe, aber auch Bauten und Gärten, die mehr oder minder detailliert beschrieben werden. Beschreibungen von Kunstwerken im engeren Sinne des Wortes, d. h. Statuen und Reliefs oder Gemälde, sind lange Zeit rar. In größerer Zahl finden sie sich nur in einer Gattung: dem Epigramm. Aus der alten Verbindung von Kunstwerk und auf das Kunstwerk bzw. seine Basis gesetzter Auf-Schrift (epi-gramma), die den Betrachter über Stifter, Anlass und Künstler informiert, entsteht mit der Entwicklung des Epigramms zu einer selbständigen literarischen Form das sogenannte ekphrastische Epigramm,3 das dem Leser das Kunstwerk, das er nun nicht mehr vor Augen hat, in Erinnerung ruft bzw. ihn dazu einlädt, es sich vorzustellen. Die ältesten erhaltenen Beispiele solcher Kunstepigramme stammen aus frühhellenistischer Zeit.4 Ihre kleine Zahl ist, wenn man zu den Andriantopoiika noch die Lithika und die zahlreichen ekphrastischen Epigramme in anderen Sektionen (vor allem in den Hippika) hinzunimmt5, durch den Fund des Mailänder Poseidipp-Papyrus mehr als verdreifacht worden. Ab dem 3. Jh. v. Chr. hat sich das ekphrastische Epigramm offenbar wachsender Beliebtheit erfreut.6 In der Anthologia Palatina (AP), in der frühere Epigrammsammlungen zusammengeflossen sind, finden sich

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Friedländer, P. 1912: Johannes von Gaza, Paulus Silentiarius und Prokopios von Gaza. Kunstbeschreibungen justinianischer Zeit, Leipzig/Berlin (ND Hildesheim/New York 1969). Elsner, J. 2002: Introduction: The Genres of Ekphrasis, Ramus 31: 1–18; detaillierte selbständige Beschreibungen von Kunstwerken gibt es erst seit Philostrat d. Ä. (um 200 n. Chr.), dessen Eikones („Bilder“) aus Übungen im Rahmen des propädeutischen Rhetorikunterrichts entstanden sind und sich auch noch als solche tarnen. In der antiken rhetorischen Theorie bezeichnet ekphrasis ganz allgemein die „Beschreibung, Schilderung“ ohne jede Bestimmung dessen, was beschrieben wird. Explizit tauchen Kunstwerke als Gegenstand ekphrastischer Texte erst in den Progymnasmata des Nikolaos von Myra (5. Jh. v. Chr.) auf (S. 69 Felten). Die moderne Beschränkung des Terminus auf Kunstbeschreibung, wie sie vor allem im englischsprachigen Raum üblich geworden ist, geht wahrscheinlich auf Leo Spitzers Studie über Keats Ode on a Grecian Urn zurück (ders. 1955: The ‚Ode on a Grecian Urn‘, or Content vs. Metagrammar, Comparative Literature 7: 203–225; vgl. Elsner, s. o. Anm. 2, 2; ein konziser Überblick über die Ekphrasis-Forschung der letzten beiden Jahrzehnte bei Squire, M. 2009: Image and Text in Greco-Roman Antiquity, Cambridge: 139–146. Neben Poseidipps Andriantopoiika sind ekphrastische Epigramme auf Statuen oder Gemälde von Erinna, Nossis, Asklepiades und Leonidas erhalten; dazu kommen vier Theokrit zugeschriebene Epigramme auf Dichterstatuen (AP 7.664; 9.598, 599, 600); eine Zusammenstellung des Materials bei Manikidou, E. 1993: Beschreibung von Kunstwerken in der hellenistischen Dichtung, Stuttgart: 254 –269; vgl. auch Schwarz, G. 1971: Die griechische Kunst des 5. und 4. Jahrhunderts im Spiegel der Anthologia Graeca, Graz. Zu den thematischen Überschneidungen in den Sektionen vgl. Einl., S. 12. Das dürfte, wie Graf (1995, 152) anmerkt, auch damit zusammenhängen, dass das einzelne Kunstwerk sich immer mehr aus seinem kultischen Kontext löst und zum Gegenstand ästhetischer Betrachtung wird und dass im Zuge dieser Entwicklung private und öffentliche Kunstsammlungen entstehen.

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Andriantopoiika 

Hunderte von Epigrammen auf Kunstwerke.7 Ein großer Teil von ihnen sind Epigramme auf Statuen wie die Andriantopoiika Poseidipps. Die neun Gedichte der Sektion sind offenbar sorgfältig arrangiert. In einer ersten Gruppe von vier Epigrammen rahmen zwei Epigramme, die Lysipp allgemein (62) bzw. eine seiner vielen Alexanderstatuen (65) rühmen, zwei Epigramme auf Statuen von Künstlern, die nach Lysipp (63: Hekataios) bzw. vor ihm (64: Kresilas) gearbeitet haben. Es folgt eine zweite Gruppe von vier Epigrammen. Dieses Mal rahmen zwei Gedichte auf Werke Myrons (66 und 69) zwei Epigramme auf Statuen von Künstlern, die vor Myron (67: Theodoros) bzw. nach ihm (68: Chares) tätig gewesen sind. Den Abschluss bildet ein Epigramm, das, wenn der stark zerstörte Text nicht täuscht, den Zyklus dadurch abrundet, dass es – wie das erste – Polyklet und Lysipp miteinander konfrontiert und – wie das erste – Lysipp den Vorzug gibt.8 62 Lysipp und Polyklet 63 Hekataios’ Philitas 64 Kresilas’ Idomeneus und Meriones 65 Lysipps Alexander 66 Myrons Kuh 67 Theodoros’ Quadriga (Selbstporträt) 68 Chares’ Koloss von Rhodos 69 Myrons Tydeus 70 Lysipp und Polyklet Auch untereinander sind die neun Epigramme thematisch und motivisch verknüpft: So sind z. B. die inneren Paare der beiden Vierergruppen durch Parallele und Kontrast miteinander verbunden: Während 63 ausdrücklich betont, dass Hekataios bei seiner Gestaltung des Philitas auf jeden heroischen Zug verzichtet hat, präsentiert 64 mit Idomeneus und Meriones zwei homerische Heroen; auf der anderen Seite spielen beide Epigramme mit dem Topos der Lebensechtheit (und vielleicht auch beide mit dem Motiv der sprechenden Statue).9 67 und 68 stellen Werke des ältesten und des jüngsten Künstlers nebeneinander und bilden zudem mit dem Miniaturwagen des Theodoros und dem Koloss des Chares einen starken Kontrast; auf der anderen Seite thematisieren beide mit Maß und Kunstfertigkeit (techne) dieselben Aspekte der Bildhauerkunst. Die sorgfältig geplante Anordnung der neun Epigramme und die Tatsache, dass nicht alle Kunstepigramme Poseidipps Teil der Andriantopoiika sind,10 legt den Schluss nahe, dass es der Autor selber war, der den kleinen Zyklus zusammengestellt hat.11 Ob die Texte zu verschiedenen Anlässen geschrieben und dann zusammengestellt worden sind oder gleich als Zyklus gedacht 7

Allein die Sammlung des Planudes (AP 16) bietet fast 400 ekphrastische Epigramme; dazu kommen noch zahlreiche weitere Beispiele aus anderen Büchern der Anthologia Palatina, vor allem aus den Büchern 6, 7 und 9, und die 416 Hexameter, in denen der spätantike Dichter Christodoros von Koptos (um 500) die Statuen in den Thermen des Zeuxippus in Konstantinopel beschreibt (Buch 2); nur wenige stammen aus dem 3. Jh. v. Chr. 8 Vgl. Gutzwiller 2002, 42; für einen anderen Vorschlag zur Struktur der Sektion s. Baumbach 2013, 53–57. 9 Vgl. u. zu 63.7 (u. Interpret.). 10 Das Epigramm auf den berühmten Kairos Lysipps, das die Anthologia Palatina überliefert (AP 16.275) ist erstaunlicherweise nicht in den Zyklus aufgenommen (vgl. DNO 2160–2172). 11 Vgl. Sens 2005, 225; Stewart 2005, 184 f.; das muss nicht unbedingt heißen, dass Poseidipp auch die ganze Sammlung geordnet und ediert hat; der Herausgeber der Anthologie könnte eine von

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und verfasst wurden, lässt sich nicht entscheiden.12 Auch von Poseidipps Zeitgenossin Nossis ist eine Reihe von ekphrastischen Epigrammen erhalten, die wahrscheinlich aus einem von der Dichterin selbst komponierten Gedichtbuch stammen.13 Der Unterschied zu den Andriantopoiika ist allerdings eklatant: Die sechs kurzen Epigramme auf Weihgeschenke in einem imaginären Aphroditeheiligtum bilden keine mit Bedacht strukturierte Einheit, sind thematisch weit weniger homogen, sprechen in den Fällen, in denen es sich um Kunstwerke im engeren Sinne des Wortes handelt, eher implizit von der künstlerischen Leistung und vor allem: sie nennen, anders als Poseidipp, nicht den Künstler, der das Weihgeschenk geschaffen hat.14 Mit der namentlichen Nennung der jeweiligen Künstler unterscheiden sich Poseidipps Andriantopoiika auch von den meisten anderen der zahlreichen erhaltenen ekphrastischen Epigramme. Der wichtigste der Künstler, die er seinen Lesern präsentiert, ist ohne Frage Lysipp, der gleich im programmatischen Einleitungsepigramm (62) als alle Vorgänger in den Schatten stellendes Modell vorgestellt wird und offenbar auch am Ende noch einmal in dieser Rolle erscheint (70); ein drittes Epigramm, am Ende der ersten Vierergruppe, exemplifiziert Lysipps einzigartige Fähigkeit, neben der äußeren Lebensechtheit auch das Wesen des Dargestellten zum Ausdruck zu bringen, an einem Bildnis seines berühmtesten Gegenstands, Alexanders des Großen (65). Die anderen Künstler der Andriantopoiika sind offenbar danach ausgewählt und im Zyklus postiert, inwieweit sie die wichtigsten Qualitäten der Werke Lysipps – Lebensechtheit (aletheia), Darstellung des Wesens (ethos) und äußerste Detailgenauigkeit (akribeia) – in Ansätzen vorweggenommen (Theodoros, Myron, Kresilas) bzw. rezipiert und verwirklicht haben (Hekataios und Chares).15 Implizit etabliert Poseidipp mit seinem kleinen Zyklus einen neuen Kanon der Bronzebildhauerei, und es ist Lysipp, nicht mehr Polyklet, der als Höhepunkt dieser Kunst gefeiert wird.16 Es ist nicht auszuschließen, dass die Sonderstellung, die Poseidipp Lysipp zuschreibt, auch damit zusammenhängt, dass die Ptolemäer, als die selbsternannten Nachfolger Alexanders des

Poseidipp als Einheit konzipierte Gruppe ekphrastischer Epigramme vorgefunden und aufgenommen haben. 12 S. dazu S. 15. 13 Gutzwiller 1998, 75–77; 85–87; Männlein-Robert 2007, 43–53. 14 Nur in einem besonderen Fall, in dem die Stifterin des Bildes, die Hetäre Kallo, ihr Porträt selber gemalt hat, ist der ‚Künstler‘ genannt. 15 Prioux’ These (2009, 276 f.), dass Poseidipp in den beiden Vierergruppen Lysipps λεπτότηϲ (62–65) und Myrons ϲεμνότηϲ (66–69) feiere und so die ‚neue Kunst‘ mit der klassischen Kunst des 5. Jh.s vergleiche, findet in 66–69 keine wirkliche Basis; vgl. auch Squire, M. 2010: Making Myron’s cow moo. Ecphrastic epigram and the poetics of simulation, AJPh 131: 598–634, n. 42 und Stähli 2010, 49: „Es ist Poseidipp explizit um das Lob des mimetischen Verismus zu tun, um die ‚Neuerung des Lysipp‘ (sc. 62.6 f.), für die er Werke des Lysipp anführt, aber auch Statuen zeitgenössischer Bildhauer, die wie Hekataios im Stil Lysipps arbeiteten, sowie Werke von Vorläufern Lysipps, die sich gleichfalls schon dem ‚strengen Kanon der Wahrheit‘ verpflichtet hatten, wie etwa Myron, dessen Kuh – die für ihren Realismus meistgerühmte Statue in der Antike überhaupt – ein eigenes Epigramm gilt.“ 16 Vgl. Stewart 2005 und 2007, 124: „Poseidipppus saw himself as advocate or missionary for Lysippos, the first Greek author actively, outspokenly, and consistently to promote an artist in this way.“ – Wie erfolgreich die Propagierung des neuen Kanon gewesen ist, ist schwer einzuschätzen; der alte Kanon hat sich offenbar spätestens seit der Mitte des 2. Jh.s unter dem Einfluss einer klassizistischen Restauration wieder durchgesetzt (vgl. Strocka 2007, 343). Bei Cicero (Brut. 18.70) und Quintilian (inst. 12.10.7–9), die diese Entwicklung spiegeln, ist Polyklet wieder das Maß aller Dinge; vgl. dazu z. B. Preißhofen 1979.

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Andriantopoiika 62

Großen, Wert darauf legten, im Stil seines ‚Hofbildhauers‘17 dargestellt zu werden.18 Sicher ist aber, dass Poseidipps Interesse an der Entwicklung der Bronzekunst von Theodoros bis Chares über eine solche politisch-ideologische Motivation deutlich hinausging. Die Bezeichnung der Andriantopoiika als „das für uns bislang älteste Beispiel einer Kunstgeschichte“19 mag als übertrieben erscheinen; die neun Epigramme lassen jedoch erkennen, dass Poseidipp mit der in dieser Zeit entstehenden Kunstgeschichtsschreibung wohlvertraut war20 und durchaus selbständig Position bezieht.21 Natürlich ist Poseidipp dabei in erster Linie Dichter und nicht Kunsthistoriker oder -kritiker. An einer Reihe von Stellen legen die Formulierungen die Annahme nahe, dass er die Vorstellung der Kunstwerke und ihrer Schöpfer nicht zuletzt auch zur Präsentation seiner eigenen ästhetischen und poetologischen Prinzipien nutzt.22 Besonders deutlich ist diese Technik, derer sich auch andere hellenistische Dichter bedient haben,23 in den ersten beiden der neun Epigramme, ohne etwa darauf beschränkt zu sein. Mit dem programmatischen Imperativ: „Ahmt diese Werke nach“, mit dem Poseidipp den kleinen Zyklus eröffnet (62.1), sind nicht nur die Bildhauer, sondern auch die Dichter angesprochen; die so als Modelle angekündigten Werke sind nicht nur die in den folgenden Epigrammen präsentierten Bronzestatuen, sondern auch Poseidipps Epigramme. 62 Das erste Epigramm fordert die Bildhauer programmatisch auf, die lange Zeit gültigen Regeln ihrer Kunst zu ignorieren und sich an Lysipp und seinen modernen Werken zu orientieren. X

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Vgl. das von Cic. ad fam. 5.12.13; Hor. epist. 2.1.239 f.; Plin. nat. 7.125 (DNO 2135– 40 u. 2143) bezeugte Edikt Alexanders, dass niemand außer Lysipp Statuen von ihm schaffen dürfe. Vgl. Gutzwiller 2002, 52 u. 60; Kosmetatou 2004a, 195; dies. 2004b, 225– 46; Plutarch bezeugt, dass viele der Diadochen sich als Alexander porträtieren ließen (Plut. Alex. 4.2). Strocka 2007, 339. Stewart 2005; da die hellenistische Kunstgeschichtsschreibung so gut wie ganz verloren ist, ist ein sicheres Urteil darüber, wem Poseidipp besonders viel verdankt, natürlich nicht möglich. Es spricht aber manches dafür, dass er vor allem von Xenokrates beeinflusst ist; vgl. Gutzwiller 2002, 59; Stewart 2005, 186 f. und Strocka 2007, 339 f.; anders Kosmetatou (2004a, 207–211), die für Duris plädiert; vgl. auch Prioux 2009, 278. – Zur antiken Kunstgeschichtsschreibung zuletzt: Settis, S. 1993: La trattatistica delle arti figurative, in: G. Cambino et al. (Hg.), Lo spazio letterario della Grecia antica, Rom: 469–98; Bäbler, B. 2002: Auf der Suche nach Xenokrates, Seminari Romani 5: 137–60; Koch, N. 2013: Paradeigma. Die antike Kunstschriftstellerei als Grundlage der frühneuzeitlichen Kunsttheorie, Wiesbaden. Stewart 2006, 186–88. Sens 2005; Männlein-Robert 2007, 53–81; Baumbach 2013. Vgl. Männlein-Robert 2007 zu Erinna (38– 43) und zu Nossis (43–53). Zur Form des Namens s. Komm. zu V. 3.

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μιμ̣[ή]ϲαϲθε τάδ’ ἔρ̣γ̣α, πολυχρονίουϲ̣ δὲ κολοϲϲῶν, ὦ ζ̣[ωι]ο̣πλάϲται̣, ν̣[..] π̣αραθεῖτε νόμουϲ· εἴ γ̣ε μὲν ἀρχαῖαι̣ .[..].πα χέρεϲ, ἢ Ἀγελάιδηϲ24 ὁ πρὸ Πολυκλείτο[υ πά]γχυ παλαιοτέχν̣ηϲ, ἢ οἱ Διδυμίδου ϲκληρ̣[οὶ τύ]ποι εἰϲ πέδ̣ο̣ν ἐλθεῖν, Λυϲίππου νεαρὴν οὐδ̣[ε]μ̣ία πρόφαϲιϲ

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δεῦρο παρεκτεῖναι βαϲ̣ά̣ν̣ω̣ι̣ χάριν· ε̣ἶ̣[τα] δ̣’ ἐ̣ὰ̣ν χ̣ρ̣ῆ̣ι̣ καὶ πίπτηι ὧθ̣λοϲ κ̣α̣ι̣ν̣οτεχνέων̣ .ε.εϲηι

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9 ν̣[αί,] ed. pr., min. (def. Livrea 2002, Esposito 2004) : ν̣[ῦν] Lapini 2003b (def. Battezzato 2003, Garulli 2004, Strocka 2007, Ferrari per litt.) : μ̣[ὴ] Luppe 2001b (def. Moreno 2006)  10 δ̣[ vel ζ̣[ vel ξ̣[ ed. pr.  Κανάχου Austin 2001a : π̣[λά]ϲ̣τα Luppe 2001b (voc.), Gutzwiller 2002 (gen.) : Δ̣[ρυ]ό̣πα Livrea 2002 : Κριτία Lapini 2003b : γ̣’ [Ὀν]α̣τᾶ Strocka 2007 : τ̣᾿ [Ὀν]α̣τᾶ Luppe 2006–2008  11 πολυκτειτο[ P  12 ἤ‹θ›’ οἱ Luppe 2006–2008  διδυμιδου P def. Luppe 2001b, Moreno 2006, Strocka 2007, Angiò 2007b, Luppe 2006–2008) : fort. Δ‹ε›ινομένου‹ϲ› ed. min. : Δ‹α›ιδαλιδῶν Livrea 2002 : Δ‹α›ιδαλίδου dub. Gutzwiller 2002a  πεδο̣ ν̣ P (def. Lapini 2003b, Angiò 2004b) : an εἰϲ μέϲον? ed. min.  ελθειν P (def. Lapini 2003b) : ἦλθον Austin 2001a, ed. min. (def. Angiò 2004b) : ἔλθο̣ιν Luppe 2001b (Luppe 2006–2008)  13 νεαρὴν Lapini 2003b : νεάρ’ ἦν ed. pr., min.  14 βαϲ̣ά̣ν̣ω̣ι̣ Lapini 2003b : βαϲ̣ά̣ν̣ο̣υ̣ ed. pr., min.  ε̣α̣γ̣χ..ι̣ P  15 κἀκπίπτηι‹ϲ› Lapini 2002 : πίπτηι ‹γ’› ed. min.  ὧθ̣λοϲ ed. pr., min. : οαθ̣λου, θ̣ corr. ex λ̣ P : {ο} ἄθλου et κ̣α̣ι̣ν̣οτεχνέων̣ (ptc. praes.) Lapini 2002 : πίπτηι ʼϲ ἆθλον καιν̣οτεχνέων (ptc. praes.) Luppe 2006–2008 (v. Angiò 2010) : ‹ϲ›ο‹ι› ἆθλο‹ϲ› De Stefani 2003 : ’ξ ἄθλου Ferrari per litt.  καινοτεχνέων (gen. pl.) Lapini 2007  π̣ετ̣εϲ P, ut vid., ed. min. : πέραϲ ἦν Austin 2001a, ed. min. : π̣ερ̣έϲηι Livrea 2002 : γ̣ε π̣εϲῆι Lapini 2002 : με̣ τέ̣ ϲηι Neri ap. De Stefani 2003 : γε̣ πέ̣ ϲοι Angiò 2004b (def. Strocka 2007) : γ’̣ ἐπέ̣ ϲηι Luppe 2006–2008 (v. Angiò 2010) : γ̣ε π̣έϲηι Ferrari per litt. : καὶ πίπτηιϲ, ἅλλου κ̣α̣ι̣ρ̣οτεχνέων τ̣’ ἔτ’ ἔϲηι Luppe 2001b

Ahmt diese Werke nach und lasst die lange Zeit für Kolosse gültigen Regeln, ihr Statuenbildner, ̣[…] links liegen. Wenn die alten […] Hände oder Ageladas, der vor Polyklet lebende Künstler ganz alter Schule oder die starren Gestalten des Didymides auf den Boden kämen, dann gäbe es keinen Anlass, die neue Anmut Lysipps hier auf dem Prüfstein daneben auszubreiten. Wenn es (dann) aber nötig sein sollte und es zum Wettkampf moderner Künstler kommt, [….] V. 1 f. μιμ[̣ ή]ϲαϲθε τάδ’ ἔργ̣ α ̣ : Die Mimesis, zu der die in V. 2 angesprochenen Bildhauer aufgefordert werden, ist nicht, oder doch nicht in erster Linie, die Nachahmung der Natur, sondern die kreative Imitation künstlerischer Vorbilder: imitatio veterum (vgl. Sens 2005, 208). — τάδ’ ἔρ̣γ̣α: Das deiktische τάδε (‚diese hier‘) kann allenfalls dann auf real anwesende Kunstwerke hindeuten, wenn es lediglich die in 62 angesprochenen Werke Lysipps bezeichnete (so ed. pr., Bernardini-Bravi 2002, 150; Angiò 2004b, 65). Auch in diesem Fall kann es jedoch darüber hinaus – wie in vielen ekphrastischen Epigrammen – auch Kunstwerke evozieren, die nur in der Imagination des Autors und seiner Leser existieren, und diese Deutung, die heute zu Recht von den meisten Interpreten vertreten wird, ist zwingend, wenn τάδ’ ἔρ̣γ̣α, wie das im Einleitungsgedicht der Andriantopoiika nahe liegt, auch auf die Kunstwerke vorausweist, die in den folgenden Gedichten gepriesen werden. — πολυχρονίουϲ̣ δὲ κολοϲϲῶν νόμουϲ: Der seit dem 5. Jh. v. Chr. bezeugte Begriff κολοϲϲόϲ bezeichnet zunächst offenbar jede Statue, unabhängig von ihrer Größe, und wohl erst seit hellenistischer Zeit (sicher ab Polybios 5.88.1) auch und besonders Kolossalstatuen, wie sie auch für Lysipp bezeugt sind (vgl. DNO Nr. 1452 f.). Der Kontext des Gedichts (und der ganzen Sektion) zeigt, dass Poseidipp in erster Linie auf die Starre archaischer Statuen im Unterschied zu Beweglichkeit und Lebendigkeit der von ihm gepriesenen Werke zielt (zu κολοϲϲόϲ vgl. Roux 1960, 34 –36; Kosmetatou-Papalexandrou

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2003; Stewart 2005, 186; Moreno 2006; Männlein-Robert 2007, 56 sowie die gründliche und überzeugende Analyse von Badoud 2011, 122–145); Dickie 1996 hat dagegen die Auffassung vertreten, dass κολοϲϲόϲ immer ‚überlebensgroß‘ bedeutet. — ζ̣[ωι]ο̣πλάϲται̣: ‚Bildner von Lebewesen‘, ‚Bildhauer‘; der vor der hellenistischen Zeit nicht belegte Terminus könnte eine Schöpfung Poseidipps (oder immerhin der hellenistischen Zeit) sein; das Verb ζωιοπλαϲτεῖν findet sich bei Lykophron (Alex. 844 f.: Perseus verwandelt Polydektes und seine Männer in steinerne Statuen) und bei Chrysipp (fr. 745 SVF II); das Substantiv erscheint nach Poseidipp erst wieder bei Philon von Alexandria, Ptolemaios (Tetr. 180) und in Genesis-Schriften (z. B. bei Eusebios, Gregor von Nyssa und Johannes Chrysostomos); Meleager verwendet das Synonym ζωιογλύφοϲ (AP 12.56 und 57 für Praxiteles). Der Begriff betont die Lebendigkeit und Lebensechtheit als Ideal der Kunst (vgl. Männlein-Robert 2007, 58 f.). — ν̣[..]: Die fehlenden beiden Buchstaben können mit der affirmativen Partikel ναί gefüllt werden (ed. pr.); das von Lapini 2003b, Battezzato 2003 und Garulli 2004 (mit ausführlicher Begründung) vorgeschlagene νῦν fügt sich jedoch besser in den Kontext. — π̣αραθεῖτε: Bei dieser Form handelt es sich sehr wahrscheinlich um den Imperativ zu παραθέω (‚vorübergehen‘, ‚ignorieren‘) und nicht um den Opt. Aor. von παρατίθημι. Das Verb kann kaum die von Handley (2005, 142) angenommene Bedeutung „to apply“ haben, und die bei dieser Deutung zwingend erforderliche Negation μή ist für die vorangehende Lücke zu kurz. V. 3 ἀρχαῖαι̣ . [.].πα χέρεϲ: Es fehlt sehr wahrscheinlich der Name eines archaischen Künstlers. Die Ergänzung π[̣ λά]ϲτ̣ α (mit anderer Lesung als ed. pr.) als Vokativ (Luppe 2001b) oder als dorischer Genitiv (Gutzwiller 2002) ergibt nach V. 2 kaum Sinn. Eine wirklich überzeugende Lösung ist bisher nicht gelungen. Außer dem metrisch nicht passenden Skopas ist kein Bildhauer auf -παϲ bezeugt (Livreas Vorschlag Dryops hat zu Recht keine Zustimmung gefunden). Onatas (DNO 501–513), den Strocka (2007) ins Spiel gebracht hat (vgl. auch Luppe 2006–2008) passt als (vielleicht etwas älterer) Zeitgenosse des Ageladas (vgl. DNO 453– 464) gut in die Reihe der archaischen Bildhauer. Die Ergänzung der überlieferten Reste als γ’̣ [Ὀν]ατ̣ ᾶ führt zwar zu einem nicht leicht zu rechtfertigenden doppelten γε, Luppes Versuch, dem Problem durch τ’ Rechnung zu tragen, zwingt ihn jedoch dazu, an zwei weiteren Stellen ein τ’ einzufügen. — χέρεϲ: Zur Verwendung des Begriffs für die handwerklichen Fähigkeiten eines Künstlers und das von ihm geschaffene Werk vgl. Headlam, W. 1922: Herodas. The Mimes and Fragments, Cambridge: 206, zu 4,72); Poseidipp verwendet χείρ bzw. χέρεϲ innerhalb der Andriantopoiika auch in 65.1; 67.2 und 70.3 sowie in den Lithika 7.3 und 14.2. — Ἀγελάιδηϲ: Metrik und ionische Form des Namens beweisen, dass der Name zum Stamm ἀγ- und nicht zu ἡγ- (dorisch: ἁγ-) gehört. Der Bildhauer heißt also Ἀγελάιδηϲ, nicht Ἁγελάιδηϲ (ed. pr.). Die in den Pliniushandschriften erscheinenden aspirierten Formen Hageladas und Hagelades dürften auf einem antiken Missverständnis beruhen. Die in einer Inschrift aus Olympia (IvO 630.266. 631; DΝΟ 469), als Patronym eines gewissen Argeiadas bezeugte Form hἀγελάιδα ist durch Krasis des Namens Ἀγελάιδαϲ mit dem Artikel ὁ entstanden. Das in der Inschrift dem Patronym hinzugefügte Ethnikon τοῦ Ἄργείου ist ungewöhnlich. Es könnte darauf deuten, dass der Vater des Argeiadas der berühmte Agelaidas (d. h. Ageladas) aus Argos war. Da in den Pausaniashandschriften die (dorischen) Namen auf -λαΐδαϲ (Ἰολαΐδαϲ, Νιϰολαΐδαϲ, Ϲθενελαΐδαϲ usw.) immer gut erhalten sind, bleibt ein Restzweifel bestehen; es ist aber sehr wahrscheinlich, dass Poseidipps Agelaides und der in den literarischen Quellen genannte Künstler Ageladas (oder lat. Hageladas bzw. Hagelades) genannte Künstler dieselbe Person bezeichnen. Wie Poseidipps Zusatz „vor Polyklet“ (V. 4) zeigt, kann er nur den älteren Ageladas meinen, da der jüngere A. (wahrscheinlich ein Enkel des älteren) zur selben Generation gehört wie Polyklet (vgl. DNO I 376 f.).

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V.4 παλαιοτέχνη ̣ ϲ: das sonst nicht belegte Adjektiv (‚‹Meister› alter Schule‘) dürfte eine Schöpfung Poseidipps sein. V. 5 ϲκληρ̣[οὶ τύ]ποι: Die Ergänzung kann als sicher gelten; zu ϲκληρόϲ: ‚hart‘, ‚steif‘, ‚starr‘ (lat. durus, rigidus) vgl. Pollitt 1974, 254 f. (durus: 359–361; rigidus: 426 f.) Das Wort bezeichnet vielfach die archaische Plastik im Unterschied zu der als ‚weich‘, ‚fließend‘, ‚geschmeidig‘ charakterisierten neuen Kunst; zur Bedeutung der sogenannten Härteskala in der antiken Kunstgeschichtsschreibung vgl. Pollitt 1974, 82 f. sowie Preißhofen, F. 1979: Kunsttheorie und Kunstbetrachtung, in: Le classicisme à Rome aux 1ers siècles avant et après J.C., Genève: 263–282 u. Strocka 2007, 341–344. – τύποϲ kann neben Relief oder Negativform auch Statue heißen; vgl. Pollitt 1974, 272–293: Nr. 5, 15, 86, 87, 96; Blumenthal, A. von 1928: Typos und Paradeigma, Hermes 63: 391– 414. — Διδυμίδου: Der Name des Schöpfers der ‚starren Statuen‘ ist nicht bezeugt. Moreno (2006) und Strocka (2007) haben, unabhängig voneinander, den plausiblen Vorschlag gemacht, dass Poseidipp mit Didymides Kanachos meint (Austin hatte vorher Kanachos schon als mögliche Ergänzung in V. 3 erwogen). Zwar stammt Kanachos nicht aus Didyma, sondern aus Sikyon; es erscheint jedoch möglich, dass die Periphrase ihn als Schöpfer des Apollon Philesios in Didyma bezeichnet, der sein berühmtestes Werk war (vgl. Stat. Silv. 4.6.27, wo Phidias als Schöpfer des berühmten Zeus in Olympia als Pisaeus bezeichnet wird); zur metrischen Dehnung der ersten Silbe von Διδυμίδου vgl. Luppe 2001, 105. Die Charakterisierung der Werke des Didymides als ϲκληρ̣οί passt gut zu Kanachos, dessen Statuen von Cicero als rigidiora, quam ut imitentur veritatem („zu steif, als dass sie die lebendige Wirklichkeit wiedergeben könnten“) bezeichnet werden. Damit sind alle Versuche, das gut lesbare Διδυμίδου durch Konjekturen zu ändern, hinfällig. – Zu Kanachos vgl. DNO 550–560. — εἰϲ πέδο̣ ν̣ ἐλθεῖν: Der Ausdruck ist syntaktisch und inhaltlich schwierig. Syntaktisch wird nach dem εἴ γε in V. 3 eine finite Verbform und nicht ein Infinitiv erwartet. Der desiderative Infinitiv nach εἰ (vgl. GPh II 248; Kühner/Gerth II 21 f.) passt nicht zur Apodosis, die eine konzessive Protasis verlangt. Austin hat deswegen ἦλθον vorgeschlagen: ‚wenn sie kämen‘. – Der Sinn der sonst nicht belegten Verbindung εἰϲ πέδον ἐλθεῖν ist unklar. Männlein-Robert (2007, 57 f.) hält es für möglich, dass es ‚auf den Boden kommen‘ (d. h. von der Basis auf den Boden hinabsteigen) heißen kann; die ed. pr. schlägt vor, πέδον als das ‚Gelände‘ der imaginären Ausstellung der Statuen zu verstehen, verweist aber auch auf die lateinische Wendung ‚in certamen venire‘ (Plin. 34.53); die Bedeutung ‚in die Ebene ‹wo der Wettkampf stattfindet› kommen‘ würde gut zu der Wettkampfsituation passen, die das Epigramm von Beginn an evoziert und im letzten Vers direkt anspricht. V. 6 νεαρὴν: Die Buchstabenfolge νεαρην kann als νεαρὴν (Lapini 2007) oder als νεάρ’ ἦν (ed. pr.) gedeutet werden. Der Sinn der Apodosis ist in beiden Fällen derselbe: Es besteht keine Veranlassung, Lysipps Werke, die entweder als ‚neue, moderne Anmut‘ (νεαρὴν … χάριν) oder als ‚neu‘, ‚modern‘ (νεαρά) bezeichnet werden, ‚auf dem Prüfstein‘ (Lapini 2007: βαϲάνωι) bzw. ‚zu einer ‹vergleichenden› Prüfung‘ (ed. pr.: βαϲάνου χάριν) daneben auszubreiten (παρεκ­ τεῖναι). Was Poseidipp an den Werken Lysipps als neu empfindet, wird erst in den folgenden Epigrammen direkt und indirekt entfaltet. – Moreno (bei Angiò 2013a) möchte νεαρά als „die jüngsten (sc. letzten) Werke“ und damit als Hinweis auf die beiden Kolossalstatuen des Zeus (DNO 2145–2149) und des (sitzenden) Herakles (DNO 2173–2180) verstehen, die Lysipp am Ende seines Lebens für die Akropolis von Tarent geschaffen hat; es ist aber mehr als fraglich,

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dass Poseidipp hier einzelne Werke (und dann auch noch die Kolossalstatuen) Lysipps als Vergleich anführt und nicht das gesamte bildhauerische Werk. — χάριν: χάριϲ (wenn νεαρὴν korrekt ist) ist für Lysipp in unseren Quellen nicht bezeugt (am nächsten kommt Plin. 34.66, der von seiner elegantia spricht); laut Plinius (nat.hist. 35.79 f.; DNO 2939), Quintilian (12.10.6) und Aelian (var. hist. 12.41) soll der Maler Apelles auf diese Qualität seiner Gemälde besonders stolz gewesen sein; vgl. Pollitt 1974, 297–301. V. 7 ε̣ἶ̣[τα] δ’ ἐ̣ὰ̣ν χ̣ρ̣ῆ̣ι: Der Schluss ist sehr schlecht erhalten. Eine befriedigende Lösung steht noch aus. Die Wiederherstellung des Nebensatzes in der ed. pr. ist von den meisten Interpreten akzeptiert worden. Der Satz schließt syntaktisch an das εἰ μὲν in V. 3 an und passt inhaltlich gut zu der in V. 3–7 evozierten Wettkampfsituation. Die Lösung krankt aber daran, dass es für die Verwendung von πίπτειν i. S. v. γίγνομαι (‚wenn der Wettbewerb stattfindet‘) keine Parallele gibt. – Die Vorschläge, die von der normalen Bedeutung von πίπτειν ausgehen (Luppe 2001; Handley 2004), vermögen nicht zu überzeugen. — κ̣α̣ι̣ν̣οτεχνέων: Die Form könnte Part. Präs. sein (Lapini 2002; Luppe 2006–2008). Die Korrespondenz mit παλαιοτέχνηϲ (V. 4) spricht aber eher dafür, dass es sich um den Gen. Pl. von καινοτέχνηϲ handelt. Die antithetischen Nomina, die wahrscheinlich beide Neubildungen Poseidipps sind, betonen die handwerklich-technischen Aspekte der Kunst; vgl. Di Nino 2010, 293. V. 8 .ε.εϲηι: Das Ende des Verses ist noch nicht sicher geheilt. Angiòs γε πέϲοι (mit Interpunktion vor καινοτεχνέων) bleibt nahe an dem erhaltenen Text und schließt an das πίπτηι des Nebensatzes an. Allerdings ist nicht deutlich, warum sich die persona des Gedichts plötzlich einen Wettbewerb unter den modernen Künstlern wünschen sollte, und der Gedanke, dass Lysipp auch diesen überlegen sein würde, muss vom Leser ergänzt werden. Austins Vorschlag πέραϲ ἦν verlangt zwar einen recht großen Eingriff in die Überlieferung, ergibt aber einen guten Sinn: Lysipp ist nicht nur allen älteren Künstlern überlegen; er würde sich auch in einem Agon der modernen Künstler als das Maß aller Dinge erweisen. Rekonstruktionsvorschlag μιμ̣ήϲαϲθε τάδ’ ἔργα, πολυχρονίουϲ δὲ κολοϲϲῶν, ὦ ζωιοπλάϲται, νῦν παραθεῖτε νόμουϲ· εἴ γε μὲν ἀρχαῖαι γ᾽ Ὀνατᾶ χέρεϲ, ἢ Ἀγελάιδηϲ ὁ πρὸ Πολυκλείτου πάγχυ παλαιοτέχνηϲ, ἢ οἱ Διδυμίδου ϲκληρ̣οὶ τύποι εἰϲ πέδον ἦλθον, Λυϲίππου νεαρ᾽ ἦν οὐδεμία πρόφαϲιϲ δεῦρο παρεκτεῖναι βαϲάνου χάριν· εἶτα δ’ ἐὰν χρῆι καὶ πίπτηι ὧθλοϲ καινοτεχνέων, περαϲ ἦν. Ahmt diese Werke nach und lasst die lange Zeit für Statuen gültigen Regeln, ihr Bildhauer, links liegen. Wenn denn Onatas’ alte Werke oder Ageladas, der vor Polyklet lebende Künstler ganz alter Schule, oder die starren Gestalten des Kanachos sich zum Wettkampf stellten, dann gäbe es keinen Anlass, die modernen Werke Lysipps

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hier zur Prüfung daneben aufzustellen. Wenn es dann aber nötig sein sollte und es zum Wettkampf moderner Künstler kommen sollte: ‹auch› dann würde er (Lysipp) das Maß aller Dinge sein. Das Einleitungsgedicht beginnt mit dem programmatischen Imperativ: „Ahmt diese Werke nach!“ Um welche Werke es sich handelt, bleibt zunächst noch ebenso offen, wie der Adressat der Worte, so dass es einen Moment unklar ist, zu welcher künstlerischen Gattung die paradigmatischen Werke gehören. Erst der zweite Imperativ beantwortet die beiden Fragen. Er wendet sich an die Bildhauer und macht mit der Aufforderung, die lange Zeit verbindlichen Gesetze der Bildhauerei zu ignorieren, deutlich, dass die Werke, die die Bildhauer nachahmen sollen, neue – nach neuen Gesetzen geschaffene – Werke sind. Aber auch jetzt werden diese neuen Werke noch nicht mit einem Namen verbunden, sondern zunächst einmal die alten Künstler eingeführt, deren Werke es zu ignorieren gilt. Sicher ist nur, dass einer der drei Genannten Ageladas der Ältere aus Argos ist. Das macht es wahrscheinlich, dass auch die beiden anderen von Poseidipp Genannten keine Unbekannten sind. Strockas Ergänzung in V. 3 sowie seine Erklärung für den nur hier bezeugten Namen Didymides in V. 5 (s. Komm. zu V. 5) erscheinen deshalb als plausibel. Zu der so auch chronologisch stimmigen Reihe Onatas, Ageladas und Kanachos (s. Komm.) tritt in V. 4 noch Polyklet, der in den Andriantopoiika eine besondere Rolle spielt (vgl. 63 u. 70), hier aber nur in der Zeitangabe für Ageladas erscheint. Die drei zur Auswahl gestellten Künstler sind handwerklich (ἀρχαίαι χέρεϲ), theoretisch (παλαιοτέχνηϲ) und stilistisch (ϲκληροὶ τύποι) als exemplarische Vertreter der alten Schule gekennzeichnet. Erst nachdem sie vorgestellt worden sind, präsentiert die Apodosis des konditionalen Gefüges den Schöpfer der neuen Werke, die fortan nachzuahmen sind: Lysipp. Dieser ist allen drei alten Meistern so überlegen, dass, wenn sie zu einem Wettkampf zusammenkämen (V. 5), seine Werke gar nicht erst einer langen vergleichenden Überprüfung unterzogen werden müssten, weil – muss man ergänzen – sein Sieg von vornherein feststünde. Dabei sagt Poseidipp, so als sei das gar nicht nötig, nicht, wodurch sich Lysipps Bronzen vor allen anderen auszeichnen. Der Leser muss es aus der negativen Charakterisierung der alten Meister erschließen. Sind diese zunächst noch ganz allgemein als ‚veraltet‘ (V. 3 u. 4) bezeichnet, so fällt im Zentrum des Gedichts der zentrale Begriff: Die alten Standbilder sind ϲκληροί: ‚starr‘, ‚statisch‘; anders als die von Lysipp geschaffenen bewegen sie sich nicht, sie leben nicht. Nun wird auch deutlich, warum Poseidipp die Bildhauer, an die er sich wendet, als ζωιοπλάϲται bezeichnet. Wenn sie wirkliche Bildhauer sein wollen, müssen sie bewegte, lebensechte Bildwerke schaffen, die gleichsam lebende Wesen (ζῶια) sind. Und um das zu erreichen, müssen sie Lysipp nachahmen: Μιμήϲαϲθε τάδ᾽ ἔργα. Der Schluss des Epigramms ist sehr schlecht erhalten und eine voll befriedigende Lösung der textlichen Probleme wohl nicht erreichbar. Aber es spricht manches dafür, dass die Wettbewerbssituation von V. 3–7, die vielleicht schon in dem Imperativ παραθεῖτε (V. 2) anklingt, der ja neben ‚ignoriert!‘ auch ‚übertrefft!‘ heißen kann, fortgesetzt wird und Poseidipp entweder dafür plädiert, dass zukünftige Agone nicht zwischen alten und modernen Werken, sondern nur noch zwischen Schülern und Nachahmern Lysipps stattfinden sollten (Angiò 2004b), oder erklärt, dass Lysipp sich auch in jedem Wettstreit mit modernen Konkurrenten als Höhe- und Endpunkt (πέραϲ) der Bronzebildhauerei erweisen würde (Austin).

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63 Gegenstand des ersten der acht auf das programmatische Einleitungsepigramm folgenden Epigramme, die jeweils ein einzelnes Kunstwerk vorstellen, ist eine Porträtstatue des Philitas von der Hand des Hekataios. Der Text des längsten Andriantopoiikon (und eines der längsten Epigramme der Mailänder Sammlung) ist recht gut erhalten. Die wenigen Lücken beeinträchtigen das Gesamtverständnis nicht. X

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τ̣όνδε Φιλίται χ̣[αλ]κ̣ὸν̣ [ἴ]ϲ̣ο̣ν̣ κα̣τὰ πάνθ{α} Ἑκ̣[α]τ̣αῖοϲ ἀ]κ̣[ρ]ι̣β̣ὴϲ ἄκρουϲ̣ [ἔπλ]α̣ϲ̣ε̣ν εἰϲ ὄνυχαϲ, καὶ με]γ̣έθει κα̣[ὶ ϲα]ρ̣κ̣ὶ τὸν ἀνθρωπιϲτὶ διώξαϲ …]ν’, ἀφ’ ἡρώων δ’ οὐδ̣ὲν ἔμε̣ιξ{ε} ἰδέηϲ, ἀ̣λλὰ τὸν ἀκρομέριμν̣ον ὅλ̣[.. κ]α̣τεμάξατο τέχ̣νηι̣ πρ]έ̣ϲβυν, ἀληθείηϲ ὀρ̣θὸν̣ [….] κ̣ανόνα· αὐδήϲ]οντι δ’ ἔοικε̣ν̣, ὅϲωι πο̣ι̣κ̣ί̣λ̣λεται ἤθει, ἔμψυχ]ο̣ϲ, καίπερ χάλκεοϲ ἐὼν ὁ γέρων· .] Πτολε]μ̣αίου δ’ ὧδε θ̣εοῦ θ’ ἅμα καὶ βαϲιλῆοϲ ……]α̣ι Μουϲέ{ι}ων εἵνεκα Κῶιοϲ ἀνήρ.

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16 Φιλίτα Handley 2004  πανταε.[.]τ̣αιοϲ P  18 ἀμφὶ] ῥ̣έθει De Stefani 2003 ἐν με]γ̣έθει Ferrari per litt.  κὰ̣[μ (διώξαϲ) Livrea 2007  19 γνώμο]ν’ ed. pr., min. : ῥυθμό]ν Tammaro 2004 : κόϲμο]ν Lapini 2007 (def. Ferrari per litt.) : χαλκό]ν vel πηλό]ν Livrea 2007  20 ὅλ̣[ηι ed. pr., min. : ὅλ̣[ωϲ vel ὅλ̣[ον Lapini 2003b (ὅλ̣[ον def. Livrea 2007)  21 [ἔχων] ed. pr., min. : [ἄγων] De Stefani 2002  22 ϲυννοέ]οντι Gärtner 2006 (v. Schröder 2008) : ζητήϲ]οντι Livrea 2007  ἰν̣ δ̣ ά ̣ ̣λλ̣ εται Livrea 2007  23 ἰϲχαλέ]ο̣ϲ Livrea 2007 : ἐμψύχ]ω̣ϲ Ferrari per litt.  χαλκὸϲ ἐὼν Führer ap. Bernsdorff 2002 : χάλκεοϲ ὢν Livrea 2007  24 ἐκ Πτολε]μ̣αίου Gascou in ed. pr., min. (def. Belloni 2008) : ἐν Πτολε]μ̣αίου Bernardini-Bravi 2002 (def. Livrea 2007, Ferrari per litt.) : τοῦ dub. Lapini 2007  βαϲιλειοϲ P  25 ἄγκειτ]α̣ι ed. pr., min. (Angiò 2003d: 43, Esposito 2004, Meliadò 2004, Sens 2005, Belloni 2008, Ferrari per litt.) : ἄγκειμ]αι̣ Scodel 2003 : ἔϲτη (vel κεῖται) κ]αὶ̣ Lapini 2007

Diese Bronze, dem Philitas in allem gleich, hat Hekataios genau bis zu den Spitzen der Nägel geformt, (und) in Größe und (Körperfülle) folgte er dem menschlichen […] und von der Heroen Gestalt mischte er nichts hinein, sondern den tief Nachdenklichen formte er ab mit ‹seiner› (ganzen) Kunst, den Alten, als der Wahrheit wahren […] Maßstab. Einem der (‹gleich› sprechen wird), gleicht er; mit wie viel Charakter ist er kunstvoll gestaltet! (Er atmet,) auch wenn er aus Bronze ist, der Greis. […] des Ptolemaios hier, des Gottes und Königs zugleich, […], der Musen wegen, der Koische Mann. V. 1: τ̣όνδε Φιλίται χ̣[αλ]κ̣ὸν̣ [ἴ]ϲ̣ο̣ν̣ κα̣τὰ πάνθ{α}: Philitas: Der um 340 auf der Insel Kos geborene Dichter und Philologe lebte und arbeitete längere Zeit als Erzieher Ptolemaios’ II. Philadelphos am Hof in Alexandria und in der berühmten Bibliothek. Sein Einfluss auf die hellenistische (und in ihrer Folge auch auf die römische) Literatur war offenbar beträchtlich. Auch wenn von seiner Poesie (Elegien, Epigramme und Epyllien) nur Bruchstücke erhalten sind, ist deutlich,

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dass der ποιητὴϲ ἅμα καὶ κριτικόϲ (Strabo 14.657), den Kallimachos (ait. 1.9.12) und Theokrit (eid. 7.40) als nachahmenswerten Meister gepriesen haben, als „der erste unter den neuen Künstlern“ gelten kann, „der nach artistischer Vollkommenheit auf knappem Raum strebte“ (Pfeiffer 1970, 116) und poetische Raffinesse mit philologischer Gelehrsamkeit verband (Testimonia und Fragmente jetzt bei Spanoudakis 2002). — χαλκόϲ: die Bronze‹statue›; in 65 spielt Poseidipp mit den beiden Bedeutungen ‚Bronze‘ und ‚Statue aus Bronze‘. – Handley (2004, 143) hat vorgeschlagen, statt des Dativs Φιλίται den Genitiv Φιλίτα (zu χαλκόν, ‚diese Statue des Philitas‘) zu lesen, weil er ἴϲον κατὰ πάντα als ‚in allen Teilen perfekt proportioniert‘ verstehen möchte und nicht als ‚in jedem Detail gleich‘, d. h. ähnlich; an der angegebenen Parallelstelle (Plin. nat. 34.85) heißt aequalitas aber sicher nicht ‚richtige Proportion‘, sondern ‚gleichmäßige Qualität ‹der Kunstwerke›‘. Es geht Poseidipp, wie V. 2 zeigt, nicht primär um die richtigen Proportionen des Kunstwerks, sondern um die Ähnlichkeit mit dem Dargestellten, den detailgetreuen (ἴϲον κατὰ πάντα) Realismus, mit dem Hekataios Philitas porträtiert hat. — Ἑκ̣[α]τ̣αῖοϲ: Der Bildhauer (DNO 2643 f.), der die Statue des Philitas geschaffen hat, war bis zum Fund des Mailänder Papyrus ein Unbekannter, wenn er nicht (was denkbar, aber wenig wahrscheinlich ist) mit dem Silbertoreuten (caelator argenti) identisch ist, den Plinius zweimal erwähnt (nat. 33.156; 34.85; vgl. DNO 4045). V. 2 ἀ]κ̣[ρ]ι̣β̣ὴϲ: (detail)genau; präzise, sorgfältig; vgl. Pollitt 1974, 117–125; zur ἀκρίβεια des Hekataios s. Interpret.. — εἰϲ ὄνυχαϲ: ‚bis zu den ‹Fuß-›Nägeln‘, d. h. bis ins letzte Detail; die Redewendung findet sich wiederholt in der Form ‚vom Kopf bis zu den Füßen/Fußnägeln‘ (vgl. AP 12.93.9 f.; AP 9.709.4); zu der Kurzform vgl. Dion. Hal. Dem. 13: εἰϲ ὄνυχα; lat. ad unguem (Hor. ars 323); zur Bedeutung vgl. Brink, C. O. 1971: Horace on Poetry. The ‚Ars Poetica‘, Cambridge: ad loc.; die Wendung ist hier noch durch ἄκρουϲ gesteigert: ‚bis zu den Spitzen der Fußnägel‘; vgl. d’Anjour, A.J. 1999: Ad Unguem, AJPh 120: 411– 427; ob Poseidipp auf einen berühmten Ausspruch Polyklets (χαλεπώτατον αὐτῶν (?) τὸ ἔργον οἷϲ ἂν εἰϲ ὄνυχα ὁ πηλὸϲ ἀφίκηται [‚die Arbeit ‹ist› dann am schwierigsten, wenn der Ton zum Fingernagel kommt‘]) anspielen wollte (40 B 1 Diels-Kranz; vgl. DNO 1259 f.) muss zwar letztlich offenbleiben, ist aber sehr wahrscheinlich. V. 3 f. καὶ με]γ̣έθει κα̣[ὶ ϲα]ρ̣κ̣ὶ: ‚nach Größe und Leibesfülle/Umfang‘ (ϲάρξ ‚Fleisch‘, ‚Leib‘, ‚Körper‘). Bernsdorff (2002, 22 f.) hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Verbindung von Größe und Leibesfülle die beiden typischen Merkmale episch-heroischer Körper benennt, und dafür auf die formelhafte Verbindung μείζονα καὶ πάϲϲονα in den Verschönerungsszenen der Odyssee verwiesen (Hom. Od. 6.230; 8.20; 18.195; 23.157; 24.369). Poseidipp evoziert die epische Formel als Folie für Hekataios’ Gestaltung, der seinen Philitas nicht heroisch, sondern ἀνθρωπιϲτὶ ‚in ganz gewöhnlichem menschlichen Maß‘ dargestellt hat, ohne irgendetwas Heroisches ‚beizumischen‘ (V. 4); die Metapher μείγνυμι gewinnt ihre besondere Pointe aus der Tatsache, dass Hekataios als Bronzegießer tätig ist. Dass Poseidipp in V. 3 auch auf die anekdotisch bezeugte Magerkeit des Dichterphilologen (und zugleich auch auf seine poetische λεπτότηϲ) anspielen wollte, ist möglich, aber nicht so sicher, wie Bernsdorff (2002, 23 f.) meint. — ....]ν’: Von den Vorschlägen für den Anfang von V. 4 verdient ῥυθμό]ν (‚Gestalt‘, ‚Form‘) als Terminus der Kunstkritik den Vorzug gegenüber dem allgemeinen γνώμο]ν’ (‚‹Winkel-›Maß‘, ‚Regel‘) und dem ganz unspezifischen κόϲμο]ν (‚Schmuck‘, ‚Ordnung‘). — ἀνθρωπιϲτὶ: das Adverb, das bisher nur in der Bedeutung ‚mit menschlicher Stimme‘ bezeugt war (Soph. fr. 827 Radt), muss hier ‚in menschlicher Art und Weise‘ heißen und attributiv gebraucht sein.

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Andriantopoiika 63

V. 5 ἀκρομέριμν̣ον: Das hapax bezeichnet den ‚tief/gründlich nachdenkenden‘ Philitas als akribischen Denker und Forscher; in AP 7.78.3 wird Eratosthenes von Kyrene in ganz ähnlicher Weise als ἄκρα μεριμνήϲαϲ bezeichnet. Poseidipp dürfte das Wort gebildet haben, um die akribische Arbeit des Bildhauers Hekataios (V. 1 f.) und die intensiven philologischen und poetischen Studien des Dargestellten zu parallelisieren (s. Interpr.). — ὅλ̣[. . κ]α̣τεμάξατο τέχ̣νηι: καταμάϲϲομαι ‚formen‘, ‚abbilden‘, ‚modellieren‘, (zu μάϲϲω: ‚kneten‘) tritt als neues Kompositum zu den bereits bekannten Komposita: ἀπομάϲϲω, -ομαι und ἐκμάϲϲω, -ομαι. – Statt ὅλ̣[ηι (ed. pr.) sind auch ὅλ̣[ωϲ oder ὅλ̣[ον (Lapini 2003b) denkbar, die gut zu ἴϲον κατὰ πάντα (V.1) passen würden. V. 6 πρ]έ̣ϲβυν: Die Ergänzung des ersten Worts ist sicher (s. V. 8: γέρων); es ist das einzige sichere Zeugnis dafür, daß Philitas alt geworden ist (vgl. auch Hardie 1997, 32 f.). — ἀληθείηϲ ὀρ̣θὸν̣ [….] κ̣ανόνα: κανών: ‚Maßstab (der Zimmerleute)‘, ‚Maß‘, ‚Regel‘, ‚Vorschrift‘; im Kontext eines Gedichts über eine Statue (und im weiteren Kontext der Andriantopoiika) evoziert der Begriff den berühmten Kanon Polyklets; ὀρθόϲ klingt dann wie eine kritische Korrektur; ἀλήθεια: ‚Lebensechtheit‘ (lat. veritas) ist ein Zentralbegriff der hellenistischen Kunstkritik für den zeitgenössischen Realismus; vgl. Pollitt 1994, 125–138; zum ὀρθὸϲ κανὼν ἀληθείαϲ vgl. auch Stewart 2005, 197–205 und Stähli 2010, 48 f. – Die Lücke kann nur durch das Partizip eines transitiven Verbs (wie ἔχω oder ἄγω) gefüllt werden. V. 7 ]οντι δ’ ἔοικε̣ν̣: Die Ergänzung zu αὐδήϲ]οντι δ’ ἔοικε̣ν ist von den meisten Interpreten akzeptiert worden. Sie kann sich nicht nur auf zahlreiche sprachliche Parallelen stützen (vgl. ed. pr., Angiò 2003d, Belloni 2008), sondern auch darauf, dass der Gedanke, dass ein Kunstwerk so lebensecht ist, dass man meint, es könne oder werde gleich sprechen, ein Topos ekphrastischer Gedichte ist, von dem auch Poseidipp im direkt folgenden Epigramm 64 Gebrauch gemacht hat (vgl. auch 69 mit dem sprechenden Tydeus des Myron). Dennoch ist der Einwand von Gärtner gewichtig, der fragt, „ob die ‚lebensnahe‘ Darstellung des doch offenbar grüblerischen und introvertierten Greises (vgl. V. 5 ἀκρομέριμν̣ον) sinnvollerweise auf den Eindruck hinauslaufen kann, dass er ‚gleich zu sprechen anheben wird‘?“ Gärtner schlägt aus diesem Grund ϲυννοέ]οντι (‚nachdenklich‘) vor (2006, 83 f.). Wenn das richtig ist, hat das auch Auswirkungen auf die allgemein angenommene intertextuelle Verbindung des Epigramms mit AP 16.120 (s. Interpr.). Denn die nach dem Wegfall von αὐδήϲ]οντι noch verbleibende Parallele ἀπεμάξατο – κατεμάξατο dürfte angesichts der Häufigkeit des Verbums kaum für den Beweis ausreichen, dass Poseidipp das Gedicht des Asklepiades (oder Archelaos) verwendet hat. Zur Bedeutung von ἔοικεν s. Stähli 2010, 50 f. — ὅϲωι πο̣ι̣κ̣ί̣λ̣λεται ἤθει: ποικίλλω, ursprünglich ‚Kunstvolles sticken‘ oder ‚weben ‹in vielen Farben›‘ wird für jede Art raffinierter künstlerischer Arbeit verwendet: ‚mit wie viel Charakter ist er (Philitas) kunstvoll ausgearbeitet‘! – Zur Darstellung des ethos vgl. Stewart 2007, 129. V. 8 ἔμψυχ]ο̣ϲ: der Vorschlag der ed. pr. passt gut zu der hier und in weiteren Epigrammen des Zyklus thematisierten Lebensechtheit.

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V. 9 .. Πτολε]: Für die fehlenden beiden Buchstaben vor dem sicheren Genitiv Πτολε]μα ̣ ίου kommen nur ἐκ oder ἐν in Frage. Eine sichere Entscheidung ist nicht möglich. Dass Ptolemaios II. eine Porträtstatue seines Lehrers und Hofdichters Philitas (s. o.) hat aufstellen lassen (ἐκ Πτολεμαίου), ist durchaus wahrscheinlich. Im Falle von ἐν Πτολεμαίου sind mindestens zwei Orte möglich, an denen die Statue aufgestellt worden sein kann: im Palast in Alexandria oder in einem Mouseion, in Alexandria oder in Kos; vgl. Hardie 1997 und 2003; für eine Aufstellung in dem für Arsinoë II. bezeugten Heiligtum auf Kos, in dem auch Ptolemaios geehrt worden sein dürfte (Bernardini-Bravi 2002), gibt es dagegen keinen überzeugenden Grund. – Die Frage, ob die von Poseidipp gepriesene Statue des Hekataios mit der Statue identisch ist, die Hermesianax bezeugt (fr. 7.75–78 Powell), ist, wie Hardie (2003) gezeigt hat, nicht von der Wahl der Präposition in V. 9 abhängig. Es ist keineswegs sicher, dass Hermesianax und Poseidipp die gleiche Statue vor Augen haben. Die Statue des Hekataios kann, wie V. 9 zeigt, erst nach der Vergöttlichung Ptolemaios II. entstanden sein, d. h. nach 272/271; wenn es sich um zwei verschiedene Statuen handelt, dürfte die von Hermesianax bezeugte früher geschaffen worden sein; sein großes elegisches Gedicht mit dem Titel Leontion wird allgemein vor 272/271 datiert. V. 10 .....]α̣ι: Scodel 2003 hat vorgeschlagen, ἄγκειμ]αι zu lesen: „Philitas statue performs the conventional task of a speaking statue by stating the information that the inscription would provide.“ Das ist nicht ausgeschlossen, wäre aber nur durch das keineswegs sichere αὐδήϲ]οντι δ’ ἔοικε̣ν (s. o.) vorbereitet. Das ἄγκειτ]αι der ed. pr. ist vorzuziehen. — Μουϲέ{ι}ων εἵνεκα: ‚dank der Musen‘ oder auch ‚im Namen der Musen‘ kann – wie Hardie zu recht bemerkt – auch zusätzlich als ‚in Anerkennung seiner Musen‘, d. h. seiner Dichtung verstanden werden. Rekonstruktionsvorschlag τόνδε Φιλίται χα]κὸν ἴϲον κατὰ πάνθ’ Ἑκαταῖοϲ ἀ]κριβὴϲ ἄκρουϲ ἔπλαϲεν εἰϲ ὄνυχαϲ, καὶ μεγέθει καὶ ϲαρκὶ τὸν ἀνθρωπιϲτὶ διώξαϲ ῥυθμὸν, ἀφ’ ἡρώων δ’ οὐδὲν ἔμειξ’ ἰδέηϲ, ἀλλὰ τὸν ἀκρομέριμνον ὅληι κατεμάξατο τέχνηι πρέϲβυν, ἀληθείηϲ ὀρθὸν ἔχων κανόνα· συννοεόντι δ’ ἔοικεν, ὅϲωι ποικίλλεται ἤθει, ἔμψυχοϲ, καίπερ χάλκεοϲ ἐὼν ὁ γέρων· ἐκ Πτολεμαίου δ’ ὧδε θεοῦ θ’ ἅμα καὶ βαϲιλῆοϲ ἄγκειται Μουϲέων εἵνεκα Κῶιοϲ ἀνήρ. Diese Bronze, dem Philitas in allem gleich, hat Hekataios genau bis zu den Spitzen der Fußnägel geformt. Auch in Größe und Fülle folgte er der menschlichen Form und mischte nichts von der Gestalt der Heroen hinein, sondern mit seiner ganzen Kunst formte er den grüblerischen Alten nach, mit dem wahren Maßstab der Lebensechtheit: Einem, der überlegt, gleicht er; mit wie viel Charakter ist er kunstvoll gestaltet! Er atmet, auch wenn er aus Bronze ist, der Greis.

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Andriantopoiika 63

Auf Veranlassung des Ptolemaios, der Gott und König zugleich ist, ist er hier aufgestellt, in Anerkennung seiner Musenkunst, der Mann aus Kos. Im Einleitungsepigramm 62 ist das zentrale Kriterium, an dem, wie sich in den folgenden Epigrammen zeigt, die Qualität eines Kunstwerks gemessen wird, nur indirekt in der verpflichtenden Anrede der Bildhauer als ζωιοπλάϲται und in der negativen Charakterisierung der veralteten Werke als starr (ϲκληροὶ τύποι) evoziert. Im ersten der folgenden acht Epigramme, die exemplarische Kunstwerke vorstellen, wird es mit immer neuen Formulierungen in allen seinen Aspekten entfaltet: Lebensechtheit und Lebendigkeit. Gleich im ersten Vers stellt Poseidipp – in mimetischer Wortstellung – Philitas und seine Bronze direkt nebeneinander und erklärt dann, dass sich der Dichter und sein bronzenes Ebenbild in jeder Hinsicht gleichen. Erst dann nennt er den Künstler, der das Werk geschaffen hat und setzt in V. 2 hinzu, auf welche Weise dieser das Ideal der modernen Kunst erreicht hat: er hat die Figur mit großer Präzision bis ins letzte Detail geformt. ἀκρίβεια ist ein zentraler Begriff der antiken Kunstkritik,25 der die auf großer Sorgfalt26 beruhende Präzision der Arbeit und der sich daraus ergebenden Genauigkeit und Perfektion der Abbildung bezeichnet. Das zweite Distichon lenkt den Blick des Betrachters von den Details auf die gesamte Erscheinung, auf Größe und Körperbau des Dargestellten, und betont explizit, was im ersten Distichon bereits impliziert ist, dass Hekataios Philitas realistisch – als den Menschen, der er ist – dargestellt und ihn nicht etwa dadurch idealisiert hat, dass er ihm Züge eines Heroen verliehen hat.27 Das folgende zentrale Distichon des Epigramms enthält auch seine zentrale Aussage: Die Perfektion der Darstellung beruht nicht etwa lediglich auf der Präzision in der Wiedergabe der äußeren Erscheinung; der Künstler hat auch die wesentliche Eigenschaft des Dargestellten erfasst und sichtbar gemacht, die Poseidipp mit dem Adjektiv ἀκρομέριμνοϲ, das er wahrscheinlich extra für diese Stelle gebildet hat, treffend bestimmt. ‚Tiefsinnend‘ und – wenn Poseidipp, was wahrscheinlich ist, mit der Wortbildung auf V. 2 zurückverweisen will – auch ‚der, der als Forscher und Dichter die größte Sorgfalt auf das kleinste Detail verwendet‘ passen gut zu dem Bild, dass wir uns von dem Dichterphilologen Philitas machen können. ὅληι τέχνηι: ‚unter Aufbietung aller seiner künstlerischen Fähigkeiten‘ nimmt das Ideal der Akribeia wieder auf28 und wird dann mit dem Zusatz ἀληθείαϲ ὀρθὸν [ἔχων] κανόνα erweitert und vertieft. Dass Poseidipp mit der Formulierung auf Polyklets Kanon anspielt, kann angesichts der Berühmtheit der theoretischen Schrift als sicher gelten. Der Zusatz ‚gerade‘, ‚richtig‘ (ὀρθόϲ) kann dann kaum anders als korrigierend gemeint sein: der richtige Maßstab ist nicht der Polykletische mit seiner mathematisch präzisen Bestimmung der Proportionen des menschlichen Körpers, sondern, wie der explikative Genitiv ἀληθείαϲ deutlich macht, die Wahrheit, d. h. die Lebensechtheit des Dargestellten. Der Begriff, der in vielen kaiserzeitlichen Quellen erscheint, aber sicher bereits ein Zentralbegriff der hellenistischen Kunstkritik gewesen ist,29 bezeichnet zunächst einmal die realistische Abbildung der natürlichen Erscheinung eines Gegenstands (similitudo). Die ἀλήθεια des Philitasporträts ist also das Ergebnis der in den ersten Versen des Epigramme gepriesenen akribeia des Hekataios. Das Wort kann aber – und das Epitheton ὀρθόϲ mag anzeigen, dass Poseidipp eben dies meint – auch die wirkliche Natur der Dinge, ihre tiefere 25 26 27 28 29

Pollitt 1974, 117–125. Im Lateinischen fungiert diligentia (diligens) als Übersetzung von ἀκρίβεια (ἀκριβήϲ). Zur Heroisierung des Philitas vgl. Hardie 1997 u. 2003. Der Begriff schließt nach Pollitt (1974, 124 f.) auch die Beherrschung der theoretischen Grundlagen und Arbeitsprozesse ein. Pollitt 1974, 125–138.

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Wahrheit (veritas) bezeichnen. Wenn Hekataios seine Arbeit an dem richtigen Maßstab der Wahrheit orientiert, dann zielt er nicht nur auf die genaueste Ähnlichkeit (akribeia) seiner Statue mit dem realen Philitas, sondern auch darauf, die tiefere Wahrheit hinter seiner äußeren Erscheinung darzustellen: sein Wesen.30 Gärtners Vorschlag, am Anfang von V. 7 nicht ‚er gleicht einem, der gleich sprechen wird‘ (αὐδήϲοντι), sondern ‚er gleicht einem in sein Denken Versunkenen‘ (ϲυννοέοντι) zu lesen, passt in der Tat gut zu Philitas und zum Kontext.31 Wenn damit das Richtige getroffen ist, wird der Kernbegriff der neuen Ästhetik im Zentrum des Gedichts eingerahmt von zwei Attributen, die den bestimmenden Charakterzug des Dichterphilologen Philitas und seine Arbeitsweise auf den Punkt bringen; und Poseidipp betont das noch eimal mit dem bewundernden Ausruf: ‚mit wie viel Charakter ist er dargestellt!‘, der besser an ϲυννοέοντι als an αὐδήϲοντι anschließt. Wenn das von den meisten Interpreten übernommene αὐδήϲοντι richtig ist, dann bereitet Poseidipp bereits an dieser Stelle den Schlussgedanken vor, mit dem er in V. 10 das Ergebnis der Arbeit des Hekataios zusammenfasst. Der alte Mann ist zwar aus Bronze, d. h. ein Kunstwerk; er gleicht aber dem wirklichen Philitas in jeder Hinsicht so vollkommen, dass er gleichsam lebt und atmet. Zwar ist auch die Ergänzung ἔμψυχοϲ am Anfang von V. 10 nur eine Konjektur; daran, dass Poseidipp am Ende seiner Beschreibung der Statue als Höhepunkt den letzten Schritt von der Lebensechtheit (V. 6) zur Quasi-Lebendigkeit macht, kann aber – wie der erhaltenen Teil des Verses zeigt – kaum ein Zweifel bestehen. Unter die fünf Distichen, in denen er die Statue des Hekataios preist, hat Poseidipp ein Schlussdistichon gesetzt, das, wie eine Inschrift auf der Basis einer Weihung, unter sein poetisches Weihgeschenk an den Künstler und den von ihm porträtierten Dichter tritt. Zugleich huldigt Poseidipp damit aber auch seinem Herrn, Ptolemaios II., und schließlich ist es nicht ausgeschlossen, dass er mit den letzen beiden Versen implizit auch den Wunsch an Ptolemaios richtet, einmal ebenso wie Philitas ‚in Anerkennung seiner Musen‘ (εἵνεκα Μούϲεων) geehrt zu werden.32 Mehrere Interpreten haben darauf hingewiesen, dass das Epigramm auf die Porträtstatue eines bedeutenden Dichters von der Hand eines bedeutenden Künstlers nicht nur als ein Stück poetischer Kunstkritik zu lesen ist, sondern auch als poetologische Aussage: Die auf Perfektion zielende Sorgfalt und Genauigkeit im Detail (V. 2) und der unheroische Realismus des Hekataios (V. 4) sind auch Ideale des ἀκρομέριμνοϲ Philitas, der keinerlei heroische Züge aufweist. Beides sind Ideale, die bildende Kunst und Dichtung der Zeit teilen und die – wie das Epigramm, mit dem er ihnen ein Denkmal gesetzt hat, zeigt – auch Poseidipp unterschreibt. 30 31

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Vgl. auch Stähli (2010, 50 f.), der in diesem Zusammenhang Halliwells Begriff der expressiven Mimesis verwendet. Für diesen Vorschlag spricht auch die Tatsache, daß die 1770 bei Crest gefundene Marmorbüste (s. DNO I 766 u. Prioux, E. 2008: Le portrait perdu et retrouvé du poète Philitas de Cos: Posidippe 63 A.-B. et IG XIV 2486, ZPE 166: 66–72), die inschriftlich als Φιλείταϲ bezeichnet ist und dem Stil zufolge als Kopie des 3. Jh.s v. Chr. interpretiert, d. h. mit den (bzw. einem der beiden) bezeugten Porträt(s) des Philitas verbunden werden kann (s. Komm. zu V. 10), den Dichter mit geschlossenem Mund zeigt. – Der in sechs Kopien erhaltene sog. ‚poeta Borghese‘ kann dagegen kein Porträt des Philitas sein. Die Identifizierung, die Tsantsanoglou (2012) wahrscheinlich zu machen versucht hat, ist verführerisch, scheitert aber daran, dass der auf einem Thron sitzende sog. Alte Dichter (beste Kopie in der Ny Carlsberg Glyptothek in Kopenhagen) recht beleibt ist (vgl. dazu bereits Stewart 2007, 131 f.), während der Philitas des Hekataios sicher außergewöhnlich dünn war: An der vielfach bezeugten leptotes (Magerkeit, Zartheit) des ‚realen‘ Philitas kann kein Zweifel bestehen. An anderer Stelle hat Poseidipp seinen Wunsch explizit zum Ausdruck gebracht, eines Tages mit einer Statue auf dem Marktplatz seiner Heimatstadt Pella geehrt zu werden (SH 705.16 f.); zu der sogenannten Sphragis vgl. Lloyd-Jones 1990, 180 f.

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64 Gegenstand des sehr schlecht erhaltenen Epigramms ist eine Bronzegruppe der beiden kretischen Helden Idomeneus und Meriones von der Hand des kretischen Bildhauers Kresilas. X

26 27 28 29

..]ν̣….ειδομενειαθελων χάλκειον ε.ε̣ι̣.[ .ρηϲιλεωϲ ἄκρωϲ ἠργάϲατ’ ειδομενευ ..υ̣[..] Ἰδομενεύϲ αλ̣[.].γα̣.μ̣ηριοναθ̣ει …….]πλαϲται δ.[.…]ν̣η̣τοϲεων.

1 2 3 4

26–27 αἴ]νε̣ έ̣ ̣ γ{̣ ε} Ἰδομενῆα θέλων χάλκειον ἐκε̣ ῖ̣ ν̣ [̣ ον | Κρ̣ ηϲίλα· ὡϲ ἄκρωϲ ἠργάϲατ’ εἴδομεν εὖ ed. pr., min  26 θιγών et ἐκ̣ε̣ί̣ν̣[ου Lapini 2007  27 Κ̣ρηϲίλεω Lapini 2002  ὡϲ ἄκρωϲ ‹ϲ›’ ἠργάϲατ’, Ἰδομενεῦ Lapini 2003b : Κ̣ρηϲίλεω· ϲ’ ἄκρωϲ εἰργάϲατ’, Ἰδομενεῦ Luppe 2003c : εἴδομεϲ εὖ Janko 2005  28 γ]α̣ρ̣ύ̣[ει] Ἰδομενεύϲ· ‘ἀλ̣[λ’] ὦ̣’ γα̣θ̣ὲ̣ Μ̣ηριόνα, θ̣εῖ, ed. pr., min. : γ]ά̣ρ̣υ̣[εν] vel γ]α̣ρ̣ύ̣[οι] vel γ]ά̣ρ̣υ̣’ [ἄν] Lapini 2007 : αὐ]δ̣ᾶ̣ι̣ [δ’ Ε]ἰδομενεύϲ Luppe 2003c  29 νωθείαι] πλαϲτᾶι Austin 2001a : ἀλγέω δὲ] πλάϲται ? ed. min. : καίπερ ὑπὸ] πλάϲται Angiò 2002a : πέ]πλαϲται δ’ ἀν[τ- vel δ’ ἀν[κ(γ, χ)- Lapini 2003b : ὣϲ ἐκπέ]πλαϲται De Stefani 2003 : ἄχθει τῶι] πλάϲται (et ἐών) Handley 2004 (v. Angiò 2007b) : πὰρ ζωιο]πλάϲται Janko 2005 : ἐνδέδεϲαι] πλάϲται De Stefani 2007 : [κνήμαιϲι] πλαϲταῖ‹ϲ› μή [πω ἄκαμ]π̣τοϲ ἐών Luppe 2003c  δὰ̣ν̣ [ἀδό]ν̣η̣τοϲ ἐών’ ed. pr., min. : [ἀνό]ν̣η̣τοϲ Lapini 2002, Luppe 2003c : [ἀπό]ν̣η̣τοϲ Angiò 2002a : δα̣ι̣[δαλο]ε̣ρ̣γ̣ὸϲ ἐών De Stefani 2003

[…] (den Idomeneus?) bereitwillig, bronzenen […] (des Kresilas); sorgfältig hat er gearbeitet (Idomeneus?) […] Idomeneus […] (Meriones, lauf?) […] (Bildhauer ?) […] seiend. Es scheint, dass Poseidipp für das Epigramm einen Dialekt gewählt hat, der zu dem kretischen Künstler und den beiden von ihm porträtierten kretischen Helden passt (vgl. auch 67). Idomeneus und Meriones, werden im Schiffskatalog der Ilias als Führer des kretischen Kontingents (2.645–652) bezeichnet; im weiteren Verlauf des Epos erscheint der jüngere Meriones als Gefolgsmann und „liebster Gefährte“ des älteren Idomeneus. Ein anonymes Epigramm gibt den beiden Helden ein gemeinsames Grab (AP 7.322); Straton von Lampsakos sieht die beiden Freunde als homoerotisches Paar (AP 12.247). – Auch wenn der korrupte Text nur an wenigen Stellen Hinweise darauf bietet (vgl. V. 3 Μηριόνα), kann bei der philologischen Rekonstruktion des Verlorenen wohl davon ausgegangen werden, dass nicht nur der Kreter Idomeneus ein kretisches Dorisch spricht, sondern das gesamte Epigramm in diesem Dialekt geschrieben ist. Auszuschließen ist die Möglichkeit von Dialektmischung allerdings nicht33 (s. Komm. zu V. 2); zudem waren um 300 v. Chr. bereits Formen der Koiné in das Kretische eingegangen. Zum kretischen Dialekt des Epigramms vgl. Sens 2004, 75 f. und ders. 2005, 217 f., sowie Janko 2005; allgemein zu in dorischem Dialekt geschriebenen Epigrammen und zur Verwendung des Dorischen erstens in „Beziehung zu bestimmten Gegenstandsbereichen“ und zweitens „als ethopoietisches Mittel“ vgl. Kerkhecker, A. 1991 (d. h. noch ohne die

33

Anders Janko 2005, 127: „In each epigram where he (sc. Poseidippus) uses some Doric forms, the remaining ones should be restored throughout.“

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Kenntnis des Neuen Poseidipp): Zum neuen Hellenistischen Weihepigramm aus Pergamon, ZPE 86: 27–34.34 V. 1 ειδομενειαθελων χάλκειον: Der erste Teil der Buchstabenfolge lässt sich als dorischer Akkusativ von Idomeneus Ἰδομενῆα lesen. Das ε kann entweder als Hyperkorrektur verstanden werden, mit der der Schreiber einen vermeintlichen Iotazismus (Luppe 2003c) rückgängig machen wollte, oder zum vorangehenden Wort gehören (ed. pr.). Am Anfang des Verses muss eine finite Form eines transitiven Verbs gestanden haben, zu der das modale Partizip θέλων gehört und von dem der Akkusativ Ἰδομενῆα χάλκειον abhängig ist: der allgemein akzeptierte Vorschlag αἴν̣εέ (…) θέλων: ‚preise bereitwillig/gern‘ könnte das Richtige treffen; zum Gebrauch von θέλων in Bitten und Aufforderungen (zur Betonung, dass der Gebetene sich nicht lange bitten lassen soll) vgl. z. B. Hom. Il. 10.291; Sapph. 2.13 Voigt. Der Imperativ der ed. pr. ist parallel zu dem Imperativ μιμ[ή]ϲαϲθε in 62.1 gebildet (ebenfalls am Gedichteingang). Zum Adressaten des Imperativs vgl. Komm. zu V. 2. — ε.ε̣ι̣.[: Am Ende des Verses ist ἐκείνου als Attribut zu dem Genitiv am Anfang von V. 2 vorzuziehen (Lapini 2007); ein auf χάλκειον bezogener Akkusativ ἐκεῖνον (ed. pr.) würde die Bronzestatue in eine zeitliche oder räumliche Distanz rücken; das aber erscheint angesichts der in V. 3 f. imaginierten Szene als nicht sinnvoll (vgl. auch Komm. zu V. 2). V. 2 .ρηϲιλεωϲ: Es ist unklar, in welcher Form der Name des Kresilas erscheint und wo das anschließende Wort beginnt. Für die verschiedenen Vorschläge ist nicht zuletzt entscheidend, ob der Interpret davon ausgeht, dass die Verse durchgängig im kretischen Dialekt geschrieben sind, oder bereit ist, auch nicht-kretische Formen zu akzeptieren (zum Dialekt s. o.). Wer Dialektmischung für möglich hält, kann die Buchstabenfolge als ionischen Genitiv von Kresilas (Κρηϲίλεω) verstehen. Das ϲ könnte dann Akkusativobjekt zu ἠργάϲατ’ sein (ϲ’; so Luppe 2007) – dagegen spricht allerdings die nach der lex Wackernagel verbotene Voranstellung des Personalpronomens – oder, zusammen mit einem ausgefallenen zweiten ω (d. h.: ὡϲ), einen bewundernden Ausruf einleiten: „Wie sorgfältig hat er (dich) gearbeitet!“ (so Lapini 2002, der das gewünschte Personalpronomen nach ἄκρωϲ einschiebt). Wer von einer einheitlichen Dialektfärbung des Epigramms ausgeht, muss annehmen, dass der Schreiber statt des Genitivs Κρηϲίλα versehentlich Κρηϲίλε geschrieben hat und dass mit ὡϲ der Ausruf beginnt (für die Einleitung eines bewundernden ὡϲ ἄκρωϲ vgl. z. B. AP 16.182.3 f.). In jedem Fall nennt der Genitiv am Anfang von V. 2 den Schöpfer des „bronzenen Idomeneus“ und damit auch das logische Subjekt von ἄκρωϲ ἠργάϲατ’. – Der zur Hochklassik zählende Bildhauer Kresilas (Schaffenszeit 450– 420) stammt aus Kydonia auf Kreta, hat aber möglicherweise auf Ägina 34

Zu einer möglichen ‚politisch-ideologischen‘ Bedeutung des dorischen Dialekts vgl. Fantuzzi-Hunter 2004, 375–377: 376 (im Anschluß an Epigramm 88): „In the new epigram, Philadelphus proudly declares himself ‚nursling of Eordaia‘ (an important province of central Macedonia), and it is this combination of Doric language and Macedonian heritage which calls attention to itself.“ … 377: „Its ‚otherness‘ marks it as the preserver of genuine Greek tradition, and in particular of the rightful claim of the Ptolemies to be the heirs of Heracles and Alexander. … Whereas the Macedonian elite had – whatever the nature of their local dialects – for at least a century adopted the Attic koine in their push for international prestige and power, and it was this standard language which Alexander’s armies carried throughout the world, when indicators of continuity and genuineness were needed, it was to now fading linguistic markers that they and their poets turned. The use of a Doricising language is thus a politically and culturally charged act of repetition.“

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gelebt und gearbeitet (zu Leben und Werk vgl. DNO Nr. 1088–1101 sowie das Resümee S. 349 f. und u. Komm. zu V. 2). Einige Werke des Kresilas sind bei Plinius bezeugt (eine Amazone, 34.53 [DNO Nr. 3]; ein „Verwundeter Krieger“ [DNO Nr. 1] und ein „Olympischer Perikles“, 34.74 [DNO Nr. 4]), andere nur durch Weihinschriften (DNO Nr. 2 u. 6–9), darunter auch die Statue einer Kuh. Das von Poseidipp gepriesene Werk war bisher nicht bekannt; Statuen des Idomeneus und Meriones (als Teil einer mehrfigurigen Gruppe der griechischen Helden vor Troja) sind sonst nur für den spätarchaischen Bildhauer Onatas bezeugt (DNO 507). — ειδομενευ: Diese Buchstabenfolge kann entweder als εἴδομεν εὖ (‚wir haben gut gesehen‘ – wie sorgfältig er dich gearbeitet hat) oder als Vokativ Ἰδομενεῦ (Iotazimus) verstanden werden. Gegen εἴδομεν εὖ spricht das Tempus; die angeblichen Parallelen AP 9.3.22 und AP 16.68.1 bieten Imperative; außerdem passt der Plural nicht gut zu dem Imperat. Sg. αἴνεέ in V. 1 – es ist nicht erkenntlich, warum der Sprecher sich für seine Aufforderung Kresilas zu preisen, plötzlich auf die Zustimmung einer größeren Gruppe von Freunden und Kunstbetrachtern bzw. -kritikern stützen sollte. Und was soll das εὖ heißen – „wir haben gut (?) gesehen“? Liest man den Vokativ Ἰδομενεῦ, so liegt es zwar nahe, den Imperativ in V. 1 damit zu verbinden; dann würde Idomeneus aufgefordert, sein bronzenes Ebenbild von der Hand des Kresilas zu bewundern. Es erscheint jedoch als sinnvoller, dass der Imperativ sich an einen nicht näher bestimmten Betrachter des Kunstwerks (und an den Leser) wendet und damit dem ‚didaktischen‘ Gestus entspricht, der die ganze Sammlung der Andriantopoiika bestimmt (s. Interpr.). V. 3 μ̣ηριοναθ̣ει: Am Ende des Verses lassen sich der dorische Vokativ Μηριόνα und der Imperativ θεῖ lesen. Da als vermutlich zweites Wort in V. 3 der Nominativ Ἰδομενεύϲ erhalten ist, liegt die Annahme nahe, dass Idomeneus sich in direkter Rede an seinen Gefährten Meriones wendet und ihn zum Laufen auffordert. Das heißt, dass am Anfang des Verses ein verbum dicendi gestanden haben dürfte. Ob man hier einen Indikativ (multi) oder einen potentialen Optativ (Lapini 2007) von γαρύειν (oder einem anderen Verb) ergänzen möchte, hängt davon ab, wie ‚realistisch‘ man die Verlebendigung des Idomeneus nehmen will. Die Freundschaft von Idomeneus und Meriones ist seit Homer topisch (s. o.) Dass Idomeneus seinen vertrauten Gefährten und Freund hier nicht einfach mit dem Namen anspricht, sondern mit dem umgangssprachlichen ἀλ[λ’] ὦ ’γα[θὲ]: „auf, mein Guter!“, ist deshalb eine sinnvolle Ergänzung der lückenhaften Überlieferung vor μηριοναθει. V. 4 δ.[…]ν̣η̣τοϲεων: V. 4 ist fast völlig verloren; die meisten Ergänzungen gehen davon aus, dass die direkte Rede am Ende von V. 3 in V. 4 fortgesetzt wird. Nur über das Ende des Verses kann eine einigermaßen sichere Aussage getroffen werden: Dort steht vermutlich das Partizip ἐών, das sich wahrscheinlich auf den apostrophierten Meriones bezieht, dessen Verhältnis – kausal oder konzessiv – zum Imperativ in V. 3 aber unklar ist. Ergänzt wird es durch ein auf -νητοϲ endendes Adjektiv; der Vorschlag der ed. pr. fügt sich gut ein: δὰν ἀδόνητοϲ ἐών: ‚der du schon lange unbeweglich dastehst‘; möglich wären aber auch ἀπό]νητοϲ: ‚ohne die Arbeit/Mühe des Kampfes‘ (Angiò 2002a) oder ἀνό]νητοϲ (Lapini 2002): ‚nutzlos‘. — πλαϲται: Die Deutung dieser Buchstabenfolge, die nach einer Lücke von sieben Buchstaben erhalten ist, hängt von dem Verständnis des verlorenen Adjektivs am Versende ab. Theoretisch kann es sich bei πλαϲται um ein Substantiv (dor. Dat. Sg. von πλάϲτηϲ oder ζωιοπλάϲτηϲ), um ein Adjektiv (Dat. Sg. Fem. von πλαϲτόϲ) oder um das Ende einer Verbform (z. B. πέ]πλαϲται oder ἐκπέ]πλαϲται) handeln. Bisher hat sich kein Ergänzungsvorschlag gefunden, der mit einem Verb auf -πλαϲται

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den Vers sinnvoll an V. 4 anschließt; außerdem ist es unwahrscheinlich, dass Idomeneus nicht mehr als „lauf!“ ruft, wie das bei einem Subjektwechsel in V. 4 anzunehmen wäre. Austins adjektivische Lösung νωθείαι πλαϲτᾶι (Sinn: „der du schon lange in einer (vom Künstler) geschaffenen Untätigkeit (als Statue) dastehst“) – fügt sich zwar glatt in die Konstruktion ein, ist aber, jedenfalls in der von Austin vorgeschlagenen Kombination mit [ἀδό]νητοϲ (‚unbeweglich‘) wegen des doppelten Hinweises auf die Unbeweglichkeit bzw. die Starrheit des Kunstwerks unbefriedigend. Auch die bisherigen Vorschläge, die πλαϲται als Substantiv verstehen, sind nicht überzeugend: So passt das von Poseidipp in 62 verwendete ζωιοπλάϲτηϲ zwar gut zur hier verhandelten Verlebendigung der Statuen (s. Interpr.); Jankos Konjektur πὰρ ζωιο]πλάϲται (2005) setzt jedoch für die Antike nicht bezeugte Modellsitzungen voraus.35 Der Vorschlag der ed.min. ἀλγέω δὲ πλάϲται: „Ich ärgere mich über den Bildhauer“ ist als Antwort auf die Aufforderung zu laufen ebensowenig überzeugend wie Handleys Frage ohne Fragepartikel: ἄχθει τῶι πλάϲται; (2004). Angiòs (2002a) Vorschlag καίπερ ὑπὸ] πλάϲται kann sich immerhin auf eine Parallele innerhalb der Andriantopoiika stützen (63.8); allerdings ist die Ergänzung wohl zu lang für die Lücke und ὑπό mit dem Dativ (sowie das Fehlen des Artikels) kaum passend; vielleicht also: καίπερ τῶι] πλάϲται: „auch wenn du durch den Künstler (d. h. durch die Arbeit des Künstlers) schon lange unbeweglich dastehst“. Rekonstruktionsvorschlag αἴνεέ γ’ Ἰδομενῆα θέλων χάλκειον ἐκείνου Κρηϲίλα· ὡϲ ἄκρωϲ ἠργάϲατ’, Ἰδομενεῦ! γαρύει Ἰδομενεύϲ· ἀλλ’ ὦ ‚γαθὲ Μηριόνα, θεῖ, καίπερ τῶι πλάϲται δὰν ἀδόνητοϲ ἐών. Preise doch bereitwillig den bronzenen Idomeneus des berühmten Kresilas; wie sorgfältig hat er dich gearbeitet, Idomeneus! Es ruft Idomeneus: „Auf, mein guter Meriones, lauf, auch wenn du durch den Bildhauer schon so lange unbeweglich dastehst!“ Das Epigramm preist eine Bronzegruppe des Freundespaares Idomeneus und Meriones von der Hand des Kresilas, die so genau gearbeitet ist, dass die beiden homerischen Helden zu leben scheinen. Lag beim vorangehenden Gedicht auf den Philitas des hellenistischen Bildhauers Hekataios (63) der Akzent auf dem detailgetreuen Realismus, mit dem die äußere Gestalt und das Ethos des Ahnherrn der hellenistischen Literatur gestaltet sind, so steht in 64 die illusionäre Lebendigkeit der beiden Statuen im Vordergrund. Beide Epigramme betonen die Sorgfalt (ἀκρίβεια) der künstlerischen Arbeit. Sicher ist, dass Poseidipp in V. 1 von einem bronzenen Idomeneus spricht; da dieser im zweiten Distichon offenbar seinen Gefährten Meriones direkt anspricht, dürfte auch dieser in Form einer Statue anwesend gedacht sein. Dass Poseidipp die zweite Statue nicht, wie Luppe (2003) und Lapini (2007) meinen, ausdrücklich hätte nennen müssen, beweist Epigramm 67, wo er nur von dem Miniaturwagen des Theodoros spricht und von seinem Leser erwartet, dass dieser weiß, dass der Wagen Teil eines Selbstporträts 35

Janko 2005, 127; „If this (sc. πὰρ ζωιο]πλάϲται) is correct, the conceit of the poem is that Cresilas’ statue is so lifelike that it was copied from the physical person of the hero himself, who had to sit motionsless for a long time so that the sculptor could copy every detail of his physiognomy.“ („Run, Meriones, / cos’ the sculptor’s long sittings were tedious.“).

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Andriantopoiika 64

ist, das den Künstler mit einer Feile in der einen und einem winzigen Wagen in der anderen Hand zeigt.36 Der Sprecher fordert den Betrachter auf, die von Kresilas geschaffene Bronzestatue des kretischen Heerführers vor Troja, Idomeneus, zu preisen, und begründet das Lob, zu dem er auffordert, indem er ausruft: „Wie sorgfältig hat er (der Künstler) gearbeitet, Idomeneus!“ Es ist denkbar, dass der am Ende von V. 2 im Vokativ Angeredete auch der Adressat des Imperativs am Anfang von V. 1 ist. Allerdings deutet die Formulierung: „Preise den bronzenen Idomeneus“ (nicht: „Preise dein bronzenes Bild“) eher darauf, dass die Aufforderung an einen nicht näher bestimmten Betrachter (bzw. Leser) gerichtet ist und dass der Vokativ Ἰδομενεῦ keine direkte Anrede, sondern lediglich Teil des Ausrufs ist, mit dem der Sprecher seine Bewunderung für die Statue(n) begründet. „Wie genau hat der Künstler (dich) gearbeitet, Idomeneus“ hat also die Bedeutung: „Wie sorgfältig ist dieser Idomeneus gearbeitet!“ Wie hier Idomeneus werden in vielen ekphrastischen Epigrammen der AP die malerisch oder plastisch Porträtierten direkt angeredet.37 Der Vokativ leitet über zu der Überraschung, die das zweite Distichon des Epigramms für den Leser bereit hält. Der Angeredete ist nicht nur – wie der Philitas des vorangegangenen Epigramms 63 – so realistisch dargestellt, dass er zu leben (oder vielleicht sogar zu sprechen) scheint: Er spricht! Er fordert die Statue seines Freundes Meriones auf loszulaufen! Das vage θεῖ lässt offen, wohin der Angesprochene laufen soll. Es scheint, dass sich Kresilas bei der Gestaltung der Gruppe entweder von der Szene des 13. Buchs der Ilias hat inspirieren lassen, in der Idomeneus seinen Freund (und andere Griechen) zu Hilfe, d. h. herbeiruft (13.470 f.), oder an die von Homer kurz zuvor geschilderte Szene denkt, in der sich die beiden Helden im Zeltlager begegnen und Idomeneus den Freund zur Rückkehr auf das Schlachtfeld, d. h. zum Losstürmen, auffordert (13.240 f.). Angesichts von V. 4 ist es interessant zu sehen, dass Idomeneus am Ende dieser homerischen Szene davon spricht, sie sollten besser nicht länger herumstehen! Auf jeden Fall hat Kresilas Meriones im Anschluss an die Ilias offenbar so dargestellt, als wolle er gerade loslaufen. Der Sohn des Molos (von μολεῖν ‚laufen‘?) wird in der Ilias mit den Epitheta πόδαϲ ταχύϲ (13.249 und öfter) und τῶι ἀτάλαντοϲ Ἄρηϊ (13.295 u. ö.) als schneller Läufer charakterisiert. Die letzte Zeile scheint mit der in ekphrastischen Epigrammen immer wieder thematisierten Spannung zwischen der scheinbaren Lebendigkeit des Kunstwerks und ihrer tatsächlichen Unbeweglichkeit zu spielen. Für den die Illusion brechenden Verweis auf den Künstler oder seine Arbeit gibt es zahlreiche Parallelen. Gleichwohl geht es m. E. nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, darum, dem Leser, wie Männlein-Robert (2007, 66–68) meint, indirekt zu verstehen zu geben, dass die Dichtung den fußschnellen Meriones laufen lassen kann, während die Statuen der bildenden

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37

Eine Reihe von Interpreten geht davon aus, dass es sich in V. 2 und 3 bei Idomeneus und Meriones nicht um Statuen, sondern um die ‚realen‘ mythischen Helden handelt. Nach Luppe (2003) ruft Idomeneus, als er aufgefordert wird, „seine Verbronzung zu loben“, seinen Freund dazu auf wegzulaufen, damit er nicht auch „verbronzt“ wird; Lapini (2007) rekonstruiert die von Poseidipp in V. 3 f. angedeutete Situation so, dass die Statue des Idomeneus dem Helden so ähnlich ist, dass Meriones die beiden verwechselt und dieser ihm zurufen muss: „Lauf hierher! Ich bin der richtige Idomeneus!“ Allerdings ist in den anderen Andriantopoiika immer nur von den Künstlern und der besonderen Qualität ihrer Werke die Rede. Die beiden homerischen Helden wollen dazu nicht recht passen. Interpreten, die am Ende von V. 2 nicht Ἰδομενεῦ, sondern εἴδομεν εὖ lesen, gehen davon aus, dass der Sprecher seine Aufforderung, den Idomeneus des Kresilas zu loben, mit einen Hinweis auf eine größere Gruppe von Freunden oder Kunstkritikern stützen möchte, die gemeinsam mit ihm die Statue betrachten und sich über die besondere Qualität der Mimesis einig sind; zu den Problemen dieser Lesart vgl. Komm. zu V. 2.

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Kunst bei aller Lebendigkeit eben doch unbeweglich sind. Thematisiert wird gerade nicht die Unbeweglichkeit und Starrheit der Bronzen. Vielmehr wird Kresilas als ein Künstler gepriesen, der das Unmögliche – fast – möglich machen kann: Seine beiden Statuen sind so realistisch gearbeitet, dass der Betrachter glauben muss, sie könnten sprechen und laufen!38 65 Das Gedicht auf Lysipp als Hofbildhauer Alexanders, das auf dem Mailander Papyrus nur etwa zur Hälfte erhalten ist, ist das einzige aus der Gruppe der Andriantopoiika, das bereits vor der Publikation des Papyrus bekannt war (AP 16.119); die Versanfänge sind zudem auf einem Freiburger Papyrus erhalten (vgl. SH 973), und der erste Vers wird von dem Redner Himerios von Prusa zitiert (Him. or. 48.14). X

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Λύϲιππε,˼ πλάϲτα Ϲικυώ˻νιε, θαρϲ˼α̣λέα χείρ̣, δάϊε τεχνί˼τ̣α, πῦρ τοι ὁ χα˻λκὸϲ ὁρ˼ῆι, ὃν κατ’ Ἀλεξά˼ν̣δρου μορφᾶϲ ἔθε̣υ̣· οὔ τί γε με̣μ̣πτοὶ Πέρϲαι· ϲυγγνώ˼μ̣α βουϲὶ λέοντα φυγεῖν.

1 2 3 4

Test. AP 16.119, P.Freib. 4 [SH 973, 26–29] init. vers.), Himer. Or. 48.14 p. 203 Colonna (versus 30)  30 θαρϲαλέη AP (-λέα iam Page) : δαιδαλέη Himer.  32 ἔθ̣ε̣υ̣ οὔ τί γε ed. pr., min., Obbink 2005 : εθ..ουτιγε P : χέεϲ· οὐκέτι AP ϲυγγνώμη AP (-μα iam Page)

Lysipp, Bildhauer aus Sikyon, kühne Hand, kundiger Künstler, die Bronze hat einen feurigen Blick, die du über Alexanders Gestalt zu legen pflegtest; gar nicht zu tadeln sind die Perser: Nachsicht ‹verdient es›, wenn Rinder vor dem Löwen fliehen. Die dorische Färbung des Epigramms mag Poseidipp gewählt haben, weil Lysipp aus Sikyon stammt (vgl. auch 64 u. 68) und/oder weil der Makedone Alexander eine Form von Dorisch gesprochen haben dürfte (vgl. Sens 2004, 74 f.). Dass Poseidipp in 62 auf dorisches Kolorit verzichtet hat, spricht nicht gegen diese Annahme, da 62 zwar auch Lysipp preist, aber nicht wie 65 ein einzelnes Werk des Künstlers zum Gegenstand hat, sondern neben Lysipp auch andere Künstler nennt. V. 1 Λύϲιππε, πλάϲτα Ϲικυώ̣νιε: Zu Lysipp (Schaffenszeit ca. 370–320) vgl. DNO 2132–2258 und Resümee III 390–392. — πλάϲτα: die Junktur πλάϲτα Ϲικυώ̣νιε findet sich (in umgekehrter Reihenfolge) auch in einem Epigramm des Agathias (AP 16.332); πλάϲτηϲ, ‚der Former‘

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Denkbar ist auch, dass Poseidipp mit einer paradoxen Hyperbel spielt. So wie Kresilas mit seiner Kunst den ehernen Idomeneus zum Leben erweckt, so erweckt Idomeneus seinerseits die Statue des Meriones, indem er sie zum Laufen auffordert. Mit dem ironischen Zusatz, dass dies vielleicht nicht so einfach sei, da er ja so lange als Kunstwerk herumgestanden habe, bringt Poseidipp die Ambivalenz von Kunst und Natur zum Ausdruck. Das künstlerische Programm möglichst lebensechter Mimesis wird zum Gegenstand einer ironischen Amplifikation: Nicht nur der Künstler schafft Leben, auch seine Kunstwerke haben lebensspendende Kraft.

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(lat. fictor) als Bezeichnung des Bildhauers (im Unterschied zum Maler) ist seit Platon belegt (rep. 588d; leg. 671c); Poseidipp bezeichnet Lysipp auch im Kairos-Epigramm (AP 16.275.2) als πλάϲτηϲ. — θαρϲα̣λέα χείρ: In Himerios’ Zitat des 1. Verses (or. 48.14) ist die Hand des Künstlers nicht als ‚(wage)mutig‘, ‚kühn‘ (θαρϲαλέα), sondern als ‚kunstfertig‘, ‚geschickt‘ (δαιδαλέη) bezeichnet. Da auf dem Papyrus nur α̣λέα erhalten ist (und in der AP θαρϲαλέα, das schon Gow in θαρϲαλέα korrigiert hat), ist letzte Sicherheit darüber, was Poseidipp geschrieben hat, nicht zu erreichen. Gegenüber dem eher gewöhnlichen δαιδαλέα (vgl. z. B. AP 6.204.1; AP 9.826.1) hat θαρϲαλέα den Vorteil, dass es eine Parallele zwischen dem Wagemut des Künstlers und dem von ihm dargestellten Alexander evoziert (vgl. auch zu V. 2 δάϊε und Interpretation). V. 2 δάϊε: Da δάϊε hier als Epitheton zu τεχνίτα ̣ erscheint, liegt zunächst einmal die Bedeutung ‚wissend‘, ‚klug‘, ‚geschickt‘ (von *δάω; vgl. δαΐφρων) nahe. Da das Wort aber auch ‚brennend‘ (zu δαίω ‚anzünden‘, ‚verbrennen‘) heißen kann, könnte Poseidipp mit der Wahl von δάϊοϲ – wie im Falle von θαρϲαλέα (V. 1) – auf eine Verbindung zwischen Lysipp und Alexander zielen. Der (als kreativer Künstler und als Bronzegießer) ‚feurige‘ Lysipp hat eine Bronze gegossen, die feurig blickt (vgl. Sens 2005, 220 f. u. Männlein-Robert 2007, 69). – Zu πῦρ τοι ὁ χαλκὸϲ ὁρῆι vgl. Od. 19.446 (von einem Eber). Poseidipp spielt mit der Spannung zwischen dem toten Material und der Lebendigkeit des Ausdrucks, den Lysipp seiner Bronzestatue verliehen hat. V. 3 f. In der Fassung des Gedichts, das die Planudea überliefert, lautet der Vers: ὃν κατ’ Ἀλεξάν̣δρου μορφᾶϲ χέεϲ· οὐκέτι μεμ̣πτοὶ. Die Verbindung χαλκὸν χεῖν ‚Bronze gießen‘ ist, so selbstverständlich sie uns erscheint, nur einmal auf einer Inschrift aus dem 6. Jh. v. Chr. belegt (Dittenberger, Sylloge 3 g); für das ἔθε̣υ, das der Papyrus zu bieten scheint, ist als Parallele auf 68.3 f. verwiesen worden; die dortige Bedeutung ‚eine Statue aufstellen‘ lässt sich jedoch nicht auf 65.2 f. übertragen. Zwar könnte χαλκόν in V. 2 als ‚Bronzestatue‘ verstanden werden; zum folgenden Relativsatz passt diese Bedeutung jedoch nicht; hier kann nur das Material gemeint sein. Die Übersetzung der Erstherausgeber: „il bronzo che tu hai fatto al immagine di Alexandro“ scheitert daran, dass κατά mit dem Genitiv nicht „in der Form“ heißen kann. Für diese Deutung des ἔθε̣υ müsste κατά mit dem Akkusativ konstruiert sein, d. h. das überlieferte μορφᾶϲ in μορφὰν korrigiert werden. Es erscheint aber möglich, den Text zu halten, wenn man χαλκὸν nicht als ‚Bronzestatue‘, sondern als (das Material) ‚Bronze‘ und ἔθε̣υ nicht als ‚aufstellen‘ oder ‚herstellen‘, sondern als ‚legen‘ versteht: „die Bronze …, die du über die Gestalt Alexanders gelegt hast.“ Poseidipp spielt in V. 3 offenbar mit der Vorstellung, die sich auch in anderen ekphrastischen Gedichten findet, die die Lebensechtheit des Dargestellten betonen: Die Figur ist so realistisch, dass man glauben könnte, unter der Bronze stecke der echte Alexander.39 – Auch im Anschluss weicht der Papyrus von der handschriftlichen Überlieferung in der Planudea ab, die οὐκέτι liest, und auch hier ist die Entscheidung nicht einfach: οὔ τί γε (ed. pr.) ergibt einen guten Sinn; außerdem erscheint die Änderung bzw. Verschreibung von οὔ τί γε in οὐκέτι leichter vorstellbar als der umgekehrte Vorgang. Auf der anderen Seite ist auch οὐκέτι nicht etwa ‚ohne jeden Sinn‘, sondern bietet, wie Lapini (2007, 273) richtig feststellt, – im Unterschied zu οὔ τί γε – sogar eine Pointe: Jetzt, nachdem Lysipp eine Statue/ 39

Vgl. AP 9.717: „Entweder liegt um dieses Rind ganz eine eherne Haut / außen herum oder das bronzene Bildnis besitzt drinnen eine Seele.“ – χέεϲ könnte im Laufe der Überlieferung des Epigramms zur Verdeutlichung dieses Sinns entstanden sein.

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Statuen Alexanders geschaffen hat, in deren feurig blickenden Augen der Betrachter zum ersten Mal wirklich den Löwenmut des Königs sehen und begreifen kann, ist es verständlich, dass die Perser solche Angst vor ihm hatten „wie Rinder vor dem Löwen“ (V. 4). Lysipp, den Poseidipp bereits im Programmgedicht (62) als unangefochtenen Maßstab gefeiert hat und mit dem er seinen kleinen Zyklus ekphrastischer Epigramme schließt (70), ist auch der einzige der sechs Bildhauer der Andriantopoiika, an den sich der Dichter direkt wendet. Das Gedicht beginnt mit einem hymnenartigen Anruf: auf einen Vokativ folgt ein Trikolon mit Attributen, die Herkunft sowie handwerkliche und geistig-kreative Fähigkeiten des Künstlers aufrufen (V. 1 f.). Diese Qualitäten machen Lysipp in Poseidipps Augen zum idealen Porträtisten Alexanders: ein meisterhafter Bronzegießer (V. 3), dem es gelingt, in seinen Statuen die feurige Kühnheit des großen Feldherrn und Eroberers sichtbar zu machen. Aus den feuerblitzenden Augen (V. 2) strahlen ‚die kraftvolle Männlichkeit und löwenartige Kühnheit‘ (ἀρρενωπὸν καὶ λεοντῶδεϲ), von denen Plutarch (Alex. 2) spricht, so dass der Betrachter mitleidiges Verständnis mit den Persern empfindet, die diesem Blick nicht standhalten konnten und „wie Rinder vor dem Löwen flohen“ (V. 3 f.). Angeblich soll Alexander, weil er sich von keinem Bildhauer treffender porträtiert fühlte, per Edikt festgesetzt haben, dass niemand außer Lysipp Statuen von ihm machen dürfe.40 Poseidipp suggeriert aber nicht nur, dass Lysipp wie kein zweiter das Wesen Alexanders zum Ausdruck bringen konnte, sondern insinuiert, indem er seine künstlerische Arbeit als „kühn“ (θαρϲαλέα χείρ) bezeichnet, – wie in 63 – auch eine Wesensverwandtschaft zwischen dem Künstler und seinem Modell. 66 66 ist das einzige der neun Andriantopoiika, das einer Tierplastik gewidmet ist: Myrons bronzener Kuh. X

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±13 ].ηϲε τὸ βοίδιον ἄξιον ὁλκῆ̣ϲ ±14 ] κ̣αὶ τριϲεπαργύριον ±13 ] χ̣εῖρα ϲο̣φὸν χρέοϲ̣ ειδ’ ἐπ’ ἀδό̣ξου ±11 ἀλ]λὰ Μύρων ἐπόει.

1 2 3 4

34 βουκόλωι, ἢν ἐδό]κ̣ηϲε Austin 2001a : ἀρχὴν τοῦτ’ ἐδό]κ̣ηϲε Luppe 2003b : τοῦτ’ ἐϲορῶν ἐδό]κ̣ηϲε De Stefani 2005 : ὡϲ ἴδε τοῦτ’ ἐδό]κ̣ηϲε … | βουκόλοϲ e.g. Lapini 2007  35 ἔμμεναι ἀγροίκωι] Luppe 2003b : βουκόλοϲ, Ἡράκλεεϲ] De Stefani 2005  τριϲεπαργύριον ed. pr., min., (v. Williams 2005 et Angiò 2007b) : fort. τρὶϲ ἐπ’ ἀργύριον ed. min.  36 εὖτε δ’ ἐτείνατο] ed. min. : ὡϲ δ’ ἐπετείνατο] Luppe 2003b : ὡϲ δ’ ἐτανύϲϲατο] De Stefani 2005 : ἐκτείναϲ τὴν] Lapini 2007  εἶδ’ ed. pr., min. : εἰ δ’ Gronewald 2001 (def. Angiò 2003a)  post ἀδό̣ξου dist. Luppe 2003b  37 ὡϲ οὐ βοῦϲ μήτηρ, ἀλ]λὰ Austin 2001a : οὐ βοῦϲ ἦν μήτηρ, ἀλ]λὰ Luppe 2003b : ζῶιον χάλκεον ἦν, ἀλ]λὰ Angiò 2003a : πόρτιοϲ οὐ τόκοϲ ἦν ἀλ]λὰ De Stefani 2005 : fort. ὡϲ οὐ βοίδιον ἦν Ferrari per litt.

[…] die junge Kuh wert, ‹einen Pflug› zu ziehen […] und dreifachsilbern

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S. o. Anm. 17.

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[…] die Hand ein geschicktes Ding […] unerwartet ]…] (aber) Myron hat geschaffen Myron war einer der bedeutendsten Bildhauer des 5. Jahrhunderts (s. DNO II 117 f.), und die bronzene Kuh, die zur Zeit Poseidipps noch an ihrem ursprünglichen Platz auf der Akropolis in Athen stand, später aber nach Rom gebracht worden ist und noch im 6. Jh. auf dem Templum Pacis stand (vgl. Prokop, de bellis 8.21.11–14 = de bello Gothico 4.21.11–14),41 war das bekannteste seiner Kunstwerke, das wie Tzetzes (Chil. 8, 363–367 Leone) erklärt, „bis zum heutigen Tag (d. h. bis zum 12. Jh. n. Chr.) in aller Munde“ war.42 In der Anthologia Palatina sind nicht weniger als 36 Epigramme (AP 9.713–742 u. 793–798) – zum größten Teil Zweizeiler – auf eines der berühmtesten Kunstwerke der Antike versammelt.43 Da muss es verwundern, dass Poseidipps Gedicht, das möglicherweise das älteste in dieser langen Reihe ekphrastischer Kuh-Epigramme ist,44 seinen Weg nicht auch in diese Sammlung gefunden hat. V. 1 ].ηϲε: Die Ergänzung ἐδό]κ̣ηϲε ist trotz der geringen Reste allgemein akzeptiert; sie gewinnt ihre Plausibilität aus der Gesamtinterpretation des Erhaltenen. — βοίδιον: Das Diminutivum βοίδιον ‚die kleine, junge Kuh‘ findet sich auch in einer ganzen Reihe späterer Epigramme über Myrons Werk (z. B. AP 9.713–716). — ἄξιον ὁλκῆ̣ϲ: ὁλκή, von ἕλκειν ‚(etwas) ziehen‘, bezeichnet entweder das Ziehen des Pflugs (vgl. z. B. Hom Il. 10.353) oder das Herabziehen der Waagschale bzw. das Gewicht (das die Waagschale herabzieht). Das Motiv, dass Myrons Kuh so lebendig wirkt, dass der Betrachter glaubt, sie könne pflügen, findet sich wiederholt in späteren Epigrammen (vgl. z. B. AP 9.729); zweimal lässt sich ein Bauer täuschen und will sie vor seinen Pflug spannen (AP 9.741 und 742). – Für den verlorenen Anfang des Verses ist keine sichere Ergänzung möglich. Austins Vorschlag (βουκόλωι, ἢν, ἐδό]κ̣ηϲε) leidet daran, dass der Ausruf ἢν (‚sieh doch‘) nicht mehr als ein stopgap ist. Es erscheint sinnvoller, mit De Stefani (τοῦτ’ ἐϲορῶν ἐδό]κ̣ηϲε) und Lapini (ὡϲ ἴδε τοῦτ’ ἐδό]κ̣ηϲε) an eine Betonung des ersten Blicks zu denken, den der Betrachter auf das Rind wirft, oder mit Luppe (ἀρχὴν τοῦτ’ ἐδό]κ̣ηϲε) den anfänglichen Eindruck zu betonen. Bei allen drei Konjekturen muss allerdings in Kauf genommen werden, dass die Pointe des Epigramms, dass sich das so lebendig erscheinende Rind plötzlich als Kunstwerk erweist, vorweggenommen (τοῦτο) und so in ihrer überraschenden Wirkung geschwächt wird. V. 2 τριϲεπαργυριον: die Buchstabenfolge kann als τριϲεπαργύριον oder als τρὶϲ ἐπ’ ἀργύριον verstanden werden. τριϲεπαργύριον ist sonst nicht belegt; bei Herodot (1.50; 9.80) findet sich ἐπάργυροϲ in der Bedeutung ‚versilbert‘. Das Präfix τριϲ- (bzw. τρι-) kann entweder ‚dreifach‘, ‚dreimal‘ heißen (wie z. B. in τρίϲλοποϲ ‚dreimal geschält‘) oder zur Intensivierung dienen (wie in τριϲάθλιοϲ oder τριϲόλβιοϲ). Wenn κα ̣ ὶ τριϲεπαργύριον das ἄξιον ὁλκῆϲ̣ in V. 1 fortsetzt, 41 42 43 44

Dass die berühmte Plastik im 6. Jh. n. Chr. von dort nach Konstantinopel gelangt und dort wahrscheinlich bei der Plünderung der Stadt durch die Kreuzritter im Jahre 1204 zerstört worden ist, ist keineswegs so sicher, wie die Erstherausgeber (ed. pr. 192) anzunehmen scheinen. Vgl. Plin. nat.hist. 34.57 f. (DNO 720). – Zu dem Kunstwerk und den literarischen Quellen, die es feiern, vgl. Balensiefen DNO II 28–92. Dazu kommen noch 16 lateinische Epigramme: 12 von Ausonius, darunter 3 incerta (DNO 801–812) und 4 adespota aus den Epigrammata Bobiensia (DNO 813–816). Da Poseidipp und Leonidas von Tarent Zeitgenossen waren, könnte dessen Kuh-Epigramm (AP 9.179) älter sein.

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könnte es also entweder ‚dreimal versilbert‘ heißen (Williams 2005, 20 f.; Squire 2010, 598) oder – wenn ἐπάργυροϲ oder ἀργύρεοϲ auch kostbar heißen kann – ‚sehr kostbar‘ (Di Nino 2010, 295 f.; Angiò 2011, mit der älteren Literatur) Dafür gibt es jedoch ebenso wenig einen Beleg wie für eine dreifache Versilberung eines Schmuckstückes oder eines Kunstwerks;45 τρὶϲ ἐπ’ ἀργύριον ist ebenfalls dunkel; ἐπ’ ἀργύριον kann zwar, wie die von Austin für seine Konjektur angeführte Parallele (Xen. Kyr. 1.6.12) zeigt, ‚nach Geld‘, d. h. ‚um Geld zu holen‘ bedeuten; es bleibt aber völlig unklar, warum der Hirte oder Bauer dreimal kommen sollte, um Geld zu holen. V. 3 χ̣εῖρα: Die meisten Interpreten gehen davon aus, dass es sich um die Hand des in V. 1 f. zu ergänzenden Hirten oder Bauern handelt, der seine Hand nach der Kuh ausstreckt (z. B. ὡϲ δ’ ἐπετείνατο] Luppe 2003b); prinzipiell könnte es auch (wie in 62.3, 65.1 und 70.3) die Hand des Künstlers sein, wie Gronewald meint; vgl. aber den Komm. zu ϲο̣φὸν χρέοϲ̣. — ϲο̣φὸν χρέοϲ̣: ‚Ein geschicktes, raffiniertes Ding‘ bezeichnet sehr wahrscheinlich die von Myron geschaffene Kuh und nicht, wie Gronewald vorgeschlagen hat, die Hand des Künstlers. — ειδ’: Die Buchstabenfolge ειδ kann als εἶδ’ (ed. pr.) oder als εἰ δ’ (Gronewald 2001 und Angiò 2003a) verstanden werden; in diesem Fall muss davor stark interpungiert werden. — ἐπ’ ἀδό̣ξου: ἄδοξοϲ heißt in der Regel ‚ruhmlos‘, ‚ehrlos‘, ‚unbekannt‘, kann aber wahrscheinlich (wie ἀδόξαϲτοϲ) daneben auch ‚unerwartet‘, ‚paradox‘ bedeuten (Soph. fr. 71 Radt); ἐπ’ ἀδό̣ξου ist dann gleichbedeutend mit ἀπροϲδοκήτωϲ, παραδόξωϲ. Dass die Wendung, wie Gronewald und Angiò glauben, die Trivialität des dargestellten Objekts im Gegensatz zu einer göttlichen oder heroischen Gestalt bezeichnet, erscheint als ganz unwahrscheinlich. V. 4 Μύρων ἐπόει: Der Name des Künstlers und das Prädikat ἐποίει oder ἐποίηϲε ist die häufigste Form der griechischen Künstlersignatur; die attische Form ἐπόει könnte Poseidipp gewählt haben, weil Myron aus Attika (Eleutherai) stammte und/oder weil die berühmte Kuh auf der Akropolis stand. – Am Anfang des Verses dürfte die überraschende Entdeckung gestanden haben, dass die junge Kuh kein lebendes Tier ist; darin sind sich die Konjekturen von Austin, Luppe, De Stefani und Ferrari, bei allen Unterschieden im Detail, einig. Rekonstruktionsvorschlag […] ἐδόκηϲε τὸ βοίδιον ἄξιον ὁλκῆϲ […] καὶ τριϲεπαργύριον εὖτε δ’ ἐτείνατο] χεῖρα, ϲοφὸν χρέοϲ εἶδ’ ἐπ’ ἀδόξου ὡϲ οὐ βοῦϲ μήτηρ, ἀλ]λὰ Μύρων ἐπόει. […] die junge Kuh schien wert, einen Pflug zu ziehen […] und dreifachsilbern. Als er aber die Hand austreckte, da sah er zu seiner Überraschung, wie raffiniert das Ding gemacht war, dass nämlich nicht eine Kuh die Mutter war, sondern Myron es schuf. 45

Zur farblichen Fassung von Bronzefiguren wurde zwar u. a. auch Silberfolie verwendet, aber sicher nicht ‚dreifach‘; vgl. Born, H. u. Wünsche, R., in: Brinkmann, V. u. a. 2007: Bunte Götter, Ausstellungskatalog Hamburg: 151–163.

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Andriantopoiika 67

Leider ist von allen vier Versen des Epigramms kaum mehr als die zweite Hälfte erhalten. So bleiben viele Details im Dunkeln. Immerhin kann mit Hilfe der erhaltenen Reste – und auf dem Hintergrund der späteren Gedichte auf Myrons berühmte Kuh – die Pointe des Epigramms mit großer Sicherheit erschlossen werden. Poseidipp preist den perfekten Realismus des Künstlers, wie so viele der späteren Epigramme auf die Kuh auch, mit einer knapp formulierten fiktiven Anekdote: Ein Hirt (oder vielleicht auch ein Bauer), der die Kuh sieht, glaubt, es handele sich um eine reale Kuh, die er vor einen Pflug spannen könnte (V. 1); als er jedoch die Hand nach ihr ausstreckt und das Tier berührt, muss er – enttäuscht, überrascht und bewundernd – feststellen, dass diese junge Kuh nicht von einer Kuh stammt (so übereinstimmend alle Rekonstruktionen der Lücke am Anfang von V. 4), sondern von der Hand Myrons. Erst fühlt er es, dann kann er auch noch die Künstlersignatur lesen, die Poseidipp pointiert an das Ende des Epigramms gestellt hat: Μύρων ἐπόει – „Myron hat ‹diese Statue› gemacht“.46 Wie in 63, 64 (, 65) und 69 geht es Poseidipp auch in 66 um die Lebensechtheit als die wesentliche Qualität der von ihm propagierten neuen Kunst (vgl. 62),47 und es ist eben der extreme Realismus, dem – in seiner Nachfolge – die späteren Epigramme auf Myrons Kuh in immer neuen Variationen mit immer neuen Variationen huldigen.48 67 Gegenstand des Epigramms ist das älteste Kunstwerk, das Poseidipp in den Andriantopoiika vorstellt: ein (Selbst?)portrait49 des Theodoros von Samos. Poseidipp konzentriert sich in den sechs Versen ganz auf ein Miniaturviergespann, das der Künstler angeblich in der Hand hielt.50 X 38 XI 1 2 3 4 5

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±14 ]..[..]. ἄντυγοϲ ἐγγύθεν ἄθρει τῆϲ Θεοδω̣ρεί̣η̣ϲ̣ χ̣ειρὸϲ ὅϲοϲ κάματο̣ϲ̣· ὄψει γὰρ ζυ̣γ̣ό̣δεϲ̣μα καὶ ἡνία καὶ τροχὸν ἵππων ἄξονά θ[{ε} ἡνιό]χ̣ου τ̣’ ὄ̣μμ̣α̣ κα̣ὶ ἄκρα χερῶ̣ν̣· ὄψει δ’ ευ[ ±12 ]…ε̣ο̣ϲ̣, ἀ̣λ̣λ̣’ ἐπ̣ὶ τ̣ῶ̣ιδ̣ε ἐ̣ζομέν[ην ±15 ] μ̣υ̣ῖ̣αν ἴδοιϲ.

1 2 3 4 5 6

Vgl. Balensiefen 2014, in DNO II 29: „Indem das Gedicht mit dem Zitat einer Künstlersignatur schließt, verwandelt es das ‚lebendige‘ Rind vor den Augen des Lesers in das von Myron geschaffene Bronzewerk zurück und stellt eine direkte Verbindung zwischen der Epigraphik und der Epigrammatik sowie zwischen der bildenden Kunst und der Dichtkunst her.“ Die Lebensechtheit seiner Werke, die Myron in den Augen Poseidipps zum Vorläufer seines Ideals Lysipp macht, wird ihm auch Cic. Brut. 70 attestiert – allerdings mit der Einschränkung, dass er noch nicht nahe genug an die lebendige Wirklichkeit (veritas) herangekommen sei (DNO 823); vgl. auch Petron 88.5: Myron, qui paene animas hominum ferarumque aere comprehendit („Myron, der beinahe die Lebenskräfte von Menschen und Tieren einfing“). Vgl. dazu Squire, M. 2010: Making Myron’s cow moo. Ecphrastic epigram and the poetics of simulation, AJPh 131: 589–634; Wessels, A. 2014: Zwischen Illusion und Distanz. Zur Wirkungsästhetik lebensechter Gegenstände, in: Bielfeldt, R. (Hg.), Ding und Mensch in der Antike, Heidelberg: 275–300, 291–297, und die detaillierten Interpretationen von L. Maul-Balensiefen, in DNO II 43–92. S. dazu u. S. 275. Ohne das Zeugnis des Plinius wüssten wir nicht, dass Poseidipp nur ein Detail des Werks von der Hand des Theodoros von Samos (Mitte des 6. Jh.) in den Blick rückt. Er beschreibt (nat. 34.83) ein Selbstbildnis des Bildhauers, Graveurs und Architekten (vgl. DNO 267–292), der in der rechten Hand eine Feile halte und in der linken, auf drei Fingern, ein kleines Viergespann balanciere.

Bernd Seidensticker

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38 fort. ]ϲ̣τ̣[ ]π̣ vel ]ϲ ̣ed. min.  ενγυθεν P  3 τ̣[….]χ̣ου, i. e. τ̣[εηνιο]χ̣ου P (scriptio plena)  4 εὖ [ῥυμόν, τρίχα] μ̣ή̣κ̣ε̣ο̣ϲ̣ e.g. ed. min.  5 ἑ̣ζομέν[ην ἂν ἴϲην ἅρματι] ed. pr., min. : ἑ̣ζομέν[ην μόγιϲ ἂν τηλόθε] Angiò 2001b : εἰδομέν[ην Messeri 2004 (v. Angiò 2006, 44)  ἂν ὁρῶν (vel ἰδών, ἐών, ἰών, ϲτάϲ) τηλόθε] Lapini 2007

[…] des Wagen(rand)s; aus der Nähe betrachte wie groß die Mühe der theodoreischen Hand ‹war›; sehen wirst du die Deichselriemen und die Zügel und den Kandarenring und ‹im Maul› die Kandarenstange der Pferde und des Wagenlenkers Auge und die Fingerspitzen und du wirst (gut?) sehen […]; aber auf diesem sitzend […] eine Fliege könntest du sehen. V. 1 ἄντυγοϲ ἐγγύθεν ἄθρει: ἐγγύθεν dürfte eher zu ἄθρει als zu ἄντυγοϲ gehören. ἄντυξ kann auch pars pro toto für den ganzen Wagen verwendet werden (vgl. Eur. Hipp. 1231; Theokr. 2.166). – Für den Anfang des Verses gibt es bisher keine Ergänzungsvorschläge. V. 2 χ̣ειρὸϲ: Zu χείρ vgl. zu 62.3 — ὅϲοϲ κάματο̣ϲ̣: Auch wenn κάματοϲ (wie πόνοϲ) nicht nur Anstrengung, sondern auch das Produkt anstrengender Arbeit (vgl. Hom. Od. 14.417; Hes. theog. 599) bezeichnen kann, ergibt die Annahme keinen Sinn, dass Poseidipp hier mit dieser Bedeutung spielt, wie Sens meint.51 — Θεοδωρ̣ είη ̣ ϲ̣ :̣ Das Adjektiv, das auch für den Philosophen Theodoros von Athen und auf den Tabulae Iliacae bezeugt ist, ist nur hier dreiendig. Theodoros (DNO 267–92) muss spätestens seit hellenistischer Zeit als Schöpfer von Miniaturkunstwerken berühmt gewesen sein. Eine Reihe der sog. Tabulae Iliacae aus der römischen Kaiserzeit, die mit Miniatur-Bildern nach Szenen aus der Ilias und anderen Epen verziert sind, tragen Aufschriften wie τέχνη (τάξιϲ, ἀϲπὶϲ) Θεοδώρηοϲ, die, wie Michael Squire (2011: The Iliad in a Nutshell. Visualizing Epic on the Tabulae Iliacae, Oxford: 283–291) plausibel gemacht hat, im Sinn von „Werk (Komposition, Schild Achills) nach Machart des ‹berühmten› Theodoros“ zu verstehen sind. – Theodoros von Samos (6. Jh. v. Chr.) war, auch wenn ihm die Antike auch Werke und Erfindungen zugeschrieben hat, für die er nicht verantwortlich war, ein außergewöhnlich vielseitiger Künstler, der sowohl als Architekt als auch als Bronzebildner und Toreut gearbeitet hat (vgl. DNO 267–292 und das Resümee I 201 f.). V. 3 In den Versen 3 und 4 nennt Poseidipp (nach dem Wagenrand in V. 1) erst eine Reihe von Details des Gespanns und dann Auge und Finger des Wagenlenkers: ζυγόδεϲμα (vgl. Pollux I 146) sind die Riemen, die das Joch der Pferde mit der Deichsel verbinden; τροχόϲ und ἄξων sind Teile der Kandare: ἄξων bezeichnet die Querstange im Maul des Pferdes; τροχόϲ den Ring in der Mitte der beiden Metallstäbe, aus denen sich die Querstange zusammensetzt.

51

Sens 2005, 224: „In Theodoros’ poem, both uses (sc. toil and product of toil) may be operative, and if so, the phrase ὅϲοϲ κάματοϲ, understood in the sense of ‚how great the product of labour‘, constitutes a joke, since the work in question turns out to be minute.“ Auch die zweite von Sens vermutete Konnotation der Wendung macht wenig Sinn: „Second, if, as seems at least possible, the chariot depicted by Theodorus was intended to be in motion, the word κάματοϲ would capture not only the toil of the artist, but that of the subject as well, since κάματοϲ was an appropiate term for the exertion of horses.“

274

Andriantopoiika 67

V. 5 f. Von den beiden Versen des Schlussdistichons besitzen wir nur jeweils Anfang und Ende. Der Sinn lässt sich jedoch mit großer Sicherheit erschließen. Die Wiederholung von ὄψει erlaubt den Schluss, dass Poseidipp entweder weitere Details des Wagens (Austin) oder – zusammenfassend – das gesamte kleine Kunstwerk genannt hat. Für die Rekonstruktion des Schlusses liefert Plinius die entscheidende Information, der im 34. Buch der Naturalis Historia das Werk des Theodoros, das Poseidipp offensichtlich in seinem Epigramm vor Augen hat, kurz beschreibt.52 Um die winzige Größe der quadrigula, die das Selbstporträt des Theodoros in der Hand hält, zu verdeutlichen, setzt Plinius hinzu, dass, wenn der Künstler zusammen mit dem Wagen auch eine lebensgroße Fliege geschaffen hätte, diese mit ihren Flügeln das ganze Viergespann, Wagen und Wagenlenker, verdecken würde.53 Die Reste des letzten Satzes, die der Papyrus bewahrt hat, lassen keinen Zweifel daran, dass Poseidipp sein Epigramm mit demselben Gedanken geschlossen hat. Ganz unabhängig davon, ob Plinius Poseidipp ‚zitiert‘ oder beide auf dieselbe kunsthistorische Quelle zurückgehen, muss die Rekonstruktion des letzten Satzes also einen Text liefern, der den bei Plinius vollständig erhaltenen Größenvergleich – Wagen gleich Fliege – zum Ausdruck bringt. Diese Bedingung erfüllt nur Austins Vorschlag: ἀ̣λ̣λ̣’ ἐπ̣ὶ τ̣ῶ̣ιδ̣ε / ἐ̣ζομέν[ην ἂν ἴϲην ἅρματι] μ̣υ̣ῖ̣αν ἴδοιϲ: ‚aber eine auf diesem ‹Wagen› sitzende Fliege (d. h. wenn sich eine Fliege auf den Wagen setzen würde), würdest du als eine sehen, die gleich groß ist wie der Wagen (d. h. den Wagen völlig zudeckt)‘. In den Vorschlägen von Angiò (2006) und Lapini (2007) fehlt gerade die entscheidende Pointe, dass die Fliege den Wagen bedeckt. Zudem ergibt der antithetische Gedanke: ‚x und x und x kannst du (gut) aus der Nähe sehen; aber eine Fliege, die sich darauf setzen würde, die könntest du nur mit Mühe aus der Ferne sehen‘ (so Angiò), kaum Sinn. – Es ist verwunderlich, dass Plinius (nat. 7.85 und 36.43) ein identisches Viergespann für einen Toreuten unbekannter Zeit bezeugt, der seine Profession als Miniaturkünstler schon im Namen trägt: Myrmekides (‚Sohn einer Ameise‘; s. Overbeck SQ 2196): Myrmicides quidam … inclaruit quadriga ex eadem materia quam musca integeret alis fabricata („Ein gewisser Myrmekides wurde … durch die Anfertigung eines Viergespanns berühmt, das ‹so klein war, dass› eine Mücke es mit ihren Flügeln zudecken würde.“). Könnte es sich hier um einen Bewunderer und Imitator des Theodoros handeln oder liegt eine Verwechslung (des Plinius oder seiner Quelle) vor?54

52

53

54

Plin. nat. 34.83: Theodorus, qui labyrinthum fecit Sami, ipse se ex aere fudit. praeter similitudinis mirabilem famam magna suptilitate celebratu‹r›: dextra limam tenet, laeva tribus digitis quadrigulam tenuit, tralatam Praeneste parvitatis ut miracul‹um›: totam eam, currumque et aurigam, integeret alis simul facta musca („Theodoros, der das Labyrinth von Samos geschaffen hat, goss von sich selbst eine Bronzestatue; abgesehen von dem besonderen Ruhm der Porträtähnlichkeit ‹seines Werks› wird er auch wegen der großen Feinheit ‹seiner Kunst› gepriesen: in der Rechten hält er eine Feile, in der Linken hielt er mit drei Fingern ein kleines Viergespann; dieses wurde als ein Wunder an Kleinheit später nach Praeneste gebracht: Eine zugleich verfertigte Fliege würde es (das Viergespann) – den Wagen samt dem Lenker – mit ihren Flügeln zudecken“). Die Fliege ist also nicht etwa Teil der Komposition des Theodoros, sondern wird von Plinius, bzw. seiner Quelle, nur zum Vergleich eingeführt. Der Text des Plinius ist in Einzelheiten umstritten; im Ganzen ist der Sinn aber nicht zweifelhaft, und in dem Punkt, der für das Verständnis des Epigramms (und die Rekonstruktion des letzten Verses) wichtig ist, ist weitgehende Einigkeit erreicht. Es kann nicht als sicher gelten, dass es diesen Miniaturisten (Overbeck SQ 2192–2201) überhaupt gegeben hat; vgl. DNO I 192.

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Rekonstruktionsvorschlag […]ἄντυγοϲ ἐγγύθεν ἄθρει τῆϲ Θεοδωρείηϲ χειρὸϲ ὅϲοϲ κάματοϲ· ὄψει γὰρ ζυγόδεϲμα καὶ ἡνία καὶ τροχὸν ἵππων ἄξονά θ’ ἡνιόχου τ’ ὄμμα καὶ ἄκρα χερῶν· ὄψει δ’εὖ […], ἀλλ’ ἐπὶ τῶιδε ἐζομένην ἂν ἴϲην ἅρματι μυῖαν ἴδοιϲ. […] des Wagens; sieh dir aus der Nähe an wie groß die Mühe war, die Theodoros’ Hand sich gegeben hat; sehen wirst du die Deichselriemen und die Zügel und den Kandarenring im Maul der Pferde und die Kandarenstange und des Wagenlenkers Auge und die Fingerspitzen und du wirst gut sehen […]; aber wenn eine Fliege auf diesem sitzen würde, dann dürfte sie für dein Auge genauso groß sein wie der Wagen. Angesichts der Tatsache, dass Poseidipp in den anderen Andriantopoiika existierende Kunstwerke thematisiert, spricht viel dafür, dass auch das Selbstporträt des Theodoros nicht fiktiv ist. Andererseits sind Darstellungen von Handwerkern in archaischer Zeit zwar geläufig, Selbstporträts in statuarischer Form aber nicht nachzuweisen; Pausanias (8.53.7 f.) bezeugt ein Bildnis des etwa zeitgleichen Cheirisophos, das neben einer Apollonstatue des Künstlers im Apollonheiligtum von Tegea gestanden habe. Da Pausanias nicht ausdrücklich sagt, dass es sich um ein Selbstporträt handelt, besteht die Möglichkeit, dass die Statue von der Hand eines späteren Künstlers stammt. Das könnte, wenn man Selbstporträts von Künstlern für diese Zeit für unmöglich hält, auch für das von Plinius bezeugte Selbstporträt des Theodoros gelten und die von Plinius betonte große Porträtähnlichkeit erklären, die nicht zur Zeit des Theodoros passen will. – Auch das winzige Viergespann ist nicht unproblematisch. Einerseits kann man einem Künstler, der den Siegelring des Polykrates (s. Lithika 9 und DNO 280–286) graviert hat, eine solche Arbeit durchaus zutrauen (s. auch Komm. zu V. 2); andererseits ist ein Miniaturkunstwerk wie dieses eher als selbständiges Produkt und nicht als Attribut einer Bronzestatue zu erwarten.55 Der Anfang des Epigramms ist leider verloren. Der Singular ἄντυξ (Wagenrand) kann – wie auch der Plural ἄντυγεϲ – als pars pro toto den ganzen Wagen bezeichnen. Poseidipp lenkt den Blick des Lesers wahrscheinlich zunächst auf das gesamte Gespann, bevor er ihn dazu auffordert, die Details des Miniaturkunstwerks aus der Nähe genau in Augenschein zu nehmen: zuerst die Riemen, mit denen das Joch der Pferde an der Deichsel befestigt ist, und die Zügel, dann – noch kleiner – einzelne Teile der Kandare im offenbar weit geöffneten Maul der Pferde und schließlich den Wagenlenker; und auch an diesem hebt Poseidipp nur bestimmte Details hervor, wie das Auge und die Spitzen der Finger, die die Zügel halten. Worauf der Blick des Betrachters – am Anfang von V. 5 – noch gelenkt wird, muss leider offenbleiben. Die Schlusspointe spricht dafür, dass hier, wie wahrscheinlich auch schon zu Beginn des Epigramms, der ganze Wagen genannt war: Den kann man gut (?) sehen (ὄψει δ’ εὖ), und doch ist er nicht größer als eine Fliege, die ihn, wenn sie sich darauf setzen würde, ganz verdecken würde.

55

Vgl. DNO 276.

276

Andriantopoiika 68

Das Miniaturkunstwerk des Theodoros fügt sich in die Reihe der am Beginn der Andriantopoiika programmatisch angekündigten Muster bildhauerischer Arbeit (62.1: μιμ̣[ή]ϲαϲθε τάδ’ ἔργ̣ α ̣ ) dadurch ein, dass es bis in das allerkleinste Detail mit größter Akribie gearbeitet ist. Preist Poseidipp in 63 nur das Ergebnis akribischer künstlerischer Arbeit, so betont er in 67 gleich zu Beginn (V. 2) die mühevolle Anstrengung, die der Künstler auf sich nehmen muss, wenn er ein perfektes Werk schaffen will.56 Poseidipp sagt nicht, dass das von ihm ebenso detailliert beschriebene wie von Theodoros ausgearbeitete Viergespann Teil des Selbstbildnisses des Künstlers ist; er setzt aber sicher voraus, dass der Leser das weiß und das kleine Meisterwerk als programmatische Arbeit des Künstlers versteht, der in der anderen Hand, als Symbol für seine Akribie, eine Feile hält. 68 Das Epigramm ist eines der ältesten Zeugnisse für den Koloss von Rhodos.57 Nachdem Poseidipp in 67 ein Miniaturkunstwerk gepriesen hat, das kleiner ist als eine Fliege, geht es nun – in pointierter Iuxtaposition – um die von dem rhodischen Bronzegießer Chares geschaffene größte Bronzestatue der Zeit bzw., wie er in V. 3 betont, aller Zeiten. XI 6 7 8 9 10 11

ἤθελον Ἠ̣έ̣λι̣ο̣ν̣ Ῥ̣ό̣διο̣ι̣ π̣[…….]α θ̣ε̣ῖν̣αι̣ δὶϲ τόϲ̣ον, ἀ̣λλ̣ὰ Χάρηϲ Λί̣ν̣διο̣[ϲ] ὡ̣ρίϲ̣ατο μ̣ηθέ̣να̣ τεχνίταν ἔτι μείζ̣ο̣να̣ [τ]ο̣ῦ̣δ̣ε̣ κ̣[ο]λ̣οϲϲὸ̣ν θήϲειν̣· εἰ δὲ Μύ̣ρ̣ων εἰϲ τετρ̣ά̣π̣[ηχ]υ̣ν̣ ὅ̣[ρον ϲεμ̣νὸϲ ἐ̣κεῖνοϲ̣ ἀ̣ν̣ῆ̣κ̣ε̣, Χάρηϲ π̣ρ̣ῶ̣[τοϲ μ]ε̣τ̣ὰ τέχνα[ϲ ζ̣ῶ̣‹ι›ο̣ν ἐχ̣αλ̣κούργε̣ι̣ γ̣ᾶϲ̣ μεγ̣[……].[..]ν̣.

1 2 3 4 5 6

6 π̣[εριμάκε]α Austin 2001a, ed. pr., min.  8 επι P  9 τετρ̣α̣π̣[λο]ῦ̣ν κ̣[ανόνα D’Alessio 2004 : μ̣[έγεθοϲ Ferrari ap. D’Alessio 2004 : φ̣[ύϲιοϲ D’Alessio ap. Angiò 2005, 25 (v. Corso 2006, 479)  10 π̣ρ̣ῶ̣[τοϲ vel π̣ρ̣ώ̣[ταϲ ed. pr. : π̣ρ̣ῶ̣[τον Angiò 2003c  11 μεγ̣[έθει παρ]ι̣ϲ̣[ῶ]ν̣ Austin 2001b, ed. min. : μέγ̣[α θαῦμα κι]χ̣[ώ]ν̣ vel πο]ρ̣[ῶ]ν̣ Casanova 2002 : μέγ̣[α θαῦμ’ ἐ]π̣[εό]ν̣ Angiò 2003c : μεγ̣’ [ὕπερθε] κ̣[ιό]ν̣ Ferrari per litt. : v. etiam Schröder 2004

Die Rhodier wollten einen Sonnengott […] aufstellen, doppelt so groß; aber Chares aus Lindos setzte sich selber die Grenze,

56

57

Zur metapoietischen Bedeutung des Epigramms vgl. Squire, M. 2013: Ars in their ‚I‘s: authority and authorship in Graeco-Roman visual culture, in: Marmodoro, A. u. Hill, J. (Hg.): The Author’s Voice in Classical and Late Antiquity, Oxford: 397–399: „In the hands of Posidippus, Theodorus’ iconic image is made to champion a wholly metapoetic point: while privileging the idea of crafting … something so small, the critical framework simultaneously pertains to the process of making and reading miniature epigram. The authority of Theodorus as miniaturist sculptor helps sculpt an authorial impression of Posidippus as epigrammatic craftsman“ (398). Zum Koloss von Rhodos vgl. DNO 2520–2543; Hebert, B.D. 1989: Schriftquellen zur hellenistischen Kunst: Plastik, Malerei und Kunsthandwerk der Griechen von vierten bis zum zweiten Jahrhundert, Graz; Vedder, U. 1999/2000: NBlArch 16: 23– 40; dies. 2003 in: Die sieben Weltwunder der Antike, Ausstellungskatalog Stendal: 131–149; Hoepfner, W. 2000: Der Koloss von Rhodos, AA 2000/1: 129–155; ders. (Hg.) 2003: Der Koloss von Rhodos und die Bauten des Helios. Neue Forschungen zu einem der Sieben Weltwunder, Mainz; Badoud, N. 2011: Les Colosses de Rhodes, CRAI: 111–152.

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‹von der Art›, dass kein Künstler in Zukunft einen größeren Koloss aufstellen werde. Wenn Myron ‹nur› bis zu einer Grenze von vier Ellen kam, der verehrte berühmte ‹Meister›, so hat Chares als erster mit Kunst‹fertigkeit› ein Geschöpf aus Bronze geschaffen, der Erde (groß?) […]. Die erhaltenen Reste dieses Epigramms sind an vielen Stellen nur sehr schwer zu lesen; der Text lässt sich aber bis auf die zweite Hälfte des 3. Pentameters recht sicher rekonstruieren. Wie in 64 und 65 hat Poseidipp auch für dieses Epigramm eine sprachliche Färbung gewählt, die zu dem Bildhauer aus Lindos und seinem Werk passt, da der auf Rhodos gesprochene Dialekt zur dorischen Sprachfamilie gehört (vgl. ed. pr.; Sens 2004, 76–79 und Sens-Keesling 2005). V. 1–3 In der Lücke des ersten Verses ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Adjektiv zu Ἠ̣έ̣λι̣ο̣ν̣ zu ergänzen. Der Vorschlag der ed. pr. π̣[εριμάκε]α passt zu den erhaltenen Buchstaben bzw. Buchstabenresten und hat die richtige Länge; δὶϲ τόϲ̣ον ist dann als eine Apposition, die den Wunsch der Rhodier expliziert, zu verstehen: einen sehr großen Koloss, und zwar doppelt so groß (wie er tatsächlich ist). — θ̣ε̣ῖν̣αι̣: τίθημι für das Aufstellen einer Statue vielleicht auch 65.3; denkbar ist auch ἀνατίθημι (Lapini 2007, 276, Anm. 73, der allerdings für den Rest der Lücke keinen Vorschlag anbietet). — Χάρηϲ Λί̣ν̣διο̣[ϲ]: Der aus Lindos (auf Rhodos) stammende Lysippschüler Chares ist vor allem als Schöpfer des Koloss von Rhodos (DNO 2520–2543) berühmt geworden; daneben sind noch eine weitere Kolossalstatue (DNO 2544), Statuen von Alexander und und Philipp (DNO 2545) und vielleicht ein Relief (DNO 2546) bekannt. – ὡ̣ρίϲ̣ατο: ὁρίζεϲθαι heißt ‚‹eine Grenze› festsetzen, (für sich) bestimmen, entscheiden‘; die von den Erstherausgebern für die von ihnen angenommene Bedeutung ‚versichern‘ (Chares beruhigt die Rhodier, dass, auch wenn es bei der von ihm vorgeschlagenen Höhe bleibe, niemand je eine höhere Statue errichten werde) angeführte Parallele (Dem. 9.19) ist nicht überzeugend. — ἔτι kann entweder ‚in Zukunft‘ heißen oder zum Komparativ μείζονα gehören (‚einen noch größeren‘). – zu κολοϲϲόϲ s. o. zu 62.1. V. 4 f. Zu Myron vgl. 66 und DNO 720–840. — ϲεμ̣νὸϲ ἐ̣κεῖνοϲ̣: der verehrte, berühmte Meister. — τετρ̣ά̣π̣[ηχ]υ̣ν̣ ὅ̣[ρον: τετράπηχυϲ ‚vier Ellen groß/hoch‘, d. h. ca 1.80 m bis maximal 2 m: die Lesung der ed. pr. ist von den meisten Interpreten akzeptiert. Man muss dabei allerdings in Kauf nehmen, dass die Aussage, Myron habe sich auf etwa lebensgroße Statuen beschränkt (‚Myron kam nur bis zu einer Grenze von 4 Ellen‘) nicht ganz korrekt ist. Denn auch für Myron ist zumindest eine Gruppe von Kolossalstatuen bezeugt (Strab. 14.1.14; DNO 723). Die aus Zeus, Athene und Herakles bestehende Gruppe, die Myron für das Heraion von Samos geschaffen hat, wurde von Marcus Antonius nach Rom gebracht (vgl. DNO 723 f.). Dass es sich auch bei dem von Plinius bezeugten Apollon von Ephesos (vermutlich für das Artemision) um eine Kolossalstatue gehandelt hat, kann dagegen keineswegs als sicher gelten (DNO 725). Eine Ergänzung, bei der Poseidipp auch für Myron von überlebensgroßen Statuen ausgeht, aber eben deutlich kleineren, als es Chares’ Koloss von Rhodos war, wäre auch deswegen willkommen, weil sich der Gedanke: ‚wenn ‹denn› Myron sich auf eine Größe von höchstens x beschränkt hat, so hat Chares gezeigt, dass man auch noch weit größere Statuen kunstvoll (μ]ετὰ τέχνα[ϲ) schaffen kann‘, etwas besser in den Kontext einfügte als der Vorschlag der ed. pr. Von den Vorschlägen, die bisher gemacht worden sind, kommt allenfalls der von D’Alessio in Frage (s. Angio 2004, 25). Allerdings erscheint es alles andere als sicher, dass τετρ̣α̣π̣[λο]ῦ̣ν φ̣[ύϲεωϲ (der von D’Alessio vorgeschlagene ionische Genitiv φ̣[ύϲιοϲ passt nicht zu der leicht dorisch/

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kretischen Färbung des Epigramms) wirklich „viermal so groß wie die ‹menschliche› Natur“ heißen kann. D’Alessios (2004) τετρ̣α̣π̣[λο]ῦ̣ν κ̣[ανόνα kann wohl kaum ‚den vierfachen normalen Maßstab‘ heißen und bei Ferraris τετρ̣α̣π̣[λο]ῦ̣ν μ̣[έγεθοϲ (s. d’Alessio 2004) stellt sich die Frage, die „vierfache Größe“ wovon gemeint ist. V. 6 ζῶ ̣ ‹̣ ι›ον̣ : Das ein lebendiges Wesen (Mensch oder Tier) bezeichnende Wort ist seit Herodot auch als Bezeichnung für ein Kunstwerk bezeugt. Poseidipp mag die überraschende Bezeichnung des Helios als ζῶιον gewählt haben, um zu betonen, dass sogar der riesige Koloss zu den von den ζωιοπλάϲται (s. Komm. zu 62,2) nachzuahmenden Kunstwerken gehört. — ἐχ̣αλ̣κούργε̣ι̣: Sens-Keesling (2005) haben darauf aufmerksam gemacht, dass das Verb, das hier literarisch zum ersten Mal bezeugt ist (ed. pr.), sich wiederholt in rhodischen Künstlersignaturen findet, und zwar sowohl allein (X ἐχαλκούργηϲε) als auch neben X ἐποίηϲε. Es fügt sich also gut in die rhodische Sprachfärbung des Epigramms. Dass Poseidipp mit Χάρηϲ … ἐχ̣αλ̣κούργε̣ι̣ (V. 5 f.) vielleicht sogar die Signatur auf der Basis des Kolosses ‚zitiert‘,58 ist allerdings wohl auszuschließen. Denn diese ist offenbar bei Strab. 14.2.5 (teilweise) und in AP 16.82 (entstellt) erhalten (vgl. DNO 1540 und 1540a). — γ̣ᾶϲ μεγ̣[. . . . .]. [.]ν̣: Für den verlorenen Schluss gibt es zwei Vorschläge, die beide nicht befriedigen: Casanovas Vorschlag γ̣ᾶϲ μέγ̣[α θαῦμα κι]χ̣[ώ]ν̣ oder πο]ρ̣[ῶ]ν (πορῶν eher als κιχών) mag als Charakterisierung des Kolosses als ‚großes Wunder des Landes‘ naheliegen, kann aber nicht richtig sein, weil auf jeden Fall eine Größenangabe erforderlich ist, und natürlich hat nicht Chares als erster eine staunenswerte Statue geschaffen; Austins γ̣ᾶϲ μεγ̣[έθει παρ]ι̣ϲ̣[ῶ]ν – oder vielleicht besser πάριϲον (‚‹fast› so groß wie die Erde‘) bietet diese, ist aber wohl zu hyperbolisch für den Kontext (μ]ε̣τ̣ὰ τέχνα[ϲ) und passt nicht recht zu dem eingangs formulierten Gedanken, dass Chares den Wunsch der Rhodier, einen noch gigantischeren Koloss zu bauen, abgelehnt habe. Rekonstruktionsvorschlag ἤθελον Ἠέλιον Ῥόδιοι περιμάκεα θεῖναι δὶϲ τόϲον, ἀλλὰ Χάρηϲ Λίνδιοϲ ὡρίϲατο μηθένα τεχνίταν ἔτι μείζονα τοῦδε κολοϲϲὸν θήϲειν· εἰ δὲ Μύρων εἰϲ τετράπηχυν ὅρον ϲεμνὸϲ ἐκεῖνοϲ ἀνῆκε, Χάρηϲ πρῶτοϲ μετὰ τέχναϲ ζῶιον ἐχαλκούργει γᾶϲ μεγ[έθει πάρ]ιϲ[ο]ν. Die Rhodier wollten einen riesigen Sonnengott errichten lassen, doppelt so groß; aber Charon aus Lindos setzte sich selber die Grenze, kein Künstler werde in Zukunft einen größeren Koloss aufstellen. Wenn Myron nur bis zu einer Grenze von vier Ellen ging, der verehrte berühmte Meister, so hat Chares als erster mit Kunstfertigkeit ein Geschöpf aus Bronze geschaffen, das fast so groß ist wie die Erde.

58

Sens-Keesling 2005, 76: „The phrase Χάρηϲ … ἐχαλκούργηϲε is at the very least a realistic ‚local‘ feature, but may also be read as a modified ‚quotation‘ of the original artist’s signature which may well have read Χάρηϲ ἐχαλκούργηϲε.“

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Das Epigramm beginnt mit einer Anekdote, nach der die Rhodier eigentlich einen doppelt so hohen Koloss errichten wollten, der mit der Herstellung beauftragte Chares sich aber für eine Grenze ausgesprochen habe (ὡ̣ρίϲ̣ατο), die so gesetzt war, dass auch so in Zukunft niemand einen größeren Koloss errichten werde. In den folgenden drei Versen setzt Poseidipp die Kolossalstatue des Chares in Relation zu Myrons Entscheidung, bei seinen Statuen nicht über Lebensgröße (Lesart: τετρ̣ά̣π̣[ηχ]υ̣ν̣ ὅ̣[ρον) bzw. über das Vierfache der Lebensgröße (Lesart: τετρ̣α̣π̣[λο]ῦ̣ν φύϲεωϲ) hinauszugehen. Mit der betont nachgestellten Charakterisierung ‚der verehrte berühmte Meister‘ (V. 5) deutet Poseidipp seine Zustimmung für diese Entscheidung (und seine Präferenz für Myron) an; aber auch Chares’ Koloss wird nicht etwa als zu groß kritisiert. Ist schon seine Reaktion auf den hybriden Wunsch der Rhodier eindeutig positiv konnotiert, so preist ihn Poseidipp am Schluss als den ersten Künstler, dem es gelungen ist, ein solches Riesenwerk wie den Koloss zugleich mit ‹hoher› Kunstfertigkeit (μετὰ τέχναϲ) geschaffen zu haben.59 Ging es in den vorausgegangenen Epigrammen immer um die akribische Arbeit der Bildhauer (63, 67) und die realistische Lebensechtheit ihrer Werke (63–66), so steht jetzt die richtige Größe im Mittelpunkt. Aber auch hier hebt Poseidipp die vernünftige Beschränkung des Maßes (V. 1–3) und die künstlerische Arbeit des Bildhauers (V. 5 f.) als wichtige Kriterien für ein gelungenes Kunstwerk hervor, das für zukünftige Arbeiten als Vorbild dienen kann (vgl. 62.1: μιμ̣[ή]ϲαϲθε τάδ’ ἔρ̣γ̣α). 69 Das zweite der beiden Epigramme auf Statuen des Myron bezeugt ein Werk des großen Bildhauers, das bisher nicht bekannt war. Leider ist der Text so stark zerstört, dass sich keine Informationen über die Gestaltung der Statue gewinnen lassen. XI

12 13 14 15

εἷμ̣αι χ̣ά̣λκε̣ι̣α̣ πρ̣ο̣τ…[ ±10 ].του μο̣υ̣ Τ̣υδεὺϲ μηπ[ ±20 ]νο̣ϲ̣ ε̣ἰ δ’ ἐπιθιξει̣[ ±20 ]. Μ̣ύρων εὖ θῆκ’ ἐπ’ ἔμ’ ἱμ̣[ ±20 ]ϲ̣

1 2 3 4

12 ]α̣ pot. quam ]ε̣ ed. min.̣  14 fort. ἐπιθίξει̣[ϲ ed. min.  ]ι̣ pot. quam ]υ ed. min.̣  15 ἱμ̣[άτιον ed. pr. : ἱμ̣[ερόεν φᾶροϲ ἀνὴρ χαρίει]ϲ̣ e.g. Austin 2001a

Ich trage bronzene […] von mir Tydeus […] wenn du (er) aber berühren wird […] Myron gut legte auf mich […] V. 1 εἷμ̣αι: Perf. zu ἕννυϲθαί τι ‚sich etwas anlegen‘, ‚sich in etwas hüllen/kleiden‘. — χ̣ά̣λκε̣ι̣α: Denkbare Nomina zu dem adjektivischen Attribut sind: τεύχεα und ἔντεα. 59

Vgl. auch Lukian. Iupp. trag. 11: καὶ πρόϲεϲτιν ἡ τέχνη καὶ τῆϲ ἐργαϲίαϲ τὸ ἀκριβὲϲ ἐν μεγέθει τοϲούτωι („Und dazu kommen noch die Kunstfertigkeit und die Sorgfalt der Ausführung bei einer so ungeheuren Größe“).

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Andriantopoiika 69

V. 2 Tydeus aus Ätolien ist einer der sechs Feldherrn, die Polyneikes auf seinem Zug gegen Theben begleiten, als dieser sich von seinem Bruder die Herrschaft zurückholen will. Er fällt wie alle andern in der Schlacht vor den Toren Thebens. – Ein Tydeus war bisher nicht bezeugt. Corso (2005) ist der Meinung, dass sich das von Poseidipp gepriesene Werk auf einem etruskischen Karneol (um 480; vgl. LIMC III 143 s.v. Tydeus 1) spiegele, der Tydeus als Athleten zeige, der sich den Körper nach dem Wettkampf mit der Strigilis von Sand und Öl reinigt. In der Tat soll Tydeus unmittelbar vor dem Zug der Sieben gegen Theben an den ersten Nemeischen Spielen teilgenommen und im Boxkampf gesiegt haben (Apollod. 3.6.4). Corsos ingeniöse Konstruktion scheitert jedoch daran, dass sie mit Poseidipps Text unvereinbar ist: Der Athlet Tydeus auf dem Karneol ist nackt; die Pointe des Epigramms ist jedoch gerade, dass die Figur bekleidet und diese Kleidung so lebensecht gestaltet ist, dass der Betrachter erst bei ihrer Berührung merkt, dass er eine Statue vor sich hat. Der Tydeus des Myron dürfte zu einer Gruppe gehört haben, welche die Sieben gegen Theben darstellte. Gruppen dieses Themas sind, während der Hauptschaffensphase des Myron, für andere Bildhauer bezeugt (s. DNO 633 f.: Hypatodoros und Aristogeiton, und DNO 685: Pythagoras). V. 3 ἐπιθιξει̣: Die überlieferte Buchstabenfolge erlaubt verschiedene Auflösungen; am wahrscheinlichsten ist das allgemein akzeptierte ἐπιθίξει̣[ϲ der ed. pr.: Futur zu ἐπιθιγγάνειν ‚die Oberfläche von etwas berühren‘, ‚etwas leicht berühren‘; denkbar ist auch ἐπὶ θίξει̣ (zu θίξιϲ, die ‚Berührung‘): ‚bei Berührung‘. – Zu Myron s. 66. V. 4 ἱμ̣[: Die Ergänzung der ed. pr. ἱμ̣[άτιον passt nur dann gut zu V. 1, wenn ‚Mantel‘ (als äußeres Kleidungsstück) hier metaphorisch für ‚Rüstung‘ verwendet ist oder wenn in V. 1 zu χ̣ά̣λκε̣ι̣α nicht ein Wort für Rüstung zu ergänzen ist. – Austin hat seinen Vorschlag (e.g.): ἱμ[̣ ερόεν φᾶροϲ ἀνὴρ χαρίει]ϲ nicht in die ed.min. übernommen; es ist in der Tat unklar, warum Tydeus ein ‚sehnsuchterweckendes Gewand‘ tragen und Myron als anmutiger Mann bezeichnet werden sollte. Es handelt sich um das einzige der neun Andriantopoiika, in dem das Kunstwerk, wie in vielen ekphrastischen Gedichten, als Sprecher erscheint. In 64 ruft Idomeneus zwar seinem Gefährten Meriones etwas zu, Sprecher des Epigramms ist aber, wie in den anderen Epigrammen der Sektion, eine anonyme persona. Auch wenn der Text sehr schlecht überliefert ist, erlauben die erhaltenen Reste eine interpretative Rekonstruktion, die die Verse auch thematisch als Pendant zum ersten der beiden Myron-Epigramme erscheinen lässt: Die Kuh erschien dem Betrachter in 66 zunächst als reale Kuh, die einen Pflug ziehen könnte; als er sie jedoch berührt, stellt er fest, dass es sich um ein Werk Myrons handelt. Die Tydeus-Statue erklärt zunächst, dass sie eine bronzene Rüstung trägt (wie in der Schlacht vor den Toren Thebens), fügt dann aber hinzu, dass der Betrachter, wenn er sie berührt, merken wird, wie geschickt Myron die bronzene Kleidung über ihn gelegt hat (vgl. 65). Wie in dem Epigramm auf Myrons Kuh (und in 63) stellt Poseidipp damit auch hier als das Ideal der Kunst ihre täuschende Lebensechtheit (ἀλήθεια) heraus. Beide Werke Myrons sind so realistisch, dass man erst bei der Berührung feststellt, dass es sich nicht um lebende Wesen, sondern um Kunstwerke handelt.

Bernd Seidensticker

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70 Das Schlussepigramm konfrontiert offenbar – wie das erste – Polyklet und Lysipp.  XI

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καὶ τὰ Πολυκ̣[λείτου ±12 ] π̣άν̣τ̣ω̣ν̣ ϲάρκ̣ινα̣ καὶ θ̣.[ ±18 ]α̣ι̣ πάντ’ ἐπ’ Ἀλεξά̣[νδρου ±14 χ]ε̣ιρῶν τῶν Λυϲιππε̣[ίων ±19 ]ϲ̣

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17 η̣[, ν̣[, ρ̣[ ed.min.

Und die Polyklets […] von allen fleischig und […] alles auf (zur Zeit des) Alexander […] der Hände der Lysippischen […]. V. 1 f. τὰ Πολυκ̣[λείτου: Denkbar ist auch Πολυκλείτεια, auch wenn das Adjektiv erst in byzantinischer Zeit belegt ist (Anna Komnene 13.10.4). Poseidipp verwendet Adjektive auf -ειοϲ von Künstlernamen auch in 67.1 und wahrscheinlich im letzten Vers dieses Epigramms. — ϲάρκ̣ινα: Dass das Adjektiv die in V. 1 genannten Werke Polyklets charakterisiert, ist wahrscheinlich; die Bedeutung ‚fleischig‘ findet sich bei Aristophanes (fr. 728 Kassel-Austin) und Eupolis (fr. 417 Kassel-Austin), aber auch in der Prosa (Plat. leg. 906c von Körpern; Aristot. NE 3.9.3 von einem Boxer); Polyklets Statuen werden in der antiken Kunstkritik wiederholt als ‚stämmig‘, ‚füllig‘, ‚kräftig‘ charakterisiert (im Gegensatz zu den zarteren Gestalten Lysipps).60 V. 3 ἐπ’ Ἀλεξά̣[νδρου: Zu Lysipp als Bildhauer Alexanders vgl. 65. V. 4 χ]ε̣ιρῶν τῶν Λυϲιππε̣[ίων: Zur Bedeutung von χείρ bzw χέρεϲ für die Arbeit und für das Ergebnis der Arbeit eines Künstlers vgl. Komm. zu 62.3; das Adjektiv Λυϲιππεῖοϲ findet sich sonst nur noch bei Plut. Alex. 4.1. Das letzte der neun Andriantopoiika ist sehr schlecht erhalten. Immerhin erlauben die Reste den Schluss, dass Poseidipp wie in 62 (und implizit in 63) auch in 70 seinen Lieblingsbildhauer Lysipp mit Polyklet konfrontiert (zur Komposition der Andriantopoiika vgl. o. S. 248). ϲάρκινα deutet darauf, dass er die kräftigen, massigen (fleischigen) Figuren Polyklets mit den zarteren, eleganteren Gestalten ‚von der Hand Lysipps‘ (V. 3 f.) verglichen hat. Auch wenn ϲάρκινα keine negativen Assoziationen haben sollte, erlauben 62 und 63 (s. o.) die Annahme, dass Lysipp wie am Anfang so auch am Ende der Gruppe als der bessere der beiden großen Bildhauer gefeiert worden ist. 60 Plinius (nat. 34.56) berichtet, dass Varro Polyklets Figuren als quadrata, ‚kompakt ‹gebaut›‘, bezeichnet hat; (DNO 1205; Pollitt 1974, 265 Nr. 8 u. 267); vgl. auch Plin. nat. 34.65, wo von seinen quadratae veterum staturae im Unterschied zu Lysipps zierlicheren und schlankeren Körpern (corpora graciliora siccioraque) die Rede ist.

Hippika Unter der Überschrift Hippika (col. XI 20) versammelt der Mailänder Papyrus von col. XI 21 bis col. XIV 1 insgesamt 18 Epigramme (71–88), die in verschiedenen Formen um Siege kreisen, die bei den griechischen Spielen in Wettbewerben mit Pferden errungen worden sind. Diese Epigramme stellen sich in eine weit zurückreichende Tradition, gemäß der die Sieger (oder ihre Angehörigen) in den Agonen der panhellenischen Spiele entweder am Wettkampfort oder in Heiligtümern ihrer Heimat Weihgeschenke aufstellen durften, die den Ruhm ihrer Siege dauerhaft ausstellten und an denen ein Epigramm angebracht wurde, das die erforderlichen Informationen gab.1 Pausanias teilt innerhalb seines Berichts über Olympia einige solcher Epigramme mit, die geeignet sind, die typischen Merkmale der Form zu illustrieren. So zitiert er ein Distichon, das an der Bronzestatue eines Pferdes angebracht war und den Sieg eines Pheidolas von Korinth im Pferderennen im späten 6. Jh. feierte (6.13.9; Friedländer/Hoffleit 1948, Nr. 97):2 Οὗτοϲ Φειδόλα ἵπποϲ ἀπ’ εὐρυχόροιο Κορίνθου ἄγκειται Κρονίδαι μνᾶμα ποδῶν ἀρετᾶϲ. Dies, das Pferd des Pheidolas aus Korinth mit den weiten Tanzplätzen, ist aufgestellt für den Kroniden als Denkmal seiner Füße Trefflichkeit.

Das Epigramm gibt folgende Informationen: Es nennt den Sieger (d. h. den Besitzer des Pferdes): „Pheidolas aus Korinth“ (eine genaue Bestimmung einer Person erfolgt in der griechischen Kultur bekanntlich durch die Angabe von Namen und Vatersnamen oder Heimatort), charakterisiert das Standbild über einen deiktischen Hinweis: „dies“ und eine qualitative Bestimmung: „das Pferd“ und gibt Hinweise auf den Wettkampf: „seiner Füße Trefflichkeit“ (d. h. Pferderennen) sowie den Wettkampfort: „für den Kroniden“ (d. h. Zeus), was über den Aufstellungsort Olympia hinaus seine sakrale Qualität signalisiert. Es ist anzunehmen, dass die künstlerische Agonalität, die die Ausgestaltung der Weihgeschenke und Standbilder vorantrieb, auch die beigegebenen Epigramme erfasste und dazu führte, dass sich ihre Ausdruckskraft erweiterte. Wohl unter dem Einfluss des Epinikions3 werden seit dem 4. Jh. eine Erweiterung des Umfangs und ein intensiverer Gebrauch dichterischer Stilmittel möglich.4 Diese stärkere ‚Literarisierung‘ des Epigramms legt nahe, dass es nun nicht mehr nur als Inschrift am Wettkampfort eine Weihgabe zierte, sondern von der Weihgabe losgelöst als Text Verbreitung fand und den Ruhm des Siegers ohne Ortsbindung verkündete. Vergleichbar den Epinikien eines Bakchylides oder Pindar stellen die Hippika im Mailänder Papyrus gleichsam eine Sammlung von Texten dar, die, einerseits Auftragswerke für die jeweiligen Sieger bzw. Stifter der Weihgaben zu sein scheinen, andererseits durch den

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S. Ebert 1972, 18 f. Ähnlich ist das von Paus. 6.10.7 (Friedländer/Hoffleit 1948, Nr. 101) mitgeteilte Epigramm angelegt: „Kleosthenes, der Sohn des Pontis, aus Epidamnos weihte mich, nachdem er den schönen Wettkampf des Zeus mit den Pferden [d. h. im Wagenrennen] gewonnen hatte.“ Untersuchungen zu diesem Einfluss fehlen bisher. Zu den Funktionen des Epinikions s. Kurke 1991. S. als Beispiel etwa Nr. 69 in Ebert 1972, 203, ein Epigramm vom Ende des. 3. Jh.s v. Chr. auf den Sieg des Kleonymos von Rhodos im Zweigespannrennen der Nemeen, das sich durch eine am Epinikion orientierte Stilisierung auszeichnet.

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Hippika 

mutmaßlich gemeinsamen Verfasser Poseidipp eine Einheit bilden und in einer Buchausgabe seiner Epigramme vereint worden sind. Inwieweit in den 18 Gedichten Kopien tatsächlicher Inschriften oder Epigramme vorliegen, die vorgeben, Inschriften zu sein, lässt sich nicht klären. Ob man in der im Papyrus vorliegenden Reihenfolge der Epigramme eine kunstvolle Komposition sehen darf, ist nicht klar: Die Erstherausgeber nehmen eine Zweiteilung an, nach der sich 71–82 von 83–88 abheben; Gutzwiller (2005, 315) plädiert dagegen für drei Gruppen mit je sechs Epigrammen. Einen noch differenzierteren Vorschlag macht Fantuzzi (2004). Ein Problem liegt indes für jede Annahme einer absichtsvollen Komposition darin, dass das die Sammlung eröffnende 71 – soweit erkennbar – jeden Schmuck, der ein Einleitungsepigramm zieren könnte, sowie jede grundsätzlichere Form von ‚Selbstreflexion‘ des Hippikons vermissen lässt. Es liegt nahe, in den jeweiligen Siegern bzw. Stiftern die Auftraggeber der Epigramme zu sehen. Dass unter den Siegern in hippischen Agonen Thessaler – Hippostratos (71), der nicht mehr kenntliche Adressat von 83, Phylopidas (84) und Amyntas (85) – eine prominente Rolle spielen,5 kann bei der Bedeutung der thessalischen Pferdezucht6 nicht verwundern (s. 85.4). Als herausragend freilich zeigt sich das ptolemäische Königshaus, das fünf (oder sogar sieben) Epigramme (78, 79 [vielleicht 80, 81], 82, 87 u. 88) preisen. Hinzu kommt mit 74 ein Gedicht auf eine Weihung, die der ptolemäische Nauarch Kallikrates für das ptolemäische Königspaar (74.14) vorgenommen hat. So erscheinen in den Gedichten Ptolemaios I. (78, 88), Ptolemaios II. (74, 78, 88), Arsinoë II. (74), Berenike I. (78, 87, 88) und insbesondere Berenike II. (78, 79: Sieg bei den Nemeen 249; [vielleicht 80, 81] 82: Sieg bei den Isthmien 248),7 die Adressatin von Kallimachos’ Victoria Berenices (SH 254 –269, s. Fuhrer 1992).8 Dass sich gerade mit diesen Epigrammen eine Betonung des königlichen Status der Ptolemäer verknüpft und dem Nimbus der Dynastie (die durch Verweise auf ihre makedonische Herkunft wie durch Vergleiche mit berühmten Siegen traditionsreicherer griechischer Familien nobilitiert werden soll) zugearbeitet wird, ist naheliegend.9 Die apostrophierten Siege in den hippischen Agonen lassen sich einer Reihe von Wettbewerben zuordnen: eine Gruppe dem Rennen von Einzelpferden (71; 73; 76; 83; 84; 85; 86), das bisweilen eigene Wortbildungen herausheben: μουνοκέληϲ (71.1, 83.1) oder οἰοκέληϲ (86.2). Eine weitere Gruppe (75, 77, 78, 79, 81, 82, 87, 88) gilt dem Rennen mit dem Viergespann: Hier ist ἅρματι νικᾶν (o. ä.) der terminus technicus für einen entsprechenden Sieg (s. Ebert 1972, Anm. 1.): 75.1, 77.1, 78.3, 81.4 (?), 88.2. In 72 und 74 ist von Fohlen die Rede, und man kann 72 dem Fohlenrennen, 74 dem Wettbewerb mit dem Fohlen-Viergespann zuordnen (s. dazu Decker 1995, 108–109).10 Auch die Spiele sind in der Regel erkennbar: die Pythien (71, 74, 76), die Nemeen (72, 79, 80, 81), die Olympien (73, 75, 77, 78, 83, 84, 85, 87, 88) 5 6 7

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Vielleicht ist auch der Fohlen-Besitzer Molykos in 72 ein Thessaler, s. den Komm. S. etwa Hdt. 7.196; Plat. Hipp. mai. 284a; Isokr. 15.298; vgl. Soph. El. 703–704. S. insg. Finglass 2007, 313 (zu Soph. El. 703–704); Spence 1993, 23–25. S. Huss 2008 (auch mit Auseinandersetzung mit Criscuolo 2003). Hingewiesen sei auf Thompson 2005, die die Identifikation der Berenike in den genannten Gedichten mit Berenike II., der Tochter des Magas und der Frau des Ptolemaios III., in Frage stellt und statt ihrer die gleichnamige Tochter des Ptolemaios II. und der Arsinoë I. apostrophiert sieht, die 252 v. Chr. mit Antiochos II. verheiratet wurde. Diese Identifizierung ergäbe zugleich einen terminus ante quem 252 v. Chr. für die auf sie bezogenen Gedichte. Bezeichnend ist dabei auch das Schweigen über den Erfolg der Belestiche, der Geliebten des Ptolemaios II., die 268 v. Chr. mit dem Fohlengespann in Olympia gewann (Nr. 549 Moretti 1957). S. Fantuzzi 2005; Müller 2009, 206–245. Fantuzzi (2004) ignoriert, dass in diesen beiden Epigrammen dezidiert von Fohlen die Rede ist. Sein Versuch, einen planmäßigen Aufbau in der Anordnung der Hippika zu erkennen, ist dadurch belastet.

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und die Isthmien (82). Einen Sonderfall bildet 86, das augenscheinlich eine Gesamtschau der Siege, die Eubotas in Nemea und am Isthmos erzielte, gibt. Poseidipp11 scheint darüber hinaus auch die Textstimme in verschiedenen Formen anzulegen bzw. zu variieren (s. zur Form der Rede in derartigen Epigrammen grundsätzlich Ebert 1972). Es kann ein schlichter auktorialer Redeakt sein, der potentielle Betrachter der Weihgabe (und zugleich Leser des Epigramms) anspricht (so 72, 74, 76, 79), das Weihgeschenk selbst, sei es das Pferd (73, 75, 83, 87), sei es der Sieger, der entweder Teil des Monuments ist (78, 88) oder wenigstens dessen Auftraggeber (71, 77, 85, 86), oder eine Rede des Dichters an den Sieger (82, 83). Bemerkenswert ist die Dialekt-Verwendung in den Epigrammen: Poseidipp gebraucht sowohl den episch-ionischen wie den dorischen Dialekt augenscheinlich in kalkulierter Weise. Während die Epigramme, die um Pythien, Isthmien und Nemeen kreisen, ionisch geschrieben sind, herrscht in den Weihepigrammen für Olympia das Dorische vor (Sens 2004).12 71 Das Epigramm gibt sich als Aufschrift für das Standbild eines Pferdes (s. das deiktische Pronomen οὗτοϲ V. 1), das bei den Pythien gewonnen hat (s. zum Vergleich Paus. 6.13.10). Das Sprecher-Ich des Epigramms ist als Eigentümer des Pferds modelliert, der seine als Göttin personifizierte Heimat Thessalien apostrophiert. XI

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οὗτοϲ ὁ μουνοκέληϲ Αἴθω̣ν ἐμὸϲ .[ κἀγὼ τὴν αὐτὴν Πυθιάδα ϲτ̣[ δὶϲ δ’ ἀνεκηρύχθην Ἱππόϲτρ[ατοϲ] ἀ̣θλοφ̣[όροϲ τ’] ἦ̣ν ἵπποϲ ὁμοῦ κἀγώ, πότνια Θεϲϲα̣λ̣ία.

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21 ἤ̣[ρατο νίκην ed. pr. : ἵ̣[πποϲ ἐνίκα Austin 2001a, ed. min. : ὕ̣[ψι βίβαϲκεν Ferrari 2005  22 ϲτ̣[εφόμην ed. pr. … ϲτ̣[άδιον] Austin 2001a, ed. min. 21–22 v. et Bernardini-Bravi 2002

Dieses Rennpferd, mein Aithon […] und ich bei denselben Pythischen Spielen […] Zweimal wurde ich, Hippostr(atos), zum Sieger ausgerufen, und Siegespreisträger waren das Pferd und ich zugleich, ‹meine› Herrin Thessalien. V. 1 μουνοκέληϲ: Hier wie in 83.1 wird mit diesem Adjektiv (gebildet, vielleicht nach dem Modell μόνιπποϲ, mit dem Zahlwort μόνοϲ bzw. [episch-ionisch] μοῦνοϲ – in Variation auch οἶοϲ [‚allein‘], 86.2 – und dem Adjektiv κέληϲ [‚rennend‘, bisweilen als Substantiv ‚Renner‘ gebraucht, s. etwa Hdt. 7.86]) der terminus technicus ‚im Einzelrennen laufend‘ (gewöhnlich κέληϲ, so etwa IvO 177 [Moretti 1953, Nr. 34] oder I.Lindos 68.2 [Moretti 1953, Nr. 35]) 11 12

Mit dieser Verfasserbezeichnung soll nicht grundsätzlich behauptet werden, dass alle Epigramme auch von Poseidipp stammen; s. Schröder 2004. Bettarini (2004) erkennt in der Verschiedenheit der Dialekte sogar ein implizites Bekenntnis des Dichters zur griechischen ‚Misch‘-Kultur von Alexandria (vgl. etwa Theokr. eid. 15.90: syrakusa­ nisches Dorisch sprechende Frauen beim Adonisfest).

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poetisch variiert. Vielleicht orientiert sich Poseidipp an dem Weihepigramm für die hippischen Siege Hierons I. in Olympia (mitgeteilt von Paus. 8.42.9), das dieses Adjektiv enthält. — Αἴθων̣ : Der (sprechende) Name des Pferdes, Aithon (Fuchs), ist nicht selten (vgl. etwa Hom. Il. 8.185 u.ö., s. ed. pr. 197; Maehler 1996), er erscheint auch in 86.3. Am Ende der ersten beiden Verse ist auf jeden Fall eine finite Verbform verloren gegangen. Der Ergänzungsvorschlag der ed. pr. ἤ̣[ρατο νίκην (,gewann den Sieg‘) bietet einen gangbaren Weg. V. 2 κἀγὼ τὴν αὐτὴν Πυθιάδα: Es scheint, dass der Sprecher, der seinen Namen erst in V. 3 nennt, im selben Jahr nicht nur im Pferderennen gewonnen, sondern noch einen zweiten Sieg errungen hat (zu den damit verbundenen Problemen s. Schröder 2004, 66). Austin ergänzt einen Sieg im Stadienlauf. Denkbar ist auch ein eigenes Prädikat zu κἀγὼ, z. B. ϲτ̣[εφόμην (ed. pr.). V. 3 δὶϲ δ’ ἀνεκηρύχθην: Hier ist offenbar von zwei Siegen die Rede. Die Vermutung der Erstherausgeber (198), es handele sich in den Versen 3 f. um die Erinnerung an einen früheren Sieg bei den Pythien (vgl. 77.1; 86.3), passt nicht zu τὴν αὐτὴν Πυθιάδα. — Ἱππόϲτρ[ατοϲ]: Der Name (die Ergänzung ist plausibel) ist nicht selten; ein Thessalier Hippostratos ist sonst nicht bezeugt. V. 4 πότνια Θεϲϲαλία: Die thessalische Pferdezucht (s. Einl. zur Sektion, Anm. 6) galt in der griechischen Welt traditionell als bedeutend (s. Steier 1938, s.v. Pferd, RE XIX 2, 1430–1444, hier 1440; s. auch AP 14.73.2). Ein anonymes Epigramm der AP (9.21.1) kann daher mit der Apostrophe an die „fohlennährende Heimat Thessalien“ beginnen (vgl. auch AP 7.304 u. 11.259 [in parodischer Brechung]). Da es eine alte poetische Denkform ist, die Erde/ein Land (vgl. Aischyl. Ch. 722; Eur. Hek. 70 u. ö.) mit dem Ehrentitel „Herrin“ zu versehen und entsprechend zu apostrophieren, ist es nachvollziehbar, wenn der dankbare Sieger das Land, das sein Pferd (und ihn selbst) hervorgebracht hat, mit dem Ehrentitel anspricht. Diese Anrede an Thessalien scheint die früheste bezeugte ihrer Art zu sein; vor dem Papyrusfund waren lediglich zwei Münzen des thessalischen Koinon aus Neronischer Zeit bekannt, die eine weibliche Figur zeigen, die sich als ‚Thessalia‘ deuten ließ (s. Liampi 1997, LIMC VIII 1, 1, die auf Philostr. imag. 2.14 verweist: „Es steigt auch Thessalia empor, weil das Wasser schon fällt, mit Ölzweigen und Ähren im Haar, und ihre Hand ruht auf einem Füllen, das mit ihr heraufkommt“ [Übers. Schönberger] – auch hier wird im Übrigen das Pferd als Charakteristikum Thessaliens genannt). Es knüpft sich daran indes die Frage, wo die Inschrift und das Standbild als aufgestellt zu denken sind. Ist es die Heimat des Siegers (womit die Apostrophe konkret zu verstehen wäre) oder der Wettkampfort Delphi (mit imaginärer Anwesenheit der Heimat)? Rekonstruktionsvorschlag οὗτοϲ ὁ μουνοκέληϲ Αἴθων ἐμὸϲ ἤ[ρατο νίκην κἀγὼ τὴν αὐτὴν Πυθιάδα ϲτ[εφόμην δὶϲ δ’ ἀνεκηρύχθην Ἱππόϲτρ[ατοϲ] ἀθλοφ[όροϲ τ’] ἦν ἵπποϲ ὁμοῦ κἀγώ, πότνια Θεϲϲαλία. Dieses Rennpferd, mein Aithon, gewann den Sieg, und ich wurde während derselben Pythischen Spiele bekränzt.

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Zweimal wurde ich, Hippostratos, zum Sieger ausgerufen und Siegespreisträger waren das Pferd und ich zugleich, ‹meine› Herrin Thessalien. Dieses eher schlichte Gedicht enthält die gattungstypischen Merkmale eines Sieges-Epigramms: Es benennt den Sieger, seine Herkunft (wodurch ihm soziale Kontur gegeben ist), den Wettbewerb und die Spiele. Trotz des interpretatorischen Problems in V. 3 kann man in ihm ein archetypisches Siegesepigramm erkennen. Seine Stellung als Einleitungsgedicht der Gruppe ist zunächst merkwürdig, da es eine eher unauffällige ‚Visitenkarte‘ darstellt. Liegt gerade darin der Sinn dieser Positionierung, ein typisches und zugleich schlichtes Epigramm als Einleitung zu bieten, das den folgenden Epigrammen als Ausgangspunkt für Variation und Ausschmückung, mithin als vom Leser zu erkennende Folie für das Kommende, vorangestellt ist? 72 Das Epigramm gibt sich als Inschrift auf einem Standbild eines Fohlens. Eine nicht definierte Textstimme fordert die Betrachter des Standbilds auf, dessen besondere künstlerische Qualität zu beachten; diese steht im Vordergrund; dass das Fohlen einen Sieg im Rennen bei den Nemeen erreicht hat, erscheint dagegen nur als Ausgangspunkt für das Kunstwerk. XI

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τοῦ πώλου θηεῖϲθε τὸ λιπαρέϲ, ὡϲ πνόον ἕλκει παντὶ τύπωι καὶ πᾶϲ ἐκ λαγόνων τέταται ὡϲ νεμεοδρομέων· Μολύκωι δ’ ἤνεγκε ϲέλινα νικήϲαϲ ἄκρωι νεύματι καὶ κεφαλῆι.

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26 εγλαγονων P  27 τελεοδρομέων Lapini 2007

Schaut bewundernd des Füllens Ausdauer, wie es atmet bei jedem Hufschlag und an den Flanken ganz ausgestreckt ist wie beim Lauf bei den Nemeen. Molykos brachte es den Eppichkranz, es siegte mit dem letzten Vorwärtsnicken und mit dem Kopf. V. 1 τὸ λιπαρέϲ: Mit diesem Ausdruck, dessen Bedeutungsspektrum ‚Ausdauer‘, ‚Beharrlichkeit‘, ‚Ernst‘ umfasst, wird dem imaginierten Betrachter zunächst ein Paradox zugemutet. Denn angesichts des Umstands, dass ein Bronzestandbild gleichsam die Fixierung eines Augenblicks (hier etwa großer Anstrengung) bedeutet, muss er bei der Forderung, die höchste ‚Ausdauer‘ (zum Ausdruck vgl. Xen. Kyr. 5.4.5) des dargestellten Pferdes zu sehen, seine Phantasie bemühen. V. 2 παντὶ τύπωι: τύποϲ bezeichnet zunächst den Hufschlag des Pferdes (Xen. equ. 11.12). Gleichzeitig ist dieses Wort auch ein Terminus der bildenden Kunst, mit dem jede Art von Skulptur (und so auch Bronzen) bezeichnet werden kann (s. LSJ IV.). Damit liegt hier eine (vielleicht intendierte) Doppeldeutigkeit des Ausdrucks vor, in dem auch ‚durch die gesamte Form‘ mitbezeichnet ist. — ἐκ λαγόνων τέταται: λαγών, die ‚Flanke‘, bezeichnet die Körperpartien (bei Menschen wie Tieren) unterhalb der Rippen. Hier streckt sich das Pferd im Galopp; vgl. hierzu das Bronzestandbild des Pferdes aus dem Artemision-Fund (Athen, Archäologisches Nationalmuseum 15177).

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V. 3 νεμεοδρομέων: Das sonst nicht bezeugte Verb νεμεοδρομεῖν ist vielleicht nach dem Modell ὀλυμπιοδρόμοι bei Bakchyl. 3.3 gebildet. Die Erstherausgeber machen auf das Problem aufmerksam, dass hier augenscheinlich ein Sieg im Einzelrennen benannt ist, die Hypothesis Nemeonicarum der Pindar-Scholien (II p. 2.6–7 Drachmann) jedoch im Widerspruch dazu über die Nemeen mitteilt: ἦν δὲ γυμνικὸϲ καὶ ἅρμα, οὐχὶ δίφροϲ οὐδὲ κέληϲ („es gab [sc. an den Nemeen] einen gymnischen Agon und ein Vierspänner-Wagenrennen, aber kein Zweispänner-Rennen und kein Galopprennen“). Wie dieser Widerspruch aufgelöst werden kann, ist unklar. — Μολύκωι: Molykos, der Name des Besitzers, könnte auf dessen thessalische Herkunft verweisen, da Thessaler mit Namen Μόλυκκοϲ nachweisbar sind (s. ed. pr. 199). Eine Identifikation mit einem gleichnamigen Admiral Kassanders, dessen Aktivitäten Diodor (19.54) für das Jahr 315 mitteilt, empfiehlt sich aus chronologischen Gründen nicht. — ϲέλινα: Bei den Nemeischen Spielen wurde traditionell ein Siegeskranz aus Eppich/wildem Sellerie verliehen (Paus. 10.7.8; Plut. quaest. conv. 5.3, mor. 676 E/F gibt die Aitiologie; vgl. Kallimachos SH 266 mit Fuhrer 1992, 136–138). Der Kranz wird auch in 81.1 erwähnt. V.4 ἄκρωι νεύματι καὶ κεφαλῆι: Mit dieser Formulierung wird die Art des Sieges bezeichnet; in ähnlicher Weise wird in 74.3 ein knapper Sieg geschildert. Ist dies die denkbar kleinste Form des Vorsprungs, so wäre der nächst größere Abstand wohl die ‚Kopflänge‘ des Pferdes, die auch Soph. El. 740 benennt. Vgl. auch die Terminologie des modernen Pferderennsports, die bei Siegen unterscheidet zwischen „Nase“, „kurzem Kopf“, „Hals“, „halber Länge“ usw. Das Epigramm hat eine eigentümliche Schwerpunktsetzung: Es ist nur scheinbar ein Siegesepigramm, tatsächlich wird aber die Form genutzt, um eine Ekphrasis eines Kunstwerks zu geben. Denn eigentlich sollte der Sieg des Molykos im Fohlenrennen an den Nemeen im Zentrum des Gedichts stehen (vgl. etwa 71). Doch fokussiert der Text durch die imperativische Aufforderung an den imaginierten Betrachter/Leser (das imperativisch verwendete θηεῖϲθε bedeutet bezeichnenderweise sowohl das tatsächliche Schauen wie auch das imaginäre Betrachten [vgl. Plat. Phaid. 84b]; s. Papalexandrou 2004, 253–254), auf die besondere Kunst, die das Standbild des Fohlens bezeugt, zu achten. Es feiert (und evoziert) also neben dem Sieg die Kunst des Standbilds. Dies vollzieht sich dadurch, dass zunächst ein Fohlen in angestrengtem Lauf beschrieben zu werden scheint (V. 1–2), diese Beschreibung aber zugleich als Beschreibung eines Standbilds gedacht werden soll. Dass dabei die Kunst in der besonderen Ähnlichkeit zum dargestellten Objekt gefasst wird, entspricht der hellenistischen Ästhetik. 73 Das Epigramm gibt sich als Ich-Rede eines bei den Olympien siegreichen Pferdes; infolge der Lücken im Papyrus lassen sich der Gedankengang und die Intention des Gedichts nicht sicher ermitteln. XI

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εὐθὺϲ ἀπὸ γραμμῆϲ ἐν Ὀλυμπίαι̣ ἔ̣τρεχον οὕτω κέντρα καὶ εξ.[ ±15 ]μενοϲ, ἁδὺ βάροϲ ταχυ[ ±12 ϲτ]εφάνωϲαν θαλλῶι τρυγα.[………]..[.].[ο]υ

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29 γραμμᾶϲ Ferrari per litt.  30 cf. litteras καικεντ̣ρ̣α̣ a m² in columnae margine superiore scriptas („de varia lectione ἐξώϲειϲ καὶ κέντρ’ cogitare potes“ ed. min.)  ἐξώ̣[ϲειϲ ed. pr., min. : ἐξο̣[ρμὴν De Stefani 2003, Luppe 2004c  οὐδ’ ἐπιδεξά]μενοϲ ed. pr., min. : οὐ καταπαιό]μενοϲ Di Benedetto 2003a : οὔτινα δεξά]μενοϲ De Stefani 2003 : οὔποθ’ ὑφιϲτά]μενοϲ Luppe 2004c : οὐχ ὑποδεξά]μενοϲ Ferrari 2005 : fort. οὔποτε δεξά]μενοϲ Ferrari per litt.  31 ταχυ[τᾶτι et ἐϲτ]εφάνωϲαν ed. pr., min. : ταχυ[τᾶτι φέρων, οἱ δ’ ἐϲτ]εφάνωϲαν Austin 2001a : ταχυ[τᾶτι· καὶ ἀνέρεϲ ἐϲτ]εφάνωϲαν De Stefani 2003 : ταχυ[τᾶτι δ’ ἐμᾶι τόνδ’ Ferrari per litt. : ταχὺ[ϲ ἵπποϲ Lapini 2007  32 Τρυγαῖ̣[ον ed. pr., min.  fin. e.g. παῖδα τὸν –vv -[ο]υ Austin 2001a : κ]ο̣τ̣[ί]ν̣[ο]υ De Stefani 2003

Stracks von der Startlinie in Olympia lief ich so Sporen und […] süß war die Last schnell(igkeit) […] sie bekränzten mit einem ‹Öl›Zweig (Trygaios?) […] V. 1 ἀπὸ γραμμῆϲ: Der Ausdruck bezeichnet prägnant-archaisierend (und damit in einem für ein Epigramm angemessenen gedrängt-poetischen Bild) den ‚Startbereich‘ der Rennbahn. Begann man ein Rennen in älterer Zeit (und an kleineren Wettkampforten) von einer einfachen, im Sand der Rennbahn gezogenen Markierungslinie (γραμμή) aus, so wurde vom 5. Jh. an ein ‚Apparat‘ bestehend aus einer Startschwelle und einer Pfostenanlage (s. auch Poll. 3.147), die durch Absenken von Seilen den Start freigab, üblich. In Olympia verbindet sich die Einrichtung einer solchen Anlage (die in hellenistischer Zeit weiter ausgebaut wurde; Paus. 6.20.10–14; vgl. Wiegartz 1984) nach dem Zeugnis des Pausanias (6.20.14 bzw. 1.24.3) mit dem Künstler Kleoitas (wohl 5. Jh., s. G. Lippold 1921: RE XI 1: 675–676). V. 2 Der erhaltene Teil des Verses legt nahe, dass hier die Rede davon ist, wie auf das Pferd durch κέντρον (Peitsche oder Sporen, hier im poetischen Plural i. S. v. ‚-einwirkungen‘) und – wenn das folgende καὶ einen Begriff auf gleicher Ebene anschließt – einem zweiten Instrument ἐξ.[ positiv oder negativ eingewirkt wird. Freilich ist es schwierig, ein solches Instrument zu benennen: Die ed. pr. ergänzt: ἐξώ[ϲειϲ οὐδ’ ἐπιδεξά]μενοϲ, was zu folgender Übersetzung führt: „ohne Sporen und Antreibungen zu empfangen“. Dies vermag jedoch nicht zu überzeugen, da ἐξώϲειϲ ein medizinischer terminus technicus i. S. v. ‚Heraustreibung‘, ‚Reinigung‘ ist. Das von De Stefani (2003) und Luppe (2004c) vorgeschlagene ἐξορμή würde ein ‚Ausrücken‘ (im militärischen Sinn, s. Plat. Theag. 129d) bedeuten und – übertragen – das Ausbrechen des Pferdes aus der Laufbahn bezeichnen. Hiermit entstünde jedoch ein Problem für den Verbalbegriff, der zwei unterschiedliche Bereiche als Objekte tragen müsste. Es ergäbe sich ein Zeugma. In jedem Fall muss der partizipiale Verbalbegriff, von dem nur die Endung erhalten ist, negativ gedacht sein, wenn man zugrunde legt, dass das Besondere darin liegt, dass das Pferd ohne die üblichen anspornenden Maßnahmen schnell gelaufen ist (so das seit der Ilias 23.387 [ἄνευ κέντροιο θέοντεϲ] immer wieder bemühte Motiv). In diesem Sinne ergänzt die ed. pr. οὐδ’ ἐπιδεξά]μενοϲ, wobei freilich die vorgeschlagene Negation οὐδ’ sowie das vervollständigte Partizip nur exempli gratia zu verstehen sind, da (wie von Ferrari [2005] ausgeführt) auch οὐχ ὑποδεξά]μενοϲ oder οὔποτε δεξά]μενοϲ möglich sind.

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Hippika 73

V. 3 f. Das zweite Distichon ist stark zerstört; Die Logik der Erzählung sowie die lesbaren Textreste legen nahe, dass hier der weitere Rennverlauf, der Sieg (und die Bekränzung) sowie der Besitzer des Pferdes und sein Ruhm Erwähnung fanden. V. 3 ἁδὺ βάροϲ ταχυ[: Wenn hier von ‚süßer Last‘ im Zusammenhang mit Schnelligkeit (ταχυ]) die Rede ist, könnte man mit Austin an den Jockey denken, den das Pferd trug (ἁδὺ βάροϲ ταχυτᾶτι φέρων). Die Übersetzung dieses Vorschlags durch die Erstherausgeber („eine Last tragend, die süß war durch ‹meine› Schnelligkeit“) lässt das Problem deutlich werden: Es ist nicht ersichtlich, warum der Jockey als ‚süß‘ bezeichnet wird, womit eine affektische Verbindung zwischen Pferd und ‚Last‘ indiziert ist. Angesichts dieses Problems schlagen Bernardini/Bravi (2002, 155 f.) vor, im Ausdruck eine oxymorische Formulierung zu sehen, mit der die bewältigte Aufgabe (nämlich das anstrengende Rennen zu gewinnen) charakterisiert wird. Sie vergleichen Pind. Nem. 10.24 (εὐφόρων πόνων, ,leicht zu tragende Mühen‘). — ἐϲτ]εφάνωϲαν: Die Ergänzung am Versende kann als sicher gelten; das dazu gehörige Subjekt, das die Kampfrichter bezeichnet haben muss, dürfte eher in diesem Vers als im folgenden gestanden haben (ed. pr.); Austins οἱ δ’ ist denkbar, aber recht vage; eher kommt De Stefanis καὶ ἀνέρεϲ in Betracht. V. 4 θαλλῶι: Die Konstruktion und Fügung entspricht der in Plat. leg. 946b (τὸν νικῶντα […] ϲτεφανῶϲαι θαλλῶι). In Olympia wurden die Sieger mit einem Kranz aus dem Laub des Ölbaums ausgezeichnet (Paus. 5.7.7); zwar bedeutet θαλλόϲ zunächst nur ‚frischer Zweig‘, doch braucht aufgrund der Nennung von Olympia (V. 1) dem Rezipienten nicht erläutert zu werden, dass es sich um Ölbaum-Zweige handelt, aus denen der Kranz geflochten ist. — τρυγα.[: Hier den Besitzernamen Τρυγαῖ[ον zu erkennen, ist durchaus verführerisch. Freilich ist zu bedenken, dass es sich um einen Aristophanischen Kunstnamen (,der Ernter‘) handelt (s. Olson 1998, 105; der Bauer Trygaios reitet in Aristophanes’ Frieden auf einem Mistkäfer in den Himmel). Sollte dieser Name später für ‚reale‘ Kinder gewählt worden sein? Allerdings ist Trygaios sonst nicht bezeugt, und zudem ist das Ypsilon dort kurz, während es hier lang zu messen wäre. Das gilt sehr wahrscheinlich auch für den bezeugten Namen Τρύγητοϲ (LGPN IIIa 436 u. LGPN IIIb 412), da alle Wörter, die mit τρυγα oder τρυγη beginnen, ein kurzes Ypsilon haben (nur in Hes. scut. 293 ist das υ in τρυγητήρων lang; vgl. ed. pr.). Dagegen, dass in τρυγα.[ auch das Substantiv τρύγη oder eine Form des Verbs τρυγᾶν stecken könnte, spricht der Kontext, in dem ‚Ernte‘ oder ‚ernten‘ keinen Sinn ergeben. – Wenn ein Name zu ergänzen ist, ist Austins Vorschlag für das Versende παῖδα τὸν und der Genitiv eines Patronyms oder einer Herkunftsbezeichnung plausibel (z. B. παῖδα τὸν Οἰνιάδου, AP 7.89.1 f.). Rekonstruktionsvorschlag εὐθὺϲ ἀπὸ γραμμῆϲ ἐν Ὀλυμπίαι ἔτρεχον οὕτω κέντρα καὶ εξ.[vv- οὐχ ὑποδεξά]μενοϲ ἁδὺ βάροϲ ταχυ[τᾶτι· καὶ ἀνέρεϲ ἐϲτ]εφάνωϲαν θαλλῶι Τρυγαῖ[ον παῖδα τὸν -vv [ο]υ.

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Stracks von der Startlinie in Olympia lief ich so Sporen und […] empfing ich nicht, eine süße Mühe für meine Schnelligkeit, und die Männer bekränzten mit einem ‹Öl›Zweig Trygaios, den Sohn des […]. Das Verständnis des Epigramms ist durch die Lücken entscheidend erschwert. Es fällt zudem auf, dass – im erhaltenen bzw. verlässlich rekonstruierbaren Text – jeder Hinweis auf den Status des Pferdes als Standbild ebenso fehlt wie eine Aufforderung an den Leser/Betrachter. Unklar bleibt auch, wo das Standbild als aufgestellt gedacht werden soll. Allein durch das deiktische Adverb οὕτω (V. 1) wird die Ebene des Textes verlassen und in einen imaginären Raum verwiesen. Der Text betont die besondere Schnelligkeit des Pferdes und gibt wahrscheinlich in der Abfolge der Elemente die Chronologie des Rennens wieder: εὐθὺϲ ἀπὸ γραμμῆϲ: der Start; κέντρα καὶ ἐξ.[: während des Rennens; ἁδὺ βάροϲ: der Blick richtet sich auf den Reiter?; ϲτ]εφάνωϲαν κτλ.: die Siegerehrung. Unklar ist, ob in V. 4 ein Hinweis auf den Besitzer gegeben war. 74 Das Epigramm erzählt eine wundersame Begebenheit bei einem Fohlen-Viergespannrennen in Delphi: In einer Situation der Unklarheit über den Sieger wird das Verhalten eines Fohlens als Omen aufgefasst und sein Gespann zum Sieger erklärt. Erst am Ende der Erzählung wird deutlich, dass der Text als (erklärende) Inschrift zu einer aus Fohlen, Wagen und Wagenlenker bestehenden Bronzegruppe gedacht werden soll, das der Besitzer Kallikrates für die Ptolemäer als Weihgabe gestiftet hat. XI XII

33 34 35 36 37 38 39 1 2 3 4 5 6 7

ἐν Δελφοῖϲ ἡ πῶλο̣ϲ ὅτ’ ἀντιθέουϲα τεθρίπποιϲ ἄξονι Θεϲϲαλικῶι κοῦφα ϲυνεξέπεϲε νεύματι νικήϲαϲα, πολὺϲ τότε θροῦϲ ἐλατήρω̣ν̣ ἦν ἀμφικτύοϲιν, Φοῖβ{ε}, ἐν ἀγωνοθέταιϲ· ῥάβδουϲ δὲ βραχέεϲ χαμάδιϲ βάλον, ὡϲ διὰ κλή̣ρου νίκηϲ ἡνιόχων οἰϲομένων ϲτ̣έ̣φ̣ανον· ἥδε δὲ δεξιόϲειρα χαμαὶ ν̣εύ̣ϲα[ϲ’ ἀ]κ̣ερα̣ίων ἐ̣[κ ϲ]τ̣ηθ̣έ̣ω̣ν α̣ὐτ̣ὴ̣ ῥά̣β̣δ̣ο̣ν ἐφειλκύϲα[το, ἡ̣ δ̣ε̣ι̣ν̣ὴ̣ θ̣ή̣λεια μετ’ ἄρϲεϲιν· αἱ δ’ ἐβόηϲ[αν φ̣θ̣έ̣γ̣μ̣α̣τ̣[ι] π̣α̣ν̣δήμ̣ωι ϲ̣ύμμιγα μυριάδ[εϲ κ̣ε̣[ίν]η̣ι̣ κ̣η̣ρ̣ῦ̣ξ̣αι ϲ̣τέ̣φανον μ̣έγαν· ἐν̣ θ̣ο̣ρ̣[ύβωι δὲ Κα̣λ̣[λικ]ρ̣ά̣τ̣ηϲ δάφνην ἤρατ̣’ ἀνὴρ Ϲάμ̣ι̣ο̣[ϲ, Θε̣ο̣ῖϲ̣ι̣ δ̣’ Ἀ̣δ̣[ε]λ̣φε{ι}οῖϲ εἰκὼ ἐναργέα τῶ̣ν τότ’ [ἀγώνω]ν̣ ἅρ̣[μα καὶ ἡνί]ο̣χ̣ον χάλκεον ὧδ’ ἔθετο.

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

34 αξονα P  36 φοιβεεν P  37 βραχέωϲ? Austin 2001a : βραβέεϲ Janko 2005, Gärtner 2006  2 ἦ δεινὴ Austin 2001a : κ̣λ̣ε̣ι̣ν̣ὴ̣ Lapini 2007  4 ἔνθ̣’ ὅ̣ γ̣[ε Ferrari per litt.  5 δαφνηϲ P

Als in Delphi das Fohlen im Wettlauf mit den Viergespannen leichtfüßig Kopf an Kopf mit einem thessalischen Wagen ins Ziel kam, um Haaresbreite siegend, da erhob sich lautes Geschrei der Wagenlenker bei den Wettkampfrichtern, Phoibos, die aus dem Umland stammen.

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Hippika 74

Und die Schiedsrichter13 warfen Stäbe auf den Boden, damit durch das Los die Wagenlenker den Siegeskranz davontrügen. Dieses Fohlen aber, das im Geschirr auf der rechten Seite gelaufen war, senkte den Kopf zu Boden und zog mit unschuldigem Herzen selbst einen Stab heran, eine tüchtige junge Stute unter Hengsten. Die (Zehn)Tausende riefen mit einem Ruf, der durchs ganze Volk ging, unterschiedslos, für jenes Fohlen solle der große Siegeskranz verkündet werden. In dem Lärm hob Kallikrates der Samier den Lorbeerkranz hoch, und den Geschwisterlichen Göttern weihte er als ein lebendiges Bild der damaligen Wettkämpfe einen Wagen und einen Wagenlenker aus Bronze auf diese Weise. V. 1 ἐν Δελφοῖϲ: Die pointierte Anfangsstellung der Ortsangabe stellt das Geschehen, von dem das Epigramm berichtet, in den Kontext der Pythischen Spiele. Durch den Verweis auf Delphi ist zugleich ausgeschlossen, dass auch die Statuengruppe dort stand. Über den Ort ihrer Aufstellung lässt sich nur spekulieren. V. 1 f. ἀντιθέουϲα / ϲυνεξέπεϲε: Die zwei Begriffe stammen aus der Rennsprache: ἀντιθεῖν bezeichnet die konkurrierende Teilnahme am Laufwettbewerb, ϲυνεκπίπτειν das ‚Kopf-an-Kopf-ins-ZielKommen‘ (s. Hdt. 5.22); der Konkurrent steht im Dativ ‚zugleich mit jemandem‘. — ἄξονι Θεϲϲαλικῶι: Pars pro toto für einen thessalischen Rennwagen (ebenso in AP 9.24: s. dazu Guichard Romero 2004, 78). Angesichts der hohen Bedeutung der Pferdezucht in Thessalien (s. Einl. zur Sektion, S. 284) ist es nicht verwunderlich, dass auch der Wagenbau dort eine große Rolle spielte (vgl. Ath. 418 D/E). Berühmt war ein καπάνη benannter Wagentyp, der nach Ausweis eines Fragments des Komödiendichters Xenarch (4. Jh. v. Chr.) als Rennwagen tauglich war (Xenarchus fr. 11.1 Kassel-Austin). V. 3 f. νεύματι νικήϲαϲα: S. Komm. zu 72.4: das Senken/Nicken des Kopfes, um vor der Ziellinie den Körper nach vorne zu strecken und so vor den Konkurrenten durchs Ziel zu gehen; zugleich bedeutet es: ein knapper Sieg; vgl. 72.4. — ἀμφικτύοϲιν … ἐν ἀγωνοθέταιϲ: Als Wettkampfleiter bzw. Schiedsrichter (ἀγωνοθέτηϲ) fungierten bei den pythischen Spielen (reiche) Bürger der in der sog. delphischen Amphiktyonie zusammengeschlossenen griechischen Ethnien (Delphi selbst hatte nur wenige Einwohner), die aus ihren Mitteln zur Finanzierung der Spiele beitrugen. In älterer Zeit (so Paus. 9.8 bzw. Aischin. 2.116) bildeten Ionier, Doloper, Phoker, Thessaler, Ainianen, Magneten, Malier, Phthioten, Dorier, Perrhaiber, Boioter und Lokrer die delphische Amphiktyonie; seit Philipp hielten die Makedonen den Platz der Phoker. V. 5 διὰ κλή̣ρου: Die Junktur bedeutet ‚durch das Los‘. Da die Wettkampfrichter infolge des für sie nicht entscheidbaren Zieleinlaufs keine Entscheidung fällen können, wollen sie das Instrument des sog. Staborakels (es wurde in Delphi durchaus verwendet) nutzen, bei dem sie

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Die Übersetzung gibt die Konjektur von Janko und Gärtner wieder (s. Komm. zu V. 5)

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(kurze?) Stäbe, ῥάβδοι †βραχέεϲ†, (vielleicht mit Beschriftungen) auf die Erde werfen, um aus der Lage der Stäbe einen Hinweis auf den Sieger zu erhalten (s. Bernardini/Bravi 2002, 156–56; vgl. zum Verfahren Gundel 1914, s.v. Ῥαβδομαντεία, RE IA 1, 13–18.) — βραχέεϲ: Eine Erklärung, warum die Stäbe kurz sind, ist bislang nicht gefunden. Austin schlug in der ed. pr. versuchsweise βραχέωϲ vor, d. h. „kurzerhand“; Janko (2005) und Gärtner (2006) sahen unabhängig voneinander eine Verschreibung von βραβέεϲ, d. h. die Wettkampfrichter. Dieser Vorschlag hätte den Vorteil, das Subjekt des Satzes deutlich zu machen, das im überlieferten Text grammatisch (freilich nicht sinngemäß) unklar ist. V. 7–9a Dass das Fohlen einen der zu Boden geworfenen Stäbe zu sich heranzieht, wird von der Menge und von den Schiedsrichtern als Omen für die Entscheidung gedeutet. — δεξιόϲειρα: Das Fohlen hatte im Viergespann die Position auf der äußeren rechten Seite; mit diesem Pferd lenkte der Fahrer das Gespann in Rechtskurven über ein spezielles Zugseil (ϲειρά). Dementsprechend wurde an diese Stelle der Quadriga das beste Pferd gestellt (vgl. Soph. Ant. 140). — ἀ]κε̣ ραί̣ ων ἐ̣[κ ϲ]τ̣ηθ̣έ̣ω̣ν: Mit dem Adjektiv ἀκέραιοϲ (‚rein‘, ‚unberührt‘, ‚unbestechlich‘, s. LSJ) soll die Lauterkeit des Fohlens (und zugleich der Umstand, dass es noch nicht geschlechtsreif ist) betont und die Handlung als nicht durch ‚niedrige‘ Gewinnsucht motiviert charakterisiert werden. — δ̣ε̣ι̣ν̣ὴ̣ θ̣ή̣λεια: Es handelt sich augenscheinlich um ein ‚gemischtes‘ Gespann, bei dem ein weibliches mit drei männlichen Fohlen verbunden ist. In den hippischen Disziplinen wurden Pferde nach Eignung ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht eingesetzt. So thematisiert 75 etwa ein Gespann mit vier Stuten; berühmt (s. Plin. nat. 10.180) war der Sieg, den der Thessalier Echekrates im Olympischen Rennpferdrennen mit einer trächtigen Stute errang. Mit dem Adjektiv δεινή (das die besondere ‚Fähigkeit‘ bezeichnet, s. LSJ) wird in ironisierendem Ton (denn der Begriff der δεινότηϲ bezeichnet in der Regel intellektuelles Potential, das bei Tieren in der Antike nicht gesehen wird, s. Dierauer 1977) neben der besonderen Tüchtigkeit des Stutenfohlens auch dessen Cleverness betont; s. auch Guichard Romero 2004, 79. V. 12 Κα̣λ̣[λικ]ρ̣ά̣τ̣ηϲ … ἀνὴρ Ϲάμ̣ι̣ο̣[ϲ: Kallikrates von Samos (PP VI 14607, s. Bing 2002/3; vgl. auch o. zu 39), der Besitzer des Gespanns und Stifter der Bronzegruppe, wird hier mit gespieltem Understatement im Stile des Herodot (vgl. etwa 1.29.1: Ϲόλων ἀνὴρ Ἀθηναῖοϲ) eingeführt, wodurch er zunächst wie ein ‚Privatmann‘ erscheint. Doch gehörte er zur Führungselite der Ptolemäer, für die er u. a. im 2. Syrischen Krieg (259–253) gekämpft hat (Huss 2001, 281 f.). Zudem arbeitete er an der Ausgestaltung der monarchischen Repräsentation der Lagiden mit. So ließ er im Zeusheiligtum von Olympia ein Monument errichten, bei dem auf zwei großen Säulen Bronzestatuen von Ptolemaios II. und Arsinoë II. standen. Hiermit wurde ein besonderer Nachdruck auf das Konzept des Herrscherpaares und wohl auch der Geschwister-Ehe gelegt.14 Kallikrates war zudem der erste eponyme Priester der ‚Theoi Adelphoi‘,15 als die das Herrscherpaar kultisch verehrt wurde. Möglicherweise gehört in diesen Kontext auch ein von Kallikrates errichteter Tempel für Isis und Anubis in Kanopos. Ferner hatte er (s. 39) für die vergöttlichte (d. h. tote) Arsinoë II. (gest. 270, Huss 2001, 310; s. ferner Barbantani 2008; vgl. hierzu oben, S. 160, Anm. 22) einen Tempel (wohl am Kap Zephyrium) 14 15

S. hierzu Hintzen-Bohlen 1992, 77–79; Müller 2009, 265. Dass das Konzept mit griechischen Grundpositionen zum Geschwisterinzest kollidierte, zeigt prägnant Sotades fr. 1 (Coll. Alex.) sowie die Geschichte um dessen Bestrafung (Ath. 14.621A). S. P.Hib. II 199, col. 2, 12–17, dazu Müller 2009, 265.

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Hippika 75

erbauen lassen (s. Bing 2002/3 bzw. Puelma 2006, 70 f.; Müller 2009, 266–280). Es ist für Kallikrates’ Rolle im Repräsentationssystem der Ptolemäer bezeichnend, dass er zwar – unter eigenem Namen – an den hippischen Wettbewerben der Pythien teilnimmt (dies ist in der von V. 12 beschriebenen symbolischen Geste bezeichnet), aber nur am weniger prestigeträchtigen Rennen der Fohlenwagen. V. 13 Θε̣ο̣ῖϲ̣ι̣ δ̣’ Ἀ̣δ̣[ε]λ̣φε{ι}οῖϲ: Ptolemaios II. und Arsinoë II. ließen sich seit 272/271 v. Chr. als θεοὶ ἀδελφοί offiziell verehren (s. Müller 2009, 262–266). Wenn Kallikrates die Bildnisgruppe diesen weiht, so stellt er damit seinen Sieg in den Dienst der ptolemäischen Repräsentation und trägt dazu bei, die – im Kontext der griechischen Kultur – ungewöhnliche Geschwisterehe und das Konzept der Vergöttlichung akzeptabel zu machen. — εἰκὼ ἐναργέα: εἰκών, ‚Bild‘, wird in der Epigrammatik häufig als terminus technicus für ein Kunstwerk (z. B. eine Statue) gebraucht; mit ἐναργήϲ (‚deutlich‘, ‚lebendig‘) wird im Sinne des rhetorischen Terminus der enargeia die bis zur Lebensechtheit reichende Qualität der Ähnlichkeit betont, die für die griechische Kunstästhetik zentral ist. S. dazu grundsätzlich Otto 2009, ferner Guichard Romero 2004, 80. V. 14 ὧδ’: Der einzige deiktische Hinweis des gesamten Epigramms fällt erst im vorletzten Wort. Erst hier wird formal deutlich, dass es sich um eine Inschrift handeln soll, die eine Statuengruppe erklärt. Das Epigramm hat einen besonderen Duktus. Es weicht vom Schema der Siegesepigramme insofern ab, als es als Erzählung einer wundersamen Begebenheit bei einem Fohlenrennen der Pythien beginnt, aus der sich der Grund für eine Statuengruppe (Fohlengespann, Wagen, Wagenlenker, V. 14) ergibt: Es ist nicht nur der Sieg, der durch die Weihung und das Epigramm ‚auf Dauer gestellt‘ wird, sondern die Geschichte des Sieges, das wundersame, als Omen aufgefasste Verhalten eines Fohlens nach dem Rennen, das für die Wettkampfrichter keinen Sieger erbrachte. Diese besondere Art des Sieges wird im Schlussteil des Epigramms mit einem scheinbar frommen, de facto politischen Akt des Gespannbesitzers Kallikrates verbunden. Denn dieser stiftet für ‚Götter‘ die Statuengruppe – was angesichts der Wunderbarkeit des Sieges eine pietätvolle Tat wäre. Doch da es sich um die ‚geschwisterlichen Götter‘, also das ptolemäische Herrscherpaar, handelt, wird eben das Wunder instrumentalisiert, um der ptolemäischen Herrscherrepräsentation zu dienen. Freilich leistet nicht nur Kallikrates diesen Dienst, sondern auch Poseidipp mit eben diesem Epigramm. Da jeder Hinweis auf den Ort der Weihung des Kallikrates fehlt (war es ein Heiligtum für die Ptolemäer wie das von Kallikrates gestiftete Aphrodite-Heiligtum am Kap Zephyrion?), wird der Leser (beabsichtigt?) nicht darauf hingewiesen, dass er selbst die Statuengruppe, deren künstlerische Qualität überaus kurz erwähnt wird (V. 13–14), sehen könnte. Vielmehr wird dieses Epigramm zum eigentlichen Instrument, den wundersamen Sieg und indirekt die durch das Wunder aufgewerteten Ptolemäer (s. Bingen 2002) zu feiern. 75 Das Epigramm gibt sich als (dorische) Rede des Standbilds, der vier im Wagenrennen in Olympia siegreichen Stuten eines Lakedaimoniers, wahrscheinlich an die Einwohner von Pisa, der Stadt, in deren Obhut die Spiele lagen.

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XII

8 9 10 11

ἅ̣ρ̣[ματι ±12 ] τ̣έ̣ϲϲαρεϲ εἵλομεϲ ἁ[μέ]ϲ̣ ἵ̣πποι̣ θ̣ή̣[λειαι] π̣ὰρ Διὸϲ ἁνιόχου, Πιϲ̣α.[. ϲτέφα]ν̣[ο]ν τὸν Ὀλ̣υμπικὸν ἄλλον ἐπ’ ἄλλωι [.]..ι̣…[..].[…] τ̣ο̣ῦ̣ Λ̣α̣κεδ̣αιμονίου.

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8 ἅ̣ρ̣[ματι νικῶϲαι ταὶ] Austin 2001a, ed. pr., min.  ειλομεν P  10 Πιϲ̣ᾶτ̣[αι, ed. pr., min. : Πίϲα‹ι› τ̣[ὸν Cuypers  ολ̣υπ̣πικον P  11 fort. [Δ]ί̣ω̣ι̣ Λ̣υ̣ϲ̣ι̣[μ]ά̣[χου] ed. min.

(Mit dem Wagen) […] erhielten (wir) vier Stuten von Zeus dem Wagenlenker, von Pisa, einen Olympischen (Siegeskranz) nach dem anderen […] des Spartaners V. 1 εἵλομεϲ ἁ[μέ]ϲ̣: Die dorischen Formen insinuieren, dass die Pferde eines Lakedaimoniers Dorisch sprechen. Dass Pferde überhaupt sprechen, steht in einer literarischen Tradition: Bereits in der Ilias (19.408– 417) spricht das Pferd Xanthos zu Achill. — ἅ̣ρ[ματι: Austins Ergänzung ἅρ[ματι νικῶϲαι ταὶ] erscheint angesichts der weiteren Konstellationen (Gespann, Sieg) als plausibel. V. 2 ἵ̣πποι̣ θ̣ή̣[λειαι]: Dass sich hier ein Stutenviergespann vorstellt, ist nicht auffällig, da allein die Schnelligkeit und Ausdauer der Pferde, nicht ihr Geschlecht als relevant erachtet wurden (s. o. Komm. zu 74.9). — π̣ὰρ Διὸϲ ἁνιόχου: Bemerkenswerterweise wird hier der Sieg als Gunst des Zeus ἁνίοχοϲ gedeutet: dieses Epitheton, wohl in Abwandlung des geläufigen αἰγίοχοϲ (zuerst Hom. Il. 2.375) gebildet, ist sonst nicht belegt. Vielleicht soll es zum Ausdruck bringen, dass sich das Gespann durch seine wiederholten Siege (V. 3) als besonders von Zeus gefördert sieht und diesem deswegen ein seinem Engagement entsprechendes, neues Beiwort verleiht. V. 3 Πιϲα ̣ .[: Die Buchstabenfolge kann vielleicht zu Πιϲᾶτ[αι (ed. pr.) „Ihr Männer von Pisa“ ergänzt werden. Pisa ist in der griechischen Mythologie der Ort und zugleich die Landschaft, über die Oinomaos als König herrscht. Dass Pelops ihn im Wagenrennen um die Hand seiner Tochter Hippodameia bezwingt, gehört zum Gründungsmythos der Olympischen Spiele; s. etwa Pind. Ol. 1; vgl. Eur. Iph. Taur. 1 f. In historischer Zeit gab es keine Stadt Pisa; die antike Geographie und Mythographie rekonstruierte oder bestritt ihre Existenz (vgl. etwa Strabo 8.3.31, p. 356; Paus. 6.1.6; s dazu Meyer 1950, RE XX 2, 1732–1755, hier 1743–1746). Wenn hier, falls die Ergänzung richtig ist, die ‚Pisaten‘ apostrophiert werden, wendet sich die Rede natürlich an die Bewohner des Gebiets von und um Olympia, die mit einem archaischen und mythologisch angereicherten Namen bezeichnet sind. Ob Poseidipp die Bewohner des Landes oder die Einwohner der Stadt bezeichnen wollte, ist infolge der Mehrdeutigkeit des Griechischen nicht entscheidbar. — ἄλλον ἐπ’ ἄλλωι: Die Formulierung bezeichnet ‚einen (Siegeskranz) nach dem anderen‘. Die Erstherausgeber vergleichen zutreffend Pindar Ol. 7.82: Νεμέαι τ’ ἄλλαν ἐπ’ ἄλλαι. Die Formulierung ist dennoch ungewöhnlich, weil üblicherweise die Zahl der Siege genau benannt wird. Soll damit in rhetorischer Weise der Eindruck von Fülle entstehen?

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Hippika 76

V. 4 [.].ι…[.].[.]: Der Gedankengang verlangt die Nennung des Besitzers einschließlich wohl des Vatersnamens. Beide Namen sind durch die Lücke im Papyrus unkenntlich. Die Erstherausgeber glauben Spuren für eine Ergänzung zu [Δ]ί̣ω̣ι̣ Λ̣υ̣ϲ̣ι̣[μ]ά̣[χου] lesen zu können (der Dativ Δίωι würde von εἵλομεϲ, V. 1, abhängen), weisen aber daraufhin, dass das Ethnikon dann beim Namen des Vaters und nicht, wie man erwarten würde, bei dem des Siegers stehen würde. Der Name Lysimachos ist für Sparta gut belegt (LGPN IIIa 284). Rekonstruktionsvorschlag ἅρ[ματι νικῶϲαι ταὶ] τέϲϲαρεϲ εἵλομεϲ ἁ[μὲ]ϲ ἵπποι θή[λειαι] πὰρ Διὸϲ ἁνιόχου Πιϲᾶτ[αι, ϲτέφα]ν[ο]ν τὸν Ὀλυμπιακὸν ἄλλον ἐπ’ ἄλλωι [Δ]ίωι Λυϲι[μ]ά[χου] τοῦ Λακεδαιμονίου. Mit dem Wagen siegend erhielten wir vier Stuten von Zeus dem Wagenlenker, Ihr Männer von Pisa, einen Olympischen Siegeskranz nach dem anderen für Dion, den Sohn des Lakedaimoniers Lysimachos. Das Epigramm lässt sich ähnlich wie 71 als epinikischer Standardtext bezeichnen. Es enthält – soweit erkennbar – keine überschüssigen Informationen: Ein Spartaner (?) siegte zum wiederholten Male in Olympia mit dem Viergespann. Ist diese Knappheit Zeichen eines ansonsten anspruchslosen ‚Gelegenheitsepigramms‘ oder soll sie als poetischer Lakonismus mimetisch den Habitus des Siegers abbilden? 76 Das Epigramm gibt sich als Beschreibung eines Standbilds eines Pferdes im gestreckten Galopp, das nach Siegen bei anderen Wettbewerben nun auch den Sieg an den Pythien anstrebt (oder schon gewonnen hat). Die Textstimme ist ausschließlich als (neutrale) Instanz der Beschreibung und Erklärung gehalten. XII

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ἐκ̣τέ̣τα̣[τ]α̣ι̣ π̣[ρ]ο̣τ̣[ρ]έ̣χ̣ω̣ν̣ ἀ̣κρώνυχοϲ, ὡϲ Ἐτεάρχωι ..]τ̣ο̣..[…… Ἄ]ρ̣α̣ψ ἵπποϲ ἀεθλοφορεῖ· [ν]ι̣κήϲ[α]ϲ̣ Πτ̣ο̣λ̣εμ̣α̣ῖ̣α καὶ Ἴϲθ̣μια καὶ Νεμέαι δὶϲ [τ]ο̣ὺϲ̣ Δελφ̣ο̣ὺ̣ϲ̣ π̣.[…]ε̣ιν̣ οὐκ ἐθ̣έ̣λει ϲτεφάνουϲ.

1 2 3 4

12 ἀ̣κρώνυχοϲ· ὣϲ Lapini 2003b  13 οὗ]τ̣ ο̣ ϲ̣ κ̣[λεινὸϲ ed. pr., min.  ἀεθλοφορῆι Ferrari 2005  15 π̣α̣[ριδ]ε̣ῖν̣ ed. pr., min. : π̣α̣[ραθ]ε̣ῖν̣ Lapini 2002

Gestreckt galoppiert er auf den Spitzen der Hufe, ‹genauso› wie für Etearchos […] Araberhengst Siegespreise davonträgt. Nachdem er an Ptolemäen und Isthmien und zweimal an den Nemeen gewonnen hat, will er die Siegeskränze von Delphi nicht […].

Martin Hose

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V. 1 ἐκτ̣ έτ̣ α[̣ τ]αι̣ ̣ π[̣ ρ]οτ̣ [̣ ρ]έχ̣ ω ̣ ν̣ ̣ ἀκ̣ ρώνυχοϲ: Wie in 72.2 wird auch hier die Streckung des Pferdekörpers mit dem Verb τείνειν beschrieben. Dass zum gestreckten Galopp auch eine entsprechende Hufhaltung gehört, gibt – wie in fr. adesp. 378a Kannicht-Snell – ἀκρώνυχοϲ wieder. — Ἐτεάρχωι: Aufgrund der Häufigkeit des Namens ist eine Identifikation nicht möglich. V. 2 .]τ̣ο̣.[…… Ἄ]ρ̣α̣ψ ἵπποϲ: Die Ergänzung ‚Araber‘ zu Pferd erscheint als sicher. Allerdings wird die besondere Qualität der aus dem arabischen Raum stammenden Pferde erst von der Spätantike an ein Gemeinplatz in der griechischen Literatur (Schol. rec. in Aischyl. Pers. 314, Niketas Choniates, Historia 2.2.2; s. ed. pr. 204). Wenn die Araber-Hengste im Hellenismus noch nicht berühmt waren, könnte es sich hier entweder um den Namen des Pferdes („Arabs“) handeln (so Bernardini/Bravi 2002, 159), oder die Pointe läge darin, dass ein Pferd, das gemäß üblicher Einschätzung nicht zum Siegen im Rennen prädestiniert ist, dennoch gewinnt. — Am Beginn des Verses könnte z. B. οὗ]τ̣ο̣ϲ̣ κ̣[λεινὸϲ „jenes berühmte“ (ed. pr., min.) gestanden haben. V. 3 [ν]ι̣κήϲ[α]ϲ̣ Πτ̣ο̣λ̣εμ̣α̣ῖ̣α καὶ Ἴϲθ̣μια καὶ Νεμέαι: Die genannten Spiele – Ptolemäen (begründet 279/278 von Ptolemaios II. zu Ehren seines Vaters: diese Spiele werden hier zum ersten Mal in einem literarischen Text genannt; sie waren nach Ausweis der Inschriften ἰϲολύμπιοι, d. h. bestanden wie die Olympien aus gymnischen, musischen und hippischen Agonen), Isthmien und Nemeen – erscheinen in einer absteigenden Stufenfolge ihrer Bedeutung. Dass damit eine für den Hellenismus (und die Kaiserzeit) allgemein akzeptierte Rangfolge nach Anciennität der Gründung angegeben ist, testiert z. B. die erschließbare ursprüngliche Abfolge der Bücher der Pindarischen Epinikien: Olympien, Pythien, Isthmien, Nemeen (s. Irigoin 1952, 100). Es hat daher eine innere Logik, wenn (wie in V. 4 formuliert) das Pferd an den nächstwichtigeren Spielen, den Pythien, teilnehmen und gewinnen soll. Bedeutsam erscheint, dass die Ptolemäen an Rang vor den Isthmien platziert sind. Der Umstand, dass die Ptolemäen in einem Atemzug (d. h. Vers) mit den altetablierten panhellenischen Spielen genannt werden, könnte dazu dienen, diese neuen Spiele im griechischen Festkalender zu etablieren. V. 4 π̣.[…]ε̣ιν̣: Das erhaltene οὐκ ἐθ̣έ̣λει fordert einen Infinitiv (mit dem Objekt ‚delphische Siegeskränze‘) des Sinns ‚verzichten‘, ‚missachten‘. Das von den Erstherausgebern vorgeschlagene πα[ριδ]εῖν, ‚vorbeisehen‘, erscheint als gleichwertig mit dem von Lapini konjizierten πα[ραθ]εῖν, ‚vorbeilaufen‘ (auch wenn das Verb in der hier verlangten übertragenen Bedeutung sonst nicht bezeugt ist). Inhaltlich verbindet sich mit diesem Vers ein Problem. Denn einerseits ist mit dem starken Verbalbegriff ‚wollen‘ auf einen zukünftigen Sieg verwiesen, andererseits erscheint es kaum wahrscheinlich, dass man ein solches Standbild mit einer derartigen Inschrift errichten lässt, wenn das Risiko besteht, dass der erstrebte Sieg nicht gewonnen wird. Über den Ort der Aufstellung kann man nur Vermutungen anstellen: Es war durchaus üblich, in einer Inschrift bzw. einem Epigramm an einem Standbild an einem bestimmten Festort auf Siege zu verweisen, die an anderen Orten errungen worden sind (s. Paus. 6.4.6); es könnte indes ebenso gut an eine Aufstellung in der Heimat des Etearchos gedacht werden.

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Hippika 77

Rekonstruktionsvorschlag ἐκτέτα[τ]αι π[ρ]οτ[ρ]έχων ἀ̣κρώνυχοϲ, ὡϲ Ἐτεάρχωι οὗ]τοϲ κ[λεινὸϲ Ἄ]ραψ ἵπποϲ ἀεθλοφορεῖ· [ν]ικήϲ[α]ϲ Πτολεμαῖα καὶ Ἴϲθμια καὶ Νεμέαι δὶϲ [τ]οὺϲ Δελφοὺϲ πα[ριδ]εῖν οὐκ ἐθέλει ϲτεφάνουϲ. Gestreckt galoppiert er auf den Spitzen der Hufe, genauso wie für Etearchos dieser berühmte Araberhengst Siegespreise davonträgt. Nachdem er an Ptolemäen und Isthmien und zweimal an den Nemeen gewonnen hat, will er die Siegeskränze von Delphi nicht ignorieren. Auch dieses Epigramm scheint wie 71 und 75 dem Standard-Formular des Siegesepigramms zu entsprechen, enthält aber – in Variation zu 75.3 – einen Katalog der errungenen Siege. Bemerkenswert ist ferner die mit dem Text angezeigte Offenheit der Situation: Statt einen Sieg in Delphi zu vermelden, verkünden Inschrift und Standbild die Absicht, einen solchen zu erringen. Die Darstellung des Pferdes im gestreckten Galopp scheint diese Absicht geradezu auszudrücken, das Pferd rennt in höchster Geschwindigkeit nach Delphi und verkörpert damit bereits zugleich seine besondere Eignung, das dortige Rennen zu gewinnen. Nimmt man diesen Text wörtlich, hätte Etearchos mit der Errichtung dieses Standbilds und des Epigramms recht kühn angesichts der Möglichkeit, dass ein Rennen auch verloren gehen konnte, gehandelt. Ist dies richtig, mag man annehmen, dass Standbild und Epigramm retrospektiv eine vergangene Situation abbilden. 77 Das Epigramm ist stark zerstört. Erkennbar ist eine Ich-Rede, mit der der Besitzer eines Wagengespanns drei Siege in Olympia für sich reklamiert. Ist es Zufall, dass nach 76, das mit den Pythien endete, nun in 77 Olympia-Siege anschließen? XII

16 17 18 19

ἅρμ̣[ατι ±11 ]. τε̣λέωι τ̣ρὶϲ Ὀ̣[λύμ]π̣ι̣α νικῶ ευ.[ ±13 ο]ὐ̣κ ὀλ̣ί̣γαι̣ δαπ̣[άνα]ι α.[ ±15 ] κ̣ομιδᾶϲ .[.….].[ ε̣ἴ γ’ ἀ̣[ρ]κ̣ε̣ῖ δόξαι, λείπ̣ε̣ται οὐ[δ]ὲν ἐμοί.

1 2 3 4

16 ἅρμ̣[ατι τῶιδ(ε) Ferrari per litt.  τρὶϲ (vel δὶϲ) Δελφοῖ]ϲ̣ Austin 2001a  17 ευε̣[ vel ευθ̣[ : Εὐ.[ ed. pr. : Εὐθ̣[ύμαχοϲ ed. min.  κάμνων ο]ὐ̣κ Austin 2001a  18 ἁδ̣[ύ τι τοῦτ’ ἆθλον Austin 2001a  κομιδὰϲ Ferrari per litt.  fin. ἵ̣[ππων τό]δ̣[ε δ’ αὖθιϲ ? ed. min.

Mit dem Wagen […] mit ausgewachsenen Pferden dreimal in Olympia siege ich, […] mit nicht geringem (Aufwand) […] […] der Sorge […] wenn das für den Ruhm (genügt), ist mir nichts übrig ‹zu tun›.

Martin Hose

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V. 1 ἅρμ̣[ατι ±11 ]: Austins Ergänzung τρὶϲ (vel δὶϲ) Δελφοῖ]ϲ ist plausibel. — τε̣λέωι: Der Begriff τέλειοϲ bezeichnet ein vollausgewachsenes Pferd im Gegensatz zum Fohlen, s. Plat. leg. 834c; das Adjektiv ist inschriftlich in der Kombination mit einem den Wagen bzw. das Gespann bezeichnenden Substantiv gut belegt (z. B. IG 5(2), 549.2+5; 550.29). V. 2 εὐ.[: Wahrscheinlich handelt es sich um den Anfang eines Namens. Die Unsicherheit, ob der letzte Buchstabe vor der lacuna ε oder θ war, macht eine Ergänzung jedoch unmöglich. Zum weiteren Gedanken vgl. Pind. Pyth. 1.90: (an Hieron gerichtet) „[…] und ermüde nicht – liegt dir nur irgend an dauerndem Ruhm – ängstlich angesichts von Aufwendungen.“ V. 3 f. Der erhebliche Zerstörungsgrad des Papyrus macht Austins Ergänzungen in V. 3 überaus unsicher. Der von ihm vorgeschlagene Text (ἁδ̣[ύ τι τοῦτ’ ἆθλον) würde freilich einen guten Sinn ergeben: [„Das ist ein süßer Preis für] die Sorge [für die Pferde. /Wenn dies] für den Ruhm genügt, ist mir nichts übrig zu tun.“ Ein Rekonstruktionsvorschlag ist auf der Basis des Erhaltenen nicht sinnvoll. Das sehr schlecht erhaltene Epigramm gibt, ähnlich 76, einen Katalog der Siege, die ein nicht sicher zu benennender Eu* im Wagenrennen errungen hat. Unklar bleibt, worauf dieses Epigramm als Inschrift angebracht gedacht werden soll. Wenn die von Austin vorgeschlagenen Ergänzungen im Kern richtig sind, liegt hier eine spezifische Bewertung der errungenen (Delphi?- und) Olympia-Siege als gänzlich ausreichendes Instrument vor, Ruhm zu erringen. Der Schlussvers scheint pointiert festzustellen, dass der Besitzer diesem Ruhm nichts mehr hinzufügen kann. Ist dies Indiz für die veränderte Stellung eines Aristokraten im Zeitalter hellenistischer Monarchien oder spezifische Rhetorik des Wettkampfsieges? 78 78 hat den Sieg zum Gegenstand, den das Viergespann der Berenike II. 248 v. Chr. in Olympia errungen hat. Es könnte das Eröffnungsepigramm einer Gruppe von fünf Gedichten sein, die hippische Erfolge der Ptolemäer zum Gegenstand haben (s. aber die Unsicherheiten bei den stark fragmentierten 80–81). Mit der feierlichen Apostrophe an ‚alle Sänger/Dichter‘ in den ersten beiden Versen erhielte diese Pentade einen gewichtigen Auftakt; zudem gilt das Epigramm einem Olympia-Sieg (V. 7–11), dem prestigeträchtigsten Erfolg; darauf folgten mit 80–81 Erfolge bei den Nemeen, den Abschluss bildet mit 82 ein Sieg bei den Isthmien; die Abfolge (sie entspricht nicht der Chronologie) würde also die ‚Wertigkeit‘ der Siege re­präsentieren. Bemerkenswerterweise ist wahrscheinlich16 Berenike II. selbst als Sprecherin des Epigramms gedacht, wodurch sich die Stimme eines Siegers mit der Stimme einer Königin verbindet.

16

Diese Annahme bedingt die Ergänzung in V. 10, s. den Komm.

300 XII

Hippika 78

20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

ε]ἴπατε, πάντεϲ ἀοι̣δ̣ο̣ί, ἐ̣μὸν̣ [κ]λέο̣ϲ̣, ε[.].[ γ̣νωϲτὰ λέγειν, ὅτ̣ι μοι δ̣ό̣ξ̣[α ἅρματι μὲν γάρ μοι προπάτω̣[ρ Πτολεμ]α̣ῖοϲ ἐν̣[ίκα Πιϲαίων ἐλάϲαϲ ἵππον ἐπὶ ϲτα[δίων, καὶ μήτηρ Βερενίκη ἐμοῦ πατ[ρόϲ· ἅ]ρ̣[μ]ατι δ’ αὖτ̣[ιϲ νίκην εἷλε πατὴ̣ρ̣ ἐ̣κ βαϲι̣λέω̣[ϲ] βαϲ̣[ι]λεὺϲ πατρὸϲ ἔχων ὄνομα· ζευκτ̣[ὰϲ δ’] ἐξ̣ή̣ρατο̣ πάϲαϲ Ἀρ̣ϲινόη νίκαϲ τρεῖϲ ἑνὸϲ ἐξ ἀέ̣[θλου· π.[ ±13 ] γένοϲ ἱερὸν [… γυ]ν̣αικῶν κε[ ±12 ] παρθένιοϲ [……]ϲ. τα̣[ῦ]τ̣[α] μ̣ὲ̣[ν …. ἐ]π̣εῖδεν Ὀλυ̣[μπ]ί̣α̣ [ἐξ ἑ]νὸϲ οἴκ̣ο̣υ̣ ἅρ̣μαϲι καὶ παίδων παῖδαϲ ἀεθ̣λ̣ο̣φόρο̣[υ]ϲ̣· τεθρίππου δὲ τελείου ἀείδετε τὸν Βερ[ε]ν̣ί̣κ̣η̣[ϲ τ̣ῆϲ βαϲιλευούϲηϲ, ὦ Μακέτα[ι], ϲτέφανο̣ν.

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

20 ε[ἴ] π̣[οτ’ ἀρέϲκει ed. pr., min. : ε[ἰ] π̣[αρὰ θυμόν (sc. ἐϲτί) Lapini 2002 : ε[ἴ]π̣[ατε καὶ νῦν De Stefani 2003 : ε[ἴ] π̣[οθ’ ἕαδε Ferrari 2005  21 δ̣ό̣ξ̣[α παλαιόγονοϲ ed. pr., min. : vel δ̣ό̣ξ̣[αν ἄγει τὸ γένοϲ ed. min. : δ̣ό̣ξ̣[α πολυϲτέφανοϲ Austin 2001a : δ̣ό̣ξ̣[α πάλιν κέλεται De Stefani 2003  22 μεγγαρ P  25 .γβαϲ.λεω̣[.] P  28 πα̣[τρὸϲ νῦν τιμῶ] Austin 2001a, ed. min. : πα̣[τρὸϲ νῦν κέλομαι] Livrea 2002 : πά̣[τριον οὐκ ἀτίω] De Stefani 2003  [ἠδὲ γυ]ν̣αικῶν Austin 2001a, ed. min. : [ἀλλὰ γυ]ν̣αικῶν vel [αἷμα γυ]ν̣αικῶν De Stefani 2003 : [δῖα γυ]ν̣αικῶν Livrea 2002  29 κέ[κλημαι φέγγοϲ] et [βαϲιλί]ϲ Austin 2001a, ed. min. : κε[κλῆϲθαι θεῖον] Livrea 2002 : κέ[κλημαι πρώτη] De Stefani 2003  30 μ̣ὲ̣[ν εὔχε’ ed. pr., min.  32 τελειον P, def. Livrea 2002

Besingt, alle Sänger, meinen Ruhm, w(enn) […] Bekanntes zu künden, weil mein Ruhm […] Mit dem Wagen nämlich siegte mein Großvater Ptolemaios, als er sein Pferd durch die Rennbahn von Pisa trieb. Ebenso ‹tat es› Berenike, die Mutter meines Vaters. Mit dem Wagen alsdann errang den Sieg mein Vater, der König, der von seinem Vater, der auch König war, den Namen erhielt. Alle drei Siege mit dem Gespann errang Arsinoë bei einem einzigen Wettbewerb. […] heiliges Geschlecht […] der Frauen […] jungfräuliche […]. Diese […] aus einem einzigen Haus sah Olympia, und wie die Kinder der Kinder mit dem Wagen Siegespreise errangen. Besingt den Siegeskranz der Königin Berenike, für das Rennen mit dem Viergespann ausgewachsener Pferde, ihr Makedonen/ Makedoninnen. V. 1 ε]ἴπατε, πάντεϲ ἀοι̣δ̣ο̣ί, ἐ̣μὸν̣ [κ]λέο̣ϲ̣: In dieser wuchtigen Apostrophe als Auftakt des Epigramms verbinden sich einerseits die Formelsprache des epischen Proöms, in der die Musen gebeten werden, die ‚Ruhmestaten‘ epischer Helden zu erzählen (z. B. Hom. Il. 1.1; Od. 1.1) – mit dem Begriff κλέοϲ wird die zentrale Kategorie des aristokratischen Wertesystems aufgerufen –, und andererseits die Befehlssprache hellenistischer Monarchen. Wenn hier ‚alle Dichter‘ aufgefordert werden, so scheint damit ausgesagt, dass nicht nur die Epigramm-Dichter den Ruhm Berenikes besingen sollen, sondern auch Epiker, Lyriker, Elegiker usw. In nuce

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wird hierin die Instrumentalisierung der Dichtung durch die Ptolemäer greifbar, für die als Beispiel Kallimachos’ Gedicht auf Berenikes Sieg bei den Nemeen (Fuhrer 1992, 61–64) steht und die eine Notiz bei Hygin (astr. 2.24) zusammenfasst: „Berenicen nonnulli cum Callimacho dixerunt equos alere et ad Olympia mittere consuetam fuisse“. V. 1 erteilt also an ‚die Dichter‘ den Auftrag, Berenikes Ruhm zu künden. Die folgenden Verse des Epigramms haben dementsprechend die Funktion, einerseits diese vollmundige Aufforderung zu begründen (vgl.  γάρ in V. 3) und andererseits durch die Zusammenstellung des Rühmenswerten die materia laudandi bereitzustellen. — ἀοι̣δ̣ο̣ί: Der Terminus ἀοιδόϲ verweist zurück auf ein archaisches Dichter-Konzept, das eine göttliche Inspiration impliziert (Hes. theog. 22–34) und in der hellenistischen Dichtung revitalisiert erscheint (s. Kallim. epigr. 6.1 Pfeiffer u. fr. 203.50 f. Pfeiffer). V. 1 f. [κ]λέο̣ϲ̣, ε[.].[ | γ̣νωϲτὰ λέγειν, ὅτ̣ι μοι δ̣ό̣ξ̣[α:·Die zerstörten Enden von V. 1 und V. 2 behindern das Verständnis des Distichons. Da in V. 2a der Infinitiv λέγειν von einer Konstruktion in V. 1b abhängen muss und der Sinn des Infinitivs, ‚Bekanntes zu sagen‘, in einem Spannungsverhältnis zum Auftrag an die Dichter in V. 1a zu stehen scheint, dürfte V. 1b eine Kautel enthalten haben. Diese fordert den Sinn: ‚wenn es erlaubt/geboten ist, (Bekanntes zu künden)‘. Sowohl der Ergänzungsvorschlag der Erstherausgeber als auch der Ferraris (2005) leisten dies. In anderer Weise rekonstruiert Lapini (2007) den Gedankengang: Bei ihm werden die Dichter ersucht, den Ruhm der Berenike zu künden, falls es ihnen widerstrebt, Bekanntes, d. h. die üblichen Mythen, zu künden. Dies würde freilich den Imperativ von V. 1a stark abschwächen und den Auftrag ins Belieben der Dichter stellen, die ihn nur erfüllen müssten, wenn sie an ihrer üblichen Aufgabe keinen Gefallen mehr finden. Dies erscheint wenig plausibel. Zudem ist nicht erkennbar, wie Lapini V. 2b verstehen will. — γνωϲτὰ: Vielleicht ein Rückbezug auf die bekannte Odyssee-Partie 1.351–352: „Denn das Lied rühmen die Menschen mehr, das für die Hörer rings das neueste ist.“. In V. 2b wird mit ὅτι eine Begründung entweder für 2a oder für 1a gegeben. Wenn man die Lesung δόξ[ akzeptiert, wird hier von der positiven ‚Meinung‘ gehandelt, also der Reputation, die eine Person (d. h. hier Berenike: μοι) bei ihrer Mitwelt genießt. Nimmt man die V. 3 f. hinzu, die offensichtlich eine Begründung (γάρ) geben sollen, so liegt die ‚Doxa‘ der Berenike in den kontinuierlichen Wettkampfsiegen, die ihre Familie und sie selbst errungen haben. Insofern hat Austins Ergänzung πολυϲτέφανοϲ ihre Berechtigung, würde sie doch prägnant das Folgende auf die Doxa Berenikes beziehen. Gedanklich lässt sich damit folgender Zusammenhang zwischen V. 1 und V. 2 herstellen: An die Dichter ergeht die Aufforderung, die δόξα der Berenike (d. h. die Reputation in ihrer eigenen Zeit) durch ihre Dichtungen in dauerhaften Ruhm, κλέοϲ, zu verwandeln. V. 3–12 Es folgt ein Katalog der (a) Ptolemäer und (b) ihrer Siege: (a) Es werden genannt: Ptolemaios I. Soter (V. 3), Berenike I. (V. 5), Ptolemaios II. Philadelphos (V. 6), Arsinoë II. (V. 8) und schließlich Berenike II. (V. 10; s. Komm.). Freilich muss man das hier als scheinbar selbstverständlich – und einfach – präsentierte Verwandschaftsverhältnis als konstruiert ansprechen. Denn Berenike II., die hier als Tochter (V. 7; 9) von Ptolemaios II. und Enkelin (V. 3) von Ptolemaios I. figuriert, war ‚biologisch‘ Tochter des kyrenischen Fürsten Magas und der Apama, die vor ihrer Ehe mit Ptolemaios III. mit Demetrios ‚dem Schönen‘ verheiratet war. Das Gedicht übernimmt die ptolemäischen dynastischen Fiktionen und schweißt die genannten Personen zu ‚einem einzigen Haus‘ (V. 11·ἐξ ἑνὸϲ οἴκου) zusammen. (b) Die referierten Siege (Ptolemaios I., s. 88, müsste seinen Sieg im Wagenrennen bei den Olympien vor 284 v. Chr.

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Hippika 78

errungen haben; Berenikes I. Sieg, der sich nicht datieren lässt, thematisieren auch 87–88; Ptolemaios II. gewann wohl 284 v. Chr., s. Komm. zu 88; Arsinoës II. dreifacher Sieg, also wohl im Viergespann-Rennen, im Zweigespann-Rennen und im Fohlen-Wagen-Rennen, hat ihr Todesjahr 268 zum terminus ante quem) ergeben einen eindrucksvollen Katalog, dessen Fortsetzung nun Berenike für sich reklamieren kann. Dass sie sich ungeachtet ihrer Heirat mit Demetrios als „jungfräulich“ bezeichnet (V. 10, vgl. 79.1; 80.4 [?]), gehört zur dynastischen Fiktion der Ptolemäer (s. Huss 2008). V. 4 ἵππον ἐπὶ ϲτα[δίων: Die Formulierung stimmt wörtlich überein mit 82.2. ἐπί mit dem Gen. bezeichnet den Ort des Geschehens; s. LSJ A.I. ἵππον ist hier (aus metrischen Gründen) als kollektiver Singular verwendet (ed. pr.). V. 7 ζευκτ̣[ὰϲ: Zu der auch in 79.2 verwendeten Brachylogie ζευκτοὺϲ (Siege bzw. Kränze, die in einem Wettkampf mit Gespannen erreicht bzw. gewonnen worden sind) vgl. ed. pr. V. 9 f. Für dieses stark zerstörte Distichon liegen verschiedene Ergänzungsvorschläge vor. Inhaltlich muss an dieser Stelle von den Siegen der Familienangehörigen zu Berenikes Siegen übergeleitet worden sein. Die Überreste bzw. die Ergänzungsvorschläge zu V. 9a und 9b gehen in der Regel davon aus, dass die Aussage sei: ‚Ich folge sowohl der väterlichen (d. h. männlichen) wie der weiblichen Tradition meiner Familie‘. V. 10 scheint eine Selbstbeschreibung Berenikes zu liefern, in der auf die Titulatur der ‚Jungfräulichkeit‘ hingewiesen wird. Austin hat erwogen, dass Ptolemaios III. der Sprecher sein könnte und dementsprechend sowohl in V. 9 als auch in V. 10 Verbformen in der 3. Ps. Sg. (V. 9: πα̣[τρὸϲ νῦν τιμῶ]; V. 10: κέ[κλημαι φέγγοϲ]) ergänzt. V. 13 τεθρίππου δὲ τελείου: S. Komm. zu 77.1. V. 14 ὦ Μακέτα[ι]: Die das Epigramm beschließende Apostrophe an die Makedonen, ὦ Μακέτα[ι], die jetzt (in Ergänzung zu den Sängern in V. 1) den Sieg Berenikes besingen sollen, arbeitet der dynastischen Fiktion einer makedonischen Abkunft der Ptolemaier zu (s. dazu 82.3, 87.2, 88.4): Ptolemaios I. benötigte sie, um an Alexander anknüpfen und seine Herrschaft vor den Griechen legitimieren zu können (s. ed. pr. 216 m. Literatur). Es erscheint daher konsequent, wenn die Ptolemäer, wenn sie sich an griechischen Spielen beteiligten, ihre Verbindung zur griechischen Welt betonten (anders offenbar in 74.13). Berenike, die Tochter des Magas, insistiert daher geradezu auf ihrem – fiktiven – Makedonentum. Ob mit ὦ Μακέτα[ι] Frauen oder Männer bezeichnet sind, lässt sich grammatisch nicht entscheiden, da es sich zusätzlich zur naheliegenden femininen Form nach Stephanos v. Byzanz (p. 428.8 Meineke) hier auch um eine maskuline Form handeln kann. Denkbar ist, dass entweder das seltene Ethnikon mit maskulinem Geschlecht zur Steigerung der Erhabenheit der Apostrophe gewählt ist oder Berenike dezidiert ihre Geschlechtsgenossinnen anspricht.

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Rekonstruktionsvorschlag εἴπατε, πάντεϲ ἀοιδοί, ἐμὸν [κ]λέοϲ, ε[ἴ] π[οτ’ ἀρέϲκει γνωϲτὰ λέγειν, ὅτι μοι δόξ[α παλαιόγονοϲ ἅρματι μὲν γάρ μοι προπάτω[ρ Πτολεμ]αῖοϲ ἐν[ίκα Πιϲαίων ἐλάϲαϲ ἵππον ἐπὶ ϲτα[δίων, καὶ μήτηρ Βερενίκη ἐμοῦ πατ[ρὸϲ. ἅ]ρ[μ]ατι δ’ αὖτ[ιϲ νίκην εἷλε πατὴρ ἐκ βαϲιλέω[ϲ] βαϲ[ι]λεὺϲ πατρὸϲ ἔχων ὄνομα· ζευκτ[ὰϲ δ’] ἐξήρατο πάϲαϲ Ἀρϲινόη νίκαϲ τρεῖϲ ἑνὸϲ ἐξ ἀέ[θλου. πα[τρὸϲ νῦν τιμῶ] γένοϲ ἱερὸν [ἠδὲ γυ]ναικῶν κέ[κλημαι φέγγοϲ] παρθένιοϲ [βαϲιλί]ϲ. τα[ῦ]τ[α] μὲ[ν εὔχε’ ἐ]πεῖδεν Ὀλυ[μπ]ία [ἐξ ἑ]νὸϲ οἴκου ἅρμαϲι καὶ παίδων παῖδαϲ ἀεθλοφόρο[υ]ϲ· τεθρίππου δὲ τελείου ἀείδετε τὸν Βερ[ε]νίκη[ϲ τῆϲ βαϲιλευούϲηϲ, ὦ Μακέτα[ι], ϲτέφανον. Besingt, alle Sänger, meinen Ruhm, wenn es euch gefällt, Bekanntes zu künden, weil mein Ruhm in alter Zeit seinen Anfang nahm. Mit dem Wagen nämlich siegte mein Großvater Ptolemaios, als er sein Pferd durch die Rennbahn von Pisa trieb. Ebenso tat es Berenike, die Mutter meines Vaters. Mit dem Wagen alsdann errang den Sieg mein Vater, der König, der von seinem Vater, der auch König war, den Namen erhielt. Alle drei Siege mit dem Gespann errang Arsinoë bei einem einzigen Wettbewerb. Jetzt ehre ich das heilige Geschlecht meines Vaters, und der Frauen Licht werde ich genannt, die jungfräuliche Königin. Diese glanzvollen Erfolge aus einem einzigen Haus sah Olympia, mit dem Wagen errangen die Kinder der Kinder Siegespreise. Besingt den Siegeskranz der Königin Berenike, für das Rennen mit dem Viergespann ausgewachsener Pferde, ihr Makedonen. Der Text gibt in feierlich-pathetischer Diktion (sie wird bereits durch die epischen Reminiszenzen in V. 1 erzeugt) nicht nur die Erklärung für eine Weihung anlässlich eines Sieges der Berenike in Olympia; er stellt den Sieg auch in eine Traditionslinie ptolemäischer Erfolge, als deren Schluss- und damit Zielpunkt er offenbar erscheinen soll. Durch die Linie, die sich aus den Siegen ergibt, erscheint auch die Generationenfolge der Ptolemäer gleichsam als geradlinig. Der Text formuliert (und bekräftigt) damit das Konzept der Dynastie, das die Ptolemäer von sich entworfen wissen wollten. 79 Das Epigramm preist Berenike II. als Siegerin in den drei Wagenrennen bei den Nemeen (es lässt sich nicht entscheiden, ob es sich um die Nemeen von 249 oder 247 handelt), d. h. mit dem Viergespann, dem Zweigespann und dem Fohlengespann. Berenike erreicht damit einen ähnlichen Erfolg wie Arsinoë (78) bei den Olympien. Dieser Triumph Berenikes wird auch von Kallimachos in der Victoria Berenikes (SH 254 –269) gefeiert. Die Textstimme nimmt

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Hippika 79

die Position eines bewundernden Kommentators der Siege der Berenike ein, der sein Staunen vor Zeus selbst (V. 3) artikuliert. Es ist nicht erkennbar, ob (und was für) ein Weihgeschenk mit diesem Epigramm zu verbinden ist. XII

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παρθένοϲ ἡ βαϲίλιϲϲα ϲὺν ἄντυ[γ]ι̣, ν̣αί, Βερε̣νίκη πάνταϲ ἅμα ζευκτοὺϲ ἀθλοφ̣ορεῖ ϲτεφάνουϲ, Ζ̣εῦ παρὰ ϲοὶ Νεμε̣ᾶτα· τάχει δ’ ἀ̣πελίμπανεν ἵππω̣ν̣ δίφρ̣ο̣ϲ̣ ἐπε̣ὶ̣ […..]ι τὸν πολὺν ἡνίοχον, δαλ[…….. ἵ]π̣ποι ὑπὸ ῥ[υτ]ῆρι θέοντεϲ πρῶ[τοι ἐϲ Ἀ]ρ̣γ̣ο̣λικοὺϲ ἦλθον [ἀγω]νοθέταϲ.

1 2 3 4 5 6

36 α̣πελιππανεν P  37 [κάμψη]ι ed. pr. :[κάμψα]ι Gronewald 2001, ed. min. : [τέτατα]ι Lapini 2007  38 δαλ[οῖϲ δ’ εἴκελοι ed. pr., min.

Die jungfräuliche Königin Berenike trägt mit dem Wagen wahrhaftig alle Siegeskränze für Gespanne auf einmal davon, Zeus, bei deinen Nemeen. Durch die Geschwindigkeit ihrer Pferde ließ ihr Rennwagen, als […] zahlreiche Wagenlenker hinter sich zurück, […] die Pferde unter den Zügeln galoppierend erreichten als erste die Argolischen Schiedsrichter. V. 1 βαϲίλιϲϲα: Mit diesem Terminus greift das Epigramm offenbar die offizielle Titulatur Berenikes auf (s. ed. pr. 208). — ϲὺν ἄντυ[γ]ι̣: Der Wagenkranz (vgl. Eur. Hipp. 1188) steht, wie die Wagenachse in 74.2 und 79.1, als pars pro toto für den Rennwagen. Das erst seit hellenistischer Zeit (s. Kallim. fr. 384.40 Pfeiffer u. ed. pr.) bezeugte Verbum ἀεθλοφορεῖν verwendet Poseidipp auch in 76.2, dort allerdings nicht wie hier mit einem inneren Akkusativ (ϲτεφάνουϲ), sondern absolut. — ζευκτοὺϲ ϲτεφάνουϲ: S. Komm. zu 78.7. V. 3 Ζ̣εῦ παρὰ ϲοὶ Νεμε̣ᾶτα·: Zeus wird hier mit dem seltenen, aber explizit durch Stephanos von Byzanz (p. 427.7 Meineke) bezeugten Ethnikon ‚Nemeatisch‘ (Νεμεήτηϲ) apostrophiert. Der Vokativ wird hier durch eine attributive Bestimmung (Typus: ὦ ἐκ ἄϲτεοϲ ἄνδρεϲ, Xen. Hell. 2.4.40 [s. Kühner/Gerth II1 50, § 357]) erweitert. Die Geschwindigkeit der Pferde betont auch Kallimachos in der Victoria Berenikes, SH 254.8–10. V. 4 ἐπε̣ὶ̣ […]ι: Das von der ed. pr. vorgeschlagene ἐπεὶ [κάμψα]ι ergäbe einen iterativen Temporalsatz im Optativ. Die Wende war das schwierigste Manöver im Rennen, vgl. Soph. El. 744 mit Finglass 2007. V. 5 δαλ[…… ἵ]π̣ποι: Die Ergänzung von δαλ[ durch eine Form von δαλὸϲ (‚Fackel‘) erscheint zwingend; die weitere Ergänzung des Verses der Erstherausgeber durch δ’ εἴκελοι ist inhaltlich naheliegend, aber nicht sicher.

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V. 6 Die Argiver gehörten zu den Leitern der Nemeen, s. Schol. Pind. Nem. argum. c, p. 3.16 Drachmann. Rekonstruktionsvorschlag παρθένοϲ ἡ βαϲίλιϲϲα ϲὺν ἄντυ[γ]ι, ναί, Βερενίκη πάνταϲ ἅμα ζευκτοὺϲ ἀθλοφορεῖ ϲτεφάνουϲ, Ζεῦ παρὰ ϲοὶ Νεμεᾶτα· τάχει δ’ ἀπελίμπανεν ἵππων δίφροϲ ἐπεὶ [κάμψα]ι τὸν πολὺν ἡνίοχον, δαλ[οῖϲ δ’ εἴκελοι ἵ]πποι ὑπὸ ῥ[υτ]ῆρι θέοντεϲ πρῶ[τοι ἐϲ Ἀ]ργολικοὺϲ ἦλθον [ἀγω]νοθέταϲ. Die königliche Jungfrau Berenike trägt mit dem Wagen wahrhaftig alle Siegeskränze für Gespanne auf einmal davon, Zeus, bei deinen Nemeen. Mit der Geschwindigkeit ihrer Pferde ließ ihr Rennwagen bei jeder Wende zahlreiche Wagenlenker hinter sich zurück, Feuerbränden gleich galoppierten die Pferde unter den Zügeln und erreichten als erste die Argolischen Schiedsrichter. Das (fast karg anmutende) Epigramm soll die Siege der Berenike in Nemea als einzigartige entwerfen; hierfür wird – als Form der Bekräftigung dieser Deutung – Zeus selbst als Zeuge apostrophiert. 80 Das Epigramm ist stark zerstört. Die Apostrophe an den Zeus von Nemea in Verbindung mit dem Wort ‚Kranz‘ bzw. ‚Kränze‘ deutet daraufhin, dass in ihm ein Sieg oder mehrere Siege an den Nemeen gefeiert wurden. XIII

1 2 3 4

± 31 ]λ̣οιϲ ±19 ]. [ϲ]τ̣ε̣φ̣α̣ν̣[ο]υ̣[ ±19 ]ο̣χον, ὦ Νέμεε Ζεῦ ±16 ] τ̣οῦτ’ ἐπ̣ὶ παιδὶ μόνηι.

1 2 3 4

1 ἀέθ]λ̣οιϲ (Austin 2001a) potius quam πολ]λ̣οῖϲ ed. min. : φύλ]λ̣οιϲ Angiò 2003b : πώ]λ̣οιϲ Lapini 2007  3 ] ὄ̣χον vel ἔξ]ο̣χον vel ὑπείρ]ο̣χον Austin 2001a  4 ἀθλοφόρωι Μακέτηι] e.g. Austin 2001a; Μακέτηι] def. Ferrari per litt.[…]

[…] […] eines Kranzes/Kränze […] Zeus von Nemea […] dies für ein Mädchen allein

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Hippika 81

V. 1 ]λ̣οιϲ: Die Divergenz der jeweils nicht unmöglichen Ergänzungen der am Ende des Verses erhaltenen Buchstaben: ‚Wettkämpfe‘ (Austin) ‚Blätter‘ (Angiò) und ‚Fohlen‘ (Lapini) zeigt, wie aussichtslos eine Rekonstruktion in diesem Falle ist. V. 2 [ϲ]τ̣ε̣φ̣α̣ν̣[ο]υ̣[: Der von den Erstherausgebern erwogene Plural („forse ϲτεφάνουϲ“) würde anzeigen, dass von mehreren Siegen die Rede war. Wenn diese bei ein und denselben Nemeen errungen worden sind, könnte das Epigramm dasselbe Thema wie 79 behandeln und würde mithin eine Variation zu dem vorangegangenen Epigramm darstellen. V. 3 ὦ Νέμεε Ζεῦ: Stilistisch ist hier eine andere Form der Apostrophe des Zeus von Nemea als in 79.3 gewählt. V. 4 ἐπ̣ὶ παιδὶ μόνηι: Wenn mit dem ‚Mädchen‘ (das etwas allein erreicht hat) die Besitzerin des Gespanns bezeichnet ist, dürfte es sich wiederum um Berenike II. handeln. Austin ergänzt daher (stark hypothetisch) ἀθλοφόρωι Μακέτηι] (für die Makedonin, die Wettkampfpreise davonträgt). Das Epigramm scheint 79 zu variieren. 81 Dieses stark zerstörte Epigramm handelt von Siegen in Wagenrennen bei Spielen, die einen Eppichkranz (V. 1) verleihen. Ist wiederum Berenike die Besitzerin (und damit das ‚einzige Haupt‘ in V. 2), deren mehrfache Siege bei den Nemeen von 249 (oder 247) 79.2 benennt? XIII

5 6 7 8

[ ±16 Δ]ωρικὰ φύλλα ϲελίνων [ ±18 ].ε μίαν κεφαλήν [ ±27 ].[.].ων π̣[ ±20 ἅρμ]α̣τι δὶϲ τελέωι.

1 2 3 4

6 α̣[ vel δ̣[  fort. τ]ῖ̣ε ed. min.  7 ]φ̣[?  fin. ]ζ̣ vel ]ξ̣ vel ].ε̣  8 π̣]ρώτην (Austin 2001a) potius quam π̣[αῖδα (cf. 82,4) vel π̣[αρθένον (cf. 79,1) ed. min.

[…] Dorisches Blattwerk von Eppich […] ein einziges Haupt […] […] zweimal mit dem Wagen mit ausgewachsenen Pferden. V. 1 Δ]ωρικὰ φύλλα ϲελίνων: Zu Eppich als Siegeskranz s. Komm. zu 72.3. ‚Dorisch‘ als Zusatz könnte lediglich ein Hinweis auf die Peloponnes als Austragungsort sein. Allerdings weisen die Erstherausgeber auf zwei Pindar-Stellen (Isthm. 2.15 bzw. 8.63) hin, an denen der Eppichkranz mit dem Attribut ‚dorisch‘ ausdrücklich die Isthmien bezeichnet, und schließlich ist bei Pindar

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in Nem. 4.88 der Isthmische Eppich-Kranz als ‚Korinthischer‘ mit einem ausdrücklichen Epitheton versehen; das Scholion zu Pind. Isthm. 2.15 schließlich identifiziert das ‚Dorisch‘ von Isthm. 2.15 mit ‚Korinthisch‘. Wenn also die poetische Differenzierung zwischen dem Nemeen-Eppichkranz und dem Isthmien-Eppichkranz dadurch erfolgt, dass der Nemeenkranz als Eppichkranz schlechthin, der Isthmische als Korinthischer bzw. Dorischer Eppichkranz bezeichnet wird, so müsste, wenn Poseidipp diesem Sprachgebrauch folgt, auch 81 einem Isthmien-Sieg gelten. Dies könnte derselbe Sieg wie der in 82 gefeierte sein. V. 2 μίαν κεφαλήν: Vgl. 80.4 u. 82.6. Liegt hier wiederum ein Bezug auf Berenike II. vor? V. 4 π:̣ Austins Ergänzungsvorschläge π[̣ ρώτην oder auch π[αῖδα bzw. π[αρθένον sind stark spekulativ; wenn auch dieses Gedicht, wie das vorangehende und das folgende, Berenike feiert, würde der letzte der drei Vorschläge zu der offiziellen Lesart von der ‚königlichen Jungfrau‘ Berenike (s. Komm. zu 78.10 bzw. 79.1) passen. — ἅρμ]α̣τι δὶϲ τελέωι: Zum Terminus vgl. Komm. zu 77.1. Der Zustand des Textes lässt keine Interpretation des Epigramms zu. 82 Das in den ersten drei Versen stark zerstörte Epigramm feiert den Isthmien-Sieg Berenikes (wohl 248 v. Chr.), den sie, vielleicht in Begleitung ihres Adoptiv-Vaters Ptolemaios II. (s. Huss 2008),17 feiern konnte. XIII 9 10 11 12 13 14

ε̣[.].[ ±16 ]γατον Βερενίκηϲ .[.]κ̣[ ±15 ]. ἵ̣π̣π̣ο̣ν̣ ἐ̣π̣ὶ̣ ϲταδίων, τὴ̣ν̣ δὲ̣ [ ±10 ]νον Μακέτην πέλαϲ̣ Ἀ̣κ̣ρ̣[ο]κ̣[ο]ρ̣ί̣ν̣θ̣[ο]υ παῖδα τὸ Πε̣ι[ρήνηϲ ϲε]μ̣νὸν ἐθαύμαϲ’ ὕδωρ ϲὺν πατρὶ Π[τολ]ε̣[μ]α̣ίωι· ἐκήρυξαϲ γὰρ ἐν Ἰϲθμῶι τοϲϲάκιϲ ἀθ̣λ̣[οφ]ό̣ρον δῶμα μόνη βαϲιλίϲ.

1 2 3̣ 4 5 6

9 ε̣[ἶδ]ε̣ [Ποϲειδάων εὖχοϲ μέ]γα τὸν Austin 2001a/b, ed. min.  ἄντυ]γα ed. pr.  10 ν̣[ι]κ̣[ῶντ’ ὠκυδρόμω]ν̣ Austin 2001a/b, ed. min.  11 [πολυϲτέφα]νον ed. pr., min.  13 ϲυμπατρι P  ἐκήρυξεν Austin 2001a

[…] der Berenike […] Pferd in der Rennbahn. Das […] Mädchen aus Makedonien nahe bei Akrokorinth bewunderte das ehrwürdige Wasser der Peirene mitsamt ihrem Vater Ptolemaios. Denn du hast am Isthmos so oft dein Haus als Sieger proklamiert, eine Königin allein.

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Kritisch hierzu zuletzt Clayman 2012.

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Hippika 82

V. 1 Austins Ergänzung bzw. Interpretation ε[ἶδ]ε [Ποϲειδάων εὖχοϲ μέ]γα, τὸν ist zwar spekulativ, doch bietet sie eine geeignete Eröffnung des Epigramms: Es würde mit ‚Poseidon‘ sofort auf die Isthmien verwiesen (womit freilich eine gewisse Redundanz gegeben ist, da auch V. 4: Akrokorinth und V. 5: Isthmos auf diese Spiele deuten), und εὖχοϲ bezeichnete hier wie in 78.11 den Erfolg als Resultat eines Gebets. Für ]γατον erwägen die Erstherausgeber ἄντυ]γα τὸν, können aber, da ἄντυξ Femininum ist, keine Verbindung mit τὸν herstellen. V. 2 Austins Ergänzungsvorschlag ν[ι]κ[ῶντ’ ὠκυδρόμω]ν entspricht dem inhaltlich Geforderten, kann aber nicht als sicher bezeichnet werden, da, wie der Vergleich mit 78.4 (dessen zweite Vershälfte der zweiten Hälfte von V. 2 entspricht) lehrt, statt ὠκυδρόμω]ν auch eine Ortsangabe stehen könnte. — ἵ̣π̣π̣ο̣ν̣ ἐ̣π̣ὶ̣ ϲταδίων: ἵππον kann sowohl das Einzel- wie auch das Wagengespannrennen bezeichen. Die Formulierung wiederholt 78.4b, wo ein Gespannrennen gemeint ist. V. 3 Μακέτην: Auch hier wie in 78.14 wird das – fiktive – Makedonentum Berenikes apostrophiert und damit sowohl der dynastischen Konstruktion der Ptolemäer entsprochen als auch die Verbindung der Herrscher über Ägypten zu Griechenland und den griechischen Traditionen (einschließlich Alexanders) hergestellt. V. 3 f. πέλαϲ̣ Ἀ̣κ̣ρ̣[ο]κ̣[ο]ρ̣ί̣ν̣θ̣[ο]υ … τὸ Πε̣ι[ρήνηϲ: Akrokorinth, die Stadtburg von Korinth, wird hier statt des gewöhnlicheren einfachen Stadtnamens gebraucht, was poetischer Sprache entspricht (vgl. etwa Eur. fr. 1084 Kannicht). Die Peirene-Quelle befand sich in der Nähe des Marktplatzes von Korinth (s. Paus. 2.3.2–3). In der Wortwahl ϲέμνον ὕδωρ scheint Poseidipp Eur. Med. 69 zu zitieren. V. 5 ϲὺν πατρὶ Π[τολ]ε̣[μ]α̣ίωι: Hier wird die Fiktion der Vater-Tochter-Beziehung von 78 wiederholt und damit bekräftigt. V. 6 τοϲϲάκιϲ: Poseidipp benutzt hier die epische Form (vgl. Hom. Il. 21.268). Allerdings ist nicht klar, welche Korrelation hergestellt werden soll. Wenn Berenike als eine Königin allein ,ebenso oft‘ am Isthmos das Haus/die Dynastie als siegreich verkündet hat, kann dies bedeuten: a) wie bei anderen Spielen; b) wie die anderen Ptolemäer 1. zusammen oder 2. je einzeln; c) wie ihr Vater Ptolemaios. a) ist unwahrscheinlich, weil im Kontext keine anderen Spiele genannt werden. b) ist nach Ausweis des Katalogs von 78 unwahrscheinlich; es bleibt c) – wofür auch das γάρ in V. 5 spricht. Rekonstruktionsvorschlag ε[ἶδ]ε [Ποϲειδάων εὖχοϲ μέ]γα, τὸν Βερενίκηϲ ν[ι]κ[ῶντ’ ὠκυδρόμω]ν ἵππον ἐπὶ ϲταδίων,

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τὴν δὲ [πολυϲτέφα]νον Μακέτην πέλαϲ Ἀκρ[ο]κ[ο]ρίνθ[ο]υ παῖδα τὸ Πει[ρήνηϲ ϲε]μνὸν ἐθαύμαϲ’ ὕδωρ ϲὺν πατρὶ Π[τολ]ε[μ]αίωι· ἐκήρυξαϲ γὰρ ἐν Ἰϲθμῶι τοϲϲάκιϲ ἀθλ[οφ]όρον δῶμα μόνη βαϲιλίϲ. Es sah Poseidon den großen Erfolg: Berenikes Pferd siegend in der Rennbahn, die schnellen Lauf erlaubt. Das Mädchen aus Makedonien, das viele Siegeskränze errungen hat, bewunderte nahe bei Akrokorinth das ehrwürdige Wasser der Peirene mitsamt ihrem Vater Ptolemaios. Denn du hast am Isthmos so oft dein Haus als Sieger proklamiert, eine Königin allein. In diesem Epigramm wird, ähnlich wie in 78 und 88, die ‚Einheit‘ der Dynastie im Kontext eines Sieges beschworen: die Begleitung Berenikes durch ihren „Vater“ Ptolemaios soll diese Einheit symbolisieren. Die Isthmischen Spiele, an denen Berenike gesiegt hat, werden nicht direkt genannt, sondern durch die Nennung des Gottes, zu dessen Ehren sie abgehalten wurden (Poseidon, V. 1) und durch in der Nähe liegende Orte (Akrokorinth und Peirene V. 4, Isthmos V. 5) umschrieben. Den pointierten Abschluss bildet eine Apostrophe an die Siegerin, die die offizielle Titulatur (s. Komm. zu 79.1) zu variieren scheint. 83 Mit diesem Epigramm wird eine Gruppe von Texten eingeleitet, die thessalischen Siegern gelten. Es gibt sich als Weihinschrift für das von den Skopaden, der berühmten thessalischen Dynastie, aufgestellte Standbild eines Pferdes, das dreimal das Olympische Pferderennen gewonnen hat. Dem Pferd wird die Rolle des Sprechers zugewiesen. XIII 15 16 17 18

Θεϲϲαλὸϲ ὀξ̣[ύταθ]{α̣} ἵπποϲ Ὀλύμπια μουνοκέληϲ τρὶϲ νικῶν αγ[….]α̣ι μνῆμ{α} ἱερὸν Ϲκοπάδαιϲ π̣ρ̣ῶτοϲ κ̣[αὶ μ]όνοϲ οὗτοϲ· ἐλέγχετε, τρὶϲ γὰρ ἐνίκων ….. ἐπ’ Ἀλ]φ̣ειῶι, μάρτυρεϲ Ἰαμίδαι.

1 2 3 4

15 οξ̣[….]α̣ιπποϲ P : ὃν̣ [θε]ᾶ̣ι ἵπποϲ Luppe 2004b : οὔ̣[νομ]α̣ Ferrari per litt.  16 ἄγ[κειτ]α̣ι ed. pr., min. : ἄγ[κειμ]α̣ι Livrea 2002 (def. Handley 2004, Ferrari per litt.)  18 Φρῖκοϲ vel Φρῖξοϲ e.g. Austin 2001b : καλῶι Livrea 2002

Das thessalische Pferd (sehr schnell) im Rennpferdrennen dreimal in Olympia gewinnend […] heiliges Denkmal für die Skopaden als erstes und einziges, dieses hier. Überbietet dies: dreimal nämlich siegte ich […] am Alpheios. Zeugen sind die Iamiden. V. 1 Θεϲϲαλὸϲ ὀξ[ύταθ’] ἵπποϲ: S. o. Komm. zu 71.4. — μουνοκέληϲ: S. o. Komm. zu 71.1. V. 2 αγ[…]α̣ι: Livreas Ergänzung ἄγ[κειμ]αι gibt dem Epigramm eine durchgängige Rede in der 1. Ps. Sg. und verdient damit den Vorzug vor der Herstellung der Erstherausgeber. — μνῆμ{α}:

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Hippika 83

Dass ein Standbild als ‚Erinnerungsmal‘ gedacht ist, gehört zur Topik des Weihepigramms; vgl. etwa das eingangs (S. 283) zitierte Pheidolas-Epigramm (Paus. 6.13.9) oder IG I² 761 (Friedländer/Hoffleit 1948, Nr. 100). — Ϲκοπάδαιϲ: Grammatisch ist der Dativ mehrdeutig. Einerseits kann er Dativus auctoris zum perfektischen ἄγ[κειμ]αι sein („ich bin aufgestellt von den Skopaden“), andererseits Dativus commodi („ich bin aufgestellt als Denkmal für die Skopaden“). Diese Mehrdeutigkeit führt auf das Problem, wie die Zeitstellungen, die der Text impliziert, zu verstehen sind. Naheliegend wäre es, das Epigramm so zu lesen, dass alle Daten auf einer Zeitebene liegen, d. h. – dies legen die übrigen Hippika nahe – sowohl der Sieg des Pferdes wie auch die Weihung und die Skopaden als ‚zeitgleich‘ zu verstehen sind. Das Epigramm würde dann ein Geschehen beschreiben, das um die Mitte des 3. Jh.s v. Chr. anzusetzen ist. Dies ist jedoch insofern nicht selbstverständlich, als die Skopaden (s. Swoboda 1927, RE IIIA 1, 567–569; Dickie 2008, 36–37) zwar im Thessalien des späten 6. Jh.s von Bedeutung waren und Siege in hippischen Agonen errungen haben, wie die berühmte Geschichte über die Mnemotechnik des Simonides bei Quintilian (inst. or. 11.2.11) bzw. die Skopas-Ode des Simonides (PMG 542) bezeugen, die Platons Protagoras überliefert. Ob jedoch die Familie nach der Katastrophe des berühmten Einsturzes des Festsaales (Cic. de orat. 2. 352 f.) noch eine ähnlich wichtige Rolle spielen konnte, ist unklar. Zwar sind auch für das 5. und 4. Jh. vereinzelt Angehörige der Familie bezeugt, doch scheint die große Zeit der Skopaden in der Vergangenheit zu liegen. Dickie (2008, 37) hat daher vermutet, dass das Epigramm keinen Sieg seiner Zeit behandelt, sondern dass um 260 ein Angehöriger der Skopaden zur Erinnerung an die (vergangene) Bedeutung seiner Familie Bronzepferd und Inschrift aufstellen ließ, wobei das Pferd ein Pferd des 6. Jh.s repräsentiere, das dreimal für die Skopaden bei den Olympien gewonnen habe. Eine sichere Entscheidung über diese Zeitstellung ist nicht möglich. Doch spricht die Erwähnung der Iamiden in V. 4 für die Annahme Dickies, dass es sich um ein Erinnerungsmal für die ‚alten‘ Skopaden des 6. Jh.s handelt (s. Komm. zu V. 4). V. 3 πρ̣ ῶ ̣ τοϲ κ[̣ αὶ μ]όνοϲ: Die Sprache des Siegesepigramms verweist häufig auf die Sonderstellung von Sieger oder Sieg durch die Betonung (oder Behauptung), jemand oder etwas sei ‚erster‘. Diese sog. πρῶτοϲ-Formel (s. Ebert 1972, 22) steigert Poseidipp hier (wie auch in 88.1) durch die Betonung der Singularität der Leistung (μόνοϲ); zu der häufigen Junktur vgl. ed. pr. Es scheint, dass hier einer der frühesten Belege für die Übertragung der Formel von heroischen oder intellektuellen Leistungen (so Arist. fr. 673 Rose, in Bezug auf Platon) auf einen Erfolg bei Spielen vorliegt. — ἐλέγχετε, τρὶϲ γὰρ ἐνίκων: Die Erstherausgeber sehen hier, wie in SH 974.7, eine Herausforderung an die Rivalen, die Leistung des Pferdes zu überbieten; angesprochen fühlen können sich aber auch die Betrachter des Pferds/des Denkmals. V. 4 … ἐπ’ Ἀλ]φ̣ειῶι: Dass in einem Epigramm über Olympia-Siege der Alpheios genannt wird, ist naheliegend, die Ergänzung daher plausibel; vgl. 84.2. Ob und welcher Pferdename am Anfang des Verses gestanden hat (Austin vermutet einen Namen wie Phrixos, vgl. dazu Maehler 1996), ist dagegen sehr unsicher. — μάρτυρεϲ Ἰαμίδαι: Die Iamiden sind die Angehörigen einer Familie, die in Olympia am Zeus-Altar als Wahrsager auftraten (s. Schol. Pind. Ol. 6.111 Drachmann u. Parke 1967, 174 –178). Da für das 4. und 3. Jh. Siegerlisten mit großer Sorgfalt geführt wurden, wäre es merkwürdig, wenn die Wahrsager von Olympia als Zeugen bemüht werden müssten, um den dreifachen Sieg eines Rennpferdes zu beglaubigen. Für Siege des 6. Jh.s steht es anders: Pausanias (6.13.10–11) hebt hervor, dass es Diskrepanzen zwischen den Siegerlisten dieser Zeit und den Inschriften, die Siege nennen, gab.

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Rekonstruktionsvorschlag Θεϲϲαλὸϲ ὀξ[ύταθ’] ἵπποϲ Ὀλύμπια μουνοκέληϲ τρὶϲ νικῶν ἄγ[κειμ]αι μνῆμ’ ἱερὸν Ϲκοπάδαιϲ πρῶτοϲ κ[αὶ μ]όνοϲ οὗτοϲ· ἐλέγχετε, τρὶϲ γὰρ ἐνίκων … ἐπ’ Ἀλ]φειῶι, μάρτυρεϲ Ἰαμίδαι. Ich, das thessalische Pferd, das im Rennpferdrennen dreimal in Olympia mit größter Geschwindigkeit gewann, bin als heiliges Denkmal für die Skopaden aufgestellt, als erstes und einziges, dieses hier. Überbietet dies: dreimal nämlich siegte ich […] am Alpheios. Zeugen sind die Iamiden. Das Epigramm unterscheidet sich (wahrscheinlich) von anderen Texten der Hippika darin, dass es ein ‚Gedenkepigramm‘ ist, das eine Weihung erläutert, die für eine berühmte aristokratische Familie und deren Ruhm vorgenommen wird, obwohl bzw. weil die Siege, auf die der Ruhm gegründet ist, mehr als zweihundert Jahre zurückliegen und die Familie unbedeutend geworden ist. Gesetzt, diese Rekonstruktion der Konstellation ist richtig, so könnte sich mit diesem Epigramm implizit der Anspruch des Dichters und der Gattung verbinden, auch Vergangenes und insbesondere Vergessenes literarisch wiederzubeleben. 84 Das Epigramm präsentiert sich als Weihinschrift für das Standbild des Pferdes, das der Thessaler Phylopidas (eine Identifizierung ist nicht möglich) für seinen Sieg im Pferderennen in Olympia weihte. XIII 19 20 21 22

…… Ὀλυ]μπιονῖκα, ϲὺ τὸν ταχὺν ἵππον ἔλουϲαϲ …… ἐν Ἀλ]φειῶι, θεϲ̣ϲαλοτυλοϲιδα, ……. μ]έγα δῶμα μεθύϲτερον ἐϲτεφανώθη …….].ι πρῶται θειότεραι χάριτεϲ.

1 2 3 4

19 πρῶτοϲ, Ὀλυ]μπιονῖκα ed. pr., min.  20 τοῦτον ἐν Ἀλ]φειῶι Austin 2001a, ed. pr., min.  Θεϲϲ̣ αλὲ Φυλοπίδα Austin 2001a, ed. pr., min.  21 εἰ καὶ ϲὸν μ]έγα Austin 2001a, ed. min. (et Gronewald 2004) : ἔνθεν ϲοι De Stefani 2003 : εἰ δ’ αὖ ϲὸν Ferrari 2005 : fort. ϲοι Ferrari per litt.  22 ]ϲ̣ι ed. pr. : πάντεϲ]ϲ̣ι Austin 2001a, ed. min. (vel ϲτίλβου]ϲ̣ι … θειότερον Austin 2001a) : ἀλλ’ αἰ]ε̣ὶ De Stefani 2003 : πολλάκιϲ] α̣ἱ vel δεύτερον,] α̣ἱ Gronewald 2004 : πᾶϲιν ὅϲ]α̣ι Handley 2004

[…] Olympia-Sieger, du hast dieses ‹dein› schnelles Pferd gewaschen im Alpheios, (aus Thessalien) […] großes Haus wurde später noch bekränzt, […] die ersten göttlicheren Chariten. V. 1 f. …… Ὀλυ]μπιονῖκα: Das in der Lücke am Anfang des Verses von den Erstherausgebern ergänzte πρῶτοϲ, Ὀλυ]μπιονῖκα könnte entweder bedeuten, dass die auch inschriftlich bezeugte rituelle Waschung (ἵππον ἔλουϲαϲ) im Alpheios nach dem Wettkampf (s. ed. pr.) in der Reihenfolge des Zieleinlaufs, bzw. allgemeiner der Platzierung im Wettkampf erfolgte, oder dass

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Hippika 84

der in dem Epigramm gefeierte Sieger der erste Sieger des großen Hauses war, das, wie es in V. 3 heißt, später noch weitere Siege errang. Die zweite Möglichkeit wird durch den Schluss nahegelegt, der feststellt, dass die ersten Freuden (d. h. die Freuden, die man zum ersten Mal erlebt) die schönsten sind. V. 2 θεϲ̣ϲαλοτυλοϲιδα: Der Papyrus bietet eine sinnlose Buchstabenfolge. Dass hier vom Besitzer des Pferdes und seiner thessalischen Herkunft (s. zu Thessalien Komm. zu 71.4) die Rede war, ist sehr wahrscheinlich. Die Herstellung des Textes: Θεϲϲαλὲ Φυλοπίδα (so von Austin in der ed. pr. vorgeschlagen) ist plausibel; Phylopidas ist als Name eines Spartaners bei Diog. Laert. 2.53 belegt. V. 3 μεθύϲτερον: Mit diesem Begriff wird die Zeitstruktur, die das Epigramm im Verhältnis zwischen dem berichteten Geschehen und dem imaginierten Augenblick des Lesens konstruiert, verkompliziert. Denn durch die explizite Angabe, dass ‚später‘ das ‚Haus‘ (d. h. die Familie des Phylopidas) noch weitere Siege errungen habe, verschiebt sich der Olympia-Sieg in Relation zur Gegenwart des Rezipienten in eine Vorvergangenheit, zwischen die eine ‚einfache‘ Vergangenheit tritt. Ferner: Da das Epigramm bereits von den späteren Siegen der Familien weiß, ist es nicht zum Zeitpunkt des Sieges gesprochen zu denken, sondern zu dem (indefinit späteren) der Aufstellung des Standbilds. V. 4 πάντεϲ]ϲι: Der von Austin ergänzte Dat. Pl. ergibt einen guten Sinn: Er kann – nach dem Vorbild Hom. Il. 2.285 – als Maskulinum (i. S. v.: in den Augen aller) gedeutet werden. — θειότεραι χάριτεϲ: Die Erstherausgeber verweisen auf Hdt. 2.66, wo θεῖοϲ im Sinn von wunderbar verwendet wird. Rekonstruktionsvorschlag πρῶτοϲ, Ὀλυ]μπιονῖκα, ϲὺ τὸν ταχὺν ἵππον ἔλουϲαϲ τοῦτον ἐν Ἀλ]φειῶι, Θεϲϲαλὲ Φυλοπίδα· ……. μ]έγα δῶμα μεθύϲτερον ἐϲτεφανώθη πάντεϲ]ϲι πρῶται θειότεραι χάριτεϲ. Als erster, Olympia-Sieger, hast du dieses dein schnelles Pferd im Alpheios gewaschen, Phylopidas aus Thessalien. Wenn auch dein großes Haus später noch bekränzt wurde, so sind doch in aller Augen die ersten Chariten die göttlicheren. Hier liegt ein insofern besonderes Siegesepigramm vor, als es aus einer Situation des Rückblicks auf eine (so insinuiert der Text, V. 3) ganze Reihe von Siegen des Thessalers Phylopidas bzw. seiner Familie nur den ersten Sieg heraushebt und feiert, die späteren Siege aber nur vage andeutet und damit dem ersten Erfolg und dem ersten Sieger die Bedeutung einer initialen Ruhmbegründung zuweist.

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85 Das Epigramm gibt sich als (dorische) Weihinschrift, mit der der Thessaler Amyntas (eine Identifizierung ist nicht möglich) dem Zeus von Olympia das Standbild eines Pferdes, das aus seiner eigenen Herde stammt, weiht. XIII 23 24 25 26

.…….]ν ταχυτᾶτι διάκριτον ἵππον Ἀμύνταϲ …… ἀ]π’ οἰκείαϲ ἀγαγόμαν ἀγέλαϲ π̣ρ̣[ὸ]ϲ ϲ̣[έ, Ζε]ῦ Πιϲᾶτα, καὶ οὐ κατέλυϲα παλαιᾶϲ δόξ̣α̣ϲ̣ […] ἵπποι̣ϲ̣ πατρίδα Θεϲϲαλίαν.

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23 ἀθλοφόρο]ν Austin 2001a, ed. pr., min. : τοῦτον μὲ]ν Ferrari per litt.  24 τοῦτον ἀ]π’ ed. pr., min. : πρῶτον Ferrari per litt.  αγαγομεν P  26 [εἰν] ed. pr., min.

[…] durch seine Schnelligkeit ausgezeichnete Pferd […] habe ich, Amyntas, aus eigener Herde gebracht (zu dir,) Zeus von Pisa, und nicht habe ich um den alten Ruhm […] (für) Pferde meine Heimat Thessalien betrogen. V. 1 ]ν ταχυτᾶτι διάκριτον ἵππον: Auch mit Austins Ergänzung ἀθλοφόρον wird nicht explizit gesagt, dass das Pferd des Amyntas in Olympia gewonnen hat, sondern zunächst nur von der Eigenschaft des ‚Siegespreis-Davontragens‘ gesprochen. Es wäre freilich sonderbar, wenn die Weihung eines Standbilds ohne einen entsprechenden Sieg in Olympia zugelassen worden wäre; außerdem legen der Hinweis auf die Schnelligkeit in V. 1 und die Litotes in V. 3– 4 (‚habe ich den alten Ruhm gemehrt/bewahrt‘) einen solchen nahe. — Ἀμύνταϲ: Der Name ist häufig belegt (besonders für Makedonen); Pausanias (6.4.5) nennt etwa einen Amyntas aus Eresos, Sieger im Pankration der Knaben in Olympia. V. 3 Ζε]ῦ Πιϲᾶτα: Die Apostrophe an den ‚Pisatischen Zeus‘ (vgl. die Apostrophe an den Nemeatischen Zeus in 79.3) sichert die Bezogenheit des Epigramms auf Olympia. Zu Pisa s. Komm. zu 78.4. V. 4 δόξ̣α̣ϲ̣ … ἵπποι̣ϲ: Das in poetischen Texten gelegentlich metri gratia für ἐν verwendete εἰν (ed. pr.) bezeichnet den Bereich, für den der Ruhm gilt: ‚hinsichtlich seiner Pferde(zucht)‘; s. LSJ 7. — πατρίδα Θεϲϲαλίαν: Zu Thessalien s. Komm. zu 71.4. Rekonstruktionsvorschlag ἀθλοφόρο]ν ταχυτᾶτι διάκριτον ἵππον Ἀμύνταϲ τοῦτον ἀ]π’ οἰκείαϲ ἀγαγόμην ἀγέλαϲ πρ[ὸ]ϲ ϲ[έ, Ζε]ῦ Πιϲᾶτα, καὶ οὐ κατέλυϲα παλαιᾶϲ δόξαϲ [εἰν] ἵπποιϲ πατρίδα Θεϲϲαλίαν.

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Hippika 86

Dieses siegespreiserringende, durch seine Schnelligkeit ausgezeichnete Pferd habe ich, Amyntas, aus eigener Herde gebracht zu dir, Zeus von Pisa, und nicht habe ich um den alten Ruhm für Pferde meine Heimat Thessalien betrogen. Das Epigramm hebt weniger die Siege des Amyntas als dessen Stellung heraus, d. h. den Umstand des Besitzes einer eigenen Herde und seine Bindung an Thessalien. Wenn dies so betont wird, so könnte hierin das besondere Interesse des Amyntas gelegen haben – woraus man schließen kann, dass er entweder heimatverbunden war oder sich (als ‚Emporkömmling‘) ‚seiner‘ Heimat erst noch versichern musste. 86 Das Epigramm gibt sich als Inschrift für das Standbild eines erfolgreichen Rennpferdes. Es spricht der Besitzer Eubotas, der die Erfolge seines Renners aufzählt. Die Anzahl der im Epigramm genannten Siege (vier in Nemea, zwei in Delphi) ist beachtlich; wo das Standbild als aufgestellt gedacht werden soll, bleibt unklar. XIII 27 28 29 30

…ι̣…το̣μ̣εν. θ̣ρ̣αϲὺ̣ϲ̣ ἔ̣δραμε· καὶ γὰρ ἐνίκα ἵπ̣π̣ο̣ϲ̣ [ὅ]δ̣’ ἐν Νεμέαι τετ̣ρ̣άκ̣ιϲ οἰοκέληϲ καί̣ τ̣ε̣ [δ]ὶ̣ϲ ἐν Πυθοῖ ϲτάδιον Μ̣[ε]ϲ̣ϲ̣ήνιοϲ Αἴθων, χἀ[κά]τ̣ερ’ Εὐβώταν ἐϲτεφ[ά]ν̣ωϲεν ἐμέ.

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27 τ̣ο̣ῖ̣ο̣ϲ̣ ἐ̣ὼ̣ν̣ τὸ̣ μ̣ένο̣ϲ̣ De Stefani 2003 : ἀ̣ν̣τό̣μ̣ενοϲ Lapini 2003b) : Ἴ̣ϲ̣θ̣μ̣ι̣α̣ ἀ̣ν̣τό̣μ̣ενοϲ Ferrari 2005 : ἵπ̣π̣ο̣ν̣ ἀ̣θ̣[ρ]ε̣ῖτε μ̣έγ̣α̣ν̣ κ̣λ̣ήιϲα̣ν̣τ̣ά (vel κ̣λ̣ε̣ίϲα̣ν̣τ̣ά) με Luppe 2004c  29 καί̣ τ̣ε̣ ed. pr., min. : καὖ̣τ̣ε̣ Luppe 2004c  30 κα̣ι̣ε̣[.]τ̣ερ (scriptio plena) P : κἀ[ϲ ἕ]τ̣ερ’ Lapini 2007 : κἄ[θ’ ἕ]τ̣ερ’ Ferrari per litt.  Εὐβώταν ed. pr., min. : Ϲυβώταν Habicht 2003

[…] lief es in scharfem Galopp. Es siegte nämlich dieses Pferd in Nemea viermal im Einzelrennen und zweimal in Pytho über die Distanz des Stadions, der Messenierhengst Aithon, und an beiden Orten verlieh er mir, Eubotas, den Siegeskranz. V. 1 Der Anfang des Verses ist kaum lesbar; es sind verschiedene Ergänzungen möglich, ohne dass Sicherheit bestünde. Die Vermutung Ferraris, dass von den Isthmien die Rede gewesen sei, ist angesichts des Siegeskatalogs, der Nemeen und Pythien nennt, bedenkenswert, aber nicht zwingend. V. 2 οἰοκέληϲ: Der Begriff variiert μουνοκέληϲ (s. den Komm. zu 71.1) als Bezeichnung für das Einzelrennen. V. 3 Μ̣[ε]ϲ̣ϲ̣ήνιοϲ Αἴθων: Messenien gilt nicht als Land der Pferdezucht. Insofern ist das hier vorgestellte Pferd Aithon (es trägt denselben Namen wie der Renner in 71.1) ein Sonderfall.

Martin Hose

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V. 4 Εὐβώταν: Ob der hier genannte Besitzer Eubotas mit dem Eubatas von Kyrene (was die dorische Form des Namens Eubotas/Eubotes wäre) identisch ist, von dessen Sieg im Stadionlauf und im Wagenrennen in Olympia Pausanias (6.8.3) weiß, lässt sich nicht sagen. Wie die vorausgehenden Epigramme ist auch dieses Gedicht ein schlichtes Produkt, das im Wesentlichen dazu dient, einen Miniaturkatalog der Erfolge des Eubotas zu geben. Ist dies der Zweck des Textes, so sollte als Aufstellungsort von Standbild und Epigramm ein Platz angenommen werden, der Eubotas’ Ruhm möglichst dienlich ist. Dies könnte ein Wettkampfort, aber auch sein Heimatort sein. 87 87 gibt sich als Rede des Standbilds des bei den Olympien siegreichen Fohlen-Viergespanns der Berenike I. Es feiert damit den Sieg, den auch 78.5 nennt. XIII 31 32 33 34

π̣[ῶλοι] ἔθ’ ἁμὲϲ ἐοῦϲαι Ὀλυμ[πια]κ̣ὸν Βερενίκαϲ, Π̣[ι]ϲ̣ᾶ̣[τ]α̣ι Μακέταϲ ἀγάγομ[ε]ϲ̣ ϲτέφανον, ὃϲ τ̣ὸ̣ [πο]λυθρύλα̣τον ἔχει κλ̣έ̣ο̣ϲ, ὧι τὸ Κυνίϲκαϲ ἐν Ϲπ̣ά̣[ρ]ται χρόνιον κῦδοϲ ἀφειλόμεθα.

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31 π̣[ῶλοι] Haslam 2003, De Stefani 2003 (π̣[ῶ]λ̣[οι]), Janko 2005 : ἵ̣π̣[ποι] ed. pr., min.  33 -λα̣τον P, α ex η corr. : -λητον Janko 2005

Αls wir noch Fohlen waren, brachten wir für die Makedonierin Berenike, ihr Bewohner von Pisa, den Olympischen Siegeskranz, der den vielverkündeten Ruhm hat, mit dem wir den alten Glanz, den in Sparta Kyniska besaß, wegnahmen. V. 1 π̣[ῶλοι]: Diese Ergänzung, die Haslam und Janko unabhängig voneinander vorgeschlagen haben, kann auf zweierlei Weise verstanden werden: a) als wir noch ‚lebende‘ Fohlen waren und nicht bronzene Abbilder, wie ihr sie hier vor euch seht (ed. pr.), oder b) als wir noch Fohlen waren, d. h. noch ganz junge Pferde, so jung wie unsere Herrin und Königin Berenike (Janko 2005). V. 2 Π̣[ι]ϲ̣ᾶ̣[τ]α̣ι: Die Apostrophe an die Bewohner von ‚Pisa‘ (s. Komm. zu 78.4) definiert den Aufstellungsort der Gruppe als Olympia. — Μακέταϲ: Auch hier wird Berenikes makedonische Abkunft explizit testiert (s. Komm. zu 78.14). V. 3 f. τὸ Κυνίϲκαϲ / ἐν Ϲπ̣ά̣[ρ]ται χρόνιον κῦδοϲ: Kyniska, die Tochter des spartanischen Königs Archidamos, hatte als erste Frau überhaupt in Olympia mit dem Viergespann gesiegt (wahrscheinlich) 396 und 392 (s. Moretti 1957, Nr. 373 u. 381). Ihre Erfolge waren intensiv medial verwertet worden, v. a. in Olympia selbst, wo nach dem Zeugnis des Pausanias (5.12.5 u. 6.1.6) gleich zwei (unterschiedliche große) Bronzestatuengruppen ihres Gespanns sowie

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Hippika 88

eine Statue, die sie abbildete, aufgestellt wurden. Hinzu kam ein Epigramm auf der größeren Gruppe (AP 13.16): Ϲπάρταϲ μὲν βαϲιλῆεϲ ἐμοὶ πατέρεϲ καὶ ἀδελφοί· ἅρματι δ’ ὠκυπόδων ἵππων νικῶϲα Κυνίϲκα εἰκόνα τάνδ’ ἔϲταϲα. μόναν δ’ ἐμέ φαμι γυναικῶν Ἑλλάδοϲ ἐκ πάϲαϲ τόνδε λαβεῖν ϲτέφανον. Spartas Könige waren mir Väter und Brüder. Doch weil mit dem Wagen schnellfüßiger Pferde ich, Kyniska, siegte, stellte ich dies Bildnis auf. Als einzige der Frauen, sage ich, aus ganz Griechenland habe ich diesen Siegeskranz errungen.

Man kann diese mediale Verwertung des Sieges, die auf die Einzigartigkeit der Leistung abgestellt ist, durchaus mit dem Begriff κῦδοϲ, glanzvoller Ruhm, charakterisieren (s. dazu Lapini 2007, 290–291), und umso berechtigter erscheint der Anspruch, den V. 4 formuliert, dass durch Berenikes Sieg Sparta und Kyniska den ‚alten Glanz‘ verloren hätten. Der Text spielt mit dem Motiv der Metamorphose: Aus lebendigen Fohlen sind nun Bronze-Standbilder geworden, die über ihre Vergangenheit sprechen. Rennen und Sieg selbst werden nicht ausgeführt, sondern es wird Nachdruck auf die Bedeutung gelegt, die in ihrem besonderen Ruhm liegt: Leistung und damit der Anspruch auf besondere Anerkennung der spartanischen Prinzessin Kyniska werden durch Berenike überboten. Der deutliche Verweis auf Kyniska, die ihren Erfolg nach dem Zeugnis des Pausanias medial extensiv in Repräsentation umsetzte, fordert dazu auf, auch die Bronzegruppe, die ihren Sieg feiert, als in Konkurrenz zu den Monumenten der Kyniska in Olympia stehend zu betrachten. Es scheint, dass über das Epigramm eine ‚agonale‘ Situation evoziert wird: Berenike und ihr Sieg sollen nicht nur als ‚synchrones‘ Phänomen, d. h. als Sieg und Überbietung der Mitbewerber in ihrer Zeit, sondern zugleich als diachrones Phänomen, als Überbietung auch des spektakulärsten früheren Sieges (einer Frau) erscheinen. Implizit trägt damit dieses Epigramm dazu bei, die Ptolemäer in der aristokratischen Tradition der griechischen Welt zu verankern. 88 Das Epigramm gibt sich als (dorische18) Rede Ptolemaios II., der seinen Sieg bei den Olympien im Wagenrennen (wohl 284 v. Chr.) mit den entsprechenden Siegen seiner Eltern Ptolemaios I. und Berenike I. verbindet. Das Epigramm scheint eine Figurengruppe zu beschreiben. XIII 35 36 37 38 39 XIV 1

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πρῶτο[ι] τρεῖϲ βαϲι̣λῆ̣εϲ Ὀλύμπια καὶ μόνοι ἁμὲϲ ἅρμαϲι νικῶμεϲ̣ κ̣α̣ὶ γονέεϲ καὶ ἐγώ· ε̣ἷϲ μ̣ὲν ἐγὼ̣ [Π]τολεμαίου ὁμώνυμοϲ, ἐκ Βερενίκαϲ υ̣ἱ̣[όϲ], Ἐορδαία γέννα, δύω δὲ γονεῖϲ· †π̣ρ̣ο̣υ μέγα πατρὸϲ εμου† τίθεμαι κλέοϲ, ἀλλ’ ὅτι μάτηρ εἷλε γυνὰ νίκαν ἅρματι, τοῦτο μέγα.

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Zu der möglichen politischen Bedeutung des dorischen Dialekt s. Fantuzzi-Hunter 2004, 375–377.

Martin Hose

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37 εγβερενικαϲ P  39 ]ο̣υ P : κ̣α̣[ι]ου leg. Johnson et alii (i. e. κοὐ, Gronewald 2001) BastianiniCasanova 2002, 161; v. Bernsdorff 2002  π̣ρ̣ὸϲ μέγα πατρὸϲ ἐμὸν ed. pr., min. : κοὐ μέγα πατρὸϲ ἐμὸν Gronewald 2001 : τ̣ρ̣ὶϲ μέγα vel τ̣ρ̣ίϲμεγα πατρὸϲ ἐμοῦ Lapini 2003b  1 αρματοτουτο P

Als erste und einzige drei Könige haben wir in Olympia mit dem Wagen gesiegt, sowohl meine Eltern als auch ich. Einer bin ich, trage denselben Namen wie Ptolemaios, der Berenike Sohn, bin von eordaischer Abkunft, zwei ‹sind› meine beiden Eltern (neben den großen Ruhm meines Vaters?) stelle ich meinen; aber dass ‹meine› Mutter, eine Frau, den Sieg im Wagenrennen errang: Dies ist ‹wirklich› etwas Großes. V. 1 πρῶτο[ι] … καὶ μόνοι: Doppelte Betonung der Besonderheit wie 83.3. — τρεῖϲ βαϲιλ̣ ῆε̣ ϲ: Also neben dem Sprecher Ptolemaios II., Ptolemaios I. und dessen Frau Berenike I. V. 3 ὁμώνυμοϲ: Der Verweis auf Homonymie ist ein Motiv, das gerade in Siegesepigrammen immer wieder genutzt wird, um einen Sieger in eine Tradition von Siegern zu stellen; vgl. etwa Nr. 69 bei Ebert 1972, 203 (eine kunstvollere Form, da hier der Name des Siegers Kleonymos als buchstäbliche Homonymie für das Konzept des Ruhms durch Siege interpretiert wird). V. 4 Ἐορδαία γέννα: Ptolemaios I. stammte aus der westmakedonischen Landschaft Eordaia (s. Arr. anab. 6.28 bzw. Ind. 18.5). Auch hier wird also die makedonische Seite der Ptolemäer betont. V. 5 †π̣ρ̣ο̣υ μέγα πατρὸϲ εμου†: Die beiden leichten Eingriffe der Erstherausgeber (πρὸϲ μέγα πατρὸϲ ἐμὸν) sind notwendig (πρὸϲ) bzw. plausibel (ἐμὸν). Das Epigramm gibt sich als Rede Ptolemaios II., der seinen Sieg bei den Olympien im Wagenrennen mit den entsprechenden Siegen seiner Eltern Ptolemaios I. und Berenike I. verbindet (das Epigramm entspricht damit 78.3–7), zugleich aber seinen eigenen Sieg zurücknimmt durch die Betonung, die der Sieg seiner Mutter (den 87 preist) erhält. Das Epigramm betreibt hierin ptolemäische Repräsentation; denn das verzwickte Geflecht der Heiraten und Verwandtschaften der ersten beiden Generationen der Dynastie (s. dazu Huss 2001, 855) ist reduziert und geglättet auf ein einfaches Eltern-Kind-Verhältnis, in dem überdies der Sohn in Pietät die Mutter besonders ehrt. Diese Selbstbescheidung betont einerseits die Kohärenz der noch jungen Dynastie, sie soll andererseits zur Charakterisierung des Ptolemaios II. beitragen und schließlich, als scheinbare Form der Selbstverkleinerung (sie wird durch den expliziten Hinweis auf die Sonderstellung seiner Mutter sowohl begründet als auch gleichzeitig aufgehoben, da der Ruhm der Mutter selbstverständlich zum Bestandteil des Ruhmes des Sohnes wird) für ihn werben. Dass mit den Epigrammen 87 und 88 ein echter Schlussteil der Hippika gebildet und mit 88 gar ein Abschluss der Sammlung herausgearbeitet werden soll, erscheint zweifelhaft, da 88 gegenüber 78 einen Rückschritt oder wenigstens nicht den Höhepunkt in den Rennsport-Erfolgen der Ptolemäer bedeutet.

Nauagika Unter dem Titel ναυαγικά versammelt die siebte Sektion des Mailänder Papyrus (col. XIV 2 bis col. XIV 28 = 89–94) sechs Epigramme auf durch Schiffbruch zu Tode Gekommene. Die Nauagika stellen somit thematisch eine Unterkategorie zur vierten Gruppe der Epigramme, den ἐπιτύμβια (42–61), dar.1 In der Gruppe aus fünf vierzeiligen Epigrammen und einem sechszeiligen (93) lassen sich zwei Typen ausmachen, die alternierend auftreten: Bei den Epigrammen 89, 91 und 93 handelt es sich um Scheingrabepigramme; in den Epigrammen 90 und 92 steht eine seltsame Anekdote im Vordergrund. Auch das Abschlussepigramm 94 ist am ehesten dieser letzten Gruppe zuzuordnen, ist es doch mit Sicherheit kein Scheingrabepigramm; indes lässt es einen anekdotenhaften Unterton erkennen.2 Ein weiteres, in die Sammlung jedoch nicht aufgenommenes Nauagikon Poseidipps findet sich im siebten Buch der Anthologia Palatina (7.267). Über die Gründe, warum Poseidipp bzw. der Herausgeber der Sammlung nicht alle Nauagika aufgenommen hat, kann nur spekuliert werden. Casanova (2002) vermutet, dass die eher traditionellen Epigramme keinen Eingang in die vorliegende Sektion gefunden haben und nur die diejenigen darin aufgenommen worden sind,3 die die Tradition raffiniert transzendieren. Durch die den übrigen Sektionen zugrunde liegenden Auswahlkriterien jedenfalls lässt sich diese Vermutung jedoch nicht stützen, bedenkt man etwa, dass gerade das besonders interessante ekphrastische Epigramm des berühmten Kairos des Lysipp (142 = AP 16.275) in die Andriantopoiika nicht aufgenommen worden ist. Inwieweit der Gruppe ein Ordnungsprinzip zugrunde liegt, ist umstritten. Die ed. pr. (25–26), die die innere Struktur der meisten Sektionen des Mailänder Papyrus für raffiniert hält, lässt dies gerade für die Nauagika nicht gelten. Mit Zanetto (2002) kann man jedoch auch in dieser Gruppe ein Ordnungsprinzip, nämlich das der Alternation, ausmachen: Ein gängigeres Scheingrabepigramm wechselt mit anderen weniger gängigen Grabepigrammen ab. Wenn der Titel Nauagika auch durch Poseidipp erstmals bezeugt ist,4 lässt sich die Schiffbruchthematik in der griechischen Literatur doch bis zu den homerischen Epen zurückverfolgen. So artikuliert schon Odysseus die Furcht vor einem elenden Tod im Meer, wie sie dann später in den ‚Nauagika‘ − direkt oder indirekt − immer wieder thematisiert wird. Als er den gewaltigen Sturm aufziehen sieht, den Poseidon erregt, um die von den Göttern beschlossene Heimkehr im letzten Moment noch zu vereiteln, ruft er (Od. 5.302, 305b–312):

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2 3 4

Warum die Nauagika eine eigene Unterkategorie bilden, ist letztlich nicht zu klären. Dass die Schiffbruchepigramme auch im siebten Buch der Anthologia Palatina in drei Blöcke zusammengefasst wurden, könnte darauf schließen lassen, dass sie – zumindest in späterer Zeit – aus einem poetologischen Interesse heraus gesondert betrachtet werden sollten. Die Ausgliederung der Schiffbruchepigramme, die ja zur Hälfte Scheingrabepigramme sind, könnte ein Verfahren sein, durch das die gattungsgeschichtliche Bewegung des Epigramms nachgezeichnet werden soll: von der Inschrift auf Stein und deren konkretem materiellen Zusammenhang (fundamentum in re) durch die Bewegung weg von der Materialität des Leichnams und von der Okkasionalität eines echten Begräbnisses hin zu einer Kontextualisierung im Gedichtbuch. Bei 94 handelt es sich zudem eindeutig um ein Epigramm, das als Grabinschrift in loco präsentiert wird, auch 92 könnte man − je nach Lesart − so rubrizieren, während 90 mit der Namensnennung des Toten eher nicht in diese Rubrik passt. Zur Frage, ob Auswahl und Anordnung auf Poseidipp zurückgehen oder jemand anders dafür verantwortlich ist, s. Einl., S. 12, 13, 15–16. Thomas 2004, 259.

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Nauagika 

ἄλγε’ ἀναπλήϲειν: τὰ δὲ δὴ νῦν πάντα τελεῖται. […] νῦν μοι ϲῶϲ αἰπὺϲ ὄλεθροϲ. τρὶϲ μάκαρεϲ Δαναοὶ καὶ τετράκιϲ, οἳ τότ’ ὄλοντο Τροίηι ἐν εὐρείηι χάριν Ἀτρεΐδῃϲι φέροντεϲ. ὡϲ δὴ ἐγώ γ’ ὄφελον θανέειν καὶ πότμον ἐπιϲπεῖν ἤματι τῶι ὅτε μοι πλεῖϲτοι χαλκήρεα δοῦρα Τρῶεϲ ἐπέρριψαν περὶ Πηλεΐωνι θανόντι. τῶι κ’ ἔλαχον κτερέων, καί μευ κλέοϲ ἦγον Ἀχαιοί: νῦν δέ λευγαλέωι θανάτωι εἵμαρτο ἁλῶναι. … weh mir, ich Elender! Was wird noch endlich geschehen! […] Nun ist mir das Verderben sicher! Dreimal selig die Griechen und viermal, die in Troias Weite zugrunde gingen, als sie den Atriden Gunst erwiesen! Wäre ich doch gestorben und hätte sich mein Schicksal erfüllt, an dem Tag, als beim erschlagenen Peliden sehr viele Troer eherne Lanzen auf mich warfen! Dann wären mir Grabesehren zuteil geworden, dann hätten die Achaier meinen Ruhm verbreitet! Nun aber ist es mein Los, einen schmählichen Tod zu erleiden!5

Und Hom. Od. 24.290–296 bietet sogar formal besehen ein ‚erstes Nauagikon‘:6 δύϲμορον· ὅν που τῆλε φίλων καὶ πατρίδοϲ αἴηϲ ἠέ που ἐν πόντωι φάγον ἰχθύεϲ, ἢ ἐπὶ χέρϲου θηρϲὶ καὶ οἰωνοῖϲιν ἕλωρ γένετ’· οὐδέ ἑ μήτηρ κλαῦϲε περιϲτείλαϲα πατήρ θ’, οἵ μιν τεκόμεϲθα οὐδ’ ἄλοχοϲ πολύδωροϲ, ἐχέφρων Πηνελόπεια, κώκυϲ’ ἐν λεχέεϲϲιν ἑὸν πόϲιν, ὡϲ ἐπεώικει, ὀφθαλμοὺϲ καθελοῦϲα· τὸ γὰρ γέραϲ ἐϲτὶ θανόντων. Den Glücklosen: Diesen haben irgendwo fern von den Lieben und der väterlichen Erde entweder irgendwo im Meer die Fische gefressen, oder er ist auf dem Festland zum Raub von wilden Tieren und Vögeln geworden. Weder hat ihn seine Mutter beweint, als sie ihn für die Bestattung in ein Gewand hüllte, und sein Vater, die wir ihn zeugten, noch hat seine reich ausgestattete Ehefrau, die verständige Penelope, ihren Ehemann auf dem Totenbett beklagt, wie es sich gebührt, als sie ihm die Augen zudrückte. Das nämlich ist die Ehre der Verstorbenen.

In dieser Klage von Odysseus’ Vater Laertes sind schon mehrere Motive enthalten, wie sie uns in späteren Epigrammen begegnen werden: Die Angst davor, fern der Heimat zu sterben, zum Fraß der Fische im Wasser oder der Raubtiere an Land zu werden, keine Bestattung zu erhalten, die dem Toten zur Ehre gereicht und den Hinterbliebenen das Abschiednehmen ermöglicht. Die Idee eines solch elenden, weil ehrenlosen, Ablebens, steigert Hesiod noch durch seine Charakterisierung des Schiffbruchtodes als δεινόν (erg. 687; 691):

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Alle Übers. soweit nicht anders angegeben von der Verf. Auch Di Nino (2009, 51) fasst diese Passage als „Nauagikon für den auf See verschollenen Odysseus“ auf.

Eva María Mateo Decabo

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δεινὸν δ’ ἐϲτὶ θανεῖν μετὰ κύμαϲιν […] δεινὸν γὰρ πόντου μετὰ κύμαϲι πήματι κύρϲαι. Ungeheuer ist es, in den Wellen zu sterben […] ungeheuer, in den Wellen des Meeres Leid zu erfahren.

Bei Hesiod finden sich zudem bereits Warnungen vor den für die Seefahrt ungeeigneten Wetterbedingungen in der Winterzeit − ein Motiv, das auch in den Schiffbruchepigrammen der AP und in Poseidipps Epigramm 93 anzutreffen ist.7 Auch wird vor der unersättlichen Gier gewarnt, die den Kaufmann dazu verleitet, unvernünftigerweise bei jeder Witterung zu segeln und zu große Schiffe bzw. Frachten zu wählen − ein Aspekt, der in der AP häufiger thematisiert wird, nicht aber bei Poseidipp.8 Auch Elegie und Iambus haben offenbar immer wieder vom Schiffbruch gesprochen. Wir besitzen Teile einer Elegie des Archilochos, die Schiffbrüchige beklagt (8–13 West). Diese Verse sind mit Ausnahme von 13 West wahrscheinlich Teil jenes Gedichtes ἐπί τοῦ ναυαγίου gewesen, das in der Schrift περὶ ὕψουϲ (10.7) als Paradigma für bewundernswerte Dichtung angeführt wird, mit dem Argument, dass hier die Auswahl der Stoffelemente und deren Verbindung zu einem organischen Ganzen besonders gelungen sei. Das Gedicht enthält wesentliche Motive, die auch für Poseidipps Nauagika konstitutiv sind, wie beispielsweise das bedrohliche Gefühl, als Schiffbrüchiger nicht bestattet werden zu können. Wenn Poseidipp die Ungeheuerlichkeit des Scheingrabs hervorhebt, konnte er also möglicherweise bereits auf eine ältere Tradition zurückgreifen. Auch Einzelverse aus verlorenen Iamboi des Archilochos (116, 210–215 West) deuten lexikalisch9 auf eine Schiffbruchthematik hin. Zu den genannten möglichen Präfigurationen des Nauagikons kommt schließlich noch das von früheren Forschern (z. B. Diehl, Snell) dem Archilochos, neuerdings (West) jedoch dem Hipponax zugeschriebene Epoden-Fragment 115 West (= 79a Diehl). Hier verwünscht das Dichter-Ich einen untreuen Freund und beschwört die beiden (in seinen Augen) größten Übel auf ihn herab: Er möge Schiffbruch erleiden und – in letzter Sekunde gerettet – sein restliches Dasein als Sklave fristen. Wann das Thema des Schiffbruchs, für das sich möglicherweise schon in Epos, Elegie und Iambus eine gewisse Topik entwickelt hatte,10 Eingang in das Epigramm gefunden hat, ist unklar. Im siebten Buch der AP sind zahlreiche Epigramme zusammengestellt, die sich als ‚Nauagika‘ bestimmen lassen: 263–279, 282–294 und 494 –506. Dazu kommen noch eine Reihe einzelner Schiffbruchepigramme.11 Da aber wahrscheinlich nur wenige dieser Gedichte

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Vgl. erg. 619–623, 630, 641–642, 673–677 mit Kallim. 272.5–6 (= epigr. 18.5–6 Pfeiffer), Leon. Tar. 7.273.2–3 (= HE 2346–2347); 7.295.5 (= HE 2078); 7.503.4 (= HE 2358) u. Isid. Aeg. 7.293.1 (= GPh 3891), vgl. dazu auch Di Nino 2009, Anm. 1. Vgl. erg. 643–645, 289–243 mit z. B. Zon. 7.404 (= GPh 3464 –3471), Antip. Sid. 7.498, Asclep. 7.500 (= HE 954 –957), Isid. Aeg. 7.532 (= GPh 3897– 4002), Jul. Aegypt. 7.582, Theodorid. 7.738 (= HE 3554 –3557), aber auch mit Antip. Thess. 7.287 (= GPh 383–390) sowie Leon. Tar. 7.652 (= HE 2040–2047) u. 7.654 (= HE 2050–2052), die das Motiv umdrehen, indem sie den Schiffbruch von nur kleinen Schiffen mit kleinen Ladungen als ungerecht darstellen. ἔα … θαλάϲϲιον βίον (116), δαίμων (210), τρίαιναν (211), κατ’ ἠκην κύματόϲ τε κἀνέμου (212), κυμάτων (213), θαλαϲϲίην ϲάλπιγγα (214). Für eine wahrscheinlich gattungsübergreifende Topik in der griechischen Literatur könnte nicht zuletzt auch der metaphorische Gebrauch von See(fahrt) und Schiffbruch in der Lyrik sprechen, vgl. z. B. Alk. fr. 6; 73; 208a V., dessen ‚Schiffbruch‘ als Staatshavarie gedeutet wird, und Pind. Nem. 7.30 f., wo der Tod selbst mit den Attributen der See versehen wird. Eine Übersicht über die Schiffbruchepigramme der AP gibt Lattimore 1962, 199–200.

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Nauagika 

aus der Zeit Poseidipps stammen,12 lässt sich nicht mehr feststellen, ob sie Rückschlüsse auf gängige Motive zulassen, die vielleicht durch Poseidipp oder gar frühere Autoren vorbereitet bzw. etabliert worden sind: Man kann also nur spekulieren, ob Poseidipp einer schon gegebenen Topik des Schiffbruchepigramms folgt, sie (mit-)etabliert oder eher raffiniert durchbricht. Sollten auch die später entstandenen Gedichte der AP eine Topik aus früheren, verlorenen Epigrammen widerspiegeln, spräche einiges dafür, dass Poseidipp – wie Di Nino (2009, 47) meint – „dem typischen hellenistischen Streben nach Originalität“ hat Genüge leisten wollen.13 Für eine gewisse Raffinesse und Eigenständigkeit Poseidipps spricht die Tatsache, dass die lexikalischen Gemeinsamkeiten mit den AP-Epigrammen überwiegend im Bereich der Realien auszumachen sind: Natürlich finden sich die Begriffe aus den Bereichen der Nautik, der Ufer- und Meerestopographie, des Schiffbruchs und der Bestattung14 auch in den Epigrammen Poseidipps. Einige der typischen und für die Topik des Schiffbruchs wichtigen Begriffe15 und Motive spart Poseidipp hingegen völlig aus, insbesondere die schon erwähnte Warnung, als Kaufmann mit zu großer Ladung unterwegs zu sein, sowie die Furcht, als Schiffbrüchiger zu Fischfutter16 zu werden. Beide Motive finden sich jedoch bei anderen hellenistischen Autoren17 und lassen sich auch schon in epischer Dichtung nachweisen.18 Ein eindeutiges Urteil über den Originalitätsgrad der Epigramme Poseidipps ist auf dieser schmalen Materialbasis nicht zu fällen, als vorläufiges Fazit lässt sich jedoch festhalten, dass Poseidipp innerhalb der Gattung des Schiffbruchepigramms wahrscheinlich als relativ origineller Autor gelten kann.19 Als relativ originell erscheint er vor allem deshalb, weil sich zwar für einige poseidippischen Ausgestaltungen keine epigrammatischen, wohl aber beispielsweise epische Vorbilder ausfindig machen lassen. Nicht zuletzt ist diese gattungsübergreifende Motivlese selbst − also das Rekurrieren auf Topoi aus anderen Gattungen als der selbst gewählten epigrammatischen − ein strukturelles Merkmal, das sich Poseidipp mit anderen hellenistischen Autoren teilen dürfte.

12 Zeitgenössisch sind wohl die Epigramme: 7.284, 500 (Asclep.), 271, 272, 277 (Kallim.), 276 (Hegesipp.), 264, 266, 273, 283, 503, 504, 506 (Leon. Tar.), 501 (Pers.), 499 (Theaet.) und 282 (Theodorid.). 13 Überdies vertritt Di Nino die Auffassung, dass Poseidipp über diesen Originalitätsanspruch sogar hinausgeht und nicht nur poetisch originell ist, sondern mit seiner Poesie auch Erklärungen zur Dichtung schlechthin bzw. zu konkreten Textstellen geben will. Sie bezeichnet ihn darum im Anschluss an Rengakos (1994) als Dichterphilologe, als ποιητὴϲ ἅμα καὶ κριτικόϲ. 14 ναῦϲ, ναύτηϲ/ναυτίλοϲ; ἀκτή, ἠιών, λιμήν, ἄλϲ, θάλαϲϲα, κῦμα, πέλαγοϲ, πόντοϲ (mit dem Attribut πολιόϲ); θανών, ναυηγόϲ, νήχω, ὄλλυμι (u. Komposita); νέκυϲ/νεκρόϲ, τάφοϲ (mit dem Attribut κενεόϲ), γαῖα/γῆ. 15 Z. B. τύμβοϲ (der allerdings in V. 2 von Poseidipps AP-Gedicht 7.267 vorkommt), Ἅιδηϲ, χθών. 16 Wegen der Gefahr, nach dem Schiffbruchtod den Fischen als Fraß zu dienen, scheint diese Todesart – geht man von dem im siebten Buch der AP eröffneten Panorama aus – in ihrer Schauerlichkeit über andere erhaben zu sein und damit besondere literarische Ausgestaltung zu verdienen, vgl. dazu a. Georgoudi 1988, 60–61. 17 Asklepiades (AP 7.500 = HE 954 –957) sowie Leonidas von Tarent (AP 7.652 = HE 2040–2047 und 654 = HE 2050–2052) thematisieren havarierte große Schiffsladungen und Leonidas darüber hinaus auch das Gefressenwerden durch Fische (AP 7.273 = HE 2345–2350). 18 In Hes. erg. 643–645 wird zu kleinen Schiffen geraten, die maßvoll zu beladen seien; in Hom. Od. 24.291 wird von Laertes die Befürchtung geäußert, der tote Odysseus könne von Fischen gefressen worden sein. 19 Vielleicht erscheint er uns auch nur deshalb so originell, weil er – soweit wir das anhand der AP beurteilen können – von späteren Autoren nur wenig imitiert wird.

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89 Auf einem Kenotaph wird Lysikles’ Tod in den Wellen beklagt und betrauert. XIV

3 Λυϲικλέουϲ̣ κεφαλὴν ὁ κενὸϲ τάφοϲ οὗτοϲ ἀπαιτεῖ 4 δάκρυ χέων, καὶ θεοῖϲ μέμφεται οἷ’ ἔπαθεν 5 τοὒξ Ἀκαδημεία̣ϲ πρῶτ̣[ον ϲ]τ̣ό̣μα, τὸν δέ που ἤδη 6 ἀκταὶ καὶ πολιὸν κυμα[

1 2 3 4

5 τοεξ P  6 κῦμ{α} [ἐπέχουϲιν ἁλόϲ ed. pr. (def. Di Nino 2006): κῦμα [θανόντ’ ἔλαχον Austin 2001a, ed. min. : κῦμ{α} [ἴδε τρυχόμενον Livrea 2002 : κῦμα [φέρουϲι νέκυν Zanetto 2002 : κῦμα [δονεῦϲι νέκυν De Stefani 2003 : κῦμ’ [ἐδέχοντο νέκυν Ferrari per litt.

Des Lysikles Haupt fordert dieses leere Grab ein, Tränen vergießend, und den Göttern wirft es vor, was für Dinge erlitten hat die erste Stimme aus der Akademie, diesen aber irgendwo schon Gestade und graue Welle […] V. 1 Λυϲικλέουϲ̣: Lysikles war ein Athener Bürger und Gastfreund des Polemon (vgl. Diog. Laert. 4.21–23), des in V. 3 angesprochenen, aber nicht namentlich genannten Leiters der Platonischen Akademie. Zusammen mit Polemon soll auch Krates – dessen Schüler, Nachfolger und Liebhaber – ein Gast im Hause des Lysikles gewesen sein. Über die genauen Umstände seines Todes gibt es keine Quellen. — ὁ κενὸϲ τάφοϲ: Ein Kenotaph ist ein Scheingrab, d. h. eine Grabstätte, die keine sterblichen Überreste birgt. Der zugehörige Leichnam ist entweder verschollen – wie im Falle von Schiffbrüchigen – oder für die nahen Verwandten aus anderen Gründen nicht zugänglich (Bestattung in der Fremde oder in einem kollektiven Staatsgrab). Kenotaphe sind für die gesamte Antike bezeugt; vgl. Graen, D. 2011 (Hg.): Tod und Sterben in der Antike. Grab und Bestattung bei Ägyptern, Griechen, Etruskern und Römern, Stuttgart: 164 ff. V. 2 μέμφεται … ἔπαθεν: Subjekt von μέμφεται (‚es wirft vor‘) ist das Grabmal; somit ist das Subjekt zu ἔπαθεν (‚er hat erlitten‘) der nachgestellte Polemon. Grammatikalisch wäre es zwar möglich, dass die erste Stimme der Akademie, Polemon, μέμφεται regiert und dass ἔπαθεν auf Lysikles zielt, dagegen sprechen aber sowohl die Wortstellung als auch das Wiederaufgreifen des Objektes mittels τὸν δέ in V. 3. So sieht es auch die ed. pr., die als Vorbild ein dem Simonides zugeschriebenes Distichon (AP 7.511 = FGE 1006–1007) heranzieht: Da dort nicht das Leid des Toten, sondern dasjenige des Überlebenden beklagt wird, könnte man annehmen, dass auch Poseidipps Scheingrab das Schicksal des weiterlebenden Polemon beklagt, nicht das des toten Lysikles. V. 3 τοὒξ Ἀκαδημείαϲ̣ πρῶτ̣[ον ϲ]τό̣ μ ̣ α: Die erste Stimme der Akademie ist Polemon (ca. 350–275), s. Komm. zu V. 1. Es ist möglich, dass Poseidipp Polemon, der von 314 bis 270 v. Chr. Scholarch der Akademie war, persönlich gekannt hat. Di Nino (2010, 111) verweist auf den Umstand, dass ϲ]τό̣ μ ̣ α in der Regel die Stimme eines Dichters bezeichnet (Antip. Sid. AP 7.2.1 = HE 214 u. AP 7.6.3 f. = HE 226 f., Paul. Sil. AP 7.4.1: Homer; Diosc. AP 7.411.5 f. = HE 1595 f.: Aischylos; Antip. Thess. AP 7.75.1 = GPh 483: Stesichorus; anon. AP 9.184.1 = FGE 1194: Pindar; Theokr.

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eid. 7.37: Theokrit) und nur ein einziges Mal – wie hier – die Stimme eines Philosophen (anon. AP 9.188.1: Platon). Die Applizierung dieser eher für Dichter verwendeten Junktur auf einen Philosophen könnte also ein Indiz für das Streben nach Originalität Poseidipps sein. V. 4 κυμα[: Über das vor der lacuna stehende κῦμα (‚Welle‘) herrscht Einigkeit; zum Singular als Kollektivum vgl. Hom. Od. 13.99. Die meisten Vorschläge für die lacuna selbst, deren genaue Länge nicht ermittelbar ist, weisen in eine ähnliche Richtung. Sie gehen davon aus, dass ein Leichnam empfangen, festgehalten oder hin- und her bewegt wird: Austin 2001a: θανόντ’ ἔλαχον (‚den Toten haben erhalten‘), ed. min.: ἐπέχουϲιν (‚halten zurück‘), Zanetto 2002: φέρουϲι νέκυν (‚tragen den Leichnam‘), De Stefani 2003: δονεῦϲι νέκυν (‚schütteln den Leichnam hin und her‘), Ferrari per litt.: ἐδέχοντο νέκυν (‚haben den Leichnam aufgenommen‘).20 In eine andere Richtung geht der Vorschlag von Livrea 2002: Er nimmt den Ausdruck κεφαλὴν (V. 1: ‚Haupt‘) wörtlich und geht von einem ‚Sparagmos‘ des Lysikles aus; er ergänzt darum in V. 4 τρυχόμενον (‚den Aufgezehrten‘), das er mit einem Verb der Wahrnehmung, ἴδε (‚sieh!‘), verbindet. Eine sichere Entscheidung für eine der Lesarten ist nicht möglich. Der von Zanetto (2002) gemachte Vorschlag erscheint aus zwei Gründen reizvoll: Zum einen hätte man mit Kallim. AP 7.271.3a (= epigr. 17.3a Pfeiffer) eine direkte Parallele aus der hellenistischen Literatur: νῦν δ’ ὁ μὲν εἰν ἁλί που φέρεται νέκυϲ („jetzt aber treibt sein Leichnam irgendwo in der See“);21 zum anderen erscheint νέκυν als Ergänzung kompositorisch (mit Λυϲικλέουϲ am Anfang ergäbe sich eine Ringkonstruktion) und inhaltlich plausibel (das Grabepigramm schließt mit dem, was gerade nicht im Grab liegt, diesem aber zukäme). Wenn man bedenkt, dass in der auf das Wegschaffen von Beute im Krieg zielenden Phrase ‚ἄγειν καὶ φέρειν‘ (‚wegzerren und forttragen‘) φέρειν auf Lebloses, ἄγειν auf Lebendiges (Menschen und Vieh) geht, unterstriche φέρουϲι den pervertierten Lebendig-Leblos-Gegensatz, mit dem das Epigramm spielt: Der Mensch, Lysikles, ist zum leblosen Ding geworden, über das Gestade und Welle verfügen; das Kenotaph dagegen wird von einem allwissenden Erzähler als sprechend, weinend und anklagend, d. h. wie eine lebendige Person, beschrieben. Rekonstruktionsvorschlag Λυϲικλέουϲ κεφαλὴν ὁ κενὸϲ τάφοϲ οὗτοϲ ἀπαιτεῖ δάκρυ χέων, καὶ θεοῖϲ μέμφεται οἷ’ ἔπαθεν τοὒξ Ἀκαδημείαϲ πρῶτ[ον ϲ]τόμα, τὸν δέ που ἤδη ἀκταὶ καὶ πολιὸν κῦμα [φέρουϲι νέκυν. Dieses leere Grab fordert unter Tränen Lysikles’ Haupt ein, und macht den Göttern zum Vorwurf, was für schlimme Dinge

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Für die vielleicht auf den ersten Blick seltsame Idee, dass ein toter Körper einmal von den Gestaden und einmal von den Wellen gehalten wird, gibt es mit Eur. Hek. 28–29 ein mögliches Vorbild: κεῖμαι δ’ ἐπ’ ἀκταῖϲ, ἄλλοτ’ ἐν πόντου ϲάλωι, / πολλοῖϲ διαύλοιϲ κυμάτων φορούμενοϲ. („Ich liege bald auf dem Gestade, bald in der Salzflut des Meeres, oft hin und her geschleudert vom Auf und Ab der Wellen.“) Auch in späterer Literatur taucht das Bild wieder auf, vgl. Verg. Aen. 6.362: nunc me fluctus habet versantque in litore venti („Nun hat mich die Flut, und die Winde treiben mich an das Gestade“). Alle Übers. von Kallim. in dieser Sektion folgen der Ausgabe von Asper 2004.

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die erste Stimme aus der Akademie gelitten hat; irgendwo aber tragen diesen schon Gestade und graue Welle als Leichnam. Wie oben ausgeführt, verweist das Epigramm mit ὁ κενὸϲ τάφοϲ auf eine der in der Antike als besonders schlimm empfundenen Folgen des Schiffbruchtodes: die fehlende Bestattung des Leichnams.22 Das Adverb που in V. 3 bietet einen weiteren – wenn auch weniger expliziten – „lexikalischen Indikator“23 für Kenotaphe und bringt einen zweiten schrecklichen Aspekt ins Spiel: Wenn sich der Leichnam „irgendwo“ befindet, dann wohl auch fern von der Familie des Toten und seiner Heimat.24 Wie breit dieses „irgendwo“ angelegt ist, wird durch ἀκταὶ und κῦμα noch betont: Das Scheingrab weiß nicht einmal, ob Land oder Meer den Körper des Lysikles bergen; vielleicht ist sogar gemeint, dass einmal das Land, einmal das Meer den Leichnam haben.25 Mit dem letzten Vers deutet sich zudem schon an, was Poseidipp später noch ausführlicher ausgestalten wird: das ambivalente Potential von Gestade und Meer, die für Zerstörung (89), aber auch für Rettung (93) stehen.26 Wenn man zugrunde legt, dass Poseidipp Polemon persönlich gekannt hat, könnte man in diesem Epigramm eine Art Auftragsarbeit sehen: Poseidipp verliehe dann mit seinem Epigramm der Trauer Polemons Ausdruck. Vielleicht fingiert er aber auch nur eine Nähe zur athenischen Philosophenschule. Poseidipp scheint hier in zweierlei Hinsicht originell: Es gibt kaum Epigramme, in denen das Kenotaph so lebendig und empathisch dargestellt ist wie hier: Es vergießt Tränen und versetzt sich in eine dem Toten nahestehende Person, Polemon, hinein.27 Auch pauschale Anklagen gegen die Götter finden sich in keinem Schiffbruchepigramm der AP; wenn überhaupt werden Klagen an konkret benannte Gottheiten adressiert.28 90 Das Gedicht erzählt eine seltsame Begebenheit mit unerwartetem Ende: Obwohl der Protagonist, Archeanax, schon das rettende Land sieht, kann er es schwimmend nicht mehr erreichen und geht unter.

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Kenotaphe kommen auch in den Schiffbruchepigrammen der AP vor, vgl. Kallim. 7.271 (= epigr. 17 Pfeiffer), Marc. Arg. 7.374 (= GPh 1393–1400); 7.395 (= GPh 1401–1406), Ps-Simon. 7.496 (= FGE 976–981), Damag. 7.497 (= HE 1415–1420), Asclep. 7.500 (= HE 954 –957), Pers. 7.539 (= HE 2895–2900), Jul. Aegypt. 7.592, Euphor. 7.651 (= HE 1805–1810), Leon. Tar. 7.652 (= HE 2040–2047), Pancrat. 7.653 (= HE 2855–2858). 23 Di Nino 2009, 51. Ähnlich auch Georgoudi 1988, 56: „Le corps, dira Callimaque, est ‚quelque part‘ (που) dans la mer (ib., 271). En réalité, il n’est nulle part. Car, en règle générale, la mer des épigrammes funéraires n’amène ses victimes ‚nulle part‘.“ 24 Die Entfernung zwischen Vaterland und Toten zu thematisieren, ist einer der häufigsten Topoi in Schiffbruchepigrammen, s. Di Nino 2009, 51. 25 Ähnlich wie in den oben (Anm. 20) angeführten Zitaten. 26 Di Nino (2009, 53) sieht hierin die besondere Originalität Poseidipps; die meisten Epigrammatiker begnügten sich damit, eines der Potentiale auszuführen, einzige Ausnahme sei Antip. Thess. AP 7.286 (= GPh 145–150). 27 Im siebten Buch der AP werden die Scheingräber in der Regel weder als empathisch noch als sympathisch geschildert: Sie werden als ‚mangelhaft‘ (Kallim. 7.271.3– 4 = epigr. 17.3– 4 Pfeiffer; Honest. 7.274.3– 4 = GPh 2472–2473), ‚falsch‘ (Kallim. 7.272.4 –5 = epigr. 18.4 –5 Pfeiffer) oder gar ‚lügnerisch‘ (Leon. Tar. 7.273.6 = HE 2350; Gaet. 7.275.5 = FGE 211) abqualifiziert; vgl. auch 61.3, wo der auktoriale Erzähler den Grabstein zu bemitleiden scheint, weil er nicht beweint wird. 28 Di Nino 2010, 170.

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XIV 7 ὤλεϲεν Ἀρχεάνακτα [.].[………….]π̣ρην 8 Ϲκῦρον ἐν Αἰγαίωι νηχόμενον π[̣ ελάγει,] 9 γῆν ἔνθεν τε καὶ ἔνθεν ὁρώμενον· ἀλλὰ θα̣λ̣[ά]ϲϲηϲ 10 διϲτάδιο̣ν πολλῶν μακρότερον πεδίων.

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7 ἐπὶ λε]πρ̣ ὴν ed. pr : .[β]ί[̣ αι Βορέηϲ ἐπὶ λε]πρ̣ ὴν ed. min. ([β]ί[̣ αι iam Austin 2001a) : [λ]ι[̣ μὴν ἀκτή τ’ ἐπὶ λε]π̣ρὴν vel [λ]ι̣[μὴν χέρϲόϲ τ’ ἐπὶ λε]π̣ρὴν Zanetto 2002 : [λ]ι̣[βὸϲ πνόοϲ ἔϲ ποτε λε]π̣ρὴν De Stefani 2003 : [θ]ά̣[λαϲϲ’ ἀκτὴν ἐπὶ λε]π̣ρὴν Lascoux ap. De Stefani 2003 : [β]ί̣[η βορέου Hunter ap. Di Nino 2005a (v. Angiò 2006, 48) et περὶ λυ]π̣ρὴν Di Nino 2005a : β]ί̣[αι βαρὺ (vel βαθὺ vel μέγα vel πολὺ) κῦμ’ Ferrari 2005

Es vernichtete den Archeanax […] während er auf Skyros im Ägäischen (Meer) zuschwamm und da und dort Land sah. Aber auf der See ist ein Doppelstadion länger als weite Ebenen. V. 1 Ἀρχεάνακτα: Der Name Archeanax war, soweit wir sehen können, wenig verbreitet.29 — [.].[………….]πρ̣ ην: Die Vorschläge für den sehr korrupten Schluss des ersten Verses lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die einen sehen einen mächtigen Wind am Werke: ed. min.: [β]ί[̣ αι Βορέηϲ (‚‹ihn vernichtete› mit Macht Boreas‘), De Stefani 2003: [λ]ι[̣ βὸϲ πνόοϲ (‚des Südwinds Wehen‘), Hunter ap. Di Nino 2005a: [β]ί[̣ η Βορέου (‚die Macht des Boreas‘). Die anderen halten das mächtige Meer für den Übeltäter: Zanetto 2002: [λ]ι̣[μὴν ἀκτή τ’ bzw. [λ]ι[̣ μὴν χέρϲόϲ τ’ (‚Hafen und Gestade‘), Lascoux ap. De Stefani 2003: [θ]ά[̣ λαϲϲ’ ἀκτὴν ἐπὶ λε]πρ̣ ὴν … νηχόμενον (‚das Meer, als er auf das raue Gestade zuschwamm‘), Ferrari 2005: β]ί̣[αι βαρὺ/βαθὺ/μέγα/πολὺ κῦμ’ (‚mit Macht die schwere/tiefe/große/häufige Strömung‘). Windnamen kommen auch in der AP vor, und zwar Boreas in 7.495.1 (= HE 90),30 Euros in 7.273.1 (= HE 2345)31 und 7.501.1 (= HE 2871)32 sowie Notos in 7.263.2 (= FGE 491).33 Dass die Winde an diesen Stellen als Genitivattribut erscheinen, könnte Hunters Lesart [β]ί[̣ η Βορέου 29 S. LGPN I 84 (1: Lesbos, 2: Rhodos, 3: Samos); Va 76 (1–3: Ionien). Ein Archianax kommt in 131 vor, das zwar zu den Gedichten zählt, deren Autorschaft als unsicher gilt, aber doch zunehmend für poseidippisch gehalten wird (vgl. Di Nino 2010, 58). Das Gedicht ist auch im 7. Buch der AP überliefert: als Nummer 170 (unter dem Namen Poseidipps) und in Anschluss an 481 (unter demjenigen des Kallimachos); in der Anthologia Planudea ist es einzig unter Poseidipps Namen tradiert. Die Handschriften überliefern den Namen des Protagonisten teils als Archianax, teils als Archeanax. Aus der uneinheitlichen Schreibweise folgert Di Nino (2010, 125–126) in Einklang mit Gow-Page (HE II 501), dass beide Graphien austauschbar seien. Da der Protagonist von 131 im zarten Alter von drei Jahren stirbt, kann es sich aber auf keinen Fall um den glücklosen Schwimmer von 90 handeln. 30 Alkaios von Messene: Ϲτυγνὸϲ ἐπ’ Ἀρκτούρῳ ναύταιϲ πλόοϲ, ἐκ δὲ Βορείηϲ / λαίλαποϲ Ἀϲπαϲίωι πικρὸν ἔτευξε μόρον … („Betrüblich ist unter dem Arkturos für die Seeleute die Schifffahrt, aus dem Boreas-Sturmwind hat sie dem Aspasios einen bitteren Tod bereitet“). 31 Leonidas von Tarent: Εὔρου με τρηχεῖα καὶ αἰπήεϲϲα καταιγὶϲ / καὶ νὺξ καὶ δνοφερῆϲ κύματα πανδυϲίηϲ / ἔβλαψ’ Ὠρίωνοϲ· („Des Euros harter und gewaltiger Sturm und die Nacht und die Wellen beim dunklen Untergang des Orion brachten mir Schaden“). 32 Perses: Εὔρου χειμέριαί ϲε καταιγίδεϲ ἐξεκύλιϲαν … („Des Euros winterliche Stürme haben dich umgestürzt“). 33 Ps.-Anakreon: Καὶ ϲέ, Κλεηνορίδη, πόθοϲ ὤλεϲε πατρίδοϲ αἴηϲ / θαρϲήϲαντα Νότου λαίλαπι χειμερίηι. („Und dich, Kleanorides, richtete die Sehnsucht nach der väterlichen Erde zugrunde, wobei du auf den winterlichen Sturmwind des Notos vertraut hast“).

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stützen, allerdings wäre dann − aus metrischen Gründen − statt mit ἐπὶ (‚auf Skyros zu‘) mit einer konsonantisch anlautenden Präposition, z. B. mit περὶ (‚bei Skyros‘), anzuschließen.34 Da die Macht des Meeres in den fünf anderen Epigrammen zur Genüge ausgestellt wird, würde die mögliche ‚Beschuldigung‘ des Windes hier eine willkommene Abwechslung bilden. Auch für das letzte Wort dieses Verses gibt es zwei Vorschläge, λεπρὴν (‚rau‘, ‚uneben‘) oder λυπρὴν (‚unergiebig‘, ‚karg‘, aber auch ‚jämmerlich‘, s. a. Komm. zu 53.2), die in ihrer Grundbedeutung nicht weit auseinander liegen: Beide Adjektive beschreiben ein Stück Land (eine raue, unebene Insel muss man sich auch als unergiebig, karg denken). Für λυπρὴν, das Di Nino (2005a) stark macht, spricht nicht so sehr der von ihr herangezogene Homer, der das Wort nur ein einziges Mal benutzt – nämlich zur Beschreibung dafür, wie Ithaka gerade nicht ist (Od. 13.243); vielmehr gefällt ihre Idee, es im übertragenen Sinne und außerdem als eine Art Enallage zu lesen: Nach Di Nino bestimmt λυπρὴν nicht nur Skyros, sondern vor allem die Todesart des Archeanax als ‚jämmerlich‘. Diese Lesart würde auch dem pleonastischen Charakter begegnen, wie er mit der Verbindung von λεπρὴν – ‚rau‘, ‚(durch Felsen und Steine) von unebener Oberfläche‘ – und ϲκῦρον (‚Stein‘) entstünde. V. 2 Ϲκῦρον: Die Insel, die zu den Nördlichen Sporaden gehört, ist vor allem im Westen von zahlreichen Inselchen umgeben. Archeanax könnte eines dieser Inselchen erblicken; angesichts der im Text genannten Entfernung (354 –384 m) ist es aber wahrscheinlicher, dass er inmitten einer der beiden (heute als Häfen genutzten) Buchten im Südwesten der Insel schwimmt. V. 3 ἔνθεν τε καὶ ἔνθεν: Die griechische Vorstellung, die dieser Formulierung zugrunde liegt, ist im Deutschen nicht wiederzugeben. Nach den Grundsätzen der antiken Optik senden nicht nur das betrachtende Auge, sondern auch die betrachteten Gegenstände (ins Auge des Betrachters) Strahlen aus: Die (Bucht der) Insel Skyros ‚strahlt‘ also ‚von da und von dort‘ ins Gesichtsfeld des Archeanax. V. 4 διϲτάδιον̣ : Das Längenmaß Stadion kann ganz unterschiedlich lang sein: im kürzesten Fall 177 m (Delphi), im längsten (und bekanntesten)35 192 m (Olympia). Das nicht mehr überwundene Doppelstadion, das den Schwimmer vom rettenden Ufer trennt, entspricht also einer Länge zwischen 354 und 384 m. — πολλῶν … πεδίων: Bei πολλῶν πεδίων könnte ein genitivus comparationis vorliegen oder – im Rahmen einer comparatio compendaria – ein genitivus subiectivus zu einem nur gedachten zweiten διϲτάδιον. Die Aussage, dass einem auf dem Meer eine 384 m lange Strecke länger vorkommt als auf dem Land in der Ebene, erscheint pointenhafter als diejenige, dass eine 384 m lange Strecke länger sei als weite Ebenen – letzteres ist ja auch im konkreten Wortsinne zutreffend.

34 Inhaltlich scheint ἐπὶ genauso wahrscheinlich zu sein; der Einwand Di Ninos (2005a), wonach Archeanax ja nicht auf Skyros zu gesegelt sei, ist gegenstandslos, da es ja in dem Vers nicht mehr darum geht, welche Richtung der Segler Archeanax angestrebt hatte, sondern welche Richtung der ums Überleben kämpfende Schwimmer Archeanax einzuschlagen versucht. 35 Di Nino 2010, 120.

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Rekonstruktionsvorschlag ὤλεϲεν Ἀρχεάνακτα [β]ι[η βορέου περὶ λυ]πρὴν Ϲκῦρον ἐν Αἰγαίωι νηχόμενον πε[λάγει], γῆν ἔνθεν τε καὶ ἔνθεν ὁρώμενον· ἀλλὰ θαλ[ά]ϲϲηϲ διϲτάδιον πολλῶν μακρότερον πεδίων. Die Gewalt des Boreas vernichtete den Archeanax, während er nahe dem elenden Skyros in der Ägäis schwamm und da Land sah und dort. Aber auf der See ist ein Doppelstadion länger als das weiter Ebenen. Der erhaltene Text sagt nicht ausdrücklich, dass der Protagonist Schiffbruch erlitten hat. Da seine Zugehörigkeit zur Nauagika-Sektion unstrittig ist, spricht jedoch einiges dafür, dass Archeanax, bevor er sich schwimmend fortbewegt, auf einem Boot unterwegs gewesen ist. Auch war Schwimmen in der griechischen Antike keine Sportdisziplin, die bei Wettbewerben ausgetragen wurde.36 Einen – lexikalischen – Hinweis auf einen Schiffbruch könnte zudem das erste Wort, ὄλλυμι, geben: Bei Poseidipp kommt es in 92.1 in diesem Kontext vor, und auch in den Schiffbruchepigrammen der AP begegnet es recht häufig.37 In der AP finden sich zudem auch ähnlich seltsame Glücksumschläge, wie sie Poseidipp hier mit dem unerwarteten Tod des Archeanax nahe dem skyrischen Ufer erzählt. Es lassen sich zwei Formen ausmachen: Der unerwartete Umschlag besteht entweder, wie hier, darin, dass ein Schiffbrüchiger nahe dem Land (Antip. Thess. 7.625 = GPh 251–256, 639 = GPh 391–396) oder in absolut ruhiger See (Isid. Aeg. 7.293 = GPh 3891–3896, anon. 7.543 = FGE 1288–1291, Antip. Thess. 7.640 = GPh 377–382) zugrunde geht, oder darin, dass sich der Schiffbrüchige zwar an Land retten kann, ihn dort aber ein ungewöhnlicher Tod erwartet (Antip. Thess. 7.289 = GPh 221–224, Leon. Alex. 7.550 = FGE 1906–1909, Stat. Flacc. 7.290 = GPh 3807–3812). Ausgespielt wird in diesen Epigrammen der Gegensatz zwischen Land und Meer, besonders unter dem Gesichtspunkt der Risikogefährdung, welcher der Mensch hier wie dort ausgesetzt ist.38 Auch Poseidipps Epigramm thematisiert diesen Gegensatz: Die wenigen hundert Meter, die in einer weiten Ebene kaum der Rede wert wären, bleiben in der vom Wind aufgewühlten See für Archeanax unüberwindbar. 36

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Genausowenig war Schwimmen Teil der gängigen militärischen Ausbildung; vgl. Hall 1994, 52. Dagegen ist nicht davon auszugehen, dass es – wie später unter Seeleuten – eine wenig verbreitete Kulturtechnik war. Schon seit Homer dient ausdauerndes Schwimmen in der Literatur als Chiffre für Männlichkeit und Heroentum. Hall weist nach (passim), dass im Selbstverständnis der Griechen die Fähigkeit des Schwimmens (wie auch des Lesens) als eine Chiffre für ihre kulturelle Überlegenheit gegenüber anderen (‚barbarischen‘) Völkern dient, wie sich z. B. aus Platons Nomoi ablesen lässt (3.689d: ἂν καὶ τὸ λεγόμενον μήτε γράμματα μήτε νεῖν ἐπίϲτωνται [„mögen sie sich auch, wie man so sagt, weder auf das Lesen noch auf das Schwimmen verstehen“]), aber auch tatsächlich überlebensentscheidend sein konnte. Vgl. Ps.-Anacr. 7.263.1 (= FGE 490); Kallim. 7.272.2 (= 18.2 Pfeiffer); Gaet. 7.275.1 (= FGE 207); Theodorid. 7.282.2 (= HE 3589); Glauc. 7.285.3 (= HE 1817); Asclep. 7.500.4 (= HE 957); Nicaenet. 7.502.4 (= HE 2698); Leon. Tar. 7.503.4 (= HE 2358). Dass dieser Gegensatz im Grunde unauflösbar bleibt, bringt besonders gut ein Epigramm Antipaters von Thessaloniki (AP 7.289 = GPh 221–224) zum Ausdruck: Nachdem zwei Verse lang von einem unglücklichen, aber überstandenen Schiffbruch und ein Vers von einer tödlich verlaufenen Wolfsbegegnung erzählt wird, schließt er mit dem (angesichts des nur mühsam überlebten Schiffbruchs) ironischen Ausruf: ὦ γαίηϲ κύματα πιϲτότερα („Oh, eher als das Land sind doch die Wellen vertrauenswürdig!“).

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91 Gemäß dem in der Einleitung zur Sektion erwähnten Alternationsprinzip folgt dem ‚epideiktischen‘ zweiten Gedicht nun wieder ein Scheingrabepigramm. Da es sich direkt an den Leser wendet, scheint das Epigramm nicht nur des Toten gedenken zu wollen, sondern auch die Lebenden zu großer Vorsicht aufzufordern. XIV 11 τετράκι βουλεύϲαιο καὶ ἓν τότε κῦμα πλοΐζου· 12 μὴ ταχὺϲ Εὐξείνου γίνεο ποντοπόροϲ, 13 τοῦτον ἰδὼν κενεὸν Δώρου τάφον, ὃν Παριανῶν 14 τῆλέ που εἰκαῖαι θῖνεϲ ἔχουϲιν ἁλόϲ.

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11 ἓν τότε Gronewald 2001 (v. et Gronewald 2009) : εντοτε P : εἴ ποτε ed. pr., min. (def. Di Benedetto 2006; v. Gronewald 2009, di Nino 2010) : ἐκ τότε Casanova 2002 (v. Gronewald 2009)  πλοΐζου impf. (ἐπλοΐζου) ed. pr., min., Di Benedetto 2006, di Nino 2010 : imper. Gronewald 2001, Casanova 2002 : πλοΐζειϲ vel πλοΐζει (-ηι) Austin 2001a  12 post μὴ ταχύϲ dist. Gronewald 2009  13 Παριανῶν def. Gronewald 2001, ed. min. : παρ’ ἱ‹κ›άνων ed. pr.  14 τῆλέ που Austin ap. Gronewald 2001, ed. min. (def. Gronewald 2009) : τηλεμου P : τῆλ’ ἐμοῦ ed. pr., Gronewald 2001  εἰκαῖαι def. Gronewald 2001, ed. min. : εἶ· καὶ ‹μ›’ αἱ ed. pr.

Mögest du viermal überlegen, und dann besegle eine Welle: Werde nicht schnell zum Seefahrer über das Schwarze Meer, wenn du dieses leere Grab des Doros gesehen hast, den von den Parianern fern irgendwo zufällige Dünen der Salzflut halten. V. 1 τετράκι: Erwarten würde man eher den Rat, τρίϲ (‚dreimal‘) zu überlegen, da im Griechischen die Dreizahl bevorzugt als Ausdruck einer allgemeinen oder unbestimmten Vielheit dient (s. LSJ A.). τετράκι (‚viermal‘) scheint diese emphatische Bedeutung i. S. v. ‚vielmals‘ zu variieren (vgl. Theokr. eid. 5.57) oder ähnlich wie in der bereits zitierten ναυαγικόν-Situation der Odyssee zu überbieten (Od. 5.306 τρὶϲ μάκαρεϲ Δαναοὶ καὶ τετράκιϲ; Kontext und Übersetzung s. S. 320; Verg. rezipiert diese Junktur in Aen. 1.94: O terque quaterque beati [„Oh, dreifach und vierfach selige“]). Ein ähnlicher Fall liegt vielleicht auch bei Kallimachos vor (AP 12.230.2 = epigr. 52.2 Pfeiffer: εἰ μὲν ἔμ’ ἔχθει, / τετράκι μιϲοίηϲ, εἰ δὲ φιλεῖ, φιλέοιϲ „wenn du doch [… ihn], hasste er mich, viermal so sehr hasstest, liebte er mich aber, ihn liebtest“), der zudem, wie Poseidipp, das zu überbietende τρίϲ weglässt. Da dem Ratschlag, viermal nachzudenken, im eigentlichen Text des Epigramms jedoch nur drei Gedanken folgen – dass der Leser nämlich erstens nicht schnell zum Überquerer werden soll, dass er zweitens gerade an einem Grab vorbeifährt, und dass drittens dieses Grab den Toten, einen Schiffbrüchigen, gar nicht enthält – könnte damit auch ein vierter, im Text nicht ausgesprochener Gedanke evoziert werden, auf den der Leser nach eingehender Lektüre des Epigramms schließen soll: ‚Du, lieber Leser, kannst der nächste Doros sein‘. Dass Poseidipp durchaus Sinn für Zahlen(wort)spiele hatte, legen 124 (= AP 5.183) und 140 (= AP 12.168) nahe; vgl. auch Komm. zu 47.3. — ἓν: Gegenüber dem von der ed. pr. vorgeschlagenen Eingriff (εἴ ποτε) hat Gronewald den Wortlaut des Papyrus verteidigt: „Denke viermal nach, und dann befahre ein Meer nicht (vor)schnell“. Zusammen mit τετράκι ergibt das ἓν ein – zugegebenermaßen leicht inkonzinnes – Wortspiel, das Prämeditation und Handlungsvollzug sowie die Gefährlichkeit von Welle (wie die kleine Propontis, an der Parion liegt) und Wellen (wie das Schwarze Meer) ins Verhältnis setzt: einmal in ein Vier-zu-eins-

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Verhältnis − viermal soll man überlegen, bevor man eine Handlung vollführt, einmal in ein unbestimmtes quantitatives Verhältnis − eine Welle (V. 1: ἓν … κῦμα)39 scheint etwas ganz anderes zu sein als ein Meer (V. 2: ποντο …). Die Konjektur καὶ εἴ ποτε ergibt dann einen guten Sinn, wenn man das Komma nicht, wie die Erstherausgeber nach, sondern wie Di Benedetto (2005) vorgeschlagen hat, vor καὶ setzt (vgl. auch Di Nino 2010): ‚Mögest du doch viermal überlegen, auch wenn du einst eine Strömung besegelt hast‘. Der Leser erhielte den Ratschlag, auch dann noch gründlich nachzudenken, wenn ihm schon eine glückliche Fahrt gelungen ist. Als Parallelen für den konzessiven Charakter von καὶ εἴ kann Di Benedetto auf Hom. Il. 15.51 und 20.371 verweisen. — πλοΐζου: Wenn man sich für ἓν τότε entscheidet, muss man πλοΐζου als Imperativ lesen. Liest man εἴ ποτε, ist πλοΐζου als Imperfekt ohne Augment zu verstehen. Alle Lesarten produzieren mit der Verbindung von einem Optativ und mindestens einem Imperativ einen inkonzinnen Satzaufbau: Dabei ist Gronewalds Kombination eines Optativs mit zwei Imperativen (βουλεύϲαιο … καὶ … πλοΐζου·… γίνεο) vielleicht einen Hauch paralleler als Di Benedettos Rekonstruktion, die Optativ und Imperativ durch einen Konzessivsatz mit Imperfekt voneinander trennt (βουλεύϲαιο … εἴ ποτε [ἐ]πλοΐζου·… γίνεο). V. 2 Die Idee von Gronewald (2009), den Satz über πλοΐζου hinaus fortzusetzen, ist bedenkenswert: „Denke viermal nach, und dann befahre ein Meer nicht (vor)schnell: den Euxeinos durchquere (erst), nachdem du dieses leere Grab des Doros gesehen hast, den fern von den Bewohnern von Parion irgendwo zufällige Sandhaufen des (Schwarzen) Meeres festhalten.“ (Hervorhebung Gronewald). Seine Übersetzung und Interpretation sind indes zu sehr auf die geographischen Gegebenheiten um Parion zugeschnitten, ohne dass es im Text selbst Hinweise darauf gäbe, dass ἓν κῦμα (‚eine Welle‘) tatsächlich ein Meer (wie das Marmarameer) bezeichnet, das kleiner ist als das im folgenden Vers erwähnte Schwarze Meer. Allgemein (also auch für Ortsunkundige) wäre das Epigramm kaum verständlich. Auch scheint Εὐξείνου γίνεο ποντοπόροϲ in seiner imperativischen Wirkung zu stark, als dass es allein durch die Nennung einer Bedingung (mittels eines Partizips) relativiert werden könnte (aus diesem Grund übersetzt Gronewald ja auch: „(erst), nachdem du“ [Hervorhebung d. Verf.]). — ταχὺϲ: Das Adjektiv ist hier adverbiell gebraucht, s. LSJ B.4. — Εὐξείνου: Bei der griechischen Bezeichnung des als sehr gefährlich berüchtigten Schwarzen Meeres als Pontos Euxeinos (‚Gastliches Meer‘) handelt es sich um einen Euphemismus.40 Das hier fehlende πόντοϲ ist aus ποντοπόροϲ leicht zu ergänzen; die ed. pr. verweist auf eine ähnliche Konstruktion bei Ps.-Simon. AP 7.510 (= FGE 994 –997). — ποντοπόροϲ: Das Adjektiv ist sicher eine Homer-Reminiszenz (Od. 12.69; 13.95,161; 14.295,339; 15.284; Il. 1.439; 2.771; 3.46,240,283,444; 7.72,229; 11.277; 13.381,628; 15.704; 16.205); in den homerischen Epen dient es allerdings immer zur näheren Bestimmung von Schiffen. In AP 7.264.1 (Leon. Tar.)41 wird es ebenso wie bei Poseidipp auf einen Menschen bezogen. Wir haben es also in beiden Fällen mit einer typisch hellenistischen Homerrezeption zu tun: der Übernahme eines homerischen Wortes in neuer Verwendung.

39 Für κῦμα als Kollektivum vgl. Komm. zu 89,4. 40 Diese euphemistisch wirkende Namenswahl hat indes vielleicht eine historische Basis: Laut Di Nino (2009, 131) hatte das Schwarze Meer einst nicht nur wegen der tückischen Strömungen, sondern auch wegen der dort wütenden Piraten als gefährlich gegolten und darum Πόντοϲ Ἄξεινοϲ (‚Ungastliches Meer‘) geheißen. Erst nach der erfolgreichen Vertreibung der Piraten sei es dann in Πόντοϲ Εὐξείνοϲ umgetauft worden. 41 Εἴη ποντοπόρωι πλόοϲ οὔριοϲ („Möge für den Überquerer des Meeres die Schifffahrt glücklich sein“).

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V. 3 Δώρου: Der Name Doros ist recht geläufig.42 Möglicherweise handelt es sich um eine Verkleinerungs- oder Koseform für einen mit -doros zusammengesetzten Namen, wie Pompodoros oder Thedoros. V. 3 f. Παριανῶν /τῆλέ που: Die im Papyrus überlieferte Buchstabenfolge παριανῶν ist als Ortsangabe Παριανῶν (Gronewald 2001, ed. min.) oder als die fehlerhafte Transkription von παρ’ ἱκάνων (ed. pr.) gelesen worden (s. u.). Der Text muss nicht geändert werden. Παριανῶν passt geographisch sehr gut: Parion, am Hellespont östlich von Lampsakos gelegen, liegt am Anfang der auf dem Weg zum Schwarzen Meer vorab zu durchquerenden Propontis. Parion scheint die Heimatstadt des Doros zu sein und der Aufstellungsort des Grabsteins. Auch die im Papyrus überlieferte Buchstabenfolge τηλεμου ist unterschiedlich interpretiert worden. Die beiden Vorschläge ziehen eine jeweils unterschiedliche Deutung des Relativpronomens ὃν nach sich. Bei Austins Vorschlag, τῆλέ που, dem sich auch Gronewald anschließt, wird das Relativpronomen ὃν auf Doros bezogen: ὃν Παριανῶν / τῆλέ που εἰκαῖαι θῖνεϲ ἔχουϲιν ἁλόϲ (‚den von den Parianern / fern irgendwo zufällige Dünen der Salzflut halten‘). Dagegen bezieht die zweite, auf einen Vorschlag der ed. pr. zurückgehende Variante, das Relativpronomen auf das Grab und bringt den angesprochenen Leser als Subjekt ins Spiel: ὃν παρ’ ἱκάνων / τῆλ’ ἐμοῦ εἶ· καὶ ‹μ›’ αἱ θῖνεϲ ἔχουϲιν ἁλόϲ (‚wenn du zu diesem [sc. Grab des Doros] gelangst, bist du fern von mir [sc. Doros]: Und mich halten die Dünen der Salzflut.‘) Hierbei wird nicht sofort klar, wer eigentlich der Sprecher ist, das Grab oder Doros: Zu Beginn des Gedichts scheint die persona loquens ein nicht näher bestimmbarer Erzähler in der 3. Ps. zu sein. An dieser Stelle, wo dem Leser direkt mitgeteilt wird, dass er zwar nahe ‚diesem‘ (ὃν), aber fern von ‚mir‘ sei, ergäbe dies jedoch keinen Sinn mehr.43 Ist doch der Umstand, dass der implizite Leser eines Scheingrabepigramms zwar nahe dem Kenotaph ist, aber fern von dem Leichnam desjenigen, für den dieser errichtet worden ist, eine Selbstverständlichkeit. Παριανῶν / τῆλέ που44 nähme dagegen ein in der Schiffbruchmotivik wichtigen Aspekt des Schiffbruchtodes45 auf, der in dieser Sektion bisher noch nicht thematisiert worden ist: den beängstigenden Umstand, fern von der Heimat zu sterben und auch nicht in ihr bestattet werden zu können. — εἰκαῖαι: Das Adjektiv εἰκαῖοϲ hat laut LSJ A.1. manchmal die Bedeutung ‚zufällig‘; allerdings ist es in der hier vorliegenden attributiven Stellung vor Poseidipp nur viermal überliefert und bedeutet dort eher ‚planlos‘ oder ‚zwecklos‘ als ‚willkürlich‘ oder ‚zufällig‘. Zufällig sind die Dünen, weil das Meer den Leichnam nicht – wie etwa in 93.4 erbeten – unversehrt auf eine Sandbank gespült, sondern wahllos an irgendeiner Stelle unter den Meeressand ‚gemischt‘ hat.

42 S. LGPN I 145 (1–2: Chios, 3: Kreta, 4: Zypern, 5–7: Delos, 8: Euböa, 9: Kos, 10–12: Rhodos, 13–14: Samos, 15: Tenos, 16–17: Thasos); II 137 (1–17: Athen); IIIa 137 (1: Akarnatia, 2: Arkadien, 3–6: Dalmatien, 7: Leukas, 8: Messenien, 9: Kampanien). 43 In diesem Sinne argumentiert auch Garulli (2004, 306), welche die Lesart der ed. pr. für sprachlich möglich, interpretatorisch aber für eine „offenkundige Verlegenheit“ hält; auch den direkten Bezug auf Doros durch τῆλ’ ἐμοῦ εἶ· καὶ ‹μ›’ αἱ bezeichnet sie als „schwer zu rechtfertigen“. 44 Im Übrigen hätten wir nach Di Nino (2009, 51) mit τῆλέ und που gleich zwei Kenotaph-Indikatoren hintereinander: Sei doch in Scheingrabepigrammen τῆλε mit Genitiv ein häufiges „stilistisches Merkmal“ (z. B. in Agath. AP 7.552.6 u. Paul. Sil. AP 7.560.2) und που „ein lexikalischer Indikator“; vgl. Interpret. zu 89. 45 Vgl. Lattimore 1962, § 53 passim.

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Rekonstruktionsvorschlag τετράκι βουλεύϲαιο, καὶ εἴ ποτε κῦμα πλοΐζου· μὴ ταχὺϲ Εὐξείνου γίνεο ποντοπόροϲ, τοῦτον ἰδὼν κενεὸν Δώρου τάφον, ὃν Παριανῶν τῆλέ που εἰκαῖαι θῖνεϲ ἔχουϲιν ἁλόϲ. Überlege viermal, auch wenn du bereits einmal gesegelt bist: Überquere das Schwarze Meer nicht vorschnell, wenn du dieses leere Grab des Doros gesehen hast, den fern von Parion irgendwo zufällige Meeresdünen festhalten. Im Gegensatz zu 89 wird in 91 nicht der Tote beklagt, sondern der Leser wird davor gewarnt, eine unüberlegte Tat zu begehen. Für welche Lesart – ob καὶ ἓν τότε oder καὶ εἴ ποτε – man sich im ersten Vers auch entscheidet, es bleibt ein gewisser repetitiver Charakter erhalten: Bei der einen soll der Epigrammleser lange nachdenken, bevor er überhaupt jemals aufs Meer hinausfährt, bei der anderen soll er auch dann noch gründlich überlegen, wenn er schon einmal die glückliche Erfahrung gemacht hat, dass eine Seefahrt reibungslos verlaufen kann. In jedem Fall soll seine Passage gerade des Schwarzen Meeres keine schnelle sein. Dieser letzte Appell könnte mehrere Aspekte beinhalten: Die Entscheidung, den Pontos Euxeinos zu überqueren, soll nicht überstürzt getroffen werden – nicht ohne gründliche Vorüberlegungen (V. 1). Ferner könnte sich dahinter auch die Empfehlung verbergen, langsam d. h. nicht auf dem schnellsten Weg zu segeln und statt über das offene Meer zu fahren, lieber Küstenschifffahrt zu betreiben.46 Mit Gronewalds Deutung des überliefeten Textes wäre dieser Appell zur ‚Entschleunigung‘ („den Euxeinos durchquere (erst), nachdem du dieses leere Grab des Doros gesehen hast“) nicht ohne jede Koketterie: Das Grab trüge dem Leser auf, nicht schnell zu fahren, damit es selbst überhaupt gesehen und sein Ratschlag zur Kenntnis genommen und beherzigt werden kann. Der durch den Grabstein bei Parion gewarnte Seemann hätte noch während seiner ganzen Fahrt über die Propontis Zeit, sein Vorhaben und seine Route zu überdenken und eventuell noch vor Erreichen der Einfahrt in das Schwarze Meer wieder kehrtzumachen. Die Warnung richtet sich entweder an die Parianer oder an vorbeifahrende Seeleute.47 92 Das schlecht erhaltene Gedicht hat einen Seemann zum Protagonisten, den ein anderes Schicksal ereilt hat als seine Kameraden. Was mit ihm geschehen ist − ob er gerettet oder vernichtet wurde − muss offenbleiben.

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Zu der Frage, ob die Ursache für die weitverbreitete Ansicht, daß die antike Seefahrt reine Küstenschiffahrt gewesen sei, nicht ein literarische Topos gewesen ist, vgl. Warnecke, H. 2002: Zur Phänomenologie und zum Verlauf antiker Wasserwege, in: Olshausen, E. u. Sonnabend, H. (Hg.): Zu Wasser und zu Land. Verkehrswege in der antiken Welt, Stuttgart: 93–104, hier 97. 47 Letztere müssten im Falle einer Missachtung des Ratschlags dann damit rechnen, bei einem Schiffbruch im Schwarzen Meer noch weiter entfernt von ihrer Heimat zugrunde zu gehen als der Parianer Doros.

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XIV 15 νηὸϲ ἀπολλυμένηϲ ϲυναπώλετο πᾶϲ †αμαεργοϲ† 16 ναύτηϲ, νηχο̣ μ ̣ ε̣ [̣ ……..]..εν̣ τ̣ ι̣ ̣ φυγή· 17 τὸν γὰρ επαμ[ ± 15 ]α̣ δαίμων, 18 νηχόμενον [ ±16 ].ϲ.

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15 ἁμαεργὸϲ ed. pr. (def. Di Benedetto 2003b, di Nino 2010) : ἅμ’ ἀεργὸϲ Gronewald 2001 (def. Livrea 2002, Gärtner 2006; v. Angiò 2007b) : ἀνάελπτοϲ ? Cuypers  16 νηχ̣ο̣μ̣έ̣[νωι δ’ ἦν ed. pr. : νηχ̣ο̣μ̣έ̣[νωι δ’ ἦν Κρι- vel Ϲπι]ν̣ό̣ε̣ν̣τ̣ι̣ ? ed. min. (νηχομέ[νοιϲ ? Cuypers) : νηχ̣ο̣μ̣έ̣[νωι δ’ οὐκ ἄ]ρ̣’ ἦ̣ε̣ν̣ τ̣ι̣ Livrea 2002 : νηχ̣ο̣μ̣έ̣[νωι δ’ οὐ ϲτο]ν̣ό̣ε̣ν̣τ̣ι̣ De Stefani 2003 : νηχ̣ο̣μ̣έ̣]νωι δ’ ἔργον] ἀ̣φ̣έ̣ν̣τ̣ι̣ Lapini 2007 : δ᾿ ἔϲτιν] ἔ̣θ̣᾿ ἕ̣ν̣ τ̣ι̣ Ferrari per litt.  17 τογγαρ P  ἐπ’ ἄμ[μον ed. pr. (def. di Nino 2010): ἐπαμ[πίϲχων ϲωτήριοϲ ἠρέμ]α̣ δαίμων e.g. Austin 2001b : ἐπ’ ἄμ[μον ἔβαλλεν ὀλέθριον ἤλιθ]α̣ Livrea 2002 : ἐπ’ ἀμ[μώδη προϲιδὼν ἀκτῆϲ χθόν]α̣ vel ἐπ’ ἀμ[μώδη βλέψαϲ χθονὸϲ, ἠιόν]α̣ De Stefani 2003 : ἦ μάλ]α̣ vel ἤγαγ]ε̣ Di Nino 2010  18 [ψυχρῆϲ ἐξεϲάωϲεν ἁλ]ό̣ϲ Austin 2001b : [κενεὴν ἐλπίδ’ ἀπωϲάμεν]ο̣ϲ Livrea 2002 : [πέτρηιϲ νηλειῶϲ πέλαϲ]α̣ϲ De Stefani 2003

Als das Schiff unterging, ist jeder †…† mit zugrunde gegangen, Seemann, schwimm[…] Flucht: Den nämlich (auf Sand?) ein Daimon schwimmend […]. V. 1 †αμαεργοϲ†: Bei ἁμαεργὸϲ handelt es sich um ein hapax legomenon. Die ed. pr. fasst es als ein Synonym für das Adjektiv ϲυνεργόϲ (‚mitarbeitend‘, ‚helfend‘) auf und verweist auf 86.2, wo mit οἰοκέληϲ (statt des geläufigen μονοκέληϲ) ein ähnlich gebildetes hapax vorliegt. Den auf Gronewald (2001) zurückgehenden Gegenvorschlag ἅμ’ ἀεργὸϲ befürworten auch Livrea (2002) und Gärtner (2006), wobei sie das Adverb ἅμ’ auf den ganzen Satz beziehen: ‚Als das Schiff unterging, ist zugleich jeder untätige Seemann zugrunde gegangen‘. Für dieses (auch aus heutiger Perspektive nachvollziehbare) Verhalten der Seeleute, angesichts einer unabänderlichen Katastrophe (wie eines heftigen Sturms) zu resignieren und nichts mehr zu unternehmen, führt Gärtner (2006) zwei Parallelen an (Eur. Tr. 688–693, Lucan. 7.125–127). Für einen ähnlichen Gebrauch von ἅμα verweist Gärtner auf Kallimachos (AP 7.272.1–2 = epigr. 18.1–2 Pfeiffer): Νάξιοϲ οὐκ ἐπὶ γῆϲ ἔθανεν Λύκοϲ, ἀλλ’ ἐνὶ πόντωι ναῦν ἅμα καὶ ψυχὴν εἶδεν ἀπολλυμένην … Lykos von Naxos starb nicht zu Lande, sondern auf dem Meer sah er gleichzeitig sein Schiff und sein Leben zugrunde gehen …

Angiò (2007b) meint dagegen, dass dem kallimacheischen ἅμα funktionell bei Poseidipp eher ϲυναπώλετο entspreche, und schließt die Lesart ἅμα auch deswegen aus, weil sie zusammen mit ϲυναπώλετο einen Pleonasmus ergäbe. Der Vers ist allerdings auch ohne ἅμα mit ϲυναπώλετο und πᾶϲ (und überhaupt den beiden ὄλλυμι-Komposita) pleonastisch: Die Fülle des Ausdrucks scheint also intendiert. V. 2 f. νηχο̣ μ ̣ ε̣ [̣ …….].εν̣ τ̣ ι̣ ̣ φυγή: Dass zu dem gut lesbaren φυγή ein Partizip im Dativ, etwa νηχο̣ μ ̣ έ̣ [̣ νωι, ‚dem Schwimmenden‘, (ed. pr., min.) tritt, ist möglich. Der Vorschlag der ed. min., die Buch-

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stabenfolge ε̣ν̣τ̣ι̣ zu einem Namen (Krinóeis oder Spinóeis)48 zu ergänzen, auf den sich dieses Partizip bezieht, erscheint, auch wenn diese Namen nicht gerade häufig sind, als nachvollziehbar.49 Schließlich gehört, wie die Schiffbruchepigramme der AP und nicht zuletzt Poseidipps50 zeigen, die Namensnennung zum Genre des Grabepigramms. Für diese lacuna so wie für die folgenden, gibt es verschiedene Vorschläge, die sich jenseits der konkreten lexikalischen Ausgestaltung dem Sinn nach in zwei Gruppen einteilen lassen: Die eine geht davon aus, dass ein Besatzungsmitglied davonkommt (Austin 2001a u. 2001b; ed. min.), die andere, dass dieser sich zwar aus der Schiffbruchsituation retten kann, dann aber doch noch an Land vom Tod ereilt wird (ed. pr., Livrea 2002, De Stefani 2003, Thomas 2004). Aufgrund des sehr verderbten Textmaterials ist eine Entscheidung nicht möglich. — επαμ[± 15]α̣: Es spricht nichts gegen den Vorschlag der ed. pr., den Anfang der lacuna zu ἐπ’ ἄμ[μον (‚auf den Sand‘) zu vervollständigen. Die vorgeschlagenen Ergänzungen zur zweiten, ca. 15 Buchstaben umfassenden Lücke sind allesamt zu lang, wobei Austin rein numerisch am wenigsten darüber hinausgeht. Rekonstruktionsvorschlag νηὸϲ ἀπολλυμένηϲ ϲυναπώλετο πᾶϲ ἅμ’ ἀεργὸϲ ναύτηϲ, νηχομε[νωι … Κρι]νόεντι φυγή· τὸν γὰρ ἐπ’ ἄμ[μον ±12 ]α δαίμων, νηχόμενον [ ±16 ].ϲ. Als das Schiff zugrunde ging, ist zugleich jeder untätige Seemann mit umgekommen, schwimmend gelang Krinoes […] die Flucht: Den nämlich auf Sand […] ein Daimon schwimmend […]. Das sehr schlecht erhaltene Epigramm beginnt mit der Information, dass ein Schiff samt seiner Besatzung untergegangen sei. Die Erwähnung von einem ‚Schwimmer‘ und einer ‚Flucht‘ in V. 2 scheint darauf hinzudeuten, dass immerhin eines der Besatzungsmitglieder dem havarierten Schiff lebend entkommen ist und sich nunmehr schwimmend an Land zu retten sucht. Aus V. 3 wird nur deutlich, dass bei diesem Versuch des Schwimmers ein Daimon zugegen ist, nicht jedoch, in welcher Form dieser auf das Geschehen Einfluss nimmt. In der Forschung sind sowohl ein positiver wie auch ein negativer Ausgang erwogen worden. Eine Entscheidung für die eine oder andere Variante ist wegen der sehr lückenhaften Textbasis zwar nicht möglich, aber um das Spektrum beider Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, wird im folgenden für beide Varianten je ein Rekonstruktionsvorschlag vorgestellt und interpretiert. Dafür dass ein Schiffbrüchiger dem havarierten Schiff zwar entkommt, dann aber doch ein schlimmes Schicksal erleidet, gibt es − wie schon die ed. pr. zu diesem Epigramm bemerkt −

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Die ed. pr. erwähnt noch Pyroes, verwirft den Vorschlag aber mit dem Hinweis, dass dieser Name nur in mythologischen Kontexten bezeugt ist. Bei Pape/Benseler (31959) erscheint nur je eine Okkurrenz. Das LGPN verzeichnet (wohl wegen des Ausschlusses von nur fragmentarisch oder abgekürzt erhaltenen sowie mythologischen Namen) keinen Eintrag. Die einzige Ausnahme bildet m. E. 94; aber dort gehört es nachgerade zur Pointe, dass der auf der Durchreise befindliche Bestattende einen Unbekannten beerdigt.

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Beispiele im siebten Buch der AP: In den Epigrammen des Antipater von Thessalonike 289 (= GPh 221–224) und Leonidas von Alexandria 550 (= FGE 1906–1909) wird dem an Land gelangten Schiffbrüchigen von einem Wolf, bei Statilius Flaccus 290 (= GPh 3807–3812) von einer Natter der Garaus gemacht. Für eine tragische Rettung bietet auch Vergils Aeneis 6.337–38351 eine Parallele. Ausgehend von diesen Parallelen hält Livrea (2002) ein positives Ende für „völlig banal“, ein negatives dagegen für „wesentlich elaborierter und dramatischer“ und macht nachstehenden Vorschlag zur Rekonstruktion des Epigramms: νηὸϲ ἀπολλυμένηϲ ϲυναπώλετο πᾶϲ ἅμ’ ἀεργὸϲ ναύτηϲ, νηχο̣ μ ̣ έ̣ [̣ νωι δ’ οὐκ ἄ]ρ’̣ ἦε̣ ν̣ ̣ τι̣ ̣ φυγή· τὸν γὰρ ἐπ’ ἄμ[μον ἔβαλλεν ὀλέθριον ἤλιθ]α̣ δαίμων, νηχόμενον [κενεὴν ἐλπίδ’ ἀπωϲάμεν]οϲ̣ . Als das Schiff zugrunde ging, ist zugleich jeder mitarbeitende Seemann umgekommen, demjenigen, der schwamm, ward auch so keine(rlei) Flucht zuteil: Ihn nämlich warf auf den verderbenbringenden Sand ein Daimon, den vergeblich schwimmenden, nachdem er ihm die leere Hoffnung genommen hatte.

Ein solcher negativer Ausgang würde sich sehr gut in das Alternationsprinzip fügen, das Zanetto (s. S. 319) konstatiert hat. Doch auch für ein positives Ende gibt es vergleichbare Szenarien. So klingt das Ende, wie es Austin (2001b) entwirft, motivisch an die Episode aus Homers Odyssee an, in der der schiffbrüchige Odysseus mit Hilfe Leukotheas und Athenes den kalten Fluten entkommen und sich ans Ufer von Scheria retten kann (5.332 ff.): νηὸϲ ἀπολλυμένηϲ ϲυναπώλετο πᾶϲ ἁμαεργὸϲ ναύτηϲ, νηχ̣ο̣μ̣έ̣[νωι δ’ ἦν .].ε̣ν̣τ̣ι̣ φυγή· τὸν γὰρ επαμ[πίϲχων ϲωτήριοϲ ἠρέμ]α̣ δαίμων, νηχόμενον [ψυχρῆϲ ἐξεϲάωϲεν ἁλ]ό̣ϲ. Als das Schiff zugrunde ging, ist zugleich jeder tätige Seemann umgekommen, schwimmend aber ward einem […] die Flucht zuteil: Den schwimmenden nämlich, indem er ihn sanft umhüllte, rettete ein heilbringender Daimon sanft aus der kalten Salzflut.

Bei dieser Variante müsste man davon ausgehen, dass das Grabepigramm nicht seinem Prot­ agonisten, dem Schwimmer, sondern dessen ertrunkenen Schiffskameraden aus V. 1 gilt.

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Verg. Aen. 6.355–362: tris Notus hibernas immensa per aequora noctes / uexit me uiolentus aqua; uix lumine quarto / prospexi Italiam summa sublimis ab unda. / paulatim adnabam terrae; iam tuta tenebam, / ni gens crudelis madida cum ueste grauatum / prensantemque uncis manibus capita aspera montis / ferro inuasisset praedamque ignara putasset. / nunc me fluctus habet uersantque in litore uenti. („Drei winterliche Nächte trieb mich Notus heftig über die unendlichen Meeresgewässer umher; mit Mühe sah ich hoch vom Kamm der Welle aus am vierten Morgen Italien. Nach und nach schwamm ich an Land; schon wähnte ich mich in Sicherheit, wenn nicht ein grausames Volk auf mich, vom nassen Gewand beschwerten und mit klammernden Händen die raue Bergkuppe erfassenden, mit dem Schwert losgegangen wäre und törichterweise Beute vermutet hätte. Nun hat mich die Flut, und die Winde treiben mich an das Gestade.“)

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Festzuhalten bleibt, dass es in Poseidipps Epigramm selbst keine eindeutigen Hinweise auf ein glückloses Ende des entkommenen Seemannes gibt und sich die Vertreter beider Interpretationsrichtungen auf vergleichbare Erzählungen bei anderen Autoren stützen müssen. Bezeichnend ist, dass die jeweiligen Lager zwei sehr gegensätzliche Möglichkeiten in Betracht ziehen, warum die Seeleute zu Tode kommen: Entweder sie sterben, weil sie resignieren und nichts tun (Gronewald 2001, Livrea 2002 und Gärtner 2006) oder sie sterben eben gerade deswegen, weil sie dem Sturm zu trotzen versuchen und nicht versuchen, sich schwimmend ans Ufer zu retten (Austin 2001b, Lapini 2007, Di Benedetto 2003b). Wahrscheinlich hat dieses Epigramm eben diese Frage diskutiert, welches Verhalten Seeleute angesichts eines drohenden Schiffbruchs an den Tag legen sollten: passive Resignation, aktiver Kampf gegen den Sturm oder sofortigen Fluchtversuch. 93 In diesem Scheingrabepigramm auf den schiffbrüchigen Pythermos betet der Sprecher zur Erde und zu Poseidon, den Toten gut zu behandeln. XIV 19 τὸν χρηϲτὸν Πύ̣ θ̣ ερμον̣ ὅπο̣ υ ποτέ, γαῖα μέ̣ λαινα, 20 ἴϲχειϲ – ὤλετο γὰρ ψυχροῦ ἐπ’ Αἰγόκερω – 21 κοῦφα περίϲτειλον· πόντου πάτερ, εἰ δὲ ϲὺ κεύθειϲ, 22 ἄπληκτον ψιλὴν ἔκθεϲ ἐπ’ ἠϊόνα 23 ἐν περιφαινομένωι Κύμηϲ, καὶ τὸν νέκυν, ὡϲ χρή, 24 πατρώιηι, πόντου δέϲποτα, γῆι ἀπό̣δ̣ο̣ϲ̣.

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19 τογχρηϲτον P  20 ψυχρον P (def. Lapini 2004b: – ὤλετο γάρ – ψυχρὸν κτλ.)  22 εχθεϲ P

Den rechtschaffenen Pythermos, wo nur immer, dunkle Erde, du ihn hältst – er ging nämlich zur Zeit des kalten Steinbocks zugrunde – umhülle sanft; Vater des Meeres, wenn aber du ihn birgst, wirf ihn unversehrt auf eine nackte Sandbank aus auf dem weithin sichtbaren Hügel Kymes, und den Leichnam, wie es sich gehört, gib, Herrscher des Meeres, der väterlichen Erde zurück. V. 1 χρηϲτὸν: χρηϲτόϲ (als eine Bezeichnung für den Charakter des Toten) ist ein weitverbreitetes Adjektiv auf Grabinschriften und deutet auf eine familiäre oder freundliche Verbindung zwischen Toten und Bestattenden hin.52 — Π̣ύ̣θερμο̣ν: Dieser Name ist u. a. auch für Kyme bezeugt.53 — ὅπο̣ υ ποτέ: Das verallgemeinernde Interrogativpronomen ist noch eine Steigerung des in Nauagika meist durch που vertretenen lexikalischen Indikators für Kenotaphe (vgl. S. 325). — γαῖα μέ̣ λαινα: Die Junktur ist homerisch und wie hier meist am Versende zu finden; vgl. Hom. Il. 2.699; 15.715; 20.494; Od. 11.365,587; 19.111.

52 Vgl. Di Nino 2009, Anm. 50 mit Belegstellen. 53 S. LGPN Va 386 (1: Kyme, 2–11: Ionien); I 392 (1: Chios).

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V. 2 ψυχροῦ ἐπ’ Αἰγόκερω: Im Papyrus steht die Buchstabenfolge ψυχρον. Grundsätzlich wird von einem Schreibfehler ausgegangen: Nur Lapini (2004b) hält am überlieferten Text fest. Er fasst ψυχρόν als Attribut zu Pythermos auf. Dass ein Attribut in einer später eingeschobenen Parenthese nachgetragen wird, kann jedoch schon aus syntaktischen Gründen nicht überzeugen. Dagegen ergibt der durch die Konjektur der Erstherausgeber hergestellte Bezug auf Αἰγόκερω einen hervorragenden Sinn. In der Antike durchschritt die Sonne den tiefsten Punkt ihrer Bahn im Sternbild des Αἰγόκερωϲ/‚Steinbocks‘ (vgl. Arat. 286 ff.);54 der Schiffbruch hat sich also offenbar in der kalten Jahreszeit ereignet, um die Wintersonnenwende am 20. Dezember. Das Motiv der für die Seefahrt ungeeigneten Winterzeit ist in der antiken Literatur sehr häufig anzutreffen.55 Anspielungen auf die (meist ungünstigen) Wetterbedingungen, unter denen der Schiffbruch stattfindet, gehören zur Topik des ναυαγικόν. V. 3 περίϲτειλον: περιϲτέλλω kann ‚einhüllen‘, ‚bedecken‘, ‚verbergen‘ heißen, im Kontext einer Bestattung auch allgemein ‚bestatten‘, ‚begraben‘ oder speziell ‚mit einem Totengewand einhüllen‘. Diese spezielle Verwendung findet sich zum ersten Mal im ‚ersten Nauagikon‘, Hom. Od. 24.293 (s. S. 320); Di Nino fasst die Odysseepassage gar als Subtext für das gesamte Epigramm 93 auf. Danach hätte Poseidipp Pythermus nach Odysseus’, Gaia nach Antikleias, Poseidon nach Laertes’ Vorbild geschaffen (s. S. 338). Di Ninos weitergehende These, dass hier neben dem emulator Poseidipp auch der Philologe am Werke sei, der Homers spezielle und unklare Verwendung von περιϲτέλλω konturiere und erhelle (vgl. Rengakos 1994 zu Apoll. Rhod.), ist jedoch kaum richtig; zwar ist περιϲτέλλω bei Homer ein hapax, aber kein „problematisches hapax“ (60).56 V. 5 περιφαινομένωι: Ein substantivierter Gebrauch dieses Partizips ist sonst nur bei Hom. Od. 5.476 nachweisbar; adjektivisch verwendet es Poseidipp auch in 116.2. — Κύμηϲ: Kyme, in Äolien, ist offenbar die Heimat des toten Pythermos. Dieses Kyme bezeichnet Hesiod (erg. 636) als die Heimat seines Vaters: Es könnte also sein, dass Poseidipp sein ναυαγικόν nicht nur in eine imaginäre Traditionslinie mit Homer, sondern auch mit Hesiod stellen will; von diesem hätte er dann den Stoff (Schifffahrt im Winter) und die Gestalt (ein rechtschaffener, kymischer Mann, der in See sticht) übernommen. — ὡϲ χρή: Diese Wendung könnte laut Di Nino (2009) dem ὡϲ ἐπεώικει in Hom. Od. 24.295 (s. Komm. zu V. 3) nachempfunden sein, wo es ebenfalls am Versende steht.

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Inzwischen durchschreitet die Sonne aufgrund der Präzessionsbewegung der Erdachse ihren tiefsten Punkt im Sternbild des Schützen und hält sich erst zwischen dem 20. Januar und dem 16. Februar im Steinbock auf. 55 S. S. 321. Ob der literarische Topos wirklich der Realität der antiken Schifffahrt entspricht, ist zweifelhaft, vgl. Warnecke 2002, 102–103. 56 Problematisch ist auch Di Ninos Aussage, dass sich Homer-Variationen wie diese auf die Nauagika-Sektion beschränkten und diese darum noch mehr Beachtung verdienten: „The fact that Homeric indications and features represent a unique phenomenon in nauagika compositions makes them all the more noteworthy.“ (2009, 60). Dagegen spricht Thomas (2004, 270) zurecht von einem im Poseidipp-Corpus grundsätzlichen „Hellenistic overlay on the Homeric foundation“.

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V. 6 πατρώιηι … γῆι: Mit der Aufnahme dieser nur in der Odyssee bezeugten Wendung (13.188; 251) verweist Poseidipp erneut auf die Traditionslinie zu Homer. Im kalten Winter ist der Protagonist dieses Epigramms, Pythermos, zugrunde gegangen. Poseidipps Gedicht scheint aber nicht den weitverbreiteten Topos weiterzuschreiben, nach dem die Schifffahrt im Winter grundsätzlich zu ruhen habe; jedenfalls wird Pythermos weiterhin als rechtschaffen bezeichnet, weder Selbstüberschätzung noch kommerzielle Habgier werden ihm als Motive für die winterliche Fahrt unterstellt.57 Die Betonung von Pythermos’ Rechtschaffenheit lässt auf eine Wertschätzung des Epigramm-Auftraggebers für den Schiffbrüchigen schließen: In dieser Hinsicht liegt hier also der genau umgekehrte Fall zum nachfolgenden Gedicht 94 vor, wo Toter und Bestattender Fremde füreinander sind – was Zanettos Vermutung, dass die Sektion der Nauagika einem Alternationsprinzip folgt, unterstreichen könnte. Zweifellos liegt die Originalität dieses Scheingrabepigramms darin, dass es als ein Gebet gestaltet ist, das sich an gleich zwei ‚Gottheiten‘ richtet. Dabei ist die Bitte an Poseidon doppelt so lang wie diejenige an die Erde. Das mag daran liegen, dass der Gedanke, dass das Meer den Toten für immer in seinen Fluten zurückhalten könnte, unerträglicher ist als die Vorstellung, dass die Erde ihm ein – wenn auch nur ‚provisorisches‘58 – Grab gewährt. Auch wird Poseidon anscheinend mehr Respekt entgegengebracht,59 wird er doch zweimal und dazu sehr ehrerbietig mit πόντου πάτερ und πόντου δέϲποτα angesprochen, während die Erde nur einmal mit γαῖα μέλαινα apostrophiert wird.60 Es sind besonders diese invocationes, die zu dem hymnischen Charakter des Epigramms beitragen. Die Parallelen zu Hom. Od. 24.290–296 sind deutlich: In beiden Fällen ist unklar, ob der Gescheiterte (Odysseus bzw. Pythermos) auf See oder zu Lande den Tod gefunden hat; beide Male ist die Rede von einer ‚umhüllenden‘ Mutter(figur) (die beim Umhüllen von Odysseus mit einem Totenkleid imaginierte Antikleia bzw. die Pythermos umhüllende Erde) und einer Vatergestalt, die Empathie an den Tag legt (der weinende Laertes) oder legen soll (Poseidon, der darum gebeten wird, den Leichnam unversehrt an Land zu spülen); sowohl für Odysseus als auch für Pythermos wird die Rückkehr in ‚die väterliche Erde‘ – ‚väterlich‘ hier i. S. v. ‚heimatlich‘ – als das bezeichnet, was ihnen eigentlich (der Ehrenhaftigkeit wegen) zukäme. Diese inhaltlichen Analogien werden lexikalisch unterstützt (s. Komm.). Interessant ist, dass hier keine Vorliebe für die kleinen, sekundären Facetten eines Stoffes feststellbar ist, sondern – im Gegensatz zu den intertextuellen Gestaltungsformen in der hellenistischen Literatur – die Vorlage stilistisch und motivisch deutlich überhöht ist. Die bei Homer bewusst allgemeinmenschlich gehaltene Trauer des Vaters um seinen Sohn – es spielt keine Rolle, dass dieser Vater ein König und Heros ist – wird in ein Gebet im Hymnenstil überführt. Vater- und Muttergestalt – bei Homer noch das ithakesische Königspaar – werden zudem nicht, wie es angesichts der im Hellenismus beliebten Kreuzung von Gattungen denkbar wäre – in 57 58 59 60

Oft erfüllt die Benennung der winterlichen Jahreszeit in Schiffbruchepigrammen die Funktion, die Gier des Gescheiterten anzuprangern, s. S. 321. u. vgl. Di Nino 2009, 47– 48. Würde die Bitte an Poseidon erfüllt werden, könnte Pythermos in den Genuss einer ehrenvollen Bestattung in einer echten Grabstelle kommen; wenn die Erde ihn dagegen weiterhin umhüllt, so gibt es kein Bestattungszeremoniell und kein echtes Grab. Der Eindruck vom respekteinflößenden Erderschütterer verstärkt sich beim Leser zusätzlich, wenn er sich noch an Lithikon 20 erinnert, wo Poseidon die Zerstörung einer ganzen Insel zugesprochen wird. Di Nino (2009, 49) sagt, dass diese rhetorische Strategie, die dazu bestimmt ist, eine Erfolgsgarantie zu bieten, nicht scheitern kann.

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ein bäuerliches Milieu oder dergleichen versetzt, sondern tauchen nunmehr sogar als Götter, ja Naturgewalten auf. Auf der Ebene der Figuren entsteht durch den Ersatz des Königspaares durch ein Götterpaar also eine Entmenschlichung, während auf der Ebene der Erzählung gleichzeitig eine Entpersonalisierung geschieht, wird doch die in der 1. Ps. formulierte Klage von Odysseus’ Vater in das Gebet eines allwissenden Erzählers in der 3. Ps. verwandelt. Im letzten Vers des Gebetes werden die beiden angeredeten Gottheiten – die anfangs zwei kontrastierende Möglichkeiten für den Verbleib des Pythermos repräsentieren – miteinander versöhnt: ‚Vater Poseidon‘ möge den Leichnam doch der ‚väterlichen (Mutter) Erde‘ zurückgeben, mithin in dessen Heimatland zurückbringen. 94 Das Schlussgedicht der Gruppe widmet sich keinem Kenotaph, sondern einer ‚echten‘ Grabstätte. Ein Durchreisender, Leophantos, hat es für einen ihm unbekannten Schiffbrüchigen errichtet, den er am Strand gefunden hat. Persona loquens ist – nur hier61 in der gesamten Sektion – der namenlose Tote selbst. XIV 25 ναυηγόν με θανόντα καὶ ἔκλαυϲεν καὶ ἔθαψε̣ ν 26 Λεώφαντοϲ ϲπουδῆι, καὐτὸϲ ἐπειγόμενοϲ 27 ὡϲ ἂν ἐπὶ ξείνηϲ καὶ ὁδοιπόροϲ· ἀλλ’ ἀποδοῦναι 28 Λεωφάντ̣ωι μεγάλην μικκὸϲ ἐγὼ χά̣ριτα.

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28 μικκὸϲ ἐγὼ ed. pr. (def. Livrea 2002, Thomas 2004, Zoroddu 2005) : Μίκκοϲ ἔχω Lapini 2002

Mich Schiffbrüchigen, gestorben, beweinte und begrub Leophantos mit Eifer, obwohl er selbst in Eile war, wie einer in der Fremde und auf der Durchreise: aber großen Dank abzustatten dem Leophantos bin ich ‹zu?› klein. V. 2 Λεώφαντοϲ: Dieser Name kommt in mehreren Gegenden Griechenlands vor.62 — ϲπουδῆι, καὐτὸϲ ἐπειγόμενοϲ: Der adverbiell gebrauchte Dativ von ϲπουδή kann sowohl ‚in Eile‘ als auch ‚mit Eifer/Sorgfalt‘ heißen. Das konzessive Partizip καὐτὸϲ ἐπειγόμενοϲ (‚obwohl er in Eile war‘) und der die Eile erklärende Zusatz (‚auf der Durchreise‘) legen die zweite Bedeutung (‚mit Sorgfalt‘) nahe. V. 4 μικκὸϲ (ἐγὼ): Laut ed. pr., De Stefani (2003) und Thomas (2004) kann μικκὸϲ nicht als Eigenname aufgefasst werden, weil Leophantos, der ja das Epigramm in Auftrag gibt, den Namen des Toten nicht kennen kann. Der von μικκόϲ abhängige Infinitiv hat einen final-konsekutiven

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Wenn man sich in 91.4 für die Lesart der ed. pr. entschiede, wäre auch dort der Tote die Sprecherinstanz; in der Epitymbia-Sektion findet sich ebenfalls ein einziges Epigramm, in dem der Tote der Sprecher ist (60). 62 S. LGPN I 288 (1: Chios, 2–3: Delos, 4 –6: Thasos); IV 210 (1–2: nördlicher Schwarzmeerraum); Va 268 (1– 4: Ionien, 5: Troas).

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Sinn:63 „Leophantos großen Dank abzustatten, bin ich (zu) klein.“64 So verstanden könnte man die Verse auch als Spottepigramm lesen: Der sich mit seinem Grabhügel identifizierende Tote fände diesen demnach so ‚mickrig‘, dass er dem Leophantos dafür keinen (großen) Dank zu schulden glaubt. Lapini (2002) hält dagegen ein dorisches μικκὸϲ i. S. v. μικρὸϲ für sehr unwahrscheinlich, weil dieses Epigramm sonst keinerlei Spuren dorischen Dialekts aufweist.65 Im Gegenteil meint er gerade darin die Pointe sehen zu können, dass Leophantos eben, weil er nicht wissen kann, wie der Tote heißt, die augenscheinliche Eigenart des Leichnams (sein Kleinsein) zum Namen macht und ihn Μίκκοϲ66 ‚tauft‘; die dorische Färbung ist damit allerdings nicht aus der Welt, da Leophantos diesen sprechenden Namen wohl nur als Dorer gewählt haben dürfte. Zudem hängt bei dieser Lesart der Infinitiv ἀποδοῦναι (V. 3) ‚in der Luft‘, der bislang an das μικκόϲ [sc. εἰμὶ] ἐγώ anschließen konnte (‚ich bin zu klein [zum Dankabstatten]‘). Lapini schlägt daher vor – statt ἐγώ –, ἔχω (‚Ich, Mikkos, kann‘) zu lesen, was den Sinn gegenüber der Übersetzung in der ed. pr. umkehrt: War der Bestattete dort nicht in der Lage, zu danken, ist er es hier sehr wohl: „Ich, Mikkos, vermag Leophantos großen Dank abzustatten.“ Die Pointe bestünde dann im Gegensatz Μίκκοϲ-μεγάλην: Für Lapini besteht die μεγάλη χάρ̣ ιϲ in einem Beistand, den der Tote dem Lebenden leiste, möglicherweise eine Art Schutzpatronat für die künftigen Seefahrten des Wohltäters. Daneben ließe sich aber auch denken, dass der Dank bereits geleistet ist, und zwar durch die Kleinwüchsigkeit.67

63 S. beispielsweise Moulton 1963, 134 –136. 64 Ähnlich argumentiert auch Livrea (2002), dem Garulli (2004) und Zoroddu (2005) zustimmen; er weist darauf hin, dass in der Antike körperliche und charakterliche Merkmale parallel gedacht wurden und ein kleiner Körperwuchs demnach als Indiz für Knauserei gelten konnte: Der letzte Satz wäre dann ein selbstironischer Witz der persona loquens. Poseidipp hätte somit quasi ein Gegenepigramm zu Ps.-Simon. AP 7.507 geschrieben: Ἄνθρωπ’, οὐ Κροίϲου λεύϲϲειϲ τάφον, ἀλλὰ γὰρ ἀνδρὸϲ / χερνήτεω· μικρὸϲ τύμβοϲ, ἐμοὶ δ’ ἱκανόϲ („Mensch, nicht des Krösus Grab erblickst du, sondern das eines Tagelöhners: Klein ist der Grabhügel, mir aber hinreichend.“) Vielleicht muss sich der Leser gar eine Statuette auf dem Grab vorstellen, und zwar eine mickrige, quasi wieder als ein Gegenmodell, diesmal zu Ps.-Simon. AP 7.344: Θηρῶν μὲν κάρτιϲτοϲ ἐγώ, θνατῶν δ’ ὃν ἐγὼ νῦν / φρουρῶ τῶιδε τάφωι λαΐνωι ἐμβεβαώϲ. („Von den Tieren bin zwar ich das stärkste, von den Sterblichen aber dieser, den ich jetzt bewache, indem ich auf diesem steinernen Grab hier stehe“); hier ist der Sprecher offenbar ein Löwe, der das Grab eines Leon ziert. 65 2007 macht Lapini dieses Argument nicht mehr so stark und weist darauf hin, dass Dialektmischung ein Phänomen sei, dass schon dem ‚alten‘ Poseidipp zugesprochen wurde; laut Sens (2004) sind Dorismen aber nur in den ἀνδριαντοποιικά, ἱππικά und τρόποι zu finden. Für die dorische Schreibweise μικκὸϲ in einem sonst nicht dorisch gefärbten Kontext vgl. Kallim. iamb. 12.202.20 Pfeiffer und Leon. Tar. AP 7.736.4 (= HE 2170). 66 Ein durchaus geläufiger Name s. LGPN I 314 (1: Chios, 2– 4: Delos, 5:Thasos); II 314 (1–3: Athen); IIIa 301 (1–2: Achaia, 3: Ätolien, 4: Kampanien); IIIb 285 (1–3: Boöthien, 4 –5: Doris, 6–8: Lokris, 9: Phokis); IV 237 (1: Makedonien, 2–3: Skythien, 4 –6: Thrakien); V 317 (1: Lydien, 2: Mysien, 3: Pontos). Er findet sich auch in Kallim. AP 7.458 (= epigr. 50 Pfeiffer), einem Grabepigramm auf eine tote phrygische Amme. Es ist wahrscheinlich, dass es sich hier nur um den Kosenamen handelt, mit dem die Amme ihren Schützling gerufen hatte. Dieses Epigramm weist wie dasjenige Poseidipps sonst keine dorische Färbung auf. Auch Kallim. AP 6.310 (= epigr. 48 Pfeiffer) bietet Μίκκοϲ als Eigennamen und darüber hinaus auch noch ein Spiel mit der Größe: Εὐμαθίην ᾐτεῖτο διδοὺϲ ἐμὲ ϲῖμοϲ ὁ Μίκκου / ταῖϲ Μούϲαιϲ· αἱ δέ, Γλαῦκοϲ ὅκωϲ, ἔδοϲαν / ἀντ’ ὀλίγου μέγα δῶρον. […] („Bildung erbat Simos, Sohn des Mikkos, der mich den Musen gestiftet hat, und die gaben ihm wie Glaukos für wenig eine große Gabe.“) 67 Auch Bruss (2005, 160–161) ist der Meinung, dass der aufrichtige Dank schon geleistet sei: Er bestehe in dem Umstand, dass der Bestattete dem Bestattenden seinen Namen (Μίκκοϲ) verraten habe, was bedeuten würde, dass Leophantos den Schiffbrüchigen noch lebend anfindet, wofür es aber in dem Epigramm keinerlei Indiz gibt.

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Rekonstruktionsvorschlag ναυηγόν με θανόντα καὶ ἔκλαυϲεν καὶ ἔθαψε̣ ν Λεώφαντοϲ ϲπουδῆι, καὐτὸϲ ἐπειγόμενοϲ ὡϲ ἂν ἐπὶ ξείνηϲ καὶ ὁδοιπόροϲ· ἀλλ’ ἀποδοῦναι Λεωφάντωι μεγάλην μικκὸϲ ἔχω χάριτα. Mich verstorbenen Schiffbrüchigen beweinte und begrub Leophantos mit Eifer, obwohl er doch in Eile war, wie ein Reisender in der Fremde; doch Leophantos großen Dank zu zollen, bin ich Kleiner in der Lage. Auftraggeber des Epigramms kann nur Leophantos sein; es überrascht, dass er den Toten das Epigramm ‚sprechen lässt‘, obwohl er nicht einmal dessen Namen zu kennen scheint. Thematisch bildet dieses letzte Epigramm der Sektion einen absoluten Gegensatz zum ersten: leeres Grab eines Prominenten68 dort, Grab eines Anonymus hier. Die einzige Gemeinsamkeit sind mögliche Anleihen bei Kallimachos (s. Komm. zu 89.4).69 Denn auch bei Kallimachos (AP 7.447 = epigr. 11 Pfeiffer) findet sich ein Grabepigramm, das mit Größe bzw. Länge spielt – laut Gutzwiller (1998, 198–199) ein verschränktes Spiel mit der Körpergröße des Bestatteten und der Länge der Reden, die sein Bestatter zu halten pflegte: Beide sind kurz. ϲύντομοϲ ἦν ὁ ξεῖνοϲ, ὃ καὶ ϲτίχοϲ οὐ μακρὰ λέξων Θῆριϲ Ἀριϲταίου Κρὴϲ ἐπ’ ἐμοὶ δολιχόϲ. Kurz angebunden war der Fremde, weshalb auch die Aufschrift, die nicht viele Worte macht, mit ‚Theris, Sohn des Aristaios, Kreter‘ auf mir schon lang ist.

Besonders ausgeprägt ist die Nähe zwischen 94 und Kallim. AP 7.277 (= epigr. 58 Pfeiffer): Τίϲ, ξένοϲ ὦ ναυηγέ; ‚Λεόντιχοϲ ἐνθάδε νεκρόν εὗρέ μ’ ἐπ’ αἰγιαλοῦ, χῶϲε δὲ τῷδε τάφωι δακρύϲαϲ ἐπίκηρον ἑὸν βίον· οὐδὲ γὰρ αὐτόϲ ἥϲυχον αἰθυίηι δ’ ἶϲα θαλαϲϲοπορεῖ.‘ Wer bist du, fremder Schiffbrüchiger? ‚Leontichos fand mich hier an der Küste als Leichnam und schüttete mir dieses Grab auf, wobei er sein eigenes gefährliches Leben beweinte. Auch er selbst lebt ja nicht ruhig, sondern befährt einem Seevogel gleich das Meer.‘

Wie bei Poseidipp ist auch bei Kallimachos der Bestattete die persona loquens, zumindest im zweiten, größeren Teil des Epigramms; im ersten Teil kommt auch bei Kallimachos ein zufällig Vorüberkommender zu Wort. Eine Nähe zwischen den beiden hellenistischen Epigrammen schafft auch die Ähnlichkeit des Namens der jeweils Bestattenden: Leontichos und Leophantos. Beide bestatten einen Unbekannten, dem sie den Epigrammtext bzw. einen großen Teil davon 68 Es ist natürlich vor allem die Prominenz seines Umgangs, Polemon, die auf den Toten abfärbt. 69 Ein Umstand der Zanetto zu der These veranlasst hat, die gesamte Gruppe sei kallimacheisch inspiriert.

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in den Mund legen, und scheinen ein geschäftiges Leben zu führen. Während von Leontichos aber ausdrücklich gesagt wird, dass er wie der Tote über das Meer fährt, erfahren wir über Leophantos nur, dass er auf der Durchreise ist – womit ja auch eine Fahrt über Land gemeint sein könnte.70 Auch bestattet Leontichos einen fremden Seemann, während Leophantos selbst ein Fremder ist. Es ist also wahrscheinlich, dass der Tote bei Kallimachos unter fremde, bei Poseidipp hingegen unter heimatliche Erde gebracht wird. Ein dritter Unterschied ist die komplexere Struktur bei Poseidipp: Der Dialog zwischen Bestattendem und Bestattetem, der bei Kallimachos auch äußerlich durch das Frage- und Antwortgefüge gekennzeichnet ist, muss hier erst erschlossen werden. Bei Kallimachos kulminiert der Dialog eher in einer Art innerem Monolog, da der Bestattende im Bestatteten nur sein eigenes – wie ein Damoklesschwert über ihm schwebendes – Schicksal sieht. Bei Poseidipp liegt der Fokus der Rede des Bestatteten ganz auf dem Bestattenden71 – und gipfelt so in einer Art (gedachtem) Dialog: Der Tote spricht Leophantos aus der Seele und erzählt, wie dieser ihn beweint und sorgfältig bestattet, obwohl er ein Fremder ist und sich auf der Durchreise befindet. Im letzten Satz erfolgt eine unerwartete Bemerkung des Toten: Statt davon zu berichten, welch großen Dienst Leophantos ihm, dem Toten und Sprecher des Epigramms, erwiesen hat, ist nur die Rede von großem Dank an den Bestattenden. Worin hätte dieser (der Tat vorauseilende) Dank aus Sicht des Leophantos besser bestehen können, als darin, einen kleinen, d. h. leicht zu bestattenden Leichnam vor sich gehabt zu haben? Bei Kallimachos baut Leontichos einem unbekannten Schiffbrüchigen ein Grabmal, weil er sein eigenes Schicksal in dem des Fremden gespiegelt sieht. Di Nino (2010, 157) meint gar, dass Leontichos den Schiffbrüchigen aus einer Mischung aus Empathie und Egoismus heraus bestattet: weil der Tote eben ein seefahrender Kollege ist und er im Fall der Fälle von anderen seefahrenden Kollegen dasselbe erwarten würde. Bei Poseidipp hingegen lege Leophantos eine viel allgemeinmenschlichere Empathie an den Tag, weil er nie selbst zur See fahren werde und aus rein altruistischen Gründen handele.72 Der Fokus liegt aber bei Poseidipp weniger auf der Empathie des Bestattenden für den Bestatteten, als auf der des Bestatteten für den Bestattenden: In einer Art hysteron proteron erweist sich seine Kleinwüchsigkeit als eine Art Geschenk, mit dem er sich als Toter bei seinem Bestatter bedanken kann.

70

Für Di Nino (2010, 157) ist Leophantos ganz dezidiert ein Wanderer, zu den Implikationen dieser Setzung s. u. den letzten Absatz der Interpretation. 71 So auch Di Nino 2010, 167. 72 S. Di Nino 2010, 167. In diesem Fall würde Leophantos auch keinen Dank benötigen, wie ihn Lapini (2002) in Form eines Schutzes oder einer Patronage für künftige Seefahrten imaginiert.

Iamatika Die Sektion der Iamatika-Epigramme umfasst sieben Epigramme (insg. 32 Verse), folgt auf die Nauagika (mit 26 Versen) und geht der letzten Sektion der Tropoi (ebenfalls insg. 32 Verse) voraus. Die Verwendung des Adjektivs ἰαματικόν (‚etwas, das mit Heilmitteln zu tun hat‘)1 ist bislang zum ersten Mal im P.Mil.Vogl. 309 aus dem Sektionstitel Ἰαματικά bekannt.2 Dieser beschreibt im wörtlichen Sinne eigentlich eine Sammlung von ‚Heilmitteln‘, ist mit Blick auf die verwandten inschriftlichen Ἰάματα aus Epidauros (s. u.), deren Bedeutung als ‚Heilungen‘ aus dem Inhalt hervorgeht, jedoch zunächst einmal auch als entsprechende ‚Sammlung von Heilungsgeschichten/Heilungswundern‘ zu verstehen (zu weiteren impliziten Bedeutungen s. u.). Der räumliche und soziale Kontext der Iamatika-Epigramme ist allem Anschein nach ein sakraler Bereich. Allein in 95 kommt das Delphische Apollon-Heiligtum in Frage, in den übrigen Epigrammen handelt es sich um den Temenos eines Asklepieion. Besonders berühmt waren in hellenistischer Zeit die Asklepieia in Epidauros, auf Kos sowie in Lebena auf Kreta, aber auch Athen und Korinth besaßen florierende Heiligtümer des Asklepios. Während Apollon als ältester Heilgott bereits seit Homer bekannt ist (Il. 16.527–529; 15.239–242),3 ist sein Sohn Asklepios zunächst nur als (sterblicher) Vater der heilkundigen Troiakämpfer Machaon und Podaleirios bekannt. Er gilt als ursprünglich thessalischer, da vor allem in Trikka, dann auch an anderen Orten verehrter Heros und wird vor allem ab dem 5. Jh. v. Chr. als Heilgott erkennbar.4 Die Wesensverwandtschaft von Apollon und Asklepios äußert sich vielfach darin, dass in ein Asklepios-Heiligtum ein älterer Apollon-Kult eingebunden wird (z. B. Epidauros: Apollon Maleatas).5 Asklepios ist eine Symbolfigur für göttliches Heilen, ebenso auch für menschliche medizinische Heilkunst: Er verbindet in seiner Gestalt göttliches und menschliches Heilungsvermögen.6 Das Besondere und Attraktive an Asklepios ist, im Vergleich mit anderen ebenfalls heilenden und wundertätigen Göttern, dass er deutlich auf Heilung spezialisiert ist.7 Das Faktum, dass Poseidipp in seinen Iamatika nur etablierte hellenische göttliche Instanzen wie Apollon und Asklepios berücksichtigt, während er die von den Ptolemäern propagierten Heilgötter Serapis oder Imhotep/Asklepios überhaupt nicht nennt, lässt den Schluss zu, dass es Poseidipp (hier) sehr bewusst um die Inszenierung einer rein hellenischen Sakralsphäre geht. Die Heilungen, die in den Iamatika deutlich werden, variieren hinsichtlich des Zeitpunktes, zu dem die jeweilige Heilung erfolgt. So finden sich spontane Heilungen aussichtsloser Fälle durch ärztliche Kunst im letzten Moment (95), beim Opfer für Asklepios (96), nach dem Tempelschlaf8 (97, 98, 100) und nach dem Gebet an Asklepios (99). Die Besonderheit dieser Variationen des Heilungsmomentes wird erst vor dem Hintergrund des weitgehend konventionalisierten und in seiner Struktur ritualisierten Ablaufs von Heilungen in einem 1 2 3 4 5 6 7 8

Dazu Bing 2009, Anm. 6. Zu den übrigen, ausschließlich spätantiken Belegen s. Di Nino 2004a, Anm. 25. Nilsson ³1967, 540 f. Möglicherweise bekommt (der zuerst sterbliche) Asklepios eben wegen seiner Heilungserfolge im Laufe der Zeit göttlichen Status, so Edelstein/Edelstein II 1945, 1–64; zum Werdegang des Asklepios s. Nutton 2004, 103–108. Krug 1984, 129. Zur späteren Ikonographie des Asklepios, die sich der des Zeus in der Kaiserzeit annähert, s. Graf 1992, 199. Nutton 2004, 114. Nutton 2004, 110. Zu Traumvisionen im Tempelschlaf s. Riethmüller 2005, 391; Herzog 1931, 80 f.

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Asklepios-Heiligtum verständlich:9 Nach der Anreise der vielfach chronisch kranken oder medizinisch aufgegebenen Patienten, oft von weit her, mussten zuerst rituelle Reinigungen vollzogen und Voropfer (mit Zahlung einer Opfergebühr) dargebracht werden.10 Am Abend legten sich die Kranken zum Heilschlaf im Abaton oder Enkoimeterion nieder.11 Lief alles nach Wunsch, dann kam es zu einer Epiphanie des Gottes im Traum,12 die entweder sofort oder aufgrund formulierter therapeutischer Anweisungen die Heilung herbeiführte.13 Im Anschluss daran mussten Heilungsgebühren (ἴατρα) sowie das eigentliche Dankopfer an den Heilgott entrichtet und ein abschließendes Kultmahl eingenommen werden. Darüber hinaus hat sich die Dokumentation erfolgreicher Heilungen in Form einer Votivgabe in Bild- oder/und Textform, in Form von Weihreliefs, Statuen, Körperteilvotiven und Holzpinakes etabliert.14 Vor dem Hintergrund des rituell strukturierten Aufenthalts eines Kranken in einem Asklepios-Temenos zeigt sich, dass die Poseidipp-Epigramme der Iamatika-Sektion nicht nur eine Variation der Heilungsmomente, sondern auch deren Plötzlichkeit, in zwei Fällen (96 u. 99) sogar deren Vorverlegung noch vor den Heilschlaf im Abaton akzentuieren.15 Zusammen genommen beschreiben alle Epigramme dieser Sektion fast sämtliche Phasen des Aufenthalts in einem Asklepios-Heiligtum. Weder ihre Auswahl noch ihre Anordnung, die sich als serielle Verknüpfung erweist, dürfte somit zufällig sein. Die Textualität dieser Epigramme (re-)konstruiert den ursprünglichen lebensweltlichen Kontext eines Besuchs in einem Asklepios-Heiligtum im Epigrammbuch und transponiert ihn so in die Imagination des Lesers. Dieser kann beim Lesen der Epigramme der Iamatika-Sektion einen virtuellen Aufenthalt in einem solchen Heiligtum in den geschilderten Phasen und Stationen gleichsam nachvollziehen (Ankunft-Gebet-Opfer-Tempelschlaf-Heimreise). Wie der Besucher eines Asklepios-Heiligtums nach seiner Ankunft dort während seines Rundgangs die auf Holztafeln oder steinernen Stelen verewigten Heilungen und Heilungswunder las, so liest der Leser die Iamatika-Epigramme.16 Zugleich kommt der Durchgang des Lesers durch die Iamatika-Epigramme der Papyrusrolle einem imaginären Durchgang durch mehrere hellenische, den Heilgöttern Apollon und Asklepios geweihte Heiligtümer gleich,17 was wiederum eine panhellenische Tendenz in der Konzeption der Iamatika verrät. In mindestens drei Epigrammen wird durch die Nennung einer entsprechenden Lokalität das dort bekannte entsprechende Heiligtum evoziert (95: Delphi; 97: Kos; 99: Lebena auf Kreta).18 Die in den Iamatika-Epigrammen genannten Krankheiten, wie Schlangenbiss, Lähmung, Epilepsie, Infektion, Taubheit 9

Frühester Beleg ist Aristoph. Pl. 653–747; zu den inschriftlichen Belegen s. Riethmüller 2005, 383 f.; Krug 1984, 128–141 u. ö.; ausführlich Graf 1992, 186–195; Nutton 2004, 109 f. 10 Porphyr. abst. 2.19 überliefert die Tempelinschrift aus Epidauros: ἁγνὸν χρὴ ναοῖο θυώδεοϲ ἐντὸϲ ἰόντα / ἔμμεναι· ἁγνεία δ᾿ ἐϲτὶ φρονεῖν ὅϲια. („Rein muss sein, wer in den von Räucherwerk duftenden Tempel eintritt. Reinheit ist Frommes zu denken“); ausführlich Wacht 1998, 212. 11 Abaton ist der etablierte Begriff für die Schlafhalle in Epidauros, Enkoimeterion z. B. in Pergamon, ausführlicher Graf 1992, 186 f. 12 Dazu Edelstein/Edelstein II 1945, 145 f.; 161 f. Zum Unterschied zwischen der ‚freiwilligen‘ Epiphanie eines Gottes und der durch Enkoimesis/incubatio provozierten s. Di Nino 2004a, Anm. 2. 13 Zur Inkubation Graf 1992, 186–193 und vor allem Wacht 1998, 211–226. 14 Dazu Dillon 1997, 169–172. 15 Das findet sich allerdings auch in Inschriften, z. B. Stele I 16 und III 44; s. auch Krug 1984, 135. 16 Das provoziert natürlich eine gewisse Erwartungshaltung eines neu angereisten Kranken auf Heilung und Genesung, s. Bing 2009, 219 f. 17 Dasselbe Phänomen beschreibt für Epidauros Dillon 1994, 243 f. Zum Leser als Wanderer durch den Poseidipp-Text s. Höschele 2010, 148–170, die das jedoch nur für die erste Sektion der Lithika vorführt. 18 Vgl. 96: Attika (wegen des Namens ‚Antichares‘). So auch Di Nino 2006a, 35.

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und Blindheit, dürfen dabei als repräsentative Auswahl aus dem bekannten Spektrum damals virulenter Erkrankungen gelten, die in ihrer Gesamtheit ‚Kranksein überhaupt‘ umschreiben.19 Die Epigramme erweisen sich somit im Kontext hellenistischer Heilungskulte als eine überlegte Auswahl von Beispielen. In literarischer Hinsicht formieren die Iamatika des Poseidipp ein epigrammatisches Subgenre, das den Rahmen der bekannten und etablierten Epigramm-Genera – wie einige weitere aus dem neuen Poseidipp-Papyrus (z. B. Lithika oder Hippika) – erweitert.20 Einzelne Bezüge und Parallelen zu bekannten Textformen lassen sich konstatieren: So stellen zunächst inschriftliche Wunderheilungsberichte, wie sie v. a. aus Epidauros (IG IV² I 121–124) aus der 2. Hälfte des 4. Jh.s v. Chr. erhalten sind, eine klar erkennbare Vorlage für die Iamatika dar.21 Der kaiserzeitliche Autor Pausanias (2. Jh. n. Chr.) berichtet von sechs Inschriften-Stelen, die er selbst in Epidauros gesehen habe (Paus. 2.27.3 = Test. 384 Edelstein/Edelstein I 1945, 195). Pausanias bietet (ebd.) eine kurze Typologie der dortigen, im dorischen Dialekt verfassten Iamata-Inschriften: Genannt werden die Namen der von Asklepios geheilten Männer und Frauen, die Krankheit sowie der Umstand, wie diese Kranken geheilt wurden. Heute sind noch vier dieser Stelen erhalten, von denen jedoch zwei in sehr schlechtem Zustand sind. Vor allem lesbar und im Kontext hier relevant sind die beiden ersten Stelen IG IV² I 121 und 122 mit insg. 63 (Wunder-)Heilungsberichten.22 Diese inschriftlichen Iamata thematisieren schnelle, meist über Nacht erfolgte Wunderheilungen im Asklepieion zu Epidauros. Sie stellen eine von den Priestern des Heiligtums vorgenommene Auswahl aus einer Fülle entsprechender In- oder Aufschriften dar. Es handelt sich bei den Iamata aus Epidauros also um eine planvolle Selektion, Gruppierung und Reihung der Heilungsberichte, die einen klaren redaktionellen Willen erkennen lassen.23 Die Komposition nach psychologischen Gesichtspunkten der Einstimmung, Überzeugung und Werbung für Macht und Wirkung des Heilgottes Asklepios beweist etwa die auf Stele I platzierte Heilungsgeschichte eines Zweiflers, dessen anfängliche Skepsis durch seine tatsächliche Heilung beseitigt wird (IG IV² I 121.22–33). Eine solche Episode gleich zu Beginn eines Katalogs von Heilungswundern – relativ weit oben auf der ersten Stele – darf als programmatisch gelten: Sie lenkt die Erwartungshaltung des lesenden Heiligtum-Besuchers24 und dokumentiert exemplarisch die ‚Bekehrung‘ eines Ungläubigen.25 Deutlich dominiert in

19 20

Bing 2009, 218. Vgl. die bisher aus Meleagers ‚Kranz‘ (anathematische, epideiktische, erotisch-symposiastische, epitymbische Epigramme) oder aus Agathias’ Sammlung bekannten Epigramm-Kategorien (anathematische, epideiktische, epitymbische, erotische, protreptische und skoptische Epigramme), die sämtlich durch den Neuen Poseidipp revidiert und erweitert werden müssen; Di Nino 2004a, Anm. 134. 21 Parallelen zeigt auf Bing 2009, Anm. 26; zu ähnlichen, allerdings relativ schlecht erhaltenen Tafel-Inschriften (Sanides) aus Lebena/Kreta und anderen Asklepios-Heiligtümern s. ders. 2009, Anm. 22 und Di Nino 2004a, Anm. 12; zu Lebena Guarducci 1934, 410– 428 und jetzt profund Melfi 2007. Ursprünglich gab es wohl auch im Asklepios-Tempel auf Kos Heilungsberichte, so Plinius d.Ä. (nat. 29.2.4 nach Varro), aber diese sind nicht überliefert. 22 Text bei Edelstein/Edelstein I 1945, 221–229 mit englischer Übersetzung ebd. 229–237. Auch LiDonnici 1995; Herzog 1931 mit deutscher Übersetzung. 23 LiDonnici 1992, 38– 40; dies. 1995, 40. 24 Nach LiDonnici 1995, 18 waren diese Stelen innerhalb des Heiligtums, an der östlichen Mauer des Abatons entlang aufgestellt. 25 Vgl. die bei Diogenes Laertios überlieferte Bemerkung des Kynikers Diogenes über die Votivinschriften im Kabiren-Heiligtum zu Samothrake: πολλῶι ἂν εἴη πλείω εἰ καὶ οἱ μὴ ϲωθέντεϲ ἀνετίθεϲαν („Es wären noch viel mehr gewesen, wenn auch die nicht Geretteten Weihungen aufgestellt hätten.“) Diog. Laert. 6.59. Die Iamata aus Epidauros sind als inschriftliche Dokumentation von Ereignissen

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der Schilderung der durch Asklepios herbeigeführten Blitz- und Wunderheilungen der aretalogische Aspekt, was auf die entsprechende Werbung und Propaganda der örtlichen Priester und Organisatoren des Heiligtums und des damit verbundenen ‚Sanatoriums-Tourismus‘ zurückzuführen ist.26 Die Iamatika-Epigramme des Poseidipp thematisieren, wie die epidaurischen Iamata, Wunder- und Blitzheilungen und dürfen in ihrer Auswahl und Anordnung ebenfalls als redaktionell komponierte Epigramm-Gruppe gelten (s. u.). Sie sind jedoch anders als jene als sehr kurze (einzige Ausnahme 95), in zwei Distichen abgefasste Epigramme, nicht in dorischem Dialekt und vor allem ohne aretalogische Elemente, wie etwa Preis des Heilgottes oder entsprechende Epitheta, gestaltet.27 Die Epigramme in der Iamatika-Sektion des Poseidipp ahmen sprachlich-stilistisch und auch thematisch den Usus echter Inschriften zwar nach, sind jedoch literarische Epigramme: Das legen ihre Pointierung und Kürze, die ausschließliche Fokussierung auf den plötzlichen, wundersamen Umschlag vom Krank- zum Gesundsein sowie nicht zuletzt die sprechenden Personennamen nahe (in sechs Epigrammen dieser Sektion: 95–100). Als weitere generische Verwandte der Iamatika kommen einige wenige Epigramme aus der AP über Heilungen in Frage, die jedoch meist aus dem 4. Jh. v. Chr. stammen. Die Unterschiede sind leicht auszumachen: Diese Gedichte sind in der Regel ungleich narrativer und damit deutlich länger als die Iamatika des Poseidipp (z. B. AP 6.203) oder sie thematisieren eine Heilung, die zwar eintritt, aber deutlich später erfolgt (AP 6.330) oder sie haben einen klaren religiös-mystischen Gehalt (AP 9.298). Überdies enthalten sie aretalogische Elemente und stehen damit den Heilungsinschriften näher als Poseidipps Epigrammen. Poseidipp kreiert also, vor allem nach dem Modell von (vorwiegend) religiös motivierten Prosa-Inschriften wie den Iamata aus Epidauros, mit seinen Iamatika-Epigrammen ein vielschichtiges neues Genre. Wie die Iamata aus Epidauros eine Sammlung oder Kollektion darstellen, die durch gezielte Selektion aus einer Fülle von Votivtafeln und Inschriften sowie deren redaktioneller Komposition entstanden ist, so stellen auch seine Iamatika en miniature eine gezielte Sammlung ausgewählter Texte dar. Sie spiegeln den epigraphischen Usus der Dokumentation von Wundern und Wunderheilungen, bieten jedoch in Abweichung vom primären Modell vielschichtige Bedeutungstexturen und gewinnen nicht zuletzt durch ihre Platzierung in der Sektion und im Epigrammbuch weitere Bedeutung. Anders als im Fall der epidaurischen Iamata ist der religiöse Gehalt von Poseidipps Iamatika durchaus diskutabel.28 Sämtliche Epigramme lassen sich nämlich ernsthaft und ironisch zugleich lesen. In jedem Fall ist ein ‚double reading‘29 – wie auch bei anderen hellenistischen Dichtern – intendiert. Während der Besucher eines Heiligtums, der vor einer Inschriften-Stele mit Wunderheilungen steht und diese liest, ganz im Kontext einer sakralen Sphäre, selbst krank mit entsprechender Erwartungshaltung solche Berichte zur Kenntnis nimmt, bezieht der Leser von Epigrammen auf einer Papyrusrolle eine wesentlich distanziertere Position zu dem, was er liest. Er ist außerhalb der Sakralsphäre eines Temenos, er ist selbst nicht krank, sucht nicht von sich aus den Kontakt mit einem Heilgott und steht daher a priori zu den Iamatika, die er liest, in einer klaren

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im Heiligtum den in griechischen Tempeln immer üblichen epigraphischen Tempelchroniken durchaus verwandt. Di Nino 2008, 167–187. Dillon 1997, 73–80. Di Nino 2006a, 35 f.; vgl. jedoch Bing (2009, 223), der auch Poseidipps Iamatika aretalogischen Charakter zuschreibt. Bing 2009, 223 f. So Bing 2009, 230 u. ö.

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räumlichen und auch zeitlichen Distanz.30 Eine solche Distanz besteht jedoch nicht nur durch die veränderte Rezeptionssituation und das Medium der Papyrusrolle, sondern ist auch durch die Komposition der Sektion intendiert: Denn Eingangs- und Schlussgedicht dieser Sektion heben sich von den übrigen Epigrammen ab und bieten Schlüsselperspektiven auf mögliche Interpretationsebenen der eingelegten Binnenepigramme. Sie stehen in Bezug zueinander und konstruieren so einen Rahmen um die übrigen Gedichte. Nach der communis opinio in den Forschungsbeiträgen zum ‚Neuen Poseidipp‘ setzen sich auch in den Lithika und den Andriantopoiika jeweils das erste und das letzte Epigramm der Sektion von den anderen Epigrammen ab, sie sind klar aufeinander bezogen und deuten ebenfalls interpretative Lesehilfen an.31 Etliche Rahmenepigramme lassen eine Verbindung Poseidipps zum ptolemäischen Königshof in Alexandria erkennen. Mit Blick auf die Iamatika ist eine solche Verbindung in der Person des in Alexandria prominenten Arztes Medeios (95) zu sehen. Gerade die ersten Ptolemäer unterstützten medizinische (anatomische) Forschungen in Alexandria und maßen Asklepios wie Serapis oder Imhotep als Heilgöttern große religiöse Bedeutung bei.32 Beim Eingangsgedicht der Iamatika-Sektion (95) handelt es sich um das Weihepigramm des Arztes Medeios als Ausdruck des Dankes und der Verpflichtung gegenüber dem Heilgott Apollon. Medeios hatte ein Heilmittel gegen vormals sicher den Tod bringende Schlangenbisse gefunden.33 Das heißt, es geht in diesem Epigramm nicht um das Wunder einer allein vom Gott initiierten Heilung, sondern um Heilung, die auf ärztlicher Kunst beruht, die von einem menschlichen Arzt ausgeht – auch wenn dieser sich Apollon verpflichtet fühlt. In den fünf folgenden Epigrammen ist nirgends die Rede von einem Arzt oder dessen Techne, allein die plötzliche Heilung, das Heilungswunder des Asklepios oder des Paian-Apollon spielt eine Rolle. Das letzte, die Sektion abschließende Epigramm (101) ist ein Gebet an Asklepios, dessen Sprecher zwar nicht namentlich genannt wird, der jedoch mit dem Arzt Medeios ebenso wie mit dem Dichter Poseidipp selbst identifizierbar ist (s. u. Interpret. zu 101). Der Sprecher handelt von Wohlstand und Gesundheit als den beiden wichtigsten Mitteln der Heilung bzw. Rettung. Es geht also auch hier nicht um die Dokumentation einer erfolgten Heilung, sondern um prinzipielles und künftiges Wohlergehen. Der rote Faden, der alle Epigramme dieser Sektion durchzieht, ist m. E. das thematische Leitmotiv des ‚Heilmittels‘: Dieses konkretisiert sich einmal (wie im Eingangsepigramm 95) in einem bestimmten Pharmakon, ist ein andermal mit Heilschlaf oder einer Traumerscheinung des Heilgottes gleichzusetzen (96–100) und artikuliert sich zuletzt in ‚Wohlstand und Gesundheit‘, also im übertragenen Sinne (101). Tatsächlich lassen sich in hellenistischer Zeit wissenschaftliche medizinische (auch pharmakologische) Heilmittel und -methoden nicht strikt von religiös interpretierten Heilungen und Heilungswundern unterscheiden, da ärztliche Heilkunst und religiös motivierter Heilkult als komplementär zueinander verstanden werden müssen. Vergleichbar mit der in verzweifelten und schwierigen Krankheitsfällen von jeher üblichen Vielfalt von Therapien, Heilmitteln und Traditionen, die 30 Ähnlich Bing 2009, 225 f. 31 Bereits Gutzwiller 2002c, 3 konstatiert, dass im neuen Poseidipp v. a. am Anfang und am Ende einer Sektion von der übrigen Gruppe abweichende Epigramme stehen, ebenso Bernsdorff 2002, 13. Zu den literarischen Belegen dieser Auffassung s. die Literaturliste bei Di Nino 2006a, Anm. 1 und dies. 2008, 169; Krevans 2005, 81–96. 32 Neubauten des Ptolemaios I. im Serapeum zu Memphis; Asklepios-Bezirk in Memphis (vgl. Amm. 12.14.7; Epiph. gemm. 32; Visser 1938, 39 f.), dazu Thompson 2004, 22 f.; Gründung des Serapeums in Rhakotis in Alexandria; Schrein des Asklepios in Ptolemais von Ptolemaios I. gebaut. 33 Zum Interesse (spät-)hellenistischer Herrscher an Giften bzw. Gegengiften und Selbstimmunisie­rung usw. s. Nutton 2004, 141 f. mit Belegen (z. B. Galen über Attalos III. von Pergamon und Mithri­ dates V. von Pontos).

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ein Kranker gleichzeitig anwendet, ist der Pluralismus der in der griechischen Medizin angewandten Mittel und Methoden,34 der natürlich auch religiöse Praktiken und Rituale umfasst.35 So bringen die beiden Rahmenepigramme der Iamatika die Verpflichtung den Heilgöttern gegenüber ebenso wie das eigene menschliche Verdienst (Techne) zum Ausdruck. Sichtbar wird hier eine durchaus selbstbewusste Kommunikation von Gesunden – weder der Arzt Medeios noch der Sprecher im letzten Epigramm ist krank – mit dem jeweiligen Heilgott, die auf eine Positionierung der Sprecher bzw. des Sprechers zwischen (kranken) Menschen und (Heil-)Göttern verweist. Die formale wie inhaltliche Korrespondenz der beiden Rahmenepigramme legt eine distanzierte, zwischen Ironie, Skepsis und Humor changierende Lektüre der Iamatika-Epigramme nahe, die sich freilich mit der ‚literalen‘ Lektüre derselben, dem ‚pious reading‘, auf komplexe Weise amalgamiert. Die Iamatika präsentieren nicht nur Wundertätigkeit und Wundergläubigkeit im Kult um Asklepios, sondern sie spielen auch auf Endlichkeit und Grenzen der göttlichen Heilkunst an (z. B. 100). In jedem Binnenepigramm kann man einen ironischen oder sogar komischen Nebensinn erkennen. Tragische Ironie zeigt sich, wenn etwa ein im Iamatika-Kontext Geheilter (97) wenige Epigramme später, in der unmittelbar anschließenden Sektion der Tropoi (103), als Verstorbener spricht, seine Heilung sich somit als nicht besonders effektiv, zumindest nicht als lebensverlängernd erwiesen hat. Diese Lektüren schließen einander nicht notwendig aus. Auch in den epidaurischen Iamata-Inschriften finden sich psychologisch effektvolle Elemente, die nach dem Willen der priesterlichen Redakteure der pietätvollen Einstimmung ebenso wie der Unterhaltung dienen und durchaus komische Elemente der Darstellung enthalten.36 Sollte Poseidipp das Arrangement seiner Epigramme im Mailänder Papyrus tatsächlich selbst entworfen haben (wofür m. E. vieles spricht), dann stilisiert er sich hier, ganz poeta doctus,37 vergleichbar einem solchen Priester, der Wunderheilungsberichte auswählt und anordnet, freilich durch einen Rahmen die eigene distanzierte Position zu erkennen gibt. Möglicherweise darf auch das Fehlen jeglicher dorischer Dialektzeichen als intendierte Abweichung von den dorischen Iamata aus Epidauros, als Signal für eine Transponierung dieses Genres in die literarische Sphäre und damit als sprachlich-stilistisches Signal für Distanzierung verstanden werden. In die interpretative Auswertung muss man auch die erstmals hier belegte Konstruktion des Adjektiv-Titels ‚Iamatika‘ einbeziehen: Bei Poseidipps Iamatika handelt es sich nämlich nicht um typische ‚(Wunder-)Heilungsberichte‘, wie man sie aus den Asklepios-Heiligtümern kennt, sondern es handelt sich letztlich um literarische Gedichte. Diese nehmen zwar auf inschriftliche Iamata punk­tuell Bezug, implizieren jedoch in jedem Fall eine Distanzierung vom Wundergeschehen. Theoretisch kann es sich bei den Iamatika-Epigrammen 95–98 und 101 um Gedichte handeln, die der ἐπιγραμματοποιόϲ Poseidipp im Auftrag der jeweils genannten Personen verfasst hat.38 Freilich lässt sich in all diesen Epigrammen und ganz besonders in 99 und 100 ein stets vor34 35

So Bing 2009, 229. Vgl. Hippokr. vict. 4.87; 6.642 Littré: δεῖ δὲ καὶ αὐτὸν ξυλλαμβάνοντα τοὺϲ θεοὺϲ ἐπικαλέεϲθαι („Ein Gebet ist gut, aber beim Götteranruf sollte man [sc. als Arzt] noch mit Hand anlegen“). S. Nutton 2004, 111–114. 36 Weinreich 1909, 89 f.; Bing 2009, 231. 37 Zur Diskussion um die Frage, ob Poseidipp selbst wirklich religiös und Myste war (ausgehend von einer Bemerkung in seiner Elegie ‚Sphragis‘ [SH 705.21–23]), s. Asper 1997, 85 f. und Dickie 1995, 81–86. 38 95 zeigt, vor allem im Vergleich mit 74, die deutlichsten Anzeichen dafür, ein Auftragsepigramm zu sein: In beiden Fällen verfasst Poseidipp für namhafte Prominente vom ptolemäischen Hof in Alexandria, die bronzene Anatheme in Delphi aufstellten, das dazugehörige Weihepigramm. Dazu auch Zanetto 2008, 525 f.

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handenes ironisches Moment erkennen, das die vordergründige Aussage zu untergraben und damit in Frage zu stellen scheint. Die Iamatika des Poseidipp enthalten somit einen subversiven basso continuo, und zwar in dem Sinne, dass seine Iamatika-Epigramme vordergründig medizinische und religiöse ‚Heilmittel‘ rund um die Heilgötter Apollon und Asklepios feiern, selbst aber als literarisch-poetische ‚Heilmittel‘ gegen volkstümlich-religiösen Wunderaberglauben für Gebildete präsentiert werden. Die Iamatika des Poseidipp stellen faktisch die hellenistische Neuschöpfung eines epigrammatischen Genres dar, die mit der inschriftlichen Historie des Epigramms ebenso spielt wie mit prosaischen und poetischen Modelltexten, die sich auf (Wunder-)Heilungen beziehen. Setting, Motive, sprachliche und typische Details der Vorlagen sind demonstrativ übernommen und eingearbeitet, zugleich aber so verändert, verfremdet oder doppelbödig, dass sich deutlich der Wille des poeta doctus zur literarischen Überformung und Unterlegung ironischer Distanz und damit zur Neuschöpfung eines Genos, dem der Iamatika, abzeichnet. 95 Das erste Epigramm ist ein ekphrastisches Weihepigramm des Arztes Medeios, der Apollon eine Bronzestatue weiht. Diese stellt einen nach einem Schlangenbiss auf das Skelett abgemagerten Todkranken dar. Selbst einem solchen Patienten konnte der Arzt Medeios helfen. Der Text ist fast durchgehend erhalten, nur wenige Buchstaben fehlen. Es gibt einige Schreibfehler. Wie die meisten Epigramme dieses Papyrus ist auch dieses im attisch-ionischen Dialekt verfasst.39 XIV 30 οἷοϲ ὁ χάλκεοϲ οὗτοϲ ἐπ’ ὀϲτέα λεπτὸν ἀνέλκων 31 πνεῦμα μόγι[̣ ϲ] ζ̣ωὴν ὄμματι ϲυλλέγε̣ται, 32 ἐκ νούϲων̣ ἐϲάου τοίουϲ ὁ τὰ δεινὰ Λιβύ̣ϲ̣ϲηϲ 33 δήγματα φα̣ρμά̣ϲϲειν ἀϲπίδοϲ εὑρόμενοϲ̣ 34 Μήδειοϲ Λάμπωνοϲ Ὀλύνθιοϲ, ὧι πανάκειαν̣ 35 τὴν Ἀϲκληπιαδῶν πᾶϲαν ἔδωκε̣ πατήρ· 36 ϲοὶ δ’, ὦ Πύθι’ Ἄπολλον, ἑῆϲ γνωρίϲματα τέχνηϲ 37 λείψανον ἀνθρώπου τόνδ’ ἔθετο ϲκελε̣τ̣όν.

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31 ἄϲθματι Hutchinson 2002 : ϲώματι Gärtner 2008 (v. Angiò 2010)  32 εγνουϲων̣ P  τουουϲ P  33 φα̣ρμα̣ρϲειν P

Wie diese Bronzestatue hier zum Gerippe hin dünnen Atem zieht und dabei nur mit Mühe Leben in ihrem Blick sammelt, von Krankheiten errettete solche Patienten derjenige, der gegen die schrecklichen Bisse der libyschen Natter ein Heilmittel fand, Medeios, der Sohn des Lampon, aus Olynth, dem die Allheilkunst der Asklepiaden ganz übergeben hatte der Vater; dir aber, Apollon von Pytho, stellte er als Beweis für seine Kunst als letztes, was vom Menschen übrig bleibt, dieses Skelett hier auf.

39

Sens 2004, 67 f.

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V. 1 οἷοϲ ὁ χάλκεοϲ οὗτοϲ: Dieser deiktische Zeigegestus imaginiert die visuelle Wahrnehmung einer Bronzestatue, die im Folgenden beschrieben wird. Es handelt sich also um ein ekphrastisches Weihepigramm (s. u.). Die Deixis einer Bronzestatue findet sich auch in 63 (ebd. 8: χάλκεοϲ; vgl. χάλκειον in 64.1; 69.1; das Substantiv χαλκόϲ 63.1; 65.2; s. auch χάλκεοϲ ἥρωϲ / οὗτοϲ in AP 16.349.5 f.). Eine ähnliche Analogie von οἷοϲ / τοἶοϲ wie hier findet sich bei Alkaios von Messene (AP 9.588.1 f. = HE 106 f.), s. Di Nino 2010, 205 f. V. 1 f. ἐπ᾿ … πνεῦμα: Der drastische Ausdruck λεπτὸν πνεῦμα ist eine Wendung, die in der hippokratischen Medizin, nicht aber in der Dichtung etabliert ist (s. z. B. Hippokr. epid. 3.17γ [S. 116, 7 Littré III]; Gal. usu part. 4.10 [S. 326, 9 Helmreich I]); dazu Gärtner 2008, 791–793 mit Verweis auf Meleager und Lucan; Karanjka 2009, Anm. 22; Di Nino 2010, 206. Zum Abgemagertsein bis auf die Knochen bietet Hutchinson (2002, 6) zwei Parallelen: Prop. 4.5.64 und Ov. met. 8.803 f. Nach LSJ ist mit ἀνέλκω die Bewegung des Einatmens beschrieben. Auch die Präposition ἐπί gibt die Richtung an: Der Atem wird durch Nase bzw. Mund hinauf-/ eingesogen. Vgl. dagegen Di Nino (2010, 206), die hier die Bewegung des Ausatmens bzw. des Ausströmens des Atmens über den abgemagerten Körper hin sehen will. Die zugleich realistische wie kunstvolle und schwierige Gestaltung dieser mageren Bronzefigur verweist zurück auf die Bronzestatue des Dichters Philitas, die in der Sektion der Andriantopoiika beschrieben worden war (63, v. a. 3.5; dazu Männlein-Robert 2007, 60–63). V. 2 ὄμματι: Ist auf dem Papyrus gut zu lesen und auch aus inhaltlichen Gründen sowohl der von Hutchinson 2002 vorgeschlagenen Konjektur (ἄϲθματι), als auch ϲώματι (Gärtner 2008, Angiò 2010) vorzuziehen. Der Versuch des Abgemagerten, mit letzter Kraft den Blick nicht sinken zu lassen, ist ein Hinweis auf die etablierte Topik des Blicks in lebensechten Kunstwerken (Gärtner 2008, 791–793). Zum Topos des (vitalen) Blickes eines täuschend echten Kunstwerkes s. z. B. 65 = AP 16.119. Den Blick als besten Beweis für die Lebensechtheit einer Statue hebt Sokrates bei Xen. mem. 3.10.6–8 hervor; s. auch Herodas mim. 4.69–71. Literatur zu Blick und Blickwirkung bei Männlein-Robert 2007, 70 und 275 f. V. 3 ἐκ νούϲων̣: Die Angleichung von ἐκ zu ἐγ im ersten Wort des Verses ist wohl durch das unmittelbar folgende Liquidum ‚ν‘(ούϲων) bedingt und könnte auf einen Hörfehler des Schreibers zurückgehen; ‚ἐκ‘ vor Nasal findet sich öfter bei Poseidipp (ed. pr., 20; Mayser/Schmoll ²1970, 199 f.). Die ionische, bei Hippokrates gebräuchliche Form νοῦϲοϲ findet sich bei Poseidipp neben νόϲοϲ, auch in 97.1 und 3 (wohl jeweils metri causa, Di Nino 2010, 206 f.). — ἐϲάου: Hierbei handelt es sich um eine in der griechischen Literatur sonst nicht belegte Form der 3. Ps. Sg. Imperf. Akt. von *ϲαόω, gleichbedeutend mit ϲώζω: ‚(vor dem Tod) retten‘, auch ‚heilen‘; s. Formen von *ϲαόω z. B. mit Bezug auf einen Arzt in GV 627.3 (2./3. Jh. n. Chr.), mit Bezug auf Apollon bei Hes. fr. 307.1 Merkelbach-West, mit Bezug auf Asklepios in IG IV² I 128.75; vgl. Eur. El. 429; Hippokr. coac. 136.8; 232.3; epid. 11.43; ebd. 25.8. — τοίουϲ: Im Papyrus steht τουουϲ statt τοίουϲ: Das könnte auf einen Hörfehler des Schreibers zurückgehen. V. 3 f. τὰ … ἀϲπίδοϲ: Die libysche Natter, auch bekannt als ‚ägyptische Kobra‘, stellt vor allem in Nordafrika eine reale Bedrohung dar (Hdt. 4.191, Men. fr. 702 Kassel-Austin, Apoll. Rhod.

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4.1506, Nik. ther. 157–189; Lucan. 9.700–707; 815–821, Ael. nat. anim. 1.54; 9.15; 10.31; vgl. Aristoph. vesp. 23). Libyen galt als besonders gefährlich, da hier dem Mythos nach aus den Blutstropfen des von Perseus abgeschlagenen Hauptes der Gorgo Medusa Schlangen wurden (Di Nino 2010, Anm. 141). Die libysche Natter gibt einen impliziten Verweis auf die Geographie des Wirkungskreises des Medeios: Libyen und Nordafrika und damit auch Alexandria (s. u.). V. 4 φα̣ρμά̣ϲϲειν: Dieser Verbform liegt sicherlich die positive Bedeutung von φάρμακον als ‚Heilmittel‘ zugrunde (und nicht die als ‚Gift‘). Zur Diskussion der Ambivalenz des Begriffes s. Di Nino 2010, 208. Dasselbe Verbum findet sich bei Apollonios Rhodios 4.1512 im Kontext der Beschreibung, wie Mopsos durch Schlangenbiss zu Tode kommt (s. u.), dazu Klooster 2009, 71. Um welches Heilmittel des Medeios es sich handelt, wird im Epigramm nicht gesagt. Aristoteles (hist. an. 8.29 607a22–24) und Theophrast (hist. plant. 9.15.2.13 f.) deuten nur vage ein nicht näher spezifiziertes Mittel gegen die Bisse der libyschen Natter an, ohne jedoch auf einen (Er-)Finder zu verweisen. In der Literatur wird stets der sichere, rasche Tod nach dem Biss dieser Schlange beschrieben: Prominentes Beispiel ist der Tod des Mopsos in Apoll. Rhod. 4.1502–1531 (die hier genannte δεινὸϲ ὄφιϲ wurde von Morel 1928, 362–366 als libysche Natter identifiziert). Daraus kann man den Schluss ziehen, dass Medeios’ gefundenes Pharmakon auf jeden Fall ein sehr schnell wirksames gewesen sein muss. Ein Heilmittel (auf Essigbasis) gegen den Biss der libyschen Natter, das allerdings nicht in jedem Fall erfolgreich ist, beschreibt erst der alexandrinische Wissenschaftler Philoumenos aus dem 2. Jh. n. Chr. (De venenatis animalibus eorumque remediis 16.6–9 CMG 10.1.1, s. die Edition von Wellmann 1908, 22, 15–19 und ed. pr. 2001, 222). Zur Erwähnung nicht näher spezifizierter Pharmaka in den Iamata aus Epidauros s. z. B. Test. 423.9, 17, 41; 421. 710 s. Edelstein/Edelstein II 1945, 153. — εὑρόμενοϲ: Deutlich ist der assoziative Anklang an die etablierte Wendung vom πρῶτοϲ εὑρέτηϲ zu hören. Hier bezieht sich die Pionierleistung wohl weniger auf eine Erfindung als vielmehr auf das Auffinden eines φάρμακον (zum [Er-]Finden allgemein s. Kleingünther 1933). V. 5 Μήδειοϲ Λάμπωνοϲ Ὀλύνθιοϲ: Der Sprecher nennt diesen Namen erheblich verzögert, was Spannung und Erwartung steigert. Entsprechend dem Usus von Weihepigrammen, nach dem der Weihende dem Gott gegenüber von sich selbst in der 3. Ps. Sg. spricht und so Gelegenheit hat, auch der Um- und Nachwelt den Namen des Stifters mitzuteilen, spricht auch hier Medeios selbst. Sein Name ist vollständig mit Patronymikon und Ethnikon angegeben. Er ist Sohn des Lampon und Olynthier. Auch nach der Zerstörung Olynths durch Philipp II. von Makedonien 348 v. Chr. lässt sich die Verwendung und Vererbung des Ethnikons ‚Olynthier‘ bis ins 1. Jh. v. Chr. nachweisen, z. B. auf Grabsteinen. Zur großen Zahl von Olynthiern im Umkreis Alexanders d. Gr. s. Zahrnt 1971, 115–117; Meyer, E. 1979: Olynthos, in: Ziegler, K. (Hg.): Der Kleine Pauly, Bd. 4, München: 296. Die Herkunftsbezeichnungen werden auch bei länger in Alexandria lebenden Griechen stets beibehalten, sie tragen nicht unwesentlich zur Konstituierung einer hellenischen Identität dieser Auslandsgriechen bei (Fraser I 1972, 222; Männlein-Robert 2010, 167). Medeios ist als Sprecher bzw. als Stimme dieses Weihepigramms anzunehmen. Es handelt sich bei Medeios und Lampon um Namen, die in hellenistischer Zeit v. a. im Ägäisraum weit verbreitet und lange geläufig sind (LGPN I 282 Lampon, 310 Medeios). Wie Peter Bing gezeigt hat (2002, 297–300; ebenso ders. 2004, 277 f. und ders. 2009, 28 f.), ist es überaus wahrscheinlich, dass der hier genannte Arzt Medeios mit einem in mehreren Papyri bezeugten (PPetr. III 56b; P.Cair.Zen. I 36 [257 v. Chr.], weitere Belege bei Bing 2002,

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297 f.), gleichnamigen Arzt identifiziert werden kann, der als Priester des Alexander und der Theoi Adelphoi, also im religiösen Herrscherkult, um 279/278/277 v. Chr. aktiv ist. Dass der aus den dokumentarischen Papyri bekannte Medeios ‚Olynthier‘ ist, wird erstmals anhand des Poseidipp-Epigramms belegt. Dieser Medeios ist also Arzt, zugleich hoher ptolemäischer Priester und gehört zu den engsten alexandrinischen Hofkreisen des Ptolemaios Philadelphos, der diese Priester ernennt. Er hat die Aufsicht über die königliche Ärztesteuer und nimmt somit eine ehrenvolle Machtposition in Alexandria ein (Di Nino 2010, 208 f.; allgemein Kudlien 1979, 73–81). Der Name ‚Medeios‘ ist im Kontext einer innerhalb der Familie länger etablierten Berufstradition a priori programmatisch (‚der, der sich kümmert‘). Die Tradierung des Berufes vom Vater auf den Sohn ist seit alters in bestimmten Berufsgruppen, wie etwa bei Künstlern, Handwerkern oder Priestern und Sehern sowie bei Ärzten, üblich (Krug 1984, 190–192; auch Bernsdorff 2002, 30). Der Name ‚Medeios‘ hat überdies eine mythisch-literarische Semantik, da der Sohn der zauber- und heilmittelkundigen Medeia ebenfalls diesen Namen trägt (Hes. theog. 1000 f.; vgl. Pind. Pyth. 4.233); ausführlicher Gärtner 2002, 30. — πανάκειαν: Panakeia ist in der Regel a) ein gleichnamiges universales Heilmittel (opopanax hispidus), wie Theophrast hist. plant. 9.15.7.1 und Gal. 14.156.18 K. belegen oder b) die gleichnamige Tochter des Asklepios, so bei Aristoph. Pl. 702.730; Suda π 153 Adler. Ein Spiel mit der konkreten und der übertragenen Bedeutung bietet Kallimachos, Ap. 40 f. Bei Poseidipp erscheint πανάκειαν jedoch in einer dritten Bedeutung c) als adjektivische Umschreibung (πανάκειοϲ) für die ärztliche Heilkunst, den Inhalt der medizinischen Techne, so dass unter πανάκειαν τέχνην also ‚Allheilkunst‘ zu verstehen ist. Berücksichtigt man die in ‚Panakeia‘ enthaltenen mythologischen Anspielungen, erweist sie sich als von Asklepios herrührende Kunst, alles zu heilen. Das entspräche in etwa einem göttlichen Segen des Asklepios, der bereits auf dem Vater als Arzt lag und der auch auf dem ebenfalls als Arzt erfolgreichen Sohn liegt. V. 6 Ἀϲκληπιαδῶν: Die Asklepiaden sind bei Homer die Söhne des Asklepios namens Machaon und Podaleirios (Hom. Il. 4.204; 11.614; 14.2). Seit Theognis (432) sind Asklepiaden v. a. im übertragenen Sinne als ‚Söhne oder Nachfolger des Asklepios‘, d. h. als professionelle Ärzte zu verstehen (Edelstein/Edelstein II 1945, 53–56). Das auf Asklepios zurückverweisende, pluralische Patronymikon hat programmatischen Charakter z. B. auf Kos, wo sich seit Hippokrates’ Zeiten eine berühmte Ärzteschule etabliert (Sherwin-White 1978, 275–278). Unter dem alten homerischen Titel ‚Asklepiaden‘ bildet sich dort eine professionelle, wissenschaftlich fundierte ärztliche Tradition heraus. In der Berufsbezeichnung ‚Asklepiaden‘ klingt auf semantischer Ebene aber immer noch die Herleitung der Ärzte vom Gott Asklepios mit (Di Nino 2010, 210; vgl. auch den Eid des Hippokrates, dazu Lloyd 2003, 40–60). Zwischen den Asklepiaden von Kos und dem delphischen Apollon-Heiligtum gab es enge Verbindungen (z. B. Hippokr. epid. 27 [S. 404 – 428 Littré IX]): Die koischen Asklepiaden genießen in Delphi Privilegien, wie z. B. Prothysia und Promanteia, außerdem gibt es ein delphisches Ehrendekret für das Koinon der Asklepiaden von Kos und Knidos aus dem 4. Jh. v. Chr. (Riethmüller 2005, 115 f.). Pausanias (10.2.6) erwähnt die Bronzestatue eines bis auf die Knochen abgemagerten älteren Mannes, die von den Delphiern als Anathema des Arztes Hippokrates beschrieben wurde. Möglicherweise entspricht eine solche kostbare Weihgabe einem von erfolgreichen Ärzten, auch von Medeios, geübten Usus. Weitere Weihgaben von professionellen Ärzten in Delphi nennt Riethmüller 2005, 116 f.; zu Weihungen von Ärzten in Asklepieia, wie Dankesvotive der Ärzte an ihren Schutzpatron für gelungene Behandlungen oder gelungene eigene Genesung (z. B. das Weihrelief Athen. Nat. Mus. 1378 aus dem Athener Asklepieion, dazu Berger 1970, 72. 77), s. ebenfalls Riethmüller 2005, 390 mit weiterer Literatur. Erhalten ist die späthellenis-

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tische Bronzestatuette eines extrem abgemagerten Mannes, deren Ästhetik frappierend an den bronzenen Patienten des Medeios (aber auch an den hageren Philitas in 63) erinnert. Sie befindet sich derzeit in Dumbarton Oaks, Abb. in Acosta-Hughes u. a. 2004, 347, fig. 3. — πατήρ: Der Vater des Medeios ist der gerade genannte Lampon aus Olynth. Zur Tradierung einer Techne innerhalb einer Familie s. unter V. 5: Medeios. V. 7 Πύθι’ Ἄπολλον: Πύθιοϲ ist ein etabliertes kultisches Epitheton für den Gott Apollon in Delphi (z. B. Pind. fr. 52k, 43 Snell-Maehler; Bakchyl. fr. 16.10 Snell-Maehler; Aristoph. vesp. 869; Theokr. AP 6.336.3; CEG 894.16). Es leitet sich ab von Πυθώ, einem alten Sondernamen für Delphi (Hom. Il. 2.519; Od. 8.80; Hes. theog. 499,807; bewusst archaisierend bei Kallim. Ap. 35,100), nach dem der Gott des Ortes (‚Pythios‘) wie auch seine Priesterin (‚Pythia‘) benannt sind. Der Ortsname wiederum verweist auf den mythischen Πύθων, also den Namen des Schlangen- oder Drachenungeheuers, das dort von Apollon getötet wird und dann entsprechend der etymologischen Herleitung von πύθειν ‚verfault‘: So der homerische Hymnus auf Apollon (V. 363; 369; 372 f.); zu der Schlange s. Ephoros bei Strabo 9.422 f. Apollons Epitheton ‚Pythios‘ reflektiert also die Kompetenz des delphischen Gottes bei der Ausmerzung lebensgefährlicher Drachen bzw. Schlangen. Aufgrund der Apostrophe des Sprechers (Medeios) gerade an ‚Apollon Pythios‘ kann man zwei Schlüsse ziehen: a) die hier genannte Bronzestatue war mitsamt Weihepigramm ursprünglich in Delphi aufgestellt (vgl. o. Komm. zu V. 6 mit Referenz auf Paus. 10.2.6; vgl. aber anders Wickkiser 2013, 625) und b) Apollon hat als Bezwinger von Drachen bzw. Schlangen für den Sprecher die Funktion eines göttlichen Modells (s. Interpret.). — γνωρίϲματα: Zeichen, Erkennungszeichen, Beweise, anhand derer man etwas erkennen kann. — τέχνηϲ: Der Arztberuf wurzelt zwar in göttlichem Ursprung (Paian, Apollon, Asklepios), ist aber – spätestens seit Hippokrates – eine menschliche Techne mit erlernbaren Regeln. Zum Beleg dafür kann ein anonymes Epigramm über Hippokrates dienen (anon. AP 7.135.4 = GV 418.4: οὐ τύχαι, ἀλλὰ τέχναι). V. 8 λείψανον: Als ‚Rest‘ eines Menschen bereits bei Eur. El. 554. Im übertragenen Sinn ebenfalls bei Eur. Andr. 774: λείψανα τῶν ἀγαθῶν ἀνδρῶν als ‚der Ruhm guter Männer‘. — λείψανον ἀνθρώπου: ‚Das, was vom Menschen übrig bleibt‘. Eine sehr eigenwillige Junktur, die sich außer bei Poseidipp nur noch bei Johannes Malalas nachweisen lässt (Chron. IV 11 S. 81, 6 f. Dindorf und XII 41 S. 309, 10 Dindorf). Anders als bei Poseidipp bedeutet sie dort aber ‚Kadaver‘. — ἔθετο: (ἀνα-)τίθεϲθαι ist einschlägiger Terminus in Dedikations-Kontexten. Er macht eindeutig klar, dass es sich hier um ein zugleich ekphrastisches und anathematisches, also ein Mischepigramm handelt. Weitere s. 36.8; 39.4; 74.14 und Di Nino 2010, Anm. 171. — ϲκελε̣τ̣όν: Bei Philodem (de morte 30.1) findet sich ein Zitat Demokrits, in dem ϲκελετόϲ als Gegensatz zu εὔϲαρκοϲ (‚in guter Kondition‘) erkennbar wird. Vor allem in der Komödie wird das Substantiv ϲκελετόϲ verwendet, so z. B. bei Phrynichos zur Verspottung eines lange todgeweihten Lampros (fr. 74.3 Kassel-Austin: Μουϲῶν ϲκελετὸϲ […] ὕμνοϲ Ἄιδου) oder bei Plato Comicus in der Verspottung eines spindeldürren Mannes (fr. 200.3 Kassel-Austin: ϲκελετόϲ, ἄπυγοϲ, καλάμινα ϲκέλη φορῶν). Hier nimmt ϲκελετόϲ thematisch den Begriff ὀϲτέα aus V. 1 wieder auf. Das ‚Skelett‘ steht in drastischer Übertreibung und psychologisch effektiver Zuspitzung als letztes Wort des ganzen Gedichtes, fungiert als drastisches Beispiel der von Medeios Geretteten; vgl. Lucillius AP 11.392.4 (ed. pr.; Di Nino 2010, 211; vgl. dagegen Lelli 2005, 77–132). Die anspruchsvolle, technisch schwierige toreutische Gestaltung einer solchen zum Skelett abgemagerten Figur korrespondiert mit der entsprechend schwierigen poetischen

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Ekphrasis einer solchen Bronzefigur. Wie bereits in der Sektion der Andriantopoiika (63; s. o.) erweist sich der Dichter Poseidipp dem – hier namenlos bleibenden – Toreuten in der eindrücklichen Schilderung dieses ‚lebendigen Skelettes‘ als (mindestens) kongenial. Die Sektion der Iamatika wird durch ein Anathematikon eröffnet, wie das auch in den Hippika (71) der Fall ist. Das Weihepigramm hier ist ekphrastisch gestaltet und stellt somit ein verbindendes Element zur früheren Sektion der Andriantopoiika (62–70) dar:40 Der Sprecher fordert im Gestus der Deixis den Rezipienten auf, diese Bronzestatue zu sehen; für den Leser heißt das, sie sich in der Phantasie vor Augen zu stellen. Die Darstellung eines ästhetisch nicht schönen und nicht ansprechenden Menschen (wie des hier beschriebenen) in Bronze entspricht der zeitgenössischen hellenistischen Mode einer möglichst realistischen, technisch schwierigen künstlerischen Repräsentation. Gleich zu Beginn wird also deutlich, dass es hier um Kunst, Kunstfertigkeit und Können geht – wie sich zeigen wird, nicht nur auf der Ebene des Toreuten. Der Sprecher des Epigramms ist mit aller Wahrscheinlichkeit der Arzt Medeios, der nach der Konvention von Weihepigrammen in bescheidenem Gestus von sich selbst in der 3. Ps. Sg. spricht. Er weist ausdrücklich auf den schwachen Atem, den abgemagerten Zustand und den schwachen Blick der Bronzefigur hin. Damit wird der in ekphrastischen Kontexten hellenistischer Zeit beliebte Topos der Lebensechtheit verwendet, der fast immer Atem,41 Blick und/oder Plastizität des Körpers akzentuiert (vgl. 62–70). Die konventionelle Topik der Lebensechtheit zeigt sich hier allerdings in der denkbar schwächsten Variante, da die Bronzefigur einen Mann darstellt, der dem Tod näher als dem Leben ist. Der schwache Atem (V. 1 f.: λεπτὸν ἀνέλκων / πνεῦμα) des Dargestellten kommt in der metrischen Fassung v. a. des ersten Verses durch den daktytlischen Rhythmus, durch die weitgehende Übereinstimmung von Wort- und Versakzent sowie durch sämtliche Zäsuren zum Ausdruck und bildet so gleichsam das schnelle Atmen (‚Hecheln‘) dieses abgemagerten Patienten ab.42 Eine solche Darstellung bedeutet im Vergleich zur üblichen Konvention ekphrastischer Epigramme eine erhebliche Dramatisierung. Diese zielt im Kontext des Epigramms auf die Glorifizierung des Arztes Medeios ab, der, wie es heißt, ein Heilmittel für derartig Todkranke gefunden hat. Der Arzt Medeios, Sohn des Lampon aus Olynth, kann durch die Evidenz des ‚Neuen Poseidipp‘ vermutlich als der Arzt Medeios identifiziert werden, der in einem Papyrus (PPetr. III 56b; P.Cair.Zen. I 36, s. o.) als hoher Priester und Funktionär im ptolemäischen Herrscherkult in Alexandria in den 50er Jahren des 3. Jh.s v. Chr. ehrenvoll genannt ist. Ein wenig mag überraschen, dass Poseidipp in diesem wohl von Medeios in Auftrag gegebenen Epigramm diesen ausschließlich als Arzt beschreibt;43 denn in einem vergleichbaren Fall, der Weihung eines bronzenen Gespanns durch Kallikrates von Samos ebenfalls in Delphi (74), macht Poseidipp dessen Beziehung zu den Theoi Adelphoi klar: Kallikrates ist ebenfalls Priester der Theoi Adelphoi wie Medeios.44 Wahrscheinlich eher gegen Ende seiner Arztkarriere dürfte die Weihung dieser Bronzestatue mit Epigramm erfolgt sein, als Medeios bereits den Ruf erworben hatte, immer wieder todgeweihte Menschen durch sein spezielles, freilich nirgends sonst bezeugtes oder 40 Männlein-Robert 2007, v. a. 53–81. 41 Abgesehen von der ekphrastischen Topik spielt Poseidipp hier ev. auf die Pneuma-Lehre des zeitgenössischen alexandrinischen Arztes Erasistratos (in Anlehnung an den Peripatetiker Straton von Lampsakos) an. Die Pneuma-Topik konvergiert also mit zeitgenössischen Forschungsinteressen der medizinischen Szene in Alexandria. 42 Diesen Hinweis verdanke ich Jürgen Leonhardt, Tübingen. 43 Di Nino 2010, 213; Bing 2009, Anm. 8 verweist auf das Grabepigramm des Aischylos (Vita § 11 Test. 1 Radt), das diesen nicht als Dichter, sondern nur als Polis-Bürger würdigt. 44 Ausführlich dazu Zanetto 2008, 526.

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dokumentiertes Pharmakon gerettet zu haben – das legt die Imperfekt-Form ἐϲάου in V. 3 nahe.45 Neben der genealogischen und der geographischen Provenienz des Medeios wird klar, dass er beruflich in der Tradition seines Vaters Lampon sowie der Asklepiaden steht: Neben der familiären wird also auch eine göttliche Deszendenz für seinen Arztberuf evoziert. Denn mit dem Asklepiaden-Titel, der statt der ärztlichen Berufsbezeichnung gesetzt ist, wird Medeios’ Bezug zum göttlichen Retter Asklepios formuliert, der Medeios’ Können autorisiert. Mit Blick auf den Tenor der Rettung scheint Poseidipp hier auf eine grundsätzliche Analogie von Medeios und Asklepios anzuspielen, wenn Medeios durch seine Kunst praktisch Tote wieder ins Leben zurückholen kann.46 Dem Mythos zufolge hatte das auch Asklepios versucht, war freilich von Zeus bestraft worden (Pind. Pyth. 3.57 f.). Anders als Asklepios bewegt sich Medeios jedoch in den von den Göttern erlaubten Grenzen der menschlichen Heilkunst: Seine Patienten, wie der in Bronze abgebildete, leben (noch). Wie Medeios der Sohn eines Heilers ist, so auch Asklepios, der der Sohn Apollons ist.47 Wie Asklepios, auch in den folgenden Epigrammen der Sektion, als göttlicher Nothelfer in aussichtslosen Fällen erscheint, so hier Medeios als menschlicher Nothelfer. Auch wenn menschlicher und göttlicher Heiler in engem Bezug zueinander gezeigt werden, steht der menschliche Arzt im Fokus dieses Epigramms und nicht etwa, wie in den epidaurischen Iamata, der wundertätige, heilende Gott. Medeios präsentiert sich in diesem Epigramm selbstbewusst48 und zugleich dem Gott Apollon in ganz besonderer Weise verpflichtet. Das artikuliert sich darin, dass mit der Apostrophe an Apollon Pythios sehr deutlich auf dessen Sieg über eine Schlange bzw. einen Drachen angespielt wird.49 Der Arzt Medeios, der ebenfalls die tödliche Macht einer gefährlichen Schlange bezwingen kann, will somit in Analogie zu Apollon Pythios gesehen werden. Die Stiftung des Medeios gerade im Apollon-Heiligtum von Delphi ergibt also einen Sinn. Mit der Aufstellung einer solchen kostspieligen Bronzestatue gerade in Delphi, einem repräsentativen panhellenischen Ort, stellt sich Medeios möglicherweise in eine weitere – menschliche – Tradition: Denn auch Hippokrates von Kos soll eine Bronze eines bis auf die Knochen abgemagerten Patienten in Delphi geweiht haben (s. o. Komm.). Medeios’ Absicht, es dem berühmten Hippokrates gleichzutun, ist offensichtlich. Die Programmatik dieses Einleitungsepigramms wurzelt in der Glorifizierung des Arztes Medeios,50 der wie Asklepios als Sohn seinem Vater in der Tradierung der (All-)Heilkunst verpflichtet ist und wie Asklepios aussichtslose Fälle kurieren kann. Die alludierte Parallele zwischen den ‚Schlangenbezwingern‘ Medeios und Apollon lässt großes Selbstbewusstsein des menschlichen Arztes gegenüber Apollon erkennen: Dieser weiht dem Gott zwar zum Dank die genannte Bronze, verewigt sich jedoch selbst als Stifter zugleich im Epigramm mit. Aber auch der Dichter Poseidipp schreibt sich selbstbewusst in diesen Text ein: Denn die doppeldeutigen Formulierungen im letzten Distichon (v. a. V. 7 f.: ἑῆϲ

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Die Interpretation Kloosters 2009, v. a. 68–75, wonach Medeios hier ironisch aufgrund des Adynatons, ein Mittel gegen den Biss der libyschen Natter gefunden zu haben, vom poeta doctus Poseidipp anspielungsreich verunglimpft wird, ist reizvoll, geht aber vermutlich zu weit und kann überdies die Relevanz der Bronzestatue im Epigramm nicht erklären bzw. eine Verbindungslinie zum letzten Epigramm der Sektion (oder zu den anderen Epigrammen) aufzeigen. S. auch Bing 2009, Anm. 8; Di Nino 2010, 205. Di Nino 2010, 214. S. Di Nino 2004a, 52 f.; 72. Die enkomiastischen Tendenzen betont bes. Di Nino 2010, 212–215. Vgl. ähnlich Klooster 2009, 68. Überdies ist auch bei Kallim. Ap. 101 der von Apollon bezwungene Drache explizit ‚Schlange‘ genannt (ebd. αἰνὸϲ ὄφιϲ). Vgl. dagegen Di Nino 2010, 205, die den programmatischen Charakter allein auf das ungewöhnliche Sujet bezieht.

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γνωρίϲματα τέχνηϲ; τόνδ’ … ϲκελε̣τ̣όν) legen nahe, dass der Dichter hier ebenfalls deiktisch auf das – bleibende (vgl. λείψανον) – Erkennungszeichen seiner eigenen Kunstfertigkeit hinweist: Er spielt damit auf sein programmatisches Eingangsepigramm, aber auch seine übrigen, filigran und vielschichtig gearbeiteten Iamatika-Epigramme an – und nicht nur auf das bronzene Skelett eines anonymen Toreuten. Wie das vor allem in komischen Kontexten etablierte Schlusswort ‚Skeleton‘ beweist, ist das Epigramm nicht ohne Humor.51 Die selbstbewusste Haltung eines menschlichen Könners gegenüber einem Gott begegnet dem Leser im letzten Epigramm der Sektion wieder (101): Dort wendet sich der Sprecher – in Frage kommen auch dort wieder der Arzt Medeios und der Dichter Poseidipp – an Asklepios und erbittet von ihm Wohlstand und Gesundheit (s. u.). 96 Epigramm auf die plötzliche Heilung des fußkranken Antichares beim Opfer für Asklepios. Der Text ist ziemlich gut erhalten; nur kleine Ergänzungen sind nötig. XIV 38 πρὸϲ ϲὲ μὲν Ἀντιχάρηϲ, Ἀϲκληπιέ, ϲὺν δυϲὶ βάκτροιϲ 39 ἦλθε δι’ ἀτραπιτῶν ἴχνοϲ ἐφελκόμενοϲ· XV 1 ϲοὶ δ̣[ὲ θυη]π̣ολέων εἰϲ ἀμφοτέρ̣ο̣[υ]ϲ̣ πόδαϲ ἔϲτη 2 καὶ τὸ π̣[ο]λ̣υχρόνιον δέμνιον ἐξέφυγε.

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Zu dir zwar, Asklepios, kam Antichares, mit zwei Stöcken, indem er auf Pfaden eine Spur nach sich zog; dir (aber opfernd) stellte er sich fest auf seine beiden Füße und entfloh dem Bett, an das er lange Zeit gefesselt war. Die Textergänzungen der Erstherausgeber sind bislang unwidersprochen geblieben. V. 1–3 μὲν – δ̣[ὲ: Dadurch wird eine antithetische Spannung zwischen dem Menschen Antichares auf der einen und dem Gott Asklepios auf der anderen Seite bestimmt. V. 1 πρὸϲ ϲὲ … Ἀϲκληπιέ: Gemeint ist ein Heiligtum des Asklepios, ein Asklepieion, also ein heiliger Bezirk mit verschiedenen Gebäudekomplexen (vgl. z. B. Aeschin. AP 6.330.3). Besonders bekannt, da durch archäologische und inschriftliche Funde gut bezeugt, sind die Asklepieia von Epidauros, Athen, Kos und Lebena auf Kreta. Der Heilgott Asklepios wird in diesem Vers direkt angesprochen. Zur namentlichen Apostrophe an den Heilgott in den Iamata aus Epidauros s. Di Nino 2004a, 70 f. — Ἀντιχάρηϲ: Der Name ‚Antichares‘ ist epigraphisch vor allem für Attika, aber auch Zentralgriechenland (Delphi) und den Ägäis-Raum gut belegt (LGPN I 48; II 40; IIIb 44 Antichares). Für das Jahr 307/306 v. Chr. ist ein Archon dieses Namens in 51 Sollte Poseidipp hier mit ‚Skeleton‘ auf seine eigenen Iamatika-Gedichte, die ‚Beweise seiner Kunstfertigkeit‘, anspielen, wäre auf das gegliederte Schriftbild der Buchstaben ebenso wie auf seine miteinander begrifflich wie inhaltlich verschränkten Epigramme zu verweisen. Für den medizinischen Konnex vgl. Oreibasios, Collectiones medicae 25.2.1 (τῶν ἐν τοῖϲ ἀνθρώποιϲ ὀϲτῶν ἁπάντων ϲυνημμένων ἀλλήλοιϲ ἡ μὲν ὅλη ϲύνταξιϲ ὀνομάζεται ϲκελετόϲ).

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Delphi bezeugt (Pomtow, H. 1901: Art. Delphoi, RE 4, 2617, Z. 17). Der Name ‚Antichares‘ klingt assoziativ an ἀντιχαρίζομαι an (‚sich als ἀντίχαριϲ, d. h. erkenntlich/dankbar erweisen‘). Antichares trägt also die Dankbarkeit bereits im Namen. — ϲὺν δυϲὶ βάκτροιϲ: βάκτρον ist ein seltenes poetisches Wort. In Eur. Bakch. 363 ist es ein mit Efeu umwundener Stock des Pentheus; im Ion 217 tötet Bromios/Dionysos einen Wilden mit seinem Stab, ebd. 743 dient dieser Stock als Stütze eines fußschwachen Alten, ganz ähnlich in Apoll. Rhod. 1.670; 2.198; Kallim. lav. Pall. 127. Es gibt auch inschriftliche Belege für Gelähmte, die mit Stock gehen, z. B. IG IV² I 123 f. (= W 64 Herzog). V. 2 δι᾿ ἀτραπιτῶν: Antichares kommt ‚auf Pfaden‘ bzw. ‚auf Wegen‘ zum Heiligtum, d. h., er kommt trotz seiner chronischen Erkrankung zu Fuß. Für die Aussicht auf Heilung nimmt er also eine solche Strapaze auf sich. — ἴχνοϲ ἐφελκόμενοϲ: Spur/Fußspur. Antichares kann nicht laufen bzw. auftreten. Da, wie aus V. 3 hervorgeht, beide Füße erkrankt oder gelähmt sind, muss ἴχνοϲ beide Füße meinen, mit denen er nicht auftreten kann. Er stützt sich also auf seine Krücken und zieht seine beiden Füße nach (vgl. für das Nachziehen beider Füße Hom. Il. 23.696). Die übertragene Bedeutung von ἴχνοϲ als ‚(Fuß-)Spur‘ findet sich z. B. auch in Eur. Bakch. 1134 oder El. 103, ebenso bei Apoll. Rhod. 1.184 und Kallim. Ap. 12, Del. 230. V. 3 θυη]π̣ολέων: ‚opfernd‘. Das Wort ist selten und findet sich nur in poetischen Kontexten: in der attischen Tragödie seit Aischylos (Ag. 262; Soph. fr. 126.2 f.; 522.3 Radt; Eur. El. 665; 1134), häufiger bei dem spätantiken Epiker Nonnos (Dion. 7.163; 20.181; 26.267; 47.327). Poseidipp intoniert hier die gewollte Stilhöhe durch seltenes Vokabular aus Tragödie und Epos. — εἰϲ ἀμφοτέρ̣ο̣[υ]ϲ̣ πόδαϲ ἔϲτη: Das nunmehr plötzliche feste Stehen des Antichares auf beiden Füßen steht nach der deutlichen Zäsur der Penthemimeres in diesem Vers. Auch in V. 1 findet sich ϲὺν δυϲὶ βάκτροιϲ nach einem deutlichen metrischen Einschnitt im Vers, dort nach einer bukolischen Dihärese. Sowohl das Ankommen des Antichares auf zwei Krücken als auch sein nunmehr neues Standvermögen stehen in den Versen 1 und 3 jeweils im letzten Versteil nach einem deutlichen Verseinschnitt (Dihärese bzw. Zäsur). Durch die Analogie in der Versstellung wird die Antithese des früheren Zustandes des Antichares mit seinem späteren nur noch deutlicher: Die beiden Krücken des Eingangs werden am Ende durch die – nunmehr intakten – beiden Füße ersetzt. Ähnlich geschildert ist die Genesung eines vormals Blinden in den epidaurischen Iamata: IG IV² I 121.78 (= W 9 Herzog): βλέπων ἀμφοῖν ἐξῆλθε. V. 4 τὸ π̣[ο]λ̣υχρόνιον δέμνιον: Dieser Ausdruck beschreibt die vormalige Bettlägerigkeit des Antichares, die chronisch zu werden drohte. — ἐξέφυγε: Das ist der übliche Terminus für Heilung im Rahmen medizinischer Semantik; dazu van Brock 1961, 198–225. Heilung ist dabei immer als ‚Rettung vor dem Tod‘, als ‚Entkommen aus einer Gefahr‘ verstanden, Di Nino 2004a, 67–69. Hier ist der Terminus besonders bildlich-konkret, da Antichares nun wirklich wieder laufen, im wahrsten Sinn des Wortes der Krankheit und dem Krankenlager davonlaufen kann. Der Ton dieses Epigramms ist, ganz im Unterschied zu den inschriftlichen, vielfach stark formalisierten und formelhaften Iamata, ausgesprochen persönlich und bezeugt die große Dankbarkeit des Geheilten, der sich im Epigramm an den Gott wendet. Der Moment der Heilung, der Nähe zwischen Gott und Mensch, bildet sich in der Wortstellung von V. 1 ab, wenn

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Antichares und der apostrophierte Asklepios unmittelbar nebeneinander stehen, Antichares sich nahe zum Gott stellt. Das enge Verhältnis wird möglicherweise bereits im Namen des ‚Anti-Chares‘ angedeutet, in dem ‚Dankbarkeit‘ und ‚Gegenleistung‘ mitklingen. Die Konzentration von Trägern dieses Namens auf Attika legt die Vermutung nahe, Antichares habe sich in das nächstgelegene, also das Athenische Asklepios-Heiligtum geschleppt (vgl. auch 100, s. u.).52 Der Zustand des chronisch Kranken, eigentlich Bettlägerigen, der sich mühevoll mit zwei Krücken ins Asklepios-Heiligtum schleppt, ist konträr zu dem nach der plötzlichen Heilung, als er seine beiden Füße wieder voll belasten und nutzen kann. Die Anreise des schwer Kranken bezeugt einen großen Willens- und Kraftakt, der psychologisch natürlich eine entsprechende Erwartungshaltung provoziert. Die Heilung des Antichares erfolgt bereits beim Opfer an Asklepios, das nach ritueller Reinigung und Gebet vor dem Heilschlaf im Abaton erfolgt. Die Plötzlichkeit beschreibt eine plakative Dramatisierung dieser Heilung. Plötzliche Heilungen sind zwar durchaus dokumentiert,53 dennoch sind Blitzheilungen extra abaton außergewöhnlich.54 Normalerweise nehmen Heilungserfolge des Asklepios etwas mehr Zeit in Anspruch, wie das Epigramm des Redners Aischines verdeutlicht, der erst nach drei Monaten Aufenthalt bzw. Therapie im Asklepios-Heiligtum von seinem Kopfschmerz geheilt war (AP 6.330).55 Mit der Beschleunigung einer ohnehin schon wundersamen Heilung lenkt Poseidipp das Augenmerk klar auf das gleichsam überstürzt von Asklepios an Antichares vollzogene Wunder. Die Heilung kommt so plötzlich, nicht am üblichen Ort und nicht zur üblichen Zeit, dass dies fast schon komisch wirkt. Möglicherweise kann das als Ausdruck der Skepsis des Poseidipp gegenüber dem Wunderglauben der Volksreligion verstanden werden.56 Denn Poseidipp bezeichnet sich selbst als Myste, war also in Mysterien eingeweiht und gehörte somit zu einem esoterischen, elitären Kreis von Personen höheren religiösen Wissens. 97 Weihepigramm des Soses aus Kos. Dieser wird in einer einzigen Nacht von Asklepios von mehreren Krankheiten geheilt und weiht dem Gott zum Dank einen silbernen Becher. Der griechische Text ist sehr gut erhalten, weist jedoch einige Schreibfehler (redundante Buchstaben) auf. XV

3 ἰητήρια ϲοὶ νούϲων, Ἀϲκληπιέ, Κῶιοϲ 4 δωρεῖται Ϲωϲῆϲ ἀργυρέην φιάλην, 5 οὗ ϲὺ τὸν ἑξαέτη {α}κάματόν θ’ ἅμα καὶ νόϲον ἱ{ε}ρήν, 6 δαῖμον, ἀποξύϲαϲ ὤιχεο νυκτὶ̣ μ̣ιῆι.

1 2 3 4

4 ϲωϲην P 5 ακαματονταμα P  ιερην P

52 53 54 55 56

Di Nino 2010, 216. S. z. B. den stummen Jungen im Iama aus Epidauros IG IV² I 121.41– 48. Zum Plötzlichen als Charakteristikum von Wunderheilungen Weinreich 1909, 197 f. Eine solche s. z. B. IG IV² I 122.69–82 = W 33 Herzog. W 75 Herzog; vgl. W 64 Herzog. Di Nino 2010, 220.

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Die Heilung von Krankheiten schenkt dir, Asklepios, der Koer Soses, eine silberne Schale, von dem du die sechs Jahre dauernde Qual und zugleich auch die heilige Krankheit, Daimon, plötzlich abgestreift hast in einer einzigen Nacht. V. 1 ἰητήρια … νούϲων: Mit dieser seltenen Wendung ist vermutlich ‚Ηeilung von Krankheiten‘ gemeint. Die Wendung steht prädikativ zu ἀργυρέην φιάλην (V. 2), d. h. die silberne Schale wird symbolisch als ‚Heilung von Krankheiten‘ bezeichnet, sie steht also in engstem Zusammenhang mit der Heilung dieses Kranken (s. u.). Im Zusammenhang mit Epilepsie verwendet der Arzt Aretaios aus Kappadokien (1. Jh. n. Chr.) in seiner Schrift De curatione acutorum morborum (5.5.2; 7.14.2) ebenfalls ἰητήρια in der Bedeutung ‚Heilung(en)‘. Im Eingang des homerischen Hymnus auf Asklepios wird dieser als ‚Heiler von Krankheiten‘ angerufen (16.1: ἰητρῆα νόϲων). In ebenfalls hymnischem Kontext werden bei Herodas 4.8 Asklepios, Apollon, Hygieia und Panake als ἰητῆρεϲ ἀγρίων νούϲων angerufen (vgl. ebd. 4.16 f.: ἴητρα νούϲων als Opfergabe zum Dank für Heilung; s. Di Nino 2010, 221 f.). Denkbar ist, dass Poseidipp hier einen ähnlich hymnischen Auftakt intoniert. Mit derselben Bedeutung wie Poseidipp verwendet nur der spätantike Epiker Quintus von Smyrna diese Junktur (7.61: ἰητήρια νούϲων). Die Pluralformen ἰητήρια … νούϲων (eigentlich ‚Heilungen […] von Krankheiten‘) finden ihre inhaltliche Bestätigung darin, dass in V. 3 ausdrücklich die Rede von einer sechsjährigen Qual ist, zu der noch die heilige Krankheit der Epilepsie kommt. Der Patient Soses litt also lange Zeit an mehreren Krankheiten, von denen er in einem Zug geheilt worden ist. Die dialektalen Formen ἰητήρια und νοῦϲοϲ (vgl. dagegen in V. 3: νόϲοϲ) verraten im Auftakt des Epigramms gewollt ionisches Sprachkolorit – passend zum langjährigen koischen ‚Träger‘ dieser Krankheiten. V. 2 δωρεῖται: Variation zum technischeren Ausdruck ἀνατίθημι; ebenso z. B. bei Apollonid. AP 6.105.2 oder Leon. Tar. AP 6.355.2. — Ϲωϲῆϲ: Der Schreibfehler im Papyrus ‚ϲωϲην‘ ist vermutlich durch die beiden nachfolgenden gleichlautenden Akkusativendungen auf -ην entstanden. Der Name Soses ist sehr selten und v. a. für die Peloponnes nachgewiesen (LGPN IIIa 412). Wohl derselbe Soses von Kos erscheint einige Epigramme später in den Tropoi (103; s. u.). Der Name ‚Soses‘ ist in jedem Fall ein an ϲώζειν sowie an das defektive Adjektiv ϲῶϲ (‚gesund‘, ‚wohlbehalten‘, ‚unversehrt‘) anklingender, ‚sprechender‘ Name, der für Kos nicht belegt ist (s. Sherwin-White 1978, 385–551 [Onomastikon of Coan personal names]). — ἀργυρέην φιάλην: Dabei handelt es sich um eine silberne Schale, in der Regel für Flüssigkeiten zum Darbringen von Trankopfern oder für Getränke (vgl. auch 38.2). Phialen aus unterschiedlichem Material sind beliebte Weihgegenstände, dazu Jefferey 1961, passim. In Iamata aus Epidauros (IG IV2 I 122.125 = Test. 423 B Edelstein/Edelstein; W 41 Herzog) sind Weihungen von Phialen an Asklepios belegt, in denen das heilbringende Pharmakon gereicht worden war. Zu solchen Phialen s. Di Nino 2010, 225 f. Das Bild einer gläsernen Phiale beschreibt Pausanias im Asklepieion zu Epidauros (2.27.3,7). Die dem Heilgott geweihte Schale wird in diesem Epigramm vom Sprecher offenbar symbolisch als Instrument der Heilung verstanden und daher als ‚Heilung von Krankheiten‘ bezeichnet (V. 1; s. o.). V. 3 {α}κάματόν: Die im Papyrus überlieferte Buchstabenfolge ακαματονταμα könnte auf einen Hörfehler beim Schreiben zurückzugehen. Das erste ‚α‘ ist überflüssig. — τὸν ἑξαέτη κάματον: Um welche sechsjährige Krankheit es sich handelt, bleibt im Dunkeln. Die sechsjährige

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Dauer einer Krankheit findet sich mehrfach und darf daher vermutlich als topische oder generalisierende Wendung zur Beschreibung einer chronischen Krankheit gelten. S. z. B. 98.1; vgl. IG IV² I 122.56 (W 30 Herzog); IG IV² I 121.95 (W 12 Herzog); s. auch Hippokr. epid. 5.46. — νόϲον ἱ{ε}ρήν: Die ‚heilige Krankheit‘ ist Epilepsie. In der Schrift über die ‚Heilige Krankheit‘, die im Corpus Hippocraticum erhalten ist, geht es basierend auf Empirie und rationaler Auswertung der physiologischen Symptome darum, dieser Krankheit den Status einer besonderen ‚Heiligkeit‘ abzusprechen (De morbo sacro 1.2.7 Grensemann; dazu Jouanna 1992, 260–269; Longrigg 1998, passim); dennoch bleibt die Umschreibung für diese Krankheit weiterhin gebräuchlich; zur ‚Heiligkeit‘ dieser Krankheit s. Baumann 1925, 7–32; Jilek-Aall 1999, 382–386. V. 4 δαῖμον: Indem Asklepios hier als ‚Daimon‘ apostrophiert wird, ist er verstanden als göttliche Kraft, die in einer bestimmten Situation zutage tritt und das Schicksal des Menschen verändern kann; Wilamowitz-Moellendorff 21955 I, 356–360; Nilsson 31967 I, 216–222. — ἀποξύϲαϲ: ‚abschaben‘, ‚abkratzen‘, ‚abstreifen wie eine Haut‘. Dieser Ausdruck beschreibt die Leichtigkeit, mit der ein Gott solch chronische Erkrankungen heilt. Er ist mit der verbreiteten Vorstellung verwandt, nach der eine Gottheit das beschwerliche Alter einfach ‚abwischen‘ oder ‚abstreifen‘ kann; vgl. z. B. Hom. Il. 9.446: γῆραϲ ἀποξύϲαϲ oder h.Ven. 224: ξῦϲαι […] γῆραϲ; Nostoi fr. 7.2 Bernabé; Komatas AP 15.37.3. In jedem Fall erinnert diese Formulierung an den verbreiteten Heilungstopos von der ‚heilenden Hand Gottes‘, dazu Weinreich 1909, 1–66. — νυκτὶ̣ μ̣ιῆι: Die Heilung in einer einzigen Nacht wird emphatisch an den Schluss des letzten Verses gesetzt. Mit dem Verweis auf die Nacht ist der Heilschlaf des Kranken im Heiligtum impliziert.57 Der Gott befreit den Kranken schnell und leicht, über Nacht, von seinen chronischen Krankheiten. Der Koer Soses litt lange Zeit an mehreren Krankheiten, von denen allein die ‚heilige Krankheit‘, i. e. Epilepsie, explizit benannt ist. Der langen Dauer der erstgenannten, nicht näher spezifizierten Krankheit wie auch der Epilepsie steht die schnelle und vollständige Genesung dieses Mannes in einer einzigen Nacht gegenüber. Das impliziert eine Übernachtung des Soses im Abaton mit einer wirkungsvollen Epiphanie des Asklepios: Das lange, mühevolle Leiden streift der Gott schnell und mit leichter Hand ab. Auch in diesem Epigramm sind ironische Untertöne in der Präsentation der Heilung festzustellen: Die Herkunft des Soses aus Kos legt nahe, seinen Heilschlaf im koischen Asklepieion, einem renommierten Heiligtum, zu lokalisieren.58 Dieses sucht er erst nach sechs Jahren Leidens, also nach langer Zeit auf. Wie die kostbare und kostspielige Weihgabe der silbernen Phiale beweist, ist Soses vermögend. Man darf daher annehmen, dass er sich bei einheimischen koischen Ärzten in Behandlung begeben konnte. Kos steht aufgrund der hippokratischen Medizin in hellenistischer Zeit in bestem Ruf. Allerdings sind institutionelle Verbindungen zwischen der koischen Ärzteschule und dem Asklepios-Heiligtum der

57 Di Nino 2004a, 62 f. 58 Kos hat in hellenistischer Zeit gerade im 3. Jh. enge Beziehungen zum ptolemäischen Hof: Ptolemaios I. ist dort geboren (Kallim. Del. 160–190; vgl. Theokr. 17.58 f.); Kos war sein Flottenstützpunkt; dazu Sherwin-White 1978, 90–131. Möglicherweise darf diese Anspielung auf das Asklepieion zu Kos als Hommage des Poseidipp an das ptolemäische Herrscherhaus verstanden werden.

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Insel bislang nicht nachweisbar.59 Das Leiden des Soses dauert nun bereits sechs Jahre, die Therapien der koischen Asklepiaden scheinen nicht erfolgreich gewesen zu sein. Soses setzt seine letzte Hoffnung nun auf den wundertätigen Heilgott Asklepios, der ihn tatsächlich über Nacht heilt.60 Doch dem Wirken der Asklepiaden wie auch dem des Asklepios sind natürliche Grenzen gesetzt: Dass dieses Heilungswunder den natürlichen Gang alles Menschlichen, noch dazu nach langer Krankheit, nicht aufhalten kann, belegt das Epitaph in der unmittelbar auf die Iamatika anschließenden Sektion der τρόποι, Epigramm 103: Hier apostrophiert ein Verstorbener namens Soses, vermutlich aus Kos, aus seinem Grab heraus Passanten, die sich nicht für ihn, seine Identität interessieren, und stellt sich selbst vor.61 Da der Name Soses im neuen Poseidipp-Papyrus nur an diesen beiden Stellen erscheint, drängt sich der Schluss auf, es handele sich beim verstorbenen Soses um denselben wie im wenig vorher in der Papyrusrolle platzierten Iamatika-Epigramm. Bei einer narrativ-dramatischen Leseweise, die auf der Annahme einer planvollen Konzeption und Komposition der Sektionen und ihrer Epigramme beruht, wird nach der Heilung des Soses im koischen Asklepieion sehr rasch – nur sechs Epigramme später – bekannt, dass Soses bereits gestorben und auch schon begraben ist. Das wirft rückwirkend ein weiteres ironisches Licht auf die in den Iamatika geschilderte, so plötzliche Heilung des Soses.62 Auch das alludierte Programm des Namens ‚Soses‘, in dem die Konnotation des ‚Gerettet‘- bzw. ‚Gesund-Seins‘ etymologisch anklingt, wird unterlaufen. Durch den ironischen Nachtrag zu Soses in den Tropoi (103) wird der hermeneutische Kontext von 97 erweitert: Distanz, Skepsis und Ironie des Poseidipp gegenüber den Wunderheilungen rund um Asklepios deuten sich an. Denn das Epitaph des schnell geheilten und dann schnell verstorbenen Soses beweist, dass nicht alle wundersam-plötzlichen Heilungen durch Asklepios von lang anhaltendem Erfolg gekrönt sind. 98 Der chronisch kranke Archytas, dem ein Stück Bronze im Schenkel eine schwärende Wunde verursachte, wird von Paian im Traum, also sehr schnell, geheilt. Das Epigramm hat drei beträchtliche Textlücken (V. 2; 3; 4), jeweils in der Versmitte. XV 7 ἓξ ἔτη Ἀρχύταϲ ὀλοὸν χάλκευμα̣ φ̣υ̣λ̣ά̣ξα̣ϲ̣ 8 ἐν μηρῶι μ̣[……] π̣υθομένην ἀμ̣υ̣χ̣ή̣[ν, 9 Παιάν, ϲ’ εὐ[ ± 11 ω]δυνο̣ϲ̣, ὡ̣ϲ ἐπ̣’ ὀ̣νείρωι 10 τὸν πολὺν ἰηθ̣ε̣ὶ̣[ϲ ……]εν κάματον.

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Gegen den Optimismus der älteren Forschung wendet sich Sherwin-White 1978, 275–278. Die bei Plinius d.Ä. (nat. 29.4) überlieferte Episode, wonach Hippokrates aus den archivierten Krankenberichten des Asklepieions zu Kos abgeschrieben und Wissen bezogen habe, erscheint konstruiert. 60 Zur Topik, dass ein von den Ärzten aufgegebener Kranker von Asklepios geheilt wird, s. z. B. Aristoph. Pl. 406– 412; IG XIV 966.2,3 und mit weiteren Belegen Wacht 1998, 225. 61 Nicht überzeugend ist die These, Poseidipp spiele hier auf eine ‚mors incubatoria‘ an. Das Abwischen der Krankheiten des Soses, wie in 97.4 beschrieben, käme dann einer ἀπόλυϲιϲ πόνων im Sinne einer Erlösung durch den Tod gleich, so Di Nino 2010, 228. Dafür gibt es auch epigrammatische Belege, allerdings aus der Kaiserzeit: Lucillius AP 11.257 und Mart. epigr. 6.53. In beiden Epigrammen sieht der Kranke im Traum einen Arzt – und stirbt. 62 Bing 2004, 287; ders. 2009, 228 f. Zur kompositorischen Verbindung von Iamatika und Tropoi s. Pozzi 2006, v. a. 199–201.

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8 εμμηρωι P  μ[̣ ιαρῶϲ] Austin 2001a : μ[̣ ογέων]? ed. min. : μ[̣ ογερῶι] Zanetto in ed. min. : μ[̣ υϲαρὴν] vel μ̣[αλερὴν] Livrea 2002 : μ̣[ογερῶϲ] De Stefani 2003, Di Nino 2005b : μ̣[έλεοϲ] Austin ap. Di Nino 2005b : μ̣[υδόων] Gärtner 2006  9 ϲ’ εὔ[νοον εἶδεν ἀνώ]δυνο̣ϲ̣ ed. pr., min. : ϲ’ εὔ[νοον εὗρεν ἐπώ]δυνο̣ϲ̣ Livrea 2002 : ϲ’ εὐ[θὺϲ ἰδών, τότ’ ἀνώ]δυνο̣ϲ̣ Lapini 2003b : ϲ’ εὔ[νοον εἶδεν ἐπώ]δυνο̣ϲ̣ vel εἶδε διώ]δυνο̣ϲ̣] Di Nino 2005b : ϲεῦ [χάριν ἤδη (an ἐϲτὶν ?) ἀνώ]δυνο̣ϲ̣ Gärtner 2006 : ϲεῦ [χρή(ι)ζων, τάχ’ ἀνώ]δυνοϲ Lapini 2007 : ϲεῦ [χάριν ὤιχετ’ ἀνώ]δυνοϲ Ferrari per litt.  10 ἐξέφυγ] εν ed. pr., min. (def. Livrea 2002, Di Nino 2005b) : ἐξέθορ]εν Zanetto in ed. min.

Sechs Jahre bewahrte Archytas ein tödliches Stück Bronze im Schenkel […] eine eitrige Wunde, Paian, dich (wohl […]schmerz), denn während eines Traumes geheilt […] die lange Qual. V. 1 ἓξ ἔτη: Wie bereits im voranstehenden Epigramm über Soses aus Kos (97.3) ist die Dauer der Krankheit des Archytas mit diesem wohl topischen Ausdruck umschrieben. Sechs Jahre scheinen nach der derzeit bekannten Evidenz das Maximum für die zeitliche Angabe chronischen Schmerzes zu sein. Ein ähnliches Beispiel bieten die epidaurischen Iamata: IG IV² I, 121.95–97 = W 12 Herzog = Test. 12 Edelstein entfernt Asklepios während des Heilschlafs dem Euhippos eine Lanzenspitze, die dieser ‚sechs Jahre lang‘ im Kinn hatte. — Ἀρχύταϲ: Ein weiterer Archytas wird in den Oionoskopika (24.4) in lückenhaftem Kontext genannt. Da der Name eher selten (s. LGPN I 89; II 72; IIIa; IIIb 72 Archytas) und wohl ‚sprechend‘ ist (‚der Führer‘) liegt es nahe – wie im Falle des Soses (97; 103) –, ein Spiel des Poseidipp auch um diese Person anzunehmen. — ὀλοὸν χάλκευμα̣: Vermutlich handelt es sich um die Spitze einer bronzenen Waffe, etwa eine Pfeil-, Schwert- oder Lanzenspitze, die im Zuge von Kampfhandlungen im Schenkel des Archytas stecken geblieben ist und nicht entfernt werden konnte. Χάλκευμα ist ein seltenes Wort, das vor Poseidipp nur bei Aischylos (A. Pr. 19: ,Fessel‘; Ch. 576: ,Schwert‘) zu finden ist. Nach Pindar (Pyth. 3.48) hat der Heilgott Asklepios eine besondere Kompetenz bei der Heilung von Verwundungen, die durch Bronze entstanden sind; Di Nino 2010, 234 f. Auf eine Kriegsverletzung bzw. Verletzung durch eine (bronzene) Waffe deutet vor allem das häufig bei Homer nachweisbare Adjektiv ὀλοόϲ hin (z. B. Il. 3.133; 18.535; 16.849 u. ö.; ebd. 13.665 sogar an derselben Stelle im Vers nach Penthemimeres). Dieses Adjektiv ist in der hellenistischen Literatur sonst nicht gebräuchlich. Die Heilung von Kriegsverletzungen über Nacht durch Asklepios bezeugen z. B. IG IV² I 122.55–61 = W 30 Herzog (Pfeilspitze steckte in Lunge), IG IV² I 122.63–69 = W 32 Herzog (Speerspitze blieb in Auge stecken), vgl. auch IG IV² I 121.95–97 = W 12 Herzog). — φ̣υ̣λ̣ά̣ξα̣ϲ̣: Der Text ist hier sehr schwer lesbar. Sollte hier tatsächlich φ̣υ̣λ̣ά̣ξα̣ϲ̣ stehen, wäre das zunächst ein überraschender Ausdruck. Warum sollte ein Verwundeter ein Bronzestück in seinem Schenkel ‚bewahren‘ wollen? In diesem Fall wäre der Ausdruck ironisch, der Kranke hätte seine Wunde vorsätzlich ‚gepflegt‘ (s. u.). V. 2 μ̣[……]: Das dritte Wort des Verses beginnt mit ‚μ‘, dann fehlen sechs Buchstaben. Einige Rekonstruktionsvorschläge beziehen sich auf die Art und Weise, in der Archytas an dieser Wunde leidet, etwa μιαρῶϲ (Austin 2001a), μογηρῶϲ (De Stefani 2003; Di Nino 2005b), beide bedeuten ‚unheilvoll‘, ‚mühevoll‘; vgl. auch μόγιϲ, 95.1 f. Diese sind m. E. den Ergänzungen vorzuziehen, die sich auf eine Aussage zur eitrigen Wunde beziehen (μυϲαρήν, μαλερήν: Livrea 2002 oder μέλεοϲ Austin bei Di Nino 2005b). Nur ein Ergänzungsvorschlag bezieht sich auf den Schenkel selbst (μογερῶι, Zanetto in ed. min.). Ein zweites Partizip μογέων

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(ed. min.) oder μυδόων (so Gärtner 2006) wäre nach einem möglicherweise bereits in V. 1 stehenden (φ̣υ̣λ̣ά̣ξα̣ϲ̣) eher unwahrscheinlich. — π̣υθομένην ἀμ̣υ̣χ̣ή̣[ν: Es handelt sich um eine eitrige, offensichtlich nicht abheilende, immer offene Wunde. Mit ἀμυχή ist zunächst eine nicht näher spezifizierte Wunde benannt; nach den entsprechenden Einträgen bei Hesych. α 3883 Latte und Suda α 1688 Adler ἀμυχή handelt es sich dabei jedoch nur um einen ‚Kratzer‘, eine ‚oberflächliche Verwundung‘, ein ἐπιπόλαιον ἕλκοϲ. Der Dichter spielt sicherlich mit der Mehrdeutigkeit dieses Begriffes. V. 3 Παιάν: Paian (episch Παιήων) ist der traditionelle Beiname zuerst des Apollon in seiner Eigenschaft als Heilgott, dann auch des Asklepios: Ursprünglich war Paian eine auch von Apollon klar unterschiedene ältere, selbstständige Gottheit. Sein wohl vorgriechischer Name (vgl. Linear-B-Tafel KN V 52, dazu Käppel 1992, 32) beschreibt den ‚Heiler‘. Bei Homer ist Paian der Arzt der Götter (Il. 5.401 f., 899 f.; Od. 4.231 f.). Paian wird erst seit Aischylos (Ag. 146) und Sophokles (OT 154) mit Apollon in Verbindung gebracht (Usener 42000, 153–155; Edelstein/Edelstein II 1945, 56). Es handelt sich hierbei um eines der so wenigen, in der Sektion der Iamatika verwendeten Epitheta für einen der genannten Heilgötter (nur noch in 95.7: Πύθι’ Ἄπολλον). Seit Aristophanes (Pl. 636) und in hellenistischer Zeit wird Asklepios als Paian tituliert, s. z. B. Herondas IV 1.11.81 f.85; Nic. Ther. 686; IG II24514.22 f.; IG IV2 I 125.11; Isyllos von Epidauros IG IV² I 128.66; s. auch einen Refrainvers des Erythräischen Paian-Liedes aus dem 4. Jh. v. Chr. (ἰὴ Παιάν Ἀϲκλαπιόν); dazu Käppel 1992, 372–374 und 193 f. — εὐ[± 11ω]δυνοϲ̣ :̣ Die auf ‚εὐ‘ folgende Textlücke umfasst ca. 11 Buchstaben. Fast alle (außer Lapini 2003b u. 2007, Gärtner 2006 und Ferrari per litt.) ergänzen am Anfang plausibel εὔνοον: Das passt zu den Konventionen der Aretalogie des Heilgottes Asklepios, der auch ikonographisch als mild und freundlich dargestellt wird. Di Nino 2010, 232 verweist auf Hippokr. epid. 15.6–9 zur indirekten Bestätigung. In der Lücke selbst scheint ἐπώδυνοϲ, ‚schmerzgeplagt‘, als kontrastive Junktur zum wohlwollenden Gott am plausibelsten zu sein (im Sinne des hier metrisch nicht möglichen περιώδυνοϲ). So zuerst Livrea 2002, 61–77. Ähnlich ist Nic. Ther. 326: ὀλοὸν καὶ ἐπώδυνον […] ἕλκοϲ. Dagegen würde ἀνώδυνοϲ, ‚schmerzfrei‘ (so in ed. pr. 2001, 225), den erst ab Ende von V. 3 beschriebenen Traumheilungserfolg unpassend vorwegnehmen. Es entspräche nicht den für den Heilschlaf üblichen Gegebenheiten, bei der incubatio bereits schmerzfrei zu sein – diese hätte sich ja dann erledigt. — ἐπ̣’ ὀ̣νείρωι: Trotz der Textlücke im selben Vers (s. o.) wird hiermit klar, dass Archytas einen Heilschlaf in einem Asklepieion unternommen und dort im Traum eine Epiphanie des Gottes erlebt hat. Vgl. 36.3 κατ’ ὄνειρον mit Anlehnung an das vor allem in Lebena auf Kreta gebräuchliche καθ’ ὕπνον, z. B. I. Cret. I, XVII Nr. 9 S. 160, Z. 4; ebd. Nr. 14 A S. 164 Z. 4; dazu Melfi 2007, 110. V. 4 ……]εν: Die vielfach vorgeschlagene Ergänzung ἐξέφυγεν ist sehr wahrscheinlich: Sie wurde in Anlehnung an 96.4 (τὸ πολυχρόνιον δέμνιον ἐξέφυγε) vorgenommen; überdies würde diese Form grammatikalisch den Akkusativ τὸν πολὺν κάματον gut erklären und findet sich häufig in der griechischen medizinischen Literatur. Dazu van Brock 1961, hier v. a. 221. — κάματον: ‚Mühe‘ ist als Äquivalent zur Krankheit zu verstehen (vgl. 97.3).

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Rekonstruktionsvorschlag ἓξ ἔτη Ἀρχύταϲ ὀλοὸν χάλκευμα φυλάξαϲ ἐν μηρῶι μιαρῶϲ πυθομένην ἀμυχήν, Παιάν, ϲ’ εὔνοον εἶδεν ἐπώδυνοϲ, ὡϲ ἐπ’ ὀνείρωι τὸν πολὺν ἰηθεὶϲ ἐξέφυγεν κάματον. Nachdem Archytas in seinem Schenkel sechs Jahre lang ein tödliches Stück Bronze und damit schmerzvoll eine eitrige Wunde bewahrt hatte, sah dich, Paian, wohlwollend der Schmerzgeplagte; denn während eines Traumes entkam er geheilt der lang andauernden Qual. Mit Blick auf parallele Fälle in den Iamata aus Epidauros handelt es sich zunächst bei Archytas’ Wunde um eine schlimme Kriegsverletzung. Im Körper stecken gebliebene Waffenteile werden von Asklepios in Epidauros den Iamata-Inschriften zufolge des Öfteren über Nacht entfernt. Solche Iamata werden von Poseidipp als Prätexte evoziert, wie die enge Modellierung dieses Epigramms nach den inschriftlichen Modellen aus Epidauros zeigt.63 Das kann als möglicher Hinweis auf das Asklepieion in Epidauros als Ort dieser Wunderheilung gelten. Der Umstand, dass Archytas das bronzene Teil, das ihn verletzt hat, so lange im Schenkel hatte, legt nahe, dass es sich um einen eher tiefen Einschluss der Bronze im Schenkel handelt, der operativ nicht ohne Weiteres zu entfernen ist und nur durch Traumschlaf geheilt werden kann. Das geschieht durch Paian schnell und leicht, über Nacht im Schlaf. Soweit der erste Eindruck. Das Archytas-Epigramm bietet jedoch auch die Möglichkeit einer ironischen Lektüre. Denn sollte es sich bei der lange schwärenden Wunde des Archytas tatsächlich nur um eine oberflächliche Verwundung handeln (so eine Bedeutungsvariante von ἀμυχή), erscheint nicht nur das chronische Leiden des Archytas übertrieben, sondern auch die Heilung durch den Heilgott im Traum. Mit Blick auf den Wortgebrauch und Junkturen wird deutlich, dass Poseidipp hier χάλκευμα als ein ausgesprochen seltenes Nomen mit ὀλοόϲ, einem in hellenistischer Zeit nicht gebräuchlichen Adjektiv, verbindet. Durch diese beiden Begriffe (‚todbringende Bronzewaffe‘) wird freilich ein episch-tragischer, heroischer Kontext evoziert, in dem Archytas seine Verletzung erhalten hat. Derartige heroische Assoziationen würden freilich durch eine Ritzwunde konterkariert. Das ist ebenso der Fall, wenn der so heldenhafte Archytas, der, im Kampf verwundet, seine Wunde lange nicht kuriert (gesetzt, im Text steht wirklich φυλάξαϲ), bis sie schließlich eitert und sich dann erst an den Heilgott wendet, am Ende – wenn die Konjektur stimmt – ‚flieht‘, kurz: seine heroische Stigmatisierung durch die Wunde verliert und vom Helden zum gewöhnlichen Menschen wird. Archytas’ Heilung wirft vor einem solchen Hintergrund wenig ruhmreiches Licht auf Paian, der (nur) Kratzer und oberflächliche Verwundungen zu heilen imstande wäre. Aber auch Archytas’ heldenhafter Nimbus, evoziert durch seinen sprechenden Namen (‚Erzkrieger‘) sowie durch χάλκευμα ὀλοόν, wäre ironisiert. Die Doppeldeutigkeit auch dieses Epigramms ist vermutlich intendiert: Die Wunderheilung des Archytas über Nacht sowie die fragwürdige Schwere seiner Verletzung lassen spöttische Distanz zum alten heroischen Heldengestus ebenso wie zum Wunderwirken des Paian durchscheinen.

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Ähnlich Di Nino 2010, 230, 234.

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99 Das Epigramm thematisiert die Spontanheilung eines tauben Mannes aus Kreta, der nach einem Gebet an Asklepios plötzlich sogar ein außerordentlich gutes Gehör hat. Der Text muss an zwei Stellen (V. 1 und 2) ergänzt werden, der Inhalt ist im Wesentlichen aber klar. XV 11 ὁ Κρὴϲ κωφὸϲ ἐὼν αϲκ.[….].οιοϲ ἀκούειν 12 αἰγιαλῶν †οιοϲ† μηδ’ ἀνέμων̣ πάταγον, 13 εὐθὺϲ ἀπ’ εὐχωλέων Ἀϲκληπιοῦ οἴκαδ’ ἀπή‹ι›ει, 14 καὶ τὰ διὰ πλίνθων ῥήματ’ ἀκουϲόμενοϲ.

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11 Ἀϲκλ̣[ᾶϲ ed. pr., min.  μη]δ̣’ οἷοϲ ed. pr., min. (Gronewald 2004, Di Nino 2004a, Russo 2009) : μὴ] δ̣οιὸν Gronewald 1993 : μὴ] τοῖοϲ Lapini 2002 : μη]δ̣’ ὠϲὶν De Stefani 2002 : μη]δ̣’ ἦχον Handley 2004  12 -ῶν ‹δ›οιὸν Gronewald 1993 : -ῶν ἦχον Gigante 1993 (et Di Nino 2004a) : -ῶν οἶοϲ Voutiras 1994 : -οῖο ῥόθον Angiò 1996 : -ῶν δοῦπον vel ῥόχθον Austin 2001a : -οῦ ῥόθιον ? ed. min. : -ῶν οἷοϲ Lapini 2002 (Handley 2004, Russo 2009) : -ῶν ὅϲ‹ϲ›οϲ Gronewald 2004 : -ῶν ‹ῥ›οῖ‹ζ›ον Russo 2009  πάταγοϲ Gronewald 2004  13 απηει P

Der Kreter (Asklas?) taub […] (imstande) zu hören das Tosen des Meeres […] noch das Dröhnen der Winde, ging unmittelbar nach den Gebeten an Asklepios nachhause, um sogar die durch Lehmziegelmauern gesprochenen Worte zu hören. V. 1 ὁ Κρὴϲ … αϲκ.[….].: Bislang wurde in jedem der Iamatika-Epigramme der Eigenname des Geheilten ausdrücklich genannt. Daher ist es plausibel, mit ed. pr. und ed. min. hier den Eigennamen Ἄϲκλαϲ anzunehmen. Dieser ist zwar nicht für Kreta, wohl aber für die Magna Graecia und den Ägäis-Raum gut dokumentiert (LGPN I 90; IIIa 80 Asklas). Ein weiterer Kreter ist in den Tropoi, 102.3 f., erwähnt. Kreter, die in Epigrammen genannt werden, finden sich z. B. bei Leonidas von Tarent (AP 6.188.1: ὁ Κρὴϲ Θηρίμαχοϲ), Kallimachos (AP 7.447.2: Θῆριϲ […] Κρήϲ) oder Simonides (AP 7.254b.1: Κρὴϲ γενεὰν Βρόταχοϲ). Die Herkunftsangabe des Geheilten legt dessen Besuch im Asklepieion zu Lebena auf Kreta nahe. Der Name ‚Askl-as‘ spiegelt die Verbundenheit seines Trägers zum Heilgott Asklepios bereits durch den gleichen Namensbeginn (Askl-). Auf einem Votivrelief aus Melos (1./2. Jh. n. Chr.) steht – platzbedingt – nur der erste Teil des Namens des ‚Asklepios‘ in der ersten Zeile (ΑϹΚΛΗ). Mit Blick auf μηδ’ in V. 2 liegt es nahe, auch in V. 1 in der Textlücke μηδ’ (elidiert) anzunehmen. V. 2 †οιοϲ†: Hier ist der Text verderbt, vermutlich handelt es sich um eine ‚Echoschreibung‘ (Wiederholung von οιοϲ aus V. 1). Zu ergänzen ist wohl ein Substantiv, das ein lautes, strandtypisches Geräusch, analog zu πάταγον am Ende von V. 4 im Akk. Sg., beschreibt (etwa ῥόχθον oder ῥόθιον, δοῦπον oder ἦχον), s. ed. pr. und Pozzi 2006, 191. V. 3 εὐθὺϲ ἀπ᾿ εὐχωλέων: Eine sofortige Heilung scheint auch in der (schwer lesbaren) epidaurischen Inschrift IG IV² I 123.134 (ἐξαπίναϲ) zu stehen. εὐχωλή ist die ionisch-epische Form von εὐχή, so Schol. Hom. Il. 1.65. Dazu auch Di Nino 2010, Anm. 321. Der Kreter ist bereits vor dem Heilschlaf, direkt nach seinen Gebeten an Asklepios, geheilt worden. Zur Plötzlichkeit der

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Wunderheilungen Weinreich 1909, 197 f. — ἀπήιει: Erinnert noch in der sprachlichen Variation an die in den Iamata-Inschriften aus Epidauros und Lebena verbreitete Wendung ὑγιὴϲ ἐγένετο (z. B. IG IV² I 121 f. u. ö.; I. Cret. I, XVII 11), dazu Di Nino 2004a, 63–66 und Melfi 2007, 110. V. 4 καὶ … διὰ πλίνθων: καί hat hier intensivierende Funktion. Der Geheilte kann nun sogar durch Lehmziegelmauern hören, d. h. durch Mauern, die Mithören oder gar Mitlauschen eigentlich unmöglich machen. — ἀκουϲόμενοϲ: greift ἀκούειν aus V. 1 wieder auf. Die durch das Partizip Futur ausgedrückte Intention des nunmehr geheilten Kreters ist nicht ohne Humor formuliert; so auch ed. pr. 2001, 226. Zanetto 2002b, 75 verweist auf Hipponax fr. 42b.2 f. Degani (= 32.4 –6 West: χρυϲοῦ ϲτατῆραϲ ἑξήκοντα τοὐτέρου τοίχου), wo ebenfalls mit dem Verweis auf die ‚Mauer‘ des Nachbarn ein Übergriff anklingt. Rekonstruktionsvorschlag ὁ Κρὴϲ κωφὸϲ ἐὼν Ἄϲκλαϲ μηδ’ οἷοϲ ἀκούειν αἰγιαλῶν ῥόθιον μηδ’ ἀνέμων πάταγον, εὐθὺϲ ἀπ’ εὐχωλέων Ἀϲκληπιοῦ οἴκαδ’ ἀπήιει, καὶ τὰ διὰ πλίνθων ῥήματ’ ἀκουϲόμενοϲ. Der Kreter Asklas war taub und daher weder imstande, das Tosen des Meeres am Strand noch das Dröhnen der Winde zu hören, unmittelbar nach seinen Gebeten an Asklepios ging er nachhause, um sogar die durch Lehmziegelmauern gesprochenen Worte zu hören. Dieses Epigramm thematisiert die Heilung eines Tauben. Den inschriftlichen Iamata zufolge geschah das ausgesprochen selten. Belege aus Epidauros finden sich überdies erst seit der frühen Kaiserzeit.64 Der taube Kreter Asklas wird ungewöhnlich schnell von Asklepios von seiner Taubheit erlöst, als er bei seinem Aufenthalt in einem Asklepieion, vermutlich seiner Herkunft entsprechend auf Kreta (vielleicht sogar in Lebena), betet. Das Gebet gehört rituell in eine frühe Phase des Aufenthaltes eines Kranken im heiligen Bezirk des Heilgottes (s. Einl. zur Sektion). Asklas wird also noch vor dem Heilschlaf und sogar noch vor dem Voropfer an den Gott bereits beim Beten gesund (vgl. 96.3: beim Opfer). Dieses Heilungswunder beschreibt somit eine extreme Steigerung der ohnehin schon bekannten Heilungsdynamik des Asklepios im Falle des Asklas, der diesem vielleicht aufgrund seines (ähnlich klingenden) Namens besonders gewogen ist. Asklepios erhört Asklas und schenkt ihm Gehör. Ungewöhnlich ist auch der extreme Effekt dieser Blitzheilung. Der Kontrast zwischen Anfang und Ende des Epigramms könnte nicht größer sein: Zuerst kann der Taube selbst sehr laute Geräusche nicht hören, am Ende hat er ein ungewöhnlich feines Gehör. Die subversive Pointe des Dichters bietet drei Interpretationsmöglichkeiten: Die eine liegt darin, dass der vormals Taube nach der Spontanheilung mit dem Ziel nachhause geht, andere, etwa seine Nachbarn, zu belauschen. Hat sich etwa in der Zeit seiner Taubheit so viel Misstrauen und Informationsdefizit bei Asklas angehäuft, dass er das nun durch unhöfliches Mithören oder gar spitzelhaftes Abhören ausgleichen will? Das würde bedeuten, dass Asklas nicht gerade ein guter oder vertrauenswürdiger

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S. IG IV² 440 = W 78 Herzog; vgl. IG IV² 127 = W 80 Herzog; dazu Weinreich 1912, 63–68.

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Mensch ist, den Asklepios aber durch seine überstürzte Heilung unterstützt hätte. Das wirft kein gutes Licht auf Asklepios. Die zweite mögliche Deutung wäre, dass die extreme Umkehrung in der Hörfähigkeit des Asklas als ironisch-komisches Zuviel des Gottes gelten darf, sich fast wie ein ‚Fluch‘ für den Genesenen auswirkt: Der Gott hat das rechte Maß verfehlt, Asklas hört jetzt zu viel.65 Auch ein solches Übermaß im Heilungseffekt wirft ein ironisches Licht auf den wundertätigen Asklepios. In jedem Fall aber werden der humorvoll beschriebene Effekt dieser Heilung wie auch das übertriebene Tempo derselben ironisch präsentiert.66 Eine dritte Interpretationsmöglichkeit eröffnet sich, wenn man die plötzliche Heilung des Asklas überhaupt in Frage stellt: Demnach müsste Asklas zu den notorisch lügenden Kretern gerechnet werden, auf die auch Poseidipps Zeitgenosse und Dichterkollege Kallimachos anspielt (Kallim. Iov. 8: Κρῆτεϲ ἀεὶ ψεῦϲται; gewöhnlich wird dieses Zitat auf den Kreter Epimenides zurückgeführt; s. Pfeiffer 1953, 1 im textkritischen Apparat). Entweder wäre dann die Taubheit des Asklas vor der Heilung durch Asklepios gelogen oder das vermeintlich phänomenale Hörvermögen danach. In jedem Fall erschiene das Wirken des Asklepios dann belanglos. 100 Das Epigramm thematisiert die Spontanheilung eines seit 25 Jahren erblindeten alten Mannes namens Zenon. Zwei Tage danach stirbt dieser. XV 15 ἡνίκ’ ἔδει Ζήνωνα τὸν̣ ἥ̣ϲυχον ὕπνον ἰαύειν, 16 πέμπτον ἐπ’ εἰκοϲτῶ̣ι τυφλὸν ἐόντα θέρει, 17 ὀγδωκο̣ν̣τ̣α̣έ̣τ̣η̣ϲ ὑγιὴ̣ϲ γένετ’, ἠέλιον δέ 18 δὶϲ μοῦ̣[ ± 11 ]ν̣ βαρὺν εἶδ{ε} Ἀΐδην.

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18 μοῦ̣[νον βλέψαϲ τὸ]ν̣ ed. pr., min. (Di Nino 2004a) : μοῦ̣[νοϲ Hutchinson 2002 : δὶϲ μοῦ̣[νοϲ καὶ δὶϲ τὸ]ν̣ Lapini 2002  Ἀϲκληπιέ in lacuna vel Παιά]ν̣ Pozzi 2006  βαθὺν Parsons apud Hutchinson 2002

Als Zenon den ruhigen Schlaf schlafen musste, im 25. Jahr blind, wurde der 80-Jährige gesund, die Sonne aber zweimal […] sah er den schlimmen Hades. V. 1 ἡνίκ’ ἔδει: Diese Wendung erlaubt zwei Deutungen: Zenon wird wieder sehend, a) als er, dem Ritus entsprechend, nach Absolvierung von Gebet und Opfer sich in die Schlafhalle zum Heilschlaf begeben musste oder b) als er den Heilschlaf hätte vollziehen müssen, d. h. just zum Zeitpunkt, als er sich in die Schlafhalle hätte begeben müssen (vgl. 132.2). In diesem Fall stünde allein die Plötzlichkeit der Wunderheilung im Vordergrund. Mit Blick auf die Bedeutung der Junktur ‚den ruhigen Schlaf schlafen‘ (s. u. und Interpret.) ist Deutung a) vorzuziehen. — Ζήνωνα: Dieser Name ist weit verbreitet (z. B. LGPN I 194 f.). Eine Identifizierung dieses Zenon mit Zenon von Kition, dem Gründer der Stoa, den Poseidipp in AP 5.134.3 = HE

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Bing 2004, 289; ders. 2009, 230 f. Karanjka 2009, 52.

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3056 nennt, scheitert vordergründig an der mangelnden Kongruenz mit den überlieferten biographischen Nachrichten über den Stoiker: Ein Augenleiden oder gar chronische Blindheit werden nicht erwähnt (s. Diog. Laert. 8.28). Sicherlich ist jedoch die Anspielung an den gleichnamigen zeitgenössischen Stoiker Zenon (333–264 v. Chr.), den Poseidipp auch an anderer Stelle verspottet (z. B. 123 = AP 5.134), intendiert (dazu Garulli 2011, 1473–1475). Am Rande sei darauf verwiesen, dass der Stoiker Zenon u. a. eine Schrift mit dem Titel περὶ ὄψεωϲ verfasst hat (Diog. Laert. 7.4). In jedem Fall wird ein frei assoziatives Spiel mit dem sprechenden und programmatischen, akustisch an ‚Leben‘ (ζῆν) anklingenden Namen ‚Zenon‘ erkennbar. — τὸν̣ ἥ̣ϲυχον ὕπνον ἰαύειν: Während sich die Junktur ὕπνον ἰαύειν häufig in (Grab-)Inschriften findet (z. B. GV 455.1; 1874.7; vgl. auch AP 7.156.5 und GV 1678.3), ist die Junktur ἥϲυχον ὕπνον neu. Di Nino 2010, Anm. 340 verweist auf Anakr. fr. 86.2 Page: ἥϲυχοϲ κατεύδει. Ähnlich sind Eur. Or. 185 f. und Mel. AP 5.151.3 f.: ἥϲυχον ὕπνωι εὕδειν. Zusätzlich wäre zu nennen Phld. ep. 3 Sider = AP 9.570, ein vielschichtiges Spiel um den Todesschlaf; dazu Männlein-Robert 2007, 255 f. Vordergründig spielt Poseidipp sicherlich auf den Heilschlaf in einem Asklepios-Heiligtum an. Vor allem das Athenische Asklepieion war für die Kurierung von Augenleiden berühmt, wie entsprechende Votivgaben dort beweisen; dazu Gladigow 1995, 355 und van Straten 1981, 149 f. Zugleich klingt in der Textur dieser Wendung die altbekannte Nähe von Schlaf und Tod an (z. B. Hom. Il. 11.241; 16.672; Hes. theog. 211 f.,756,758 f.; auch Lucr. 3.921 und Verg. Aen. 4.278). V. 2 πέμπτον ἐπ᾿ εἰκοϲτῶ̣ι … θέρει: Die Dauer der Erblindung, 25 Jahre, ist ungewöhnlich lang (vgl. oben 97 und 98: sechs Jahre). Zu der im Attischen äußerst seltenen Formulierung der Zeitangabe, die sich auch in einer Inschrift aus Ägypten findet (SEG 2.874.4), s. Di Nino 2010, 243. — τυφλὸν ἐόντα: Augenleiden und Blindheit werden in den Iamata aus Epidauros und auch in anderen Quellen relativ häufig genannt, z. B. bereits Aristoph. Pl. 400– 414; z. B. IG IV² I 121.34 – 41 (W 4 Herzog); 72–79 (W 9 Herzog); eine ausführliche Liste der Belege bietet z. B. Girone 1998, Anm. 156. V. 3 ὑγιὴ̣ϲ γένετ’: Diese Wendung entspricht der in den epidaurischen Iamata üblichen finalen Formulierung ὑγιὴϲ γένετο nach einer (Wunder-)Heilung durch göttliche Einwirkung: S. z. B. IG IV² I 121.47 f. (W 5 Herzog); 94 (W 11 Herzog), 102 (W 13 Herzog); Di Nino 2004a, 66 f. und 2010, 244. Zu den Sanides aus Lebena mit dieser Wendung s. Melfi 2007, 110. Sie ist überdies auch in der hippokratischen Literatur etabliert, dazu van Brock 1961, 158–160; s. ed. pr. 2001, 227. Ein epidaurisches Iama (IG IV² 952) thematisiert ebenfalls die wundersame Heilung eines Blinden, der, als er für die Heilung nicht bezahlen wollte, von Asklepios erneut mit Blindheit geschlagen und erst nach Zahlung des Geldes endgültig geheilt wurde. V. 4 δὶϲ μοῦ̣[± 11]ν̣: Die von Di Nino 2010, 242 f. im Anschluss an die ed. pr. 2001, 227 vorgeschlagene Ergänzung der Textlücke, nach ergänztem μοῦνον βλέψαϲ zu setzen, ist plausibel, da etliche Phrasen überliefert sind, in denen βλέπειν im Kontext von Blindheit genannt ist (ebd.). — βαρὺν εἶδ’ Ἀΐδην: Dieselbe Wendung findet sich auch in epigraphischem (GV 771.1 = Steinepigr. I 05/01/40 S. 527; GV 1265.1) wie literarischem Kontext (Apollonid. AP 7.180.5 f.). Eine sehr schöne Parallele im Wortgebrauch bieten die epidaurischen Iamata mit IG IV2 I 121.125 = nr. 20 Edelstein: Dort wird ein blinder Junge als ἀιδήϲ bezeichnet.

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Rekonstruktionsvorschlag ἡνίκ’ ἔδει Ζήνωνα τὸν ἥϲυχον ὕπνον ἰαύειν, πέμπτον ἐπ’ εἰκοϲτῶι τυφλὸν ἐόντα θέρει, ὀγδωκονταέτηϲ ὑγιὴϲ γένετ’, ἠέλιον δέ δὶϲ μοῦνον βλέψαϲ τὸν βαρὺν εἶδ’ Ἀΐδην. Als Zenon den ruhigen Schlaf schlafen musste, – 25 Jahre war er schon blind – wurde der 80-Jährige gesund; nachdem er aber die Sonne nur zweimal erblickt hatte, sah er den schlimmen Hades. Der 80-jährige Zenon erlangt nach 25 Jahren Blindheit durch ein Heilungswunder seine Sehkraft wieder, stirbt aber zwei Tage später.67 Die ungewöhnliche Junktur τὸν ἥϲυχον ὕπνον ἰάυειν in Verbindung mit ἔδει (V. 1) macht es wahrscheinlich, dass Zenon einen Heilschlaf in einem Asklepieion – vielleicht dem in Athen – zu absolvieren hatte.68 Da in jedem der anderen Iamatika-Epigramme eine göttliche heilende Macht nicht nur genannt, sondern zumeist sogar apostrophiert wird, wäre eine epideiktische wundersame Selbstheilung nicht nur unwahrscheinlich, sondern auch ohne Parallele.69 Zum anderen handelt es sich bei der Junktur τὸν ἥϲυχον ὕπνον ἰάυειν über die implizite Anspielung auf den Heilschlaf hinaus um eine euphemistische Periphrase für ‚Sterben‘. Durch die Iuxtaposition des sprechenden, an das ‚Leben‘ anklingenden Namens ‚Zenon‘ entsteht ironische Spannung. Das Sterben des hochbetagten Zenon beginnt also mit dem ‚ruhigen‘ Heilschlaf in einem Asklepieion und kann auch durch die kurzfristig effektive Heilung bzw. Rückgewinnung seiner Sehkraft nicht aufgehalten werden. Die Wendung ist somit ambivalent, sie rückt das Epigramm in den Kontext der durch Asklepios bewirkten Wunderheilungen über Nacht, verweist aber zugleich auf den nahenden Tod des alten Mannes (vgl. z. B. Myrin. AP 6.254.2). Damit zeichnet sich bereits in V. 1 dieses Heilungsepigramms eine elegante Verschiebung hin zum Grabepigramm ab. Doch Asklepios’ Heilungserfolg wird einmal mehr subtil unterlaufen: Es gibt eine göttliche Instanz, die mächtiger ist als Asklepios, nämlich Hades.70 Die Ironie der Zenon-Geschichte liegt (ähnlich wie die des Soses in 97) darin, dass die Patienten des Asklepios, selbst die Geheilten, alle irgendwann einmal sterben. Die einen später und die anderen, wie Soses und Zenon, eben früher. Es ist vor allem der letzte Vers, der den Heilungserfolg des Asklepios und die Gesundung des 80-jährigen Zenon rückwirkend ironisiert, für den wohl aus Altersgründen die göttliche Hilfe zu spät kam. Mit der Nennung des Hades am Ende von V. 4 ergibt sich ein scharfer Kontrast zu der Ende V. 3 erwähnten Sonne, die Zenon gerade noch zweimal sehen konnte. Somit zeichnet sich für Zenon nach 25 Jahren Blindheit, einem Leben im Dunkel, mit dem Sehen der Sonne für zwei Tage ein kurzer Höhepunkt ab, der sogleich vom Sehen des Hades abgelöst wird. Die räumliche Diskrepanz des Sehens von Sonne (oben am Himmel) und Hades (unter der Erde) sowie die zeitliche Diskrepanz von 25 Jahren Blindheit, zwei Tagen Sehens und ewigem 67 68 69 70

Eine Liste sonderbarer Todesfälle bietet GG, Anm. 150; 152 usw.; ausführlich Di Nino 2006a, Anm. 4. Bing 2004, Anm. 4 und 288. Vgl. aber Di Nino 2010, 247 f., die hier von einer völligen Absenz des Asklepios ausgeht. Asklepios unterliegt z. B. auch Zeus, als dieser ihn nach seiner Totenerweckung durch einen Blitz tötet, Hes. fr. 51 Merkelbach-West; Pind. Pyth. 3.55 f.

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Dunkel könnte nicht größer sein: Licht und Dunkel sowie Leben und Tod lösen hier in dichter Folge einander ab. Wenn Zenon am Ende Hades sieht, sieht er – konkret verstanden – einen Gott. Im Kontext von inschriftlichen Iamata ist vielfach die Rede davon, dass der Kranke den Heilgott oder eine seiner symbolhaften Erscheinungsformen (Schlange, Hund o. Ä.) sieht und geheilt wird. Die Ironie im Falle Zenons liegt nun darin, dass der Gott, der hier explizit gesehen wird, nicht der Heilgott, sondern der Totengott Hades ist, mit dessen Namen verschiedene etymologische Assoziationen evoziert werden: Hades ist selbst unsichtbar (Hes. asp. 477; Plat. Phaid. 79a); im Hades ist nichts zu sehen (Plat. Krat. 403a), dort kann man auch selbst nicht gesehen werden (Plat. Gorg. 493b4; Ps.-Plat. Ax. 365c6); Hades ist selbst blind (so LSJ, IG IV2 I 121.125). Sei es, dass der nun sehende Zenon den selbst blinden Hades sieht, sei es, dass Hades den nun sehenden Zenon wieder blind macht: In jedem Fall stellt der Name Zenons, der im ersten Vers fällt, mit seinem an ‚Leben‘ (ζῆν) anklingenden Namensprogramm einen spannungsvollen Gegensatz zu Hades dar, der den letzten Vers des Epigramms abschließt. Asklepios mag Wunder wirken – das letzte Wort behält der Tod. 101 Das Epigramm ist ein Bittgedicht an Asklepios, in dem sich der Sprecher im rechten Maß Reichtum und Gesundheit wünscht. Abgesehen von einigen schwer lesbaren Buchstaben im ersten Vers und einer vielleicht auf einem Hörfehler beruhenden Verschreibung in V. 3 ist der Wortlaut des Textes gesichert. XV 19 ὄλβον̣ ἄ̣ρ̣ι̣ϲ̣τ̣ο̣ϲ̣ ἀ̣ν̣[ήρ], Ἀ̣ϲκληπιέ, μέτριον αἰτεῖ 20 – ϲοὶ δ’ ὀρέγειν πολλὴ βουλομένωι δύναμιϲ – 21 αἰτεῖται δ’ ὑγίειαν, ἄκη δύο· ταῦτα γὰρ εἶναι 22 ἠθέων ὑψηλὴ φαίνεται ἀκρόπολιϲ.

1 2 3 4

21 υγιηαν P  ἄκη δύο ed. pr., min. : ἀκηδέα Gärtner 2006 (v. Schröder 2008)

Reichtum verlangt der beste Mann, Asklepios, maßvollen – dir aber ist es, wenn du willst, leicht möglich, ihn zu gewähren –, für sich erbittet er aber Gesundheit: zwei Heilmittel; diese nämlich scheinen eine hocherhabene Akropolis für die Sitten zu sein. V. 1 ὄλβον̣ … μέτριον: Gemeint ist hier Segen, der vor allem materiell konnotiert ist. Zum moralischen Grundsatz, nichts im Extrem, sondern alles im rechten Maß haben zu wollen, s. v. a. Aristoteles, NE 2.1106b22 f. Da in V. 3 Reichtum und Gesundheit zusammen (so mit Bing 2004, 291 und Gutzwiller 2005, 292) als wichtigste ἄκη genannt sind, muss das Adjektiv μέτριον auch auf ὑγίειαν in V. 3 (Gesundheit) – eben im richtigen Maß – bezogen werden. Di Nino 2010, 253 verweist auf ein anonymes Gedicht (PMG 890), das Gesundheit und Reichtum zusammen zu den vorzüglichsten Gütern zählt. — ἄ̣ρ̣ι̣ϲ̣τ̣ο̣ϲ̣ ἀ̣ν̣[ήρ]: Der Text ist an dieser Stelle kaum zu entziffern. Die Editoren der ed. pr. entschieden sich 1993 zuerst für einen (sehr hypothetischen) Eigennamen (Aristomenes oder Aristokles), in der ed. pr. für die formelhafte Wendung ἄριϲτοϲ ἀνήρ; s. den Komm. in ed. pr. 2001, 228. Die Wendung ἄριϲτοϲ ἀνήρ erinnert an Homer, z. B. Il. 1.69 (über Kalchas); 1.91 (Agamemnon), 1.410 (Achill),

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11.288 (Hektor über Achill), 13.433; 16.521; 23.536; 24.384 usw.; aber auch z. B. Eur. Herakl. 105; Eur. fr. 572.3 Kannicht; Men. Mon. 32 Jäkel. Sollte diese Lesart richtig sein, wäre auf das seit homerischer Zeit etablierte aristokratische Ideal einer umfassenden Exzellenz angespielt, dazu Nagy 1979, 32–34. V. 2 πολλὴ βουλομένωι δύναμιϲ: Die Dynamis eines Gottes wird traditionell und konventionell in Hymnen oder hymnisch stilisierten Texten gepriesen, z. B. Hom. Od. 4.237; Hes. theog. 420; Pind. Nem. 7.96 f.; Kallim. Ap. 29; Del. 226 usw. In den Iamata-Inschriften ist dasselbe Phänomen der göttlichen Macht und Möglichkeit vielfach mit ἀρετή beschrieben: IG IV² I 125.2; 128.57,79; ICret. I XVII 19.10; IGUR I 148.5. An dieser Stelle spielt der Sprecher auf die reichen finanziellen Mittel an, die sich im Umkreis des Asklepios-Kultes häuften. Die Ärzte wie die Priester des Asklepios verlangten von den Kranken bzw. Gläubigen streng vorgeschriebene Opfergaben und verfügten daher über erhebliche finanzielle wie materielle Ressourcen (vgl. 95, wenn der Arzt Medeios Apollon eine kostspielige Bronze stiftet). Der Reichtum von Priestern und Ärzten sowie deren Geldgier wird bereits von Pindar kritisiert (Pyth. 3.54). Hübsch in diesem Kontext ist Kallim. AP 6.147: Dort geht es um eine Tafel (Pinax), die nicht dem Preis des Gottes gilt, sondern als Dokumentation einer bereits erfolgten ex-voto-Zahlung fungiert, also dem ‚Vergessen‘ des Asklepios entgegenwirken soll. Dazu Edelstein/Edelstein II 1945, 174; Pohl 1905, 67–79. V. 3 αἰτεῖται δ’ ὑγίειαν: Möglicherweise beschreibt das Medium in V. 3 ein größeres Eigeninteresse bei der Bitte um Gesundheit. Allerdings kann es sich auch nur um eine Variation metri causa handeln, denn der Inhalt ist in beiden Fällen ‚verlangen‘, ‚bitten‘. Hier erfolgt eine Anspielung auf das vielfach parodierte ‚Reich-und-Gesund-Ideal‘, die πλουθυγίεια, des Aristophanes, z. B. Eq. 1091, V. 677, Av. 731; weitere Belege in ed. pr. 2001, 227 f.; s. Heberlein 1980, 130–134. — ἄκη δύο: Die vorgeschlagene Konjektur ἀκηδέα ist durch den Textbefund nicht gefordert, sie ändert den Sinn nicht erheblich. Besser passt das überlieferte ἄκη, da Heilmittel im Kontext des gepriesenen Heilgottes Asklepios plausibler sind. Hier sind die Heilmittel – Reichtum und Gesundheit – im übertragenen Sinn zu verstehen. V. 4 ἠθέων: Gemeint sind hier Sitten und Verhaltensweisen, die den Menschen prägen, seinen Charakter ausmachen. Damit könnte ein impliziter Verweis auf die unmittelbar folgende Sektion der Τρόποι gegeben sein. Diese fassen thematisch – soweit das der schlechte Erhaltungszustand kenntlich werden lässt – der Komplexität ihres Titels entsprechend ‚Wendungen‘, ‚Wege‘, ‚Sitten‘, ‚Charaktere‘, ‚Stilfiguren‘ ein. Poseidipp verwendet diesen Begriff im Singular in der Sektion der Andriantopoiika (63.7) für die charaktervolle Darstellung des alten Philitas in Bronze. Falls Poseidipp mit dieser Junktur intertextuell auf eine entsprechende Wendung in Platons Nomoi anspielen sollte (XI 924d6 f.: βλέπων εἰϲ ἤθη τε καὶ τρόπουϲ; s. Tropoi), würde er den Schlussvers der Iamatika-Sektion über den Begriff ἤθη konzeptuell eng mit dem folgenden, inhaltlich verwandten Interlineartitel Τρόποι verbinden. — ὑψηλή: Dieses Adjektiv findet sich bei Poseidipp noch weitere zwei Mal: In 20.1 wird die ‚hochaufragende Stadt Helike‘ (ebd.: ὑψηλὴν Ἑλίκην) genannt, die nach dem Willen des Poseidon im Meer unterging; in 53.3 stürzt sich Kalliope bei einem Fest vom Dach eines Hauses herab (ebd. ὑψηλοῦ τέγεοϲ). In jedem Fall wird damit die Höhe vor dem Fall bezeichnet (s. Interpret.). — ἀκρόπολιϲ: Die singuläre Wendung hat sicherlich metaphorische Bedeutung: Gemeint ist ‚das Wichtigste‘ bzw.

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‚das Zentrale‘, kurz das, worauf es wirklich ankommt; vgl. Plat. rep. 8.560b7 f.: τῆϲ ψυχῆϲ ἀκρόπολιν (die Burg in der Seele); Tim. 70a6 (Vernunft in der Seele als ‚Akropolis‘, von der Befehle ausgehen); Aristot. part. an. III 7 S. 670 a 23–26: καρδία […] ὥϲπερ ἀκρόπολιϲ οὖϲα τοῦ ϲώματοϲ; rhet. Alex. 1 p 1421a1; später auch Tabula Cebetis 21.1–3 (‚Akropolis‘ als Inbegriff der Glückseligkeit: Eudaimonia); Ps.-Iamblich, theol. arithm. 44. Eine Akropolis ist immer auch ein sichtbarer, aufragender Ort des Schutzes ebenso wie ein Ort der Repräsentation dessen, was besonders wichtig ist (Götterbilder; Kunstwerke; Schätze; Glück). Nicht etwa ein Heilungswunder des Asklepios, sondern die hymnisch stilisierte Bitte eines Mannes um Wohlstand und Gesundheit schließt die Sektion der Iamatika ab. Als hymnische Elemente dürfen die Apostrophe des Gottes in V. 1 (parallel zu 96 u. 97), die Betonung der Dynamis des Gottes ebenso wie der Hinweis auf seine notwendige Geneigtheit in V. 2 gelten. Das verbindende Moment zu den anderen Epigrammen der Sektion besteht in der Apostrophe bzw. Epiklese des Heilgottes Asklepios. Doch der Bittende ist kein Patient, der sich Heilung von Asklepios erhofft oder der dem Gott für eine solche dankt. Gleich im ersten Vers liegt eine Pointe darin, dass diese Erwartungshaltung des Lesers nicht erfüllt wird: Denn der Sprecher möchte vom Gott jetzt unvermittelt (das erste Wort in V. 1 ist ὄλβον!) finanziellen Wohlstand, also Geld. Als zweiten Wunsch äußert er den nach Gesundheit. Auffällig ist die hier einseitige Betonung von Asklepios’ Kompetenz und Möglichkeiten, den Sprecher reich werden zu lassen, denn die folgende Parenthese mit dem aretalogischen Preis der Kompetenz des Asklepios bezieht sich nur auf diesen Wunsch. Das darf als subversiver Hinweis darauf verstanden werden, dass der Sprecher den Gott Asklepios vor allem in Geldangelegenheiten für ‚vermögend‘ und kompetent hält. Die Bitte um Gesundheit scheint eher nachgeordnet, Asklepios’ Rolle dabei marginal zu sein. Wenn man bedenkt, dass gewöhnlich der Heilgott von seinen Patienten (finanzielle) Mittel fordert, hier jedoch Asklepios selbst um (finanzielle) Mittel gebeten wird, erscheint das als selbstbewusste Umkehrung der Usancen durch den Sprecher. Der Gestus einer solchen Bitte an einen Gott am Ende einer poetischen Texteinheit erinnert an das Ende des Zeus-Hymnos des zeitgenössischen poeta doctus Kallimachos: Dieser wünscht sich vom hymnisch gepriesenen Zeus als Gegengabe die komplementären Größen Arete und Wohlstand (ἀρετήν τε καὶ ὄλβον, Kallim. Iov. V. 94 –96, hier: 96; vgl. Theokr. 17.75: Zeus verleiht ὄλβοϲ). Doch auch Poseidipp betont in seiner eigenen Sphragis-Elegie, dass er bei seinem Tod seinen Kindern Haus und Wohlstand (ὄλβον) zurücklassen wird (SH 705.25). Es wird deutlich, dass eine solche Bitte einem etablierten hymnischen Usus entspricht. Und dennoch sind Reichtum und Gesundheit in 101 des Poseidipp sicherlich keine beliebig gewählten Güter. In der stoischen Philosophie gelten sie nämlich als klassische Beispiele für Adiaphora, d. h. konventionelle Güter, die weder wichtig noch unwichtig, schlicht irrelevant sind (z. B. Diog. Laert. 7.102). Die Relativität dieser Güter deutet der Sprecher in der hochtrabenden Phrase von der ‚aufragenden Akropolis für die Sitten‘ an, mit der Zweifel an Dauer und Bedeutung dieser ‚Güter‘ sichtbar werden. Das zeigt sich mit Blick auf zwei weitere Stellen aus dem Neuen Poseidipp: Das letzte Epigramm von Poseidipps Lithika-Sektion (20.1) ist ein Gebet um Milde an Poseidon, der, wie es heißt, dereinst die ‚hochaufragende Stadt Helike‘ (ebd.: ὑψηλὴν Ἑλίκην) im Wogenschwall untergehen ließ. Und auch im Grabepigramm 53 auf die verstorbene Kalliope, die bei einem Fest vom Dach herab stürzte, wird die Höhe, aus der der Sturz erfolgt, mit ὑψηλοῦ (τέγεοϲ) beschrieben (ebd., 3). Mit Blick auf die subtilen Ebenen der Verknüpfung der Epigramm-Sektionen untereinander, ergibt sich für die Interpretation des letzten Epigramms der Iamatika Folgendes: Wie mit dem plötzlichen Untergang Helikes und dem plötzlichen Todessturz der Kalliope ein sehr plötzlicher, schicksalhafter Fall aus vormaliger Höhe beschrieben wird, so legt sich auch hier auf ‚Reichtum und Gesundheit‘

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als ‚hocherhabene Akropolis für die Sitten‘ (ἠθέων ὑψηλή […] ἀκρόπολιϲ) der Schatten eines drohenden plötzlichen Falls, des drohenden plötzlichen Verlustes durch schicksalhaften Umschwung. Sowohl Reichtum als auch Gesundheit als auch die ἤθεα, welche sie vermeintlich sichern und verbürgen, sind damit sehr deutlich als gefährdet, bedroht und instabil beschrieben. Zu diesem Tenor fügt sich die höchst vorsichtige und sogar skeptisch anmutende Formulierung φαίνεται (V. 4, mit Infinitiv), welche die fragile Scheinhaftigkeit der Ansicht, Reichtum und Gesundheit seien ‚Heilmittel‘ und Garanten für sittliches Wohlverhalten, verdeutlicht. Es ist nicht zuletzt der plötzliche Umschwung, die schicksalhafte Wendung, die Poseidipp in der unmittelbar anschließenden Sektion des Papyrus, in den τρόποι einfängt. Somit reflektiert dieses Epigramm eine Grundlehre der stoischen Ethik, nach der Reichtum und Gesundheit Adiaphora sind.71 Damit darf das vorausgehende Epigramm über Zenon zumindest als assoziative Einstimmung auf das stoische Kolorit dieses Epigramms gelten. Die Skepsis des Sprechers gegenüber dem Heilgott Asklepios tritt hier einmal mehr zu Tage. Doch wer ist dieser Sprecher? Ihm kommt eine Schlüsselrolle bei der Interpretation dieses Epigramms zu. Er nennt sich selbst den Gepflogenheiten des Weihe- und des Bittgebets entsprechend in der 3. Ps. Sg., will also sachlich, distanziert und bescheiden erscheinen. Sollte die Vermutung der Herausgeber der ed. min. richtig sein, handelt es sich dabei um einen Mann, der sich als ἄριϲτοϲ ἀνήρ deklariert (V. 2) und somit einen alten aristokratischen Gestus zitiert. Dann wäre hier (wie bereits in 96 und 97) das selbstbewusste Nebeneinander von Mensch und Gott in der Iuxtaposition abgebildet. Denkbar wäre freilich auch ein gewollter Anklang an die für Asklepios etablierte, in den epidaurischen Inschriften nachgewiesene Bezeichnung als μέγ’ ἄριϲτοϲ θεῶν, ἄναξ (z. B. IG IV² I 128.78 und I 244.7). In jedem Fall möchte der Sprecher von Asklepios an erster Stelle Wohlstand, an zweiter Gesundheit. Beides wünscht er sich im rechten Maß. Entweder liegt darin eine Anspielung auf ein problematisches Übermaß an Gesundheit, wie Asklepios es dem tauben Kreter in 99 zukommen lässt, oder es handelt sich bei μέτριοϲ um eine stilistische traiectio, d. h. dieses Adjektiv muss weniger auf die erbetenen Mittel als vielmehr auf den Sprecher selbst bezogen werden. Dann charakterisierte es den Sprecher explizit als maßvoll und bescheiden.72 Aus dem Text geht nicht explizit hervor, für welche Leistung der Sprecher die beiden ‚Heilmittel‘ Geld und Gesundheit von Asklepios erbittet. Es liegt nahe, darin Leistungen gegenüber Asklepios anzunehmen, doch welche? Zunächst ist klar: Sollte die Lesung ἄριϲτοϲ ἀνήρ richtig sein, wäre sie ein formelhafter Platzhalter. Allein der Umstand, dass der Name des Sprechers bzw. Bittenden nicht genannt wird, lässt jede epigraphische Fiktion, wie sie in den anderen Iamatika-Epigrammen zumeist noch kenntlich war, verschwinden. Das heißt, dieses Epigramm ist ein rein literarisches, das speziell für den Kontext der Iamatika als deren Schluss-Epigramm komponiert wurde. Das wiederum aber heißt, dass entweder der Dichter Poseidipp selbst oder der Editor des Papyrus dieses Epigramm verfasst haben muss. Dass spätere Editoren eigene Einleitungs- und Schlussepigramme den Binnenepigrammen anderer Dichter beigeben, ist (bislang) zuerst für Meleagers Kranz-Komposition sicher nachweisbar. Da jedoch in anderen Sektionen des ‚Neuen Poseidipp-Papyrus‘ Eingangs- und Schlussepigramm aufeinander bezogen sind oder miteinander korrespondieren, liegt hier der Schluss nahe, es könne sich beim Sprecher um den Arzt Medeios aus dem Eingangsepigramm der Iamatika-Sektion (95) handeln.73 Bereits dort stellt er seine Beherrschung der Techne der Asklepiaden selbstbewusst dar. Seine Berühmtheit erlangt er durch die (Er-)Findung eines 71 72 73

Vgl. Bing 2009, 233. Bing 2009, 232. Di Nino 2010, 254 f.

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Heilmittels gegen sonst tödliche Schlangenbisse, also durch ein lebensrettendes Pharmakon, durch das er Patienten in unmittelbarer Todesnähe retten konnte. Wie Apollon in Delphi im siegreichen Kampf gegen die Pytho-Schlange seine Aristie zeigt, so Medeios. Eine solche bravouröse Beherrschung der ärztlichen Techne, verbunden mit innovativer Pharmakologie könnte durchaus als ‚Aristie‘, der Arzt, ein moderner zeitgenössischer Heros, als ἄριϲτοϲ ἀνήρ bezeichnet werden. Medeios ist bereits wohlhabend, wie seine Weihung einer Bronzestatue an Apollon beweist, und im Schlussepigramm bittet er den Gott ausdrücklich um Wohlstand (vor allem), auch um Gesundheit, also die beiden Heilmittel, die sich ein Arzt auch nur mit ‚göttlicher Hilfe‘ sichern kann.74 Im Sinne des in den Iamatika bereits mehrfach beobachteten ‚double reading‘ scheint es freilich möglich, die Worte dieses Sprechers nicht nur dem Arzt Medeios, sondern zugleich auch dem Dichter Poseidipp zu unterlegen.75 Für diese Vermutung spräche der Umstand, dass sich hier wie auch in anderen Sektionen, etwa den Lithika oder den Andriantopoiika, poetischpoeto­logische und Selbstaussagen als zweite ‚Stimme‘ im Epigramm plausibel erschließen lassen. Der Arzt Medeios war in 95 bereits namentlich genannt, für seine ärztliche Kunst gerühmt worden. Warum sollte er hier anonym bleiben wollen – oder ist die Platzierung als Schlussepigramm, das mit dem Eingangsepigramm der Sektion korrespondiert, bereits Hinweis genug auf die Identität des Sprechers? Falls tatsächlich, wie m. E. plausibel, auch die Stimme des Dichters Poseidipp hier zu hören ist, dann läge dessen Leistung gegenüber Asklepios im Komponieren der komplexen Iamatika-Epigramme. Bereits im Eingangsepigramm 95 hatte sich große Sympathie des Dichters gegenüber der bewährten ärztlichen Techne des Arztes Medeios abgezeichnet. War das Anathema des bronzenen Patienten dort γνωρίϲματα τέχνηϲ, so können die Iamatika-Epigramme des Poseidipp auch als solche ‚Erkennungszeichen‘ seiner Dichtkunst identifiziert werden. Das hieße, dass er von Asklepios für diese kunstvollen Gedichte die beiden genannten ‚Ake‘ (Wohlstand und Gesundheit) haben möchte. Wie der skeptische Unterton der merkwürdigen Wendung ὑψηλὴ ἀκρόπολιϲ (101.4) beweist, ist er sich dabei der Fragilität dieser Güter durchaus bewusst.

74 75

Vgl. anders Wickkiser 2013, v. a. 630 f., die Medeios als maßlos interpretiert. Ähnlich vorsichtig Bing 2009, 233; Di Nino 2010, 253 f.; allgemeiner, aber mit derselben Tendenz Hunter 2002, 111–115.

Tropoi Die neunte Sektion des Epigrammbuches (insgesamt 32 Verse) umfasst acht Epigramme (102–109), von denen die letzten vier nur sehr fragmentarisch erhalten sind. Sichere Aussagen über eine bestimmte Anordnung lassen sich daher nicht treffen, auch wenn der Einstieg in die Sektion durch zwei aufeinander bezogene Epigramme (102 und 103) gebildet wird und dadurch bestimmte Erwartungen an den (richtigen) Umgang mit den Tropoi und an eine mögliche Struktur der Sektion geweckt werden. Keines der Epigramme ist inschriftlich überliefert, auch fehlen gesicherte Rückbezüge auf einen historischen ‚Sitz im Leben‘.1 Es handelt sich also vermutlich um fiktive Epigramme. Generisch lassen sich die Tropoi den Grabepigrammen zuordnen, denen mit den Epitymbia (42–61) innerhalb des Epigrammbuches auch eine eigene Sektion gewidmet ist. Die Trennung in Epitymbia und Tropoi ist wohl weniger aus Gründen der Balance innerhalb der Sammlung erfolgt2 – hierfür finden sich jedenfalls keine Anzeichen –, sondern dient dem Gestaltungsprinzip der Poikilia („Buntheit“).3 Bei den Tropoi scheint es sich um eine besondere Form von Grabepigrammen zu handeln, deren Eigenständigkeit als Sektion den Anspruch des Autors bzw. des Editors auf Innovation unterstreicht. Mit Blick auf den Titel lassen sich drei mögliche Bedeutungsebenen und Wirkungsabsichten der Tropoi unterscheiden: 1) Der Titel könnte den um 320 v. Chr. entstandenen4 Charakteren des Theophrast entlehnt sein, wo τρόποϲ das Wesen bzw. die Lebensart eines Menschen bezeichnet: … ποῖόϲ τίϲ ἐϲτι καὶ εἰϲ τίνα τρόπον κατενήνεκται (pro. 5). Über diesen möglichen intertextuellen Bezug entstünde die Erwartungshaltung, dass auch in Poseidipps Tropoi unterschiedliche Charaktere vorgestellt werden, wobei der Blick anders als bei Theophrast nicht auf die aktiv gestaltete Lebenswelt der Personen, sondern auf Tote fällt, die sich im Unterschied zu den von Theophrast skizzierten Charakteren mit ihren Grabepigrammen selbst vorstellen. Ihr besonderer ‚Charakter‘ zeigt sich dabei nicht nur in ihren Selbstaussagen, sondern auch in ihrem Umgang mit den Konventionen der Grabepigrammatik. Die Hypothese, dass Poseidipp bei der Wahl des Titels und der Gestaltung der Tropoi an Theophrast gedacht haben könnte, wird dadurch gestützt, dass sich auch in den Sektionen der Lithika und Oionoskopika immer wieder Bezüge zu Schriften Theophrasts beobachten lassen. Theophrast gehört also offensichtlich zum literarischen Erwartungshorizont des Epigrammbuches. 2) Eine zweite Bedeutungsebene des Titels Tropoi eröffnet sich mit Blick auf die musikologische Bedeutung von τρόποϲ, wie sie durch Aristoxenos von Tarent bezeugt ist. Aristoxenos, der wie Theophrast ein Schüler des Aristoteles war, verwendet den Begriff zur Bezeichnung einer charakteristischen musikalischen Ausdrucksweise bzw. eines individuellen Stils. Übertragen auf die Gattung Epigramm könnte tropoi, wie Obbink feststellt, also „modes of discourse“ heißen.5 Die Tropoi könnten damit als Variationen/Modifikationen anderer epigrammatischer Subgattungen der Sammlung verstanden werden, vor allem natürlich der Epitymbia, denen sie inhaltlich am nächsten stehen: „Tropoi, we may conclude, are generic ‚turns‘ or stereotyped

1 2

Zur Frage der historischen Bezüge in 104 vgl. Komm. Obbink 2004, 294: „A compilor wishing to maintain a degree of balance among the various thematic subsections of the collection might have felt it proper to distribute additional epigrams of the commoner types among further, more sophisticated sub-divisions in his classification.“ 3 Zur Poikilia als ästhetischer Kategorie in der griechischen Literatur vgl. Heath 1989. 4 Vgl. Stein 1992, 44 – 45. 5 Vgl. Obbink 2004, 297–298.

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Tropoi 

‚adaptions‘ of characterizable ways of speaking. Callimachus, famously, in Ep. 27.1 uses the term τρόποϲ to refer to Hesiod’s and Aratus’ ‚mode‘ or ‚genre‘ of composition.“6 Ein Beispiel für diese Technik der Variation mit dem möglichen Ziel, Neues im Dialog mit Traditionellem zu entwickeln und eine neue epigrammatische Subgattung zu begründen, wäre das Grabepigramm des Soses aus Kos (103), das in einem intertextuellen Dialog mit 97 aus der vorangehenden Sektion der Iamatika steht, in dem Soses noch von seiner Heilung von Epilepsie berichten konnte. Im Zusammenspiel der zu zwei verschiedenen Sektionen gehörenden Epigramme werden nicht nur Eckpfeiler für eine längere Narration in epigrammatischer Form gesetzt,7 sondern „ep. 103 may now be read as a ‚play‘ on the form of the dedicatory epigram (in this sense a tropos), now used, instead of the marker of a dead man, to bring the dead man back to life and let him speak“.8 3) Schließlich lässt sich der Titel Tropoi auch als Hinweis auf das Spiel mit überraschenden ‚Wendungen‘ und Verkehrungen lesen, wie sie durch die Paarbildung in den ersten beiden Epigrammen der Sektion programmatisch vorgestellt werden: Während in Epigramm 102 der Sprecher in deutlicher Abkehr von der Gattungstradition die Vorbeikommenden dafür tadelt, dass sie an seinem Grabmal stehengeblieben sind und sich für die Identität des Toten interessieren, wird im darauf folgenden Epigramm (103) ein Passant für sein Desinteresse am Grab gescholten.9 Hier liegt ein Spiel mit den Konventionen der Gattung Grabepigramm vor. Zwar stellen beide Epigramme letztlich in ihrem zweiten Distichon die für ein Grabepigramm zentralen Informationen bereit, die Begegnung zwischen Text und Leser wird aber im jeweils ersten Distichon ganz unterschiedlich inszeniert. Die Gegenüberstellung der beiden Epigramme ermöglicht so eine Reflektion der unterschiedlichen Wirkungsintentionen und Rezeptionsweisen der Tropoi. Es gibt – in der Fiktion der Tropoi – Rezipienten, die sich an die traditionellen Regeln von Produktion und Rezeption von Grabepigrammen halten (102), und es gibt solche, die sich der Tradition verweigern (103). Die in den (einzelnen) Epigrammen angelegte Spannung zwischen Sprecher und Angeredeten überträgt sich auf den Umgang mit den beiden Epigrammen: So wie auf der fiktiven Ebene Beachtung und Nichtbeachtung der Grabsteine gleichermaßen ‚fehlschlägt‘, so entziehen sich die Tropoi einer eindeutigen Einordnung in die bestehende Tradition der Grabepigrammatik. Sie unterminieren im Sinne des die Tropoi bestimmenden Prinzips der ‚Wendung‘ die – sowohl aus der Gattungstradition stammende wie innerhalb des Epigrammbuchs in anderen Sektionen erzeugte – Erwartungshaltung, dass wir es in den Tropoi mit einer einheitlichen Sektion zu tun haben. Es sind vielmehr gerade die implizite Diskussion der traditionellen Form und der ständige Wechsel, die in den Vordergrund rücken und den Rezipienten auffordern, gewohnte Kommunikations- und Rezeptionsweisen von (literarischen) Grabepigrammen zu hinterfragen. Die Rezipienten der Tropoi bewegen sich im Akt des Lesens daher nicht nur zwischen den Zeilen der einzelnen Epigramme bzw. werden durch intertextuelle Bezüge zu Epigrammen anderer Sektionen oder zu Texten außerhalb des Epigrammbuchs geführt, sondern sie werden bei der Lektüre pro- und analeptisch zwischen den einzelnen Epigrammen hin- und hergeworfen und durch das damit verbundene Erzeugen und Enttäuschen von Erwartungshaltungen irritiert.

6 7 8 9

Obbink 2004, 298. Vgl. Bowie 2010. Obbink 2004, 301. Zum Begriff sowie zum Aufkommen und zur Verbreitung der „passersby“ in Grabepigrammen vgl. Tueller 2010.

Manuel Baumbach

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102 Im Eröffnungsgedicht der Tropoi wendet sich das sprechende Grabmal des Kreters Menoitios an eine nicht näher bezeichnete Gruppe von Rezipienten, denen vorgeworfen wird, mit ihrem Interesse am Grabmal die Ruhe des Toten zu stören. Das Epigramm hat eine stark dorische Dialektfärbung. XV 24 25 26 27

τί πρὸϲ ἔμ’ ὧδ’ ἔϲτητε; τί μ’ οὐκ ἠάϲατ’ ἰαύειν, εἰρόμενοι τίϲ ἐγὼ καὶ πόθεν ἢ ποδαπόϲ; ϲτείχε‹τέ› μου παρὰ ϲῆμα· Μενοίτιόϲ εἰμι Φιλάρχω Κρήϲ, ὀλιγορρήμων ὡϲ ἂν ἐπὶ ξενίηϲ.

1 2 3 4

26 ϲτειχεμου P  ϲᾶμα Janko 2005  27 ξενίαϲ Janko 2005

Warum seid Ihr hier bei mir stehengeblieben? Warum habt Ihr mich nicht ruhig schlafen lassen, sondern gefragt, wer ich bin, von wem ich abstamme und aus welchem Land ich komme? Zieht an meinem Grabmal vorüber: Ich bin Menoitios, der Sohn des Philarchos, ein Kreter, ein Mann weniger Worte, wie es sich wohl in der Fremde ziemt. V. 1 τί πρὸϲ ἔμ’ ὧδ’ ἔϲτητε;: Die Kritik an der Ruhestörung des Toten durch vorbeiziehende Fremde ist aus den in der Anthologia Palatina versammelten Grabepigrammen des Misanthropen Timon bekannt (7.313–320); auffällig sind die anklagenden Fragen, mit denen das Epigramm bzw. der Sprecher die (fiktiven) Rezipienten zu einer Reaktion herausfordert. Das deiktische ὧδ’ passt einerseits zur Tradition inschriftlicher Grabepigramme, wo es den konkreten Raum der Begegnung von Rezipient und Grabmal bezeichnet, und markiert andererseits im literarischen Epigramm eine Leerstelle, da der Raum im Epigramm selbst nicht genauer lokalisiert wird.10 — ἠάϲατ’: Die dorische Form (für εἰάϲατ᾽) charakterisiert den Sprecher über seinen Dialekt, noch bevor er seine Identität als Kreter verrät. — ἰαύειν: Das Wort, das in 100.1 in der Bedeutung ‚Heilschlaf‘ (im Rahmen des Asklepioskultes) verwendet wird, bezeichnet hier den Todesschlaf (vgl. AP 7.156.5) und erfährt damit – ganz im Sinne der Tropoi als „Wendungen“ – eine begriffliche Wandlung, die die beiden Sektionen der Iamatika und Tropoi sprachlich verbindet. V. 2 εἰρόμενοι τίϲ ἐγὼ καὶ πόθεν: Die für den Inhalt und die Botschaft eines Grabepigramms entscheidende Frage nach der Identität und Herkunft des Toten ist sprachlich ganz konventionell gestaltet (vgl. GV 1904.15: ἢν δ᾽ ἐρέηι, παροδῖτα, τίϲ ἢ τίνοϲ, ἣν ὅδε κεύθει / τύμβοϲ κτλ. und die Beispiele für τίϲ πόθεν in der ed. pr.). Die traditionelle Form erscheint bewusst gewählt, insofern der Sprecher nach dem Bruch mit der Konvention in seinen ersten beiden Fragen zum traditionellen Sprachgebrauch von Grabepigrammen zurückkehrt und das vorausgehende Spiel mit den Konventionen auf diese Weise rückwirkend als ein solches markiert. Zugleich wird mit τίϲ … πόθεν die homerische Wendung τίϲ πόθεν εἰϲ ἀνδρῶν (Od. 1.170; vgl. auch Od.

10

Zu geopoetischen Aspekten der Verortung der Epigramme in den Tropoi vgl. Baumbach/Müller in diesem Band, S. 416– 419.

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Tropoi 102

15.423 u. 17.368: τίϲ εἴη καὶ πόθεν ἔλθοι) zitiert und damit – nach dem dorischen Dialekt des ersten Verses – die episch-homerische Kunstsprache aufgerufen, die traditionell in Epigrammen zur Nobilitierung der Sprache und des Sprechers genutzt wird: Der Tote lässt sich wie ein homerischer Held nach seiner Herkunft befragen. Zur epischen Verwendung von εἰρόμενοι vgl. Il. 6.239; 7.127 u. Od. 15.263; 24.114,474. — ποδαπόϲ: Das unepische Wort ist im Drama (vor allem in der Komödie) oft belegt und wird in späterer Epigrammatik zuweilen im Kontext von Beerdigungen gebraucht, vgl. AP 7.163.2, 470.2, 503.2; für die Verbindung von ποδαπόϲ mit πόθεν vgl. ed. pr. V. 3 ἔϲτητε … ϲτείχε‹τέ›: Eine ähnliche Verbindung der beiden Verben im Epigramm bietet CEG 28: ἄνθροπε, hὸ ϲτείχε[ι]ϲ : καθ᾽ ὁδὸ/ν : φραϲὶν : ἄλα μενοινõν, : ϲτε͂θι / καὶ οἴκτιρον : ϲε͂μα θράϲονοϲ : ἰδόν. „Mensch, der du deines Weges gehst und an etwas anderes denkst, bleib stehen und klage, wenn du das Grabmal des Thrason siehst.“ Das prosaische ϲτείχειν findet sich in der Poesie vor Poseidipp nur in der Tragödie (Aischyl. Ag. 1657; Eur. Hik. 258, El. 709, Ion 97). — ϲτείχε‹τέ› μου: Der Papyrus weist mit ϲτειχεμου einen metrisch falschen Singular auf, der sich als Haplographie-Fehler erklären lässt (vgl. ed. pr.); der Plural führt die in V. 1 gestellten Fragen an mehrere Adressaten fort. — ϲῆμα: Janko 2005, Anm. 11 schlägt mit Blick auf das in V. 1 im dorischen Dialekt gebrauchte ἠάϲατο und den dorischen Genitiv Φιλάρχω (V. 3) vor, ϲᾶμα (und später in V. 4) ἐπὶ ξενίαϲ zu schreiben. Diese sprachliche Glättung des Textes im Sinne einer konsequenten dialektalen Färbung des Sprechers widerspricht aber der Tatsache, dass auch andere Epigramme der Sammlung Dialektmischungen aufweisen (Sens 2004, 73–82). Zudem ist παρὰ ϲῆμα eine beliebte Wendung sowohl in der homerischen Epik (Il. 10.415) als auch in der alexandrinischen Dichtung (Kallim. epigr. 21.1 u. 35.1 Pfeiffer) und wird auch bei Poseidipp verwendet (52.5 u. 61.1). — Μενοίτιόϲ εἰμι Φιλάρχω: Unter den 23 Belegen für den Namen Menoitios findet sich auch ein Μενοίτιοϲ aus Kreta. V. 4 Κρήϲ: Mit der Angabe der Herkunft des Toten aus Kreta wird nicht nur die Verwendung dorischer Dialektformen im Epigramm begründet, sondern die Ortsangabe deutet auch darauf hin, dass sich das Grabmal des Verstorbenen in der Fremde befindet, da das Ethnikon in inschriftlichen Epigrammen zumeist bei Verstorbenen, die aus einer vom Grabmal entfernten Gegend stammen, gebraucht wird. Ein (tauber) Kreter ist auch Thema von 99.1 (ὁ Κρὴϲ κωφὸϲ ἐὼν Ἀϲκλ̣[ᾶϲ, μη]δ̣’ οἷοϲ ἀκούειν), was einen weiteren intertextuellen Dialog mit den Iamatika eröffnet. — ὀλιγορρήμων: Der Kreter ist kein Mann vieler Worte, weshalb er passenderweise die einzige Sektion einleitet, in der alle Epigramme nur vier Verse lang sind. Die lakonische Kürze der Dorer ist ein verbreiteter Topos (vgl. Di Nino 2010, 236) und speziell für Kreta sprichwörtlich, vgl. das sprechende Grabmal des Theris bei Kallimachos epigr. 11 Pfeiffer: Ϲύντομοϲ ἦν ὁ ξεῖνοϲ, ὃ καὶ ϲτίχοϲ οὐ μακρὰ λέξων Θῆριϲ Ἀριϲταίου Κρήϲ’ ἐπ’ ἐμοὶ δολιχόϲ. Kurz angebunden war der Fremde, weshalb auch der Vers auf mir, der nicht viel sagen wird, mit „Theris, Aristaios’ Sohn, Kreter“ schon ‹allzu› lang ist.

Poseidipps Kreter passt daher perfekt zu dem Erwartungshorizont der theophrastischen ‚Charaktere‘ (s. Einl. zur Sektion), wobei auffällt, dass das ihn charakterisierende Wort ein hapax

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legomenon ist:11 Wenn ein Kreter spricht, dann sehr gewählt. — ὡϲ ἂν ἐπὶ ξενίηϲ: In der Fremde zu sterben, wird in Grabepigrammen oft als ein besonders schlimmes Schicksal dargestellt und ist häufig verbunden mit einem Kenotaph für den Toten in der Heimat. Poseidipp stellt mit der Wendung einen intertextuellen Bezug zu 94 her, wo ein Toter erklärt, er sei nach einem Schiffbruch ums Leben gekommen und von Leophantos, der es als Reisender in der Fremde (ὡϲ ἂν ἐπὶ ξενίηϲ) eilig gehabt habe, mit Eifer begraben und beweint worden (vgl. Komm. zu 94). Die Verbindung der beiden Epigramme ist ein Beispiel für die dritte Bedeutungsebene des Titels (s. Einl. zur Sektion). Das Eröffnungsepigramm der Tropoi weist stilistische und inhaltliche Brüche mit den Konventionen griechischer Grabepigramme auf: Neben der Sprache, die mit ihrer dialektalen und stilistischen Uneinheitlichkeit irritierend wirkt, überrascht vor allem das Unterlaufen der Erwartung, dass ein Grabepigramm in Verbindung mit dem Grabmal die Vorbeigehenden dazu einladen soll, sich für den Toten zu interessieren, ihn zu beklagen und über die gegebenen Informationen sein Andenken wenn möglich weiterzutragen und damit wach zu halten. Gerade vor dem Hintergrund der in den Epitymbia noch sehr konventionell gestalteten Grabepigrammatik provoziert das erste Epigramm der Sektion:12 Die Worte des Toten weisen nicht nur die innerfiktiven Rezipienten, sondern auch die Leser, die sich dem Epigramm mit einer traditionellen (und durch die Epitymbia bestärkten) Erwartungshaltung nähern, brüsk zurück. Das Epigramm gibt damit, wie auch andere Epigramme der Tropoi, einer an lebensweltlicher Grabepigrammatik orientierten literarischen Subgattung eine neue Wendung, die inhaltlich gut zur Situation des Toten passt: Auch er spricht als Kreter in der Fremde Rezipienten an, die mit ihm (seiner Sprache und seinem Charakter) nicht vertraut sind. Aus den ξένοι, die in der Grabepigrammatik sonst besonders oft angesprochen werden, wenn der Tote in der Fremde begraben ist (vgl. Tueller 2010), werden einheimische Rezipienten, für die umgekehrt der Tote ein Fremder ist, – ein Perspektivenwechsel, der dadurch erreicht wird, dass die mögliche und erwartete Anrede an den ‚Fremden‘ in die Selbstbeschreibung des Toten übernommen wird, womit eine fiktive Lokalisierung seines Grabmals außerhalb von Kreta wahrscheinlich ist. Die Konfrontation mit einem Misanthropen erzeugt angesichts der Prominenz dieses Figurentypus in der hellenistischen Literatur (vgl. Menanders Dyskolos, Theophrasts Charaktere und die Timon-Anekdoten)13 eine komisch-satirische Erwartungshaltung an die folgenden Epigramme der Sektion. 103 Das Epigramm bildet einen deutlichen Kontrast zum ersten Epigramm der Tropoi, indem es den Rezipienten, der sich entgegen der Konvention nicht auf einen Dialog mit dem Epigramm

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Später findet sich das Verb einmal bei Eust. De Simul. 28: τὸ ϲιγηλὸν καὶ τὸ ὀλιγορρημονεῖν. Zu den sprichwörtlichen Anspielungen im Epigramm vgl. Gronewald 1993; zum Vergleich und semantischen Unterschied von ὀλιγορρήμων und dem häufiger verwendeten βραχύλογοϲ vgl. Di Nino 2010, 298. Diese Provokation geht wirkungsästhetisch deutlich über die einfache Komik hinaus, die Dickie (1995a, 8) konstatiert: „Poseidippus makes fun of those epitaphs, in which the deceased or the tomb answers the imagined questions of the passer-by.“ Vgl. AP 7.313–320 und Di Nino 2010, 43.

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einlässt, auf sein Fehlverhalten hinweist. Sprecher ist der bereits aus den Iamatika (97) bekannte Soses von Kos. XV 28 29 30 31

οὐδ[{ε}] ἐ̣περωτή̣ϲαϲ̣ με νόμ̣ου̣ χάριν οὔτε πόθεν γῆϲ εἰμ̣ὶ παραϲ̣τείχειϲ ο̣ὔ̣τ̣ε̣ [τίϲ ο]ὔ̣τε τίνων· ἀλλὰ ϲύ μ’{ε̣} ἡϲ̣υ̣χ̣ι̣[.……….]ο̣ν, εἰμὶ δ’ ἐγὼ παῖϲ Ἀλκαίου Ϲωϲ̣ῆ̣ϲ̣ Κ̣ῶ̣[ιοϲ …….]εϲου.

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28 νόϲου Bing 2004, Obbink 2004  ποθεγγηϲ P  30 ἡϲ̣υ̣χ̣ί̣[ωϲ ἴδε κείμεν]ο̣ν ed. pr., min. : ἡϲ̣υ̣χ̣ί̣[ηι γε πάρει μόν]ο̣ν vel ἡϲ̣ύ̣χ̣ι̣[ον γ’ οἴει (vel οἴηι) μόν]ο̣ν Pozzi 2006  31 ὁμόϲ, φίλ]ε, ϲοῦ ed. pr., min. (ὁμόϲ ποτ]ε ϲοῦ ed. pr. comm.) : Κ̣ῶ̣[ιοϲ ἄνευθε δ]ὲ ϲοῦ Ferrari per litt.

Und ohne dass du mich gefragt hast, wie es der Brauch vorschreibt, aus welcher Ecke der Welt ich komme, noch wer ich bin oder von wem ich abstamme, gehst du einfach vorbei. Aber du mich (friedlich?) […], ich bin aber der Sohn des Alkaios, Soses, ein Koer […] V. 1 οὐδ[{ε}]: Das für inschriftliche Epigramme ungewöhnliche οὐδ[{ε}] zu Beginn des ersten Verses knüpft adversativ und/oder kopulativ an etwas Vorausgehendes an und suggeriert damit einen Zusammenhang mit einem außerhalb des Epigramms liegenden Kontext. — ἐπ̣ ερωτήϲ̣ αϲ:̣ Anders als εἴρομαι (vgl. εἰρόμενοι in 102.2) wird ἐπερωτάω fast ausschließlich in der Prosa verwendet. Insgesamt ist die Sprachebene im Vergleich mit dem vorangehenden Epigramm weniger poetisch und ohne jede dialektale Färbung. — νόμο̣ υ̣ χάριν: Für die Lesung der Erstherausgeber gibt es gute Belege (vgl. AP 11.141.7 u. 11.206.2; Eur. Her. 1322; vgl. Obbink 2004, 295 f.). Der Sprecher beruft sich auf den bereits in 102 thematisierten, dort jedoch abgelehnten Brauch, zum Gedenken an den Toten vor einem Grabmal stehenzubleiben und die Inschrift laut zu lesen. Ähnlich wie in 62, wo mit νόμοι (s. V. 1–2: πολυχρονίουϲ δὲ κολοϲϲῶν /… παραθεῖτε νόμουϲ) Konventionen der Bildhauerkunst angesprochen werden, verweist der Begriff des νόμοϲ auch hier auf das Hauptthema der Sektion, in der die Bräuche der Grabepigrammatik in verschiedenen ‚Wendungen‘, in diesem Fall anhand eines Konventionsbruches, gegenübergestellt und diskutiert werden. Bing 2004 und Obbink 2004 haben aus dem Wunsch, die intertextuelle Verknüpfung mit 97, in dem von Soses’ Krankheit die Rede war, zu verstärken14, unabhängig voneinander erwogen, statt νόμου νόϲου zu lesen. Keine der beiden ganz verschiedenen Übersetzungen, die sie für νόϲου χάριν anbieten, vermag jedoch zu überzeugen: Obbinks „you didn’t even ask me (did I die) on account of disease, nor (did you ask me) from where I come“ setzt eine unmögliche Ellipse voraus; Bing („on account of [my unspecified] sickness“) muss annehmen, dass der Passant weiß, woran der Tote, dessen Grabinschrift er doch offenbar gar nicht gelesen hat, gestorben ist. — πόθεν γῆϲ: Die Buchstabenfolge ποθεγγηϲ im Papyrus weist einen Schreibfehler auf, wie er beim Diktat leicht entstehen kann. Die Wendung findet sich vor Poseidipp nur in der euripideischen Tragödie (Med. 666, Ion 258, Hel. 83). 14

Vgl. Bing 2004, 287: „Indeed, we may even find an explicit link to the earlier poem if, instead of Bastianini and Gallazzi’s νομου [sic] χάριν in v. 1, we read νόϲου χάριν, i. e. „on account of [my unspecified] sickness“. The passerby is squeamish about stopping at the tomb due to that disease, which proved fatal. The god, it appears, had not definitely cured Soses.“

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V. 2 παραϲ̣τείχειϲ: Das seltene Verb ist außer an dieser Stelle nur dreimal in der Tragödie belegt (Aischyl. Ch. 568; Soph. OT 808 u. Ant. 1255). — ο̣ὔ̣τ̣ε̣ [τίϲ ο]ὔ̣τε τίνων: Die Ergänzung der Erstherausgeber kann angesichts der in Grabinschriften gebräuchlichen Wendung τίϲ ἢ τίνοϲ (GV 1904.15) als sicher gelten (vgl. auch GV 1635.1: τίϲ ἢ τίνοϲ ἐνθάδε κεῖται;); vgl. auch Komm. zu 102.2. V. 3 ἡϲ̣υ̣χ̣ι̣[……….]: Die Lesart ἡϲυχίωϲ würde einen Dialog mit 100.1 aus den Iamatika eröffnen, wo τὸν ἥϲυχον ὕπνον ἰαύειν einen todesähnlichen Heilschlaf bezeichnet. Zudem passt die Friedlichkeit der Situation gut zum Charakter des Toten, der sich im Unterschied zu 102 nicht aggressiv, sondern konventionell verhält (vgl. Magnelli 2008, 53–54). Die in der ed. pr. vorgeschlagene Ergänzung ἴδε κείμενον lässt sich durch homerische Parallelen stützen (Il. 14.702; 15.9). Der Vorschlag von Pozzi 2006, 199 f.: ἀλλὰ ϲύ μ’ ἡϲυχί[ηι γε πάρει μόν]ον, εἰμὶ δ’ ἐγὼ παῖϲ („Du aber gehst an mir allein ruhig vorbei; ich aber bin der Sohn“) legt den Fokus dagegen auf den Passanten, der schweigend und ruhig vorbeigeht.15 Dadurch würde die bereits in V. 2 kritisierte Handlung des Passanten (παραϲ̣τείχειϲ i. S. v. ‚du gehst vorbei‘) jedoch unnötig gedoppelt, und das μόν]ον macht keinen Sinn. Pozzis Versuch, seine Ergänzung mit dem Hinweis auf die Lektürekenntnis von 97 zu erklären („du [sc. der Leser] gehst nur deswegen ruhig an mir vorbei, weil du nicht weißt, dass ich Soses bin, den du aus 97 kennst. Sonst würdest du mich bedauern, weil ich, eben noch geheilt, nun doch gestorben bin“) vermag nicht zu überzeugen, zumal der vorgeschlagene Text dies unmöglich bedeuten kann. V. 4 Ἀλκαίου Ϲωϲ̣ῆ̣ϲ̣ Κ̣ῶ̣[ιοϲ: Es handelt sich sehr wahrscheinlich um denselben Soses, von dessen Heilung durch Asklepios in 97 berichtet wird. In diesem Fall würde 103 die Lebensgeschichte des Geheilten zu Ende erzählen und dabei einen ironischen Blick zurück auf die letztlich doch nicht erfolgreiche Heilung des Soses in den Iamatika werfen.16 — Κ̣ῶ̣[ιοϲ: Das Ethnikon findet sich außer in 97 auch in 5.4, wo Ν[ι]καίη Κώια für einen Kuss ein Schmuckstück erhält, und in 63.10, wo Philitas als Κῶιοϲ ἀνήρ bezeichnet wird. — ]εϲου: Die Lücke am Schluss des Epigramms lässt unterschiedliche Ergänzungen zu. Mit dem ὁμόϲ, φίλ]ε, ϲοῦ („derselbe wie Du, dir ganz ähnlich, Freund“) der ed. pr. würde das Epigramm mit einer typisch homerischen Wendung schließen, ohne einen bestimmten intertextuellen Bezug herzustellen.17 Die Anrede „Freund“, die sich auch im folgenden Epigramm findet (104.3), würde gut zu dem im Unterschied zu 102 ‚friedlichen‘ Charakter des Sprechers und dem bemüht freundlichen Ton des Epigramms passen. Inhaltlich verweist ὁμόϲ (‚ein und derselbe, gemeinsam, ähnlich‘) 15

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Pozzi 2006, 200: „Il passante è sereno solo perché non sa che lì è sepolto il povero Sose; quando lo verrà a sapere, il suo atteggiamento tranquillo lascerà il posto a meste riflessioni. Un vero passante, di fronte all’epigrafe, avrebbe potuto non sapere nulla di quest’uomo; ma nel contesto della raccolta epigrammatica trasmessa in forma di libro il passante non è altri che il lettore lo ha senz’altro conosciuto.“ Vgl. Interpret. zu 97, 360 f., Di Nino 2010, 226–229 und Obbink 2004, 301 zu 97: „… plausible dedication by a man who has been cured of epilepsy …“, „only to have his final end inevitably and ironically recorded later in the collection in his own epitaph.“ Obbink 2004, 299 f. sieht eine Anspielung auf Achills Anrede an Lykaion gerade in dem Moment, als er ihn tötet (Hom. Il. 21.106 f.), und erkennt neben der Höflichkeit der Anrede im Epigramm daher Spuren bitterer Ironie, insofern der Tote auf den künftigen Tod der (noch) lebenden Rezipienten verweist.

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verallgemeinernd darauf, dass auch der Rezipient sterblich ist, was zur topischen Strategie der Erzeugung von Mitleid und Anteilnahme im archaisch-klassischen Grabepigramm gehört (vgl. etwa CEG 487). Alternativ wäre die Anrede ξένε („Fremder“) denkbar; zur Verwendung der Anrede ξένε in klassischen und vor allem in hellenistischen Epigrammen vgl. Tueller 2010, 51–57. Rekonstruktionsvorschlag οὐδ’ ἐπερωτήϲαϲ με νόμου χάριν οὔτε πόθεν γῆϲ εἰμὶ παραϲτείχειϲ οὔτε τίϲ οὔτε τίνων· ἀλλὰ ϲύ μ’ ἡϲυχίωϲ ἴδε κείμενον, εἰμὶ δ’ ἐγὼ παῖϲ Ἀλκαίου Ϲωϲῆϲ Κῶιοϲ ὁμόϲ, ξένε, ϲοῦ. Ohne dass Du mich gefragt hast, wie der Brauch es vorschreibt, aus welcher Ecke der Welt ich komme, noch wer ich bin oder von wem ich abstamme, gehst Du einfach vorbei. Auf, sieh wie friedlich ich hier liege: Ich bin der Sohn des Alkaios, Soses von Kos, Dir, Fremder, ganz ähnlich. Der mögliche Bezug zu dem Iamatikon, das die Heilung des Soses zum Gegenstand hat (97), gibt nicht nur dem Leben des Soses eine neue Wendung, sondern zeigt das Potential eines Epigrammbuchs, die dichterische Kleinform für längere Erzählungen über Sektionsgrenzen hinaus zu verwenden. Zusammen mit 102 bildet das strukturell ähnlich aufgebaute18 Epigramm ein für die Tropoi programmatisches Gegensatzpaar, in dem Traditionen und Konventionsbrüche grabepigrammatischer Dichtung von zwei Sprechern, die ganz verschiedene Vorstellungen über den richtigen Umgang mit Grabsteinen bzw. Grabinschriften haben, verhandelt werden. Während der erste den traditionellen Brauch des Verweilens und Erinnerns in Frage stellt, beruft sich der Sprecher im zweiten Epigramm genau auf diese Tradition.19 Ein solches Spiel mit den Konventionen einer Gattung wird erst durch die Einbindung der Epigramme in eine Sammlung ermöglicht, die sie dialogisch lesbar macht. Für den Leser dieses Epigramms stellt sich die Frage, welche νόμοι innerhalb der Tropoi denn nun Geltung besitzen. Der Leser wird zwischen 102 und 103 hin- und hergeworfen, und seine traditionelle Erwartungshaltung wird dahingehend modifiziert, dass es keinen bestimmten νόμοϲ gibt, der in dieser Subgattung der epigrammatischen Grabgedichte implementiert werden soll, sondern dass es gerade das Spiel mit seinen Erwartungen ist, das als ästhetisches Leitprinzip die Tropoi bestimmen wird. Der textimmanente Dialog zwischen den Sprechern der beiden Epigramme und den von ihnen angesprochenen Passanten erhält im intertextuellen, durch οὐδ[{ε}] eröffneten Dialog der Epigramme eine neue Wendung (i. S. v. τρόποϲ) mit einer poetologischen Funktion.

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Wie in 102 werden auch hier die im ersten Distichon gestellten Fragen zur Identität und Herkunft des Toten im zweiten beantwortet. Zu dieser sonst vor allem in der hellenistischen Liebesepigrammatik beliebten Form der Kontrast­ imitation vgl. generell Ludwig 1968 und Tarán 1979 sowie mit Blick auf die Tropoi Pozzi 2006, 198 f.

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104 Der Verstorbene wendet sich in bescheidenem Ton an die Rezipienten und stellt sich durch seine Herkunft (Eretria) und sein intellektuelles Umfeld vor. Das Epigramm ist sehr fragmentarisch erhalten. XV 32 33 34 35

ϲτῆθι τεταρ̣π̣[όμενοϲ – .…. ε]ὔ̣μετρο̣ν̣, ο̣ὐ̣ μέγα ϲ’{ε} αἰτ[ῶ – ὡϲ γνῶιϲ̣ [ ± 15 ] Ἐρ̣ετριέα· εἰ δὲ βάδην ὑπαγ….[..]ε̣και, φ̣ί̣λε, τὸν Μενεδήμωι ϲυ{ν}ϲχολάϲαντ’ εϲ.[……] π̣ά̣τερ, ἀνδρὶ ϲοφῶι.

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32 ϲτῆθι· τεταρ̣π̣[ dist. Lapini 2007  γέραϲ ε]ὔ̣μετρο̣ν̣ ed. pr., min. (def. Livrea 2002) : χάριν vel χρῆμ’ ε]ὔ̣μετρο̣ν̣ Austin 2001a : τοῦτ’ vel τὸ μὲν vel τὸ γὰρ ε]ὔ̣μετρο̣ν̣ Lapini 2007  33 [τῆιδέ μ’ ἔχειν ξεῖνον] Austin 2001a : [Κλειϲθένεοϲ παῖδα μ’] vel [Ἀντιγόνου ξεῖνον] Casanova 2002 : [Ϲτίλπωνοϲ μ’ ἔμμεν’] Livrea 2002 : [τόνδ’ εἶναι ξεῖνον] Ferrari 2005  34 ὑπάγε̣ι̣ϲ̣, μ̣[άθ]ε̣ καί ed. pr., min.  μενεδημον̣ P (def. etiam Casanova 2002, Livrea 2002, Cuypers (ἀνδρὶ ϲοφῶι = Ϲωκράτει?)  35 ἐϲ ὅ̣[λον, Ζεῦ] ed. pr. (def. Livrea 2002) : ἐϲο̣[ρῶν, Ζεῦ] Gronewald 2001 (v. etiam Gronewald 2004) : ἐϲ ὅ̣[λον γ’ ὡϲ] πατέρ’ Casanova 2002 : ἐϲθ̣[λόν, Ζεῦ Lapini 2007 : ἐϲθ̣[λῶϲ? Ferrari per litt.

Bleib erfreut stehen, […] maßvolles, nicht großes erbitte ich von dir, dass Du kennenlernst […] aus Eretria. Wenn Du Schritt für Schritt, […] auch(?), Freund, dass ich der Studienkollege des Menedemos war […] Vater, eines weisen Mannes. V. 1 ϲτῆθι: Der Imperativ ist eine gängige Anredeform in Grabinschriften, vgl. CEG 27, 28, 174.2.6; GV 1843.1, 1313.1, 1323.1, 1305.2; vgl. ed. pr. — τεταρ̣π̣[όμενοϲ: Die Ergänzung der Ersther­ ausgeber20 ist inhaltlich plausibel und passt zu den homerischen Anklängen in Poseidipps Grabepigramm. Das Partizip ist vor Poseidipp nur bei Homer (Il. 9.705; Od. 1.310; 14.244) belegt. In der Kombination mit ϲτῆθι wäre der Sinn (wie beim parallel gebrauchten χαίρων) „sei so gut“, „tu mir den Gefallen“ (vgl. ed. pr.). — ε]ὔ̣μετρο̣ν̣: Für die von den Erstherausgebern exempli gratia vorgeschlagene Junktur γέραϲ εὔμετρον gibt es keine Vorbilder. Austins (2001a, 231) Vorschläge χάριν oder χρῆμα sind bedenkenswert, auch wenn χρῆμα eher prosaisch wirkt. Lapini 2007 versucht, mit τοῦτ’ vel τὸ μὲν vel τὸ γὰρ eine stärkere Verklammerung des ersten Distichons mit dem Beginn des zweiten (εἰ δὲ) zu erreichen, was aber sprachlich unnötig ist. V. 2 f. [± 15] Ἐρ̣ετριέα· – Μενεδήμωι: Es liegt nahe, in der Lücke vor Ἐρ̣ετριέα, das als Ortsangabe nur hier im Epigrammbuch vorkommt, den Namen des Toten oder eine genauere Bestimmung des Mannes aus Eretria zu ergänzen. Alle Vorschläge gehen davon aus, dass es sich bei dem in V. 3 genannten Menedemos um den bekannten Philosophen aus Eretria handelt, der nach Diogenes Laertius (2.125–144) Schüler des Stilpon und Gründer der sog. Eretrischen Schule 20

Lapini 2007, 309 hat Bedenken gegen diese Bedeutung von τετάρπομενοϲ: „abbi la compiacenza di fermarti, che però non corrisponde perfettamente ai più comuni significati di τέρπεϲθαι. […] Perciò non è da escludere la punteggiatura ϲτῆθι· τεταρπ[, che permetterebbe di riferire τερταρπόμενοϲ non al viandante ma al morto stesso, i. e.: férmati: sarò soddisfatto se …“.

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war. Livreas Ϲτίλπωνοϲ μ’ ἔμμεν’ („dass ich ein Schüler des Stilpon bin“) basiert ebenso wie Casanovas Umschreibung des Menedemos als Κλειϲθένεοϲ παῖδα bzw. Ἀντιγόνου ξεῖνον auf dem Versuch, den am Ende von V. 3 überlieferten Akkusativ zu halten. Der Tote wäre dann Menedemos, der sich in V. 2 zunächst als „Schüler des Stilpon“ bzw. als „Sohn des Kleisthenes“ oder „Gastfreund des Antigonos Gonatas“ vorstellt, bevor er in V. 3 seinen Namen nennt. Ein Grund für diese Verzögerung des Namens ist allerdings nicht erkennbar. Zudem haben schon die Erstherausgeber zu Recht angemerkt, dass es kaum vorstellbar erscheint, dass der pointiert ans Ende des Epigramms gestellte ἀνὴρ ϲοφόϲ anonym bleibt. Es ist daher sinnvoll, den Akkusativ in den Dativ Μενεδήμωι zu korrigieren (der Fehler ist durch das vorangehende τὸν leicht erklärbar) und davon auszugehen, dass der Tote ein Landsmann und Schüler (bzw. Mitschüler) des Menedemos gewesen ist. Der Name kann in der Lücke von V. 2 gestanden haben. Es ist aber auch – wie Austin 2001a, 231: τῆιδέ μ’ ἔχειν ξεῖνον und Ferrari 2005, 208: τόνδ’ εἶναι ξεῖνον annehmen – denkbar, dass der Sprecher sich nur mit seiner Herkunft und der Verbindung zu dem berühmten Philosophen vorgestellt hat. Ferraris Vorschlag verdient den Vorzug, weil in den Tropoi offenbar immer der Tote selber spricht und nicht das Grab für ihn. Zwar gibt es nur vereinzelte Parallelen für derart anonymisierte Personen (z. B. 56; Ferrari 2005 führt weitere Beispiele an), es würde aber gut zur Programmatik der Tropoi passen, wenn der Sprecher entgegen der Konvention der Grabepigrammatik seinen Namen nicht nennt. V. 3 ὑπαγ….[.]εκ ̣ αι: ὑπάγει̣ ϲ̣ ,̣ μ[̣ άθ]ε̣ καί (ed. pr., ed.min.) erscheint plausibel: μ[̣ άθ]ε̣ ist sprachlich gut durch andere Grabinschriften gestützt (vgl. GV 1305.5: με … μάθηιϲ Κιλιᾶν ἔξοχον ἠιθέων; 1323.1 μάθε … τίϲ ἐ[γών; 1334.2 τίϲ ἔφυν … μάθε); ὑπάγειν muss hier ‚vorüber- und fortgehen‘ bedeuten; εἰ δὲ βάδην ὑπάγειϲ heißt dann „wenn du Schritt für Schritt vorübergehst“ (vgl. Aristot. hist.an. 629b17), d. h. „wenn du dich langsam entfernst“. — φί̣ λ̣ ε: vgl. den Komm. zu 103.4. V. 4 ϲυ{ν}ϲχολάϲαντ’: Das Verb drückt entweder ein Lehrer-Schüler-Verhältnis aus oder das Verhältnis zu einem Mitstudenten. Der genaue Studieninhalt (d. h. philosophische Studien) lässt sich in diesem Fall über die Identität des Menedemos erschließen, sofern die im Epigramm genannte Figur, wie es das pointiert an das Ende des Epigramms gestellte ἀνδρὶ ϲοφῶι suggeriert, mit dem aus kaiserzeitlichen Quellen bekannten Philosophen identisch ist. — εϲ.[…: Keine der vorgeschlagenen Ergänzungen ist wirklich überzeugend; Lapinis ἐϲθ̣[λόν klappt unmotiviert nach; Ferraris ἐϲθ̣[λῶϲ, das dieses Problem offenbar vermeiden soll, bietet ein Adverb, das kaum zu ϲυ{ν}ϲχολάϲαντ’ paßt; am wenigsten anstößig sind die von den Erstherausgebern vorgeschlagene Ergänzung ἐϲ ὅ̣[λον d. h. ὅλωϲ (zu ἀνδρὶ ϲοφῶι) und Gronewalds (2004, 52) ἐϲορῶν: „Wisse auch, dass du den (Mit)Schüler des Menedemos betrachtest.“ — .] π̣ά̣τερ: Das von den Erstherausgebern vorgeschlagene Ζεῦ scheint die einzige Möglichkeit zu sein, πάτερ als Vokativ („bei Vater Zeus!“) syntaktisch zu integrieren. Rekonstruktionsvorschlag ϲτῆθι τεταρπόμενοϲ – χάριν εὔμετρον, οὐ μέγα ϲ’ αἰτῶ – ὡϲ γνῶιϲ τόνδ’ εἶναι ξεῖνον Ἐρετριέα· εἰ δὲ βάδην ὑπάγειϲ, μ[άθ]ε καi, φίλε, τὸν Μενεδήμωι ϲυϲχολάϲαντ’ ἐϲ ὅ[λον, Ζεῦ, πάτερ, ἀνδρὶ ϲοφῶι.

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Sei so gut und bleib stehen – eine maßvolle Gefälligkeit, nichts Großes erbitte ich –, damit Du erfährst, dass der, der hier liegt, ein Fremder aus Eretria ist. Wenn Du dich langsam entfernst, erfahre auch noch, Freund, dass ich ein Schüler des Menedemos war, eines – bei Vater Zeus! – gänzlich weisen Mannes. Im Unterschied zum ersten Epigrammpaar gibt es zunächst keinen deutlich markierten Konventionsbruch in der generisch erwarteten Kommunikationssituation zwischen dem Toten und einem vorübergehenden Rezipienten, im Gegenteil: Letzterer wird ganz konventionell angesprochen, wobei die fast schon gesucht erscheinende Freundlichkeit und Bescheidenheit den Kontrast zu 102 (und 103) noch unterstreicht. Dennoch spielt das Epigramm mit den Konventionen der Gattung, insofern es (nach dieser Rekonstruktion) den Namen des Toten nicht nennt – er bleibt für seine Rezipienten genau so, wie er sich selbst beschreibt: ein Fremder (ξεῖνον) aus Eretria. Der Tote kann nur über die Nähe zu seinem Lehrer Menedemos identifiziert werden. Damit lagert das Grabepigramm eine für sein Verständnis und für die intendierte Erinnerung an den Toten entscheidende Information an den direkten und die indirekten Rezipienten aus, für den (bzw. die) der Reiz des Epigramms in einer Art Ergänzungsspiel besteht: Um sich selbst als ἀνὴρ ϲοφόϲ fühlen zu können, muss der Leser seine eigene Bildung einbringen. Auffällig ist die Aufforderung (V. 3), sich für die Verse auf dem Grabmal Zeit zu nehmen. Was im Grabepigramm die conditio sine qua non darstellt und daher in der Regel nicht beschrieben ist, nämlich das sorgfältige Studieren der verhältnismäßig kleinen Inschrift, wird hier eigens thematisiert. Hier scheint Poseidipp die für die Epigramme charakteristische Suggestion der Mündlichkeit für den Rat an seine Rezipienten zu nutzen, einen zweiten Blick auf das Epigramm zu werfen, das erst beim genauen Lesen seine eigentliche Botschaft völlig preisgibt. Damit stünde die Fiktion der Mündlichkeit im Epigramm im Dienst der Schriftlichkeit der Inschrift und damit der literarischen Kunst des Dichters. 105 Das Epigramm ist als Grabinschrift auf einen gewissen Battos aus Adramyttion gestaltet, der mit 95 Jahren ein biblisches Alter erreicht hat. XV 36 37 38 XVI 1

προϲφωνήϲ̣α̣[τε Βάττον·] ὑ̣πὸ ϲ̣τήλ̣η̣ι γὰρ ὁ πρέϲβυϲ̣ κεῖται, τῶν ἑ̣[κατὸν] πέντ’ ἀφ̣ε̣λ̣ὼ̣ν̣ ἔ̣τ̣εα, Ἀδραμυτην[ὸϲ ἀ]νήρ· „Τιμάνθ̣ε̣ο̣ϲ Ἀδρα̣μυτη̣νέ Βάτ̣τε μάκα[ρ

1 2 3 4

36 [Βάττον] Gronewald 2004 : [τοῦτον] ed. pr., min.  1 ζωὴν ἐκτελέϲαϲ χρονίαν vel βιοτὴν ἤγαγεϲ ἐϲθλοτάτην e.g. Austin 2001a : βιότου, χαῖρε, πολυχρονίου e. g. Gronewald 2007

Grüßt (den Battos) – denn unter dem Grabstein liegt der alte Mann, dem an den (hundert) ‹nur› fünf Jahre fehlten, der Mann aus Adramyttion: „Sohn des Timanthes aus Adramyttion, Battos, Du glückseliger […].“ V. 1 προϲφωνήϲ̣α̣[τε: Das Verbum, das sich vor Poseidipp vor allem bei Äsop und in der Tragödie findet, ist in griechischen Epigrammen nur einmal bezeugt: GV 1342.1: προϲφώνηϲον, ὁδῖτα;

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Tropoi 105

in 61.1 verwendet Poseidipp das Verb προϲαγορεύω in derselben Bedeutung. — [Βάττον]: Für die Ergänzung der Lücke (nach der Vervollständigung des Imperativs) sind zwei Vorschläge gemacht worden: Während die Erstherausgeber ein deiktisches τοῦτον vorschlagen, das durch den Eigennamen Battos am Beginn von V. 4 konkretisiert wird, möchte Gronewald (2004, 52) mit Verweis auf AP 7.355 auch an dieser Stelle den Eigennamen des Toten ergänzen. Auch wenn die Doppelung des Namens in einem kurzen Epigramm auf den ersten Blick als wenig plausibel erscheinen könnte, ist dieser Vorschlag aus zwei Gründen erwägenswert: Zum einen wiederholt das Epigramm im Unterschied zu den anderen Epigrammen gleich im folgenden Vers noch einmal einen Namen (Adramyttion), zum anderen ergibt die Doppelung wegen des Sprecherwechsels einen Sinn: Wenn der Tote (oder das Grab) in seiner Aufforderung an die Vorübergehenden, den Alten zu betrauern, den Namen nicht nennen würde, könnten diese den alten Mann nicht namentlich ansprechen und preisen. Sie erhalten die Informationen für die Lobpreisung des Verstorbenen in der Fiktion der Mündlichkeit im ersten Teil des Epigramms erst durch die Rede des Verstorbenen. — πρέϲβυϲ̣: Der glückliche Tod im hohen Alter ist ein Topos in der antiken Literatur und speziell der Grabepigrammatik; vgl. das Schlussepigramm der Epitymbia (61), wo ein gewisser Aristippos als glücklich gepriesen wird, weil er in hohem Alter verstarb: ἴϲχε πόδαϲ παρὰ ϲῆμα, τὸν εὔγηρώ τε προϲεῖπον / πρέϲβυν Ἀρίϲτιππον („Hemme den Schritt und sprich den glücklich alt gewordenen Greis Aristippos an“). V. 2 τῶν ἑ̣[κατὸν] πέντ’ ἀφ̣ε̣λ̣ὼ̣ν̣ ἔ̣τ̣εα: Dass ein Zahlwort ergänzt werden muss, ist sicher, inhaltlich und aus metrischen Gründen kommt nur ἑ̣κατὸν in Frage. Ein Grabepigramm auf eine Hundertjährige findet sich bei Poseidipp auch in den Epitymbia (47), glückliches hohes Alter wird in 59 und 61 erreicht; vgl. auch den Wunsch, ein hohes Alter zu erreichen, in 52.5. — ἀφ̣ε̣λ̣ὼ̣ν̣: ἀφαιρέω (‚wegnehmen‘) findet sich im mathematischen Sinn von ‚abziehen‘ bei Eukl. Ax. 3. V. 3 Ἀδραμυτην[ὸϲ: Adramyttion ist eine Stadt in Mysien im Nordwesten Kleinasiens gegenüber von Lesbos und nördlich von Pergamon; vermutlich eine Gründung der Lyder (vgl. Strabo 13.613). Die Doppelung des Namens bildet einen Rahmen um den Vers, und der Herkunftsname selbst ist, sofern die Ergänzung Βάττον richtig ist (s. o.), seinerseits von zwei Eigennamen umschlossen. — Τιμάνθ̣ε̣ο̣ϲ: Häufiger, in ganz Griechenland belegter Eigenname, der auch in 5.1 erscheint, ohne dass zwischen den beiden Epigrammen ein Bezug besteht. In Verbindung mit Adramyttion liegt es nahe, an einen Mysier oder Lyder Timanthes zu denken; ein solcher wird auch in dem Grabepigramm AP 7.178 beschrieben. V. 3 f. Das Epigramm lässt offen, von wem die in V. 3 einsetzende direkte Anrede des Toten gesprochen wird. Die Worte lassen sich entweder dem Sprecher des gesamten Epigramms zuweisen (d. h. dem Toten oder dessen Grab) oder sie geben die Reaktion der Rezipienten auf den Imperativ in V. 1 wieder. Beide Deutungen haben etwas für sich. Im ersten Fall würde der Sprecher seinen innerfiktiven Rezipienten vorgeben, wie sie den Toten anzureden haben. Im zweiten Fall würden die Rezipienten in einem abrupten Sprecherwechsel seiner Aufforderung, den Toten anzusprechen, Folge leisten. V. 4 Βάτ̣τε: Bekannter Eigenname, der von Kleinasien bis nach Libyen belegt ist (19× im LGNP); der berühmteste Träger des Namens ist der Gründer von Kyrene; im Mythos ist Battos ein

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meineidiger Hirte, der den Rinderdiebstahl des Hermes verrät (Ov. met. 2.676–707) — μάκα[ρ …: Der nach μάκαρ fehlende größere Teil des Verses kann nur exempli gratia ergänzt werden. Die Ergänzungen gehen davon aus, dass Battos glücklich gepriesen wird – entweder (1) weil er so lange gelebt hat: Austin 2001a, 233: Βάτ̣τε μάκα[ρ ζωὴν ἐκτελέϲαϲ χρονίαν und Gronewald 2007, 33 f.: Βάτ̣τε μάκα[ρ βιότου, χαῖρε, πολυχρονίου oder (2) weil er ein so gutes Leben geführt hat: Austin, 2001a, 233: Βάτ̣τε μάκα[ρ βιοτὴν ἤγαγεϲ ἐϲθλοτάτην. Für beide Ergänzungen bietet die Grabepigrammatik gute Parallelen; vgl. (für 1) GV 1119.2: ἐν βιοϲτᾶι ζωὴν ἐκτελέϲαϲ ὀλίην; (für 2) GV 2018.10: ἐϲθλοτάταν βιοτᾶν ἐξανύϲαντοϲ ὁδόν und (für 1 und 2) Phrynichos fr. 32 Kassel-Austin über Sophokles: Μάκαρ Ϲοφοκλέηϲ, ὃϲ πολὺν χρόνον βιούϲ / ἀπέθανεν, εὐδαίμων ἀνὴρ καὶ δεξιόϲ. Der verlorene Teil des Verses kann aber auch anders gelautet haben; in den Tropoi muss immer mit ungewöhnlichen inhaltlichen, formalen und sprachlichen ‚Wendungen‘ gerechnet werden. Rekonstruktionsvorschlag προϲφωνήϲα[τε Βάττον·] ὑπὸ ϲτήληι γὰρ ὁ πρέϲβυϲ κεῖται, τῶν ἑ[κατὸν] πέντ’ ἀφελὼν ἔτεα, Ἀδραμυτην[ὸϲ ἀ]νήρ· „Τιμάνθεοϲ Ἀδραμυτηνέ Βάττε μάκα[ρ βιότου, χαῖρε, πολυχρονίου.“ Grüßt [den Battos] – denn unter dem Grabstein liegt der alte Mann, dem an hundert Jahren nur fünf Jahre fehlten, der Mann aus Adramyttion: „Sohn des Timanthes aus Adramyttion, Battos, du mit einem sehr langen Leben Beglückter, sei uns gegrüßt.“ Zum ersten Mal in den Tropoi könnte ein Epigramm nicht nur mit der Stimme des Toten sprechen, sondern – wie das zweite Distichon nahelegt – auch eine direkte Rede potentieller Rezipienten inszenieren. Die damit verbundene Sprechersituation würde sowohl thematisch wie formal gut in das Umfeld passen: In den vorangehenden Epigrammen wird darüber reflektiert, wie eine angemessene Kommunikation mit den Toten bzw. deren Grabstelen auszusehen hat. So wurde der Rezipient von 104 dazu angehalten, zu verweilen und – so darf man ergänzen – das Epigramm sorgfältig zu lesen. Mit Blick auf eine mögliche Paarbildung der Epigramme ließe sich das vorliegende Epigramm als die performative Umsetzung einer solchen Aufforderung verstehen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die mögliche Doppelung der beiden Eigennamen (vgl. Komm. zu V. 1) an Bedeutung: Beide Namen sind sowohl mündlich inszeniert wie (in)-schriftlich fixiert. Ein Rezipient von Poseidipps Tropoi kann beide Rollen zugleich einnehmen: Er liest das Epigramm und hört es zugleich. 106–109 Die Epigramme 106–109 sind sehr fragmentarisch überliefert und fast nur am Zeilenbeginn lesbar. Es lässt sich daher nicht mehr sagen, ob und inwieweit die Epigramme mit den Gattungskonventionen spielen oder eher konventionell gehalten sind. Ebenfalls unsicher ist die kontextuelle Einbindung der einzelnen Epigramme. Zwar hat die Analyse von 102–105 die Erwartungshaltung einer formal-inhaltlichen Verbindung zwischen benachbarten Epigrammen erzeugt. Ob diese in der zweiten Hälfte der Sektion erfüllt oder enttäuscht worden ist, kann

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Tropoi 106

aber nicht mehr geklärt werden. Interpretationen der vier Epigramme sind nicht möglich. Konstatieren lassen sich lediglich die für Grabepigramme charakteristischen Anreden an die Vorbeikommenden sowie Dialogsituationen, die durch Imperative, Grußformeln oder – wie in 106 – durch namentliche Anreden markiert sind. 106 Das Epigramm scheint sich an eine weibliche Tote mit dem historisch sonst nicht belegten Namen Hegesa zu richten, mit deren Leben (oder Sterben) die im letzten Vers genannten Schriftzeugnisse in Verbindung stehen könnten. XVI

2 3 4 5

εἴπ̣ατε τὸν κ̣[ χαῖ̣ρ’ Ἡγήϲα.[ ἧϲ γ̣ὰρ τουτ[ γ̣ρά̣μ̣μ̣ατα π̣[

1 2 3 4

3 ρ̣[ pot. quam ν̣[

Nennt den […] Sei gegrüßt, Hegesa […] denn deren […] Buchstaben […] V. 1 εἴπ̣ατε: Das Epigramm beginnt genauso wie 78, wo der Sprecher sich beim Lob der Arsinoë der Unterstützung aller Dichter versichert und auf alle möglichen poetischen Formen verweist, in denen ein solches Lob ausgedrückt werden kann: εἴπατε, πάντεϲ ἀοιδοί, ἐμὸν [κ]λέοϲ … V. 2 χαῖ̣ρ’: Die klassische Begrüßungs- und Anredeformel, die in inschriftlichen Grabepigrammen immer wieder als Anrede an Vorüberkommende bezeugt ist (vgl. z. B. CEG 4 u. CEG 520 (iv): ὦ φίλοι ἡμέτεροι, χρηϲτοὶ πιϲτοὶ διὰ παντόϲ, / χαίρετε· κοινὸν γὰρ ῥῆμα τόδ᾿ ἐϲτὶ βροτοῖϲ), wird im Epigrammbuch in verschiedenen Situationen verwendet: 38.3, wo Epikratis anlässlich der Weihung eines Trinkbechers die Königin Arsinoë mit χαῖρε begrüßt, oder 39.2, wo der Leser aufgefordert wird, Arsinoë zu grüßen, wenn er das Meer durchfahren will. Im Kontext der Grabepigrammatik Poseidipps findet sich die Anrede noch im 132.4, wo ein durch Schiffbruch Verstorbener beklagt, dass Seeleute ihn allzu nahe am Meer bestatteten, und diesen gleichwohl ein freundliches „Seid mir gegrüßt!“ bzw. „Lebt wohl!“ zuruft. — Ἡγήϲα̣.[: Da sich die Reste der Buchstaben vor der Lücke, wie die Erstherausgeber feststellen, nur zu μ oder ϲ ergänzen lassen, kann es sich bei der überlieferten Buchstabenfolge ηγηϲα nicht um den Anfang einer Form von ἡγεῖϲθαι handeln. Der mögliche Personenname Hegesa ist jedoch sonst nicht bezeugt, und eine Verbindung mit der in 36.8 genannten Hegeso ist wegen des unterschiedlichen Wortstammes ausgeschlossen. V. 4 γ̣ρά̣μ̣μ̣ατα: Die genaue Bedeutung des Worts muss aufgrund des fehlenden Kontextes unklar bleiben; es kann sich wie in GV 1342 um die Buchstaben der Inschrift auf dem Grabmal handeln

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(προϲφώνηϲον, ὁδῖτα, καὶ εὐφήμωϲ ἀναλέξει / γράμματα Πρωτομάχου ϲῆμα παρε[ρχόμενοϲ) oder um einen Hinweis auf ein oder mehrere literarische Werke wie in 117.2. 107 Nur die Versanfänge sind erhalten. κεῖμ̣α̣ι (‚begraben liegen‘), die Anrede ξεῖνε und ἀϲπάζου erinnern an Grabepigramme. Da weder der Name des Toten noch eine Ortsangabe oder ein Handlungskontext erkennbar ist, lassen sich zum Inhalt des Epigramms und seiner Einbindung in die Sektion keine Angaben machen. XVI

6 7 8 9

κεῖμ̣α̣ι ἐπ’ ἐθ[ν οὐδὲ προϲα[ ξεῖνε, πρὸϲ αὐ[ ἀϲπάζου φιλ[

1 2 3 4

9 φιλ[ίωϲ ? ed. min.

Ich liege in […] und nicht […] Fremder, zu […] Grüße (lieb)[…] V. 1 κεῖμ̣α̣ι: Ein häufig in Grabinschriften gebrauchter terminus; vgl. das bei Herodot (7.228) überlieferte Simonides-Epigramm auf die bei den Thermopylen gefallenen Spartaner ὦ ξεῖν’ ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοιϲ ὅτι τῆιδε / κείμεθα τοῖϲ κείνων ῥήμαϲι πειθόμενοι („Wanderer, kommst Du nach Sparta, verkündige dorten, Du habest / Uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl“, Übers.: Fr. Schiller). Zu Beginn eines Grabepigramms findet sich κεῖμαι in GV 400, 411 u. 716 sowie evtl. in 103.2 (vgl. Komm.).21 Zur Verwendung am Beginn eines Pentameters vgl. Komm. zu 42.2. — ἐπ’ ἐθ[ν: Die Erstherausgeber verweisen als Parallele für ihre Ergänzung ἐπ’ ἔθνεϲι auf Aristot. pol. 1325b 9 (ἐν τοῖϲ ἔθνεϲι – „unter barbarischen Völkern“, „in der Fremde“). Diese Bedeutung würde gut zu einer in der Fremde verstorbenen und bestatteten Person passen und die dafür konventionelle Anrede ξεῖνε im folgenden Vers vorbereiten. V. 3 ξεῖνε: vgl. Komm. zu 102.4; die Anrede findet sich auch in 142.12. V. 4 ἀϲπάζου φιλ[: ἀϲπάζομαι (‚freundlich begrüßen‘) findet sich nur an dieser Stelle des Papyrus. Das in der ed.min. vorgeschlagene φιλίωϲ würde gut zu dem freundlich-höflichen Ton passen, den das Verb suggeriert.

21

Auch in 135.2 wird κεῖμαι zu Beginn eines Verses verwendet; dort liegt das epigrammatische Ich jedoch nicht tot, sondern aus Liebe danieder.

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Tropoi 108

108 Die fragmentarische Erhaltung des Epigramms erlaubt keine Rückschlüsse auf den Inhalt bzw. mögliche Verbindungen zu den übrigen Epigrammen der Sektion. Mit dem Hinweis auf den Toten in V. 3 sowie der Aufforderung zum Gedenken in V. 4 steht es aber deutlich in der Tradition der Grabepigrammatik. XVI 10 11 12 13

εὖγ’ ὅτ’ ἰδεῖν .[ [..].ι̣τ̣α̣λ̣λα̣[ τ̣[ο]ῦ νέκυοϲ τη.[ ϲώιζου, βελτιϲτ[

1 2 3 4

11 fort. ]ε̣  12 ι̣[ vel ν̣[

gut, wenn zu sehen […] […] des Toten […] Leb wohl, (mein Bester) […] V. 4 ϲώιζου: Anders als in 22.6 und 37.3 wird das Verb hier als Abschiedsgruß „Lebe wohl!“ verwendet wie bei Kallimachos (Del. 150) und in späteren Epigrammen der Anthologia Palatina (5.241.1; 9.171.3, 327.6). 109 Das letzte Epigramm der Sektion ist bis auf drei Worte bzw. Wortreste zu Beginn der Verse nicht lesbar. Mit „schweigend“ und „kalt“ finden sich Begriffe, die gut ins semantische Feld der Grabepigramme passen. XVI 14 15 16 17

πῶϲ [..].ουϲ.[ ϲιγη̣[ νη[ ψυχρο̣.[

1 2 3 4

14 θ̣ο vel ϲ̣ο  π̣[ vel τ̣[ 17 τ̣[ vel υ̣[

Wie *** schweigen(d?) *** *** kalt *** V. 4 ψυχρο.̣ [: ψυχρόϲ wird von Poseidipp noch an drei weiteren Stellen des Gedichtbuches verwendet: zum einen in der Bedeutung ‚kalt‘, vgl. 93.2, wo jemand unter dem kalten Sternzeichen des Widders gestorben ist (ὤλετο γὰρ ψυχροῦ ἐπ’ Αἰγόκερω) und 55.6, wo die Betten der Liebhaber der Nikomache, nachdem diese gestorben ist, kalt bleiben (ἆ τότε γαμβρῶν / τῶν

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μνηϲτευομένων ψύχρ’ ἔμενεν λέχεα); zum anderen in der Bedeutung ‚tot‘, vgl. 60.4, wo das Wort auf den toten Vater bezogen ist (μὴ κλαύϲητέ με, τέκνα, φίλην δ’ ἐπὶ πατρὶ κονίην / ψ[υχρ]ῶι̣ παππώιωϲ χώϲατ’ ἐπ’ ἐϲχατιῆϲ). Die Kälte bildet in jedem Fall einen starken Kontrast zum folgenden, ebenfalls äußerst fragmentarisch überlieferten Epigramm, wo die Erwähnungen von Zephyr und Frühling (110.1) eine thematisch neue Sektion zu eröffnen scheinen.

[ohne Sektionstitel] Der Titel der zehnten Sektion,1 der in Zeile 18 der XVIten Kolumne gestanden hat, ist verloren gegangen;2 erhalten sind lediglich kleine Reste dreier Epigramme,3 die so kärglich sind, dass man, anders als im Falle der Epitymbia, einen Titel nicht sicher erschließen kann. Die Ersther­ ausgeber halten es angesichts des erstaunlichen Fehlens von erotischen und sympotischen Epigrammen für möglich, dass mit dem Gedicht eine Sektion mit dem Titel Ἐρωτικά4 oder Ϲυμπωτικά begonnen hat; Austin hat mit Blick auf die am Anfang von 110 erhaltenen Wörter Frühling (εἴαροϲ) und Zephyr (ἡ Ζεφ[υρ) denTitel Ὧραι (Jahreszeiten) erwogen; Bernsdorff (2002, 32–37) votiert auf der Basis der erhaltenen Reste von 110 (s. Komm.) für Προτρεπτικά, wie sie am Anfang des zehnten Buchs der Anthologia Palatina zusammengestellt sind, schließt aber auch Austins Ὧραι nicht aus.5 Kwapisz hat jüngst Bernsdorffs Überlegungen fortgeführt und schlägt auf der Basis seiner Ergänzung von 111 V. 1 (s. Komm.) den Titel Ναυτικά vor.6 110 XVI 19 20 21 22

εἴαροϲ ἡ Ζεφ[υρ β.[ κα.[ [.]κ̣νεῖν καὶ [

1 2 3 4

19 Ζεφ[ύρου vel pot. [υρῖτιϲ Hutchinson 2002 : Ζεφ[ύροιο Angiò 2002b : ἢ Ζεφ[υρ … ἢ… Kwapisz 2011  20 α̣[ vel λ̣[  21 ι̣[, κ̣[, ν̣[, ρ̣[  22 [ὀ]κ̣νεῖν ed. pr., min. : [ἐ]κ̣νεῖν Lapini 2004a

Des Frühlings (Zephyr) […] […] […] (zögern?) V. 1 ἡ Ζεφ[υρ: Die erhaltenen Buchstaben ηζεφ können wohl nur zu einer Form von Zephyros oder dem davon abgeleiteten Adjektiv Zephyritis gehören. Der Westwind, der in der Antike als Frühlingsbote galt, würde gut zu εἴαροϲ passen. – Versteht man das η als Artikel ἡ, bietet sich der Genitiv des Substantivs (Hutchinson 2002: Ζεφ[ύρου; Angiò 2002b: Ζεφ[ύροιο) an,

1 2 3 4 5 6

Vgl. zu der Sektion, die verständlicherweise relativ wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, Bernsdorff 2002, 32–37; Conca 2002, Lapini 2004a und 2007 sowie vor allem Kwapisz 2011. Dass an dieser Stelle eine neue Sektion beginnt, ist dadurch gesichert, dass am Rande von XVI Z. 17 die Zahl der Verse, die die Sektion Tropoi umfasste, steht. Die Paragraphoi sind erhalten. Vgl. auch Lapini 2004; s. Komm. zu V. 4. Bernsdorff 2002, 37: „Verträglich ist meine Vermutung mit C. Austins Vorschlag eines Titels Ὧραι, da ein protreptisches Frühlingsgedicht einen Jahreszeitenzyklus gut einleiten könnte.“ Kwapisz 2011, 66: „The main problem with the proposal – that no such class as Ναυτικά is easily discernible among the early Hellenistic epigrams that have reached us – may be considered, paradoxically, as an argument in its favour, since the Milan roll has taught us, with the headings such as Λιθικά, Οἰωνοϲκοπικά, Ἱππικά and Ἰαματικά, how little we know of the third-century conceptions of the categorising of epigrams.“

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[ohne Sektionstitel] 111

zu dem dann der Nom. Sg. eines femininen Substantivs wie αὔρα oder πνοιή zu ergänzen wäre. Für das Adjektiv (im Nom.) gilt, dass es nicht nur den Wind (mit den genannten Ergänzungen) bezeichnen, sondern, worauf Lapini hingewiesen hat (2004a, 47 u. 2007, 157), auch als Beiname der Aphrodite bzw. der Arsinoë Aphrodite (vgl. 116.7) oder des Vorgebirges Zephyrion verstanden werden könnte, auf dem der Tempel der Arsinoë Zephyritis stand (vgl. 119.3: Ζεφυρῖτιϲ ἀκτή). – Kwapisz 2011 weist darauf hin, dass es sich bei dem η auch um ἢ handeln könnte, das dann die erste von zwei verschiedenen Symptomen des Fühlings einführen würde (ἢ … ἢ). V. 4 [.]κ̣νεῖν: Die Ergänzung der Erstherausgeber ὀκνεῖν (‚zögern‘, ‚zaudern‘) würde, wie Bernsdorff (2002, 34 –37) gezeigt hat, gut zu dem in Vers 1 genannten milden Westwind passen, der in einer Reihe von Epigrammen erscheint, „die dazu auffordern, nach den Stürmen des Winters wieder das Meer zu befahren.“ Lapini (2004, 47 f.) ergänzt ἐκνεῖν (‚herausschwimmen‘, ‚entkommen‘), das er mit Verweis auf die Bedeutung der Sturmmetaphorik in erotischen Kontexten als Bestätigung für die von den Erstherausgebern erwogene Möglichkeit betrachtet, dass der Titel der Sammlung Ἐρωτικά gewesen sein könnte. 111 XVI 23 24 25 26

πᾶν τε̣τ̣α̣.[ [ λ.[ [

1 2 3 4

23 ν̣[ pot. quam μ̣[ : πᾶν τε̣τ̣ά̣ν̣[υϲται λαῖφoϲ vel πᾶν τε̣τ̣ά̣ν̣[υϲτο … λαῖφoϲ Kwapisz 2011  25 ε̣[ pot. quam α̣[

V. 1: Kwapisz (2011, 65) geht bei seiner Ergänzung πᾶν τε̣τ̣ά̣ν̣[υϲται λαῖφoϲ (‚das ganze Segel ist ausgebreitet‘) und den Alternativen τε̣τ̣ά̣ν̣[υϲτο … λαῖφoϲ / λαίφεα (‚das/die Segel war/en ausgebreitet‘) von Bernsdorffs (2002) Überlegung aus (s. o.), dass wir es in dieser Sektion mit Epigrammen zu tun haben, die die Seefahrt thematisieren: „There are reasons to believe that Ep. 110 contained an exhortation to sail out of a port, or at least alluded to the beginning of the sailing season, and that Ep. 111 featured a sailing ship. “ Als Titel der Sektion schlägt er deshalb Ναυτικά vor. 112 XVI 27 28

.[ .[

1 2

28 μ̣[ vel ν̣[ pot. quam α̣[, δ̣[, λ̣[

Vom dritten Εpigramm der Sektion sind nur geringe Spuren der Anfangsbuchstaben der ersten beiden Verse erhalten. – Links von V. 1 steht die noch nicht geklärte Abkürzung του (s. Einl., S. 11, Anm. 18).

Anhang

Der Alte Poseidipp 2 4 6 8 10 12 14

2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 1

113 …… θοινα[ ]τ̣ε φλεγετ[ ϲιγηλου[ ].ρια καὶ Πτολεμ[αιἀϲπάϲιοι, βα̣[ϲιλεῖϲ, τοῦδε] δέχοιϲθε γέραϲ, ὃϲ καὶ λάϊνον [ἔργον ἐθ]ήκατο, δαψιλὲϲ οἴκωι κτίϲμα, πάρ̣[οϲ λ]ευκὴν ἐκποδίϲαϲ ϲταγόνα, εἰϲ ἡμίϲφαιρον [τ]εύξαϲ θέϲιν· ἡ δὲ λυχνῖτιϲ ζώνη ϲτυλοῦται πέζαν Ἴωνι τύπωι ῥάβδου κοίληϲ ἐντόϲ, ἀποϲτίλβει δὲ Ϲυηνὶϲ ϲτικτὴ πρὸϲ πτέρναιϲ· κίονοϲ ἥδε θέϲιϲ. ἡ δ’ ἀφ’ Ὑμηττοῦ πέτροϲ ἐρευγομένη πόμα κρήνηϲ ἐκδέχεται ϲπιλάδων ὑγρὰ διαινομένη. εἰκόνα δ’ ὑμετέρην ἐτυπώϲατο πίονι λύγδωι πρηΰναϲ, μέϲϲην δ’ ἥρμοϲ[ε]ν Ἀρϲινόην ϲύγκληρον Νύμφαιϲ κατὰ πᾶν ἔτοϲ. ἀλλ’ ἐπὶ πηγὴν τήνδε μετ’ εὐνομίηϲ βαίνετε, Κρηνιάδεϲ. 114 …… ].οτα[..].υ̣κ̣.[ Ἀρϲι]ν̣όηϲ δ’ ἴϲχετε χε…[ π]ά̣ρεϲτιν ἀπ’ Οὐ[λύμποιο ⏑–⏑ ]. θ̣εῶν δῶρα δ̣……ο̣δων χρυϲ]είου ἀπὸ κρητῆροϲ ἀέρϲην ]ων ἤγαγεν εἰναετῶν ].ν̣τοϲ ἐλούϲατο παρθένοϲ Ἥρ[η Οὐλ]ύμπωι παϲτὸν ὑπερχομέν̣[η ]. δέοντοϲ ἐμῶν ἀπιθήϲετε [–⏑ Μου]σ̣έων εἶπα διδαϲκόμενοϲ. κρ]ήνηϲ …. οἴϲετε φύλλα καὶ ἄν[θη ].η̣ δ’ οὐκ ἀκ̣έ̣[ϲ]ε̣ϲθε ποτῶι ] Ἀ̣ρ̣[ϲι]ν̣ό̣ηϲ ποταμὸϲ μ[ε]τ̣ε̣βάλ̣λ̣ε̣τ̣ο̣ . ] π̣ρ̣οθ̣ύρων δαψιλὲϲ οἶδ[μ]α φέρει ] ἀ̣γ̣[ε]λαίη ὅθεν καὶ π[α]σ̣τὸϲ ἄποπτ̣[οϲ ]ι̣ων ὑετὸϲ αἰθρο….. ] κ̣ρήνην ἱερο….. ἀθανάτων ] φίληϲ ἁγνὰ λοετρὰ κόρηϲ ϲὺ]ν παιδὶ βαθυζώνοιο Διώνηϲ νύ]μφην οὐκ ἐθέλουϲα νυόν ]ωϲτῆροϲ1 ἄτερ καλ[.].ναδε[–⏑ ν]υμφάων ἱερὸϲ ἠέλ̣ι̣ο̣ς̣ ]ά̣μοιϲι πόϲιϲ καλ[ ]τωι δῶκ̣ε̣ν̣ ….[ Lege κλωϲτῆροϲ Loyd-Jones et Parsons vel ζωϲτῆροϲ Mahaffy.

113 […] Festmahl […] leuchtet […] still […] und Ptolemai[…] Ihr Könige, mögt ihr freudig das Geschenk dieses Mannes annehmen, der auch ein Werk aus Stein errichtet hat, eine opulente Anlage für euer Haus, wobei er zuerst glänzendes Wasser freisetzte und das Werk in die Form eines Halbkreises brachte. Die Umfassung aus parischem Marmor trägt entlang ihrem Rand konkav gefurchte Säulen ionischen Stils. Gesprenkelter Syenit leuchtet an den Sockeln: So präsentiert sich die Säulenstellung. Der Stein vom Hymettos lässt den Trank der Quelle hervorsprudeln, und wasserbenetzt fängt er ihn von den hohlen Felsen auf. Dann meißelte er euer Bild aus reichem weißem Marmor, glättete es und stellte in der Mitte Arsinoe dazu, die ‹so› das ganze Jahr über den Platz mit den Nymphen teilt. Wohlan, ihr Quelltöchter, kommt wohlgeordnet zu diesem Brunnen. 114 […] […] […] der Arsinoë aber haltet […] […] ist da vom Olympos […] Geschenke der Götter […] […] von einem goldenen Krater den Tau […] der neunjährigen führte […] wusch sich die Jungfrau Hera […] auf dem Olympos das Brautgemach betretend […] meiner […] werdet ihr nicht gehorchen […] […] sagte ich von den Musen lernend. […]der Quelle […] ihr werdet Laub und Blüten bringen […] ihr werdet nicht stillen mit einem Trank […] der Arsinoë […] der Fluss veränderte sich […] […] der Vorhöfe […] ein gewaltiges Anschwellen bringt […] von der Herde, von wo auch das Brautgemach sichtbar […] Regen vom (Himmel) […] Quelle […] heilig […] der Unsterblichen […] die geheiligten Badeplätze des lieben Mädchens […]mit dem Kind der tief gegürteten Dione […] die die Braut nicht als Schwiegertochter will […] ohne Spindel/Gürtel […] […] der Nymphen heilige Sonne […] Gatte […] […] gab […]

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Der Alte Poseidipp 115

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115 Ἑλλήνων ϲωτῆρα, Φάρου ϲκοπόν, ὦ ἄνα Πρωτεῦ, Ϲώϲτρατοϲ ἔϲτηϲεν Δεξιφάνουϲ Κνίδιοϲ· οὐ γὰρ ἐν Αἰγύπτωι ϲκοπαὶ οὔρεοϲ οἷ’ ἐπὶ νήϲων, ἀλλὰ χαμαὶ χηλὴ ναύλοχοϲ ἐκτέταται. τοῦ χάριν εὐθεῖάν τε καὶ ὄρθιον αἰθέρα τέμνειν πύργοϲ ὅδ’ ἀπλάτων φαίνετ’ ἀπὸ ϲταδίων ἤματι, παννύχιοϲ δὲ θοῶϲ ἐν κύματι ναύτηϲ ὄψεται ἐκ κορυφῆϲ πῦρ μέγα καιόμενον, καί κεν ἐπ’ αὐτὸ δράμοι Ταύρου Κέραϲ, οὐδ’ ἂν ἁμάρτοι Ϲωτῆροϲ, Πρωτεῦ, Ζηνὸϲ ὁ τῆιδε πλέων.

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116 μέϲϲον ἐγὼ Φαρίηϲ ἀκτῆϲ ϲτόματόϲ τε Κανώπου ἐν περιφαινομένωι κύματι χῶρον ἔχω, τήνδε πολυρρήνου Λιβύηϲ ἀνεμώδεα χηλήν, τὴν ἀνατεινομένην εἰϲ Ἰταλὸν Ζέφυρον, ἔνθα με Καλλικράτηϲ ἱδρύϲατο καὶ βαϲιλίϲϲηϲ ἱερὸν Ἀρϲινόηϲ Κύπριδοϲ ὠνόμαϲεν. ἀλλ’ ἐπὶ τὴν Ζεφυρῖτιν ἀκουϲομένην Ἀφροδίτην, Ἑλλήνων ἁγναί, βαίνετε, θυγατέρεϲ, οἵ θ’ ἁλὸϲ ἐργάται ἄνδρεϲ· ὁ γὰρ ναύαρχοϲ ἔτευξεν τοῦθ’ ἱερὸν παντὸϲ κύματοϲ εὐλίμενον.

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117 ] Μοῦϲαι φίλαι, ἐϲτὶ τὸ γράμμα τ]ῶν ἐπέων ϲοφίηι τὸ]ν ἄνδρα – καί ἐϲτί [μ]οι ὥϲπερ ἀδελφόϲ – ]ν κάλ’ ἐπιϲταμεν[.]ν.2

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118 εἴ τι καλόν, Μοῦϲαι πολιήτιδεϲ, ἢ παρὰ Φοίβου χρυϲολύρεω καθαροῖϲ οὔαϲιν ἐκλ[ύ]ετε Παρνηϲοῦ νιφόεντοϲ ἀνὰ πτύχ[α]ϲ ἢ παρ’ Ὀλύμπωι Βάκχωι τὰϲ τριετεῖϲ ἀρχόμεναι θυμέλα[ϲ, νῦν δὲ Ποϲε[ι]δίππωι ϲτυγερὸν ϲυναείρατε γῆραϲ γραψάμεναι δέλτων ἐν χρυϲέαιϲ ϲελίϲιν. λιμπάνετε ϲκοπιὰϲ Ἑλικωνίδαϲ, εἰϲ δὲ τὰ Θήβηϲ τείχεα Πιπ[λ]ε̣ί̣ηϲ βαίνετε, Καϲταλίδεϲ. καὶ ϲὺ Ποϲείδιππόν ποτ’ ἐφίλαο, Κύνθιε, Λητοῦϲ υἵ’ ἑ̣κ̣ά̣ε[ργ]ε̣, β̣έ̣λ̣ο̣ς̣ (vacat) [..].[……].ρ̣α̣ν̣[.]ν̣ω̣…………. φήμη τιϲ νιφόεντ’ οἰκία τοῦ Παρίου. τοίην ἐκχρήϲαιϲ τε καὶ ἐξ ἀδύτων καναχήϲαι[ϲ φωνὴν ἀθανάτην, ὦ ἄνα, καὶ κατ’ ἐμοῦ,

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Lege τῶν κάλ’ ἐπιϲταμέν[ω]ν edd. pr.

Urs Müller

115 Als Retter der Griechen, o Herrscher Proteus, hat Sostratos von Knidos, Sohn des Dexiphanes, den Wächter von Pharos errichtet, denn in Ägypten gibt es keine Wachtposten auf Bergen wie auf den Inseln, sondern flach erstreckt sich eine Mole, einen sicheren Ankerplatz bietend. Deswegen sieht man tagsüber diesen Turm aus der Entfernung unzähliger Stadien die Luft in gerade aufragender Linie durchschneiden, und die ganze Nacht hindurch wird der Seefahrer auf dem Meer sofort das gewaltige Feuer von der Spitze brennen sehen. Wer hier segelt, der könnte sogar auf das Horn des Tauros zusteuern und dürfte wohl nicht, o Proteus, Zeus Soter verfehlen. 116 In der Mitte zwischen der schroffen Küste von Pharos und der Mündung des Kanopos, inmitten der ringsum sichtbaren Wellen habe ich meinen Platz – diesen windgepeitschten Felsvorsprung des lämmerreichen Libyen, der sich in Richtung des italischen Zephyros erstreckt –, wo Kallikrates mich errichtet und „Heiligtum der Königin Arsinoë Kypris“ genannt hat. Wohlan, kommt zu ihr, die künftig Aphrodite Zephyritis heißen soll, ihr reinen Töchter der Griechen, und auch ihr, ihr Arbeiter der See, denn der Flottenführer hat dieses Heiligtum errichtet als einen vor jeder Welle sicheren Hafen. 117 […] liebe Musen, das Schriftstück ist […] durch die Kunst der Worte […] den Mann – und er ist für mich wie ein Bruder – […] der Kenner des Schönen. 118 Wenn ihr, ihr Musen meiner Stadt, mit reinen Ohren etwas Schönes gehört habt, sei es von Phoibos mit der goldenen Leier in den Schluchten des verschneiten Parnassos, sei es beim Olympos, wenn ihr die alle drei Jahre stattfindenden Festlichkeiten für Bakchos beginnt, helft jetzt Poseidippos das verhasste Greisenalter zu tragen, indem ihr in den goldenen Kolumnen eurer Tafeln schreibt. Verlasst die Gipfel des Helikon und kommt zu den Mauern des pipleischen Theben, ihr Töchter der Kastalia. Auch du hast einst Poseidippos geliebt, Gott vom Kynthos, fern treffender Sohn der Leto, ein Pfeil […] […] ein Orakel ‹zum› schneeweißen Haus des Mannes von Paros. Mögest du aus dem Inneren deines Heiligtums, o Herrscher, auch über mich solch einen unsterblichen Spruch verkünden und erklingen lassen,

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Der Alte Poseidipp 119

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ὄφρα με τιμήϲωϲι Μακηδόνεϲ, οἵ τ’ ἐπὶ ν̣[ήϲων οἵ τ’ Ἀϲίηϲ πάϲηϲ γείτονεϲ ἠϊόνοϲ. Πελλαῖον γένοϲ ἀμόν· ἔοιμι δὲ βίβλον ἑλίϲϲων ἄφνω3 λαοφόρωι κείμενοϲ εἰν ἀγορῆι. ἀλλ’ ἐπὶ μὲν Παρίηι δὸϲ ἀηδόνι λυγρὸν ἐφ.[ νῆμα κατὰ γληνέων δάκρυα κε̣ι̣ν̣ὰ̣ χ̣έ̣ω̣[ν καὶ ϲτενάχων, δι’ ἐμὸν δὲ φίλον ϲτόμα [–⏑⏑–⏑ α̣σ̣τ̣[…]………….. [..]………..[ μηδέ τιϲ οὖν χεύαι δάκρυον· αὐτὰρ ἐγὼ γήραϊ μυϲτικὸν οἶμον ἐπὶ Ῥαδάμανθυν ἱκοίμην δήμωι καὶ λαῶι παντὶ ποθεινὸϲ ἐών, ἀϲκίπων ἐν ποϲϲὶ καὶ ὀρθοεπὴϲ ἀν’ ὅμιλον καὶ λείπων τέκνοιϲ δῶμα καὶ ὄλβον ἐμόν.

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119 τοῦτο καὶ ἐν πόντωι καὶ ἐπὶ χθονὶ τῆϲ Φιλαδέλφου Κύπριδοϲ ἱλάϲκεϲθ’ ἱερὸν Ἀρϲινόηϲ, ἣν ἀνακοιρανέουϲαν ἐπὶ Ζεφυρίτιδοϲ ἀκτῆϲ πρῶτοϲ ὁ ναύαρχοϲ θήκατο Καλλικράτηϲ· ἡ δὲ καὶ εὐπλοίην δώϲει καὶ χείματι μέϲϲωι τὸ πλατὺ λιϲϲομένοιϲ ἐκλιπανεῖ πέλαγοϲ.

120 ‹ 2                                         › καὶ περὶ ϲυνθεϲίηϲ ἔφαγόν ποτε Μηιόνιον βοῦν, πάτρη γὰρ βρώμην οὐκ ἂν ἐπέϲχε Θάϲοϲ 4 Θευγένει, ὅϲϲα φαγὼν ἔτ’ ἐπήιτεον· οὕνεκεν οὕτω χάλκεοϲ ἑϲτήκω χεῖρα προϊϲχόμενοϲ. 6 2 4 6

121 Φυρόμαχον, τὸν πάντα φαγεῖν βορόν, οἷα κορώνην παννυχικήν, αὕτη ῥωγὰϲ ἔχει κάπετοϲ χλαίνηϲ ἐν τρύχει Πελληνίδοϲ, ἀλλὰ ϲὺ τούτου καὶ χρῖε ϲτήλην, Ἀττικέ, καὶ ϲτεφάνου, εἴ ποτέ ϲοι προκύων ϲυνεκώμαϲεν, ἦλθε δ’ ἀμαυρὰ βλέψαϲ ἐκ πελιῶν νωδὸϲ ἐπιϲκυνίων,

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ὁ τρεχέδειπνοϲ ἀεὶ μονολήκυθοϲ· ἐκ γὰρ ἀγώνων τῶν τότε ληναϊκὴν ἦλθ’ ὑπὸ Καλλιόπην.

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Lege ἀμφοῖν Diels.

Urs Müller

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auf dass die Makedonen mich ehren, sowohl die auf den Inseln als auch die Küstenbewohner ganz Asiens. 16 In Pella sind meine Wurzeln. Möge es mir vergönnt sein, mit einer Buchrolle in beiden Händen auf der bevölkerten Agora zu stehen. 18 Der parischen Nachtigall aber gewähre einen trauervollen […] Faden, indem du leere Tränen aus deinen Augen fließen lässt 20 und stöhnst, durch meinen lieben Mund hingegen […] […] 22 […] und niemand soll also eine Träne vergießen. Ich aber möge 24 im hohen Alter den mystischen Pfad zu Rhadamanthys gehen, vermisst von den Mitbürgern und dem gesamten Volk, 26 ohne Stock und auf ‹eigenen› Füßen, tadellos in der Rede an die Menge, und meinen Kindern mein Haus und mein Vermögen hinterlassen. 28 119 Sowohl auf hoher See als auch auf dem Land erweist diesem Heiligtum der Kypris Arsinoë Philadelphos Ehre, die als Erster der Flottenführer Kallikrates als Herrscherin auf dem Felsvorsprung von Zephyrion eingesetzt hat. Sie wird gute Fahrt gewähren und mitten im Sturm all jenen, die sie darum bitten, das weite Meer besänftigen. ‹

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›   2 und anlässlich einer Wette aß ich einst einen mäonischen Ochsen, denn meine Heimat Thasos hätte Theagenes nicht ernährt. 4 Wie viel auch immer ich schon gegessen hatte, ich verlangte immer noch mehr. Deshalb stehe ich so in Bronze da – mit ausgestreckter Hand. 6 121 Den Phyromachos, den wie eine Krähe bei nächtlichem Fest alles verschlingenden Vielfraß, umschließt dieser schroffe Graben hier in den Fetzen eines Mantels aus Pellene. Du aber salbe seine Grabsäule, Mann aus Attika, und bekränze sie, wenn dieser hündische Schmarotzer jemals mit dir zusammen gefeiert hat oder zahnlos und mit verschwommenem Blick unter blutig-schwarzen Augenbrauen hervor aufgetaucht ist dieser ‚Festsprinter‘ mit stets nur einer Lekythos. Denn nach den Kämpfen von damals kam er zur lenäischen Kalliope.

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Der Alte Poseidipp 122

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122 Δωρίχα, ὀϲτέα μὲν ϲὰ πάλαι κόνιϲ ἦν ὅ τε δεϲμὸϲ χαίτηϲ ἥ τε μύρων ἔκπνοοϲ ἀμπεχόνη, ἧι ποτε τὸν χαρίεντα περιϲτέλλουϲα Χάραξον ϲύγχρουϲ ὀρθρινῶν ἥψαο κιϲϲυβίων· Ϲαπφῶιαι δὲ μένουϲι φίληϲ ἔτι καὶ μενέουϲιν ὠιδῆϲ αἱ λευκαὶ φθεγγόμεναι ϲελίδεϲ οὔνομα ϲὸν μακαριϲτόν, ὃ Ναύκρατιϲ ὧδε φυλάξει ἔϲτ’ ἂν ἴηι Νείλου ναῦϲ ἐφ’ ἁλὸϲ πελάγη.

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123 Κεκροπί, ῥαῖνε, λάγυνε, πολύδροϲον ἰκμάδα Βάκχου, ῥαῖνε· δροϲιζέϲθω ϲυμβολικὴ πρόποϲιϲ. ϲιγάϲθω Ζήνων ὁ ϲοφὸϲ κύκνοϲ, ἅ τε Κλεάνθουϲ μοῦϲα, μέλοι δ’ ἡμῖν ὁ γλυκύπικροϲ Ἔρωϲ.

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124 τέϲϲαρεϲ οἱ πίνοντεϲ· ἐρωμένη ἔρχεθ’ ἑκάϲτωι. ὀκτὼ γινομένοιϲ Χῖον ἓν οὐχ ἱκανόν. παιδάριον, βαδίϲαϲ πρὸϲ Ἀρίϲτιον εἰπὲ τὸ πρῶτον ἡμιδεὲϲ πέμψαι, χοῦϲ γὰρ ἄπειϲι δύο ἀϲφαλέωϲ, οἶμαι δ’ ὅτι καὶ πλέον. ἀλλὰ τρόχαζε, ὥραϲ γὰρ πέμπτηϲ πάντεϲ ἀθροιζόμεθα.

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125 μή με δόκει πιθανοῖϲ ἀπατᾶν δακρύοιϲι, Φιλαινί· οἶδα· φιλεῖϲ γὰρ ὅλωϲ οὐδένα μεῖζον ἐμοῦ τοῦτον ὅϲον παρ’ ἐμοὶ κέκλιϲαι χρόνον· εἰ δ’ ἕτερόϲ ϲε εἶχε, φιλεῖν ἂν ἔφηϲ μεῖζον ἐκεῖνον ἐμοῦ.

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126 αὐτοὶ τὴν ἁπαλὴν Εἰρήνιον εἶδον Ἔρωτεϲ Κύπριδοϲ ἐκ χρυϲέων ἐρχόμενοι θαλάμων, ἐκ τριχὸϲ ἄχρι ποδῶν ἱερὸν θάλοϲ οἷά τε λύγδου γλυπτήν, παρθενίων βριθομένην χαρίτων· καὶ πολλοὺϲ τότε χερϲὶν ἐπ’ ἠϊθέοιϲιν ὀϊϲτοὺϲ τόξου πορφυρέηϲ ἧκαν ἀφ’ ἁρπεδόνηϲ.

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127 πορφυρέην μάϲτιγα καὶ ἡνία ϲιγαλόεντα Πλαγγὼν εὐίππων θῆκεν ἐπὶ προθύρων, νικήϲαϲα κέλητι Φιλαινίδα τὴν πολύχαρμον ἑϲπερινῶν πώλων ἄρτι φρυαϲϲομένων. Κύπρι φίλη, ϲὺ δὲ τῆιδε πόροιϲ νημερτέα νίκηϲ δόξαν, ἀείμνηϲτον τήνδε τιθεῖϲα χάριν.

Urs Müller

122 Doricha, deine Knochen sind schon lange Staub, ebenso das Band deines Haars und dein feiner, den Duft von Parfüm verströmender Umhang, mit dem du einst den schönen Charaxos einzuhüllen pflegtest, worauf du Haut an Haut mit ihm die Becher der frühen Morgenstunden ergriffst. Aber die strahlenden Kolumnen von Sapphos lieblichem Lied bestehen noch immer und werden immer bestehen. Deinen Namen werden sie erklingen lassen, den seligsten von allen, den Naukratis hier bewahren wird, solange Schiffe vom Nil auf die Weiten des Meeres segeln. 123 Lass, kekropische Kanne, lass Bakchos’ feuchten Tau sprudeln, denn taufrisch soll unser gemeinsamer Eröffnungstrunk sein. Kein Wort von Zenon, dem weisen Schwan, und von der Muse des Kleanthes! Unser Anliegen sei der bittersüße Eros. 124 Vier Trinker kommen, einen jeden begleitet die Geliebte. Acht werden es also sein. Für die wird ein Krug vom Chier nicht reichen. He, Knabe! Geh zu Aristios und sag, er habe den ersten halbvoll geschickt. Es fehlen bestimmt zwei Maß, sogar noch mehr, glaube ich. Aber lauf schnell, denn zur fünften Stunde versammeln wir uns alle. 125 Glaub nicht, Philainis, dass du mich mit deinen Überredungstränen täuschst. Ich weiß Bescheid: Du liebst bestimmt keinen mehr als mich – solange du neben mir liegst. Wenn aber ein anderer dich in den Armen hielte, würdest du sagen, du liebtest ihn mehr als mich.

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126 Die Eroten selbst haben die zarte Eirenion betrachtet, als sie aus den goldenen Gemächern der Kypris kamen, 2 einen heiligen Spross vom Scheitel bis zu den Füssen, wie aus blendend weißem Marmor gemeißelt, voll mädchenhafter Grazie. 4 Und viele Pfeile schossen sie da mit ihren Händen von der purpurnen Sehne ihres Bogens auf junge Männer. 6 127 Eine purpurne Peitsche und glänzende Zügel weihte Plangon beim Hof der guten Pferde nach ihrem mit dem Rennpferd errungenen Sieg über die wettkampferprobte Philainis, als die Fohlen des Abends gerade wieherten. Mögest du, liebe Kypris, ihr den wahren Ruhm ihres Sieges gewähren, indem du diese Gabe des Dankes unvergessen machst.

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Der Alte Poseidipp 128

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128 ϲήν, Παφίη Κυθέρεια, παρ’ ἠϊόν’ εἶδε Κλέανδροϲ Νικοῦν ἐν χαροποῖϲ κύμαϲι νηχομένην, καιόμενοϲ δ’ ὑπ’ ἔρωτοϲ ἐνὶ φρεϲὶν ἄνθρακαϲ ὡνὴρ ξηροὺϲ ἐκ νοτερῆϲ παιδὸϲ ἐπεϲπάϲατο. χὠ μὲν ἐναυάγει γαίηϲ ἔπι, τὴν δὲ θαλάϲϲηϲ ψαύουϲαν πρηεῖϲ εἴχοϲαν αἰγιαλοί. νῦν δ’ ἴϲοϲ ἀμφοτέροιϲ φιλίηϲ πόθοϲ, οὐκ ἀτελεῖϲ γὰρ εὐχαὶ τὰϲ κείνηϲ εὔξατ’ ἐπ’ ἠϊόνοϲ.

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129 δάκρυα καὶ κῶμοι, τί μ’ ἐγείρετε πρὶν πόδαϲ ἆραι ἐκ πυρὸϲ εἰϲ ἑτέρην Κύπριδοϲ ἀνθρακιήν; λήγω δ’ οὔποτ’ ἔρωτοϲ, ἀεὶ δέ μοι ἐξ Ἀφροδίτηϲ ἄλγοϲ ὁ μὴ κρίνων καινὸν ἄγει τι Πόθοϲ.

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130 Πυθιὰϲ εἰ μὲν ἔχει τιν’, ἀπέρχομαι· εἰ δὲ καθεύδει ὧδε μόνη, μικρὸν πρὸϲ Διὸϲ εἰϲκαλέϲαι. εἰπὲ δὲ ϲημεῖον, μεθύων ὅτι καὶ διὰ κλωπῶν ἦλθον Ἔρωτι θραϲεῖ χρώμενοϲ ἡγεμόνι.

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131 τὸν τριετῆ παίζοντα περὶ φρέαρ Ἀρχιάνακτα εἴδωλον μορφᾶϲ κωφὸν ἐπεϲπάϲατο, ἐκ δ’ ὕδατοϲ τὸν παῖδα διάβροχον ἅρπαϲε μάτηρ ϲκεπτομένα ζωᾶϲ εἴ τινα μοῖραν ἔχει. Νύμφαϲ δ’ οὐκ ἐμίηνεν ὁ νήπιοϲ, ἀλλ’ ἐπὶ γούνοιϲ ματρὸϲ κοιμαθεὶϲ τὸν βαθὺν ὕπνον ἔχει.

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132 ναυτίλοι, ἐγγὺϲ ἁλὸϲ τί με θάπτετε; πολλὸν ἄνευθε χῶϲαι ναυηγοῦ τλήμονα τύμβον ἔδει· φρίϲϲω κύματοϲ ἦχον, ἐμὸν μόρον. ἀλλὰ καὶ οὕτωϲ χαίρετε, Νικήτην οἵτινεϲ οἰκτίϲατε.

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133 ποίην τιϲ βιότοιο τάμοι τρίβον; εἰν ἀγορῆι μὲν νείκεα καὶ χαλεπαὶ πρήξιεϲ, ἐν δὲ δόμοιϲ φροντίδεϲ· ἐν δ’ ἀγροῖϲ καμάτων ἅλιϲ, ἐν δὲ θαλάϲϲηι τάρβοϲ· ἐπὶ ξείνηϲ δ’, ἢν μὲν ἔχηιϲ τι, δέοϲ, ἢν δ’ ἀπορῆιϲ, ἀνιαρόν. ἔχειϲ γάμον; οὐκ ἀμέριμνοϲ ἔϲϲεαι. οὐ γαμέειϲ; ζήϲει ἐρημότεροϲ. τέκνα πόνοι, πήρωϲιϲ ἄπαιϲ βίοϲ. αἱ νεότητεϲ ἄφρονεϲ, αἱ πολιαὶ δ’ ἔμπαλιν ἀδρανέεϲ. ἦν ἄρα τοῖν δοιοῖν ἑνὸϲ αἵρεϲιϲ, ἢ τὸ γενέϲθαι μηδέποτ’ ἢ τὸ θανεῖν αὐτίκα τικτόμενον.

Urs Müller

128 An deiner Küste, o paphische Kythereia, sah Kleandros Niko in der glitzernden See schwimmen, und in seinem Herzen vor Liebe brennend zog sich der Mann trockene Kohlen von dem feuchten Mädchen zu. Er erlitt einen Schiffbruch an Land, sie hingegen, die im Meer badete, nahmen freundliche Strände auf. Jetzt aber empfinden beide dasselbe Liebesverlangen, denn die Gebete, die er an jener Küste sprach, blieben nicht unerhört.

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129 Ihr Tränen und Festumzüge, was treibt ihr mich – noch bevor ich meine Füße aus dem einen Feuer gezogen habe – in eine andere Glut der Kypris? Niemals lasse ich von der Liebe ab, immer neuen Schmerz bringt mir von Aphrodite das Verlangen, das keine Unterschiede macht.

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130 Wenn Pythias jemanden hat, mache ich mich davon. Wenn sie da drin aber alleine schläft, dann – beim Zeus – möge sie mich für kurze Zeit hineinlassen! Sag ihr als Zeichen, dass ich betrunken und an Dieben vorbei hergekommen bin unter der Führung des kühnen Eros.

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131 Als der dreijährige Archianax am Brunnen spielte, zog ihn sein stummes Spiegelbild hinein. Die Mutter zerrte den durchnässten Knaben aus dem Wasser und prüfte, ob noch ein Rest Leben in ihm sei. Die Nymphen hatte das Kind nicht befleckt, sondern auf den Knien der Mutter eingeschlummert ruht es im tiefen Schlaf. 132 Ihr Seeleute, warum bestattet ihr mich in der Nähe des Meeres? Weit davon entfernt müsste das elende Grab eines Schiffbrüchigen aufgeschüttet werden. Mich schaudert vor dem Rauschen der See, vor meinem Verhängnis. Doch seid mir gleichwohl gegrüßt, die ihr mit Niketes Mitleid hattet. 133 Was für einen Lebensweg kann ein Mensch einschlagen? Auf der Agora warten Streitereien und mühsame Geschäfte, zu Hause Sorgen; auf dem Feld Mühen zu Hauf, auf dem Meer das Grauen; in der Fremde die Angst, sofern du etwas besitzt, bist du aber arm, wirst du es schwer haben. Heiratest du? Du wirst nicht sorgenfrei sein. Heiratest du nicht? Du wirst zu einsam leben. Kinder sind eine Plage, ein kinderloses Leben ist eine Verstümmelung. Jugend ist ohne Verstand, graues Haar, auf der anderen Seite, ohne Kraft. So bleibt am Ende einzig die Wahl zwischen zwei Dingen: Entweder niemals geboren zu werden oder – einmal geboren – auf der Stelle zu sterben.

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Der Alte Poseidipp 134

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134 οὔ μοι θῆλυϲ ἔρωϲ ἐγκάρδιοϲ, ἀλλά με πυρϲοὶ ἄρϲενεϲ ἀϲβέϲτωι θῆκαν ὑπ’ ἀνθρακιῆι. πλειότερον τόδε θάλποϲ· ὅϲον δυνατώτεροϲ ἄρϲην θηλυτέρηϲ, τόϲϲον χὠ πόθοϲ ὀξύτεροϲ.

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135 ναὶ ναὶ βάλλετ’, Ἔρωτεϲ· ἐγὼ ϲκοπὸϲ εἷϲ ἅμα πολλοῖϲ κεῖμαι. μὴ φείϲηϲθ’, ἄφρονεϲ· ἢν γὰρ ἐμὲ νικήϲητ’, ὀνομαϲτοὶ ἐν ἀθανάτοιϲιν ἔϲεϲθε τοξόται ὡϲ μεγάληϲ δεϲπόται ἰοδόκηϲ.

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136 εἰ καθύπερθε λάβοιϲ χρύϲεα πτερά, καί ϲευ ἀπ’ ὤμων τείνοιτ’ ἀργυρέων ἰοδόκοϲ φαρέτρη, καὶ ϲταίηϲ παρ’ Ἔρωτα φιλάγλαον, οὐ μὰ τὸν Ἑρμᾶν οὐδ’ αὐτὴ Κύπριϲ γνώϲεται ὃν τέτοκεν.

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137 τὸν Μουϲῶν τέττιγα Πόθοϲ δήϲαϲ ἐπ’ ἀκάνθαιϲ κοιμίζειν ἐθέλει πῦρ ὑπὸ πλευρὰ βαλών· ἡ δὲ πρὶν ἐν βύβλοιϲ πεπονημένη ἄλλα θερίζει ψυχὴ ἀνιηρῶι δαίμονι μεμφομένη.

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138 εὐοπλῶ καὶ πρὸϲ ϲὲ μαχήϲομαι, οὐδ’ ἀπεροῦμαι θνητὸϲ ἐών· ϲὺ δ’, Ἔρωϲ, μηκέτι μοι πρόϲαγε. ἤν με λάβηιϲ μεθύοντ’, ἄπαγ’ ἔκδοτον, ἄχρι δὲ νήφω

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τὸν παραταξάμενον πρὸϲ ϲὲ λογιϲμὸν ἔχω.

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139 ἃ Κύπρον ἅ τε Κύθηρα καὶ ἃ Μίλητον ἐποιχνεῖϲ καὶ καλὸν Ϲυρίαϲ ἱπποκρότου δάπεδον, ἔλθοιϲ ἵλαοϲ Καλλιϲτίωι, ἃ τὸν ἐραϲτὴν οὐδέποτ’ οἰκείων ὦϲεν ἀπὸ προθύρων.

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140 Ναννοῦϲ καὶ Λύδηϲ ἐπίχει δύο καὶ φιλεράϲτου Μιμνέρμου καὶ τοῦ ϲώφρονοϲ Ἀντιμάχου· ϲυγκέραϲον τὸν πέμπτον ἐμοῦ, τὸν δ’ ἕκτον ἑκάϲτου, Ἡλιόδωρ’, εἴπαϲ ὅϲτιϲ ἐρῶν ἔτυχεν. ἕβδομον Ἡϲιόδου, τὸν δ’ ὄγδοον εἶπον Ὁμήρου, τὸν δ’ ἔνατον Μουϲῶν, Μνημοϲύνηϲ δέκατον. μεϲτὸν ὑπὲρ χείλουϲ πίομαι, Κύπρι. τἆλλα δ’, Ἔρωτεϲ, νήφειν οἰνωθέντ’ οὐχὶ λίην ἄχαρι.

Urs Müller

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134 Liebe zu Frauen habe ich nicht im Herzen, sondern das Brennen für Männer hat mich auf eine unauslöschliche Glut gesetzt. Diese Hitze ist größer: Um wie viel ein Mann stärker ist als eine Frau, um so viel heftiger ist auch dieses Verlangen.

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135 Ja, ja, schießt, ihr Eroten! Als alleiniges Ziel für viele zugleich liege ich ‹hier›. Schont mich nicht, ihr Narren, denn wenn ihr mich überwältigt, werdet ihr unter den Unsterblichen berühmt sein als Bogenschützen, als Gebieter über einen großen Köcher.

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136 Wenn du dir goldene Flügel überstreiftest und von deinen silbernen Schultern ein Köcher voller Pfeile hinge und du dich neben den glänzenden Eros stelltest – nein, beim Hermes, nicht einmal Kypris selbst würde erkennen, welcher ihr Sohn ist.

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137 Nachdem das Verlangen die Zikade der Musen auf Dornen gefesselt hat, will es sie zum Schweigen bringen, indem es unter ihren Seiten Feuer legt. Aber eine durch mühevolle Lektüre geübte Seele bringt eine andere Ernte ein und schiebt die Schuld auf einen lästigen Daimon.

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138 Ich bin gut gerüstet und werde gegen dich kämpfen und nicht aufgeben, auch wenn ich sterblich bin. Aber du, Eros, greif mich nicht weiter an! Wenn du mich betrunken erwischst, führe den Ausgelieferten ab. Solange ich aber nüchtern bin, habe ich gegen dich das klare Denken als Kampfgefährten an meiner Seite. 139 Du, die du Zypern und Kythera und Milet aufsuchst und das schöne, von Pferdehufen widerhallende Land Syrien, mögest du gnädig zu Kallistion kommen, die niemals einen Liebhaber von der Schwelle ihres Hauses verjagt hat.

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140 Schöpfe zwei für Nanno und für Lyde, einen für den liebestollen Mimnermos und einen für den maßvollen Antimachos. 2 Mische den fünften für mich, den sechsten, Heliodoros, mit den Worten „für jeden, der schon einmal geliebt hat.“ 4 Sag, der siebte ‹sei› für Hesiod, der achte für Homer, der neunte für die Musen, der zehnte für Mnemosyne. 6 Einen bis zum Rand gefüllten ‹Becher› werde ich trinken, Kypris. Im Übrigen, ihr Eroten, ist es überhaupt nicht unangenehm, nach dem Weinrausch nüchtern zu sein. 8

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Der Alte Poseidipp 141

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141 Κύπριδοϲ ἅδ’ εἰκών· φέρ’ ἰδώμεθα μὴ Βερενίκαϲ· διϲτάζω ποτέραι φῆι τιϲ ὁμοιοτέραν.

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142 – τίϲ πόθεν ὁ πλάϲτηϲ; – Ϲικυώνιοϲ. – οὔνομα δὴ τίϲ; – Λύϲιπποϲ. – ϲὺ δὲ τίϲ; – Καιρὸϲ ὁ πανδαμάτωρ. – τίπτε δ’ ἐπ’ ἄκρα βέβηκαϲ; – ἀεὶ τροχάω. – τί δὲ ταρϲοὺϲ ποϲϲὶν ἔχειϲ διφυεῖϲ; — ἵπταμ’ ὑπηνέμιοϲ. – χειρὶ δὲ δεξιτερῆι τί φέρειϲ ξυρόν; – ἀνδράϲι δεῖγμα ὡϲ ἀκμῆϲ πάϲηϲ ὀξύτεροϲ τελέθω. – ἡ δὲ κόμη τί κατ’ ὄψιν; – ὑπαντιάϲαντι λαβέϲθαι, νὴ Δία. – τἀξόπιθεν δ’ εἰϲ τί φαλακρὰ πέλει; – τὸν γὰρ ἅπαξ πτηνοῖϲι παραθρέξαντά με ποϲϲὶν οὔτιϲ ἔθ’ ἱμείρων δράξεται ἐξόπιθεν. – τοὔνεχ’ ὁ τεχνίτηϲ ϲε διέπλαϲεν; — εἵνεκεν ὑμέων, ξεῖνε, καὶ ἐν προθύροιϲ θῆκε διδαϲκαλίην.

Urs Müller

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141 Das hier ist ein Bild der Kypris. – Lass uns doch prüfen, ob es nicht eines der Berenike ist! Ich bin unschlüssig: Welcher der beiden, soll einer sagen, ist es ähnlicher? 2 142 Wer war der Bildhauer? Woher stammt er? – Aus Sikyon. – Und sein Name? 2 – Lysippos – Und wer bist du? – Kairos, der alles Bezwingende. – Warum stehst du auf den Zehenspitzen? – Ich renne immer. – Warum hast du ein Paar Flügel an deinen Füßen? – Ich fliege so schnell wie der Wind. 4 – Warum hältst du ein Rasiermesser in der rechten Hand? – Als Zeichen für die Menschen, dass ich schärfer bin als jede Schneide. 6 – Warum fallen dir die Haare ins Gesicht? – Damit einer, der ‹mir› entgegenkommt, ‹mich› packen kann, beim Zeus. – Warum ist dein Hinterkopf kahl? 8 – Bin ich einmal mit geflügelten Füßen vorbei gerannt, wird mich niemand von hinten ergreifen, wie sehr er es sich auch wünscht. 10 – Weshalb hat der Künstler dich geschaffen? – Euretwegen, Fremder, und beim Eingang hat er mich aufgestellt zur Belehrung. 12

Geopoetische Aspekte im Epigrammbuch Poseidipps von Pella Manuel Baumbach / Urs Müller Rezipienten literarischer Texte sind Wanderer zwischen den Welten. Sie verlassen für den Moment der Lektüre ihre Lebenswelt und betreten fiktive ‚Räume‘, die mit der Lebenswirklichkeit oder mit anderen künstlerisch-literarischen Welten mal stärker, mal schwächer im Dialog stehen und ihre eigentümliche Beschaffenheit durch Selektion und Kombination von bestimmten topographischen, architektonischen aber auch kulturellen Merkmalen erhalten. Für die Gestaltung und Beschreibung von Raum in literarischen Texten wird in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem sogenannten spatial oder topographical turn auch der Begriff der Geopoetik diskutiert.1 Im Unterschied zu topographischen und geographischen Betrachtungsweisen, die den (realen oder fiktiven) Raum als solchen in den Mittelpunkt stellen und auf das Objekt der Darstellung ausgerichtet sind, liegt der Fokus einer geopoetischen Analyse auf den Fragen, wie und warum Räume in Texten poetisch erschaffen, strukturiert und funktionalisiert werden.2 Mit Blick auf die jeweilige Inszenierung von Raum im Text lässt sich diskutieren, „mit welchen Schreibweisen, Verfahren, Narrativen, Symbolen und Motiven spezifische Raum-Poetiken hervorgebracht, semantisch aufgeladen und an bestimmte Orte, Landschaften und Territorien gekoppelt werden.“3 Dabei gilt, dass mit Ausnahme von solchen Räumen, die in einem Text erstmals und ohne direkten Bezug zu einer außertextlichen oder einer anderen textlichen Welt konturiert werden, alle Räume Spuren der ‚Benutzung‘ aufweisen und damit bestimmte semantische Bedeutungen haben, die entweder vom Text selbst aufgerufen oder von den Rezipienten an ihn herangetragen werden können. Geopoetische Lektüren möchten solche Bezüge und Bedeutungshorizonte offenlegen, wobei für die hellenistische Literatur zwei Aspekte als besonders fruchtbar erscheinen: Zum einen spielt der Umgang mit bereits konturierten literarischen ‚Räumen‘, die intertextuell aufgerufen oder über den Mythos eingespielt werden, eine wichtige Rolle für die Geopoetik hellenistischer Texte, da viele Autoren dieser Zeit ihren poetischen Gestaltungsraum aus dem kreativ-kritischen Umgang mit der literarischen Tradition gewonnen haben. Deutlich wird dies an den zahlreichen direkten und indirekten Anspielungen auf archaische und klassische Texte, die dem gebildeten Rezipienten die Möglichkeit boten, weitere Bedeutungsebenen zu erschließen und die Gelehrsamkeit ihrer Autoren zu würdigen. Vor diesem Hintergrund fällt die Beschreibung von Räumen in hellenistischen Texten oft zusammen mit dem Memorieren von früheren Texten, die eben diese Räume auf bestimmte Weise dargestellt und mit Bedeutungen versehen haben, die nun aufgerufen und neu verhandelt werden können. Zum anderen gewinnt die politische Bedeutung von Raum in hellenistischer Zeit verstärkt an Gewicht. Durch die Eroberungen Alexanders des Großen und die nachfolgenden Diadochenkriege kam es innerhalb des griechischen Siedlungsbzw. Kulturraums sowohl am Mittelmeer als auch mit Blick auf die hellenisierten Gebiete

1

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Der Begriff geht auf Kenneth Whites Arbeit Éléments de géopoétique aus dem Jahr 1987 zurück und wird in der Literaturwissenschaft in Auseinandersetzung mit früheren Raumkonstruktionen vor allem von Lotman, Bachtin, Cassirer und Foucault diskutiert, vgl. Hallet/Neumann 2009, 16–18, Lamberz 2010 u. Marszalek/Sasse 2010. Zu den stark kulturwissenschaftlich ausgerichteten Forschungsansätzen des spatial turn vgl. den Überblick bei Hallet/Naumann 2009, 12–16. Vgl. auch Frank 2010, 29: „Gegenüber Topographie betont Geopoetik noch stärker den Aspekt des Herstellens, Erschaffens … .“ Marszalek/Sasse 2010, 9.

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Geopoetische Aspekte im Epigrammbuch Poseidipps von Pella

in Asien in verhältnismäßig kurzer Zeit zu bis dahin nicht gekannten Machtverschiebungen, die sowohl neuen poetischen Gestaltungsraum eröffneten als auch eine Reflexion über die politische Ausgestaltung desselben ermöglichten. Raum in hellenistischen Texten ist daher oft ein in hohem Maß politisch encodierter Raum, dessen Dekodierung über den ‚Sitz im Leben‘ eines Textes, d. h. den historischen Kontext seiner ersten bzw. intendierten Rezeption, erfolgten konnte.4 Ein geopoetischer Text mit geopolitischer Wirkungsabsicht stellt in der Regel Bezüge zu einer außertextlichen Realität her und versucht dadurch, einen Realitätseffekt zu erzielen, der die Rezipienten zur Reflexion über die mögliche Bedeutung der außertextlichen Wirklichkeit für den Text bzw. umgekehrt des Textes für die außertextliche Wirklichkeit anregt und sie einlädt, diese geopolitisch neu zu gestalten, zu kommentieren, zu bestätigen oder auch zu überwinden. Während bisherige Arbeiten zur Geopoetik in hellenistischen Texten im Wesentlichen die Geopolitik als spezielle Form der Geopoetik betrachtet und mit Blick auf das Epigrammbuch des Poseidipp dabei die Analyse von Einzelgedichten oder Gedichtpaaren im Vordergrund stand,5 soll im Folgenden versucht werden zu zeigen, dass geopoetische Lektüren für die Analyse des gesamten Epigrammbuches fruchtbar sein können, wenn neben den poetischen Mikroräumen der einzelnen Epigramme vor allem die poetischen Makroräume der thematisch in Sektionen miteinander verbundenen Epigramme in den Blick genommen werden.6 Ausgewählt sind dafür vier Sektionen, an denen sich ganz verschiedene Aspekte und Techniken poetischer Konzeptionalisierung und Funktionalisierung von Räumen aufzeigen lassen: Die Lithika, deren geopoetischer Gestaltung als erster Sektion des Epigrammbuches eine besondere, womöglich eine programmatische Bedeutung zukommt, die Hippika, in denen Geopoetik mit kulturpolitischen Aussagen verbunden wird, sowie die beiden Spielarten des Grabepigramms, die Nauagika und die Tropoi, die Grenzen und Möglichkeiten der räumlichen und generischen Verortbarkeit von Grabepigrammen reflektieren. Lithika Die mit Lithika betitelte erste erhaltene Sektion des Mailänder Papyrus enthält in beinahe jedem Epigramm explizite Verweise auf die außertextliche Wirklichkeit in Form von Erwähnungen des jeweiligen Fund- bzw. Herkunftsortes der einzelnen (Schmuck-)Steine. So stammen die 4 5

6

Vgl. auch Asper 2011, 160 zu geopolitischen Aspekten bei Kallimachos: „The political aspect of geopoetics relies on the fact that a place mentioned in the context of a mythological narrative may have been of political importance in the audience‘s world.“ Vgl. Asper 2011 zu Kallimachos sowie Stephens 2004a u. Bing 2005 zu Poseidipp. Dabei bleibt die Begrifflichkeit allerdings etwas unscharf: Asper spricht von geopoetics als „a certain way of talking about places in poetry“ (2011, 156) und Stephens 2004a, 170 beschreibt mit dem Begriff die geographischen Stationen der Epigramme in ihrer Abfolge („In both poems, there is a sense of the flow of people and objects from around the Mediterraean to end up in Egypt. This ‚geopoetics‘ is played out from the beginning of the whole collection.“); Bing, der von ‚Politics and Poetics of Geography‘ spricht, möchte zeigen, „how the stones exemplify in their geographical distribution and social construction both the territorial and cultural/artistic aims of the Ptolemies and of their poet, Poseidippus“ (2005, 120). Stephens 2004a, 170 bemerkt zur Struktur der Lithika: „The stones seem to migrate from their original locations on periphery of empire – India, Persia the Caucasus – to their position as jewel, signet, or ostracon moving even closer to Ptolemaic Egypt.“ Dabei ist es von untergeordneter Bedeutung, ob die Sammlung in der überlieferten Form von Poseidipp selbst stammt oder von einem Editor mit Werken verschiedener Autoren zusammengestellt wurde.

Manuel Baumbach und Urs Müller

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Steine bzw. die Perlmuttschale in 1, 2, 8 mit großer Wahrscheinlichkeit7 aus Indien, jene in 4, 5, 11 aus Persien, und in zwei Fällen – in 7 und 16 – wird Arabien als Herkunftsort angegeben. Ob die Erwähnung Arabiens und der Nabatäer in 10 ebenfalls auf einen Fundort hinweisen, muss wegen des fragmentarischen Zustandes des Epigramms offen bleiben. Die Herkunft des Magnetsteins in 17 ist der Berg Olympos in Mysien; der gewaltige Felsbrocken in 19 wird als Wunderwerk des Meeres beim Kap Kaphereus der Insel Euböa beschrieben. Dagegen sind die aleische Ebene Kilikiens in 14 und wahrscheinlich auch die Bezeichnung ‚der Perser‘ in 13 keine Verweise auf einen Fundort, sondern gehören zur Beschreibung des jeweiligen Motivs der Gravur. Betrachtet man die geographischen Verweise sämtlicher Epigramme der Sektion im Überblick, so eröffnet sich ein poetisch gestalteter Raum, in dem sich der Rezipient bewegt und zu dessen Gestaltung die Herkunft der Steine und ihre Geschichte beitragen. Das erste Epigramm beginnt mit der Nennung des indischen Flusses Hydaspes (1.1), wodurch der Rezipient gleich zu Beginn der Sektion an den östlichsten jemals von den Truppen Alexanders des Großen erreichten Ort, d. h. an den äußersten Rand der hellenistischen Welt, versetzt wird. Am Ende schließt die Sektion mit der Erwähnung von Ägypten (20.5–6). Durch das Aufrufen dieser Orte in den einleitenden und abschließenden Versen der Sektion ergibt sich eine geographische Rahmung der Lithika. Die beiden rahmenden Epigramme begrenzen den Raum der Sektion aber nicht nur, sondern suggerieren auch eine Bewegung in diesem Raum, die den Rezipienten sukzessiv von Indien (1) nach Ägypten (20) führt. Folgt man den erwähnten Orten in linearer Lektüre, so werden gegen Ende dieser Bewegung die geographischen Angaben immer genauer, der Blick auf die einzelnen Stationen des dabei durchschrittenen geographischen Raumes immer schärfer: Werden in den Epigrammen 1–16 hauptsächlich Indien, Persien und Arabien evoziert und somit – mit Ausnahme des Flusses Hydaspes – weitläufige Gebiete ohne genauere geographische Angaben,8 so lenkt die Nennung der aleischen Ebene in Kilikien in 14 den Fokus auf ein wesentlich kleineres Gebiet in Kleinasien. Sehr konkret wird in 18 mit der Nennung des Berges Olympos in Mysien der Herkunftsort des Magnetsteines beschrieben, worauf in 19 Euboä mit dem Kap Kaphereus und in 20 zuerst das versunkene Helike auf der Peloponnes, dann das attische bzw. das ägyptische9 Eleusis und schließlich ‚das Land des Ptolemaios‘ genannt werden. Die an einem ganz bestimmten Ort im fernen Indien beginnende Sektion führt den Rezipienten also zunächst in die weiten, nicht näher bestimmten Gebiete Indiens, Persiens und Arabiens, lenkt ihn gegen Schluss an einen genau lokalisierbaren Punkt im Nordosten Kleinasiens und von

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Das erste Epigramm ist bis auf die Nennung des indischen Flusses Hydaspes praktisch vollständig verloren, so dass nur vermutet werden kann, dass dieser der Fundort des beschriebenen Steines ist. Eine entsprechende Angabe in 2 ist im Papyrus stark beschädigt. In 8 ist Indien nicht der Herkunftsort des beschriebenen Karneols, sondern der mit ihm konkurrierenden Rubine. Zu den einzelnen Ergänzungsvorschlägen vgl. jeweils den Komm. zu 1, 2 und 8. Eine Ausnahme könnte 10 dargestellt haben, das neben Arabien zusätzlich mit dem Adjektiv Ναβαταῖοϲ (10.9) auf ein Volk verweist, das wesentlich genauer verortet werden kann. Zur Frage, ob es sich bei 10 um zwei Gedichte handelt, vgl. Höschele 2010, 156 Anm. 39 und den Komm. zu 10a/10b. Queyrel 2010, 31 geht vom attischen Eleusis aus, wohingegen sich Stephens 2005, 235–236 eher für das alexandrinische Eleusis ausspricht, jedoch gerade in dieser geographischen Unbestimmtheit eine Absicht sieht: „However, by naming Egyptian spaces as if they were part of mainland Greece, he [Posidippus] casts the entire Ptolemaic adventure in Egypt as an ever-widening extension of Macedon“; vgl. ferner den Komm. zu 20.

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hier aus schließlich in einer beschleunigten und immer präziser werdenden Bewegung von Griechenland10 nach Ägypten. Im Zusammenhang mit dieser geographischen Bewegung in Richtung Ägypten lässt sich eine Hinwendung auf die Ptolemäer beobachten, was eine geopolitische Wirkungsintention der Sektion nahelegt.11 Besondere Beachtung verdient dabei die Periphrase Ägyptens, das am Ende der Lithika zum ersten Mal in der Epigrammsammlung erwähnt wird.12 Das geographische Ziel der Sektion wird nicht namentlich genannt, sondern indirekt durch die Erwähnung eines Ptolemaios, d. h. einer in Ägypten herrschenden Person, erkennbar.13 Dadurch wird dieser letzte geographische Verweis um eine politische Dimension angereichert, die rückblickend schon im ersten Lithikon bei der Nennung des Flusses Hydaspes als östliche Grenze des Alexanderreiches aufscheint. Sowohl die geopoetische Anlage wie die geopolitische Ausrichtung der Lithika wird in Form einer mise en abyme auf der Ebene des Mikroraums in 5 bereits antizipiert: Innerhalb dieses Epigramms wird durch die Nennung von Persien und Kos nicht nur ein geographischer Raum eröffnet, sondern der darin beschriebene Stein vollzieht gar eine textimmanente Reise in diesem Raum. Aus Persien stammend wird er vom Steinschneider Timanthes zunächst zum Schmuckstück verarbeitet, das dann in den Besitz eines gewissen Demylos gelangt, der es wiederum einer Nikaie aus Kos schenkt.14 Diese Reise nimmt sowohl die sektionsumfassende Ost-West-Bewegung als auch die geopolitische Hinwendung auf das ptolemäische Ägypten vorweg: Die Insel Kos, die Ptolemaios I. als Flottenbasis nutzte und auf der sein Sohn Ptolemaios II. geboren worden ist,15 evoziert den geopolitischen Schlusspunkt der Sektion. Schließlich lässt sich eine poetologische Beobachtung anstellen: Die ‚reisenden‘ Steine der Lithika bewegen sich durch Raum und Zeit, ‚wandern‘ vom Fundort in die Hände des Bearbeiters und von dort zu verschiedenen Besitzern und Benutzern. Auf einer poetologischen 10

Die Bewegung von Griechenland nach Ägypten erfolgt innerhalb von 20. Falls 20 mit dem vorausgehenden 19 ein einziges Lithikon bildet, wie vielfach angenommen wird (vgl. Höschele 2010, 156 Anm. 39), würde sogar die ganze ‚Reise‘ durch Griechenland in diesem letzten Epigramm stattfinden. Zudem kann die periphrastische Anrufung Poseidons als ‚Herrscher von Geraistos‘ (Γεραίϲτι’ ἄναξ, 20.5) als Scharnier zwischen den beiden Epigrammen angesehen werden, da die Ortschaft Geraistos in unmittelbarer Nähe des zuvor in 19 erwähnten Kaphereus liegt. 11 Vgl. auch Höschele 2010, 156–157, ähnlich Queyrel 2010, 31. 12 Vgl. aber die Beobachtung von Stephens 2005, 234, dass der Name „Ägypten“ nur im zweiten Epigramm der Oionoskopika genannt wird und dass sogar in den Hippika, in denen vor allem die ptolemäischen Königinnen eine zentrale Rolle spielen, die Lokalisierung des Ptolemäerreiches in Ägypten nie explizit gemacht wird: „At no point in Posidippus’ victory poems are we made aware of the Egyptian location of the Ptolemaic kingdom, and within the more than 100 surviving poems of the new collection, the name ‚Egypt‘ occurs only in the epigram on Thracian cranes.“ 13 Die geopolitische Ausrichtung auf das ptolemäisch regierte Ägypten als politisch-geographischer Schlusspunkt der Sektion wird zudem in einen religiösen Kontext eingebettet, insofern das Epigramm als Gebet an den periphrastisch angerufenen Poseidon konzipiert ist, den der Sprecher des Epigramms beschwichtigend anruft und ihn bittet, das ‚Land des Ptolemaios‘ und seine ‚Küsten mitsamt den Inseln‘ nicht zu verheeren. 14 Diese „journey from physical source to cultural application“ illustriert Bing 2005, 125–127 am Beispiel von 7, in dem ein Stein aus den arabischen Bergen vom Steinsschneider Kronios geschliffen und eingefasst wird und in dieser bearbeiteten Form seinen Weg auf die Brust einer Nikonoe findet. In dieser Reise sieht Bing „a persistent theme of the λιθικὰ“ (2005, 125). Anders als in 7 wird in 5 mit dem Endpunkt dieser (Entstehungs-)Reise zusätzlich eine geographische Information verbunden. 15 Vgl. Sherwin-White 1978, 83–84. Zu den ptolemäisch-koischen Beziehungen allgemein vgl. ferner Sherwin-White 1978, 90–131. Zur Erwähnung der Insel Kos als Geburtsort Ptolemaios’ II. im vierten Hymnos Kallimachos’ (Del. 162–190) vgl. Asper 2011, 158–159. In Theokrits Enkomion auf Ptolemaios II. spricht nach dessen Geburt die Insel selbst (eid. 17.64 –71).

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Ebene betrachtet liegt eine Reflexion über die Produktion und Rezeption der Epigramme vor, die diese Steine literarisch produzieren: Als Stoff gefunden und vom Dichter kunstvoll zu einem poetischen Objekt verarbeitet, werden sie durch die Publikation zugänglich und wandern – wie die Steine von Besitzer zu Besitzer – von Leser zu Leser durch Zeit und Raum. Diese inszenierte Bewegung wird ganz im Sinne der hellenistischen Tendenz zur Kleinform solange fortgesetzt, wie die Steine und die sie hervorbringenden Epigramme klein und beweglich bleiben. Die Bewegung und damit zugleich die Sektion der Lithika enden genau in dem Moment, wo in einem vergleichsweise langen Epigramm (19) am Schluss der Sektion ein Stein beschrieben wird, der nicht mehr bewegt werden kann. Hippika Das Thema der sechsten Sektion sind Siege bei Pferderennen bei den vier großen panhellenischen Spielen Olympien, Pythien, Nemeen und den Isthmien. Alle Epigramme sind daher implizit oder explizit mit den jeweiligen Austragungsorten der Spiele verbunden. So ist es etwa klar, dass der Sieg des Thessaliers Hippostratos in 71 an den pythischen Spielen in Delphi stattgefunden hat und dass es sich umgekehrt bei einem Sieg in Delphi (wie z. B. in 74) nur um einen Sieg an den dort stattfindenden Pythien handeln kann. In einigen Fällen werden zusätzlich zu der expliziten Nennung der Spiele oder deren Austragungsorten auch Orte der näheren Umgebung bzw. deren Einwohner genannt, um das jeweilige Setting zu verdeutlichen. So findet in 75, 78 und 87 die Stadt Pisa bzw. deren Einwohner Erwähnung, in deren Obhut die Ausrichtung der Olympien lag. In 83 und 84 kann der Name des Flusses Alpheios in der Nähe von Olympia ergänzt werden. In 79 verdeutlicht die Nennung der argolischen Schiedsrichter das Setting der bereits explizit genannten nemeischen Spiele und in 82 lassen sich mit großer Wahrscheinlichkeit die Wörter für Akrokorinth und die Quelle Peirene vervollständigen, die zum genannten Isthmos als dem namensgebenden Austragungsort der Isthmien hinzutreten (vgl. den Komm. zu 82). Ähnlich wird mit Hinweisen verfahren, die nicht geographischer Natur sind, sondern auf andere Art und Weise eine Verbindung zu den jeweiligen Spielen herstellen. So verweist der Eppichkranz in 72 in Verbindung mit dem Partizip νεμεοδρομέων (72.3) zusätzlich auf die Nemeen. In gleicher Weise verweist das Wahrsagergeschlecht der Iamiden in 83 auf die Olympien. In zwei Epigrammen bleiben sowohl die Spiele selbst als auch ihre jeweiligen Austragungsorte gänzlich ungenannt. Allein die Apostrophe des Zeus von Pisa in 85 und die Erwähnung von Eppich im sehr fragmentarischen Epigramm 81 reichen jedoch aus, um die Olympien bzw. die Nemeen und somit auch deren Austragungsorte zu evozieren. Auf den ersten Blick lassen die Hippika keine spezifische geopoetische Anordnung erkennen, die etwa der Bedeutung oder dem Alter der Spiele entsprechen würde, im Gegenteil: Der literarisch-epigrammatische Besuch in Delphi (71) wird gefolgt von Nemea (72) und Olympia (73), ehe nach zwei weiteren Stationen in Delphi und Olympia (74 und 75) schließlich Korinth als vierter Austragungsort der panhellenischen Spiele erwähnt wird (76).16 Scheint damit ein eindeutiger Fokus auf dem Griechenland der klassischen Epoche zu liegen, so überschreitet genau das Epigramm, in dem mit der Erwähnung Korinths die Aufzählung der vier panhellenischen Spiele abgeschlossen sein könnte (76), diesen Raum mit der Erwähnung eines 16

Allenfalls könnte mit Blick auf die Abfolge der drei zuerst genannten Spiele Delphi – Nemea – Olympia durch die Anzahl der an diesen Orten genannten Siege eine quantitative Steigerung intendiert sein: Delphi (71, 74, 76, 86), Nemea (72, 76, 79, 80, 81, 86) Olympia (73, 75, 77, 78, 83, 84, 85, 87, 88), Korinth (76, 82).

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Geopoetische Aspekte im Epigrammbuch Poseidipps von Pella

Sieges des arabischen Pferdes von Etearchos an den im Jahr 279/ 278 zu Ehren Ptolemaios’ I. eingerichteten Ptolemäen. Dabei ist es bemerkenswert, dass in der auffälligen Reihung der Spiele in diesem Epigramm gerade die Olympien keine Erwähnung finden. Hier liegt eine geopolitische Deutung nahe: Die Ptolemäen führen die Sieger im Epigramm ebenso wie die Rezipienten des Epigramms in den hellenistischen Herrschaftsbereich der Ptolemäer, deren junge Spiele in einem Atemzug mit drei lang etablierten panhellenischen Spielen und an erster Stelle genannt werden. Damit treten die Ptolemäen gleichsam an die Stelle der nicht genannten Olympien, der ältesten und berühmtesten panhellenischen Spiele, und erscheinen so als die neuen Olympien bzw. schreiben sich in den etablierten Festkalender der panhellenischen Spiele ein.17 Verstärkt wird die politische Dimension dieser Aussage nicht nur durch die Benennung der Spiele nach dem ersten ptolemäischen Herrscher Ptolemaios,18 sondern auch durch die Reihenfolge der erwähnten Sieger und ihrer Herkunft in der Sektion: Zwar finden sich Sieger aus unterschiedlichen Regionen – so stammen einzelne Teilnehmer aus Thessalien (z. B. in 71) oder aus Sparta (z. B. in 75) –, doch erscheinen in der Sektion nach der Nennung der Ptolemäen in 76 auch die Ptolemäer als Sieger, so in den Epigrammen 78, 79, 82, 87 und 88 sowie möglicherweise in 80 und 81.19 Je mehr Siege genannt werden, desto stärker wird das ptolemäische Königshaus in die Sektion der Hippika eingeschrieben und findet eine stetig wachsende textimmanente wie (fiktive) außertextliche Verbreitung: In 78 werden die Makedonen aufgefordert, den durch den Sieg an den Olympien erworbenen Ruhm der Ptolemäer, allen voran aber den Berenikes II., zu besingen, d. h. in Form von Epinikien panhellenisch zu verbreiten. Der Eindruck ptolemäischer Dominanz in und über die panhellenischen Spiele wird im Kleinen auf der Ebene von 78 exemplarisch verdichtet. Es beschreibt die Siege von nicht weniger als fünf Ptolemäern an den Olympien. Sofern die Ergänzung [ἐξ ἑ]νὸϲ οἴκου in 78.11 korrekt ist, wird der Umstand dieser zahlreichen Siege aus einem einzigen Haus im Epigramm sogar explizit formuliert.20 Damit sind die ältesten und prestigeträchtigsten Spiele und somit ein wichtiger Teil (pan)hellenischer Kultur in fester Hand der Ptolemäer. So kann es auch nicht überraschen, dass die Sektion in 88 mit einem ptolemäischen Sieg endet. Im Unterschied zu den Lithika inszenieren die Hippika weniger einen geographischen als einen kulturellen Raum, binden diesen jedoch ähnlich wie die Lithika an den Herrschaftsraum der Ptolemäer an, deren außergewöhnliche Erfolge im sportlichen Wettkampf betont werden. Dabei wird der Rückbezug auf die panhellenischen Spiele für eine literarisch-epigrammatische Usurpation von symbolträchtigen Orten griechischer Kultur im Dienst der Ptolemäer genutzt. Nauagika und Tropoi Als Beispiel für eine sektionsübergreifende geopoetische Analyse bietet sich die vergleichende Betrachtung der Nauagika und Tropoi an. Beide Sektionen sind – generisch betrachtet – Sonderformen der Grabepigramme, denen im Epigrammbuch auch eine eigene Sektion, die Epitymbia, gewidmet ist. Diese gehen den beiden Subgattungen voraus, so dass ein Rezipient

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Vgl. zur Bedeutung der Ptolemäen in den Hippika den Komm. zu 76. Dies ist ein deutlicher Unterschied zu den traditionellen panhellenischen Spielen, die nach ihrem Austragungsort benannt sind. Die erste Erwähnung finden die Ptolemäer – Ptolemaios II. und Arsinoë II. – bereits in 74, wo sie jedoch nicht als Sieger erscheinen, sondern als Adressaten des von Kallikrates von Samos geweihten Standbildes für einen errungenen Sieg des Nauarchen. Zur konstruierten Genealogie vgl. den Komm. zu 78.

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bei linearer Lektüre des Epigrammbuches von der ursprünglichen Form des Grabepigramms zur Innovation der Tropoi geführt wird. Dabei wird das für Grabepigramme charakteristische Merkmal der Verortung variiert und diskutiert: Die sechs Epigramme der Nauagika verzichten auf eine für das Genre der Grabepigramme ansonsten typische Verortung von Text und Inhalt. Stattdessen kann man bei den Beschreibungen von einer Poetik der Nichtverortung sprechen, die sich im Wechselspiel zwischen Epigrammen, die auf einem Grab bzw. Scheingrab eingeschrieben zu sein scheinen (89, 91, 93), und Epigrammen, die ohne Verweis auf eine inschriftliche Verortung bleiben (90 und 92),21 in dreifacher Hinsicht zeigt: Zum einen spielen die Epigramme mit (der Fiktion) einer konkreten Lokalisierung bzw. Lokalisierbarkeit der Inschriften, insofern Demonstrativ­ pronomina wie in 89.1 (ὁ κενὸϲ τάφοϲ οὗτοϲ) oder 91.3 (τοῦτον ἰδὼν κενεὸν τάφον) auf ein ortsgebundenes Setting verweisen, die konkrete Verortung der Epigramme jedoch in die Imagination der Rezipienten verlagert wird. Zum anderen stellt sich wegen der für die Schiffsbrüchigen errichteten Kenotaphe die Frage nach dem genauen Aufenthalts- bzw. Todesort des jeweiligen vermissten Schiffbrüchigen, der sich eben nicht an demselben Ort wie das Grab befindet. Schließlich tritt ein Rezipient mit der durch die Konventionen der Grabepigrammatik aufgebauten Erwartungshaltung an die Nauagika heran, etwas über die Herkunft der Toten selbst zu erfahren, worüber er jedoch in den meisten Fällen nichts oder nur andeutungsweise etwas erfährt. Die inszenierte programmatische Offenheit dieser Fragen zeigt sich exemplarisch am letzten Epigramm der Sektion (94), das für ein Grab in loco konzipiert zu sein scheint.22 Das Epigramm imaginiert die Rede eines unbekannten Schiffbrüchigen, wurde aber in der Fiktion des Epigramms von einem gewissen Leophantos angefertigt, der den Toten gefunden hat. Obgleich der Rezipient in der Fiktion zur letzten Ruhestätte des Unbekannten geführt wird, unterlässt es das Epigramm, irgendwelche Hinweise zu geben, wo diese zu verorten ist. Auch die Herkunft des Verunglückten bleibt verborgen, da die Identität des Schiffbrüchigen dem ihn bestattenden Leophantos unbekannt ist. An die Stelle des Auffindens und Verortens tritt in den Nauagika die Suche nach Verortung, die den Epigrammen über unterschiedliche Perspektivierungen eingeschrieben wird. Während wir im sektionseröffnenden Epigramm 89 den Dichter als Besucher eines Kenotaphs und Leser der Inschrift begleiten, werden wir in 90 zu Zuschauern des Todesmoments von Archeanax und in 91 zu Zuhörern des ertrunkenen Dorus. Die Sektion inszeniert somit verschiedene Blicke auf die Thematik, umkreist die Toten und die Orte ihrer Bestattung, ohne sie jedoch in Raum und Zeit zu verorten. Demgegenüber lassen die ersten vier Epigramme der fragmentarisch erhaltenen Sektion der Tropoi (102–109) eine andere geopoetische Zielsetzung erkennen, wobei bereits der Titel der Sektion andeutet, dass mit den Konventionen der Grabepigrammatik gespielt wird: Die Verstorbenen sind ganz besondere „Charaktere“, deren Epigramme ungewöhnliche generische „Wendungen“ machen.23 Mit Blick auf die Verortung fällt auf, dass in jedem erhaltenen Epigramm genau eine geographische Angabe gemacht wird, wobei alle genannten Orte (Kreta, 102; Kos, 103; Eretria, 104; Adramyttion, 105) im geographischen Raum des klassischen Griechenlands liegen. Während in 103–105 die Angabe der Herkunft der Verstorbenen mit dem Standort des Epigramms übereinstimmen könnte, ist die Verortung des ersten Epigramms durch den Hinweis auf die Fremde (ξενίηϲ, 102.4), in der der Tote bestattet ist, erschwert. Die formulierte Frage an den Verstorbenen nach dessen Identität und Herkunft wird zwar 21 22 23

Zum Ordnungsprinzip in den Nauagika vgl. Zanetto 2002, Di Nino 2010, 159 sowie die Einl. zu den Nauagika, 349. Vgl. den Komm. zu 94, ferner Di Nino 2010, 153. Vgl. Einl. zu den Tropoi.

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Geopoetische Aspekte im Epigrammbuch Poseidipps von Pella

beantwortet, sie wirft aber zugleich die Frage nach der Verortung des Epigramms selbst auf, die – ganz ähnlich wie in den Nauagika – jedoch nicht beantwortet wird. Bewegt man sich in dem literarischen Raum der Tropoi weiter, so führt das folgende Epigramm den Rezipienten zwar einerseits nach Kos, dem Herkunftsort des Verstorbenen, ermöglicht jedoch zugleich eine weitere Verortung jenseits der im Epigramm beschriebenen fiktiven Wirklichkeit: Indem das Epigramm 103 die am Beginn der Sektion (102) formulierte Ablehnung der traditionellen Herangehensweise an ein Grabepigramm aufgreift und in der ungewöhnlichen Herangehensweise des fiktionsinternen Rezipienten spiegelt, der den Anweisungen des Epigramms 102 zu folgen scheint und es nicht zur Kenntnis nehmen will, werden die Epigramme 102 und 103 als Paarepigramme lesbar und im literarischen Raum der Tropoi fest verortet. Der Eindruck entsteht, dass die Tropoi eine besondere geopoetische Strategie verfolgen, indem sie das Sprechen über die tatsächliche Verortung der Toten umwenden in ein Sprechen über die Gestaltung von literarischen Räumen und der daraus entwickelten Wirkungsintention. In der besonderen Anordnung und Zusammenstellung von (fiktiven oder tatsächlichen) Grabepigrammen gewinnen die Epigramme eine weitere Bedeutung, in diesem Fall die Möglichkeit, über den ‚richtigen‘ Umgang mit Grabepigrammen zu reflektieren. Der literarische Raum gewinnt Konturen durch Epigramme, die keine eigene räumliche Verortung haben, sondern relational mit vorangehenden und nachfolgenden Epigrammen verortet werden. Die literarische Verortung arbeitet dabei mit der Möglichkeit einer tatsächlichen Verortung im Raum, insofern 102 und 103 als zwei nebeneinanderaufgestellte Grabsteine mit Inschriften visualisiert werden sollen, an denen der Rezipient vorbeigeht. Auch das dritte Epigramm lässt sich in dieser Weise verorten. Im literarischen Raum neben den beiden vorangegangenen verortet, rechnet es mit einem in der Herangehensweise an diese Tropoi verunsicherten Rezipienten und formuliert ausgesprochen höflich – φ̣ί̣λε, 104.3 – die Bitte, näher heranzutreten. Während die Charaktere aus Kreta und Kos unzufrieden mit dem vorbeigehenden Rezipienten waren, verfolgt der Mann aus Eretria eine andere Strategie: Er scheint jeden möglichen Rezipienten unabhängig von dessen Einstellung zu Grabepigrammen bzw. Erwartungshaltung an diese anzusprechen. Und diese Taktik ist gerade deshalb erfolgreich, weil ein Rezipient der Tropoi nach der Lektüre von 102 und 103 nicht mehr sicher sein kann, ob und wie er weitere Tropoi lesen kann bzw. soll. Und gerade hier setzt 104 ein und gibt dabei eine interessante Handlungsanweisung im Umgang mit den Epigrammen: Der Rezipient soll ‚stehen bleiben‘, was nicht nur eine weitere räumliche Annäherung suggeriert, sondern auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Charakter des Epigramms hinweist, der als „weiser Mann“ (104.4) die Neugier des Betrachters wecken kann. Das Epigramm ergänzt somit die vorhergehenden, indem es den Toten stärker individualisiert, und auch das letzte lesbare Epigramm der Sektion trägt zu einer bislang fehlenden Information zur Gestaltung des literarischen Raumes bei, indem es nicht nur die konkreteste Ortsangabe enthält (Stadt anstelle von Region/Insel), sondern auch den Ort des Epigramms am genauesten beschreibt, indem explizit von einer Stele die Rede ist (105.1). Es findet daher in der Sektion eine stetige räumliche Annäherung an die Toten statt, die uns zunächst irgendwo in der Fremde begegnen (102) und denen wir immer näher kommen sowohl räumlich durch das Herantreten an die Grabsteine und Blicke auf die Toten (105) wie charakterlich-individuell. Im Sinne von ‚Tropos‘ als Charakter ergänzen sich die Epigramme mit ihren unterschiedlichen Informationen und rhetorischen Strategien zu einem umfassenden Blick, zu dem die allgemeinen Hinweise von Name und Herkunft (102 und 103) ebenso gehören wie die Hinweise auf die Ausbildung und den Charakter (104) sowie das Alter (105).

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Die vorgestellten geopoetischen Lektüren haben exemplarischen Charakter. Die Analyse weiterer Sektionen und deren mögliche geopoetische Dialoge miteinander durch intertextuelle Verweise kann weitere Spielarten und andere Funktionalisierungen von literarischem Raum aufzeigen. So lassen sich die Oionoskopika als kultureller Wissensraum der Mantik lesen, die mit einfachen Vogelzeichen beginnen, die jedermann durch Analogieschlüsse deuten kann, und mit den besonders wichtigen Zeichen für Alexander bei seinen Siegen über die Perser enden, die ein Fachmann deuten musste. Die Iamatika nutzen demgegenüber den religiösen Raum der Asklepiosheiligtümer und ihrer epigrammatischen Inschriften für eine ironisch-subversive Betrachtung der Kommunikation zwischen Mensch und Gottheit. Das Epigrammbuch des Poseidipp macht sich ganz unterschiedliche Semantisierungen von Raum zunutze und spielt dabei mit der Spannung zwischen dem erinnerten, scheinbar konkreten Raum, in dem das einzelne Epigramm eingeschrieben ist, und den Räumen, die sich im Lektüreprozess der Epigramme in ihrer sektionalen Anordnung erschließen lassen.

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Die Autoren Francesca Angiò war von 1975 bis zur Pensionierung Lehrerin für Griechisch und Latein am Liceo-Ginnasio Statale ‚Antonio Mancinelli‘, Velletri, Rom. Forschungsschwerpunkte: hellenistische und tragische Dichtung. Silvio Bär ist Associate Professor für Gräzistik in Oslo (Institutt for filosofi, idé- og kunsthistorie og klassiske språk, Universitetet i Oslo). Forschungsschwerpunkte: kaiserzeitliche Epik, klassische Tragödie, Lyrik, Zweite Sophistik, Mythographie, Rhetorik, Intertextualität und Narratologie. Manuel Baumbach ist Professor für Gräzistik am Seminar für Klassische Philologie der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: hellenistische Dichtung, Literatur der Kaiserzeit sowie Rezeptionsgeschichte der griechisch-römischen Antike.  Anna-Maria Gasser ist Stipendiatin am Institut für Klassische Philologie der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitet an einer Dissertation über „Obscuritas in griechischen Wissenschaftstexten“. Forschungschwerpunkt: hellenistische Literatur. Martin Hose ist Professor für Klassische Philologie/Gräzistik an der Ludwig-Maximi­liansUniversität München. Forschungsschwerpunkte: griechisches Drama, griechisch-römische Historiographie, griechische Literatur der späteren Kaiserzeit und Probleme der Literaturgeschichtsschreibung. Eva María Mateo Decabo ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Klassische Philologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie arbeitet an einer Dissertation über „Römische erotische Dichtung im Spannungsfeld von l’art pour l’art und Politik“ und interessiert sich besonders für Fragen der Ästhetik und der Transformation antiker Literatur. Irmgard Männlein-Robert ist ordentliche Professorin für Klassische Philologie mit dem Schwerpunkt Griechische Philologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Platon (unter philosophischen wie literarischen Gesichtspunkten), Platonismus der Kaiserzeit und der Spätantike, Hellenistische Dichtung und Ästhetik, Antike Poetik und Literaturkritik, Antike Religion, Bild-Text-Relationen. Urs Müller ist wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Griechische und Lateinische Philologie der Universität Zürich. Forschungssschwerpunkte: Römische Tragödie und Historiographie sowie hellenistische Dichtung. Andrej Petrovic ist Senior Lecturer in Classics and Ancient History, Durham University. Forschungsschwerpunkte: Griechische Epigraphik (bes. Versinschriften und ‚Heilige Gesetze‘), Griechische Religion und Sozial- und Kulturgeschichte. Bernd Seidensticker ist Professor für Griechische Philologie a. D. am Institut für Griechische und Lateinische Philologie der Freien Universität Berlin und Sprecher des Zentrums Grundlagenforschung Alte Welt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

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Die Autoren

Forschungsschwerpunkte: antikes Drama und Theater und Rezeption der Antike im 20. Jahrhundert. Adrian Stähli ist Professor für Klassische Archäologie im Department of Classics der Harvard University. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Bildgeschichte der Sexualität, des Körpers und der Geschlechter; Bildwissenschaft, Ikonographie, Bild-Text-Beziehungen; Sammeln und monumentales Gedächtnis; Nachleben der Antike; Wissenschaftsgeschichte der Archäologie. Antje Wessels ist Professorin für Lateinische Literatur an der Universiteit Leiden, Niederlande. Forschungsschwerpunkte: Antikes Drama, Ästhetik, Rezeption der Antike im 19. und 20. Jahrhundert.