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German Pages 341 [344] Year 2005
Frühe Neuzeit Band 110 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt
Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700 Herausgegeben von Thomas Leinkauf unter Mitwirkung von Karin Hartbecke
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-36610-9
ISSN 0934-5531
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag G m b H , München h ttp://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Dr. Gabriele Herbst, Mössingen Druck: A Z Druck und Datentechnik G m b H , Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Der Begriff?Natur? in der Frühen Neuzeit Semantische Perspektiven eines Grundbegriffs zwischen 1500 und 1700 Herausgegeben von Thomas Leinkauf unter Mitwirkung von Karin Hartbecke
Inhaltsverzeichnis
Thomas Leinkauf Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Einleitung
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Enno Rudolph Die Seele innerhalb der Grenzen der bloßen Natur
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Martin Mulsow Arcana naturae. Verborgene Ursachen und universelle Methode von Fernel bis Gemma und Bodin
31
Michael Zywietz „Perfectio igitur delectationis musicae consistit in eius perfecta cognitione". Adrian Willaerts Motette Victimae paschali laudes und die Aristoteles-Rezeption in Venedig
69
Wilhelm Kühlmann Anmerkungen zum Verhältnis von Natur und Kunst im Theoriezusammenhang des paracelsistischen Hermetismus
87
Barbara Mahlmann-Bauer Poetische Darstellungen des Kosmos in der Nachfolge des Lukrez. Bruno - Kepler - Goethe
109
Wolfgang Neuser Der Naturbegriff bei Giordano Bruno
187
Wilhelm Schmidt-Biggemann Kosmos und Kabbala: Robert Fludds Naturkonzeption
213
Massimo Luigi Bianchi Ewige e zeitliche Natur in Jacob Böhme
237
VI
Inhaltsverzeichnis
Gabor Boros Dieu ou la nature. Die Umkehrung des cartesischen Naturbegriffs im Spätwerk Descartes'
265
Karin Hartbecke Natur und Selbstbewegung. Die Umdeutung des galenistischen Naturbegriffs durch den Anatomen Francis Glisson
283
Michaela Boenke Gott und seine Mitregenten. Theologische, stoische und platonische Elemente in der Naturtheorie Newtons
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Personenregister
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Sachregister
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Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit Einleitung*
Ich möchte meinen einleitenden Ausführungen ein Zitat aus Ernst Cassirers Abhandlung Die Philosophie der Aufklärung voranstellen: »Der Begriff und das Wort >Natur< umfaßt im Geistesleben des siebzehnten Jahrhunderts zwei Problemgruppen, die wir heute voneinander zu sondern pflegen, und schließt sie zu einer Einheit zusammen. Die Naturwissenschaften werden noch keineswegs den >Geisteswissenschaften< gegenübergestellt, geschweige ihnen, nach Art und Geltung, entgegengesetzt. Denn >Natur< besagt nicht den Umkreis des bloß >physischen< Seins, von dem das Seelisch-Geistige unterschieden werden soll; nicht das >Materielle< gegenüber dem >SpirituellenNatur< bis hinein ins 17. Jahrhundert, man darf aber ruhig hinzufügen, noch bis weit hinein ins 19. Jahrhundert, immer noch und trotz aller Transformationen in den Randbereichen seiner Semantik, doch in seinem Kern einen direkten Bezug zum antiken Verständnis des Begriffs aufwies: >Natur< ist nicht nur der mehr oder weniger beliebige, durch Bedeutungsindifferenz und Äquivozität opak bleibende begriffliche Stellvertreter für eine Leer-Stelle in unserem Wissen, nicht der bloße Gegensatz zu >GeistNatur< ist in dieser Grundbedeutung der Begriff für eine Form, in der sich das, was wir das Sein nennen, oder in der sich »die Sache selbst«, wie Hegel sagen würde, von ihr selbst her, also eben »natürlich« oder φύσει zeigt.2 *
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Dieser Beitrag stellt eine leicht veränderte Version des zur Einführung in die Tagung gehaltenen Vortrages dar, an einigen Stellen ist bewußt der exponierende und sprachliche Duktus stehen gelassen worden. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg 1998, S. 324. Z u Hegels Naturbegriff vgl. etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. In: Werke. Frankfurt a.M. 1970. Bd. 16, S.109I'.: »Die
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Dies >von sich selbst her< ist, ausgesprochen oder unausgesprochen, das Hauptkriterium dafür, daß wir einer Sache den Status von Natur zuschreiben, in ihm ist alles das mit gesetzt, was als gegenständlich, objektiv oder an sich seiend für uns ist. Es sind dies Zusammenhänge, auf die etwa auch Heidegger in seiner 1939 verfaßten grundlegenden Abhandlung Vom Wesen und Begriff der Φύσις, Aristoteles Physik BP hingewiesen hat und die in einer umfangreichen Spezialforschung mittlerweile immer differenzierter aus den antiken Quellen selbst erhoben worden sind.4 Schon in ihren vor-philosophischen Grundbedeutungen war Natur zum einen als das Wesen einer Sache, als deren ουσία oder essentia, gesehen worden. Dies wird, unbeirrt von allen Umbrüchen, eine tragende, sich durchhaltende Bedeutung bis ins 19. Jahrhundert bleiben und gilt für die Frühe Neuzeit somit allemal - es möge der Hinweis etwa auf die selbstverständliche Gleichsetzung von »essence« und »nature« genügen, die Rene Descartes auf Basis einer langen Tradition in seinem Discours de la mithode vollzieht.5 Zum anderen wird Natur als das sich von ihm selbst her zeigende Werden, Wachsen, Gedeihen einer Sache begriffen, entsprechend dem griechischen Verbum φύειν. Für Piaton ist »Naturkunde« (περί φύσεως Ιστορία) die Wissenschaft, in welcher man etwas von den Ursachen und Gründen von etwas erfährt, »wodurch es entsteht, wodurch es vergeht und wodurch es besteht« (Phaidon 96 A), d.h. diejenigen, die περί φύσεως einen είκώς λόγος, eine wenigstens wahrscheinliche Rede hervorbringen können wollen, müssen die »Mischungen« und »Verbindungen« der elementaren Körper oder Teile untersuchen und darstellen (Timaios 57 D). Für Piaton
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Momente, die die Idee im Kleide der Natur durchläuft, sind eine Reihe von selbständigen Gestalten. Die Natur ist die Idee an sich und nur an sich, und die Weise ihres Daseins ist, außer sich zu sein in vollkommener ÄuBcrlichkcit. Die nähere Weise ihres Fortgangs ist aber die, daß der in ihr verschlossene Begriff durchbricht, die Rinde des Außcrsichscins in sich zieht, idealisiert und, indem er die Schalc des Kristalls durchsichtig macht, selbst in die Erscheinung tritt. Der innerliche Begriff wird äußerlich, oder umgekehrt: die Natur vertiert sich in sich, und das Äußerliche macht sich zur Weise des Begriffs. [...] Dies ist die Wahrheit der Natur, das Bewußtsein«. Hegels, wie auch Schellings Gedanke, daß das allgemeine Bewußtsein oder das Ich, Sötern es noch nicht als Ich reflektiert gesetzt ist, selbst die Natur ist, ist der Sachc nach von der antiken, vor allem spätantiken Bestimmung der Natur als allgemeiner Seele nicht weit entfernt. Martin Heidegger: Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik Β 1. In: Wcgmarkcn (1. Aufl. 1967). Frankfurt a.M. 1996, S. 239-301. Vgl. zusammenfassend und mit Litcraturhinwciscn Fritz-Pctcr Hager: Art. >NaturOrt< in der Gesamtordnung des Seins nach den drei großen Hypostasen Eines, Geist, Seele als eine »untere Weltseele« einnahm, die zwischen dem Intelligiblen und Rationalen des oberen Bereiches und dem Materiellen und Quantitativen des unteren Bereiches etwa in Gestalt der Qualitäten, der spiritus und des Äthers vermittelte (III 5, 6: zwei Weltseelen; IV 8, 7; V 1, 7.8; IV 1, 1). Auch diese verbindende, konnektive Kraft der Natur qua Welt-Seele, die vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Piatons Timaios gesehen werden muß und die sich in >verborgenen< Tätigkeiten vornehmlich zeigt, von denen wir nur die >äußeren< Konsequenzen wahrnehmen können (Magnetismus, Ebbe-Flut, Wärme, Erdanziehung), werden wir in der Philosophie der Frühneuzeit, etwa bei Renaissance-Autoren wie Marsilio Ficino,12 bei Vetretern der »wilden Philosophie« des 16. Jahrhunderts wie Girolamo Cardano, 13 bei Francesco Patrizi, im Paracelsismus14 finden, wo Natur sowohl als Quasi-Weltseele als auch als magische Kraft bezeichnet werden kann.15 In der frühneuzeitlichen Diskussion um 12
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Vgl. etwa: In p r i m u m dialogum de Legibus epitome. In: O p e r a omnia. Basileae (Hcnricpctri) 1576, fol. 1489, 17-22: »Profccto si natura, q u a e nihil aliud est quam inf i m u m divinae providentiae instrumentum, atque ubicunque provide videtur incederc, non ducit ipsa seipsam, sed ab ipsa Providentia ducitur, lines omnium ordinesque, & in seipsa praescribente, & n a t u r a e p r o u t vult inscribente: si inquam natura talis, n e q u e a b u n d a t in superfluis, n e q u e in rebus deficit necessariis, certe divina Providentia in rebus ncccssariis n u n q u a m defieit«. Girolamo Cardano: Hyperchen. In: O p e r a omnia. Basileae (Henricpetri) 1566. Τ. II, cc. 32-34, S. 1127-1132, wo der Begriff >Natur< gegenüber der Binncndarstellung, d.h. etwa der Verbindung von Seele und Körper zu j e verschiedenen F o r m e n von (seelischem) »Leben« und von gcistig-sinnlichcn Funktionen zurücktritt. So auch: D e subtilitatc libri XXI, I. In: O p e r a omnia. Lugduni (Hugctau & R a v a u d ) 1663. T. III, fol. 360 Α (Syndrom: materia-forma-anima k o m m t ohne natura aus). A n a n d e r e n Stellen wird jcdoch >natura< als quasi-Agcns, als selbständig Tätiges umstandslos erwähnt, vgl. etwa ib. II, fol. 372 B: »natura enim semper extrema mediis iungit«; V, fol. 441 A: »videtur ctiam natura sensim ab extremo ad extremum transirc, conncctcr e q u e distineta longius mediis ignis«. Vgl. Dietlinde Goltz: Naturmystik und Naturwissenschaft in der Medizin u m 1600. In: Sudhoffs Archiv 60 (1976), S. 45-65: die anima coclcstis reicht mit verbindender K r a f t vom Schöpfer ü b e r den Menschen und die N a t u r bis ins regnum minerale. Marsilio Ficino: D e vita libri tres. Vcnctiis 1498, lib. III D e vita coclitus c o m p a r a n d a , c. 26, fol.y iir: »Ubique igitur n a t u r a maga est, ut inquit Plotinus, atque Synesius, vidclicct ccrta q u a e d a m pabulis ubique ccrtis incscans, non alitcr qua, ccntro terrae gravia trahens, lunac concavo levia, calorc folia: humorcs radiccs, c a c t c r a c q u c similiter«. Ders.: In dialogum quintum de Legibus. In: O p e r a omnia. Basileae 1576, fol. 1501, 8-12: »Mirabilia quotidic fieri videmus a magnctc in ferrum, a succino in paleas, a fulgoribus in solida, ab ignito sulphure in b o m b a r d a m , a tota n a t u r a vel in motu c o d i , vcl in artil'iciosa rcrum, q u a e gignuntur, l'ormationc. Causas quidem ignoramus, n e q u e tarnen ob causarum ignorationem n e g a m u s affectus fieri, quos videmus«. Es ist aber darauf zu achten, daß schon in der A n t i k e selbst eine klare Unterscheidung zwischen physikalischen Prozessen, die auf reinem K o n t a k t und direkter quan-
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Natur, Naturprozesse, universale Natur, hervorbringende Natur usw. sind, vermittelt über die ungebrochene Tradition des scholastischen Diskurses und gegen die massive Kritik an der Dignität der »scientia naturalis« seitens des Humanismus,16 auch die Standarddefinitionen der mittelalterlichen Schulen zum Naturbegriff und zu dem, was Naturwissenschaft ist oder sein soll, präsent. Es sind dies die im wesentlichen an Aristoteles orientierten Bestimmungen, die Albertus Magnus und Thomas von Aquin der »natura« als innerem Prinzip, als Bewegungsprinzip und als Wesensbestimmung zugeordnet haben, und es ist auch die Konzeption einer »natura communis« durch Duns Scotus - die dann durchaus in Verbindung mit dem antiken Gedanken der »natura universalis« auftauchen kann - sowie deren radikale Kritik seitens Wilhelm von Ockham, die in den verschiedenen Autoren präsent bleiben werden. In der christlichen, unter schöpfungstheologischen Prämissen stehenden Reflexion auf die Implikationen des Begriffs >Natur< mußte immer wieder genau unterschieden werden zwischen dem Willen und der Intention Gottes, als dessen, der sein Wort (d.h. sich selbst) in der Schöpfung verwirklicht, und dem, was sich als wenn man so will >äußererNatur< bezeichnet werden konnte - obgleich diese Option seltener und grundsätzlich mit heterodoxen Konsequenzen verbunden war (natura naturans) - als auch dieser losgelöste Prozeß der Realisierung oder »executio«. Dennoch: unter strikter Be-
titativ-mcchanischcr Wechselwirkung basieren, und solchen, die durch eine - nicht direkt greifbare - Fernwirkung basieren gemacht worden ist; vgl. Plutarch: Quaestioncs Platonicac 1004 D - 1006 Β auf Basis von Piaton: Timaios 79 A-80 C (Theorie der περίωσις, d.h. des »Herumstoßens«, zur Erklärung natürlicher Prozesse wie Atmung, die die A n n a h m e von >magischer< Attraktion oder actio in distans-Yoigimgen (ολκή, εφεσις) vermeiden soll. In dieser Hinsicht gab es auch schon in der Antike den Grundgegensatz von >mechanistischer< und >animistisch-qualitativer< Physik vgl. Jan Opsomcr: Antipcristasis, a Platonic theory. In: Plutarco, Piaton y Aristoteles. Actas del V Convegno Internacional de la I.P.S. Hg. von Aurelio Perez Jimenez, Jose Garcia Lopez & Rosa Ma Aguilar. Madrid 1999, S. 417^129. Es lohnte sich, einmal darüber nachzudenken, wie Piaton die Annahme zweier Grundmodelle, desjenigen der tranzendent-psychisch(geistig)en Kraft und desjenigen der immanent-mechanischen Prozesse verbinden konnte bzw. was seine späteren Ausleger daraus gemacht haben. Die Synthese beider Modelle innerhalb eines übergreifenden Ansatzes finden wir jedenfalls in der Konzeption der dynamischen Physik, wie sic Leibniz vorschlägt, in ihrer Grundform wieder. 16
Vgl. etwa Leonardo Bruni: Isagogicon moralis discipline (um 1421-24). In: Opere lcUcraric c politiche, a cura di Paolo Viti. Torino 2001, S.202: »Que (sc. philosophia que ad nature pertinet indagationem), etsi est sublimis atque excellens, tarnen minus habet utilitatis ad vitam, quam isla, que ad mores hominum virtutesque dcsccndit [...]. At vero hec altera philosophia (sc. moralis) tota, ut ita dixerim, de re nostra est. Itaque qui huius cognitione omissa physice intendunt, ii alienum quodammodo negotium agere videntur, suum omiUcrc«.
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Währung christlicher Vorgaben mußte, wie dies etwa das Beispiel des Nicolaus Cusanus zeigt, eigentlich gesagt werden: es gibt keinen anderen Vollstrecker (»voluntas dei alio executore opus non habet«), 17 also ist Gott selbst das, was ansonsten, sei es platonisch als Weltseele, sei es aristotelisch als »natura« (d.h. das principum motus et quietis) bezeichnet worden ist, er ist der, »der alles in allem wirkt« (»omnia in omnibus operantem«). 18 So kann Cusanus einerseits die antike, von einigen christlichen Autoren übernommene Rede von »Weltseele« (Schule von Chartres) oder von »Natur« als eigenständiger Kraft verständlich machen, andererseits aber auch klarstellen, daß diese Ausdrücke den Weltprozeß nach einem artifexModell beschreiben, das der tatsächlichen Schaffensweise Gottes unangemessen ist, da es die Trennung von Intention und Exekution, von Invention und Realisierung voraussetzt, die in dem absoluten Verhältnis, das Gott zur Welt in den Augen des Cusaners hat, nicht in Anschlag zu bringen ist. Das »Auge des Geistes« (oculus mentis) sieht unmittelbar, daß es der absolute Grund von Sein ist, der sich in allem Seienden als dessen bestimmendes Prinzip direkt zum Ausdruck bringt, die diskursive Verstandesanalyse ist dazu gezwungen, bestimmte Zwischeninstanzen zu hypostasieren, die dann immer mehr als Theologie-unabhängige begriffliche Stellvertreter für ein naturwissenschaftliches je ne scay quoy fungieren werden. Dennoch, in einem Text wie Idiota de mente kann Cusanus auf prägnante Weise die Grundproblematik des Naturbegriffs, die auch die Entwicklung der frühen Neuzeit bestimmen wird, im Übergang zu eben dieser Zeit noch einmal vor Augen führen. Es ist das breite Spektrum an semantischen Implikationen des Naturbegriffs, mit dem sich die folgenden Beiträge beschäftigen werden, d.h. der Begriff >Natur< wird nicht nur in seinen im engeren Sinne philosophischen oder wissenschaftsgeschichtlichen Funktionen diskutiert werden, also etwa als Teil einer komplexen Definition derjenigen Wissenschaft, die sich mit den »naturalia« beschäftigt, der Physik oder »scientia naturalis«, sondern er wird auch auf seine religiös-theologischen, magisch-alchemischen, musiktheoretischen, literarischen Bedeutungsspektren hin befragt. Wer für das 16. und 17. Jahrhundert nach Anweisungen sucht, um sich in den bislang kaum bearbeiteten Textmassen einigermaßen orientieren zu können, der trifft immer wieder auf Reflexionen oder Einteilungen, die die Autoren selbst zu unserem Begriff vornehmen, die aber bislang in der Forschung noch kaum in gebührender Form beachtet worden sind.19 Als eines
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Vgl. Idiota de mente, c. 13, n. 146. Idiota de mente, c. 13, n. 145. Dies gilt nicht für Tcilaspcktc des Naturbegriffs, wie etwa den der Selbstcrhaltung, zu
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der heuristischen Schemata der Binnendifferenzierung des mit dem Begriff >Natur< intendierten semantischen Spektrums, das uns in unseren Überlegungen leiten könnte, möchte ich nur auf das folgende, auf Basis eines Textes des Quercetanus (DuChesne) rekonstruierte Schema verweisen:20 Natur natura naturans = Deus natura propria bzw. natura naturata natura universalis = anima mundi 2 1
natura particularis = corpus naturale matcria-forma dabei materia uncigcntlich forma = aptius als natura bezeichnet tria prineipia chymica
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dem Martin Mulsow eine ausführliche Analyse vorgelegt hat; vgl. Mulsow: Frühncuzcitlichc Sclbstcrhaltung. Tclcsio und die Naturphilosophie der Renaissance. Tübingen 1998, und den des Naturgesetzes (lex naturae, law of nature, loi de la nature), wo, allerdings auch erst in den letzten Jahren, eine etwas präzisere Analyse von verschiedener Seite aus versucht worden ist; vgl. etwa die Sammelbände: Laws of nature: essays on the philosophical, scientific and historical dimensions. Hg. von Fricdcl Wcinert. Berlin 1995 und Kausalität und Naturgesetz in der Frühen Neuzeit. Hg. von Andreas Hüttemann. Wiesbaden 2001 (= Studia leibnitiana Sonderheft 31); sowie Naturgesetze. Historisch-systematischc Analysen eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hg. von Karin Hartbecke und Christian Schütte. Paderborn 2005 (im Druck). Vgl. Joseph Quercetanus (DuChesne): Ad veritatem hcrmcticac mcdicinac responsio. Francofurti (W. Richter) 1665, 12-13, S. 118-125. Solche Einteilungen bzw. die in diesen Einteilungen verwendete Terminologie gehören zur Signatur des 17. Jahrhunderts, die allen konfessionellen und wissenschaftlichen Unterschieden noch zugrunde liegt. So läßt sich die selbe Begrifflichkeit etwa auch bei Leibniz' Lehrer Erhard Weigcl nachweisen, vgl. E.Wcigcl: Idea totius cncyclopacdiac mathcmatico-philosophica hoc est, Analysis Aristotelico-Euclidea geminum demonstrandi modum & plenam solidioris Philosophiac l'acicm per omnes diseiplinas & facultatcs ichnographicc pingens. Jenae (J. Meyerus) 1671, S. 147: »Sicut autem in genere simplicium qua negotium causationis ordinariae natura iam constituta primo semper & universalissime agit Natura naturans, & substantia prima Dcus a nullo prorsus dependens, sed seipso per se aeternum subsistens absolute, immutabiliter & invariabiliter, actu purissimo concursum suum cxcrccns: deinde Natura naturata, Dco auetori subordinata, & ab co tum in essendo tum in operandi) numquam non dependens: quae & ipsa vel purum & immutabilcm, quam a divino Numinc partieipavit, in causando semper exereet actum, immediate sub Dco constituta [...].« Zur >anima mundi< vgl. Ficino: D e vita coelitus comparanda (wie Anm. 15), c. 1, fol. 1 iii, v: »anima mundi totidem saltcm rationes rcrum scminalcs divinitus habet: quot ideae sunt in mente divina: quibus ipsa rationibus totidem fabricat species in materia«; ib. fol. iv, v: »Similiter anima mundi ubique vigens per solcm praeeipue suam passim explicat communis vitae virtutem. Unde quidam animam & in nobis & in mundo, in quolibet membro totam, potissimum in corde collocant atque sole«, hier ist kaum noch ein Unterschied zwischen Seele und Natur auszumachen.
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Wie man sieht, wird hier >NaturimproprieNatur< bezeichnen: dann muß man darunter jedoch dasjenige an der Natur verstehen, was der Grund und die Ursache dafür ist, daß uns das Sinnenfällige in seinem Selbstvollzug so und so erscheint, vor allem, dies ist ja seit Piatons Timaios und den PhysikVorlesungen des Aristoteles das Basiskriterium, daß sie sich und anderes in ihr (bzw. sich selbst) bewegt.71 Auch wenn dann, was immer wieder zu beobachten ist, dieser transzendente, metaphysische Aspekt von Natur mit dem »Inneren der Natur«, den »interna rerum« oder »intima rerum« in Verbindung gebracht oder sogar gleichgesetzt wird, so muß man festhalten, daß nicht Gott physikalisch gedeutet, sondern die Natur in ihrem inneren, dem Auge unzugänglichen elementaren Bereich metaphysisch bzw. göttlich gedeutet wird: so ist für Melanchthon etwa das »intus inspicere naturam« ein Erfassen der »Idee der Natur« (idea naturae) im Geiste Gottes, 23 so hält Daniel Sennert fast einhundert Jahre später fest, daß man bei der Betrachtung der Natur, die er im Zuge wohl des Neustoizismus als eine durch ihre äußere Wohlgeformtheit und innere Logizität unmittelbar auf den Gott(-Logos) verweisende Ganzheit denkt, »wie bei einem Bauwerk ins Haus hineingehen müsse«, um die Sache wirklich zu begreifen. 24 Die »conclavia & penetralia« sind hier also nicht der in die Natur selbst verlagerte Ort der Präsenz des Transzendenten, sondern sie markieren den ganz physikalisch gedachten Bereich der Dinge, in dem deren Struktur, Gerüst, Anordnung der Teile, sozusagen der eigentliche, nicht dem ersten Blick zugängliche, jedoch alles bestimmende Aufbau, ihr »Gesetz«, sich
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Vgl. Giordano Bruno: D e minimo I 1. In: O L 1-3, S. 136: »Mens super omnia Dcus est, mens insita in rebus Natura«. Man konnte hier auf die allerdings finalursächlich gedachte Theorie der ersten Ursache oder Gottes als des πρώτον κινοϋν άκίνητον zurückgreifen und Gott so als »primus motor« glcichsam naturalisieren; solche Versuche wurden jedoch kritisch beobachtet und notiert, vgl. etwa Cardano: Hyperchen (wie Anm. 13), c. 9, S. 1107: »est autem primus motor non Dcus, quippc Dcum ncccsse est ab omni comparatione ad corpus absolutum esse«, vgl. c. 23, S. 1123. Philip Melanchthon in: CR VIII, S. 1124; XIII, S.57. Diese Terminologie ist auch dem frühen Dcscartcs noch ganz vertraut, vgl. etwa Rene Dcscartcs: Rcgulac ad dircctionem ingenii, reg. X n. 3, A T X 405: »interius penetrare«, »intima rerum Veritas«, ebenso wie er auch die Hypostasicrung von Natur kennt, vgl.: La dioptrique, discours VII, A T VI 149-150: Natur als (hypostasiertes) Agens, mit teleologischer Konnotation. Zum vorläufigen kalkulierten Modus dieser »suppositions«, denen cigcntlich ausschließlich positions entsprechen, vgl. Discours de la methode VI n. 10, A T VI 76. Daniel Sennert: Epitome naturalis scientiae. Witebergae (N.Bolli) 1618, Epistola dcdicatoria, fol.4v-5r.
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befindet; diesen Aufbau oder dies Gesetz zu erkennen bedeutet erst, mit Hegel zu sprechen, die »Gediegenheit« einer Sache, ihre innere, vom Äußeren nicht abstrakt getrennte Konsistenz zu erfassen. Im Umkreis des Bartholomaeus Keckermann, der sicher aus einer anderen Ecke kommt als der hermetisch orientierte DuChesne, wird Anfang des 17. Jahrhunderts in den Disputationes philosophicae, physicae praesertim (Hanoviae [G. Antonius] 1611) als verbindliche Unterscheidung vorausgesetzt,25 daß Metaphysik »res sive ens contemplatur, tum generalissime, quatenus est unum, verum, bonum, tum etiam id quod immaterialum est, & spiritus«, die Naturtheorie, also die »Physica«, hingegen, »rem considerat, quatenus naturalis est, id est, materiata, & formata«. D.h. der Ausdruck >naturalis< dient hier zur Charakterisierung der Physik und wird gleichgesetzt mit »materialisiert und geformt«, also ganz aristotelisch werden hier die Materie (ΰλη) und die Form (είδος) als »principia primaria« des natürlichen Körpers gefaßt, der der Hauptgegenstand dieser Theorieform ist, man könnte mit unserem Schema sagen, der der »natura propria« angehört (dort waren diese Prinzipien ja, wenn auch in bestimmter Asymmetrie, subsumiert worden). Gerarde de Neufville, der am Hohen Gymnasium zu Bremen tätig war, schlägt, ebenso wie Sennert,26 in die gleiche Kerbe: für ihn ist jede »res naturalis« synonym mit jeder »substantia creata«, d.h. einem Sein, das sich nicht sich selbst verdankt, sondern einem ersten Prinzip, dessen Schaffensakt und dessen sich durchhaltender erhaltender Tätigkeit.27 Er bringt aber noch - und das ist, wie ich bei anderer Gelegenheit zeigen konnte, 28 für die Zeit zwischen 1580 und 1620 typisch, die sich neben der Klärung unendlich vieler neuer Ding- und Sachzusammenhänge (man denke nur an die explosionsartige Erweiterung des Erfahrungshorizontes durch die Entdeckungen in der >Neuen Weltnaturalc< gilt: »quod alicui csscntialc est, & ad alieuius essentiam pertinet« bzw. in der eigentlichen Bedeutung »id quod in se continet naturam«, id est internum quoddam ad motum & quictcm prineipium; & sie nee motus, nec materia dicitur naturalis, sed sola corpora ex materia & forma composita«. Gerhardus de Ncutvillc: Physicae universalis synopsis ad leges methodi per aphorismosdigesta. Brcmac (J. Wcssclius) 1615, lib. Τ, c. Ι,ρ.11. Thomas Leinkauf: Der Natur-Begriff des 17. Jahrhunderts und zwei seiner Interpretamente: »res extensa« und »intima rcrum«. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 399-418, bes. S. 403-404 zur »vocabula ambigua & πολύσημα« Natur mit ausführlichen Qucllcnnachwciscn. Ähnliche semantischc Ambigiutätcn lassen sich etwa auch bezüglich des Begriffs >Naturgesetz< feststellen, vgl. hierzu Hüttemann: Kausalität und Naturgesetz in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 17) dort, neben den einzelnen Beiträgen, die resümierende Einleitung S.7-13.
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hat - eine ganze Liste des Bedeutungsspektrums von >Natur< hinzu: diese stehe 1. »pro essentia cuiusque rei«, dies entspricht dem »principium & radix proprietatum atque operationum«, 2. »pro proprietatibus rei«, 3. »pro eo quod rei a primo ortu inest«, z.B. daß jemand von Natur aus blind ist (caecus α natura), 4. »pro causa necessaria & naturaliter agente«, 5. »pro Deo rerum omnium opifice«, dies entspricht der natura naturans 6. »pro universitate rerum creatarum«, dies entspricht der natura naturata, 7. »pro universitate rerum corporearum«, dies entspricht der Welt (mundus) und schließlich 8. »pro interno motus principio quod arti opponitur«.29 Auffällig ist hierbei, und dies gilt nicht nur für die Auflistung, die Neufville hier gibt, daß die für nahezu zwei Jahrtausende aus Aristoteles übernommene Kernbedeutung von Natur, in der diese als »(internum) principium motus et quietis« bestimmt und der Kunst entgegengesetzt wurde,30 an die letzte Stelle rückt.31 Möglicherweise ist die mehrfach zu beobachtende Reflexion von Autoren des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts auf die terminologischen Implikationen der jeweils zur Diskussion stehenden Begriffe ein Erbe der philologischen und terminologischen Sensibilität, die durch den Nominalismus und den Humanismus seit dem 14. Jahrhundert mit großer Wirkung auf die Tagesordnung wissenschaftlicher Selbstverständigung gesetzt worden ist. Mit Sicherheit jedoch ist die Erschütterung, die auch dem Naturbegriff durch Ockhams radikale sprachtheoretische Wendung beigebracht worden ist, noch bis weit in das 17. Jahrhundert hinein zu spüren: wie auch immer man sich gegenüber den Konsequenzen einer theoretischen Position stellen mochte, die in ihrem radikalen Grundansatz einen erkennenden und präzise benennenden Zugriff auf die Sache (res) selbst ausschloß und nur noch eine Erkenntnis des konzeptuellen, intentionalen Gehaltes des erkennenden Subjektes selbst als den >Gegenstand< reflektierter philosophischer Anstrengung zuließ: das schon durch Johannes Duns Scotus und dann durch Wilhelm von Ockham in verschärfter Form zum Bewußtsein gebrachte - in der genuin christlichen Tradition allerdings von Anfang an präsente - Wissen um die schlechthinnige Kontigenz der Realität insgesamt und damit eben auch der Naturrealität war nicht mehr rückgängig zu ma29 30
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Ncul'villc: Physicac universalis synopsis (wie Anm. 27), S. 3. Vgl. Aristoteles: Physiea Β 1, 192 b 20-23; 193 a 28-31; Thomas von Aquin: In octo libros physicorum Aristotelis expositio. Hg. von Mariani Maggiolo. Turin / R o m 1965, lib. I, leet. 1, n. 3: »Naturalis enim philosophia de naturalibus est; naturalia autem sunt quorum principium est natura; natura autem est principium motus et quietis in co quo est; de his igitur quae habent in se principium motus, est scientia naturalis« (Hervorhebung dort). So etwa auch in der Aufzählung des Jakob Martini, des Daniel Sennert oder Bartholomäus Kcckcrmanns, vgl. Lcinkaut: Der Natur-BegrilT (wie Anm. 28), S. 413-414.
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chen.32 Diese nominalistische (später terministische) Erschütterung hat analog zu derjenigen, die sich 300 Jahre später durch Kants transzendentalphilosophische Wendung vollzog - Konsequenzen für alle folgenden naturtheoretischen Ansätze gehabt, seien sie platonische, aristotelische, averroistische, stoische, atomistische Ansätze bzw. deren Mischformen. Denn entweder ich akzeptiere das Auseinanderbrechen der Symmetrie zwischen Sein und Denken (Erkennen), einer Symmetrie, die auf der wirklichen Intelligibilität des Seins einerseits und der wirklichen ontologischen Kompetenz des Denkens andererseits beruht, und stelle somit ein rein sprachlich-begriffliches System deduktiv aufeinander bezogener Erkenntniseinheiten neben ein davon unabhängiges, an sich seiendes Sein der Natur, dessen einzelne Repräsentanten mir nur noch über eine »intuitive« Erkenntnis in ihrem So-und-nicht-anders-Sein zugänglich sind, oder ich versuche diese Symmetrie aufrecht zu erhalten und gehe noch von einer wirklichen »begrifflichen Abbildung der Realität« aus,33 dann muß ich aber begründen, daß im Denken und seinen begrifflichen Repräsentanten tatsächlich die Dinge selbst (und nicht bloß unsere Bezugnahmen auf sie) erreicht, d.h. wirklich benannt und als solche erkannt werden.34 Die Formen der Reaktion auf diese grundlegende Irritation sind außerordentlich unterschiedlich und man darf konstatieren, daß die beiden großen geschlossenen Systeme der Neuzeit, dasjenige Spinozas und dasjenige von Leibniz, gerade die Symmetrie von Sein und Denken auf dem Hintergrund 32
3j
34
Vgl. Johannes Duns Scotus: In I sent., dist. 39, q. 5, a. 14. In: Opera omnia. Hg. von Luke Wadding. Lyon 1639 (Hildesheim 1968), Bd.V-2, fol.1300; Wilhelm von Ockham: Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft. Ausgewählt und übers, von Ruedi Imbach: Stuttgart 1984, S.206: »Und deshalb handelt, im eigentlichen Sinne, die Naturwissenschaft weder von den vergänglichen und werdenden Dingen, noch von natürlichen Substanzen, noch von beweglichen Dingen, denn solchc Dinge sind in keinem durch die Naturwissenschaft gewußten Schlußsatz Subjekt oder Prädikat. Vielmehr handelt die Naturwissenschaft im eigentlichen Sinne von den solchen Dingen gemeinsamen Intentionen der Seele, die in vielen Aussagen genau für diese Dinge supponicrcn, obschon in gewissen Aussagen, wie sich zeigen wird, solchc Begriffe für sich selbst supponieren«. Eckhard Keßler Einleitung zu: Lorenzo Valla, Über den freien Willen (De libero arbitrio). München 1987 (Humanistische Bibliothek Texte Bd. 16), S. 20-21. In der Gegenüberstellung von Denken und Sein liegt ja schon ein grundsätzliches Problem dann, wenn Sein umstandlos mit konkretem, sinnlichen Einzclding gleichgesetzt wird, denn zumindest in Piatons Denkansatz ist gerade dies nicht der Fall. Piaton kann nur eine Unglcichsctzung des empirischen, sinnlich vermittelten Datums mit dem, was er Sein nennt, zugeben; eine Glcichsct/.ung der durch das Denken cingebrachten kategorialen Parameter mit dem, was sich im einzelnen Datum >zeigtNatur< zu tun!
Der Naturbegriff
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einer je verschieden konzipierten, beide hervorbringenden Einheit restituieren wollen. Eine sachgerechte Diskussion des hier jeweils vorliegenden Naturverständnisses muß also, wenn sie auf die sprachlichen, lexikalischen und philosophischen Grundlagen rekurriert, im Blick behalten, daß die bisher mehr oder weniger zureichend erforschten Aspekte des frühneuzeitlichen Begriffs von Natur ein komplexes Syndrom darstellen, das sich jedem einlinigen Verstehenszugriff von der Sache her entzieht. Dies Syndrom setzt sich insbesondere aus Faktoren zusammen, die schon im 15. und 16. Jahrhundert ins Spiel gekommen waren: der durch neue Kategorien geleisteten Transformation aristotelischer und scholastischer Beschreibungsstandards, der Integration neuplatonischer und spätscholastisch-nominalistischer Theoreme, der intensiven Zuwendung zu den Strömungen nach-klassischen, hellenistischen Denkens (Stoizismus, Epikureismus, Skeptizismus), der Entwicklung eigener Begrifflichkeit sowie der Wirkung dieser Aspekte auf die Diskussion des 17. Jahrhunderts. Neben die wissenschaftgeschichtlich gut erforschten Zusammenhänge, die etwa die Neuansätze der Paduaner Schule sowie vor allem Galileis und deren fruchtbare Wirkung oder die Effektivität der humanistischen Methodendiskussion betreffen 35 und die jeweils von einem Paradigma eingeschränkter Rationalität (das sein Muster vornehmlich im quantitativen Horizont der Zahl und des Zählbaren besitzt) ausgehen, dessen Ziel immer auf einen Bacon'schen Begriff der »intellectual and operative mastery of nature« fixiert erscheint, 36 wären die zeitgleichen anderen Entwicklungen zu diskutieren, die einen weiteren, für die damalige Zeit spezifischen Rationalitätstypus zugelassen haben, zu dessen 35
Zu Padua vgl. etwa Bruno Nardi: Saggi sul aristotclismo padovano dal sccolo XIV al XVI. Fircnzc 1958; Paul Oskar Kristcllcr: Paduan Avcrroism and Alcxandrinism in the light of recent studies. In: Atti del XII congresso internazionale di filosofia. Fircnzc 1960, S. 147-156; John Hermann Randall: The school of Padua and the emergence of modern science. Padova 1961; Antonio Poppi: Causalitä e infinitä nella scuola padovana dal 1480 al 1513. Padova 1966; zu Galilei vgl. William A.Wallacc: Galileo and his sources: the heritage of the Collegio Romano in Galileo's science. Princeton 1984; ders.: Galileo. The Jesuits and the medieval Aristotle. Aldershot u.a. 1991. Grundlegend für die Ouantifizicrungsthcsc waren Ernst Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt. Leipzig 1883; und vor allem Pierre Duhcm: Etudes sur Leonard de Vinci: ccux qu'il a lus et ccux qui l'ont lu. Vol.I-II, Paris 1906 und 1909, bes. Vol. III: Les precurseurs parisiens de Galilee. Paris 1913, S.55. Duhcms Verdienst liegt in der Einführung eines BcwuBtscins von durchgehender Kontinuität im ProzcB wissenschaftlicher Innovation gegen die traditionelle Vorstellung, daß das 17. Jahrhundert ein voraussetzungsloser Anfang gewesen sei, also gegen eine Diskontinuitäts-Thcsc. Zur Mathcmatisicrung Eduard J. Dijkstcrhuis: Val en worp: een bijdrage tot de geschiedenis der mechanica van Aristoteles tot Newton. Groningen 1924. Ders.: The mechanization of the world picture [ 1950]. Oxford 1961, S. 167,302ff.
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H. Floris Cohen: The scientific revolution. A historiographical inquiry. Chicago 1994, S. 510.
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Mustern ein spekulativer oder dialektischer Begriff von Einheit ebenso gehört wie die Vorstellung von einer sich nicht in ihren quantitativ darstellbaren und experimentell überprüfbaren Äußerungen erschöpfenden Kraft37 und die Anwendung bestimmter Kategorien zur Explikation des in und durch eine jeweilige Kraft-Einheit Geäußerten und Bewirkten. Führte die quantifizierende Darstellung der Natur in gerader Linie zum cartesianischen Dualismus, dessen Natur-Begriff, der auf einem Form- und Qualitätsfreien Materiebegriff aufbaut, die leblose Schönheit eines glitzernden Eiskristalls aufweist,38 so führte die andere, alternative Darstellung, in der qualitative oder transzendente Agentien neben den mechanistischen Vorgaben der atomistischen oder cartesianischen Tradition bewahrt wurden, in ihrer platonischen Aufnahme zu den spekulativen Naturentwürfen etwa der Cambridge Platonists, in denen zwischen Gott und mechanischem Selbstvollzug der Welt so etwas wie eine »piastick nature« (R. Cudworth) gestellt werden konnte, die die (demiurgische) göttliche Intention in naturgesetzliche Effekte umsetzt, und in ihrer mehr kritischen Aufnahme (in der die irrationalen »Rückstände«, wie die qualitates occultae oder auch Cudworths piastick nature abgearbeitet wurden) 39 zu der dynamischen Naturtheorie eines Leibniz und später des Deutschen Idealismus. Es ist immer noch die Frage, welche »Pfade« präzise beschritten worden sind, wenn die von F. A. Yates geäußerte, einen wissenschaftsgeschichtlichen common sense repräsentierende Behauptung stimmt, »that the seventeenth century represents that momentous hour in the history of man in which his feet first began to tread securely the paths which have since led him unerringly onwards (sic!) to that mastery over nature in modern science which has been the astonishing achievement of modern European man«.40 Es lassen sich seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und in voller Präsenz im 16. Jahrhundert intensive Reflexionen auf zentrale, für die 37
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39
40
Zum Begriff der >Kraft< gehört ein »aktiver« Begriff von Natur selbst, ebenso wie zu dem des modernen wissenschaftlichen >Experiments< (schon nach Kant: Einleitung zur 2. Auflage der KrV 1787) ein »aktives« Verständnis der Naturcrforschung gehört, die Transformation von der Beobachtung und Aufzeichnung zur Hypothesengclcitctcn Erforschung und zur (Gcrichtsvcrhandlung-analogcn) »Befragung«. Vgl. schon Rene Descartes: Le monde, Traite de la lumiere, A T XI, S. 7ff., 25-26, 32ΙΪ. Dcscartcs reduziert an dieser Stelle auch die traditionelle scmantischc Breite von >naturcNatur< und Mechanik radikal identifiziert werden können. 43 Dabei muß vor allem geachtet werden auf die Stellung der Naturtheorie im Rahmen der Schul-Philosophie einerseits, in der, um nur ein Beispiel zu nennen, durch die skotistische Position eines Francisco Suarez auf Basis einer Ontologie der Seinsunivozität die Differenzen im Sein und das gilt bis hin zum natürlichen Sein - als modale Differenzen bestimmbar werden, deren Einheitsbezug ebenfalls durch den Begriff der Ähnlichkeit bestimmt werden kann,44 und im Rahmen der außeruniversitären »movements«, d.h. vor allem des Humanismus, des Neuplatonismus, des Hermetismus und der Magie,45 andererseits. Die letztgenannten Posi-
43
Charlott Trepp und Hartmut Lehmann. Göttingen 2001, S. 41-61, bes. 57-59. Z u den tiefer liegenden philosophischen Relationen von »Ähnlichkeit« und »Selbsterhaltung« vgl Mulsow: Frühncuzcitlichc Sclbstcrhaltung (wie Anm.16), S. 391-393 (dort vor allem Anm. 96). Rene Dcscartcs: Lc mondc, AT XI, S. 31".; Discours de la methode, V n. 1, AT VI, S. 41: »que j'ay remarque certaines lois, que Dieu a tellement etablies en la nature, et dont il a imprimc de tcllcs notions cn nos ämes, qu'aprcs y avoir l'ait asscz de reflexion, nous nc saurions doutcr qu'cllcs nc soient cxactcmcnt obscrvccs, cn tout cc qui est ou qui se fait dans le monde«; V n. 8, S. 54: »les regies des Mechaniques qui sont les memes que ccllcs de la nature«. Zum Problem der »similitudo«: Nicht nur die sinnlich erschlossenen Dinge und die sprachlich kodierten Bezeichnungen der Dinge weisen keinerlei >Ähnlichkcit< untereinander auf, sondern die durch unsere Sinne selbst schon - taktil, auditiv, optisch - erschlossene Wirklichkeit und das >eigentliche< wahre Sein der Dinge, die diese Wirklichkeit ausmachen, weisen keinerlei >Ähnlichkcit< mehr auf: was für uns als >warm< crschcint (gefühlt wird), ist tatsächlich eine nicht-fühlbare atomar-korpuskulare Komplexion, die einen bestimmten, von Descartcs aus gesehen, durchgehend gcomctrisicrbarcn bzw. mathematisierbaren Zusammenhang von Form (Gestalt, Figur), Bewegung (Geschwindigkeit), Ausdehnung (Masse) aufweist.
44
Vgl. Francisco Suarez: Disputationcs mctaphysicac. Salamanca 1597, disp. 2, q. 2, n. 8: »Dico ergo primo conceptui formali entis respondere unum conceptum obiectivum adacquatum et immediatum, qui cxprcssc non dicit substantiam, neque accidcns, ncque Deum, nec creaturam, sed haec omnia per modum unius, scilicet quatenus sunt inter se aliquo modo similia et convcniunt in csscndo« (meine Hervorhebung). Diese Verwendung von »simile« bzw. »similitudo« müßte einmal kritisch verglichen werden mit den Verwendungen, die im R a h m e n neuplatonischer oder magisch-alchemischer Naturtheorien begegnen. Gemeinsam ist allen Verwendungen des Ähnlichkcitsbcgriffs natürlich, daß sie Strategien der Vereinheitlichung oder Rückführung auf ein Gemeinsames ohne Aufhebung der Differenz intendieren, so etwa auch im Novum organon des Francis Bacon: Neues Organon. Lateinisch-deutsch. Hg. und mit einer Einleitung von Wolfgang Krohn. 2 Bde. Hamburg 1990. II, Aphorismus 28: »neque enim desistendum ab inquisitionc doncc proprictatcs et qualitatcs quae inveniuntur in huiusmodi rebus quae possunt censeri pro miraculis naturae, reducantur et comprehendantur sub aliqua forma sive lege ccrta; ut irregularitas sive singularitas omnis reperiatur pendere ab aliqua forma communi«. Vgl. Wolfgang Krohn: Das Naturgesetz zwischen Formbegriff und Handlungsrcgcl bei Francis Bacon. In: HUttcmann: Kausalität und Naturgesetz (wie Anm. 17), S. 47-64, bes. S. 55.
45
Paolo Rossi: Immagini della scienza. R o m 1977, S. 15-69. Cohen: The scientific revolution (wie Anm. 36), S.110I'., 151-183. Vgl. zum Hcrmctismus Trcpp/Lchmann: An-
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tionen sollten in diesem Zusammenhang sorgfältig von einer vorschnellen, abqualifizierenden Bewertung, wie sie sich vor allem die angelsächsische Wissenschaftsgeschichtsschreibung allzu lange geleistet hat, 46 getrennt gehalten werden - es gilt im Rahmen solcher angemessenen hermeneutischen Annäherung auch, die innere Rationalität und nicht nur die unbestrittene »kulturelle« Präsenz (P. Rossi, F. A. Yates) dieser Denkformen zu rekonstruieren. 47 Ein zentrales Problem bildet dabei die sehr schwierig zu bestimmende, weil aus einem Zusammen von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit sich zusammensetzende Präsenz der starken und verbindlichen aristotelischen Tradition im Verhältnis zur immer intensiveren Auseinandersetzung mit wiederhergestellten Texten des Hellenismus und der (neu)platonischen Spätantike (das betrifft auch und gerade die neuplatonischen Aristoteles-Kommentatoren wie Simplikios und vor allem Philoponos). Überschneidungen zwischen verschiedenen geistesgeschichtlichen Strömungen, Verbindungen verschiedener philosophischer Optionen, Synthetisierung von alternativen Ansätzen sind gerade zwischen 1550 und 1750 in großer Menge zu beobachten und machen das Geschäft der vorsichtigen, die Autoren selbst zu Wort kommen lassen wollenden Rekonstruktion nicht gerade einfacher. So müssen wir eben auch zu Positionen interpretierend Stellung nehmen können, die, im Zuge der immer stärkeren Psychologisierung, ja sogar Theologisierung der Natur, davon ausgehen, daß entweder die Natur dinge selbst (entia omnia) oder sogar die Materie ein Selbstverhältnis aufweisen, das demjenigen des Bewußtseins oder sogar der Reflexion des Geistes nahekommt oder doch zumindest dessen vor-bewußte Stufe darstellt, eine Position, die sich der Sache nach nur wenig von dem unterscheidet, was wir im Idealismus Schellings oder Hegels wieder finden werden, eine Position, die wir bei so verschiedenen
46
47
like Weisheit und kulturelle Praxis (wie Anm.42); zum Paracelsismus jetzt: Corpus Paracelsisticum. Dokumente frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland, herausgegeben und erläutert von Wilhelm Kühlmann und Joachim Teile, B d . l : Der Frühparacelsismus 1. Teil. Tübingen 2001. Bd. 2: Der Frühparacelsismus 2. Teil. Tübingen 2004. Vgl. etwa Alfred Rupert Hall: The scientific revolution 1500-1800: the formation of the modern scientific attitude. London 1954, S. 307; Marie Boas Hall: The scientific renaissance: 1450-1630 (= A.R.Hall/M. Boas Hall: The rise of modern science Vol.1). London 1962 [Paperback 1970], S.156, 323: »muddled mysticism«, »superstition« konfrontiert mit den »scientifically valid problems« etc. Trotz einiger korrigierender Retraktationcn in Alfred Rupert Hall: The revolution in science, 1500-1750. London 1983 (hierzu Cohen: The scientific revolution (wie Anm. 36), S. 120f.) bleibt diese einseitige, auf Fortschrittsgcschichtc und »Rationalität« fixierte Position erhalten. Vgl. ebd. S. 2: »If one is interested in creativity one must, to a large extent, follow the victorious and not the defeated. Atavism must be accepted, but not supposed to be more interesting and significant than creativity leading to the abandonment of traditional ideas«. Vgl. Thomas Lcinkauf: Interpretation und Analogic (wie Anm. 42).
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Autoren wie Tommaso Campanella, Johann Heinrich Bisterfeld oder Francis Glisson (um nur einige zu nennen) und dabei auf so verschiedenen Voraussetzungen wie Neuplatonismus, Stoa oder Aristotelismus aufbauend, antreffen, eine Position, die im Phänomenalismus der Leibnizschen Monadenlehre erst ihren systematischen Abschluß findet.48 Alle diese Verständnisweisen von >NaturNatur< Gedachte, also die Eigenschaften und Wirkweisen von Natur, funktional vieles von dem übernimmt, was zuvor, seit Piatons Timaios, mit der tätigen, intelligenten Kraft verbunden worden war, die man als »Weltseele« bezeichnet hatte. Die Natur übernimmt - wenn man so sagen darf - aber nur die unmittelbaren, d.h. vor-bewußten oder vor-reflexiven Selbstvollzüge der Welt- oder Allseele, also die psychischen Aktivitäten, die in den für die Diskussion der frühen Neuzeit so wichtigen Bereichen wie Vorstellungs- und Einbildungskraft und Ingenium liegen. Natur wird so schrittweise von einer der Allseele mit ihren intellektiven Vermögen nachgeordneten, aber deren rationale Intentionen realisierenden Instanz, die sich gerade auch in der Kunst durch »ingenium«, »furor«, »enthusiamus« zu deutlichem Ausdruck bringt und dadurch eine andere >Natur< sui generis hervorbringt, 49 zu einer selbständigen (unbestimmten) Macht, die sich gleichsam >blind< aus Unbestimmtem zu Bestimmtem entfaltet, dabei - modern gesprochen - emergenztheoetischen Kriterien gehorchend. Das wissenschaftliche Paradigma, das zu diesem entseelten Naturbegriff führt, darf eigentlich noch nicht einmal zulassen, daß man überhaupt von so etwas wie >Natur< im Singular und als einem sprachlichen Stellvertreter für ein Sein oder eine wirklich existierende Instanz spricht. Dabei hindert nichts, daß die wissenschaftliche Einsicht, die diesen Sachverhalt in seiner Geltung hält, immer wieder 48
49
Vgl. Tommaso Campanclla: Mctaphysica VI, 7, art. 1. Hg. von Giovanni di Napoli. Bologna 1967, Bd. II, S. 88: »entia enim omnia sensu sui et conservationis donata esse: et esse, conservari et agere, quia sciunt«; dazu Mulsow: Frühncuzcitlichc Sclbstcrhaltung (wie Anm. 16), S.391; Johann Heinrich Bisterfeld: Philosophiae primae seminarium, c. 3. Hg. von Adrian Hccrcboord. Lugduni Batavorum 1657, S. 351'.; dazu Thomas Lcinkaul': Divcrsitas identitatc compensata (II). In: Studia Lcibnitiana 29 (1997), S. 89-93; Francis Glisson: Tractatus de natura substantiae energetica. London 1672; dazu Karin Hartbcckc: Metaphysik und Naturphilosophie im 17. Jahrhundert. Francis Glissons Substanztheorie in ihrem ideengeschichtlichen Kontext. Dissertation Münster 2002. Vgl. August Buck: Poetiken der italienischen Renaissance. In: Renaissance-Poetik/ Renaissance Poetics. Hg. von Heinrich F. Plett. Berlin-New York 1994, S. 23-36, hier: S. 32Γ.
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oder eigentlich sogar durchgehend durch sprachliche Hypostasierungen, in denen Natur immer noch die Rolle einer rationalen, die Welt ordnenden Wirkkraft, einer »ars Dei« oder doch zumindest eines quasi-transzendenten Prinzips spielt, konterkariert wird, und dies nicht nur in Literatur, Philosophie oder Theologie, sondern in der Sprach- und Denkform der Naturwissenschaft selbst. Die scharfe Trennung von okkulten und rational-distinkten Wissenschaften, sei es in der Entstehungsphase des wissenschaftlichen Rationalismus selbst, sei es in den Bemühungen seiner historiographischen Rekonstrukteure, hat dazu geführt, daß die integrative, die Stellung des Menschen und seines »Geistes« (mens) in der Welt berücksichtigende Deutung der Wirklichkeit durch die Theoretiker der Renaissance und der Frühen Neuzeit durch eine exkludierende Deutung abgelöst wurde, deren Grundannahmen in letzter Konsequenz den Kernbereich des Menschlichen, sein Inneres, seine Persönlichkeit, die Implikationen des Humanen aus der Deutung der Natur-Wirklichkeit und aus dem Horizont des durch Rationalität rekonstruierbaren Seienden radikal ausschloß.50 Obgleich also hierbei das, was wir von der Natur wissen, in immer intensiverer Weise eine rein menschliche Konstruktion geworden ist, deren Parameter sich aus b e waffnetem empirischer Datenerhebung (Teleskop und Mikroskop waren hier ja nur bescheidene Anfänge), gliedernder Sammlung und Ordnung sowie rational-logischer Interpretation zusammensetzen, ist das, was Natur in uns und für den Menschen ist und sein kann, dadurch zugleich immer mehr im Horizont einer nur für den einzelnen selbst erlebbaren Wirklichkeit eingeschlossen worden, die in immer stärkerem Maße dem individuellen Affekt, Gefühl und Deutungsbedürfnis ausgesetzt ist, den Ort ihres Ausdrucks daher in künstlerischen Formen suchte, vor allem in der Dichtung. Ein durchaus langsamer Prozeß, an dessen vorläufigem Ende, also heute, gesagt werden muß, daß >Natur< als Gegenstand der Wissenschaft und >Natur< als Phänomen der - nicht nur unmittelbaren, sondern durchaus auch bewußten, reflektierten - individuellen und medial kollektivierten Erfahrung fast, bis auf das Wort, keine gemeinsame Schnittmenge mehr aufweisen.
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F. A. Yates hat darauf zurecht am Ende ihres einflußreichen Buches: Giordano Bruno and the hermetic tradition (wie Anm. 40), S.454f. hingewiesen (hierzu auch die erhellenden Hinweise von Cohen: The scicntil'ic revolution (wie Anm. 36), S. 1811'.).
Enno
Rudolph
Die Seele innerhalb der Grenzen der bloßen Natur
I.
Die aristotelischen Grundlagen des Immortalitätsstreits
Der durch Pietro Pomponazzis Traktat mit dem irreführenden Titel De immortalitate animae - er hieße angemessener De mortalitate animae ausgelöste so genannte >Immortalitätsstreit< führt nach Meinung eines nicht unbedeutenden Teils der Expertenschaft an der ursprünglichen Intention des Autors vorbei. 1 Die Schrift will nicht den christlichen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele zerstören; die Schrift will den Averroismus aus der Naturwissenschaft vertreiben. Geht man davon aus, dass Pomponazzi drei Jahre nach Erscheinen der Schrift (mit dem Defensorium 1519) nicht - jedenfalls nicht nur - aus Opportunismus handelte, als er den Streit für beendet erklärte, dann spricht einiges für diese These. Hinzu kommt, dass sich der Autor im Text konsequent darauf beschränkt, die tatsächliche Ansicht des Aristoteles durch textnahe Exegese zu ermitteln und das Ergebnis mit der herrschenden Meinung des Averroismus im Allgemeinen und der Position seines Lehrers, Nicoletto Vernia, im Besonderen zu vergleichen. Das Interesse Pomponazzis liegt vornehmlich auf dem Nachweis der naturwissenschaftlichen Plausibilität der aristotelischen Seelenlehre. Er argumentiert als Mediziner und Naturphilosoph und vor allem als ein auch nach modernen Maßstäben unbestechlicher Empirist.2 Nur beiläufig sei darauf verwiesen, dass Pomponazzi - wohl unabsichtlich - damit der theologischen Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele insofern sogar zuarbeitete, als er die Theologie von der Hypothek entlastete, den Glauben und seinen Wahrheitsbezug durch Unsterblichkeitsbeweise zu stützen. Auf diese Weise diente seine Position einer Autonomisierung der Glaubenswahrheit, wie sie allerdings in seiner Zeit noch keineswegs gefragt war. Ebenfalls beiläufig sei daran erinnert, dass sich zwei Jahre nach Erscheinen des Unsterblichkeitstraktates, nämlich 1518, eine pikante literarische Konstellation ergab, deren geistes- und kulturge-
2
Vgl. Pictro Pomponazzi: Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele. Lat./dt. Übers, und mit einer Einleitung hg. von Burkhard Mojsisch. Hamburg 1990. Vgl. Martin Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung. Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance. Tübingen 1998, S.70IT.
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Enno Rudolph
schichtliche Bedeutung bis heute nicht recht realisiert worden ist: Martin Luther veröffentlicht seine Heidelberger Disputation, in deren philosophischen Thesen er als Kernstück eine detaillierte Auslegung der für die Unsterblichkeitsfrage einschlägigen Passagen aus De anima von Aristoteles entfaltet. Luther - in zentralen Belangen des reformatorischen Projekts der programmatische Antihumanist der Nachrenaissance und Restaurateur des mittelalterlichen Augustinismus - kommt hier, freilich ohne Kenntnis der Arbeit Pomponazzis, zu exakt demselben Ergebnis wie Pomponazzi: Aus dem Seelenkonzept des Aristoteles ergebe sich mit Eindeutigkeit die Konsequenz der Mortalität der Seele, und beide, Pomponazzi und Luther, beziehen sich dabei auf dieselbe heikle Bemerkung am Ende von De anima,3 deren Botschaft bis heute umstritten ist. Wie Luther, so geht auch Pomponazzi kontextuell vor. Er bezieht sich auf den gesamten Text von De anima, aber auch auf Teile der Auslegungstradition - vor allem auf die averroistische - und auf andere Texte des aristotelischen Werkes. Anders als Luther aber ist seine Auslegung nicht durch ein primäres weltanschauliches Interesse geleitet. Luther nämlich will den Aristotelismus aus der christlichen Glaubenswahrheit tilgen - er hält ihn für das Hauptübel der scholastischen Theologie und bewertet ihn als destruktiv für eine Orientierung am seligen Leben nach dem Tod. Pomponazzi hingegen will eine naturwissenschaftlich tragbare Theorie vom Phänomen des Lebens entwickeln, und für ihn ist eine solche nur als gelungen zu bewerten, wenn sie empirisch gesichert ist. Für die Abtrennbarkeit seelischer Prozesse - oder eines Teils derselben - sieht Pomponazzi keinen empirischen Anhaltspunkt. Hätte Aristoteles tatsächlich für die Abtrennbarkeit der >Denkseeleabgetrennt< - weil ohne stofflichen Gegenstand - , >unsterblich< - weil unkörperlich, und >unaufhörlich< - weil nicht von einer zufälligen Gegebenheit bzw. Nichtgegebenheit sinnlicher Wahrnehmungen abhängig. Diese drei Prädikate - abgetrennt, unsterblich und unaufhörlich - bilden die Grundlage für die Berufung auf Aristoteles als ein Unsterblichkeitsphilosoph nicht nur innerhalb des Averroismus. Doch gerät diese Interpretation bereits durch einen Verweis auf eine melancholisch klingende Bemerkung aus dem 10. Kapitel des 12. Buches der Metaphysik ins Wanken, 6 wo das göttliche Wirken der unaufhörlichen Tätigkeit als erster Beweger der Natur mit der Permanenz der >reinenEntelechieEntelechie< erklärt, 8 und so scheint es, dass er die Kohärenz der Physis als organismische Einheit zu garantieren sucht. Es ist aber diese organismische und durch die entelecheische Analogie zwischen anorganischen Bewegungsvorgängen und organismischen Lebensprozessen zum Ausdruck gebrachte Teleologie, die Pomponazzi nicht argumentativ 8
202a 13 IT.
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Natur
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aufnimmt, sodass seine Averroismus-Kritik auf der Grundlage eines empirisch verkürzten Aristotelismus vollzogen wird. Die berühmte Seelendefinition des Aristoteles - Seele sei die >erste Entelechie< eines Körpers, der der Möglichkeit nach Leben hat 9 - spielt im Traktat Pomponazzis eine bemerkenswert marginale Rolle. Dass es sich bei dieser Vokabel um eine Schlüsselkategorie des gesamten naturphilosophischen Konzepts des Aristoteles handelt, und dass sie überdies die Funktion erfüllt, zwischen der Welt der Physik - die Biologie eingeschlossen - und ihren ontologischen Grundlagen zu vermitteln, wird von Pomponazzi nicht rezipiert. Mit dem Gespür eines kompromisslosen Empiristen scheint er zu ahnen, dass die entelecheische Bestimmung der Seele unmittelbar zur Seelenmetaphysik führt - kurz: >Seele< als Entelechie erweist sich im aristotelischen Kontext als eine metaphysische Kategorie, die in das pomponazzische Konzept einer biologischen Psychologie nicht passt. Erst Leibniz hat den vollen metaphysischen Gehalt des aristotelischen Entelechie-Begriffs - sein Ziel der Möglichkeit nach in sich zu tragen von Aristoteles bewusst und ausdrücklich wieder aufgenommen, und zwar in der Absicht, auf diese Weise einen angemessenen physikalischen Begriff der >Kraft< bzw. der >Energie< zu etablieren, der als >vis activa primitiva< die Phänomene wie Druck, Stoß, vor allem aber auch das Phänomen des Widerstands erklären lässt. Wir wissen aus anderen einschlägigen Abhandlungen von Pomponazzi, wie sehr auch ihn gerade dieses Problemfeld beschäftigte - vor allem aus dem Traktat De modo agendi (1515). Pomponazzi zeigt hier allenthalben,10 wie sehr ihm an einer lückenlosen Erklärung von Naturphänomenen gelegen ist, ohne dass auf die Hypothese übernatürlicher Ursachen zurückgegriffen werden müsste. Die Zwischenstellung zwischen der aristotelischen Teleologie und der Renaissance des Entelechiebegriffs in der Dynamik von Leibniz, die Pomponazzi faktisch einnimmt, demonstriert aber, dass Pomponazzi den aristotelischen Boden in dem Augenblick wieder verlässt, in dem er den Immortalitätsstreit hinter sich lässt, da sein Verständnis von einem lückenlosen Naturkausalismus demjenigen des Aristoteles entscheidend widerspricht. In De modo agendi berührt Pomponazzi die mit dem Problem der Interdepedenz zwischen Körper und Seele unmittelbar verknüpfte Frage der Wirksamkeit des vom Intellekt gelenkten Willens auf unsere Handlungen. Hier erwägt er die Einführung einer eigentümlichen zusätzlichen Potenz, dem >SpiritusEntelechie< dokumentiert wird. Aristoteles postuliert: »Es ist das Lebewesen, von dem wir sagen, dass es sich selbst bewegt.«18 Im Unterschied zu den unbeseelten Dingen sind beseelte Dinge Selbstbeweger - in einem naturphilosophisch begründeten Sinne >autonomMegalokosmosgöttlichStofflosen< teilhabend, insofern er sich zu sich selbst verhalten kann - frei, tugendhaft oder lasterhaft zu leben. Der Spielraum seiner Entscheidung ist allerdings begrenzt durch seine Sterblichkeit: »Wer wählte, auch wenn die Seele sterblich ist, eher das Laster als die Tugend?«20 Diese rhetorische Frage dokumentiert Pomponazzis Interesse an einer konstruktiven und positiven Bewertung der ultimativen Immanenz des menschlichen Lebens. Pomponazzi radikalisiert den physikalischen Immanentismus des Aristoteles anthropologisch.
20
Pomponazzi: A b h a n d l u n g (wie A n m . 1), S.228.
Martin
Mulsow
Arcana naturae Verborgene Ursachen und universelle Methode von Fernel bis Gemma und Bodin
1. Wie ist eigentlich die barocke Universalwissenschaft entstanden? Welche historischen Verbindungen und Entwicklungen gab es im 16. Jahrhundert, die sie ermöglicht haben? In welcher Beziehung steht der Naturbegriff, den sie voraussetzt - insbesondere die Auffassung von den arcana der Natur - zu ihrer Methodenlehre? Wie steht ihr Universalanspruch in Relation zum philosophischen Synkretismus der Epoche? Das sind lauter große Fragen, die kaum in einem Anlauf zu beantworten sind, zumal sie durch den ungeheuren Anspruch der Universalwissenschaft, alles Wißbare zu erfassen, nicht gerade weniger einschüchternd werden. Wenn ich diese Fragen dennoch angehe, dann wie ein Theseus, der seinen Ariadnefaden durch das Labyrinth verfolgt, ohne sich von den zahlreichen Perspektiven in Seitengänge ablocken zu lassen. Und zweifellos im Bewußtsein, nur einen von vielleicht mehreren Wegen zu verfolgen. Der Faden, den ich aufrolle, hat seinen Beginn an einem zeitlich späten Punkt: in den letzten Jahren des 16. Jahrhunderts. Im Colloquium heptaplomeres spricht Jean Bodin gleich zu Beginn von der Pantotheca, die der Gastgeber Coronaeus in seinem Haus in Venedig beherberge; eine Art Memoria-Theater der Natur in der Art Giulio Camillos, in dem Exemplare oder zumindest Abbilder aller natürlichen Dinge enthalten sind. Diese Pantothek ist ein Quadrat von 36 mal 36 Holzschächtelchen, für die eine bestimmte Anordnung gilt: das Letzte soll mit dem Ersten, die Mitte mit beiden und alles mit allem in seiner jeweiligen Klasse verbunden sein: »ut extrema primis, media utrisque, omnia omnibus apta serie cohaererent«. 1 Wie diese Forderung von der Pantothek erfüllt worden ist, sagt Bodin nicht. Es ist evident, daß ein Tableau von Kästchen nicht so angeordnet werden kann, daß das Erste mit dem Letzten zusammentrifft. Man mag einwenden, daß Bodin das letzte der einen Art und das erste der nächsten Art gemeint habe. Aber wie sollen die aneinandergrenzen, wenn das MittVgl. Jean Bodin: Colloquium heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis. Hg. von Ludwig Noack. Schwerin 1857. Nachdruck Hildesheim 1970, S. 21'.; vgl. Georg Roellenbleck: Offenbarung, Natur und jüdische Überlieferung bei Jean Bodin. Gütersloh 1964; Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres. Hg. von Günter Gawlick und Friedrich Nicwöhncr. Wiesbaden 1996.
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lere dazwischentritt? Und für Bodins Naturanschauung gibt es immer ein Mittleres, auch zwischen den Arten und Gattungen. 2 Nein: Die Pantothek scheint vielmehr bewußt schematisch und vage beschrieben zu sein, in der Art eines Emblems, das eher auf etwas anspielt als daß es es adäquat beschriebe. Man müßte sich die Panthothek schon mit einem verborgenen Mechanismus, einem Räderwerk im Hintergrund vorstellen, wenn die Verbindung von allem mit allem gewährleistet sein sollte. Genau dieser Gedanke aber wird uns weiterführen: Ein Räderwerk, eine Kreiskonstruktion, in der Erstes, Letztes und Mittleres vertauscht werden können. Was kann das für eine Kreiskonstruktion sein? Die Skizze im Colloquium gibt darüber keine Auskunft. Aber in seinem Universae naturae theatrum von 1591 hat Bodin an einer Stelle davon gesprochen, die Erkenntnis der Natur müsse nach einer ratio circularis verfahren. 3 Diese Kreismethode - wenn man den Terminus so übersetzen möchte - verbindet offenbar den Abstieg vom Einfachen und Allgemeinen zum Zusammengesetzten und Individuellen mit dem Aufstieg von der sinnlichen Erkenntnis zu den Gründen des Wirklichen: M a n h a t gewissermaßen eine Kreismethode zu benutzen, u m von den K e r k e r n zur Spitze (ad metam), und von der Spitze zu den Kerkern zu k o m m e n ; wir denken und forschen nach den Schätzen der Natur, der einzelnen Dinge in der Luft, im Wasser, auf der E r d e und unter der E r d e nicht immer katabasin, sondern auch anabasin [...]. 4
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Vgl. Jean Bodin: Universae naturae theatrum. Lyon 1596, S.226I'. Dazu A n n Blair: T h e T h e a t e r of Nature. J e a n Bodin and Renaissance Science. Princeton 1997, S. 133ΙΪ. Bodin: Universae n a t u r a e t h e a t r u m (wie A n m . 2), hier zitiert nach der A u s g a b e F r a n k f u r t 1597, S. 141. Z u m T h e a t r u m vgl. weiter Paul L . R o s c : Bodin and the G r e a t God of Nature: T h e Moral and Religious Universe of a Judaizcr. Genf 1980; Ccsarc Vasoli: N o t e sul >Theatrum naturae< di J e a n Bodin. In: Rivista di storia della filosofia 45 (1990), S. 475-537; Jean Mcsnard: Jean Bodin ä la rcchcrchc des sccrcts dc la nature. In: Umanesimo e esoterismo. Hg. von Enrico Castelli. P a d u a 1960, S. 223-243. Z u r »ratio circularis« vgl. Ralph H ä f n c r : Circularis ratio. Z u r M e t h o d e in Jean Bodins Universae N a t u r a e T h e a t r u m (1596). In: II cannocchiale. Rivista di studi filosofici (1993), S. 39-58. Universae naturae theatrum (wie A n m . 3 ) , S.141: »[...] circulari q u a d a m rationc u t e n d u m est, ut a carceribus ad m e t a m , & a m e t a ad carceres redeamus, nec semper κατάβαση 1 , sed ctiam άνάβασιν meditemur, & naturae thesauros rcrum singularium in aere, in aquis, in terris, sub terras scruteremur [...].« D e r Kontext dieser Passage ist die Frage des T h c o r u s über das richtige mcthodischc Vorgehen in der Wissenschaft. S. 140: »Initio dixisti a facilioribus auspicandum esse, id est, a simplicioribus, ut quid e m coepisti simplicissimis ultimum n a t u r a e prineipium consequentibus causis, a materia, inquam, & forma, cx quibus mundi corpus hoc physicum omnium maximum existit: cuius partitionem a summis generibus ad media, ab his ad infimas species exhibuisti, num ctiam individuata, id est, corpora ipsa physica sensibus subiicics?« D a r auf antwortet Mystagogus, S. 140f.: »Pythagoras in individuis consistere iubebat: quoniam omnis scientia est universorum, nulla singularium esse potest: & q u e m a d m o dum nulla est Dci scicntia, quoniam actu est inl'initus; n e q u e enim Socratis venatio
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Es ist klar, daß hier auf den platonischen Auf- und Abstieg angespielt ist, ebenso wie auf den daraus entwickelten aristotelischen regressus, der den Weg zur Spitze der allgemeinen Definition, dem negotium iritellectus, und den Abstieg zum Einzelnen verbindet. 5 Hätte Bodin regressus gesagt, wäre eindeutig gewesen, was er meinte. Doch er sagt circularis ratio. 2. Was ist das für eine Kreismethode, die er hier im Auge hat? Gehen wir um zwanzig Jahre zurück und rollen unseren Faden etwas auf. Das Jahr 1571 ist für Bodin ein wichtiges Jahr. In diesem Jahr nämlich stellt ihn der Herzog von Αΐεηςοη, der Bruder des französischen Königs, als Berater an; jener Herzog, dessen Hof die Keimzelle der Partei der politiques bildete. 6 Just in diesem Jahr widmet Guy Le Fevre de la Boderie sein Werk L 'encycäe des secrets de l'iterniti dem Herzog, ein poetisches Werk, das in starkem Maße von den Gedanken der Harmonia mundi des Venezianer Minoritenmönchs Francesco Giorgio geprägt ist.7 Die Encyclie ist nicht nur bezüglich des musikalisch-astrologischen Begriffs von Harmonie interessant, den sie transportiert - eines Begriffs, den Bodin in der Republique für die Bestimmung von staatlicher Gerechtigkeit einsetzt 8 und im Collo-
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illuc progreditur, sed in eo conquiescit: ita in singularibus acquiescendum est, quoniam succcssionc sunt infinita semper sui dissimilia, non quidem forma sed accidcntium varietate: quorum consideratio imperitis affert sensibilem cognitionem, quam nostri intuitivam, appellant: peritis autem certiorem rerum diseiplina pereeptarum confirmationem. Ex quo quidem intelligitur artes omnes ac seientias a scnsibili cognitionc coepisse, quam synthesim vocant: artes vero pereeptas & cognitas ratione ac methodo, id est διά της άναλύσεο^ς tradi oportcrc, scilicet, a simplicioribus, & universalibus, ad individua & composita: sed rerum naturalium scientiam conquirentibus, circulari quadam ratione utendum est [...].« Zu ramistischcn Komponenten der Mcthodcnlchrc Bodins vgl. Kenneth Mc Rae: Ramist Tendencies in the Thought of Jean Bodin. In: Journal of the History of Ideas 16 (1955), S. 306-323. Zum Regressus vgl. Ncal W. Gilbert: Renaissance Concepts of Method. New York 1960; Eckhard Keßler: Physik oder Metaphysik. Z u m Begriff einer Wissenschaft von der Natur in der Methodendiskussion der »Schule von Padua« im beginnenden 16. Jahrhundert. In: Aristotelica et Lulliana. Festschrift für Charles Lohr. Hg. von Fernando Dominguez u.a. D e n Haag 1995, S. 223-244; Rudolf Schicker: Einführung. In: Jacobo Zabarclla: Über die Methoden / Über den Rückgang. München 1995, S. 15-80. Zur Biographic Bodins vgl. Kenneth Mc Rae: The Political Thought of Jean Bodin. Diss. Harvard University 1954, S. 5-152. Guy Lc Fcvrc de La Boderie: L'Encyclic des sccrcts de l'ctcrnitc. Antwerpen 1571. Vgl. Henri Busson: Lc rationalismc dans la liUcraturc franchise de la Rcnaissancc (1533-1601). Paris 1971, S.584ff. Francesco Giorgio Veneto: D e harmonia mundi. Venedig 1525; 1578 hat Lc Fcvrc de La Boderie dann das Werk ins Französische übersetzt, als: L'harmonie du monde. Z u Bodin und Le Fevre vgl. Roellenbleck (wie Anm. 1), S. 32. Bodin: Six livres de la Republique. Lyon 1593, Lib. VI, Cap. 6; vgl. Blair (wie Anm. 2), S. 134; weiter Michel Villey: La Justice Harmonique selon Bodin. In: Jean Bodin. Hg. von Horst Dcnzcr. Münchcn 1973, S. 69-86.
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quium für seine Toleranzkonzeption heranzieht 9 (doch in diesen Seitenweg will ich nicht abbiegen) - , sondern auch wegen ihrer konstitutiven Kreismetaphorik, die mehr sein will als nur eine Metaphorik. Sie ist eine poetische Kreis-Beschreibung von den arcana der Natur. 3. Nun verweist der Ausdruck ratio circularis in allgemeiner Weise sicherlich auf die platonisch-neuplatonische Tradition, in der Kreise eine große Rolle spielen, und zumal auch auf die Theologia circularis Lulls mit ihrer Kombinatorik von Kreisrädern. Doch gibt es auch in zeitlich und räumlich sehr viel größerer Nähe zu Bodin eine zeitgenössische Theorie, die sich wörtlich - als Ausdruck einer ratio circularis verstanden hat. Es ist die Theorie der Ars cyclognomica von Cornelius Gemma, die 1569 in Buchform veröffentlicht worden ist.10 Auf sie werden wir gestoßen, sobald wir
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Vgl. die Studie von Marion Leathers Kuntz: Nature, Law and Music in the Colloquium Hcptaplomcrcs of Jean Bodin: A Paradigm for Toleration. In: Bodinus Polymeres. Neue Studien zu Jean Bodins Spätwerk. Hg. von Ralph Hafner. Wiesbaden 1999, S. 145-164. Zur Harmonik bei La Bodcric vgl. Daniel P. Walker: Spiritual and Dcmonic Magic from Ficino to Campanclla. London 1957, S. 123IT. Walker (S. 126IT.) beschreibt in diesem Zusammenhang auch die magisch-harmonikalen Spekulationen, wie sie 1589 in Venedig von Fabio Paolini und seiner kleinen Acadcmia dcgli Uranici gepflegt worden sind. Nicht nur der Ort und die Thematik, auch die Siebenzahl erinnert an Bodins Colloquium, das in den 1590er Jahren entstanden ist, so daß man sich fragt, ob die Akademie des Paolini ein Vorbild für das Haus des Coronaeus im Colloquium gewesen sein mag. Vgl. Fabii Paulini Utinensis Philosophi, Et Graecas literas Vcnctiis profitentis: H E B D O M A D E S , sive Septem de Scnario libri. Habiti in Uranicorum Academia In unius Vergilii versus explicatione. A d sereniss. Reip. Collegium. Venedig 1589. Cornelius Gemma: D e arte cyclognomica. Antwerpen 1569. Dort z.B. I, S.81 die Verwendung des Terminus »ratio circularis«: »Circularis ratio sive convcrsionis idea in finibus universi.« Zu Gemma (Cornells Vandcn Stccn, 1534/35-1579) vgl. Martin Mulsow: Seelenwagen und Ähnlichkeitsmaschine. Zur Reichweite der praktischen Geometrie in der Ars cyclognomica von Cornelius Gcmma. In: Scclcnmaschincn. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittclaltcr bis zum Beginn der Moderne. Hg. von Jörg Jochcn Berns und Wolfgang Neuber. Wien 2000, S. 249-277. Der Druck einer Dissertation über Gemma von Steven van der Boenke ist in Vorbereitung. Z u r Bibliographie vgl. Fernand van Ortroy: Bio-Bibliographie de G c m m a Frisius, fondatcur de l'ccolc bclgc de geographie, et son fils Cornelius, et des ses neveux les Arsenius. Brüssel 1920. Nachdruck Amsterdam 1964. Als ältere bioraphischc Literatur vgl. Jcan-Francjois Foppcns: Bibliotheca Belgica. Tom. 1. Bruxelles 1739, s. v. >GemmaGcmmaSibylle Tiburtinc< (wie A n m . 1 0 ) . Weiter Jean Ccard: L a nature et les prodiges. G e n t 1977, S. 365. Vgl. D e arte cyclognomica (wie A n m . 10), I, S. 105. Die Zahl 32 konnte biblisch mit den Pl'adcn A b r a h a m s in Beziehung gesetzt werden; vgl. Sccrct: G. Postel et C. G c m m a (wie A n m . 15), S. 560. Z u r Zahlenspekulation bei Postel vgl. Leathers Kuntz (wie A n m . 12). F ü r weitere Bedeutungen der Zahl 32 vgl. das K o m p e n d i u m von Pictro Bongo: Mysticae n u m e r o r u m significationis liber. B e r g a m o 1599. D a s Herz, auf das sich Postel bezogen hat, ist ein H e r z aus drei Herzen und vielen mit Zahlen bezeichn e t e n K a m m e r n ; K a m m e r 32 ist »apex rationis«; vgl. D e arte cyclognomica, II, S. 105. Guy L e Fevre de la Boderie: Diverses melanges poetiques. Paris 1582, S. 72f.; kritische Ncuausgabc von R o s a n n a Gorris. G e n ! 1993, dort S. 286Γ: »Sur la sphere des Revolutions de Nicolas Copernic. D u latin d e Corneille G e m m a . « Vgl. G e m m a : D e arte cyclognomica (wie A n m . 10), I, S.122I'.: » A m a Dci m u n d o cum M e n s inl'usa calcrct, / Multiplicesque vago volueret orbe vices: / Creditor ingentis medio suspensa theatri / Terra diu stabilem continuissc globum: / Crcditur et Titan circum titaniaque astra / N a t u r a e stratas legibus issc vias: / N u n c tcllus ο P h o c b c tuo sc crcdcrc caclo, / E t currus et equos ausa subire tuos: / A u d e t quas verita est q u o n d a m Phaetontis h a b e n a s / Supplicium casu mox h a b i t u r a p a r i . /Implicat hanc L u n a c mediam conccntricus Orbis / Ingenii, et m o t u s lubricitate sequax. / Altius incendunt, Saturnus, luppiter, et Mars / Mcrcurius, V e n u s his inferiora tenent. / Stcllarum ulterior regio consucta moveri, / Mobiiibus stabili nunc face signat iter. / Sors e a d e m Soli sed t e r r a r u m hospita sedes / Annuit, et solitus n o n placet ille labor. / Provehimur circum, nobis ea signa recedunt, / U t littus p r o n a c quam velut unda rati. / U n d c ncc ad cacli motus clcmcnta trahuntur / Amplius, at t e r r a e nutibus astra meant. / Ο versas r e r u m facies, ο t e m p o r a vulgus / Clamitat, et ratio q u a e sit habenda rogat. / O u a c ratio? nisi iustitiac quod legibus olim / F o r t u n a m , et mores composuere suos. / N u n c legem in mores contra, et sua crimina torquent, / Fitquc novo sacclo, vultus in orbc novis.« Dieses bemerkenswerte Gedieht ist als 1'rühcs Zeugnis der W a h r n e h m u n g der kopcrnikanischcn Revolution in der Forschungsliteratur, soweit ich sehe, bisher k a u m rezipiert worden. Vgl. auch Gorris' Einleitung zur La Bodcric-Ausgabc zur Übersetzung des Gcdichtcs. La Boderies H a r m o n i e eternelle, die Übersetzung und Bearbeitung von Giorgios H a r m o nia mundi, übersetzt l'ol. 258IT. ein anderes P o e m von G c m m a . Neu herausgegeben ist auch das Fortsetzungspoem zur >EncyclieRingen< der Seele, die La Boderie beschreibt, sich in vielen Köpfen festgesetzt hat. Den Kern von Gemmas Werk hat man damit allerdings noch nicht erfaßt. Nicht nur, daß La Boderie und Postel weitaus kabbalistischer und biblizistischer als Gemma gewesen sind - vor allem geht bei ihnen das streng Methodische verloren, das Gemmas Werk innewohnt: das nämlich war ja die ratio circularis: eine kreishafte Methode, die bei Gemma offensichtlich in Relation mit dem Begriff der Seele und ihren >Ringen< steht. Von hier aus müssen wir, die wir zum Naturverständnis der Universalwissenschaft vordringen wollen, in einen Seitenweg einbiegen, weil uns der Faden dorthin führt. Die Begeisterung für Kreismetaphorik und Kreismethodik im Umfeld von Gemma und La Boderie hat einen Horizont, der weiter reicht als nur in den Bereich von humanistischer Rezeption und 18
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La Boderie: Encyclie (wie Anm. 7), S. 103; ich zitiere die Passage in der Übersetzung von Peter und Beatrice Grotzer aus dem Band von Georges Poulet: Metamorphosen des Kreises in der Dichtung. Freiburg 1966, S.35. Bei Poulet wird zwar die große Verbreitung der Kreismetaphorik in der französischen Renaissance von Sceves Microcosme über D u Bartas bis zu Pontus de Tyard deutlich, doch wird sowohl auf die Herausarbeitung historisch-kausaler Bezüge als auch auf eine philosophische Kontextualisierung verzichtet. Die philosophische Grundlage wird dargestellt bei Dietrich Mahnke: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Halle 1937; eine Berücksichtigung Gemmas fehlt allerdings in diesem Werk. Ausgaben von Proklos' D e sphaera waren in der Renaissance sehr häufig, so etwa auch in Antwerpen: 1553. Der Timaios-Kommcntar war 1534 in Basel gedruckt worden, der Euklid-Kommentar 1560 in Padua. Zur Kreis- und Methodenlehre bei Proklos vgl. Werner Beierwaltes: Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik. Frankfurt 1965, S. 165-280.
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poetischer Mode: in den Bereich von politischer Irenik. Gemma, Postel und La Boderie gehörten um 1570 zum Umkreis des Verlegers Christopher Plantin in Antwerpen, der ihre Bücher druckte. La Boderie war 1569 nach Antwerpen gekommen, um als Spezialist für syrische Sprache unter der Leitung von Benito Arias Montano an der polyglotten Bibelausgabe mitzuarbeiten. 20 Plantin hatte um sich herum mit seinen Autoren einen Kreis aufgebaut, der sich innerhalb der konfessionellen Konflikte als irenisch verstand: die inzwischen recht gut bekannte >Familie der Liebeauch in die Methodendiskussion des 16. Jahrhunderts< gehört, zu jenen theatra mundi et memoriae, die in jeweils verschiedener Gewichtung die humanistischen Topoi von inventio, dispositio und iudicium, die lullistischen von der facilitas und utiUtas sowie die ramistischen von der dichotomia integriert haben. 2 7
Das Spannungsverhältnis jedenfalls der strikten, aber fruchtbaren Oppositionen in Paris und des Universalismus, der irenischen Vermittlung - der Kreise - in Antwerpen und Löwen, ist offenbar näher zu betrachten, wenn man den Weg zu Bodin und darüber hinaus ins 17. Jahrhundert finden will. Es wird einges davon abhängen, ob wir auf unserem Weg über die Antwerpener Synkretisten nach Paris gelangen. 5. Doch zunächst ist es ratsam, noch im Antwerpener Umkreis zu bleiben. Schaut man auf die Universität Löwen, so kann man gut die integrative Kraft erkennen, die die gemeinsame Lehre von humanistischer Philologie, Methodik, Astronomie, Medizin und Mathematik entwickeln konnte. In Löwen lehrt um 1550 beispielsweise der Mediziner Jerome Driviere, der versucht, Platonische und Galenische Methodenbegriffe einander anzunähern: Galens >drei Wegen< der Lehre entsprechen die platonischen Begriffe von definitio, divisio und demonstratio.2ii Dort lehrt Reiner Gemma Mathematiker, Geograph und Konstrukteur von astronomischen Instrumenten, der Vater von Cornelius. Der Spanier Sebastian Fox-Morcillo 29 hat in Löwen bei Reiner Gemma studiert - um 1550 - und ist dann im Lande geblieben. Cornelius Gemma wird ihn also in seiner Jugendzeit kennengelernt haben. Als er selbst Student war, Mitte und Ende der 1550er Jahre, hat Fox-Morcillo seine Werke zur Methodenlehre {De demonstration eiusque necessitate ac vz)3u und zum Platonischen Timaios 31 verfaßt. Und vor allem: 1560 hat er den Weg zum Synkretismus von pla-
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Thomas Leinkaut: Absolute Einheit und uncndlichc Vermittlung im Denken Bodins. Philosophische Grundzüge seines Denkens. In: Bodinus Polymeres (wie Anm. 9), S. 23-56, hier S. 46. Jerome Driviere [Jcrcmia Trivcrius]: In Τέχνην Galcni clarissimi commcntarii. Lyon 1547, bes. S. 21ff. Vgl. Gilbert (wie Anm. 5), S. 105-107. Vgl. auch Gemma: D e arte cyclognomica (wie Anm. 10), II, S. 81, wo Gcmma Driviere als seinen Lehrer bczcichnct: »[...] & inter caeteros celeberrimum praeeeptorem meum Hiere. Triverium, ac P. M. patrem Gcmmam Frisium in Mathcmaticis aeque & mcdicinapracstantcm [...].« Zu Sebastian Fox-Morcillo (1526/28-1560) vgl. Urbano Gonzalez de la Calle: Sebastian Fox-Morcillo: estudio historico-critico de sua doctrinas. Madrid 1903; Robert Lucbcn: Sebastian Fox-Morcillo und seine Naturphilosophie. Bonn 1914; M. Bcrnal Zurita: Sebastian Fox-Morcillo. In: Archivo hispalense 4 (1945), S. 201-224; Marcial Solana: Historia de la filosofia cspanola: epoea de Rcnacimcnto (siglo XVI). Madrid 1941, Bd. I,S. 573-627. Sebastian Fox-Morcillo: D e demonstratione eius necessitate ac vi. Basel 1556. Sebastian Fox-Morcillo: In Piatonis Timacum commcntarii. Basel 1556.
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tonischem und aristotelischem Denken beschritten, den in Paris in diesen Jahren auch Jacques Charpentier eingeschlagen hat.32 Gemma konnte also in seiner unmittelbaren Umgebung, nicht nur in Paris, verfolgen, wie man den Frontstellungen der Zeit die Spitze nehmen konnte. Auch wenn FoxMorcillos Buch von 1560, De naturae philosophia seu de Piatonis et Aristotelis consensione auf Naturphilosophie beschränkt blieb, so war es doch in der Lage, als Anregung zu dienen, einen Konkordismus auch in methodentheoretischer Hinsicht zu versuchen. 6. Fox-Morcillo hat sich freilich in seinem Synkretismus an Vorbildern in Italien und in Paris orientiert. In Paris hatte sich eine eigene und spezielle Form von Synkretismus ausgebildet. Eigentlich waren die >Concordiasont controlees p a r l'usage, p r e n n e n t leur source dans l'usage et ont leur but dans l'usage.«
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dann den ganzen Alkinoos kommentiert und das Werk als Piatonis cum Aristotele in universa philosophia comparatio herausgegeben. 38 Charpentier hat mit dieser Reaktion auf Ramus aber den Appetit auf mehr geweckt. Seine Aufbereitung blieb noch defensiv, doch zeichnete sich ab, wie der Mittelplatonismus zum Prototyp eines zeitgemäßen Synkretismus werden konnte. Ein Autor wie Alkinoos kannte noch nicht ein Eines, das über dem Seienden stünde; die entsprechenden Passagen des platonischen Parmenides legte er als eristisch aus; daher konnte ihm ein Synkretist des 16. Jahrhunderts, der sich an Picos Kritik an Ficino in De ente et uno geschult hatte, in seiner moderaten Form der Verbindung von Piaton und Aristoteles folgen. 39 Andere Editionen von Mittelplatonikern der >zweiten Sophistik< konnten diesen Trend noch verstärken. So erschienen 1554 die Logoi von Maximus von Tyrus auf Latein, 1557 auf Griechisch, gefolgt von weiteren Ausgaben. 40 Die platonisch-aristotelische Verbindung, die bei diesen Autoren vorhanden war, wurde jetzt in ihrem Methodenaspekt beleuchet. Immerhin: Ramus' Überlegung, Methode müsse eine einzige sein, hatte ein Desiderat erzeugt, das befriedigt werden wollte. Wenn schon nicht monistisch, dann doch immerhin synkretistisch. Ein Methodensynkretismus war ja nicht ohne historisches Fundament: Sokrates beruft sich bei der Erläuterung seiner eigenen auf die hippokratische Methode; Aristoteles 38
Charpentier hatte damit begonnen, Ficinos Alkinoos-Übersetzung zu benutzen und zu kommentieren. Vgl. die Vorlcsungsmitschril'ten, die in ein Exemplar von Ficinos Übersetzung (De doctrina Piatonis. Paris 1561) in der Bibliotheque municipale d'Angcrs eingetragen sind. Die Mitschril'tcn stammen aus dem April 1561. Vgl. Matton (wie Anm. 36), S.69. Jacques Charpentier: Disputatio de methodo, quod unica non sit. Paris 1564, geht von Kap. 5 und 6 von »Alcinous« aus. Charpentier hat den vollständigen Text von >Alcinous< 1573 ediert; zuvor war, wie erwähnt, Ficinos Übersetzung neu gedruckt worden. Noch 1564 folgte ebenfalls in Paris Charpentiers A d expositionem disputationis de methodo [...] responsio, cine Ramus sehr persönlich angreifende Schrift, in der die Front der Antiramisten deutlich benannt wird. Vgl. dort S.3v sqq. die Namensnennungen von Vimcrcati, Scaligcr, Turnebe ctc.; in der Piatonis cum Aristotele in universa philosophia comparatio. Paris 1573, sind die Kommentierungen von 1564 einfach eingefügt (S. 50ff.) in ein Gesamtwerk, das alle Kapitel von Alkinoos' Buch kommentiert.
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Vgl. Giovanni Pico: D e ente et uno. In: L'esprit du Quattrocento. Pic de la Mirandolc, D e l'ctre et de l'un, et Reponses ä Antonio Cittadini. Hg. von Stephane Toussaint. Paris 1995. (Eine deutsche Übersetzung mit Kommentar ist in Vorbereitung.) Vgl. dazu Eugenio Garin: Giovanni Pico dclla Mirandola. Firenze 1947; Giovanni Di Napoli: Giovanni Pico dclla Mirandola c la problcmatica dottrinalc del suo tempo. Roma 1965. Maximi Tyrii Philosophi Platonici Sermoncs sive disputationes XLI gracce et latinc. Hg. von Henricus Stephanus. Paris 1557. Z u ihm vgl. Marian Szamach: Maximus von Tyros. Eine litcrarischc Monographie. Torum 1985; Michael B. Trapp: Studies in Maximus of Tyre. Diss. Oxford o.J.; sowie die kommentierte Übersetzung von Michael B.Trapp: Maximus of Tyre: The Philosophical Orations. Oxford 1997. Gemma (wie Anm. 10) erwähnt Maximus z.B. III, S. 113t. u.ö.
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hat seine wissenschaftstheoretischen Vorstellungen im Anschluß an (und unter Absetzung von) Piaton entwickelt, und Galen vereinigt hippokratische, platonische und aristotelische Elemente. Daher lag es in manchen Kreisen nahe, den Versuch zu wagen, eine übergreifende Methode zu finden, die die einzelnen Traditionen umfassen konnte, ohne sie in ihrer Eigenheit aufzulösen. Das genau ist das Ziel von Gemmas Ars cyclognomica. Der Untertitel des Buches lautet nämlich: »doctrinam ordinum universam, unaque philosophiam Hippoctratis Piatonis Galeni et Aristotelis in unius communissimae et circularis methodi speciem referentes, quae per animorum triplices orbes ad sphaerae caelestis similitudinem fabricatos, non medicinae tantum arcana pandit mysteria, sed et inveniendis constituendis artibus ac scientiis caeteris viam compendiosam patefacit«. Die una methodus, die Gemma mit Ramus gegen Ramus beschwört, soll die arcana der Medizin und Wissenschaften offenlegen. Wir kommen unserem Ziel näher: dem Verständnis des Arkanbegriffes von Natur bei den Universalwissenschaftlern. 7. Der Ort in Gemmas Werk, an dem die Auseinandersetzung mit Ramus an die Oberfläche kommt, ist das zweite Buch der Ars. Dort geht es darum, eine Methode des Abgleichens von Begriffen zu entwickeln, bei der die natürliche Kreisbewegung der rationalen Seele - im platonischen Sinne - dazu benutzt wird, die Seele in ihren Umläufen durch die verschiedenen begrifflichen Klassen laufen zu lassen; dreidimensional in der Art einer Sphäre, die unterschiedlichste Bahnen an ihrer Oberfläche kennt. Es gibt eine rationale, eine physische und eine metaphysische Begriffsklasse. Diese Begriffsklassen markieren drei Sphären innerhalb der Gesamtsphäre von unterschiedlichem Abstand zum Mittelpunkt. Die kleinste, innerste Kugel ist die der Metaphysik, sie wird umgeben von der Kugel der ratio, außen schließlich ist die Kugel der Physik - am weitesten vom Punkt des Einen entfernt. Man kann sich dieses wechselseitige In-Sein ähnlich vorstellen wie später Campanellas Ineinandergeschachteltsein von Welten. 41 Da der Geist (punktförmig vorgestellt) ganz nach Ficinos plotinischer Konzeption untrennbar mit seinem spiritus in Form eines extendierten >Hofestraditio< hinzukommen. Damit meint Gemma die traditionellen rhetorisch-dialektischen Phasen von dispositio, elucutio und 46
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D e arte cyclognomica (wie A n m . 1 0 ) II, S. 1481'.: »Impingunt hue sane plurimi vcl in dialecticarum traditionum limine, d u m hi quidem t e m e r e & praeter Aristotelis sententiam dialccticam universam dividunt in partes duas, unam quae argumentationis edisserat f o r m a m , modis ac figuris c o m p r e h e n s a m ludicii solius legibus submittendam deinde & alteram quae locos sive matcriam tradat Invcntioni dcdictam: Uli vero in contrariam opinionem exundantes usque adeo iudicium cum Inventione miscuerunt, ut vix vel t e r m i n o r u m vel o r d i n u m respectu differre sint arbitrati, pugnatur aneipiti Martc, & adhuc sub iudicc Iis est.« Vgl. Charpcnticr: Disputatio de m e t h o d o (wie A n m . 38). R a m u s hatte die Zweiteilung der M e t h o d e in inventio und iudicium mit Ciccro begründet. D e arte cyclognomica (wie A n m . 10), II, S. 149: » E a m si iuste dirimere quisquam volet, definiat primo scorsim singula, mox ad partitioncs c o r u n d c m sese convcrtat, tum q u o t q u o t hinc m e m b r a particulatim gcrminasccnt in minus c o m m u n c m rursus definitionem vocet, vicissimque definita subdividat, d o n e c ad inferiorem multitudinis classcm usque pertigit. N a m ex his omnibus p r o b e in unitatem conspirantibus emergent media demonstrandis conclusionibus aptiora, quibus & rei Veritas obtinebitur, & adversariae rationcs velut nebulae exorto sole protinus evanescent.« Vgl. D e arte cyclognomica (wie A n m . 1 0 ) , II, S. 151: »Keineswegs also differiert die Struktur von inventio, traditio und iudicium in d e n einzelnen hinsichtlich der Substanz, sondern vielmehr hinsichtlich der Quantität der Aktion, hinsichtlich ihrer Reihung und Präferenz, die die Bewegung des u m l a u f e n d e n Geistes und die Figur, Lage und G r ö ß e des unterworfenen Teiles begleiten.« » N c q u a q u a m igitur inventionis ratio traditionis atque iudicii in singulis differt secundum essentiam, sed quantitatem potius actionis, secundum ciusdcm scricm atque praestantiam, q u a e discurrcntis animi motum, partibusque subicctac l'iguram, situm ac magnitudinem comitantur.« II, S. 152 folgt ein Vergleich: »Wie w e n n der H a n d w e r k e r seinem Jungen den A u f t r a g gibt, Schuhc zu machen, lehrt er zugleich und auf einmal E r k e n n e n und Beurteilen, ob der Schuh richtig gemacht ist [...]. So gibt es überall kein iudicium o h n e inventio, keine inventio o h n e iudicium.« »Ut si construcndi calcci Ccrdo praeeepta p u c r o tradat, simul & semel docet cognoscere ac iudicare, n u m calceus sit p r o b e constructus [...]. Itaque u b i q u e nullum absque inventione iudicium est, et absque iudicio nulla inventio.«
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effectio. Es geht um das Problem, wie das Invenierte in eine Ordnung übermittelt wird. Das in diesem Zusammenhang ungewöhnliche Wort >traditio< soll wohl diese Mittelstellung, den Prozeß der Überführung verdeutlichen. Gemma geht so weit, die Ars memorativa seiner Zeit dafür zu kritisieren, daß es ihr an einer Theorie der traditio fehle. Daß seine Wiederhinzufügung dessen, was Ramus gerade eliminiert hatte, jene vereinfachte Grundstruktur, mit der die Universaltopiken arbeiten konnten, eher zerstören könnte, scheint er nicht befürchtet zu haben. Nun könnte man denken, daß die Mittelstellung von traditio, der Überführung in eine Ordnung, auf das iudicium als Abschlußbegriff verweisen würde: der Beurteilung des Ganzen. Doch Gemmas Vorstellung ist - zumindest auch - die umgekehrte: der Aetiologismus läuft so ab, daß erst die Begriffe gefunden werden müssen, die vorher ungefunden in unserem Geist liegen; dann gibt das iudicium den Begriffen eine Form, und als letztes werden sie in eine Ordnung überführt, wie ein Fötus, der das Licht der Welt erblickt. Man sieht, daß Gemma im Gegensatz zu Ramus hier kein äußerlich-methodisches Beurteilungsverfahren anstrebt, sondern einen Erkenntnisprozeß im Auge hat, bei dem die Bezogenheit auf den Intellekt in jeder Phase vorhanden ist. In der >Umwendung< der inventio übermittelt der Geist sich selbst aus den invenierten Argumenten die Wahrheit, 49 ebenso wie die anderen Momente der Dialektik Umwendungen des Geistes zur Folge haben. Da aber in einem Vermittlungsdenken, wie Gemma es ausübt, auch jeweils alle anderen Momente die Mittelstellung innehaben können müssen, werden wir später sehen, daß in einer anderen Modellierung es das iudicium ist, das als >voller Kreis< den Abschlußgedanken der Methodentrias stellt. D a s Iudicium schließlich, das sich beiden als Mitte einsetzt, ergänzt den Mangel beider und determiniert die übrigen im doppelseitigen Fluß der Dinge als Ergänzung teils in Bezug auf uns, teils in Bezug auf die Natur, durch die vollen Kreisläufe der Instrumente um die W a h r h e i t des einen Schlusses gleichsam als ihr Z e n t r u m . 5 0
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D e arte cyelognomica (wie A n m . 10), II, S. 1491'.: »quod si dieas te magis ordinc diverso reperire ex praemissis scilicet conclusionem, id ego n e q u a q u a m inventionem proprio dixero, sed inventionis potius convcrsioncm, qua sibi ex inventis argumentis verit a t e m animus tradit.« D e arte cyelognomica (wie A n m . 10), II, S.150: »Iudicium p o s t r e m o utriusque sc medium inferens dcfcctus a m b o r u m supplct, & succcnturiata in rcrum aneipiti fluetu cuncta determinat t u m quo ad nos, t u m q u o a d n a t u r a m , per i n s t r u m e n t o r u m plenos circuitus circa conclusionis unius veritatem velut centrum.« M a n kann nicht anders, als sich an Hegels Begriffslogik erinnert fühlen, in der auch Voraussetzungen der einen K o m p o n e n t e n durch die Bestimmungen der jeweils anderen supplcmcnticrt werden, und in der Vermittlungen sich u m die als das G a n z e aufgefaßte Wahrheit gruppieren. Hegel hat ja schon in seiner f r ü h e n Phase u m 1800 sich die Systemgestalt als ein Drcicck von Dreiecken bzw. als einen Kreis von Kreisen vorgestellt. G c m m a
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8. Diese >Conversiones< hat Gemma versucht, graphisch adäquat darzustellen. Ein Großteil der Leistung seines Buches liegt darin, das Darstellungsproblem von Methode und Erkenntnis anzugehen und mit geometrischen und astronomischen Modellen zu lösen. So möchte er zeigen, daß die inventio mit dem metaphysischen Durchlauf der Seele zusammenhängt; die traditio mit der Imagination und dem physischen Durchlauf; das iudicium schließlich mit der Ratio und dem logischen Seelendurchlauf. Dafür stellt er den Erkenntnisweg in der Form von schlaufenförmigen Bewegungen durch die drei Kreise der Seele dar, durch die zugleich die Achsen der Zwecke des Aetiologismus führen: einfache Sacherkenntnis, wissenschaftliche Erkenntnis und praktische Erkenntnis, sowie drei verschiedenen Indikationsformen. 51
summiert im Anschluß an seine Ramus-Kritik sein Vorgehen in diesen Worten (II, S. 153): »Doch nachdcm wir nun jene Kentauren und Giganten hinter uns gelassen haben, die bloß aus Widerspruchsgeist heraus sich beim Schreiben und Disputieren darauf verlegt haben, gegen ihre Lehrer, außerhalb jedes Naturrcchts, anzugehen, wollen wir in wenigen Worten dies zusammenlassen, daß jedes actiologistischc Vermögen in inventio, iudicium und traditio als seinen wichtigsten Teilen besteht, die sich nur um ein wenig unterscheiden hinsichtlich der bcwcglichcn Sache, als ganze aber das Geschäft des Ganzen umfassen. Die Wirkursache von ihnen ist dieselbe wie die der ganzen Methode, nämlich der menschliche Geist; die Form wird durch Synthesis und Analysis ähnlich expliziert. Die Materie ist die Frage selbst, aber die dreifache Struktur des Zweckes ist mit den Namen der drei Teile beschrieben. Die Idee des ganzen Aetiologismus hinsichtlich der Methode stellt einmal das Bild der allgemeinen Form, ein andermal der Materie und der Zweckursache dar.« »Sed nos relictis ί 1 Iis Centauris atque Gygantibus, qui nullo nisi contradictionis spiritu sese ad scribendum vel disputandum conferunt, in praeeeptores maxime & praeter naturae ius omne, paucis id concludamus, facultatcm omnem Actiologisticen inventione, iudicio & traditione velut praccipuis partibus contincri, quae quamvis paululum differant rcspectu mobilis rei, totae tarnen toti negotio complicantur. Caussa istorum efficiens est cadcm quae totius Mcthodi, Mens humana scilicet, forma per synthesim similiter atque analysim explicatur. Materies est ipsa quaestio, at finis ratio triplex trium partium nominibus circumscripta. Verum totius aetiologismi idea rcspectu Mcthodi (ut primo istius libri capite demonstravi) nunc formae communis, nunc & materiae & caussae finalis imaginem repraesentat.« 51
De arte cyclognomica (wie Anm. 10), II, S. 148. Nach Gemma (II, S. 1501.) gibt es drei Darstellungsweisen des Verlaufs (»extensiones«) der Trias von inventio, iudicium und traditio: die erste stellt sie als Kreisbahnen in allen drei Dimcsioncn dar (Höhe, Breite, Tiefe), die zweite als Schichten jeder dieser Kreisbahnen (traditio als Außenschicht, iudicium als mittlere Schicht, inventio als innerste Schicht); und erst die dritte stellt sie als komplexe Schlaufcnbcwcgung dar, als »Bögen (per arcos) der einzelnen Kreisbahnen, als Halbkreise, bis hin zu deren kleinsten Abschnitten.« Solche Schlaufenbögen entstehen, wenn mehrere Bewegungen gleichzeitig ausgeführt werden: eine Hin- und Herbewegung in einer Dimension bei einer Aufwärts- oder Abwärtsbewegung in einer anderen Dimension. Die ineinander bcwcglichcn Kreise von Amillarsphären oder Ringsonnenuhren können das leicht zeigen. Damit wird auch deutlich gemacht, daß es nur die »Quantität der Aktion« (vgl. wie Anm. 48), also die Art der Kreisbewegung ist, die inventio, iudicium und traditio voneinander unterscheidet.
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Gemma kommt aus einer Familie von Mathematikern und Instrumentenbauern für die Astronomie. Er war von Kindheit an vertraut mit Planetosphären, Armillarsphären, Quadranten und Ringsonnenuhren, die alle auf mechanische Weise die Kreise der Ekliptik, der Ekzentrik und der Planetenbahnen zu modellieren versucht haben. 52 In den Jahren, als Gemma die Idee zu seiner Ars cyclognomica gekommen ist, erschien beispielsweise das Buch von Christian Wursteisen, Quaestiones novae in theoricas novas planetarum [...] G. Peurbachi, in dem so anschaulich wie bisher nie zuvor die Planetenbewegungen anhand von Peurbachs Theorie durch nachbaubare Kreiskonstruktionen abgebildet waren.53 Zugleich lagen Entwürfe für eine Ringsonnenuhr vor, wie sie etwa der Marburger Mediziner und Mathematiker Johannes Dryander ersonnen hatte. Dryander war es auch gewesen, der erstmals von >cyclicae artes< gesprochen und damit Gemmas Idee einer >Ars cyclognomica< vorbereitet hatte. 54 Solche Zeichnungen und Entwürfe müssen es gewesen sein, die Gemma auf die Idee gebracht haben, die Analogie von Seelenbewegung und Planetenbewegung zu einer exakten Modellvorstellung auszuarbeiten. Denn die Kreisbewegung der Planeten und die platonische Auffassung von der Seelenaktivität als einer Kreisbewegung legten diese Identifizierung nahe. An dieser Stelle können wir noch nicht auf die Einzelheiten dieses Modells eingehen. Doch es mag genügen, in den Schlaufenbewegungen der Methodenkomponenten den Darstellungsversuch zu erkennen, daß diese Komponenten eine jeweils unterschiedliche Position in den Seelenschichten und zu den Methodenzwecken einnehmen können. Es handelt sich um ein ähnliches Problem wie das von Bodins Pantothek, wenn dort »das Letzte [...] mit dem Ersten, die Mitte mit beiden und alles mit allem in 52 51
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Vgl. Mulsow: Scclcnwagcn (wie A n m . 1 0 ) , S.253I'. Christian Wursteisen: Quaestiones n o v a e in theoricas novas p l a n e t a r u m [...] G . P c u r b a c h i . Basel 1568. Vgl. die A b b . in Ernst Zinncr: E n t s t e h u n g und Ausbreitung der copernicanischen Lehre. M ü n c h e n 1988, S. 74. In diesen J a h r e n wurden vor allem in der Kartographie von g e k r ü m m t e n Flächen (sei es der E r d e oder des Himmels) bei G e m m a Frisius, Apian u.a. große Fortschritte gemacht, so daß man solchc Flächen nicht m e h r einfach (verzerrt) ü b e r Quadratregister darstellte, sondern mit der platonischen Krcismctaphorik ernst machen konnte; es gab ein neues kosmographisches Vertrauen in die Beherrschbarkeit des komplexen Modells. D a s ist das Novum im Bcrcich der Darstcllbarkcit, das sich bei Cornelius G c m m a umgesetzt 1'indct. Z u r Kosmographic des 16. J a h r h u n d e r t s vgl. vor allem die Arbeiten von Frank Lcstringant. Vgl. Johannes Dryander: Novi annuli astronomici [...] canoncs. M a r b u r g 1536, Dcdikation: »Nam q u a e c u n q u e in hunc usque d i e m vel nostri, q u o r u m ingenia Cyclicarum artium cognitionc rcliquas nationcs exuperant [...].« Vgl. P e t r a Schachtner: J o h a n n e s D r y a n d e r und die A u f w e r t u n g der angewandten Mathematik zur Universalwissenschaft. In: Melanchthon und die Marburger Professoren (1527-1627). Hg. von Barbara Bauer. M a r b u r g 1999, S. 789-821, bes. S.805I'.
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seiner jeweiligen Klasse verbunden sein« sollte. Ramus' Methodenreform war also rückgängig gemacht und in eine dreigliedrige integrale Prozeßdarstellung verwandelt worden. 55 55
Vgl. auch diese gegen Ramus gerichtete Passage: »Dieser ist, das gebe ich gern zu, nicht so sehr Haß, als Mitleid wert. In der Tat soll einer eine Knüppel- oder eher eine kapitale Warnung verdienen, der, wenn er kundtut, daB er Warnungen gegen Aristoteles schreibt, sagt, daB der Kopf der Pcripatctikcr, selbst im Eingang seines Werkes, weder die Natur des iudiciums, noch der inventio richtig durchschaut habe, woher er [Ramus] mit einer einzigen absurden Setzung vieles gefolgert hat, und von daher auch bei den übrigen Dingen falschgclcgcn ist, und gegen die besten Lehrer manches blindlings, um nicht zu sagen abgeschmackt und pueril, herausgeschwatzt hat.« D e arte cyclognomica (wie Anm. 10), II, S. 153: »His ego lubens ignosco non tarn odio quam commiseratione dignis. Verum ille fustigium vel capitalem potius animadversionem promeretur, qui cum sc animadvcrsioncs scribcrc in Aristotelem sit professus, ut peripateticorum Aristarchus, ipse sub operis sui vestibulum, neque iudicii, neque inventionis naturam probe perspexerit, quare cum uno absurdo posito plurima consequantur, hinc turpitcr quoque in caetcris lapsus, contra praeeeptores optumos nihil non temere (ne dicam infuse & pueriliter) effutivit.« Vgl. Ramus: Aristotelicae Animadvcrsioncs (wie Anm. 34). Gemma fährt fort: »Und auch Galen tadelt er wegen dessen Übermittlung der Methode, während er, was immer er an Gutem in ihr wahrgenommen hat, alles aus ihm kompiliert hat; zugleich aber weicht er von dessen Ansicht ab, aus Haß oder Ehrgeiz; dort schcint er weder Galen noch sich selbst zu verstehen. Deshalb verkürzt sich seine Dialektik ganz und gar um die Ordnung der traditio; nichts beachtct er weniger. Und wenn er hier von Orten ausgeht, sei es in der Analysekunst, sei es auf die Synthese des Ganzen schauend, ist immer etwas früher da. So ist, wenn man vom Ende anfängt, den resolutiven Weg einschlägt, zuvor von der Argumentation und von den Sätzen, wie auch von der inventio der Mitte bzw. dem Urteil, zu handeln. Wenn einem mehr die compositio zuspricht, wird man nirgends etwas über Orte feststellen, noch von der Definition, Division, außer man entwickelt erst deren Quellen, die in jenen zehn Gattungen einbegriffen sind, noch wiederum wird man etwas über die zehn Kategorien feststellen, wenn man nicht vorher die fünf Prädikabilien (wie man sie nennt) sich aneignet. Wenn er von den Ursachen her den Anfang der Lehre machen wollte, so frage ich, ob von Ursachen als Ursachen der Dinge oder des Wesens, oder aber von Ursachen, wie sie im Geist sind? Wenn von solchen als reinen Existenzen, hätte er nicht die Physik voraussetzen müssen; wenn von solchcn als im Geist befindlich, warum setzt er nicht vor die Ursachen die Prinzipien der Argumente [...]? Wie die Teile der Definition, Genus und Differenzen, wie die zehn Klassen, aus denen er dies zu eruieren pflegt. Aber mit anderen und wirkungsvolleren Argumenten hat allenthalben der berühmte Herr Charpentier dies widerlegt, auf daß uns nichts zu diesem Geschäft übrig bleibt.« Ebd.: »Nam & Galenum reprehendit propter traditionem Mcthodi, cum quiequid bene de istac scnscrit, ex illo omne id compilarit: simulatque vero ab eiusdem opinione discedit propter vel odii vel ambitionis inccndium, ibi nee Galcnum ncc semetipsum intcllcxissc vidcatur. Quapropter ipsius dialectica cum maxime sibi traditionis ordinem arrogarit, nihil observat minus. Etcnim cum a locis ineipiat hie, sive artis analysim, sive totius synthesim spcctcs, semper est aliquid prius: utpote si a fine ineeperis via resolutaria, prius de arg u m e n t a t i o n & proportionibus, quam de inventione medii sive iudicio, est disserendum. sin compositio magis arridet, nunquam de locis quiequam constitues probe, ncc de diffinitione, divisione, nisi istorum fontes expedias prius, qui decern illis generibus sunt comprchcnsi, ncc rursus de cathcgoriis decern nisi pracdicabilia quinque (ut vocant) ante didiceris. Verum voluit a caussis docendi exordium facere. quaero, num de caussis ut sunt rerum vel essentiae tantum, vel ut sunt in intellectu? si ut existentiae nudac, praestasset igitur physiccn pracmisissc: si ut in intellectu, cur non ante caussas
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9. Doch was wir bisher beobachtet haben, betraf nur das Problem des Aetiologismus; noch nicht die Frage der endeixis. Um sich Gemmas Behandlung der endeixis zu nähern, ist es ratsam, wieder auf die Überlieferung acht zu geben. Nach galenisch-hippokratischer Auffassung ist die Indikation weniger ein Konstrukt von Schlußfolgerungen als vielmehr von Analogieüberlegungen: »omnis indicationum ratio in Analogia vel proportione consistat.«56 Die anzeigende Wirkung von Analogien betrifft Phänomene aller Kategorien, aber besonders jene basalen Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten, die als Sympathie und Antipathie bezeichnet werden.57 Deshalb ist an dieser Stelle bei Gemma der Ort, an dem er auf das Sympathie-Denken eingeht. Woher aber bezog er seine Vorstellungen von okkulten Ursachen, von Sympathie und Antipathie, von den arcana naturae? Wie stand er zu dieser Lehre? Die Kategorien der Sympathie und Antipathie waren vor allem durch Ficinos Neuplatonismus-Rezeption wieder aktuell geworden. In die Naturwissenschaft aber hat sie nicht so sehr Ficino gebracht, sondern eher Mediziner wie Girolamo Fracastoro und Jean Fernel. Gemma hat sie wohl nicht persönlich gekannt, wohl aber einen ihrer Bewunderer und Fortführer: den Pariser Arzt Antoine Mizauld. In der Ars cyclognomica gibt es eine Passage, in der Gemma Mizauld erwähnt: Beispiele werden gelehrt und aufgrund von praktisch unendlicher Erfahrung teils von Fcrncl und Fracastoro selbst behandelt, teils von vielen anderen berühmten Männern, von denen ich den mit mir in engster Freundschaft verbundenen Antoine Mizauld nicht übergehen kann. 58
Aus diesen Worten heraus kann man vermuten, daß Gemma nicht nur in Löwen studiert, sondern auch einen Parisaufenthalt absolviert hat. Dann wäre er nicht auf Mittelsmänner wie Fox-Morcillo angewiesen gewesen, sondern hätte die Pariser Diskussionen um Methode und Naturwissenschaft direkt an der Quelle erlebt.
argumentationum & argumenta argumentorum prineipia tradidit? ut definitionis partes, genus & differentias, ut classes decern ex quibus haec erui solet. Sed argumentis aliis atque efficacioribus passim hunc vir doctiss. Carpentarius refutavit, ut nihil sit nobis ad hunc laborem rcliqui.« Vgl. wiederum Charpenticr: Disputatio de methodo (wie Anm. 38). Das Problem für Ramus ist also, daß seine Reduktionsvorschläge immer wieder der Notwendigkeit erliegen, Voraussetzungen zu machen, die noch nicht expliziert sind. Daher führt Gemma seine »Kreismethode« ins Feld, in der wechselseitig eine Komponente die anderen voraussetzt und von den anderen expliziert wird. 56 57
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De arte cyclognomica (wie Anm. 10), III, S.47 Vgl. allg. Geoffrey E.R. Lloyd: Polarity and Analogy: Two Types of Arguments in Early Greek Thought. Cambridge 1966. Nachdruck Bristol 1992. Gemma: De arte cyclognomica (wie Anm. 10), III, S. 54: »Tractantur doctissime et ex professo infinita pene exempla ciusmodi, tum a amicitia coniunctissimum mihi praeterire non possum Antonium Mizaldum, qui praeter alia praeclara maxime in omni philosophia praestita, hanc partem vel solus absolvit libris Arcanorum pluribus, lib. De simpathiis & antipathiis rcrum.«
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Mizauld war Arzt mit besonderem Blick für astrologische, pharmakologische und botanische Probleme. Von ihm stammt das dialogische Werk Harmonia coelestium corporum [...] et humanorum von 1555, das als Gespräch zwischen Urania und Aesculap angelegt ist und unter anderem von Ferneis De abditis rerum causis angeregt sein mag. Daß gerade >Urania< hier spricht, mag Anregung oder auch nur Symptom für die zeitgenössischen Urania-Gedichte wie etwa die Uranologie von Du Monin gewesen sein.59 Wir wissen von Gemma, daß sich in seinem - heute verlorenen Nachlaß in der Universitätsbibliothek von Löwen ein lateinisches Gedicht befunden hat, das den Titel De mundi coelestis cum elementarii symmetria trug.6" In dem Gedicht kann man eine Reaktion des zwanzigjährigen Gemma auf die Lektüre von Mizaulds Dialog vermuten und zugleich eine Keimzelle für das spätere exakte Modell dieser >Symmetrie< und >HarmonieSecrets de la lunc< Gemma darin bestärkt, den Mond als Analogon des menschlichen Geistes aufzufassen.
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Vgl. Foppens (wie Anm. 10). In meinem Buch Frühncuzcitlichc Selbsterhaltung. Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance. Tübingen 1998, habe ich diese Verwissenschaftlichung des Diskurses über Okkultes als >defensive Modernisierung< beschrieben, soweit die Tendenz der Verwissenschaftlichung wie bei Fracastoro auf Naturalisierung geht, als >offensive Modernisierung^ soweit sie wie bei Fernel die Einheitsleistungen etwa des Sympathie- und Substanzbegriffs übernimmt.
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det,62 selbst ein Konstrukteur von astronomischen und technischen Geräten wie Gemma. In diesen Kreisen, wo man auch die mathematischphilosophischen Werke von Charles de Bovelles las, konnte sich schnell die Verbindung von Mathematik, Philosophie und okkulter Naturlehre herstellen. 10. Wir nähern uns mit der Aufdeckung des Sympathie-Denkens in den Pariser Kreisen dem Naturbegriff der Universalwissenschaft, den wir suchen. Doch bevor wir ihn direkt betrachten, ist noch zu klären, warum das neuplatonisierende Denken in Paris auf fruchtbaren Grund stoßen konnte. Das erklärt sich bei einer näheren Erwägung des Milieus. Fernel und Mizauld schreiben ihre Werke in einer Atmosphäre von aufgebrachtem AntiAristotelismus in vielen Pariser Kreisen. 63 Man nimmt im >Rationalismus< der italienischen Aristoteliker - allen voran Pomponazzi mit seiner Schrift De immortalitate animae - , die man in Person von Francesco Vimercati sogar mitten in Paris am College Royal wirken sieht, eine akute Unterminierung des christlichen Glaubens wahr. Grundpfeiler der gesellschaftlichen Moral wie der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und die Geschaffenheit der Welt schienen von diesem Rationalismus bedroht. Dagegen formiert sich deshalb eine christlich-apologetische Front, die auf christlich-platonische, kabbalistische und hermetische Denkweisen zurückgreift. Adrien Turnebe und Louis Le Roy sorgen mit ihrer Tätigkeit als Philologen dafür, daß der platonische Phaidon wieder ins Gespräch kommt und seine Argumente für die Unsterblichkeit der Seele bereitstellt.64 Es ist kein Zufall, daß Bodin sein Colloquium von dieser Situation anheben läßt: daß nämlich im Hause des Coronaeus gerade der Phaidon zu den Mahlzeiten der Sieben vom Vorleser vorgetragen wurde, und daß man zu Beginn des Werkes auf ausgiebige Diskussionen über die Unsterblichkeit der Seele zurückblickt. 65
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Vgl. das Widmungsgedicht von Fine an Mizauld in der H a r m o n i a (wie A n m . 59). Die ausführlichste Analyse des französischen D e n k e n s im 16. J a h r h u n d e r t als R e a k tion aul' den italicnischcn >Rationalismus< ist die von Henri Busson: Lc rationalismc dans la litterature frangaise de la Renaissance (1533-1601) (wie A n m . 7); zum folgenden vgl. bes. S. 28411. T u r n e b e hält 1552 Vorlesungen ü b e r den Phaidon. Vgl. L. Clement: D e Adriani Turncbii regii prol'cssoris praci'ationibus et poematibus. Paris 1899; Busson (wie A n m . 7), S.284. Lc R o y übersetzt den Text 1553 ins Französische: L c Phcdon de Piaton traictant de l'Immortalite d e l'äme, presente au R o y tres chrestien H e n r i II de ce nom ä son retour d'Allemagnc. - L c tout traduit du grec cn Frangais avec Pcxposition des lieux plus obscurs et difficiles par Loys le Roy, dit Regius. Paris 1553. Bodin: Colloquium (wie A n m . 1), S. 3: »Cum enim Coronaeus ad cocnam una cum iis quos diximus consedisset et ego P h a e d o n e m Piatonis, q u e m antea legere coeperam, persequi jussus e u m locum attigissem, quo Socrates A e g y p t i o r u m cadavera tanto artificio condita tuisse diccrct, ut incredibilc tempus a putrcdinc vindicarentur, Octavius
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Auch Ferneis De abditis rerurn causis bietet eine platonisierende Alternative zu der von Vimercati vertretenen Position eines materialistischrationalistischen Aristotelismus. Es ist der Gesprächspartner >BrutusEudoxus< dagegen ist der Neuplatoniker, der als das vornehmliche Sprachrohr Ferneis dient - auch wenn die dialogische Situation sicherlich nicht eindimensional aufzulösen ist.66 Eudoxus' Neuplatonismus bedeutet eine Verstärkung der avicennistischen Ausrichtung, mit vertikalen Kausalitäten, mit Formungen vom Schöpfer und vom Himmel her, zu argumentieren - jene Richtung, gegen die Pomponazzi in den 1520er Jahren angeschrieben hatte. Diese Front gegen Leute wie Pomponazzi und Vimercati ist durchaus vergleichbar mit der Front gegen Ramus zur gleichen Zeit; es gibt personelle Überschneidungen. Aber man muß auch unterscheiden: immerhin hat Ramus selbst zunächst platonische Anregungen einer natürlichen Dialektik< benutzt, um seine Methode gegen Aristoteles zu entwickeln. Doch schon bald wurde sie von vielen als zu radikal, als eine Verflachung der metaphysischen Dimension der Wissenschaft, wahrgenommen. Der Synkretismus, der gegen ihn in Anschlag gebracht worden ist, äußert sich zuweilen deutlich platonistisch, zuweilen aber auch nur als >esoterischer< Aristotelismus (wie bei Philipp Scherb in Altdorf), wobei >esoterisch< die Bevorzugung der metaphysischen Linie des Aristotelismus gegenüber einer rein rhetorisch-methodischen meint.67
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petiit a Coronaeo, ut locum relegerem, quod a me factum est. Nam consequentia acquc ac pracccdcntia pertinent ad immortalitatcm animorum vim ac potestatem, de quibus copiosc ab illius superioribus diebus disputatum erat.« Jean Fernel: D e abditis rerum causis. Paris 1548; zu Fernel vgl. Sir Charles Sherrington: The Endeavour of Jean Fernel. Cambridge 1946; Daniel P. Walker: The Astral Body in Renaissance Medicine. In: ders.: Language, Spirit and Music in the Renaissance. London 1985. Fcrncls Dialog verdient es ebenso wie Bodins Colloquium Hcptaplomeres, in die neuere Forschung zum Dialog in der Renaissance einbezogen zu werden. Dort wird betont, daß Dialoge zur performativen Darstellung von Pluralität verwendet wurden und oftmals eine hochkomplcxc Struktur besitzen, die nicht im Sinne einer einzelnen Position - auch nicht in der Weise der »Synthese« dieser Position - aufzulösen ist. Vgl. zuletzt: Möglichkeiten des Dialogs. Hg. von Klaus W. Hempfer. Stuttgart 2002. Vgl. Martin Mulsow: »Die wahre pcripatctische Philosophie in Deutschland«. Mclchior Goldast, Philipp Schcrb und die akroamatischc Tradition der Alten. In: Fördern und Bewahren. Studien zur europäischen Kulturgeschichte der frühen Neuzeit. Hg. von Hclwig Schmidt-Glintzcr. Wiesbaden 1996, S. 49-78. Ramus hatte mit Adrastos von Aphrodisias und Philoponos dafür argumentiert, daß Aristoteles die Topik und die Katcgoricnlchrc (als >Protopicagöttliche< Erkenntnis des Kopernikus über die Struktur des Weltsystems nur das wahre Urbild des Kosmos zutagegefördert, das uns wiederum als Darstellungsform für Erkenntnisgewinn überhaupt dienen kann. Schon beim frühen Ramus hatte es dieses Verständnis von Natur als Richtschnur, als >Führerin< gegeben, 100 doch erst im Methodensynkretismus Gemmas ist diese Naturauffassung wirklich mit einer umfassenden Konzeption verbunden worden. Und die Chiffre dieser Verbindung war, von Gemma bis Bodin, das Wort von den arcana naturae. Die arcana naturae sind gerade deshalb Geheimnisse, weil sie Objekte der methodischen Anstrengung sind, sie aufzudecken. 97 98
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Vgl. das Zitat oben in Anm. 88. Francesco Piccolomini: D e humana mente, in ders.: Libri ad scicntiam de natura aUincntcs, Pars V. Venedig 1596, fol.1302: »Hacc ratiocinatio fieri polest et natura tantum et arte naturae adhibita, et dum fit arte, perfectius fit sola natura [...]. Ars enim naturam perficit tanquam ministra cius.« Vgl. dazu Thomas Leinkauf: Der Natur-Begriff des 17. Jahrhunderts und zwei seiner Intcrpretamcnte: »res extensa« und »intima rcrum«. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 399-418. Vgl. Petrus Ramus: Dialectica (wie Anm. 34), fol. 19v: »Itaque quoniam duce natura dispositionem quandam rcrum inventarum sequimur in iudicando [...].«
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Ich habe an dieser Stelle nur eine äußerst dürftige Skizze der möglichen Problemverflechtungen geben können, wie sie der Entstehung der Universalwissenschaft zugrunde gelegen haben mögen. Viele Kontexte wie die historische Rechtswissenschaft, der Lullismus oder die natürliche Theologie sind außerhalb geblieben. Das personelle Geflecht war an wenigen Protagonisten aufgemacht, an Bodin und La Boderie, Gemma und Postel, Ramus und Charpentier, Mizauld und Fernel, doch ist dieses Netzwerk vielleicht in der Lage, mit weiteren Personen und Verbindungen angereichert zu werden. Auch die Probleme waren hier auf wenige reduziert: die Kreismethodik, das Problem von inventio und iudicium und die okkulten Eigenschaften. In Wirklichkeit hat eine sehr viel größere Zahl von Problemlagen die Entstehung des Diskurses der Universalwissenschaft gesteuert. Es hat sich aber immerhin ein gewisses Muster abgezeichnet: Die Geburt der Universalwissenschaft - zumindest in einem Geburtsszenario aus dem von Ramus provozierten Methodensynkretismus in der Mitte des 16. Jahrhunderts, einem Synkretismus, der starke platonische Obertöne besitzt, aber sich nicht neuplatonisch als eine Philosophie des Einen darstellt. Der Naturbegriff, der diesem Synkretismus entspricht, ist ebenfalls provoziert worden: aus der Gegnerschaft von rationalistischen Aristotelikern einerseits und Neuplatonikern wie Fernel andererseits. Dem Ireniker Gemma schien eine Lösung des Streites durch einen in sich vermittelten Naturbegriff, der kein externes Absolutes kennt, der immer eine Verbindung von Einheit und Vielheit erfordert, die einzig angemessene Antwort. Sein Urbild der Natur, das Sonnensystem, war ihm die sinnbildliche Form der Verbindung. Denn das Aufeinander-Verwiesensein von Sonne und Mond, von aktivem Intellekt und und passiv-aktivem menschlichen Geist, konnte die Auffindung von Prinzipien und ihre Anwendung auf die Phänomene veranschaulichen. Damit war es ihm Vorbild für die Methode der Erkenntnis, einer Erkenntnis, die in all ihren Schritten immer auf den Geist bezogen bleibt. Natur ist wesentlich Richtschnur dieses Denkens, sie ist Hervorbringerin jener metaphysisch-physischen Strukturen, die Vorbild der methodischen Annäherung an die Wahrheit sind, die wiederum die hervorgebrachte Natur erkennen läßt.
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»Perfectio igitur delectationis musicae consistit in eius perfecta cognitione«1 Adrian Willaerts Motette Victimae paschali laudes und die AristotelesRezeption in Venedig In den Jahrzehnten zwischen 1520 und 1560 gehört Adrian Willaert (um 1490-1562), seit 1527 Kapellmeister an San Marco in Venedig, neben Nicolas Gombert, Cristobal de Morales und Clemens non Papa zu den bedeutendsten Komponisten nach Josquin Desprez (um 1450-1521). Willaerts (Euvre umfaßt nahezu alle zeitgenössischen Gattungen, doch sind die 173 Motetten, bereits zu seinen Lebzeiten nicht nur in Anthologien, sondern auch in einer Serie von Individualdrucken publiziert, der musikhistorisch bedeutsamste Teil seines Schaffens. Dies gilt sowohl hinsichtlich ihres künstlerischen Gehaltes als auch aufgrund der Stellung der Motette in der zeitgenössischen Gattungshierarchie. Die Frage nach den Voraussetzungen und Bedingtheiten der Gestaltung von Willaerts Motetten darf deshalb das besondere Interesse musikgeschichtlicher Forschung beanspruchen. Für die ambitionierten Komponisten der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist der Bezug auf den schon zu Lebzeiten mit der Autorität des auctor classicus ausgestatteten Josquin im Sinne des Konzeptes von imitatio, aemulatio aber auch superatio Grundvoraussetzung ihres Schaffens. Der musikhistorische Ausnahmerang von Clemens non Papa, Gombert, Morales und Willaert resultiert daraus, daß sie individuell höchst verschiedene und eigenständige kompositorische Lösungen in der schöpferischen Auseinandersetzung mit dem Werk Josquins fanden. Vor diesem Hintergrund überrascht es, daß seit den grundlegenden Forschungen Hermann Zencks zu Willaert in den späten zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts 2 und der Edition der Motetten durch Zenck und Wal-
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Johannes Tinctoris: Complexus effectuum musices. In: »That liberal and virtuous art«: three humanist treatises on music. Aegidius Carlcrius, Johannes Tinctoris, Carlo Valgulio. Hg. von J.Donald Cullington. Ulster 2001, S.80 (110). Hermann Zencks ungedruckte Leipziger Habilitationsschrift »Studien zu Adrian Willaert« von 1929 war dem Verfasser trotz mehrfacher Anfragen in Leipzig nicht zugänglich. Das zweite Kapitel ist veröffentlicht als: Hermann Zenck: Zarlinos »Istitutioni harmoniehe« als Quelle zur Musikanschauung der italienischen Renaissance. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft 12 (1929/30), S. 540-578. Ein Auszug aus dem dritten Kapitel erschien unter: Hermann Zenck: Über Willaerts Motetten. In: ders.: Numerus und Affcctus. Studien zur Musikgeschichte (Musikwis-
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ter Gerstenberg 3 nur mehr vereinzelte Arbeiten zu verzeichnen sind. Zur Biographie Willaerts vermochte insbesondere Lewis Lockwood 4 neue Erkenntnisse beizutragen. Mit den 33 Motetten der Musica nova (Venedig: Gardano 1558/59),5 von denen fünf Bezüge zu Motetten Josquins zeigen, setzt sich neuerdings Ludwig Finscher auseinander. Im Zusammenhang mit dem Ο admirabileMotettenzyklus spricht Finscher von massiver Intertextualität, »in der das Vorbild - Josquins Motette - nicht nur durch Überbietung (wie in allen auf Josquin bezogenen Motetten der Musica nova), sondern vor allem durch Umkehrung, Verwandlung in das ganz Andere gleichsam ausgelöscht werden soll.«6 Finscher mutmaßt, daß die unterschiedliche stilistische Haltung Josquins und Willaerts im konkreten Adressatenbezug ihre Ursache hat. Aufgrund seiner Beziehungen zu den venezianischen Akademien und deren Publikum habe Willaert das >Paradigma Kontrapunkt< durch das P a r a digma Wort< ersetzt. 7 Insbesondere hat jedoch Joshua Rifkin wesentliche Einsichten beigetragen. Sein Verdienst besteht in der Eröffnung eines neuen analytischen Blicks auf Willaert, den er unter dem Neologismus >Motivizität< beschreibt und anwendet. 8 Hierunter versteht Rifkin das Phänomen der variierenden Handhabung einer Stimme im Prozeß der Imitation dieser Stimme. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß in der Polyphonie der ersten Hälfte des
senschaftliche Arbeiten, Bd. 16). Hg. von Walter Gerstenberg. Kassel u.a. 1959, S. 5566.
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Z u den Messen Willaerts existiert die ebenfalls unveröffentlichte Würzburger Habilitationsschrift Hermann Beeks; zu deren Ergebnissen vgl. Hermann Beck: Adrian Willaerts Messen. In: ACMw (1960), S. 215-242. Vgl. die einführende Darstellung von Ignace Bossuyt: Adriaan Willaert (ca.14901562). Leven cn werk. Stijl en genres. Leuven 1985. Adrian Willaert: Opera omnia. Hg. von Hermann Zenck, Walter Gerstenberg und Helga Meier (Corpus mcnsurabilis musicae, Nr. 3). American Institute of Musicology, Rom 1950ff. Lewis Lockwood: Adrian Willaert and Cardinal Ippolito I d'Este: new light on Willaert's early career in Italy, 1515-21. In: Early Music History 5 (1985), S. 85-112. Vgl. Helga Meier: Zur Chronologie der Musica Nova Adrian Willaerts. In: Studien zur italicnisch-dcutschcn Musikgeschichte. Bd. 8. Hg. von Friedrich Lippmann (Analecta Musicologica, Bd.12). Köln 1973, S. 71-96. Ludwig Finscher: Von losquin zu Willaert - ein Paradigmcnwcchscl? In: Musik / Revolution. Festschrift für Georg Kncplcr zum 90. Geburtstag. Hg. von HannsWerner Heister. 3 Bde. Hamburg 1997, Bd. 1, S. 145-173. Hier: S. 155f. Ebd. S. 173. Joshua Rifkin: Miracles, Motivicity and Mannerism. Adrian Willaert's Videns Dominus flcntcs sorrorcs Lazari and Some Aspects of Motet Composition in the 1520s. In: Hearing the Motet. Essays on the Motet of the Middle Ages and Renaissance. Hg. von Dolores Pesce. Oxford u.a. 1997, S. 243-259. Vgl. auch A n n e Smith: Willaert motets and mode. In: Basicr Jahrbuch für historische Musikpraxis 16 (1992), S. 117-165.
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16. Jahrhunderts eine Stimme nicht nur diastematisch, sondern auch durch ihr rhythmisches Profil bestimmt ist. Anders als der an der Musik des 19. Jahrhunderts entwickelte Motivbegriff ist dem Themenbegriff der Renaissance - von dem generalisierend zu sprechen kaum sinnvoll ist - ein hohes Maß an Variabilität immanent; geschärfte Themencharakteristik, der >Einfall< ist kein konstitutives Element der Kompositionsästhetik Gomberts, Morales und Willaerts. Ungleich schwerer als in anderen Wissenschaften und Künsten des Spätmittelalters und der Renaissance ist in der Musik dieses Zeitraums ein durch Aristoteles geprägter Naturbegriff anhand des musikalischen Werkes zu präzisieren. Dies bedeutet nicht, daß eine Aristoteles-Rezeption in Musikanschauung und Komposition gar nicht stattgefunden hat. Die unverwechselbaren Spuren, die Aristoteles im musiktheoretischen Schrifttum des 14. bis 16. Jahrhunderts hinterlassen hat, sind bekannt. Im konkreten Falle kommt hinzu, daß das kompositorische Schaffen Willaerts und das hierzu komplementäre theoretische Werk seines Schülers Gioseffo Zarlino den Höhepunkt einer musikalischen Entwicklung darstellen, deren Ursprünge bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts zurückreichen. Zusammen betrachtet bieten beide eine geradezu klassische Ausprägung der musikalischen Anschauungen und Techniken der italienischen Renaissance, für die das humanistische imitatio-Konzept und die aristotelische Naturphilosophie von Bedeutung sind. Ein Überblick über die musiktheoretische Aristoteles-Rezeption des 14. bis 16. Jahrhunderts soll I. die historischen Voraussetzungen klären und sodann II. im Hinblick auf die für die Kompositionen Willaerts wichtigen institutionellen Voraussetzungen in Venedig und die musiktheoretischen Ausführungen Zarlinos präzisiert werden. Dies bildet die Voraussetzung dafür, um III. der Frage nachzugehen, ob und inwieweit die Diskussion in den venezianischen Akademien und insbesondere die Aristoteles-Rezeption Konsequenzen für die konkrete Gestalt der Motetten Willaerts hat. Am Beispiel der Motette Victimae paschali laudes aus der Musica Nova soll der Bogen von den Umständen der Musikpflege und der musiktheoretischen Diskussion zum konkreten musikalischen Kunstwerk geschlagen und der These vom Einfluß der aristotelischen Naturphilosophie auf Willaert analytisch nachgegangen werden.
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I. Mit dem Topos von der Natur als dem aufgeschlagenen Buch Gottes wies Augustinus der Naturbetrachtung des christlichen Abendlandes über lange Zeit die Richtung. Hatten die antiken Naturphilosophen versucht, die Vielfalt der Naturerscheinungen auf die ihnen zu Grunde liegenden Ursachen und Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen, um sie so in ein System rationaler Weltdeutung einzubinden, so trat für das christliche Naturverständnis die Frage nach der Bedeutsamkeit des einzelnen Ereignisses innerhalb des göttlichen Weltplanes in den Vordergrund; Naturphilosophie war für lange Zeit nur mehr denkbar als Naturexcgcsc, deren Methodik sich von der Bibelexegese nicht prinzipiell unterschied. 9
Diesen Traditionsstrang an den Ausgangspunkt der Betrachtungen zu stellen, ist gerade dann von Wichtigkeit, wenn, wie im vorliegenden Fall, von geistlicher Musik die Rede ist. Denn die Gebundenheit dieser Musik an die religiöse Sphäre bewirkt, neben dem in erster Linie zu berücksichtigenden kompositionstechnischen Geschichtspotential, einen zweiten Traditionsstrang, der Vorgehensweisen der Bibelexegese auch auf musikalische Phänomene übertragbar macht. Als dritter Strang tritt schließlich die Rezeption philosophischer Ideen und ihre Übertragung auf kompositionstechnische Phänomene hinzu. Aufbauend auf einer jahrhundertelangen Überlieferung ist für die Musikanschauung des 16. Jahrhunderts inhaltlich die Dichotomie von Platonismus und Aristotelismus von grundlegender Bedeutung. Generalisierend läßt sich diese dahingehend zusammenfassen, daß der Platonismus mit den grundlegenden Ideen, den Geheimnissen des künstlerischen Schaffens sowie den Fragen der Perzeption in Zusammenhang gebracht wurde; aristotelische Gedanken standen für logische Ordnungen, Methoden und Definitionen sowie zu erfolgende Differenzierungen. 10 Bereits am Ausgang des 13. Jahrhunderts bewirkte das Eindringen der Aristotelischen Schriften in die lateinische Literatur partiell eine Einengung des Musikbegriffs auf die tatsächlich erklingende Musik (musica Instrumentalis oder artificialis). Dem Fortwirken der Vorstellung von der Sphärenharmonie und der musica naturalis, der von Gott eingegebenen, d.h. ohne menschliches Einwirken erklingenden Musik tat dies keinen
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Michael Wittmann: Vox atque sonus: Studien zur Rezeption der Aristotelischen Schrift »De anima« und ihre Bedeutung für die Musiktheorie. 2 Bde. (Musikwissenschaftliche Studien, Bd. 4/1 und 2). Pfaffcnwcilcr 1987, S. 153. Vgl. D o n Harrän: in search of harmony. Hebrew and humanist elements in sixteenthcentury musical thought (Musicological studies and documents, Bd.42). NeuhausenStuttgart 1988, S. XV.
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Abbruch, bewirkte aber eine Einschränkung der Bedeutung des Begriffes der musica naturalis auf vor allem theologische Vorstellungen. 11 Zunehmend tritt der auf Boethius beruhenden mathematisch-spekulativen Musikauffassung eine realistischere Auffassung entgegen, die die sprachlich darstellende Seite der Musik betont und die sich seit dem 13. Jahrhundert auf Aristoteles berufen kann. Für die mittelalterliche Musiktheorie spielte zunächst Boethius die alles überragende Rolle. Kein anderes musiktheoretisches Werk ist so oft abgeschrieben worden und vermochte seinen Einfluß von der Karolingerzeit bis in die Zeit der Inkunabeldrucke zu behaupten, wie De institutione musica des Boethius. 12 In der zu Venedig gehörenden Universitätsstadt Padua gehörte die auslegende Lektüre des Boethius noch in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts zum Lehrstoff, und in Venedig selbst wurde De institutione musica 1492 zum ersten Mal im Rahmen einer Gesamtausgabe der Werke des Boethius gedruckt. 13 Dafür, daß spekulative und naturnahe Musikauffassung frühzeitig in friedlicher Koexistenz nebeneinander bestanden, ist die Definition aus dem Compendium musicae practicae des Johannes de Muris (um 1323) ein Beweis: Was ist Musik? Die Herrin der Künste, welche die Grundlage aller Methoden in sich enthält, indem sie mit absoluter Zuverlässigkeit dem Wesen aller Dinge auf wunderbare Weise mit ihren Verhältnissen einverleibt ist. Wer sie versteht, dem bringt sie Freude, und wer sie hört, der empfindet Wohlgefallen. Trübsinnige erheitert sie, Geizige macht sie großzügig, Neider beschämt sie, Ermattete stärkt sie, den Wachen wiegt sie in Schlaf, den Schlafcndcn wcckt sie; sie nährt die Liebe und bringt zu Ehren den, der sie bis zur Vollendung bchcrrscht. Ihr End/.wcck aber ist das Lob Gottes. 1 4
Im Speculum musicae (vermutlich um 1321-1325) des Jacobus Leodiensis, das eine Zusammenfassung der Tendenzen um 1300 enthält, wird (nach Nikomachischer Ethik X, 7) auf das delectabilissimum et optimum des vivere secundum intellectum hingewiesen. Die beiden zentralen Begriffe >natura< und >delectabilissimum< werden anhand von Zitaten aus Politik VIII, 5 auf die Musik bezogen. Danach schaffe Musik eine delectatio, die >natürlich< gegeben ist und womit auf den bei Aristoteles fundamentalen Naturbegriff angespielt wird.15 11
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Vgl. Gerhard Pictzsch: Die Klassifikation der Musik von Boethius bis Ugolino von Orvieto. Studien zur Geschichte der Musiktheorie im Mittelalter. Halle 1929, S. 64, 95 und 102. Vgl. Michael Bernhard: Überlieferung und Fortleben der antiken latcinischcn Musiktheorie im Mittelalter. In: Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter (Geschichte der Musiktheorie, Bd. 3). Hg. von Frieder Zamincr. Darmstadt 1990, S. 7-35. Hier: S. 24. Ebd. S. 31. Zitiert nach Thomas A.Schmid: Der Complcxus cffcctuum musiccs des Johannes Tinctoris. In: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 10 (1986), S. 121-160. Hier: S. 131. Vgl. Klaus-Jürgen Sachs: Zur Funktion der Berufungen auf das achtc Buch von
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Gleich an mehreren Stellen nimmt der Complexus effectuum musices (um 1473/74) des Johannes Tinctoris auf das VIII. Buch der Politik bezug.16 Konkret handelt es sich bei Tinctoris' Complexus um ein Florilegium der bedeutendsten Autoren und einschlägiger Texte zur Musikerziehung; die meisten Zitate stammen aus den beiden klassischen Texten zur Musikerziehung: dem VIII. Buch der Politik des Aristoteles und dem 10. Kapitel des ersten Buches von Quintilians Institutiones oratoriae. Im Vorwort, in der III. (Die Musik vermehrt die Freuden der Seligen), X. (Die Musik versetzt in Begeisterung) XIV. (Die Musik heilt Kranke) und XVI. Wirkung (Die Musik spornt zum Kampf an) zitiert Tinctoris das VIII. Buch der Politik. Vor allem die XIII. Wirkung (Die Musik macht Menschen fröhlich) ist nachhaltig durch Aristoteles-Zitate geprägt und nennt seinen Namen ausdrücklich: Aristoteles gibt in Pol. 8 den Satz des Musäus wieder: »Der Gesang ist den Menschen äußerst angenehm. Deshalb zieht man ihn bei Versammlungen und zur Erholung mit gutem Grunde bei zur Belebung der Stimmung. Allerdings erfreut Musik die einen mehr, die andern weniger. Je weiter es einer in dieser Kunst gebracht hat, um so mehr wird er durch sie erfreut, weil er ihre Natur äußerlich und innerlich wahrnehmen kann: äußerlich kraft des Gehörs, durch das er den Reiz der Zusammenklänge wahrnimmt, innerlich kraft der Intelligenz, durch die er die Richtigkeit von Komposition und Wortvortrag erkennt. Nur solche Menschen können über Musik im eigentlichen Sinne urteilen und durch sie erfreut werden. Deshalb rät Aristoteles in Pol. 8 den jungen Menschen, sich so dem Studium der Musik zu widmen, daß sie nicht nur vom Klang, ob nun sie selber ihn hervorbringen oder andere, Genuß haben, sondern auch, wenn sie alt geworden sind und sich aus dem aktiven Leben zurückgezogen haben, dank ihrem Urteilsvermögen sich an Musik freuen können. Zweifellos erheitert die Musik auch jene Menschen, die von ihr einzig und allein den Klang wahrnehmen. Aber sie werden nur in ihrem (Gchörs-)Sinn erfreut. Mag sein, daß sie durch solchen Klang so sehr berührt werden, daß sie - laut Juvenal - bei jeder schönen Stimme hinrennen und diejenigen, die für ihren Geschmack so wohltönend singen, als die vortrefflichsten Musiker preisen und erheben, auch wenn ihr Vortrag aller Kultur entbehrt. Dies erstaunt mich nicht, habe ich doch bei Vergil in der 2. Eklogc gelesen: »Ein jeder läßt sich von seiner Begierde hinreißen.« »Pcrfcctio igitur delectationis musicae consistit in eius perfecta cognitione« Der vollkommene Musikgcnuß besteht demnach im vollkommenen Musikvcrstchcn. So schreibt Aristoteles Pol. 8 zu diesem Punkt: »Für einen Unvollkommenen [ergänze: in der musikalischen Kunstlehre] gibt es kein Ziel - das heißt: keinen vollkommenen Musikgenuß. 17
Neben Tinctoris ist Franchinus Gaffurius (1451-1522) von besonderer Bedeutung für die Musikanschauung Zarlinos. Tinctoris und Gaffurius kannten einander persönlich aus gemeinsamen Jahren am Hofe Ferdinands I. in
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Aristoteles' »Politik« in Musiktraktaten des 15. Jahrhunderts. In: Musik und die Geschichte der Philosophie und Naturwissenschaften im Mittclaltcr: Fragen zur Wechselwirkung von »musica« und »philosophia« im Mittelalter. Hg. von Frank Hentschel (Studien und Texte zur Gcistcsgcschichtc des MiUclaltcrs, Bd. 62). Leiden u.a. 1998, S. 269-290. Hier: S.275. Vgl. hierzu die in Anm. 1 genannte Edition des Traktats durch Cullington. Die deutsche Übersetzung zitiert nach Schmid: Der Complexus (wie Anm. 14), S. 152Γ.
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Neapel (1478-1480). In dieser Zeit entstand auch Gaffurius' Traktat Theoricum opus (Neapel 1480). Sein Traktat Theorica musicae (Mailand 1492) markiert den Beginn des intensiven Verarbeitens der Erkenntnisse der altgriechischen Musiktheoretiker und Fachschriftsteller, nachdem zuvor der Aspekt des Auffindens und Kennenlernens im Vordergrund gestanden hatte. Ausgehend von Gaffurius (Practica musicae, Mailand 1496) sprechen die italienischen Theoretiker der Renaissance davon, daß der Komponist den Stil der Komposition nach dem Gehalt der Worte zu richten hat.18 Mit Bezug auf Gaffurius und am Stil der Werke Willaerts orientiert, spricht Zarlino in Le istitutioni harmoniche davon, daß »[...] se nella Oratione, ο per via della naratione, ο della imitatione [...] si puö trattare materie, [...] alla natura delle materie, che sono contenute nella Oratione«. 19 Die antike Ethoslehre und ihr Bezug zu den musikalischen Modi diskutiert Zarlino ausführlich in einem gesonderten Kapitel: »Deila Natura, ο proprietä delli Modi«.20 Im Laufe des 16. Jahrhunderts nahm auch die durch Gaffurius eingeleitete Zusammenarbeit von Gelehrten, die die griechische Sprache beherrschten, mit Musikern, die an der antiken Musiktheorie interessiert waren, zu.21 Innerhalb des geplanten Editionsprogramms der Accademi Veneta nehmen Bücher griechischer Theoretiker über Musik breiten Raum ein. Der enge Kontakt Venedigs zu Byzanz und die Aufbewahrung der Bibliothek des Kardinals Bessarion in Venedig begünstigten den direkten Zugang der Gebildeten Venedigs zu den Originalquellen. Bemerkenswerterweise fand die Musiktheorie gerade Beachtung im Rahmen der sich aus einer verändernden Naturbetrachtung ergebenden Themenstellungen. In Giorgio Vallas Enzyklopädie finden sich fünf der Musik gewidmete Kapitel.22 Die Imitatio naturae, die für die spe18 19
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Harrän: In search (wie Anm. 10), S. 109. Gioscffo Zarlino: Lc Istitutioni Harmonichc. Faksimile der Edition Venedig 1558 (Monuments of Music and Music Literature, Second Series, Bd. 1). New York 1965. Quarta parte, Cap. 32, S. 339. Z u Zarlinos Tätigkeit an San Marco in der Nachfolge Willaerts vgl. Rebecca Edwards: Setting the Tone at San Marco: Gioseffo Zarlino amidst Doge, Procuratori and Cappella Personnel. In: La cappella musicalc di San Marco nell'ctä modcrna. Hg. von Francesco Passadore und Franco Rossi. Venedig 1998, S. 389^100. Vgl. zu Zarlino die Arbeit von Wolfgang Horn: »Est modus in rebus...«. Gioscffo Zarlinos Musiktheorie und Kompositionslehre und das »Tonarten«-Problem in der Musikwissenschaft. Habilitationsschrift Hannover 1995. Die unveröffentlichte Arbeit Horns war dem Verfasser leider nicht zugänglich. Für die Nennung des Titels ist der Verfasser Herrn Wolfgang H o r n (Regensburg) zu Dank verpflichtet. Zarlino: Istitutioni Harmonichc (wie Anm. 19), Quarta Parte, Cap. 5, S. 301-304. Vgl. F. Alberto Gallo: Die Kenntnis der griechischen Theoretikerquellen in der italienischen Renaissance. In: Italienische Musiktheorie im 16. und 17. Jahrhundert. Antikenrezeption und Satzlehre (Geschichte der Musiktheorie, Bd. 7). Darmstadt 1989, S. 7-38. Hier: S.24. Ebd. S. 18.
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kulative Musiktheorie des Mittelalters kaum von Bedeutung ist, tritt im Verlauf des 15. und 16. Jahrhunderts zunehmend in den Gesichtskreis der Interessen von Musiktheoretikern und Komponisten. 23 Bereits Cusanus betont im Zusammenhang mit seiner Wiederholung der Legende von der Erfindung der musikalischen Harmonien, daß jede ars der Anregung durch die methodische Erforschung der Natur bedarf. Cusanus vereinigt das Programm der Naturnachahmung mit dem Lob der Erfindungskraft des menschlichen Geistes. Zugleich betont er, daß gerade bei der Musik eine allzu direkt verstandene Imitationstheorie versagen muß. In der Musik macht der Geist die Harmonien, die er auf geistige Weise in sich trägt, hörbar und sinncnl'ällig. [...] Die Kunstwerke sind nichts als Ähnlichkeiten unseres schöpferischen Geistes und doch zugleich Abbilder der inneren Natur der Sache selbst. 24
II. Das Wenige, was wir über die musikalische Ausbildung Willaerts wissen, ist im Wesentlichen den Ausführungen seines Schülers Gioseffo Zarlino (1517-1590) in den Dimostrationi harmoniche (Venedig 1571) zu entnehmen. In der Absicht Jurisprudenz zu studieren, ging Willaert nach Paris. Schließlich habe er dort aber bei Jean Mouton Musik studiert, um dann Mitglied der Kapellen Ludwigs XII. und Franz' I. zu werden. An der Universität in Paris ist Willaert, wie später in den venezianischen Akademien, mit der Philosophie des Aristoteles in Berührung gekommen. Wie überall an den Universitäten stützte sich der Unterricht in den philosophischen Disziplinen auch noch während des 15. und 16. Jahrhunderts auf die Werke des Aristoteles.25 Zarlino berichtet auch die berühmte Anekdote über den Besuch Willaerts in Rom zur Zeit des Pontifikats Leos X. Die päpstliche Kapelle sang Willaerts sechsstimmige Motette Verbum bonum et suave in der Annahme, es handele sich um ein Werk Josquins. Nachdem Willaert sich als der Au2j
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Vgl. A r m e n Carapetyan: Imitazione della natura. In: Musica Disciplina 1 (1946), S. 46-67. Vgl. auch Arbogast Schmitt: Mimesis bei Aristoteles und in den Poctikkommentaren der Renaissance. Z u m Wandel des Gedankens von der Nachahmumg der Natur in der trühen Neuzeit. In: Mimesis und Simulation. Hg. von Andreas Kablitz und Gerhard Neumann. Freiburg im Breisgau 1998, S. 17-53. Kurt Flasch: Ars imitatur naturam. Platonischer Naturbegriff und mittelalterliche Philosophie der Kunst. In: Parusia. Studien zur Philosophie und zur Problcmgcschichte des Piatonismus. Festgabe für Johannes Hirschberger. Hg. von Kurt Flasch. Frank tu rt a. M. 1965, S. 265-306. Hier: S.290I. Vgl. Paul Oskar Kristeller: Die aristotelische Tradition. In: ders.: Humanismus und Renaissance. 2 Bde., Bd. 1: Die antiken und mittelalterlichen Quellen. München o.J., S. 30-49. Hier: S. 38t.
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tor zu erkennen gab, wollten die Mitglieder der Kapelle das Werk nicht länger aufführen. 26 Nach früher Tätigkeit in Ferrara 27 ernannten die Prokuratoren von San Marco in Venedig Willaert am 12. Dezember 1527 zum maestro di cappella daselbst. Zeitgenössische Dokumente deuten an, daß der Doge Andrea Gritti zu Gunsten von Willaert intervenierte. Zunächst mit 70 Dukaten jährlich besoldet, wurde der Betrag 1529 auf 100 Dukaten und späterhin womöglich sogar auf 200 erhöht. Willaert war demnach nicht nur an einer der prestigeträchtigsten Stellen der Zeit tätig, sondern auch außergewöhnlich gut bezahlt. Obwohl Venedig in den Jahrzehnten zwischen 1520 und 1560 eine Zeit des politischen Niedergangs erlebte, blieb es doch ein kulturelles Zentrum ersten Ranges. Die Stadt war eine der wichtigsten Orte des Notendrucks der Zeit. Als musikalische Institution stand die Kapelle von San Marco in Norditalien konkurrenzlos da, vergleichbar nur den Hofkapellen Karls V., Franz' I., der Päpste in Rom und der in Mantua und Ferrara. 28 Willaerts frühzeitiges Interesse an musiktheoretischen Fragestellungen und seine Beziehung zu den entsprechenden Diskussionsforen belegt sein berühmtes zweistimmiges Rätsel-Duo von 1518 Quid non ebrietas, das die Horaz-Epistel über die Wunder des Weines vertont. 29 Die Vielzahl der Orte, an denen in der Republik Venedig über Kunst und Kultur diskutiert wurde, unterscheidet die Situation in der Lagunenstadt grundlegend von den Bedingungen höfischer Kultur. Willaert kam aufgrund seiner offiziellen Funktion als Kapellmeister der Kirche der Dogen - einem in erster Linie städtischen und weniger kirchlichem Amt unter den Musikern der Stadt der erste Rang zu. Das berühmteste Zeugnis
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G. Zarlino: Istitutioni harmoniche (wie Anm. 19), Quarta Parte, Cap. 36, S. 346. Vgl. Lockwood: Adrian Willaert and Cardinal Ippolito I d'Este (wie Anm. 4). Vgl. Giulio M. Ongaro: The Chapel of St. Mark's at the Time of Adrian Willaert (1527-1562): A Documentary Study. Ph.D. Diss. University of North Carolina, Chapel Hill 1986. Vgl auch ders.: Sixteenth-Century Patronage at St. Mark's, Venice. In: Early Music History 8 (1988), S. 81-115. Auf die Schwierigkeiten, die institutionellen Rahmenbedingungen an San Marco während des größten Teils der Amtszeit Willaerts zu rekonstruieren, hat Iain Fenlon hingewiesen. Für die ersten fünfzig Jahre des 16. Jahrhunderts fehlen die »ccrcmoniali« und erst ab der Mitte des 16. Jahrhunderts sind Voraussetzung und Gestaltung des Ritus gut dokumentiert. Vgl. Iain Fenlon: Music, Ceremony and Self-Identity in Rcnaissancc Vcnicc. In: La cappclla musicalc di San Marco ncll'cta modcrna. Hg. von Franccso Passadorc und Franco Rossi. Venedig 1998, S. 7-21. Joseph S. Lcvitan: Adrian Willlcrt's Famous Duo Ouidnam ebrietas. In: T V N M 15 (1938/39), S. 166-233. Vgl. Edward E.Lowinsky: Adrian Willaert's Chromatic D u o Rc-cxamincd. In: TVNM 18 (1956), S.l-36. Vgl. auch dcrs.: Echocs of Adrian Willaert's Chromatic Duo in Sixteenth- and Seventeenth-century Compositions. In: Studies in Music History: Essays for Oliver Strunk. Hg. von Harold Powers. Princeton 1968, S. 183-238.
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für die Berührung von Literatur und Musik in der Sphäre der Akademien stellt Antonfrancesco Donis 1544 gedruckter Dialogo della musica dar. Donis Dialogo veranschaulicht die Gepflogenheiten derartiger Zusammenkünfte, für die in der zeitgenössischen Literatur der Begriff Akademie gebraucht wird, und in denen Musik aufgeführt und diskutiert wurde.30 Der Gründer der bedeutendsten musikalischen Akademie Venedigs, Neri Capponi, gehörte zur Gruppe der aus Florenz stammenden Exilierten und ließ sich 1538 in Venedig nieder. Als musikalischer Fachmann stand Willaert der Akademie Capponis vor und die berühmte Sopranistin Polissena Pecorina wirkte bei den Aufführungen mit. Capponi selbst nahm Unterricht bei Silvestro Ganassi, der ihm seine Lettione seconda pur della prattica di sonare il violone d'arco da tasti (Venedig 1543) widmete. 31 Durch einen Brief Donis vom 7. April 1544 sind wir über die Aufführungen von Werken Willaerts aus der Musica Nova unterrichtet. Doni lobt die Neuheit ihres Stils, ihren Wohlklang und insbesondere die Angemessenheit der Musik an den Gehalt des Textes. 32 Auch das Phänomen der Parallelvertonungen von Madrigalen Perissones, Paraboscos und Donatos durch Willaert in der Musica Nova geht auf die Institution der Akademie zurück. Alle drei Komponisten wirkten als Musiker in der Akademie des Patriziers Domenico Veniero (1517-1582) mit.33 Die parallele Anordnung von Madrigalen und Motetten in der Musica Nova, in der Praxis bis dahin nicht gebräuchlich, scheint die Aufführungsgewohnheiten und Interessen der Akademien widerzuspiegeln. Hinzuweisen ist außerdem auf die bedeutende Rolle der Musik für das gesellige Beisammensein auf den ländlichen Villen. Der Bildtypus des Concert champetre, zu dem Giorgione, Jacopo Palma il Vecchio und nicht zuletzt Tizian beigetragen haben, macht die Verbindung von Musik und Natur sinnfällig.34 30
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Vgl. James Haar: Notes on the Dialogo della musica of Antonfrancesco Doni. In: Music & Letters 47 (1966), S. 198-224. Vgl. auch Martha Feldman: City culture and the madrigal at Venice. Berkeley u.a. 1995, S. 3-23. Frank A. D'Accone: Transitional Text Forms and Settings in an Early 16th-Century Florentine Manuscript. In: Words and Music - The Scholar's View: A Medley of Problems and Solutions Compiled in Honor of A.Tillman Mcrritt by Sundry Hands. Hg. von Laurence Berman. Cambridge 1972, S. 29-58. Vgl. auch Howard Mayer Brown: Chansons for the Pleasure of a Florentine Patrician: Florence, Bibliotcca del Conservatorio di Musica, MS Basevi 2442. In: Aspects of Medieval and Renaissance Music: A Birthday Offering in Honor of Gustave Reese. Hg. von Jan LaRuc. New York 1966, S. 55-66. Meier: Zur Chronologie (wie Anm. 5), S.73. Vgl. auch A r m e n Carapetyan:: The Musica Nova of Adriano Willaert. In: Journal of Renaissance and Baroque Music 1 (1946/47), S. 200-221. Meier: Zur Chronologie, (wie Anm. 5), S.75IT. Vgl. auch Feldman: City culture (wie Anm. 30), S.83ff. Vgl. Norbert Huse und Wolfgang Wolter: Venedig. Die Kunst der Renaissance. Architektur, Skulptur, Malerei, 1460-1590. München 1986, S.291IT.
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Zur Verbreitung des in den exklusiven Akademien anerkannten Ruhms Willaerts trug die publizistische Tätigkeit Zarlinos entscheidend bei; er nennt Willaert einen neuen Pythagoras, der alle Möglichkeiten sucht. Der musico perfetto, als dessen Urbild Willaert anzusehen ist, verbindet für Zarlino praktisches Können mit der Einsicht in die theoretischen Gründe seiner Kunst, zu der auch die philosophischen Grundlagen der Musikanschauung gehören. Der historisch evidente und sehr spezifische Bezug Zarlinos auf seinen Lehrer Willaert stellt im Zusammenhang mit dem Werk Willaerts einen Glücksfall dar, relativiert aber umgekehrt auch die Möglichkeit der Übertragbarkeit der von Zarlino im Bezug auf Willaert entwickelten Begriffe und Kategorien auf andere musikhistorische Phänomene. Die Istitutioni harmoniche sind nicht Dokument der Musikanschauung der italienischen Renaissance an sich und schon gar nicht unmittelbar auf die Verhältnisse in Deutschland, Frankreich und Spanien übertragbar. Zarlinos Istitutioni sind Teil jenes Assimilationsprozesses, der die Tradition der mittelalterlichen Musikanschauung mit dem Neuen der Renaissance vereinigt. Anknüpfend an Tinctoris und Gaffurius sind die Istitutioni Dokument eines empirischen Interesses an der Natur, sie zeigen, daß der Aristotelismus in Italien im 16. und später noch im 17. Jahrhundert eine intensive Entwicklung erfuhr, der auch für die Musikanschauung von großer Bedeutung ist. So liefert die aristotelische Philosophie die zentralen Grundbegriffe für die wissenschaftliche Begründung der Musik bei Zarlino. Erkennbar 1. an der Verwendung des Begriffspaares forma und materia, 2. der konsequent teleologischen Betrachtungsweise der Musik und 3. ihrer Auffassung als nachahmende und affekterregende Kunst. 35 Wenn man Zarlinos Zugehörigkeit zum Orden der Kapuziner bedenkt, in dessen Spiritualität der Thomismus und der Aristotelismus von großer Wichtigkeit sind, überrascht dies kaum. In den einleitenden Kapiteln der Istitutioni bietet Zarlino seine Sicht auf die mittelalterliche Tradition. Mit ausdrücklichem Bezug auf die Autorität Aristoteles betont er in den Sopplimenti musicali die Wichtigkeit der Beachtung des Prinzips der Imitation durch den Komponisten: Ma perche non e cosa di poca importanza non solo nella Poesia, come c'insegna Aristotclc; ma anco nclla Musica, la Imitationc ö Attionc; anzi c una dcllc parti principals che debbe haver'il Poeta & il Musico [...] il Melopeio ö Compositore che lo vogliamo dirc. 36
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Vgl. Zenck: Musikanschauung (wie Anm. 2), S. 543. Gioscffo Zarlino: Sopplimenti musicali. Venedig 1588 (Monuments of Music and Literature in Facsimile. Second Series - Music Literature, Bd. 15). New York o.J., Cap. XI. (»Dell'Imitatione, che si puö far nel comporre & recitar la Musica ö Melopeia«), S. 316.
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Nachdrücklich betont Zarlino, daß es sich bei der Imitation um den Ausdruck der Textaussage handelt (»imitar con la Modulatione & con l'Harmonia; con quel modo migliore ch'ei puö fare, quello che esprimono le parole contenute nell'Oratione«). 37 Bezeichnenderweise verwendet Zarlino den vieldiskutierten Begriff der Musica poetica nicht, seine Verwendung ist auf das Milieu der protestantischen Musikpraxis Nord- und Mitteldeutschlands beschränkt. Stattdessen adaptiert er im Zusammenhang mit dem auf Imitation begründeten Schaffen von Musik den antiken Begriff der melopoeia,38 Doch geht auch die von Zarlino nicht gebrauchte Einteilung des Musikbegriffs in die Kategorien von Musica poetica, als Bezeichnung des Komponierens von Musik, in musica practica, der Aufführung von Musik sowie musica theorica, den philosophischen Grundlagen der Musik, auf Aristoteles' Einteilung (Nikomachische Ethik) von poiesis und praxis zurück.39 Diese historische Dreiteilung des Musikbegriffs determiniert das Vorgehen der Interpreten dieser Musik. Denn nur die zusammenführende Untersuchung der Techniken des Machens, der Bedingungen von Genese und Aufführung der Werke sowie ihrer philosphischen Grundlagen erlaubt eine adäquate Deutung. Nachdem die Bedeutung der musica practica und der musica theorica im Hinblick auf Willaert dargestellt wurde, ist abschließend der Aspekt des »Gemachtseins« darzustellen.
III. Wie die Mehrzahl der Madrigale der Musica Nova, so ist auch ein großer Teil der Motetten der Musica Nova geraume Zeit vor ihrer Publikation und im Zusammenhang mit den Akademien in den 1540er Jahren entstanden.40 In der Widmungsvorrede von Francesco Viola an Alfonso II. d'Este wird ausdrücklich der Sammlungscharakter betont. Von den 33 Motetten der Sammlung sind vier vierstimmig, zwölf fünfstimmig, zwölf sechsstimmig und fünf siebenstimmig. Zieht man in Betracht, daß von den 173 Motetten Willaerts 78, also nahezu die Hälfte, vierstimmig ist, so fällt sofort die Vernachlässigung der Vierstimmigkeit in
37 38 39 411
Ebd. Vgl. hierzu Harrän: In search (wie Anm. 10), S. 123-132. Ebd. S. 126. Vgl. Meier: Zur Chronologie (wie Anm. 5), und Carapetyan: The Musica (wie Anm. 32). Vgl. weiterhin Anthony Ncwcomb: Editions of Willacrt's Musica Nova: New Evidence, New Speculations. In: JAMS 26 (1973), S. 132-145. Vgl. auch David S. Butchard: La Pecorina at Mantua, Musica Nova at Florence. In: Early Music 13 (1985), S. 358-366.
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der Musica Nova auf. Die Vierstimmigkeit ist die stilistische Norm des Motettenschaffens Willaerts in den 1520er und 1530er Jahren, das in den beiden vierstimmigen Motettenbüchern von 1539 zusammengefaßt im Druck erschien. In seinen vierstimmigen Motetten, die sowohl liturgische als auch paraliturgische Texte verwenden, ist eine große Variabilität in der Behandlung der kontrapunktischen Techniken zu beobachten, die von der paarweisen Imitation im Stile Josquins zu mit großer Freiheit gehandhabten Imitationsfeldern reicht. Der Schwerpunkt der Sammlung von 1558 liegt eindeutig auf den je zwölf fünf- und sechsstimmigen Motetten. Bemerkenswert ist weiterhin, daß die Musica Nova sämtliche siebenstimmigen Motetten Willaerts überliefert. Die Schlußfolgerung liegt nahe, daß kompositorische Probleme im Zusammenhang mit gesteigerter Stimmenzahl Willaert in der Spätphase seines Schaffens offenbar besonders interessierten. Dies wird auch dadurch bestätigt, daß von allen sechsstimmigen Motetten nur die im Zusammenhang mit der römischen Begebenheit stehende und bereits 1519 veröffentlichte Motette Verbum bonum41 definitiv ein frühes Werk ist. Einer großen Zahl der insgesamt 38 sechsstimmigen Motetten Willaerts ist die fundamentale Bedeutung von Techniken des Kanons und der Cantus firmus-Bearbeitung gemeinsam. Hinzu kommt, daß auch für die Mehrzahl der fünf-, sechs- und siebenstimmigen Motetten der Musica Nova der stilistische Rückgriff auf kanonische Techniken und einen cantus prius factus charakteristisch ist. Hermann Zenck deutet dieses Phänomen im Sinne einer stilistischen Regression: Nach der monumentalen, darstellerischen Außenwirkung der doppelchörigen Psalmen, nach den Freiheiten der durchimitierenden Technik und der modernen musikalischen Wortauslcgung der früheren SchalTcnspcriodc ist die Rückkehr des Meisters zu spätmittelalterlichen Gestaltungsidealen der Motette von entscheidender Bedeutung. 42
Ein Vergleich der sechsstimmigen Vertonung der Ostersequenz Victimae paschali laudes aus der Musica Nova mit dem vierstimmigen Victimae aus dem zweiten Buch der vierstimmigen Motetten von 153943 zeigt, in welcher Art und Weise sich Willaerts Kompositionstechnik im Verlauf von nahezu zwei Jahrzehnten - so die hier zu Grunde liegende Hypothese - unter dem Einfluß der Diskussion in den Akademien und unter den Auspizien eines aristotelisch geprägten Naturverständnisses gewandelt hat. Für das Victimae 4v. besteht im Jahr des Erscheinens (1539) bei Antonio Gardano in Venedig - dessen Emblem ein von Löwe und Bär gehaltenes Band mit der Aufschrift: »Concordes virtute et naturae miraculis«
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Motetti de la corona. Libro quarto. Venedig 1519. Ottoviano Petrucci (RISM 15193). Zenck: Über Willaerts Motetten (wie Anm. 2), S. 65. Motetti [...] libro sccondo a quattro voci. Venedig 1539.
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zeigt - ein terminus ante quem. Die in der Musica Nova enthaltene Motette Victimae 6v. ist mit ziemlicher Sicherheit in den zwei nachfolgenden Jahrzehnten entstanden. Beide Motetten vertonen den gesamten Text der Ostersequenz, einschließlich des heute nicht mehr gebräuchlichen Abschnitts: »Credendum est magis«. Die Motette Victimae 4v. ist zweiteilig und umfaßt insgesamt 196 Mensuren, von denen 96 auf die Prima pars und 100 auf die Secunda pars (»Die nobis Maria«) entfallen, also ein nahezu hälftiges Verhältnis der beiden Großteile zueinander. Im einzelnen ergibt sich folgende Gliederung der Abschnitte, die sich an den Texteinheiten orientiert: Prima pars 1. Victimae paschali laudes immolcnt Christiani. M. 1 - 1 3 2. Agnus redemit oves: Christus innoccns Patri rcconciliavit pcccatorcs M. 13-34
3. Mors et vita duello conflixere mirando: dux vitae mortuus, regnat vivus. M. 33-54 4. Die nobis Maria, quid vidisti in via? M. 54-72
5. Sepulcrum Christi viventis, et gloriam vidi resurgentis: M. 72-96 6. Die nobis Maria, quid vidisti in via? M. 97-106
7. Angelicos testes, sudarium, et vestes. M. 105-114 8. Die nobis Maria, quid vidisti in via? M. 114-132 9. Surrexit Christiusspes mea: praeccdet suos in Galilacam M. 132-150
10. Credendum est magis soli Mariae veraci quam Judaeorum turbae fallaci M. 148-169 11. Seimus Christum surrexissc a mortuis vere: tu nobis, victor Rex miserere. Μ. 169-196
Die auffällige und in der sechsstimmigen Vertonung nicht wieder begegnende zweimalige Wiederholung von »Die nobis Maria« (Abschnitte 4, 6 und 9) betont das Glaubenszeugnis Maria von Magdalas. Zugleich enthält diese Technik den Hinweis auf den von Willaert vertonten Textgehalt, der vermittels dieses formalen Mittels deutend hervorgehoben wird. Dies ist im Sinne jener eingangs betonten Fortdauer von Auslegungstechniken der Bibelallegorese und ihrer Übertragung auf die Deutung der Musik zu verstehen. Imitation bedeutet hier nicht Darstellung eines dem Text innewohnenden Affektgehaltes - einer im Zusammenhang mit dieser Musik ohnehin ahistorischen und darum zu vermeidenden Kategorie - , sondern allegorische Deutung der Gesamtaussage des Textes. Die Modalität und somit auch die Melodik der vierstimmigen und der sechsstimmigen Motette ist unverkennbar durch den ersten Modus der Sequenz determiniert und erscheint hier auf g transponiert. Die Soggetti der einzelnen Abschnitte sind in Anlehnung an die entsprechenden Abschnitte der Sequenz gebildet. Korrespondieren in Abschnitt 1 von Victimae 4v. Bassus (B) und Altus (A) bzw. Tenor und Cantus (C) - in der Reihenfolge des Stimmeinsatzes - die Soggetti betreffend miteinander, so ist von Anbeginn jede Rigidität in der Beantwortung der Soggetti preisgegeben zugunsten größtmöglicher Individualität der Stimmen. Dieser Umstand, der in personalstilistisch abgewandelter Art und Weise auch für das
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Motettenschaffen der genannten großen Zeitgenossen Willaerts konstitutiv ist, führt dazu, daß zwar die Bezogenheit der Stimmen aufeinander sinnfällig ist, aber durch ein Höchstmaß an varietas an die Grenzen dessen stößt, was noch sinnvoll zu beschreiben ist. Die Konsistenz der Imitationstechnik Josquins ist aufgelöst in ein Verfahren, das - notwendigerweise unscharf - als >ungenaue< Imitation, oder mit Rifkin als >Motivizität< charakterisiert werden kann. Ein Beispiel: der Beginn des dritten Abschnitts (Mors et vita ...)
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»Victimac Paschali - Die Nobis«, Auszug. Adrian Willacrt: O p e r a omnia, Bd. 2: Motctta IV voeum. Liber secundus 1539 et 1545. Hg. von H e r m a n n Zenck. Corpus mensurabilis musieae, 3 - 2 (American Institute of Musicology. R o m 1950), S.77. Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des American Institute of Musicology.
suggeriert durch die Verwendung des identischen Soggettobeginns in Β, T, A, C (M. 33ff.) den Beginn einer Imitation in enger Verzahnung. Doch nur Β und Α bieten das Soggetto vier Noten lang (M. 33-36) strikt aufeinander beziehbar aus. Dieses Vorgehen darf als typisch gelten. Worin liegen die Gründe und Ursachen hierfür? Gewiß nicht in der als Hauptwesensmerkmal humanistisch geprägter Musik geltenden Textdeklamation und der aus dieser vermeintlich folgerichtig sich ergebenden Deklamationsmelodik. Die große Variabilität der Soggetti bei Willaert läßt sich sinnvoll nicht in das Schema der vorgeblich korrekten Textdeklamation pressen. Hätte sich Willaert von diesem System leiten lassen, so resultierte aus ihm gerade eine rigide gehandhabte Imitationstechnik. Denn für jeden Textabschnitt stünde dann ja ein Deklamationsmotiv bereit, das aus dem Wesen des
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Textes selbst zu resultieren scheint und gerade deshalb Gültigkeit für alle Stimmen besitzt, die denselben Text tragen. Bleiben wir bei dem herausgegriffenen, repräsentativen Beispiel. Fast jede Mensur des Abschnitts (M. 33-47) bietet auf dem Grundmetrum (in der vorliegenden Übertragung Halbe) einen vollständigen Dreiklang oder doch eindeutig zu interpretierende Zweiklänge im Sextabstand: M. 33 gl M. 34 B, F mit Terz im Baß/ M. 35: g, d/ M. 35: g. d / M. 36: a, d / M. 37: F, g / M . 3 8 _ d , - / M . 3 9 : g , c / M . 40: d, c / M . 41: d, g / M. 42: (a), d / M. 43: C, F / M . 44: B, C / M. 45: G, F mit Terz im B a ß / M. 46: g, F / M. 47: Β
Zarlino nennt Willaert einen »neuen Pythagoras«; die Legende von der Erfindung der Harmonie anhand ihrer akustischen Gesetzmäßigkeiten führt dazu, daß Willaert eine tradierte Technik der Komposition abwandelte, um sie, jenseits der zahlenmäßigen Grundlagen der Musik, der tatsächlich erklingenden musikalischen Realität näherzubringen. Natürlichkeit bedeutet, einem Imitationsprinzip zu folgen, das sein Ziel darin sieht, den Gehalt des gesamten Textes und nicht einzelne Worte darzustellen (vgl. die zweimalige Wiederholung des Die nobis, hierzu oben S. 82). Bedeutet demgegenüber das Victimae paschali laudes 6v. von 1558 mit den Worten Zencks eine »Rückkehr zu spätmittelalterlichen Gestaltungsprinzipien der Motette« und somit die Abkehr vom aristotelischen Naturbegriff, wie er sich in Zarlinos Istitutioni Harmoniche dokumentiert? Zunächst die Gliederung des 163 Mensuren zählenden, gleichfalls in Prima und Secunda pars geteilten Opus. Auch hier liegt, womöglich fundamentalen Überlegungen zur Symmetrie folgend, die Teilung ziemlich genau in der Mitte (M. 80/81). 1. Victimae paschali laudes immolent Christiani. M. 1 - 2 6 2. Agnus redemit oves: Christus innoccns Patri rcconciliavit pcccatorcs. M. 25-51 3. Mors et vita duello conflixere mirando: dux vitae m o r t u u s regnat vivus. M. 50-80 4. Die nobis Maria, quid vidisti in via? M. 81-93 5. Sepulcrum Christi viventis, et gloriam vidi resurgentis M. 93-107 6. Angelicos testes, sudarium et vestes. M. 104-114 7. Surrcxit Christius spes mca: pracccdct suosin Galilacam M. 114-127 8. C r e d e n d u m est magis soli Mariae veraci q u a m J u d a e o r u m t u r b a e fallaci M. 126-145 9. Seimus Christum surrcxissc a mortuis vere tu nobis victor Rex miserere. Μ. 143-163
Der Cantus firmus erscheint in der Prima pars dreimal: 1. in der Quinta vox (V), Μ. 3-12, 2. in der Sexta vox (VI), M. 26-31 und 3. nochmals in der VI, M. 51-62. Ohne erkennbare Systematik rhythmisiert - etwa im Sinne der isorhythmischen Tradition - , ist der Cantus firmus doch durch die Größe der Notenwerte vom Kontext abgesondert und somit im hörenden Vollzug gut erkennbar. Die relative Länge der ersten drei Abschnitte - je rund 25 Mensuren - ist auf die Verwendung des Cantus firmus zurückzuführen. Daraus resultiert, daß die Abschnitte 1-3 fast genauso viele Mensuren beanspruchen, wie die gesamte Secunda pars mit den Abschnitten 4-9.
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Die Verwendung des Cantus firmus - von einer Tenorkonstruktion im engeren Sinne der Gattungstradition kann nicht die Rede sein - greift nicht dergestalt in das kontrapunktische Gefüge ein, daß 1. die übrigen Stimmen gemäß der Technik der Choralparaphrase gestaltet sind, noch daß 2. die Dreiklangsbezogenheit der Harmonik infrage gestellt ist. Auch hier, wie in der vierstimmigen Bearbeitung, begegnet das Phänomen der »ungenauen« Imitation, die nicht über die imitatorische Behandlung des Soggetto-Beginns hinausgeht, und - hiervon nicht zu trennen - die dreiklangsbezogene Harmonik. Die Abschnitte 4-6 verzichten auf die Durchführung eines Cantus firmus; die Sechsstimmigkeit der Prima pars wird auf die Vierstimmigkeit zurückgeführt. Der Chor wird in Stimmgruppen aufgefächert - erster Abschnitt: A, V, Τ, B; zweiter Abschnitt: C, VI, Α, Τ und dritter Abschnitt: C, VI, V, Β - und dehnt die varietas der Stimmgestaltung auch auf den Aspekt der Klanglichkeit aus. Mit erneutem Einsatz des Cantus firmus im siebten Abschnitt ist wieder die Sechsstimmigkeit erreicht, die auch nach Aufgabe des Cantus firmus im achten und neunten Abschnitt bis zum Ende beibehalten wird. Resultiert die Verwendung eines Cantus firmus, bei gleichbleibender Technik der Imitation und Behandlung der Harmonik, aus dem angedeuteten Verständnis des Imitationsprinzips? Deutlich ist, daß Willaert der Cantus firmus-Technik eine sehr individuelle Ausprägung und Weiterentwicklung hat angedeihen lassen. Die so erzielte Partizipation an der historisch gewachsenen Dignität dieser Technik wird Willaert als dem Textgehalt besonders angemessen empfunden haben. Nachdem er in der vierstimmigen Motette andere Wege der Deutung des Textgehaltes geht, ist hier die Überbietungsstrategie deutlich. Die von Glarean an Josquin getadelte »ostentatio ingenii«44 ist - positiv verstanden - unverkennbar und wendet sich in der Tat an ein aus Kennern bestehendes Publikum, eben das der venezianischen Akademien. Hinzu kommt, was die Kunstgeschichte im Zusammenhang mit der zeitgenössischen venezianischen Malerei betont, die den Malern erwachsende Möglichkeit, Formen und Themen ihrer Werke autonom zu bestimmen. 45 In dieser neuen Freiheit ist ein wichtiger Schritt zur Emanzipation des Künstlers zu erblicken, den Willaert auch auf dem Gebiet der Musik vollzogen hat. Zusammengefaßt ergeben sich demnach drei Aspekte, die - innerhalb des dargestellten Kontexts der aristotelischen Naturphilosophie - im Zusam-
44
45
Glareanus Henricus Loritus: Dodekachordon. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Basel 1547. Hildesheim 1969, S.444. Vgl. Husc und Wolter: Venedig (wie Anm. 34), S. 248-250.
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menhang mit dem Victimae paschali laudes als »natürlich« verstanden werden können: 1. Die ohne jeden Schematismus - es sei denn man betrachtet die gesteigerte varietas als solche - gehandhabte Imitationstechnik. Sie dient der Realisierung einer Harmoniekonzeption, die auf den akustischen Grundlagen des Tonsystems beruht und die eine Aufweichung der bis dahin normativen Modalität herbeiführt. 2. Wenn seit dem 13. Jahrhundert die Betonung der sprachlich darstellenden Seite der Musik, verstanden als eine auf den Textgehalt bezogene Imitationstheorie, sich vor allem auf Aristoteles berufen konnte, so ist Willaert durch diese Auffassung geprägt. Dies manifestiert sich in den untersuchten beiden Motetten darin, daß Willaert nicht die Außenseite des Textes, sondern den inneren Gehalt desselben vermittels formaler Techniken darzustellen bestrebt ist. 3. Wendet sich Willaerts Musik unmißverständlich, um einen vollkommenen Musikgenuß zu ermöglichen, an den im Sinne von Aristoteles Politik 8 in der musikalischen Kunstlehre Erfahrenen. Oder wie Tinctoris unter Berufung auf Aristoteles formulierte: Perfectio igitur delectationis musicae consistit in eius perfecta cognitione.
Wilhelm
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Anmerkungen zum Verhältnis von Natur und Kunst im Theoriezusammenhang des paracelsistischen Hermetismus
I
Naturae promissio: Paracelsistische Naturphilosophie als hermetistisch überformte Handlungstheorie
»Denn um das Wort Natur machet man in der Welt viel Wesens/ und wenn man nicht weiter kommen kann/ so spricht man/ es ist seine Natur so. Was aber eigentlich Natur sey/ begreyfen wenige/ expliciren es auch nicht/ sondern sprechen: Gott und die Natur. Wann ich solches höre/ so kommt es mir/ als ob Gott einen Mit=Gehülffen hätte haben müssen.« Der seinerzeit berühmte Chemiker Johannes Kunckel von Löwenstern (um 1631/34— 1703), bekannt als Mitentdecker des Phosphors und als Erfinder des Rubinglases, formulierte diese spöttische Diagnose im Vorspann seines umfangreichen, postum publizierten Collegium Physico-Chymicum Experimentale (zuerst Hamburg und Leipzig 1716).1 Zugleich hatte er sich gegen den Vorwurf des >Atheismus< zu wehren, weil er die Frage nach dem >Kraftwort< der >Natur< in einen Untersuchungszusammenhang auflöste, der im nur noch lockeren Rekurs auf Dogmen der Schöpfungstheologie vor allem die Rolle der Elemente und Qualitäten (Wasser, Feuer, Kälte und Wärme) im Zusammenwirken eines materiellen Prinzips (Materia unctuosa) und einer materialisierten Zeugungskraft (Sperma universale) zur Sprache brachte. Kunckel vernachlässigte vorab den im naturrechtlichen Denkhorizont der Frühaufklärung offenbar bereits inflationär abgenutzten Leit- und Kontrollbegriff der >NaturInnern< der Natur, demzufolge c) das Problem einer chemischen Analyse und Synthese dieser >Prinzipien< und damit auch das Problem der >künstlichen< Produktion materieller Stoffe bzw. lebenserhaltender oder lebensverlängernder Arzneien. Von dieser Zurückhaltung gegenüber einer abstrakt und nicht >empraktisch< formulierten oder einer nur systemtheoretisch interessierten Naturphilosophie war auch der alchemisch tingierte Paracelsismus 2 in seiner Gründungsphase, also der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, geprägt. Unter dem Begriff des >Paracelsismus< haben wir weitläufige szientifische und epistemologische, zugleich gesellschafts- und wissenschaftskritische, bald auch theologisch aufschlußreiche Theorieformationen zu verstehen, die - bis vor kurzem überwiegend im Dunkeln liegend - ab 1560 in Gestalt einer spektakulären Publikationsoffensive Schriften und Gedankengut des
2
Die alchcmohcrmctischcn Gcdankcnkonstruktc des Paracclsismus sind sachlich und methodisch strikt zu trennen von der tatsächlich oder auch nur vermeintlichen Rolle des Paracelsus als Alchemikers; zu letzterem s. Joachim Telle: Paracelsus als Alchemikcr. In: Paracelsus und Salzburg. Hg. von Heinz Dopsch und Peter F. Kramml. Salzburg 1994 (Mitteilungen der Gesellschaft für die Salzburger Landeskunde, Erg.Bd. 14), S. 157-172. - Zur Bestimmung und historischen AusdilTcrenzicrung des Alchemiebegriffs und der fluktuierenden Praktiken im europäischen Zusammenhang, wenn auch auf das französische geistige Ambiente konzentriert, nun besonders empl'chlcnswcrt (in der Überfülle der hier ungenannten Literatur) die große Untersuchung von Didier Kahn (dem maßgeblichen französischen Kenner): Paracelsisme et alchimie cn Francc ä la Tin de la Rcnaissancc (1567-1625). These, Univcrsitc de Paris IV, 1998 demnächst als Buch erscheinend; einen ersten Überblick über das heikle Terrain bieten die Artikel zum Komplex >Alchcmic< bzw. >Natur< in: Alchemic. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. Hg. von Claus Pricsncr und Karin Figala. München 1998. Ich halte mich gern an eisagogische Definitionen von Zeitgenossen, wie etwa die eines gewissen, die geistige Nachfolge des (Pscudo-) Raimundus Lullus antretenden Christophorus Parisiensis: »Alchymia est ars administratoria in hoc excellenti magisterio, per quam et media ncccssaria (ut sunt l'ornaccs, vasa, mcnsurac et ignes ordonati) perficitur nostrum coelum vegetabile et minerale: E t noster Mercurius gloriosus sublimatur, quem de sua terra aut massa confusa extrahimus et deinde per ignem simplicem ad medium et naturam coelcstcm, circulationis ope redueimus, ad secundum verö medium per sublimationem. Adeö ut per ista media naturalia et convenientia nos formemus ilium, et faciamus ilium prodirc ad dignitatem coclcstcm: Per hoc et Mcrcurium sublimatum elementa luminarium elevantur ad verissimam vegetationem et depurationem, adeö ut postca, per hacc luminaria actualitcr ineipiant argentificare et aurificarc metalla imperfecta, et congclarc Mcrcurium vulgarem cum transmutatione perfecta.« Hier nach dem Abdruck in: Theatrum Chemicum. Bd. VI, Ausgabe Straßburg 1661, Nachdruck Turin 1981, S.213I'. - Einblicke in die laborantischc Praxis, verbunden mit dem Studium der Quellen im Netzwerk genannter und verheimlichter Informanten, bietet die einschlägige, jedoch bisher noch weitgehend ungcdrucktc Korrespondenz, sichtbar nun exemplarisch in: Oswaldus Crollius: Alchemomedizinische Briefe 1585 bis 1597. Hg., übersetzt und erläutert von Wilhelm Kühlmann und Joachim Teile. Stuttgart 1998 (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit, Bd. 6).
Anmerkungen
zum Verhältnis von Natur und Kunst
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Paracelsus, dabei auch vieler Pseudo-Paracelsica, zu systematisieren versuchten, in und außerhalb der Reichsgrenzen verbreitet wurden und dabei oft genug den engsten geistig-geistlichen Schulterschluß mit verpönten Gruppen des häretischen Protestantismus (Schwenkfeldianer, Weigelianer) anstrebten oder sich in diesem Bündnis nach Logik der antiakademischen Konfrontation - aus eigener Sicht und in der Sicht der Gegner - historisch zwangsläufig wiederfanden. 3 Die drei Gründergestalten des Paracelsismus (mit je einem opulenten, schwer überschaubaren Werk) gehörten - bald mit Ausstrahlungen an den Niederrhein und nach Schlesien - zum intellektuellen Milieu des Oberrheins zwischen Basel, Straßburg und Frankfurt am Main: nämlich der akademisch ausgebildete Basler Arzt Adam von Bodenstein (1528-1577; Sohn des Luther opponierenden Reformators), der Humanist, Sturm-Schüler und zum Alchemoparacelsismus bekehrte außerakademische Mediziner Michael Schütz, genannt Toxites (1514-1581, in Straßburg und Hagenau praktizierend) und der aus Belgien stammende >Dunkelmann< Gerhard Dorn (ca. 1530/35-nach 1584), eine mit verstreuten Schwenkfeldianern 4 engstens liierte Schlüsselgestalt in der auf Jacob Böhme und die Rosenkreuzer zulaufenden theosophischen Spiritualisierung und ausdrücklichen Hermetisierung 5 des ursprünglich medizinisch-therapeutisch ausgerichteten Theophrastischen Denkens. 6 Von >Natur< wurde in 3
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Ich fasse hier formelhaft die Einleitung und den Gegenstands- bzw. Problembereich des ersten Bandes eines mehrteiligen Dokumentationswerkes zusammen und verweise aul' die dort bcigcgcbcncn umfangreichen bibliographischen Hinweise sowie wirkungs- und theoriegeschichtlichen Ausführungen (im folgenden zumeist stillschweigend vorausgesetzt): Corpus Paracclsisticum [hier zitiert als CP 1]. Dokumente Irühneuzeitlicher Naturphilosophie in Deutschland. Bd. 1: Der Frühparacelsismus. Erster Teil. Hg. und erläutert von Wilhelm Kühlmann und Joachim Teile. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit, Bd. 59); mittlerweile crschicn dass. Zweiter Teil. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit, Bd. 89), im folgenden zitiert als CP 2. Zu nennen ist hier vor allem der zcitwciscndc in Tübingen lehrende, von dort nach Bruchsal emigrierte und als Oberhaupt der regionalen Schwenkfeldianer angesehene Mediziner und Mathematiker Samuel Sidcrocratcs (d.i. Eiscnmcngcr, 1534-1584), Herausgeber (und Mitverfasser?) einer an kulturkritischer Schärfe nicht zu überbietenden Cyclopaedia Paracelsica Christiana. o.O. (Straßburg) 1585; dazu Stefan Rhein: Die Cyclopaedia Paracelsica Christiana und ihr Herausgeber Samuel Sidcrocrates: Enzyklopädie als anti-humanistische Kampfschrift. In: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Hg. von Franz M.Eybl [et aliis|. Tübingen 1995, S. 81-97; weiteres zu ihm in CP 2, Nr. 85-87, spez. S. 879-894. Paracclsus als neuer Hermes Trismcgistos: »magnus illc Philosophus nostri temporis [...] Tcrmaximus cum Trismcgisto non immerito appcllandus«; so in der Widmungsvorrede an Erzherzog Ferdinand von Österreich in Dorns kommentierter Ausgabe von Paracclsus' Archidoxorum Libri X. Frankfurt/M. 1584. Zu Bodenstein grundlegend die Biographie und das kommentierte Textcorpus in CP 1; Toxites und Dorn sind mit größeren Textkorpora bedacht in CP 2; vgl. auch die neueren Studien zu Toxites von W. Kühlmann: Humanistische Verskunst im Dienste des Paracelsismus. Zu einem programmatischen Lehrgedicht des Michael Toxites (1514-1581). In: Etudes Gcrmaniqucs 50 (1995), S. 509-526; zu Dorn grundlegend
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dem hier anhängigen Schrifttum kaum in problematisierend-definitorischer Trennschärfe, sondern zumeist in propädeutischer oder methodologischer Absicht, in der Regel zugleich mit apologetischer oder gar polemischer Zielrichtung gesprochen. Es ging um die Bestimmung des einzig sinnvollen und >zielführenden< Gegenstandsbereichs und Erkenntnisvollzugs, um die Axiomatik und die Voraussetzungen der naturkundlichen, zumeist auch laborantischen, mit Kohle und Feuer hantierenden Praxis, in summa um die Erfolgsbedingungen wissenschaftlichen Handelns als einer Kopf und Hand gleichermaßen beanspruchenden >Kunstausübung< (ars) des Wissenschaftlers (artifex), der letzten Endes nach dem großen >MagisteriumNatur< war demnach vorab in erster Linie handlungstheoretisch verankert, 7 d.h. a) in der methodologischen und erkenntniskritischen Absetzbewegung von den Lehr- und Lernpraktiken bzw. den doxographischen Beständen und terminologischen Vorgaben der akademischen (galenistischen) Medizin bzw. der aristotelisch-hylemorphistischen Naturdoktrin, d.h. aber generell der humanistischen, textexegetisch gebundenen und akademisch monopolisierten Naturphilologie. Nach Bodensteins grundsätzlicher Abrechnung mit dem aristotelischen Kategoriengebäude 8 werden die ersten >Prinzipien< des Aristoteles (Materie, Form, Formberaubung, d.h. privatio oder steresis) weder vom Verstand noch von den Sinnen begriffen. Was bei Aristoteles zu lesen ist, handelt von >Fiktionennaturae scientia< zu tun. Woraus ein jeder Körper zusammengesetzt ist, läßt sich nur experimentell erforschen, indem man ihn in seine nicht mehr weiter aufzulösenden Elemente zerlegt, also in die >Tria Prima< des Paracelsus (Schwefel, Mercurius und Salz); b) in der Begründung des eigenen spirituellen oder verhaltenstypischen Habitus im Rechtfertigungskontext alchemisch-experimenteller An-
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Didicr Kahn: Lcs debuts de Gerard Dorn d'aprcs lc manuscrit autographe de sa »Clavis totius Philosophiae Chymisticae« (1565). In: Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Thcophrast von Hohenheims im deutschen Kulturgcbict der Truhen Neuzeit. Hg. von Joachim Teile. Stuttgart 1994 (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit, Bd. 4 ), S. 59-126; zu Dorns Doktrin s. die sehr knappe Zusammenfassung von Jcan-Francjois Marquct: Philosophie et Alchimie chcz Gerhard Dorn. In: Alchimie et Philosophie ä la Renaissance. Hg. von Jean-Claude Margolin et Sylvain Matton. Paris 1993, S. 215-221. Vgl. zum folgenden Versuch einer topologischen Zusammenfassung die exponierenden Darlegungen - mit jeweiligen Bclcgnachwciscn - in CP 1, Einleitung, S. 15-37. Im Widmungsschreiben an Wolfgang von Hapsberg, vorangestellt der zweiten Ausgabe von Paracelsus' De vita longa. Basel: Pietro Perna o.J. [1562]; s. den Abdruck mit Kommentar in CP 1, Nr. 10, S. 202-265.
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strengungen, oft in der begleitenden Rekapitulation geschichtstheologischer und sozialphilosophischer Dringlichkeitsmaximen und Legitimationsmodelle, nicht selten zugleich in dem - auch lexikalisch systematisierten - Bemühen um terminologische Abklärung und semantische Absicherung einer alternativen, diesfalls paracelsistisch dominierten, wenn auch oft ältere Literaturbestände assimilierenden Fachsprache 9 in der Spannung von nutzbringender Enthüllung und esoterischer Verhüllung eines Geist und Körper betreffenden, ja theologisch-kosmologisch gegründeten Heilswissens. Die wissenschaftliche Moderne gilt so den Paracelsisten zwar als - ggf. joachimi tisch interpretierte - Epoche oder Gnadenzeit 10 einer restauratio des verlorenen Wissens, steht jedoch, auch wenn sich in Paracelsus schon der >neue Hippokratesneue Hermes< oder der versprochene >Elias Artista< (>reparator omniumadeptische< Weisheit gewährt, die vollends erst am Jüngsten Tag mit der Wiederkehr Christi allen offenbar wird.11 Durchgehend erhielten sich dabei Leitvorstellungen, die beispielsweise schon das spätmittelalterliche Rosarium Philosophorum in generalisierender, später immer wieder neuformulierter Weise festschrieb, nämlich die Maxime des >sequere naturam< oder die Rede von der >dux naturawahren< Natur ex negativo und gleichsam präliminarisch zur Sprache. Es ging hier auch um Verständnisvoraussetzun-
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Diese Sprachdiskussion, in deren Mittelpunkt das hcrmcncutisehe Problem der »Dunkelheit« der »neuen« Begriffe und der »integumentalen« Bildlichkeit nicht nur des Paracelsus, sondern der übergreifenden alchcmohcrmctischcn Idiomatik stand, durchzog in pro und contra das gesamte paracelsistische und antiparacelsistische Schrifttum; vgl. CP 1, S. 30-32 und passim, sowie exemplarisch an einem Text des Toxites (mit Hinweisen auf die ältere Literatur ) W. Kühlmann: Rätsel der Wörter - Zur Diskussion von >Fachsprache< und Lexikographie im Umkreis der Paracelsisten des 16. Jahrhunderts. In: Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag. Hg. von Vilmos Agel, Andreas Gardt, Ulrike Haß-Zumkchr und Thorsten Roclcke. Tübingen 2002. ZurEpochendiagnose s. die Zusammenfassung in CP 1, S.20I. sowie spez. zur Figur des Elias Artista, bedeutsam auch im Massiv der Rosenkreuzerschriften und im Briefwechsel der Böhme-Anhänger (Abraham von Franckcnbcrg meinte, Paracelsus, Postel und Campanella hätten sich als Elias Artista zu erkennen gegeben), bes. S. 465f. Vgl. die ausdrücklich in diesem johanncischcn Aussageduktus vcrl'aßten Vorreden Gerhard Dorns (an Siderocrates bzw. an den Leser) zu seinem Dictionarium Theophrasti Paracelsi. Frankfurt/M. 1584. Nachdruck Hildesheim, New York 1981; abgedruckt, übersetzt und kommentiert in CP 2, Nr. 90, S. 948-956.
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gen, die den Begriff des >Philosophen< im weiten Feld alchemischen, meist hermetisch gefärbten Schrifttums im allgemeinen und in dem des Paracelsismus im besonderen umstandslos mit dem des naturkundlichen, alchemisch bewanderten Praktikers zur Deckung brachten:12 Consulo autcm ut nemo sc arti huic intromittat ad inveniendum, nisi prineipium vcrae naturae et eius regimen agnoscat, qua cognita pluribus non indiget rebus. [...] Quarc illud petimus, omnes extra naturam laborantes deeeptos esse ac dcceptores. Igitur in natura nostrum sit excrcitium, et intentum obsequium: Quia lapis nosier est de re animali, vegetabili et minerali. [...] Quantumcunque enim diversificetur eius nomina, tarnen semper una sola res est, et de cadcm rc, non introducitur in naturam, quod in ea non est de sua natura. [...] Igitur venerabili utimini natura, quia ex ea et per cam et in ca [bcachtcnswcrt hier die liturgische Sakralformcl wie später in Paracclsus' Paragranum, W. K. ] gcncratur ars nostra, et non in alio. Et idco magisterium nostrum est opus naturae et non opificis.
Daß die Kunst (ars) in der Zubereitung des (>philosophischenFormars autem nostra iuvat naturamunreinen< Stoffen, abarbeite und sie in diesem Arbeitsprozeß >perfektionierehimmlischer< (durch >hermetische< Influenz wirksamer) Kräfte (>vires< oder >virtutesocculten< Wirkungszusammenhänge. 14 Postulate der Nachfolge der Natur einerseits und des Eindringens in ihre geheimsten Prinzipien andererseits, wodurch alle alltagsweltliche Sinnfälligkeit und rein extensive Materialität überwunden werden sollte, verschränkten sich dabei in je verschiedener kontextueller und argumentativer Anbindung. Mit diesbezüglichen Überlegungen über die Konkordanz von >ingeniumars< und >natura< konnte beispielsweise Gerhard Dorn Bestände der alchemischen Theorietradition sowohl mit den >Alten< vermitteln als auch seinem Gönner, in diesem Fall dem einschlägig interessierten Pfalzgrafen Reichard von Pfalz-Simmern (1521-1598), nahebringen. Die im folgenden zitierte Passage läßt nicht nur die Anverwandlung aristotelischer Termini (forma, materia, actus) und den Leitgedanken der >Perfektionierungin inferioribus ... actione superiorumVersprechen< und dem >Lauf der Naturfinale< - nicht selten auch eschatologisch gedachte - Vervollkommnung des Wissens induziert. So stellvertretend für viele Gleichgesinnte der berühmte polnische Alchemiker Michael Sendivogius (1566-1636) zu Beginn seiner vielgedruckten Duodecim Tractatus de Lapide Philosophorum (zuerst Prag 1604), d.h. im Einleitungskapitel »De Natura, quidnam ea sit, et quales ejus debeant Scrutatores«:18 Nam indita est naturae promissio quaedam ab initio, ut per cursum integrum possit ad mcliora venire, et requiem habere plcnariam, ad quam omni conatu tendit, et gaudet suo line, non alitcr, ut Formica senio, cui in senectutc natura ercat alas: ita nimirum et nostra ingenia, eousque progressa sunt, praesertim in arte Philosophica, seu Lapidis praxi, ut jam l'crc in ipsum Iliadum pcrvcncrimus. Nam ars Chymiac cjusmodi subtilitates nunc invenit ut vix majores possint reperiri, et eatenus differt a veterum Philosophorum Arte, prout Faber Horologiorum, a simplici Fabro ferrario; et liect ambo tractent ferrum, nihilominus neuter sciret alterius labores, quamvis ambo sint in sua arte Magistri. Si hodie revivisceret ipse Philosophorum Pater Hermes, & subtilis ingenii Geber, cum profundissimo R A Y M U N D O L U L L O , non pro Philosophie, sed potius Discipulis a nostris Chymicis haberentur.
Die handlungstheoretische und dezidiert empraktische Fixierung der alchemisch-paracelsistischen Naturdoktrin muß auch als Grund dafür gelten, daß die Musterung einschlägiger und seinerzeit bekannter paracelsistischer Lexika bzw. Onomastica (Bodenstein, Dorn, Ruland) keine Notate unter dem Lemma >Natur< nachweisen kann - ein Befund, der sich bei den Registern der Huserschen Paracelsus-Ausgabe grundsätzlich bestätigt. Es hat den Anschein, daß sich - wohl noch nicht im Spätmittelalter, also im Einzugs- und Definitionsbereich der Spätscholastik (etwa bei PseudoLullus)19 - sehr wohl aber in der antiakademischen, oft häretisch gefärbten 17
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Vgl. zum Excmpcl Toxitcs in einem paraeclsistischen Lehrgedicht im Zusammenhang des Antimonstreits: Text und Erläuterungen bei Kühlmann (1995, wie Anm. 6) oder das unten abgedruckte Bodenstein-Zitat aus einer Widmungsvorrede an die Signoria von Venedig (CP 1, Nr. 6). Aus: Divi Leschi Genus Arno (Anagramm für Michael Sendivogius) Duodecim Tractatus de Lapide philosophorum (zuerst Prag 1604), hier nach: Theatrum Chcmicum. Bd. IV. Straßburg 1659, Nachdruck Turin 1981, S. 420-447, spez. S.421. Z u dem weit bis ins 18. Jahrhundert gesuchten und gerühmten Autor s. den Artikel von Karin Figala (sub verbo). In: Pricsncr/Figala (Alchemic, wie Anm. 2), S. 332-334. Vgl. das im vierten Band des Theatrum Chemicum (Straßburg 1659, Nachdr. Turin 1981) abgedruckte berühmte Tcstamcntum Magistri Raymundi Lulli, et primum de Theorica, hier eine definitorische Kosmologie als Kosmogonie im Blick auf die »naturae opcrationcs«, angefangen bei der obersten und reinsten, direkt im Schöpfungsakt hervorgebrachten Substanz der Quinta essentia, »in qua tota natura comprehenditur« (S. 6) Hier auch der Blick auf die nachfolgende, unvollkommene »Natur«, die es zu perfektionieren gilt (S.7): »Nam una ab alia pcrficitur, per concordantiam proprictatum
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Oppositionsbewegung der Frühparacelsisten das Interesse an einer etwaigen axiomatischen Neubestimmung des universalen Naturbegriffs zugunsten einer eher provisorischen Topik der Natur als Substrat spagyrisch-magischer Naturbeherrschung und Transmutationsphilosophie zurückbildete. Jedenfalls bestätigt sich diese Defizienz auch dann, wenn man - zum Vergleich des akademischen Wissenshabitus - das Lehrbuch eines namhaften Aristotelikers, des partiell allerdings auch paracelsistisch tingierten Wittenberger Professors Daniel Sennert (1572-1637), nämlich seine Epitome Naturalis Scientiae (zuerst 1600, hier nach der dritten Auflage, Wittenberg 1623) konsultiert. Das umfangreiche erste Kapitel begründet die Naturlehre als >Physica< in der ausführlichen Diskussion des mittlerweile problematischen Naturbegriffs, um schließlich - akademischer Pflicht gemäß - >Natur< als Gegenstands- und Problembereich insgesamt unter den aristotelischen Lemmata der causae, der quantitas, qualitas, des locus, tempus und motus vorzutragen. Seinen Studenten konnte und wollte Sennert freilich nicht verhehlen, daß selbst in der aristotelischen Domäne über den Gegenstand der Naturwissenschaft (>Scientia naturalisnonnulla inter auctores controversial zu verzeichnen seien (S. 21f.): Graeci plerique interpretes Physicae subjectum statuerunt corpus naturale; Thomas cns mobile; Albertus & Aegidius corpus mobile, Scotus substantiam naturalem; Toletus Ens naturale; alii naturam & Deum & Angelos, & corpora omnia intelligentes [so!]; Alii itidem Naturam, cam pro omnibus ad res naturales pertinentibus, vcluti sunt non solum composita corpora, sed etiam prineipia & affectiones, aeeipientes; Alii Ens mobile; per Ens mobile non solum, sed etiam matcriam & formam: Alii corpus naturale mistum; Alii, corpus caducum, scu generationi & eorruptioni obnoxium.
Von derartigen Distinktionen führte so gut wie keine Brücke zum Paracelsismus, auch nicht zu jenen meist synkretistischen Reflexionen eines neuen, ins 17. Jahrhundert weisenden funktional-dynamischen Naturbegriffs, der sich nicht nur im Namen des Hohenheimers, sondern auch sonst im gesamten Einzugsbereich der europäischen Spätrenaissance (etwa bei Telesio und Patrizi) wider den aristotelischen Dogmatismus entfaltete. 20
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suarum, et earum quinti instrumenti, rei coelestis partieipantis, et in ilia, quae ab illis clcmentis postca dcscendit, cum parva natura, pcrtcctionc scilicet generationis, et corruptions, et e converso, quia suus instinetus vel appetitus immediate veniens est ä creationc naturae. Et ideo non pcrl'ectum est omnino, quod agit natura, respectu pcrfcctionis, quae ä Creatore venit, non per naturam. Ille enim instinetus vel appetitus naturae, non potest rem pertcctam taccre, nisi perliciatur divina scientia intellectuali, sicut in humana natura, quae est rcctil'icata per intelligcntiam divinam, sicut per bonum artificem opus pulchrum et bonum perficitur.« - Zum pseudo-Lullschen Textcorpus (wohl auch Gerhard Dorn stark bccintlusscnd) und seinen bislang ungenügend erforschten Rezeptionsmodi und Rezeptionswegen s. den Artikel sub verbo >Lullus< von Antonio Clcricuzio in Priesncr/Figala (Alchemic, wie Anm. 2), S. 224-227. Dazu die instruktive Studie von Thomas Leinkauf (mit weiteren Literaturhinweisen): Der Natur-Begriff des 17. Jahrhunderts und zwei seiner Interpretamente: »res extensa« und »intimarerum«. In: Berichte zur Wisscnschattsgeschichtc 23 (2000), S. 399-418.
Anmerkungen
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Lumen naturae - experientia - natura maga - physica sacra: Doxographische Positionen und Entwicklungslinien des Paracelsismus
In einem lateinischen Widmungsschreiben vom 29. Januar 1560 an die Signoria von Venedig aus der Feder Adam von Bodensteins wurde die geschichtsphilosophische Basis des historisch fälligen Autoritätenwechsels wie folgt formuliert (ich übersetze): 21 Im Ganzen der Natur, hochcrlauchtc und äußerst kluge Männer, ist offenbar nichts so sehr tief im Innern verschlossen, verdeckt und verborgen, daB es nicht allmählich (mit Gottes Hilfe) unter Aufwendung aller Mühen herausgefunden werden, durch den Fleiß der Mcnschcn seiner Hüllen entledigt und gewissermaßen mit einem wunderbaren Licht entdeckt werden könnte. Denn wir sehen, daß im Fortgang der Zeit sehr viel Neues und Außerordentliches gefunden wird, durch wclchcs der ewige Vater fortwährend seine höchste Gunst und seine einzigartige Liebe gegenüber dem Menschengeschlecht bekundet: Weil er nämlich - selbst das höchste seiende Gut, Anfang und E n d e - so, wie er alles zum Nutzen der Mcnschcn geschaffen hat, diese [Menschen] in einem fort als seine Kinder, durch seinen eingeborenen Sohn ihm wiedergewonnen, hegt, schützt und nach seiner unendlichen Güte, Großzügigkeit und göttlichen Natur mit vielen und mannigfachen Gütern auszeichnet, und keiner von ihnen, wenn er Ihm nur Gehorsam erzeigt, der himmlischen und irdischen Erbschaft beraubt wird, weil E r [Gott] von Natur aus der Beste, Mächtigste, Wohlwollcndstc und Gnädigste ist, zugleich ein Schatzhaus alles Guten, das niemals ausgeschöpft, ja niemals überhaupt an einem Teil vermindert werden kann. Deshalb zeugt es nicht von Frömmigkeit, wenn sich einige darüber beklagen, daß Gott zwar einst unser Vater und seine Natur uns dienstbar, gütig und für alle die große Mutter gewesen sei, daß er nun aber fortwährend selbst einen strengen Stiefvater darstelle und sich die Natur - geänderten Geistes - als harte Stiefmutter erweise - [einige], die, indem sie die Ketzereien eines Markion vermeiden, gleichsam wie Törichtc umgekehrt auf die ungerechtesten Gotteslästerungen verfallen.
Das Vertrauen auf die >Mutter NaturMutationen< gleichbleibenden gütigen Zuwendung Gottes: wider alle markionitischen Ketzereien, implizit aber auch wider alle Vorstellungen einer natura lapsa und wider umgehende Dekadenzdia21 22
Nach dem in CP 1, Nr. 6, S. 111-141, vorgelegten, übersetzten und erläuterten Text. Die allegorische Denkfigur (so schon in der Antike z.B. bei Lukrez 2, 993 oder Cicero, Paradoxa 14, dagegen dann die Vorstellung der noverca natura abgewehrt bei Plinius, nat. hist. 1,1) gehörte zum Reflexionsfundus einschlägiger antiker Formeln, später bercitlicgcnd im Horizont der mittclaltcrlich-scholastischcn, im Alchcmoparacclsimus gegenstandslosen (!) Differenzierung von natura naturans und natura naturata: Natura artifex mundi; natura parens omnium rcrum; natura domina omnium rcrum; natura plasmatrix terrae et locorum; natura dotatrix hominum; natura formatrix hominum; natura domitrix feritatis et mater pietatis; natura discretix veteris tumultus; natura plangcns; natura Dci serva; natura altrix hominum. Dies nach der Aufstellung - mit bibliographisch gestützten Ausführungen zum mittelalterlichen Verhältnis von Kunst und Natur - bei Mechthild Modersohn: Natura als Göttin im Mittclaltcr. Ikonographische Studien zur Darstellung der personifizierten Natur. Berlin 1997, hier bes. S. 17f.; zum mittelalterlichen Hintergrund speziell s. Barbara Obrist: Art et nature dans l'alchimic mcdicvalc. In: Revue d'histoirc des sciences 49 (1996), S. 215-286.
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gnosen, dagegen durchaus im potentiellen Rückgriff auf joachimitische Geist- und Erleuchtungsspekulationen, ferner auf stoizistische, den christlichen Mythos des Sündenfalls also gänzlich aussparende Theoreme, die bekräftigten, daß das Ganze des Kosmos auf den Menschen hin und auf seinen Nutzen geschaffen worden sei. Erst auf diesem Hintergrund gewann die überkommene, bereits bei Paracelsus verwandte, durchaus erkenntnisphilosophisch und anthropologisch gemeinte, also nur noch in diesem vermittelten Sinne auch soteriologische Doppelformel vom lumen naturae und lumen gratiae23 ihren dogmatisch schlüssigen Rückhalt. Die Parole vom lumen naturae changierte dabei grundsätzlich zwischen einer rationalen Erkenntnis - und einer nicht weiter ableitbaren Evidenz- oder gar Offenbarungssemiotik, erfüllte jedoch zu allererst polemische Funktionen, verstand sich als gnoseologische Widerstandsfigur gegen den bekämpften Rhetorizismus der akademischen Buchgelehrsamkeit: Paracelsus, nicht selten mit dem Prophetennimbus umgeben, erschien von Gott und >auß dem liecht der natur erborenGeistes< eher interessierten als überkommene theologische Interpretamente. 25 Vor allem aber blieben vorerst christologische Implikationen ganz verdeckt, verloren sichtlich, jedenfalls vorläufig, ihre Rele-
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Vgl. die einschlägigen Kapitel bei Will-Erich Peuckert: Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin 1956, bes. S. 185-194; neuere Literatur in CP 1, bes. S.274I'. zur Erläuterung von Bodensteins Formel »göttlichs und natürlichs liecht«; zur Bedeutungsgeschichte insgesamt s. Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung. In: Studium Generale 10 (1957), S. 432^147. Die beiden Zitate aus einem Widmungsschrciben Bodensteins an König Maximilian, den späteren Kaiser Maximilian II., vom 16. Oktober 1562; nach CP 1, Nr. 12, hier S.291f. In der Sicht erbitterter Kritiker des hcrmcto-paracclsistischcn, aber auch des ncuplatonischen Geistbegriffs besonders gut zu verfolgen - so etwa in der scharfen Abrechnung des zuletzt in Coburg lehrenden Andreas Libavius (1560-1616) mit Oswald Crollius; s. dazu W. Kühlmann: Der vermaledeite Prometheus. Die antiparacelsistische Lyrik des Andreas Libavius und ihr historischer Kontext. In: Scientia Poetica 4 (2000), S. 30-61, bes. 45-48.
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vanz, was auch dazu führte, daß Paracelsus selbst wie auch seine späteren Anhänger und Editoren bald mit dem Vorwurf des Arianismus überzogen wurden. Erst in Gestalt der in Fraktionen des Theoalchemismus strapazierten Chistus-Lapis-Typologie (der in der Materie als Heilsgarant und Universalmedizin verborgene Gott) rückte die Figur Christi wieder ein in die eschatologischen Perfektions- und Transmutationsphantasien frommer Spagyriker.26 Demgemäß war das >Licht der Natur< beides: objektbezogene Leitmetapher in der Vergewisserung des einzig möglichen Gegenstandsbereichs, der wahre >philosophische< Erkenntnisse zu garantieren vermochte, zugleich subjektbezogene methodologische Signalkategorie einer vernunftgemäßen Erkenntnissuche auf der Basis von experientia - von >Erfahrung< (nach Crollius der >mater veritatisempraktische< Direktiven gerade angesichts des drohenden Scheiterns beschwörenden Charakter annehmen, wie etwa in einem Brief des 26
In geradezu polyhistorischer Aufarbeitung einschlägiger alchemohermetischer Literatur und in der naturkundlichen Grundlegung einer kabbalistisch inspirierten Geistphilosophic in dieser Hinsicht wohl unübcrtrol'l'cn Hcinrich Khunrath (1560-1605), ein Autor übrigens im engeren Umkreis des genuin paracelsistischen Reformtheologen Johann Arndt: Vom hylcalischcn, das ist pri-matcrialischcn catholischcn oder allgemeinen natürlichen Chaos, der naturgemässen Alchymiae und Alchymisten, zuerst Magdeburg 1597 (Autlagcn bis 1786), hier nach dem Nachdruck mit einer Einluhrung von Elmar R. Gruber. Graz 1990 (Fontes Artis Chymicac, 6); spez. S.17: «Weil GOtt der H E r r durch Lapidem Philosophorum, im grossen Buch der Natur/ Fürbildungsweise/ I H S U M C H R I S T U M lasset andeuten [...].« Zum Naturbcgrifl etwa - bald mit johanneischen Tönen und im Rekurs auf eine emanatistische Vorstellung der Quinta Essentia (wie schon bei Dorn) - S.41I'., hier zitiert der dcl'initorischc Beginn: »Frcylich ist die Natur ein Höchstweises/ sich selbst bewegendes/ lebendigmachendes/ überaus sehr mächtiges und wunderthätiges Licht und Feuer/ ja ein mächtig-kräfftiger Geist/ oder Gcistlichc Krallt von dem Allcrwciscstcn/ Ewigen/ Lebendigen/ Allmächtigen und Wunderbahren Dreyeinigen GOtt (der ein Feuer und Geist ist) selbst herfliessendc/ in das erst Wclt-Anl'angs crschalTcnc Hylcalischc/ das ist/ Pri-matcrialischc wässerige C H A O S eingehende (dasselbe seeligende und auch schwängerende/ und das gantzc daraus crbauctc Gcbäu der grossen Welt/ biß an sein von Gott demselben angesetztes Ende/ erhaltende.« - Zu Khunrath s. den Artikel (sub verbo) von Joachim Teile in: Priesner/Figala (Alchemie, wie Anm. 2), S. 194-196.
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Die Erl'ahrungsgcbundcnhcit der Paracclsischcn oder paracclsistischcn Doktrin zu behaupten ging Hand in Hand mit der ständigen Abwehr gegnerischer Denuntiationen, die solchc Erkenntnisse (im Sinne der schon antiken Antithctik) als rein »empirisch«, also als methodisch unklar, haltlos, zufällig und nicht übertragbar herabsetzten. Vgl. die Belege in CP 1 und CP 2 anhand des Registers zu »Experientia« und »Empiriker«.
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Paracelsisten Oswald Crollius (um 1560-1608) an den befreundeten Bergmeister Franz Kretschmer vom 12.Oktober 1594: «Experientia teste et unica magistra, nulla sunt alia in rerum natura.« 28 Nicht unwesentlich für die alltagspraktische Ausstrahlung des experientia-Beweises ist auch die Tatsache, daß führende Frühparacelsisten wie der Mediziner Bodenstein, aber auch der Humanist Toxites ihre abrupte paracelsistische >Wende< auf quasi unwiderlegbare therapeutische Erfolgserfahrungen am eigenen Körper oder im engsten Freundeskreis zurückführten: Der erfolgreiche Selbstversuch unterstützte den wissenschaftlichen Paradigmenwechsel. 29 Grundsätzlich entsprach der Paracelsismus dem berühmtem Hinweis Francis Bacons auf die Gebundenheit der Veritas an das lumen naturae et experientiae (Novum Organum 1, 56), wobei die Lichtmetapher nicht einen mystischen Erleuchtungsakt andeutete, sondern mit der Forderung nach experientia auch - wie analog in der galenistischen Schulmedizin - an die Leitung der methodisch kontrollierten ratio gekoppelt blieb. Erkenntnis im >Lichte der Natur< (im Sinne des Genitivus subjectivus), die auch den wahren überkonfessionellen christlichen Glauben absichern sollte, bedeutete freilich Entbergung und Nutzbarkeit des landläufig Verborgenen, also Dunklen. Es entschlüsselt sich und bietet sich heilsamen, zunächst vor allem medizinischen Zwecken nur dem fortdauerndem individuellen wie historisch kontinuierlichem Bemühen dar. Diese eigentliche >Dunkelheit< der >wahren< Natur jenseits des Sinnenscheins und der lebensweltlichen Verständigung legte es nahe, daß der alte Topos vom >Buch der Natur< im frühparacelsistischen Schrifttum eher zurücktrat und, wenn er denn benutzt, dann gewiß nicht im Sinne der Galileischen Deutung eines Buches mit Zahlen und geometrischen Figuren verstanden wurde. Gewiß, manchmal klang der Topos wörtlich oder in Umschreibungen in der verbreiteten Naturhermeneutik der Signaturenlehren nach, doch selbst dort äußerten sich Vorbehalte, insofern es sich, so Crollius, bei den Signaturen um Bildzeichen dynamischer >Influenzen< handelt: »sintemal die Natur kein Qualitet/ sondern eine Krafft ist/ vnnd demnach nicht mit Qualiteten/ sondern mit virtutibus oder Kräfften geholffen haben will«.30 Naturreflexion bedeutete so nicht die schauende Betrachtung oder die - im Verfolg der >new science< - aufkommende Berechnung eines im Sinnenschein be-
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Nach Crollius: Alchemomedizinische Briefe (wie Anm. 2), S. 53. Plastisch werden Heilkuren und ein Sclbstvcrsuch geschildert in Toxites' Widmungsschreiben an Egolf von Knöringen, den Bischof von Augsburg, vom 1. Januar 1575 im Vorspann seiner Ausgabe von Paracelsus' Libri XIIII Paragraphorum. Straßburg 1585; s. CP 2, Nr. 58, S. 361-389). Oswaldus Crollius: Basilica Chymica. Frankfurt/M. 1609, hier nach der deutschen Erstübersetzung Frankfurt/M. 1623, S. 62.
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reits überzeugenden, etwa astrophysikalisch formulierten naturgesetzlichen Ordnungsversprechens, sondern ein gefährliches und umkämpftes Vordringen in das >Innere der Naturdux et comes tanti itinerisnew scienceMagienatürlich oder übernatürlich< an der himmlischen, vom >Firmament< ausgehenden >Kraft< Anteil gewinnt. Die ars magica ist »eben das, das sie himlische kraft mag in das medium bringen und in dem selbigen sein operation Volbringen, das medium ist der centrum, der centrum ist der mensch, also mag durch den menschen die himlische macht in den menschen gebracht werden«.35 Auf diese 33
Kurt Goldammer: Magic bei Paracclsus. In: Studia Lcibnitiana. Sonderheit 7. Wiesbaden 1978, S. 30-51, abgedruckt in: ders.: Paracclsus in neuen Horizonten. Gesammelte Aufsätze. Wien 1986 (Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung, Folge 24), S. 321-342. Zum cpistcmologischcn Gesamtkomplex nach wie vor vielleicht die beste Einführung mit Perspektiven bis hin zu Schelling: Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt. Hg. von Antoinc Faivrc und Rolf Christian Zimmermann. Berlin 1979, hier bes. Wolf-Dieter Müller-Jahncke (S. 2451): Von Ficino zu Agrippa. Der Magia-Begriff des Renaissance-Humanismus im Überblick, und Walter Pagcl (S. 52-104): Paracclsus als »Naturmystiker«, wcnnglcich der Begriff des »Mystikers« von Paracelsus und den Frühparacelsisten eher fernzuhaltcn ist. Es ging um Erkenntniseffizienz und um Beherrschung der natürlichen Kräfte und Operationen, wenngleich schon von Dorn im Rahmen seiner alchemohcrmctischcn »philosophia supcrnaturalis« resp. »philosophia spcculativa« ein quasi>mystischcr< sieben- bzw. zehnstufiger Weg (Gradus primus bis septimus bzw. dccimus: Zweiter Teil der Clavis totius philosophiae chemisticae, zuerst 1567; abgedruckt in: Theatrum Chcmicum. Bd.I. Straßburg 1659, Nachdruck Turin 1981, S. 228-276) zum großen Magisterium entworfen worden ist.
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Paracclsus in der Astronomia Magna, Sämtliche [naturkundlichen] Werke. Hg. von Karl Sudhoff, hier Bd. 12, München und Berlin 1929, S. 133. So Paracelsus im diesbezüglichen Zentralkapitel (»In probationem artis magicae«) der Astronomia Magna, hier cd. SudholT, ebd. Bd. 12, S. 122.
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>magische< Anthropozentrik, als dessen führender Repräsentant der Arzt und Naturforscher figuriert, ließen sich bei führenden Paracelsisten wie Oswald Crollius die von Ficino und vor allem (in Deutschland wohl wirksamer) in Pico della Mirandolas Rede De Dignitate Hominis vorformulierten Überzeugungen vom Menschen als nodus oder copula des gesamten, von Gott zu den Elementen reichenden Kosmos projizieren. 36 Dies freilich nicht ohne dauernde Abwehrkämpfe und Diskussionen, die - wie schon bei dem Hohenheimer selbst - der Trennung von illicit-teuflischer und erlaubter christlicher Magie galten und die sich nicht selten direkt der Anklage satanischer, geradezu todeswürdiger Machenschaften konfrontiert sahen. Zugleich wurde die Figur des Magus vor allem in pseudoparacelsischen Schriften (bes. der Aurora Philosophorum), später überaus lehrreich und in polyhistorischer Ausfaltung in Michael Maiers Symbola Aureae Mensae Duodecim Nationum (Frankfurt/M. 1617, Nachdruck Graz 1972) zum Leitbild einer genuin hermetistischen Wissensgenealogie, die den christlichen Äon überwölbte, bis zur hermetischen Uroffenbarung zurückwies und namentlich in den chaldäischen bzw. persischen Magi, manchmal identifiziert mit den biblischen »Weisen aus dem Morgenland«, prototypische Vorläufer und geahnte Autoritäten aktueller Erkenntnisanstrengungen beanspruchte. Die nicht abbildungs- oder nur spiegelungsästhetisch, sondern hermetistisch, d.h. in substantieller, emanatistischer Teilhabe konzipierte Analogisierung von Mikro- und Makrokosmos bildete in der unauflöslichen Interdependenz von Naturtheorie und Anthropologie den maßgeblichen Erörterungsrahmen schon des frühen frühparacelsistischen Schrifttums. Der seinerzeit provokante Theoriekomplex, der - von heute aus gesehen - sog. echte wie auch pseudoparacelsische Schriften, gerade letztere wie die Philosophia ad Athenienses oder De Tinctura Physicorum mit besonderer Vorliebe, auswertete und intellektuell fortschrieb, ist hier über das schon Gesagte hinaus nicht im Detail zu behandeln. Was in der Forschung ansteht, zum Teil derzeit erarbeitet und in den Bänden des Corpus Paracelsisticum weiter ins Licht tritt, mag immerhin bei dieser Gelegenheit angedeutet werden, nämlich: a) die genauere Explikation und überlieferungs-, sozial- und Wissens- wie auch theoriegeschichtliche Analyse des CEuvres von Gerhard Dorn: - im Zusammenhang der zeitgenössischen Kontroversen mit dem französischen Paracelsisten Jacques Gohory (1520-1576, aus dem Umkreis der 36
Vgl. W. Kühlmann: Oswald Crollius und seine Signaturenlehre. Zum Profil hermetischer Naturphilosophie in der Ära Rudolphs II. In: A. Buck (Hg., 1992, wie Anm. 14), S. 103-124, spcz.S. 113-116.
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Wilhelm
Kühlmann
Pleiade), dem Urheber eines vielgelesenen, die gesamte abendländische Magiegeschichte einbeziehenden, dabei Ficino und Paracelsus verkoppelnden Compendiums, 37 und vor allem mit dem Heidelberger und Medizinprofessor Thomas Erastus (1524-83), der mit einer vierteiligen, von Gesinnungsgenossen mitkonzipierten Kampfschrift (Disputationes de Medicina Nova Philippi Paracelsi, Basel 1571/73), den Paracelsuskritikern den Weg wies und fast den gesamten Paracelsismus herausforderte; 38 im Zusammenhang einer Hermetisierung und Spiritualisierung, dabei stellenweise stärkeren neuplatonischen Einfärbung, aber auch einer immer wieder programmatisch angemahnten Christianisierung des Paracelsischen Erbes, dies zumal in der Ausbildung der weit bis ins 17. Jahrhundert reichenden alchemohermetischen Physica Sacra; im Zusammenhang einer offenkundigen Integration bzw. Ausdifferenzierung vorparacelsischer Theoriebestände (Pseudo-Lullus, Trithemius, Bernardus Trevisanus und viele andere); die weitere Analyse der Brückenfunktion der Werke Dorns und anderer zum Schrifttum der religiösen Häretiker (Schwenkfeldianer, Weigel und Weigelianer, Böhme und Böhmeanhänger weit ins 17. Jahrhundert hinein), dabei selbstverständlich auch der Rosenkreuzer und zum Beispiel eines ausgesprochen religiösen Hermetisten wie des zeitweise in Gießen lehrenden Heinrich Nollius;39 parallel dazu die genaue Analyse, zuerst aber bio-bibliographische Bestandsaufnahme des weitgestreuten antiparacelsistischen Schrifttums, 40 seiner Zentren, Motive und Diskursverflechtungen;
Theophrasti Paracelsi Philosophiae et Medicinae, Vtriusque Vniversae Compendivm [...] Auctorc Leone Suauio [d.i. Gohory] I[acopus] G[ohoriensis] P|arisicnsis|. Paris: In aedibus Rovillii 1567, dann sofort (1568) nachgedruckt samt einer großangelegten Abrechnung Dorns mit Gohory bei Pictro Pcrna; in CP 2, Nr. 83, S. 823-871. Einiges zu Gohory jetzt in der oben zitierten Monographie von Didier Kahn (wie Anm. 2); s. auch CP 1; S. 262t und 521f. Vgl. CP 1, S. III'., mit der Literatur und den durch das Register leicht zu findenden Bezügen. Zum Gesamtkomplex zusammenlassend und auch im Detail weiterführend Carlos Gilly: Der Paracelsismus als Religion im Streit mit den offiziellen Kirchen. In: Analccta Paracclsica (wie Anm. 6), S. 425-488; zum Roscnkrcuzcrkomplcx zusammenfassend W. Kühlmann (sub verbo). In: Theologische Rcalcnzyklopädic, Bd. 29 (1998), S. 407-413. Neben latcinischc Werke wie die des Erastus und Libavius traten selbstverständlich deutschsprachige wie das des Zittauer Arztes Bartholomäus Reußner: Eine kurtze Erklcrung vnd Christliche Widerlegung/ Der vnerhörten Gottcslcstcrungcn vnd Lügen/ welche Paracelsus in den drey Büchern Philosophiae ad Athenienses hat wider Gott/ sein Wort/ vnd die löbliche Kunst der Artzney ausgeschüttet. Görlitz 1570; vgl. CP 1, S. 654 und passim.
Anmerkungen
zum Verhältnis von Natur und Kunst
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d) in solcher Dialektik von Theorie und Antitheorie die kontextuelle Analyse des sich ausbildenden doxographischen Synkretismus und der Aufnahme bzw. Fortbildung zentraler Kategorien (Quintessenz, Anatomie, Kabbala 41 bzw. Gabalia usw.).
III Corollarium: Der Lapis philosophorum oder: Häretische Visionen einer Perfektionierung der Welt Pflegen wir also den Umgang nur mit einer von vornherein chancenlosen Wissenschaftsformation im Sinne einer bloßen Rekonstruktion szientifischer Sackgassen? So doch wohl nicht. Der Alchemoparacelsimus ist nicht am Treiben der Scharlatane und Goldmacher zu messen, sondern an seinem Bestreben, Leiden zu lindern und diese Welt im eschatologischen Horizont planmäßig und durch fortdauernde, in die Zukunft weisende Anstrengung zu >perfektionieren< - nicht nur im Kampf gegen den hochmütigen Akademismus, sondern auch gegen die soziale Indolenz. Und überhaupt - haben die seriösen Theoretiker, selbst ein krauser Kopf wie Paracelsus, nicht manchmal dunkel vorausgeahnt und umkreist, was sich manche Vorkämpfer der >new science< (heute manchmal eher: >old science