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German Pages 201 [202] Year 2016
Jochen Schmidt Der Mythos „Wille zur Macht“
Jochen Schmidt
Der Mythos „Wille zur Macht“ Nietzsches Gesamtwerk und der Nietzsche-Kult. Eine historische Kritik
Die Drucklegung dieses Bandes wurde im Rahmen der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern im Akademienprogramm mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Baden-Württemberg ermöglicht.
ISBN 978-3-11-047280-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047437-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047412-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Diese Streitschrift geht von einer wirkungsvollen Fälschung und einer Legendenbildung aus: von dem als Werk nie vorhandenen „Willen zur Macht“. Nur in weit verstreuten Nachlass-Notaten Nietzsches und rudimentär auch in mehreren seiner Schriften ist eine Lehre vom „Willen zur Macht“ greifbar. Kritisch wird hier das von ihm bewusst als Schlagwort lancierte und durch den Nietzsche-Kult ikonisierte Werkphantom dargestellt sowie das konzeptionelle Scheitern des damit verbundenen philosophischen Anspruchs analysiert. Besondere Aufmerksamkeit gilt der ideologisierten Wirkungsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege. Mehrere Kapitel untersuchen die vielfältig gebrochene literarische Rezeption des „Willens zur Macht“ in den Werken der großen Autoren des 20. Jahrhunderts: bei Kafka, Musil und Thomas Mann. Heideggers Adaption im Dienste des ‚Dritten Reichs‘ kommt ebenso zur Sprache wie die fatale Rolle der damals führenden NietzschePublizisten. Die strikt quellenbezogene und historisch kontextualisierte Auseinandersetzung mit Nietzsches gesamtem Werk reicht von seinen frühen Abhandlungen über die großen Aphorismen-Sammlungen bis hin zum Zarathustra und zu den extremistischen Spätschriften. Hinter der schriftstellerischen Glanzfassade zeigt diese Auseinandersetzung Nietzsche, der sich als bahnbrechendes Originalgenie ausgab, als Kompilator und Plagiator, der seine Quellen meistens verschwieg. Sie dekuvriert seine in bisher ungekanntem Ausmaß falschen oder verfälschenden Aussagen, seine betäubende Rhetorik, welche er an Wagners Musik als „Sursum! Bumbum!“ verurteilte und zugleich bewunderte; sein apodiktisches und pseudoprophetisches Pathos und sein Schwadronieren in vielen Bereichen, die außerhalb seiner Kompetenz lagen, aber ihm Anschluss an die zeitgenössische Aktualität erlaubten. Während er sich in Schopenhauers Manier als Unzeitgemäßer gerierte, blieb er ein Sohn des 19. Jahrhunderts, aus dem er reaktiv und immer mehr auch reaktionär auszubrechen suchte. Dabei geriet er in eine desperate Selbstdogmatisierung. Sie dementierte die von ihm adaptierte Rolle des sich selbst riskierenden geistigen Abenteurers. Sie dementierte auch seine an der europäischen Aufklärung und am Ideal des Freigeists orientierte experimentalphilosophische Ambition. Nicht zuletzt fällt ein Licht auf die ideologisch und politisch präjudizierten Deformationen der Nietzsche-Rezeption, die bis heute oft vernachlässigt wurden, weil Nachwirkungen und Neuinszenierungen des Nietzsche-Kults immer noch die historische Wahrnehmung behindern. Mit wertvollen Anregungen haben Sebastian Kaufmann, Andreas Urs Sommer und insbesondere Armin Thomas Müller geholfen, der auch die bibliographischen Angaben kontrolliert hat. Gabriele Schulz hat die Zitate aus
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Vorwort
Nietzsches Werken verifiziert sowie die Register und die Druckvorlage optimiert und geschrieben. Ihnen allen danke ich für die konstruktive und engagierte Mitarbeit. Ute Schmidt-Berger, meine Frau, hat durch Rat und Tat zum Gelingen beigetragen. Ihr ist dieses Buch gewidmet. J. S.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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Hinweise zur Benutzung 1
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Der Nietzsche-Kult und die Entstehung der Legende vom „Willen zur Macht“ 1
2 Nietzsches Anschluss an die zeitgenössische FreidenkerBewegung 15 3 Das Plädoyer für Menschenopfer zugunsten einer privilegierten Kaste 21 4 Die Rede von den „Werten“ und den „Wertschätzungen“: Ein erster Ansatz zur „Umwertung aller Werte“ 27 5 Der „Wille zur Macht“ als Movens des „Lebens“ und universelles Erklärungsmodell 30 6 Heidegger als ‚zeitgemäßer‘ Interpret des „Willens zur Macht“ 7
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Nietzsche als Kompilator und Plagiator
8 Freigeisterische Moralkritik: Nietzsches zentrales Thema von 1876 bis 1889 40 9
Nietzsches Rhetorik und sein rhetorisierter Stil
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10 Rückblick auf ein Desaster und die Folgen: Die Geburt der Tragödie 49 11 Die verfehlte Opposition von Antike und Moderne 12
Nietzsche als Falschmünzer
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13 Die verfälschende Darstellung der griechischen Literatur 14 Die Verfälschung der deutschen Bildungstradition 15 Nietzsches Missverständnis der Evolutionslehre 16
Nietzsches „Ego“ – Individualismus
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17 Nietzsche zitiert Goethe und Schiller absichtlich falsch
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18 Die wider besseres Wissen unternommene Verfälschung der Überlieferung am Beispiel des Euripides 75
VIII
Inhaltsverzeichnis
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Die Entstellung der griechischen Mythen
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20 Nietzsches Verfälschung der Operngeschichte im Dienste Wagners 82 21 Etikettenschwindel als ‚zeitgemässe‘ Strategie: Die angeblich Unzeitgemässen Betrachtungen
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22 Ausblick auf Hauptwerke der literarischen Wirkungsgeschichte: Kafka, Musil, Thomas Mann 95 22.1 Nietzsches ‚Wille zur Macht‘ bei Kafka 95 22.2 Musils Satire auf Nietzscheanismus und Wagnerismus im Mann ohne Eigenschaften 111 22.3 Nietzsche in Thomas Manns Werken bis zur Verschmelzung von nationaler Faust-Ideologie und Nietzsche-Mythologie im Doktor Faustus 118 23 Der ‚Wille zur Macht‘ im Zeitalter des Imperialismus und Faschismus 128 23.1 Die vom Zarathustra ausgehende Kriegspropaganda deutscher Intellektueller und Katheder-Helden 128 23.2 Die deutsche Universität unterm Hakenkreuz 134 Bibliographie Gesamtregister
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Hinweise zur Benutzung Nietzsche-Zitate beziehen sich auf die Kritische Studienausgabe der Werke (KSA) und folgen dem Schema: Band-, Seiten- und Zeilenzahl. Notate aus dem Nachlass (NL) sind mit der in KSA fixierten Nummer versehen: Auf die Angabe, aus welchem Jahr das NL-Notat stammt, folgt erstens die Angabe der Doppelnummer in KSA, z. B. 22[28], zweitens die Nummer des KSA-Bandes und drittens die Seiten-, viertens die Zeilenzahl. Briefe werden aus der Kritischen Studienausgabe der Briefe (KSB) nach folgendem Schema zitiert: X an Y, Datum, KSB-Band, Brief-Nr., Seiten- und Zeilenzahl. Ausgaben sind in der Bibliographie verzeichnet.
1 Der Nietzsche-Kult und die Entstehung der Legende vom „Willen zur Macht“ Die bewusste Formierung dieses Begriffs zum aggressiven ‚Schlag-Wort‘. Zarathustras Willens-Lehre und seine Wirkung im Ersten Weltkrieg. Die Übernahme des irreführenden Willens-Begriffs von Schopenhauer
Dem ‚Willen zur Macht‘ kommt auf problematische Weise ein besonderer Platz in Nietzsches an sich schon problematischer Wirkungsgeschichte zu. Zur Horizontbildung skizziere ich deshalb einleitend diese Wirkungsgeschichte. Seit 1889, dem Jahr, in dem Nietzsche in Wahnsinn verfiel, war seine Wirkung epidemisch. Man sprach vom „Nietzscheanismus“. Ferdinand Tönnies konstatierte bereits 1897 einen „Nietzsche-Kultus“,1 nachdem er schon 1893 ein Buch über „Nietzsche-Narren“ veröffentlicht hatte.2 Eine psychologisch scharfsinnige Diagnose erschien bald darauf unter dem Titel Der Nietzsche-Kultus und Zur Psychologie des Nietzsche-Kultus.3 Einer der maßgebenden Kulturphilosophen, Georg Simmel, veröffentlichte 1897 einen Artikel ebenfalls mit dem Titel Der NietzscheKultus.4 Die Funktionen, die der Nietzsche-Kult erfüllte, untersuchte Wilhelm Carl Becker: Der Nietzschekultus: Ein Kapitel aus der Geschichte der Verirrungen des menschlichen Geistes (1908). Bis 1889 allerdings hatte Nietzsche kaum Leser, seine Schriften blieben zum größten Teil unverkauft bei den Verlagen liegen. Im Vorwort zu dem unmittelbar vor dem Zusammenbruch verfassten Rückblick, dem er den Titel Ecce homo gab, beklagte Nietzsche voller Bitterkeit, „dass man mich weder gehört, noch auch nur gesehn hat. Ich lebe auf meinen eignen Credit hin, es ist vielleicht bloss ein Vorurtheil, daß ich lebe? …“5 Schwer einzuschätzen ist die bemerkenswerte Tatsache, dass sich der sensationelle Erfolg gerade in dem Moment einstellte, in dem Nietzsche wahnsinnig wurde, noch schwerer einzuschätzen, welchen Anteil daran die zum allgemeinen Bildungsgut der Zeit gehörende Verbindung von Genie und Wahnsinn hatte. Nietzsche selbst griff sie in einem dem Thema „Wahnsinn“ gewidmeten Text auf, in dem er sich das schon geahnte Wahnsinnsschicksal geradezu wünschte, um den Durchbruch als Autor zu schaffen.6 Auf den Schriften franzö-
1 Ferdinand Tönnies: Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik, Leipzig 1897. 2 Ferdinand Tönnies: „Ethische Kultur“ und ihr Geleite [in der „Zukunft“ und in der „Gegenwart“]; enth.: Nietzsche-Narren und Wölfe in Fuchspelzen, Berlin 1893. 3 Erich Schlaikjer in: Die Hilfe, 5, Nr. 10 und 13 (5. März und 23. März 1899). 4 Deutsche Literaturzeitung Nr. 42 (23. Oktober 1897), S. 1645–1651. 5 KSA 6, 257, 9–11. 6 KSA 3, 26–28.
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sischer Nervenärzte fußend, hatte Cesare Lombroso in glänzender literarischer Form sein alsbald in ganz Europa verbreitetes Werk Genio e follia mit viel pathographischem Material publiziert. Zuerst erschien es 1864, und dann folgte Auflage auf Auflage. Die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel Genie und Irrsinn 1887 sogar als Reclambändchen. Wesentlich zur Entstehung und zum Fortleben des Nietzsche-Kults trug die Schwester bei, die den Umnachteten nach Weimar holte, um ihn dort ins Heroisch-Tragische zu monumentalisieren und ihn für die zahlreichen Besucher noch über Jahrzehnte hinaus zu vermarkten. Historisch beruht Nietzsches Wirkung auf der von ihm in naturalistischer Zeitgemäßheit beförderten sogenannten ‚Lebensphilosophie‘. In deren Horizont steht auch die Konzeption des ‚Willens zur Macht‘. Ihre Durchschlagskraft erhielt die sich zur Mode entwickelnde Lebensphilosophie durch Nietzsches einprägsame Formeln. Sie dienten als Kennmarken dieser zur Weltanschauung, ja zur Ersatzreligion gedeihenden diffusen Ideologie, die Nietzsche ganz bewusst auf breitenwirksamen Effekt hin schlagwortartig formte. In einem Plan zum ‚Willen zur Macht‘, den er unter den Titel ‚Das vollkommene Buch‘ stellte, notierte er sein strategisches Kalkül zur formelhaften Begriffsbildung mit folgenden Worten: „Sammlung ausdrücklicher Worte. Vorzug für militärische W./E r s a t zwor te für die philosophischen Termini: womöglich deutsch und zur Formel ausgeprägt“.7 Zur allgemeinen Orientierung charakterisiere ich kurz einige dieser schlagwortartigen Formeln. Erstens: das ‚Dionysische‘. Im Rückgriff auf ältere Darstellungen8 beschwor Nietzsche das rauschhaft ‚Dionysische‘ als irrationalen Urgrund des ‚Lebens‘ und als Inbegriff einer zum Äußersten gesteigerten Lebensintensität. Er reagierte damit schon im Frühwerk gegen das sich seit der Restaurationszeit immer stärker ausbildende Epigonalitätsbewusstsein9 des 19. Jahrhunderts, das in die Décadence-Stimmung des Fin de siècle überging. Vor allem befeuerte er den alsbald modischen Irrationalismus. Gottfried Benn, der sich behände auch anderen aktuellen Ideologien anpasste, rief am Ende seiner frühexpressionistischen Prosaszene ‚Ithaka‘ aus: „Wir wollen den Rausch. Wir rufen ‚Dionysos‘ …“.10 Zweitens: der ‚Tod Gottes‘. Nietzsche kreierte dieses Schlagwort, um die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts weit fortgeschrittene Erosion der traditionellen Jenseitsreligion zu etikettieren. Zunächst hatte
7 NL 1887, 9[115], KSA 12, 401. 8 Vgl. Jochen Schmidt: Kommentar zu Nietzsches ‚Geburt der Tragödie‘ (= Historischer und Kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken), hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 1/1, Berlin/Boston 2012, S. 91–98, insbesondere S. 95. In der Folge: NK. 9 Vgl. NK 1/1, Kommentar zu KSA 1, 75, 25–32. 10 Gottfried Benn: Prosa und Szenen, in: Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. von Dieter Wellershoff, Bd. 2, Wiesbaden 1965, S. 303.
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er sich damit begnügt, das Christentum seiner Zeit als schon obsoletes Überbleibsel einer vergangenen Ära zu charakterisieren. Einen Kurztext seiner Schrift Morgenröthe stellte er unter den Titel ‚Am Sterbebette des Christentums‘. Diese Diagnose spitzte er kurz darauf zur finalisierenden Formel „Gott ist todt“ zu.11 Aus dem Verlust der auf die Transzendenz gesetzten Heilshoffnungen resultierte, drittens, die Hybrid-Phantasie des ‚Übermenschen‘. Der Übermensch sollte die bisher auf die Gottheit projizierten Qualitäten, vor allem diejenige grenzenloser Potentialität, in der Immanenz repräsentieren. Dem Schöpfertum des Übermenschen schreibt Nietzsche, und dies ist das vierte Schlagwort, das Vermögen zur „Umwertung aller Werte“ zu, weil er selbst das Schaffen neuer Werte zum schöpferischen Akt par excellence deklariert. Er meint damit sein eigenes Projekt einer „Umwertung aller Werte“. Diese Umwertung setzt, wie Nietzsche immer wieder betont, die Vernichtung aller bisher geltenden Werte voraus. In seinem Nachlass finden sich Listen über alles – und es ist in der Tat fast alles ‒, was er „vernichten“ will.12 Doch belässt er es im Wesentlichen bei solchen Vernichtungsphantasien. Radikale Kritik ist bei ihm das Primäre, über das er trotz gegenteiliger Beteuerungen mit keinem konstruktiven Konzept hinausgelangt ‒ ein Sachverhalt, dem Nietzsche selbst Pathos zu verleihen suchte, indem er vom schicksalhaft tragischen Scheitern und zugleich vom heroischen Selbstopfer auf dem Weg der Erkenntnis sprach, sofern ihn der Erkennende kompromisslos geht. Ungleich wirkungsreicher war, fünftens, in der Zeit des Imperialismus und des Faschismus der „Wille zur Macht“, der im Folgenden analysiert wird. Ein letztes Ideogramm, das Nietzsche ebenfalls mit großem Gestus exponierte, ist die „ewige Wiederkehr des Gleichen“, eine schon von Heraklit und den Stoikern und dann noch später oft als Inbegriff einer zyklischen Geschichtsauffassung verwendete Vorstellung, die Nietzsche aber als seine originäre Schöpfung darstellte, obwohl er ihren antiken Ursprung nachweislich kannte.13 Diese Schlagworte bestimmen weitgehend Nietzsches Wirkungsgeschichte.
11 KSA 3, 481, 15. 12 NL 1884, 25[211], KSA 11, 69. Zur Radikalisierung der Vernichtungsphantasien bis hin zum Vernichtungsrausch in Nietzsches letzten Schriften und in den Dionysos-Dithyramben sowie zu dem schon früh, in der zweiten der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben ausgedrückten Wunsch, zu „richten und vernichten“, vgl. NK 6/2, S. 649. In seiner letzten, unmittelbar vor dem Zusammenbruch verfassten Schrift Ecce homo, dort in dem Kapitel „Warum ich ein Schicksal bin“ 2, heißt es: „Ich kenne die Lust am Ve r n i ch te n in einem Grade, die meiner K r a f t zum Vernichten gemäss ist, ‒ in Beidem gehorche ich meiner dionysischen Natur, welche das Neinthun nicht vom Jasagen zu trennen weiss. Ich bin der erste Immor alist: damit bin ich der Ve r n i ch te r par excellence“ (KSA 6, 366, 29–33). 13 Vgl. KSA 6, 313, 7–12.
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Dagegen erfuhren nur wenige seiner Schriften eine werkspezifische Rezeption. Zu ihnen gehört die noch ganz von Schopenhauers Philosophie und Wagners Musikästhetik geprägte Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, die in der allgemeinen Wahrnehmung bald auf den längst vor Nietzsche vorhandenen und von ihm lediglich adaptierten14 Dualismus des „Apollinischen“ und „Dionysischen“ zusammenschmolz. Breiter rezipiert wurde auch die Abhandlung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben; sie befeuerte die Historismus-Debatte. Schließlich der Zarathustra, der zum Kultbuch avancierte. Viele Soldaten zogen mit dem Zarathustra im Tornister in den Ersten Weltkrieg.15 In einem eigenen Kapitel des Zarathustra verherrlicht Nietzsche den Krieg16, was dieses Werk als besonders geeignet für eine Kriegsausgabe erscheinen ließ. Ich selbst besitze noch die auf schlechtem Kriegspapier gedruckte und feldgrau gebundene Ausgabe des Zarathustra, die mein Vater vor hundert Jahren mit in den Krieg nahm. Auch bot der ‚Wille zur Macht‘ eine willkommene Leitidee für Kriegszeiten, ganz zu schweigen von Zarathustra-Sprüchen wie „gelobt sei, was hart macht“ oder: „So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den einen, gebärtüchtig das Andere, beide aber tanztüchtig mit Kopf und Beinen“. Als dann der Tanz begann, der bald zum Totentanz des alten Europa werden sollte, war 1914 in England die Rede vom Nietzschean War.17 Mit entgegengesetztem Vorzeichen gab es in Deutschland zu Beginn des Krieges zahlreiche Publikationen und Aufrufe, die Nietzsche als Verkünder eines heldenhaften Krieges feierten: Es gab einen Band mit dem lapidaren Titel Nietzsche (Illustrierte Heldenbibliothek 30, Berlin 1914).18 Im Insel-Verlag erschien der Kriegsalmanach „Friedrich Nietzsche. Vom Kriege“ (Leipzig 1915) und im Kröner-Verlag, dem eigent lichen Nietzsche-Verlag bis zum Ende des Dritten Reichs, sammelte Hermann Itschner Nietzsche-Worte. Weggenossen in großer Zeit (Leipzig 1915).19 Zur Erinnerung an diese „große Zeit“ und eine ihrer großen Schlachten wurde in einer pompösen Propaganda-Veranstaltung später gemeinsam mit Hitlers Mein Kampf und
14 Hierzu NK 1/1, S. 42 f. sowie S. 91–98 zu KSA 1, 25, 4–6. 15 Vgl. Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart/Weimar 1996. Darin das Kapitel: „Zarathustra in den Schützengräben“, S. 130–167. 16 KSA 4, 58–60. 17 James Joll: The English, Friedrich Nietzsche and the First World War, in: Immanuel Geiss und Bernd Jürgen Wendt (Hg.): Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973, S. 287–306, S. 305. 18 Otto te Kloot: Nietzsche, Neurode 1914. 19 Weitere Schlüsselpublikationen in Kapitel 23: ‚Der ‚Wille zur Macht‘ im Zeitalter des Imperialismus und des Faschismus‘, S. 128 f., Anm. 304.
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mit Rosenbergs Der Mythus des 20. Jahrhunderts ein Exemplar des Zarathustra im Gewölbe des Tannenbergdenkmals deponiert.20 Auch im Bereich von Dichtung und Kunst wirkte der Zarathustra. Dem Expressionismus gab er Impulse mit seinem „O Mensch“-Pathos, mit seiner ins Ekstatisch-Visionäre gesteigerten Bilderwut, mit seiner Tendenz zum Exzessiven und seinem ikonoklastischen Protest gegen alle überkommenen Werte und Normen, nicht zuletzt gegen die bürgerlichen. Inzwischen erweckt diese ‚weltliche Bibel‘ von einst weit weniger Interesse. Thomas Mann, neben Musil wohl der profundeste Nietzsche-Kenner unter den Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, dessen eigene Werke bis hin zu seinem späten großen Nietzsche-Roman Doktor Faustus (1947) voll von Nietzsche-Bezügen sind, schrieb nach der Katastrophe des Nationalsozialismus einen Aufsatz mit dem Titel Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Mit knappen Zügen charakterisiert er darin den Zarathustra, den Nietzsche nach dem Scheitern seines Projekts ‚Der Wille zur Macht‘ zum Hauptwerk deklarierte, als von Grund auf missraten. Indirekt bringt Thomas Mann zum Ausdruck, dass die enorme Wirkung gerade dieses Werks keineswegs einen Rückschluss auf dessen Qualität erlaubt und Wirkungsgeschichte kein Qualitätsnachweis ist. „Dieser gesicht- und gestaltlose Unhold und Flügelmann Zarathustra“, schreibt Thomas Mann, „mit der Rosenkrone des Lachens auf dem unkenntlichen Haupt, seinem ‚Werdet hart!‘ und seinen Tänzerbeinen ist keine Schöpfung, er ist Rhetorik, erregter Wortwitz, gequälte Stimme und zweifelhafte Prophetie, ein Schemen von hilfloser Grandezza, oft rührend und allermeist peinlich – eine an der Grenze des Lächerlichen schwankende Unfigur“.21 Wirft schon die Wirkungsgeschichte des Zarathustra irritierende Fragen auf, so gilt dies noch mehr, wenn auch in ganz anderer Weise für den Willen zur Macht, Nietzsches zwar als Hauptwerk geplante, aber nie ausgeführte Schrift. Hier liegt das Problem, wie man schon seit längerer Zeit weiß, darin, dass es sich um eine spätere Kompilation handelt. Sie erschien erstmals 1901, ein Jahr nach Nietzsches Tod, und wurde auf Wunsch und unter der Ägide seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche von mehreren Mitarbeitern angefertigt. Von Nietzsche selbst überliefert sind nur immer wieder abgeänderte Dispositionen mit dem Titel ‚Wille zur Macht‘ sowie nachgelassene Notate. Sie hängen nicht zusammen und sind oft auch in sich unfertig, aber lassen erkennen, dass sich Nietzsche seit 1881 über einige Jahre hinweg tatsächlich mit einem solchen Plan trug, wie übrigens
20 Vgl. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen, S. 258. 21 Thomas Mann: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurter Ausgabe, hg. von Peter de Mendelssohn: Leiden und Größe der Meister, Frankfurt am Main 1982, S. 846.
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auch mit zahlreichen anderen unausgeführten Plänen. In die amorphe Masse der von Elisabeth Förster-Nietzsche herausgebrachten Kompilation wurde viel gar nicht zum Thema Gehörendes hineingepresst, um dem Buch zu dem Umfang zu verhelfen, der dem Anspruch eines Hauptwerks genügte. Sogar Exzerpte gerieten hinein, die Nietzsche aus den Werken anderer Autoren angefertigt und ausdrücklich als Exzerpte gekennzeichnet hatte. Man präsentierte sie als seine eigenen Gedanken. Immerhin hatte die Schwester in ihrem Vorwort zur Erstausgabe 1901, allerdings nur in dieser, auf mancherlei Unsicherheiten und das Provisorische der Kompilation hingewiesen und unter den Haupttitel ‚Wille zur Macht‘ noch geschrieben: ‚Studien und Fragmente‘, um mindestens das Unfertige des Zusammengestellten zu signalisieren. Spätere Ausgaben unterließen dies. Alsbald begann die erstaunliche Karriere dieses zur Legende beförderten Wechselbalgs, den spätere Kompilatoren nach Belieben ausstopften. Nichts zeigt dies deutlicher als die Tatsache, dass die Erstausgabe von 1901 nur 483 nachgelassene Notate enthält, die neue Ausgabe von 1906 aber mehr als doppelt so viel, nämlich 1067. Diese Kompilation von 1906 ging unverändert in die für ein halbes Jahrhundert maßgebende Großoktav-Ausgabe von 1911 ein (Bd. XV und XVI) und galt als kanonisch, obwohl sie schon in frühen Kritiken als fragwürdig bezeichnet wurde. Auflage folgte auf Auflage.22 Wie kaum ein anderes Theorem Nietzsches schien der ‚Wille zur Macht‘ den Zeittendenzen zu entsprechen. Hitler erwies 1934 anlässlich eines Besuchs im Weimarer Nietzsche-Archiv der inzwischen uralten Schwester seine Reverenz, bevor er für den Fotografen vor Nietzsches heroisierter Büste posierte.23 An der Beerdigung von Nietzsches Schwester im November 1935 nahm Hitler mit anderen Vertretern der Reichsregierung teil, und noch 1944 wurde Nietzsches hundertster Geburtstag unter der Schirmherrschaft des HitlerStellvertreters Alfred Rosenberg gefeiert.24
22 Alfred Baeumler brachte den ‚Willen zur Macht‘ 1930 als Band 78 von Kröners Taschenausgabe heraus (= Friedrich Nietzsche: Werke, hg. von Alfred Baeumler, Bd. 6: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, Leipzig 1930); dieser Band machte im Dritten Reich alsbald Karriere und wurde auch nach dem Ende des Nazi-Regimes weiter gedruckt: 1996 erschien die 13. Auflage. Zu Nietzsches 100. Geburtstag im Oktober 1944 veröffentlichte Baeumler auf der Titelseite des ‚Völkischen Beobachters‘, des nationalsozialistischen Zentralorgans, einen ganz auf Nietzsche als heroischen „Propheten des Krieges“ gestimmten Artikel. 23 Das Foto ist reproduziert in dem für Nietzsches Wirkungsgeschichte insgesamt aufschlussreichen Werk von Aschheim: Nietzsche und die Deutschen, S. 217. 24 Nietzsche und die politische Wissenschaft, in: Volk im Werden 2 (1934), S. 455–469, hier S. 457. Die totalitäre Instrumentalisierung Nietzsches brachte Hans-Joachim Falkenberg auf den Nenner: „Und nehmen wir Nietzsche als geistigen Führer zu einer neuen Kultur, so dürfen, ja müssen wir sagen: Die deutsche Kultur sei eine Einheit; das heißt, alle Teile müssen deutsch sein. Und
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Abb. 1: Hitler beim Anblick einer Nietzsche-Büste, 1934. © Goethe- und Schiller-Archiv, Klassik Stiftung Weimar, GSA 101/239. Mit freundlicher Genehmigung.
Unter den Philosophen fixierte sich besonders Heidegger auf das vermeintliche Hauptwerk Nietzsches. Er ließ sich faszinieren, obwohl er die Problematik der Kompilation erkannte. Ein drastisches Beispiel ist, dass er ein Notat als Fazit des von Nietzsche eigentlich Gemeinten und Gewollten auffasste, da es unter der Überschrift ‚Rekapitulation‘ steht. Er bemerkte nicht, dass die unterstrichene (Zwischen-)Überschrift nicht von Nietzsche, sondern von seinem ehemaligen Mitarbeiter Heinrich Köselitz (Pseudonym: Peter Gast) stammt, den die Schwester mit der Herstellung der Kompilation beauftragt hatte. Köselitz wollte lediglich ein Orientierungssignal für die Benutzer setzen.25 Heideggers Faszination durch die besonders in späten Nachlass-Notaten hervortretende, aber sonst keineswegs dominierende Vorstellung des ‚Willens zur Macht‘ ging so weit, dass er Nietzsches Nachlass insgesamt zu Nietzsches „eigentlicher Philosophie“ erklärte.26 Seine Behauptung führte dazu, dass sich bis in die Gegenwart hartnäckig ein einseitiges
somit auch die Wissenschaft. Die ersten Schritte zu einer Kultur sind die Erziehung zum Kampf und die Erziehung zur Einheit von Blut und Tat“. 25 Hierzu die Analyse von Wolfgang Müller-Lauter: Über Werden und Wille zur Macht. NietzscheInterpretationen I, Berlin/New York 1999, S. 353. 26 Martin Heidegger: Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961, Bd. 1, S. 17.
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Abb. 2: Alfred Soder, Ex Libris von Friedrich Berthold Sutter. © Goethe- und Schiller-Archiv, Klassik Stiftung Weimar, GSA 101/80. Mit freundlicher Genehmigung.
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Abb. 3: Cover Der Spiegel 24/1981. SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG. Mit freundlicher Genehmigung.
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Interesse für die nachgelassenen Notate hält, als seien diese nicht weitestgehend bloß Lesefrüchte, Exzerpte, Gedankenskizzen, Stichworte, Pläne sowie für die Publikation vorerst nicht mehr in Betracht gezogene und deshalb beiseite gelegte Aufzeichnungen.27 Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass der Nachlass, der zum überwiegenden Teil aus solchen Notaten besteht und umfangreicher als das veröffentlichte Werk ist, nützliche Verständnishilfen für die Werke bietet. Zu unterscheiden ist zwischen dem angeblichen Hauptwerk ‚Der Wille zur Macht‘, das als Werk nie existiert hat, und der gedanklichen Konzeption eines „Willens zur Macht“, die nicht nur in nachgelassenen Aufzeichnungen, sondern auch in mehreren von Nietzsche selbst veröffentlichten und autorisierten Werken greifbar ist, wenn auch eher sporadisch. Die scheinbar so eingängige Prägung verdeckt eine vieldeutige und komplexe Poblematik. Was versteht Nietzsche unter „Wille“, was unter „Macht“? In welchem Kontext stehen diese Begriffe und wo liegen ihre Voraussetzungen? Wie bildet sich dieses Theorem aus? Ich gehe zunächst von dieser letzten Frage aus. Schopenhauer, mit dessen Werk Nietzsche sehr gut vertraut war und das bei ihm von der Geburt der Tragödie bis zu den späten Schriften in Zustimmung wie Widerspruch tiefe Spuren hinterließ, ja das ihn eigentlich niemals losließ – Schopenhauer hatte in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung den „Willen“ in einer missverständlichen Weise zum Angelpunkt seiner pessimistischen Philosophie gemacht.28 Abweichend vom geläufigen Sinn des Wortes
27 Speziell zu den nachgelassenen Notaten zum ‚Willen zur Macht‘ vgl. Marie-Luise Haase/Jörg Salaquarda: Konkordanz. Der Wille zur Macht. Nachlass in chronologischer Ordnung der Kritischen Gesamtausgabe, in: Nietzsche-Studien 9 (1980), S. 446–490. Elisabeth Kuhn: „Der Wille zur Macht“. Vom „Hauptprosawerk“ zu den „Nachgelassenen Fragmenten“. Dokumente zur Edi tionsgeschichte, in: Prima Philosophia 8 (1995), S. 21–34. 28 Mit seinem metaphysischen Willensbegriff schloss sich Schopenhauer an Schellings Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) an. Darin heißt es: „Wollen ist Urseyn“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämmtliche Werke, hg. von Karl Friedrich August Schelling, Abt. 1, Bd. 7: 1805–1810, Stuttgart/Augsburg 1860 [Reprint Darmstadt 1976], S. 294: „Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden.“ Schopenhauer verteidigte sich gegen den immer wieder erhobenen Vorwurf, er habe seine Grundposition von Schelling übernommen, ohne diesen als Quelle zu nennen, in: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften. Zweite, verbesserte und beträchtlich vermehrte Auflage, aus dem handschriftlichen Nachlasse des Verfassers herausgegeben von Dr. Julius Frauenstädt. Erster Band, Berlin 1862, S. 144 f. Eine scharfe Attacke gegen Schopenhauer hatte schon Ludwig Noack in seinem erfrischend unzimperlichen Werk geführt: Schelling und die Philosophie der Romantik. Ein Beitrag zur Culturgeschichte des deutschen Geistes. In zwei Theilen. Zweiter Theil, Berlin 1859.
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meint er mit dem „Willen“ einen heillosen metaphysischen Weltgrund, der allem konkreten Dasein vorausliegt und dieses wesentlich durch Schmerz, Leiden und Widersprüche bestimmt sein lässt. Die konkreten Manifestationen dieser metaphysischen Willenskonzeption beobachtet er in der Hexenküche einer von blinden Triebspannungen erfüllten Welt. Sein zweiter Hauptbegriff, derjenige der „Vorstellung“, meint die Repräsentation dieser Welt in Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken; sie schließt die Fähigkeit des Menschen ein, sich im Medium des schönen Scheins über die Unseligkeit des so gedeuteten Seins zu erheben, wenn auch nur temporär und illusionär. Daher rührt bei ihm, wie dann auch in Nietzsches Frühwerk, die besondere Bedeutung der Kunst, die fast Erlösungsqualität erhält, aber das Verhängnis nicht gänzlich aus dem Leben und dem Bewusstsein zu verdrängen vermag. Den sich im Dasein manifestierenden „Willen“ versteht Schopenhauer als elementaren Lebensdrang, dem, so paradox dies im Hinblick auf den Willensbegriff erscheint, primär nichts Intentionales anhaftet. Er spricht vom „Willen zum Leben“, und in einer eigenen Schrift handelt er sogar vom „Willen in der Natur“, um die Grunddisposition zu charakterisieren, die alles Leben als naturhaftes Schicksal bestimmt.29 Hier liegt der begriffliche Geburtsfehler von Nietzsches Konzeption des „Willens zur Macht“. Obwohl Nietzsche in seinen späten Schriften durchaus die Kalamität von Schopenhauers Willensbegriff erkannte, blieb er an seinem Willen zur Macht haften. Nicht so missverständlich und irreführend wäre es gewesen, wenn Schopenhauer statt vom „Willen zum Leben“ vom Lebensdrang und statt vom „Willen in der Natur“ von einem Naturtrieb gesprochen hätte. Aufgrund seiner pessimistischen Weltanschauung, der er den ontologischen Willensbegriff zugrunde legt, wertet Schopenhauer den real im „Willen zum Leben“ wirkenden Drang negativ. Deshalb wendet er sich der Möglichkeit zu, dass dieser konkret das Dasein bestimmende Wille sich gegen sich selbst kehrt: dass er das Leben verneint, und zwar so sehr, dass er sich bis zum Äußersten reduziert oder sogar selbst auslöscht. Daher erhalten bei ihm die allem Welttreiben und allen Trieben enthobenen Figuren des Asketen und des Heiligen besondere Bedeutung. Als allgemeineres Orientierungsmodell wählt Schopenhauer den Buddhismus mit seinen Strategien der Affekt- und Triebreduktion bis hin zum Übergang ins Nichts, ins Nirwana, in dem sich der Mensch von sich selbst erlöst hat. Das letzte Kapitel seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung I beginnt Schopenhauer mit den Worten: „Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts.
29 Darin besteht eine Gemeinsamkeit mit der idealistischen Naturphilosophie (die Schopenhauer freilich verschweigt): mit Schellings Projekt einer „Spekulativen Physik“, welche die Ergebnisse der Naturwissenschaften philosophisch „begründen“ sollte.
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Aber Das, was sich gegen dieses Zerfließen ins Nichts sträubt, unsere Natur, ist ja eben nur der Wille zum Leben, der wir selbst sind, wie er unsere Welt ist“. Und nach einem Hinweis auf das Brahma der Inder und das Nirwana der Buddhisten lautet der letzte Satz seines Werks: „Wir bekennen es […] frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts“.30 Diesem nihilistischen Pessimismus, dem Nietzsche in seinem Frühwerk noch weitgehend folgte, stemmt er sich später entgegen. Seine prägnante Formel für die von ihm nunmehr versuchte Revision ist der „Wille zur Macht“. Er möchte ihn als eine dem Leben und der Natur immanente Tendenz zur Selbst-Bejahung verstehen, die er an die Stelle der Selbst-Verneinung des Willens bei Schopenhauer setzt. Dass Nietzsche den Willen nicht nur, wie Schopenhauer, als „Willen zum Leben“ interpretiert, sondern zu einem „Willen zur Macht“ steigert, verrät noch mehr das Antithetische der Operation in diesem Geistergespräch. Denn während es Schopenhauer auf die schließlich ins Nichts, ins Nirwana übergehende SelbstReduktion des Willens im Individuum ankommt, markiert Nietzsche mit seiner Macht-These die maximale Selbst-Expansion. Auf das Titelblatt eines französischen Buches, das er sich gekauft hatte, schrieb er folgende Bemerkung: „Die höchste Intensität des Lebens steht in der That im nothwendigen Verhältnis zu sa plus large expansion […] diese expansion drückt sich als unbändiger Wille zur M a ch t aus“.31 Bevor ich zu den näheren Einzelbestimmungen des Willens zur Macht sowie zu dessen Zusammenhang mit Nietzsches anderen Leitvorstellungen übergehe: zum Tod Gottes und zum Übermenschen, skizziere ich die Forschungsdiskussion zum Willen zur Macht. Sie geht von der Frage aus: Warum spricht Nietzsche immer wieder im Singular vom Willen zur Macht, beschwört dann aber auch in einem befremdlichen Plural „die“ Willen zur Macht? Man hat versucht, mit dem Hinweis auf diese Pluralität die Annahme eines Willens zur Macht wenn nicht zu bestreiten, so doch als das nicht eigentlich Gemeinte darzustellen. Dieses Problem wäre wohl nicht in die Diskussion geraten, wenn man die zentrale Aussage Nietzsches
30 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I (= WWV I/II), § 71, in: ders.: Sämt liche Werke, nach der ersten, von Julius Frauenstädt besorgten Gesamtausgabe neu bearbeitet und hg. von Arthur Hübscher, Bd. 2, 3. Auflage, Wiesbaden 1972, S. 487. 31 Giuliano Campioni u. a. (Hg.): Nietzsches persönliche Bibliothek, Berlin/New York 2003, S. 271. Zur Forschungsdebatte wie überhaupt zum ‚Willen zur Macht‘ vgl. die Werke von Günter Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht, 2. Auflage, Berlin 1998; Wolfgang MüllerLauter: Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/New York 1999.
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genauer gelesen hätte, die durch andere Aussagen nicht in Frage gestellt wird. Sie befindet sich in seiner 1886 entstandenen Schrift Jenseits von Gut und Böse. Als Hypothese, zugleich aber auch als seine dezidierte These, mit der Nietzsche auf das schon im Zarathustra apodiktisch Behauptete zurückgriff32, formuliert Nietzsche Folgendes: „Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist ‒; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist Ein Problem – fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht . Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‚intelligiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben ‚Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem“.33 Das von der Forschungsdebatte aufgeworfene Problem löst sich vor dem Hintergrund dieses Schlüsseltexts auf. Denn wenn der Wille zur Macht unser gesamtes Leben als dessen von Nietzsche so genannte triebhafte „Grundform“ bestimmt – das ist der Singular – und sich dann in den verschiedensten Bereichen ausdifferenziert – Nietzsche spricht ja von „Ausgestaltung und Verzweigung“ –, dann geht die Pluralität der Willen zur Macht aus der einen Grundform hervor und steht somit keineswegs in einem widersprüchlichen oder gar gegensätzlichen Verhältnis zu ihr.34 Schon hier füge ich an, dass erstens im Bereich des Organischen die Rede von „Macht“ fragwürdig ist, dass zweitens Nietzsches Rückführung aller „organischen“ Funktionen auf den Willen zur Macht keineswegs die von ihm vorgenommene Totalisierung im Hinblick auf die „Welt“ im Ganzen erlaubt, dass drittens insbesondere die Übertragung aus dem Bereich des an sich schon falsch interpretierten Organischen auf den gesellschaftlichen und politischen Bereich auf einem Fehlschluss beruht. Obendrein versucht Nietzsche auf der metaphysischen Hintertreppe die Wendung „die Welt von innen gesehen“ und die Rede vom „intelligiblen Charakter“ als wenig taugliche Stützen seiner These einzuführen.
32 Vgl. KSA 4, 146, 11–13; 147, 34–148, 2. 33 KSA 5, 55, 24–35. 34 Vgl. auch folgendes Notat: „[…] daß alle ‚Zwecke‘, ‚Ziele‘, ‚Sinne‘ nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen [!] Willens sind, der allem Geschehen inhärirt, der Wille zur Macht; […] daß der allgemeinste und unterste Instinkt in allem Thun und Wollen eben deshalb der unerkannteste und verborgenste geblieben ist, weil in praxi wir immer seinem Gebote folgen, weil wir dies Gebot si n d … Alle Werthschätzungen sind nur Folgen und engere Perspektiven im Dienste dieses E i n e n [ ! ] Wi l l e n s “ (NL November 1887-März 1888, 11[96], KSA 13, 44, 27–45, 6).
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Lässt man diesen Generalvorbehalt zunächst beiseite, so ergibt sich aus Nietzsches Formulierung, dass der „Wille zur Macht“, so wie man ihn zunächst hauptsächlich versteht, nämlich imperialistisch oder jedenfalls politisch, durchaus zum universellen Spektrum des Machtwillens als eine spezielle Facette dieses Spektrums gehört. Es wird noch zu sehen sein, dass Nietzsche sein Theorem letztlich mit der Intention entwirft, ungehemmte politische und sonstige Machtausübung durch einen alles übergreifenden Grundansatz zu legitimieren. Zwar reflektiert er, dass sich die Vielzahl einzelner Machtwillen, zu denen sich die universelle Grundform ausdifferenziert, auch gegeneinander richten können, aber weil sein ganzes Werk auf Kampf und Krieg fixiert ist, erwägt er nicht die Möglichkeit der Koexistenz oder des Miteinanders, des Interessen-Ausgleichs, des Vertrags oder gar der Versöhnung. „Oh meine Brüder!“ lässt er seinen Zarathustra ausrufen, „ke i n ‚Vertrag‘! Zerbrecht, zerbrecht mir solch Wort der Weich-Herzen und Halb- und Halben!“35 Damit lehnt Nietzsche, wie auch sonst, vehement die Demokratie ab, um für diktatorische Machtausübung und ausdrücklich auch für extreme Ausbeutung zu plädieren, die nur den Herrenmenschen und die Unterworfenen kennt, die versklavt werden sollen. Besonders erregte er sich über die Abschaffung der Sklaverei durch Lincoln in den Vereinigten Staaten 1865, wo es noch 4 Millionen schwarze Sklaven auf den großen Plantagen der Südstaaten gegeben hatte.36
35 KSA 4, 265, 22–24. 36 Vgl. NL 1884/1885, 32[20], KSA 11, 417, 17: „G e ge n d i e Au f h e b u ng d e r Sk l ave re i“. Zu Nietzsches Plädoyer für die Sklaverei und zum zeitgenössischen Kontext vgl. NK 1/1 zu KSA 1, 78, 8–10 sowie zu KSA 1, 78, 11–14.
2 Nietzsches Anschluss an die zeitgenössische Freidenker-Bewegung Sein misslungener Versuch, den primär physikalischen ‚Kraft’-Begriff und dessen ‚physiologische‘ Variante in den einer „psycho-physischen“ „Macht“ zu transformieren
In der aus der Schrift Jenseits von Gut und Böse zitierten zentralen Aussage über den „Willen zur Macht“ überführt Nietzsche den Begriff der „Kraft“ in den der „Macht“. Er schreibt, man habe sich aufgrund seiner alsbald zur These formierten Hypothese – ich wiederhole den markantesten Passus ‒ „das Recht verschafft, a l le wirkende Kraft [!] eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht“. Ist die angeblich „eindeutige“ Bestimmung der „Kraft“ als „Wille zur Macht“ so berechtigt wie Nietzsche glauben machen will? Schon die Überlegung, dass der Begriff der Macht sich immer auf das Verhältnis zu anderen Menschen, Institutionen und Staaten bezieht, aber derjenige der Kraft nicht von einem solchen relationalen Zusammenhang bestimmt ist, spricht eher gegen die Gleichsetzung von Kraft und Macht. Warum rekurriert Nietzsche überhaupt auf den Begriff der Kraft?37 Der unmittelbare Kontext lässt erkennen, dass er sich zunächst um
37 Schopenhauer hatte den schon längst gängigen Begriff der Kraft bereits in den des „Willens“ zu transformieren versucht, der dann bei Nietzsche als „Wille zur Macht“ erscheint. „Bisher“, schreibt Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), „subsumirte man den Begriff Wi l l e unter den Begriff K r a f t : dagegen mache ich es gerade umgekehrt und will jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen. Man glaube ja nicht, daß dies Wortstreit, oder gleichgültig sei: vielmehr ist es von der allerhöchsten Bedeutsamkeit und Wichtigkeit. Denn dem Begriffe K r a f t liegt, wie allen anderen, zuletzt die anschauliche Erkenntniß der objektiven Welt, d. h. der Erscheinung zum Grunde, und daraus ist er geschöpft. Er ist aus dem Gebiet abstrahirt, wo Ursache und Wirkung herrscht, also aus der anschaulichen Vorstellung, und bedeutet eben das Ursachseyn der Ursache, auf dem Punkt, wo es ätiologisch durchaus nicht weiter erklärlich, sondern eben die nothwendige Voraussetzung aller ätiologischen Erklärung ist. Hingegen der Begriff Wi l l e ist der einzige, unter allen möglichen, welcher seinen Ursprung nicht in der Erscheinung, n i ch t in bloßer anschaulicher Vorstellung hat, sondern aus dem Innern kommt, aus dem unmittelbarsten Bewußtseyn eines jeden hervorgeht […]“ (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, zweites Buch, § 22, in: ders.: Sämmtliche Werke, hg. von Julius Frauenstädt, Bd. 2, Leipzig 1873 (= WWV I/II), S. 133). Gegen diese noch von Kants Unterscheidung von „Ding an sich“ und „Erscheinung“ ausgehende Konzeption wendet sich die monistische Auffassung. – Spätere Notate Nietzsches setzen ausdrücklich „Kraft“ und „Wille zur Macht“ gleich (NL 1885, 36[31], KSA 11, 563; NL 1888, 14[121], KSA 13, 300). In der Spätschrift Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum heißt es: „Das Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachsthum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für M a ch t : wo der Wille zur Macht fehlt, giebt es Niedergang“ (KSA 6, 172, 21–23). Nietzsche, der von schweren Krankheitskrisen Bedrohte, phantasierte kompensatorisch von der „großen Gesundheit“ und wollte deshalb nicht
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eine quasi naturwissenschaftliche Legitimation bemüht, indem er von „Kraft“ und „wirkender Kraft“, auch von „Causalität“ spricht und sogar die Mathematik ins Spiel bringt. Hierfür gibt es einen historischen Hintergrund ‒ nicht nur weil die Philosophie mitsamt der Theologie durch die moderne Naturwissenschaft und durch die im 19. Jahrhundert zu einer Leitwissenschaft aufgestiegene Geschichtswissenschaft in einen Zangengriff geraten war; auch speziell der Kraftbegriff, sowohl der physikalische wie der von Nietzsche häufig adaptierte physiologische, hatte Hochkonjunktur. Er zeitigte bereits breitenwirksame Konsequenzen. Ludwig Büchner, ein Bruder des Dichters Georg Büchner, hatte 1855 einen in alle Sprachen übersetzten Weltbestseller mit dem Titel Kraft und Stoff verfasst – 1876 erschien er bereits in der 14. deutschen Auflage. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon 5 französische Auflagen, englische, italienische, spanische, russische, polnische, dänische, holländische, schwedische, ungarische, rumänische Übersetzungen und diverse deutsch-amerikanische Ausgaben. In 30 amerikanischen Städten hielt Ludwig Büchner sensationell erfolgreiche Vorträge, ganz im Geiste eines materialistischen Naturalismus, den er mit aufklärerischem Impetus vortrug und in den er Darwins aufsehenerregende Forschungen einbezog. Aufgrund seiner eigenen Kompetenz als Mediziner untermauerte er sie vor allem physiologisch. Büchner war Vorsitzender der 1881 gegründeten deutschen Sektion des internationalen Freidenker-Verbandes, der sich kurz zuvor in Brüssel konstituiert hatte. Dieser Verband, der eine entschieden antiklerikale und antichristliche Tendenz verfolgte, wandte sich auch kritisch gegen alle konservatividealistischen Denk-Traditionen. Obwohl sich Nietzsche gern als „unzeitgemäßen“ Originaldenker und als prophetischen Vordenker der „Zukunft“ inszenierte, stellte er sich sogleich in diese aktuelle Strömung. Genau zur gleichen Zeit, in der sich die Freidenker-Bewegung institutionell organisierte und von ihm auch als geistige Bewegung wahrgenommen wurde, trat er selbst als radikaler Freidenker und Freigeist hervor: zuerst in der 1878 erschienenen Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches, die er bezeichnenderweise dem Andenken Voltaires zu dessen 100. Todestag widmete und mit dem programmatischen Untertitel „Ein Buch für freie Geister“ versah. Alsbald folgte 1880/81 die Aphorismen-
wahrhaben, dass das Leben weder „Dauer“ hat, noch aus einer „Häufung von Kräften“ besteht, sondern naturgemäß auf Alter und Tod hinausläuft – ganz zu schweigen von schwächenden Krankheiten. Zur kritischen Analyse der Aussage und ihres Kontextes vgl. auch Andreas Urs Sommer in NK 6/2 zu 172, 21–26 sowie weiter ausgreifend zum „Willen zur Macht“ in NK 6/2 zu 170, 2–6.
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sammlung Morgenröthe, in der sich Nietzsche emphatisch als Freigeist exponierte und zugleich die Konzeption des ‚Willens zur Macht‘ anbahnte.38 In diesem Horizont ist auch das Interesse am Begriff der Kraft zu sehen. Wie sehr Nietzsches Denken immer wieder um diesen Begriff kreist, lassen seine Aufzeichnungen bis in die späten Jahre hinein erkennen. Dabei orientierte er sich an einem im 18. Jahrhundert erschienenen Werk des kroatischen Mathematikers und Naturphilosophen Joseph Boscovich, das er der Veränderung des Weltbildes durch Kopernikus gleichstellte.39 Boscovich hatte die mechanistische Atomtheorie zugunsten einer entmaterialisierten Kraft-Theorie zurückgewiesen. Ihr zufolge gibt es gar keine Materie im herkömmlichen Verständnis, vielmehr müsse Materie als Konstellation aufeinander wirkender, ausdehnungsloser Kraftzentren begriffen werden.40 Nietzsche stellt u. a. folgende, ganz auf quantitative Kriterien reduzierende Überlegung an: „Unsere Erkenntniß ist in dem Maaße wissenschaftlich geworden, als sie Zahl und Maaß anwenden kann …/Der Versuch wäre zu machen, ob nicht eine wissenschaftliche Ordnung der Werthe einfach auf eine Z ahl- und M a ß s c a l a d e r K r aft aufzubauen wäre …/‒ alle sonstigen ‚Wer the‘ sind Vorurtheile, Naivetäten, Mißverständnisse …/‒ sie sind überall reduzirbar auf jene Zahl- und Maß-Scala der Kraft/‒ das Aufwär ts in dieser Scala bedeutet jedes Wa ch s e n a n Wer th:/das Abwär ts in dieser Skala bedeutet Verminder u ng d e s We r t h s“.41 N. jagt hier einem szientistischen Phantom nach, indem er die „Kraft“ als axiomatischen Wertmaßstab postuliert. Dies gilt auch für den „Willen zur Macht“, in dem sich solche „Kraft“ geltend macht. In einem anderen Notat heißt es: „Woran mißt sich objektiv der Wer th? Allein an dem Quantum ge s te ige r te r und organisir ter Macht , nach dem, was in allem Geschehen geschieht, ein Wille zum Mehr …“.42 Offensichtlich handelt es sich um eine vermeintlich objektivierende „wissenschaftliche“ Methode zur quantifizierenden Reduktion der Qualitätsbestimmung „Wert“, dann aber um deren neue Füllung durch die Vorstellung von „Macht“.
38 Bemerkenswert ist eine schon wesentlich frühere Verbindung von „Wille“ und „Macht“ in der vierten der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Richard Wagner in Bayreuth. Dort heißt es von Wagner: „Zu unterst wühlt ein heftiger Wille in jäher Strömung, der gleichsam auf allen Wegen, Höhlen und Schluchten an’s Licht will und nach Macht verlangt“ (KSA 1, 437, 3–6). 39 NL 1884, 26[432], KSA 11, 266. 40 Roger Joseph Boscovich: Philosophiae naturalis theoria redacta ad unicam legem virium in natura existentium, 2 Bde., Wien 1759. Dieses Werk entlieh Nietzsche seit 1873 mehrmals aus der Universitätsbibliothek Basel. 41 NL 1888, 14[105], KSA 13, 282, 23–283, 6; vgl. schon den Brief an Köselitz vom 20. 3. 1882, KSB 6, Nr. 213, S. 182–184. 42 NL November 1887-März 1888, 11[83], KSA 13, 39–40, 31–34.
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Schon in einem auf den Zeitraum zwischen 1880 und 1881 zu datierenden Notat nimmt N. die zeitgenössische Ineinssetzung von Kraft und Materie und damit das Konzept eines dynamischen Materialismus auf. Er schließt sich der Annahme an, „daß Kraft und Materie Eins sind“.43 Diese Vorstellung war zwar schon im jonischen Hylozoismus vorhanden und jeder fundierten Philosophiegeschichte zu entnehmen. Doch erhielt sie im aufklärerischen Materialismus des Freidenkertums ihr zeitgenössisches Profil aus der Frontbildung gegen die christliche Transzendenz und die idealistische Geistphilosophie. Vor allem sollte die grundsätzliche Identität von Kraft und Materie für alles Organische gelten, auf das der diffuse und gegen Ende des 19. Jahrhunderts definitiv als obsolet angesehene Begriff der ‚Lebenskraft‘ angewandt wurde ‒ ein Wiedergänger der altbekannten „vis vitalis“. Dennoch erhielt die Physiologie ein über den engeren medizinischen Bereich hinausreichendes Interesse. Besonders wurde der physiologische Kraftbegriff im Hinblick auf die „Nervenkraft“ erörtert. Bereits um 1800 hatte der Radikalaufklärer Pierre Jean Georges de Cabanis (1757–1808), auf den sich auch Schopenhauer berief, in einem in fast alle europäischen Sprachen übersetzten und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wirkenden Werk Gehirn und „Nerven“ zur physiologischen Zentralinstanz deklariert und strikt materialistisch aufgefasst. Von der „Nervenkraft“ her, die Nietzsche eigens thematisierte44, und überhaupt von den „Nerven“ her, die eines der großen Modethemen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren – ein prominentes Zeugnis ist das Journal des Goncourt ‒ ergab sich die Verbindung zur Sphäre des „Gefühls“. Deshalb sprach man in der zeitgenössischen populärwissenschaftlichen Literatur, an die sich Nietzsche meistens hielt, mit Vorliebe von „psycho-physischen“ Krafterfahrungen. Das von Büchner paradigmatisierte Junktim von Kraft und Stoff beförderte bis in die hier nur knapp angedeuteten Differenzierungen hinein ein antimetaphysisch-naturalistisches Denken, das sich zu einer monistischen, übrigens auch literarisch wirkungsreichen Weltanschauung verdichtete. Deren wichtigster und außerordentlich weit wirkender Vertreter in Deutschland war der Zoologe Ernst Haeckel, der sich der Abstammungslehre Darwins anschloss. 1868 veröffentlichte er sein Werk Natürliche Schöpfungsgeschichte. 1874 folgte die Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen. Haeckel propagierte einen kämpferischen Atheismus und ließ sich 1904 auf dem internationalen Freidenkerkongress in Rom zum Gegenpapst ausrufen. 1899 veröffentlichte er sein Hauptwerk Die Welträthsel, in dem er den Anspruch auf „totale Welterklärung“ erhob und den Monismus als revolutionären Neuanfang darstellte. Dieses Buch wurde schon vor
43 10[F 101], KSA 9, 438, 25. 44 Morgenröthe 368, KSA 3, 243 f.
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dem Ersten Weltkrieg als Bestseller in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet.45 Nietzsche erwarb für seine persönliche Bibliothek Werke dieser Art, die ausdrücklich und sogar schon im Titel den „Monismus“ als Weltanschauung auf physiologischer Grundlage propagierten und den Begriff der ‚Kraft‘ als Leitbegriff voranstellten.46 Dass Nietzsche diesen zeitgenössischen Begriff der „Kraft“ in den der „Macht“ zu transformieren versuchte, geht schon aus der analysierten Passage der Schrift Jenseits von Gut und Böse hervor; auf eine geradezu augenfällige Weise demonstriert es eine Bemerkung, die er in einem von ihm intensiv durchgearbeiteten Werk am Seitenrand notierte. Der Autor, Maximilian Drossbach, gab seinem 1884 erschienenen Buch den Titel Ueber die scheinbaren und die wirklichen Ursachen des Geschehens in der Welt. Auch er folgte der zeitgenössischen Vorliebe für das Thema ‚Kraft‘. Im Zuge längerer Ausführungen hierzu schreibt er: „Die Wesen bewegen [sich?] nicht, weil sie, man weiss nicht woher, gestossen oder getrieben werden, sondern weil sie sich zu entfalten streben. Man hat erst dann den rechten Begriff von der Kraft, wenn man sie als das Streben nach Entfaltung erkennt“.47 Hier bemerkte Nietzsche am Rand: „‚Wille zur Macht‘ sage ich“.48 In zahlreichen Notaten seiner letzten Jahre hat Nietzsche denn auch den Mode-Begriff der ‚Kraft‘ mit dem „Willen zur Macht“ gleichzusetzen gesucht. Unter vielen analogen Aussagen führe ich nur zwei exemplarisch an. Beide sind mehr als problematisch. Erstens: „Der siegreiche Begriff ‚Kraft‘, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als ‚Willen zur Macht‘, d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung [!] der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht als schöpferischen Trieb usw.“49 In dem zweiten Notat behauptet Nietzsche, daß „alle treibende Kraft Wille zur Macht ist, dass es keine physische, dyna-
45 Andreas W. Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit. 1848–1914, 2. ergänzte Auflage, München 2002. Zur Verbreitung monistischer Literatur: Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918, München 1988. Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 1993. 46 So Johannes Gustav Vogt: Die Kraft. Eine real-monistische Weltanschauung. Erstes Buch. Mit 116 Holzschnitten. Die Contraktionsenergie, die letztursächliche einheitliche mechanische Wirkungsform des Weltsubstrates, Leipzig 1878. 47 Vogt, S. 45. 48 Faksimile in dem Katalog Nietzsches persönliche Bibliothek, Berlin/New York 2003, S. 200. 49 NL 1885, 36[31], KSA 11, 563.
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mische oder psychische Kraft außerdem giebt“.50 Helmuth Plessner hat derartige generalisierende Überbauten des Macht-Theorems ad absurdum geführt.51 Auch die verschiedenen Ausformungen des „Willens zur Macht“ in Nietzsches Werken sind immer unter dem schon erörterten kritischen Generalvorbehalt zu sehen, demzufolge dem Bereich des Organischen keineswegs „Macht“ zuzuschreiben ist, und die Übertragung vom „Organischen“ auf die gesellschaftliche Sphäre auf einem Fehlschluss beruht. In der 1880/81 verfassten Schrift Morgenröthe entwickelt Nietzsche eine Vorform, indem er immer wieder vom „Gefühl der Macht“ spricht. Selbst die nachgelassenen Notate zu diesem Werk kreisen oft um dieses Gefühl der Macht, das für ihn besonders von der „Nervenkraft“ abhängt. Tendenziell verrät sich schon beim „Gefühl der Macht“ die Universalität, die später dem „Willen zur Macht“ zukommt. Überall sieht Nietzsche das Verlangen nach einem „Gefühl der Macht“, das er hier allerdings noch ganz subjektiv als Streben nach einem erhöhten Lebensgefühl, nach einer Erfahrung höchstmöglicher individueller Daseinssteigerung, ja als rauschhaften Zustand maximalen Selbstwertempfindens versteht. Dieses Gefühl der Macht stellt sich nicht nur in zwischenmenschlichen Beziehungen oder in politischen Konstellationen ein, sondern auch im Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Der Mensch übt Macht gegen sich selbst aus, indem er sich etwa zu Leistungen zwingt, bis er dadurch ein selbstgesetztes Ziel erreicht und dies als Glücksgefühl genießt. Solche Macht besteht in der Kraft der Selbstüberwindung, die Nietzsche in einem eigenen Kapitel des Zarathustra unter der Überschrift ‚Von der Selbstüberwindung‘ erstmals als ‚Wille zur Macht‘ interpretiert. Sie bestimmt auch schon seine Vorstellung vom Übermenschen, denn dieser zwingt sich durch permanente Selbstüberwindung zum Übergang in ein immer höheres, wenn auch unbestimmt und abstrakt bleibendes Dasein.
50 NL 1888, 14[121], KSA 13, 300. 51 Helmuth Plessner: Macht und menschliche Natur, Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltsicht, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V, Frankfurt am Main 1981 [zuerst 1931]. Speziell zu Heidegger: S. 135–234.
3 Das Plädoyer für Menschenopfer zugunsten einer privilegierten Kaste Protest gegen die Abschaffung der Sklaverei in Amerika durch Lincoln
Ein wahrer Abgrund öffnet sich in den auffallend häufigen Ausführungen Nietzsches zum Opfer. Sowohl dem Selbstopfer wie dem Opfern anderer gewinnt er ein Gefühl der Macht ab, und deshalb zeigt er auch besonderes Interesse für die „Grausamkeit“. Ich analysiere exemplarisch einen Text aus der Aphorismensammlung Morgenröthe. Er bedarf zunächst einer knappen Kontextualisierung, denn vorausgeht eine Zurückweisung des Mitleids, das Schopenhauer wie vor ihm schon Rousseau zur elementaren Basis der Moral erklärt hatte. Ineins mit dieser Zurückweisung wendet sich Nietzsche gegen das christliche Gebot der Nächstenliebe und gegen sämtliche Humanitätsvorstellungen. Zu den Voraussetzungen für das Verständnis der Anfangspartie dieses Textes gehört es auch, dass Nietzsche hier implizit gegen mehrere Werke zur Ethik polemisiert, die damals aktuell waren. In einer Vorstufe des Textes nennt Nietzsche das kurz zuvor erschienene Buch Herbert Spencers The data of Ethics, dessen deutsche Übersetzung er sich sogleich besorgt hatte. Sie trägt den Titel Die Thatsachen der Ethik. Spencer hatte geschrieben, das „Wesen des Moralischen“ liege darin, „dass wir die nächsten und unmittelbarsten Folgen unserer Handlungen für den Anderen in’s Auge fassen und uns darnach entscheiden“. Dies wertet Nietzsche in der Anfangspartie des zu erörternden Textes als eine „kleinbürgerliche Moral“. Mit seiner Grundforderung, man solle sich „über den Nächsten hinweg“ setzen, widerspricht er auch dem von ihm vielfach benutzten Handbuch der Moral des Göttinger Philosophieprofessors Johann Julius Baumann. Dieser hält es für unsittlich, wenn jemand „die Menschheit wie ein Abstractum“ behandelt, so dass er „gegenüber den einzelnen lebendigen Menschen rücksichtslos und lieblos ist, um einer gedachten oder gehofften Menschheit zu dienen“.52 Nietzsches Text lautet (Nr. 146): Auch über den Näch sten h i nwe g. – Wie? Das Wesen des wahrhaft Moralischen liege darin, dass wir die nächsten und unmittelbarsten Folgen unserer Handlungen für den Anderen in’s Auge fassen und uns darnach entscheiden? Diess ist nur eine enge und kleinbürgerliche Moral, wenn es auch Moral sein mag: aber höher und freier scheint es mir gedacht, auch über diese nächsten Folgen für den Anderen h i nwe gz u s e h e n und entferntere Zwecke unter Umständen au ch du rch d a s Le i d d e s A n d e re n zu fördern, ‒ zum Beispiel die Erkenntniss zu fördern, auch trotz der Einsicht, dass unsere Freigeisterei
52 S. 135.
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Das Plädoyer für Menschenopfer zugunsten einer privilegierten Kaste
zunächst und unmittelbar die Anderen in Zweifel, Kummer und Schlimmeres werfen wird. Dürfen wir unseren Nächsten nicht wenigstens so behandeln, wie wir uns behandeln? Und wenn wir bei uns nicht so eng und kleinbürgerlich an die unmittelbaren Folgen und Leiden denken: warum m ü s s te n wir es bei ihm thun? Gesetzt, wir hätten den Sinn der Aufopferung für uns: was würde uns verbieten, den Nächsten mit aufzuopfern? – so wie es bisher der Staat und der Fürst thaten, die den einen Bürger den anderen zum Opfer brachten, ‚der allgemeinen Interessen wegen‘, wie man sagte. Aber auch wir haben allgemeine und vielleicht allgemeinere Interessen: warum sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen Geschlechter zum Opfer gebracht werden dürfen? sodass ihr Gram, ihre Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und Angstschritte für nöthig befunden würden, weil eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar für Alle machen solle? – Endlich: wir theilen zugleich die Gesinnung an den Nächsten mit, in der er s i ch als Opfer fü h l e n kann, wir überreden ihn zu der Aufgabe, für die wir ihn benützen. Sind wir denn ohne Mitleid? Aber wenn wir auch ü b e r u n s e r M i t l e i d h i nwe g gegen uns selber den Sieg erringen wollen, ist diess nicht eine höhere und freiere Haltung und Stimmung, als jene, bei der man sich sicher fühlt, wenn man herausgebracht hat, ob eine Handlung dem Nächsten wo h l o d e r we h e t h u t? Wir dagegen würden doch durch das Opfer – in welchem wir u n d d i e Nä ch s te n einbegriffen sind – das allgemeine Gefühl der menschlichen M a ch t [!] stärken und höher heben, gesetzt auch, dass wir nicht Mehr erreichten. Aber schon diess wäre eine positive Vermehrung des G lü cke s. – Zuletzt, wenn diess sogar ‒ ‒ doch hier kein Wort mehr! Ein Blick genügt, ihr habt mich verstanden.
Nietzsche deklariert in diesem Text die Absage an das Mitleid als heroischen Akt, wenn nicht sogar als acte gratuit. Er zielt auch hier auf das „Gefühl der mensch lichen M a ch t“, und zwar, das ist bemerkenswert, um dieses Gefühls willen. Schon dieses Gefühl würde ihm reichen, denn es heißt ja: „gesetzt auch, dass wir nicht Mehr erreichten“. Der von ihm so genannte „fernere Zweck“, der die Mittel sogar dann heiligt, wenn es sich um Menschenopfer handelt, entpuppt sich daher als die Gewinnung eines bloßen „Gefühls“, eben des ‚Gefühls der Macht‘. Nietzsche geht es in diesem Text nicht etwa, wie Machiavelli, auf dessen Werk Il principe er anspielt, um eine konkrete staatliche oder fürstliche Macht, sondern bloß um das ‚Gefühl der Macht‘: um das, wie er sagt, „Glück“ des Selbstgenusses in diesem Gefühl der Macht – um eine Stärkung des schon in mehreren vorausgehenden Texten mit diesem Terminus beschworenen „Ego“. Paradoxerweise will er, um dieses Ego durch das Glücksgefühl der Macht zu stärken, nicht nur andere opfern, sondern auch sich selbst, sein reales Ego. In einem nachgelassenen Notat spricht er von „der Wollust am Zerstören“.53 Sie betrifft sowohl die Zerstörung anderer als auch der eigenen Existenz. Lou von Salomé, die Nietzsche und sein Werk sehr gut kannte, bezeichnete ihn in ihren Erinnerungen treffend als Sado-
53 NL 1887, 9[115], KSA 12, 401.
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masochisten.54 Mehrere Texte Nietzsches stützen diese Diagnose. In der Schrift Jenseits von Gut und Böse heißt es: „es giebt einen reichlichen, überreichlichen Genuss auch am eignen Leiden, am eignen Sich-leiden-machen“55 und Nietzsche spricht von „jene[n] gefährlichen Schauder[n] der gegen sich selbst gewendeten Grausamkeit“.56 Allerdings hat man in Rechnung zu stellen, dass die Berufung auf de Sade und der Sadomasochismus schon seit den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts zur intellektuellen Mode gehörten. Nach dem zitierten Vorläufer-Text in der Aphorismensammlung Morgenröthe verschärft Nietzsche in der Schrift Jenseits von Gut und Böse (Nr. 258) den Wunsch nach der Aufopferung anderer Menschen, und nunmehr mit klaren gesellschaftlichen Zielen. Geopfert werden soll eine Unzahl von Menschen, die zu „Sklaven“ erniedrigt werden müssen, damit sich eine von ihm erträumte Aristokratie ihrer bedienen kann. „Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie“, so schreibt er, sei, „dass sie sich nicht als Funktion (sei es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt, ‒ dass sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen“. In einem nachgelassenen Notat bezeichnet er sie als „Dünger“.57 Eigentlich ging es Nietzsche immer nur um Privilegien auf Kosten ande rer Menschen, die zugunsten Privilegierter, zu denen er als „eximirter Kultur mensch“58 vor allem sich selber rechnen wollte, ausgebeutet und versklavt werden sollten. Dies ist ein Kontinuum der ihn leitenden Wunschträume seit den frühen Basler Jahren. In der dritten seiner ‚Fünf Vorreden‘, der er den Titel Der griechische Staat gab, begeisterte er sich für den griechischen Staat vor allem, weil dieser seine „Kultur“ auf der Basis der Sklaverei entwickelt habe – wobei er nicht reflektiert, dass die mit Rechtlosigkeit verbundene Sklaverei in der griechisch-römischen Antike wie in anderen Kulturkreisen und später noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verbreitet war und meistens keineswegs der „Kultur“ diente, sondern der gewinnbringenden Ausbeutung billiger Arbeitskräfte. Er, der sich auf den Olymp einer abgehobenen Privilegierten-Existenz hinauf phantasierte, erklärte: „Das Elend der mühsam lebenden Menschen muß noch gesteigert werden, um einer geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion 54 Lou Andreas-Salomé: In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres. 1912/1913, aus dem Nachlass hg. von Ernst Pfeiffer, Zürich 1958, S. 156. 55 KSA 5, 166, 24–26. 56 166, 33 f. 57 NL 1880/1881, 10[B51], KSA 9, 423, 6. 58 KSA 1, 769, 22.
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der Kunstwelt zu ermöglichen“.59 In Jenseits von Gut und Böse redet Nietzsche von der angeblich „guten und gesunden Aristokratie“ und sieht die nicht privilegierte Schicht nur als „Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren S ein emporzuheben vermag“. Er lässt seine Ausführungen in folgenden parodiereifen Vergleich einmünden: „[…] vergleichbar jenen sonnensüchtigen Kletterpflanzen auf Java – man nennt sie Sipo Matador ‒, welche mit ihren Armen einen Eichbaum so lange und oft umklammern, bis sie endlich, hoch über ihm, aber auf ihn gestützt, in freiem Lichte ihre Krone entfalten und ihr Glück zur Schau tragen können“.60 Nietzsche sagt nicht, von wem die „ausgesuchte Art Wesen“ ausgesucht wird, nicht, was „ihre Aufgabe“ ist, und auch nicht, welches „höhere Sein“ ihnen angeblich zukommt. Die verquere Metaphorik trägt vollends zur unfreiwilligen Selbstparodie bei, denn in der Botanik werden Kletterpflanzen, die ihre Wirtspflanzen ruinieren, ‚Schmarotzer‘ genannt. Abgesehen davon, dass auf Java zwar Zuckerrohr, Kakao-Sträucher und Palmen, aber keine Eichen wachsen, eignet sich überdies die Metapher des „Eichbaums“ nicht als Sinnbild für diejenigen, die zu Sklaven „herabgedrückt“ werden: Die Eiche ist seit jeher Sinnbild mächtiger Stärke. Der aktuelle zeitgenössische Hintergrund für Nietzsches Preis der Sklaverei lässt sich aus seiner Irritation über die Abschaffung der Sklaverei in Amerika erkennen, nachdem schon vorher eine Reihe von Staaten die Sklaverei aufgehoben hatten. Bereits 1754 hatten die Quäker in Philadelphia erklärt, dass Sklaverei Sünde ist. 1832 wurde in Boston die New England Anti-Slavery Society, 1833 in Philadelphia die American Anti-Slavery Society gegründet. Noch im gleichen Jahr endete im britischen Empire die Sklaverei. 1865 schaffte Lincoln die Sklaverei ab – in den USA gab es damals noch vier Millionen schwarze Sklaven, vor allem auf den großen Plantagen der Südstaaten.61 Im Nachlass aus dem Jahre 1884/85 unterstrich Nietzsche das Notat: „Gegen die Aufhebung der Sklaverei“62, und noch in Ecce homo äußerte er sich abfällig über die Absicht, „die Sklaven in Afrika zu befreien“.63 Obwohl sich Nietzsche in seinen frühen Schriften noch weitgehend an Schopenhauer orientierte, der die Sklaverei scharf ablehnte, forderte er den „Sk l ave ndienst der großen Masse“64 und dass „das Elend der mühsam
59 KSA 1, 767, 30–32. 60 KSA 5, 207, 1–8. 61 Eine informative und fundierte Darstellung über Entstehung, Entwicklung und Aufhebung der Sklaverei bietet Udo Sautter: Sklaverei in Amerika, Darmstadt 2014. 62 NL 1884/85, 32[20}, KSA 11, 417, 17. 63 KSA 6, 361, 28 f. 64 NL 1871, 10[1], KSA 7, 336, 20.
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lebenden Masse“ noch „gesteigert“ werden müsse. Schopenhauer verurteilte die Sklaverei und auch die sozialen Zustände in Deutschland in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung auch im Hinblick auf die in der Phase der Frühindustrialisierung verbreitete Ausbeutung von Kindern: Wie der Mensch mit dem Menschen verfährt, zeigt z. B. die Negersklaverei, deren Endzweck Zucker und Kaffee ist. Aber man braucht nicht so weit zu gehen: im Alter von fünf Jahren eintreten in die Garnspinnerei, oder sonstige Fabrik, und von Dem an erst 10, dann 12, endlich 14 Stunden täglich darin sitzen und die selbe mechanische Arbeit verrichten, heißt das Vergnügen, Athem zu holen, theuer erkaufen. Dies aber ist das Schicksal von Millionen, und viele andere Millionen haben ein analoges.65
Eine noch schärfere Stellungnahme Schopenhauers gegen die Sklaverei, die auf Nietzsche ebenfalls keinen Eindruck machte, obwohl sie auf den exakt dokumentierten Verhältnissen in den USA beruhte, steht in den Parerga und Paralipomena II, in § 114 der Abhandlung ‚Zur Ethik‘. Darin heißt es: Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Thier […] Ein vollwichtiges Beispiel aus der Gegenwart liefert […] die Antwort, welche die Brittische Antisklavereigesellschaft, auf ihre Frage nach der Behandlung der Sklaven in den sklavenhaltenden Staaten der Nordamerikanischen Union, von der Nordamerikanischen Antisklavereigesellschaft im Jahre 1840 erhalten hat: Slavery and the internal Slavetrade in the United States of North-America: being replies to questions transmitted by the British Antislavery-society to the American Antislavery society. Lond. 1841. 280 S. gr. 8. price 4 sh. in cloth. Dieses Buch macht eine der schwersten Anklageakten gegen die Menschheit aus. Keiner wird es ohne Entsetzen, Wenige ohne Thränen aus der Hand legen. Denn was der Leser desselben jemals vom unglücklichen Zustande der Sklaven, ja, von menschlicher Härte und Grausamkeit überhaupt, gehört, oder sich gedacht, oder geträumt haben mag, wird ihm geringfügig erscheinen, wenn er liest, wie jene Teufel in Menschengestalt, jene bigotten, kirchengehenden, streng den Sabbath beobachtenden Schurken, namentlich auch die Anglikanischen Pfaffen unter ihnen, ihre unschuldigen schwarzen Brüder behandeln, welche durch Unrecht und Gewalt in ihre Teufelsklauen gerathen sind. Dies Buch, welches aus trockenen, aber authentischen und dokumentirten Berichten besteht, empört alles Menschengefühl in dem Grade, daß man, mit demselben in der Hand, einen Kreuzzug predigen könnte, zur Unterjochung und Züchtigung der sklavenhaltenden Staaten Nordamerika’s. Denn sie sind ein Schandfleck der ganzen Menschheit.
Weil Nietzsche das „Gefühl der Macht“, das sich im Verlauf der Achtzigerjahre schließlich zum „Willen zur Macht“ ausformt, als Erfüllungsziel eines universell wirksamen expansiven Lebensdrangs interpretiert, interessiert er sich für dessen Manifestation in allen Bereichen, aber nur – und das ist entscheidend ‒,
65 WWV II, 663 (viertes Buch, § 46: Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens).
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um Macht als Machtprinzip zu etablieren und dieses gegen Moral, Recht, Staat, Pflicht, Humanität, ja gegen jedwede Verbindlichkeit und Norm in Stellung zu bringen. In der Vielzahl seiner mehr oder weniger aphoristischen Kurztexte entfaltet er ein breites Spektrum von Manifestationen des Willens zur Macht. Dabei gerät er als erklärter Immoralist, der die Moral grundsätzlich bekämpft, in eine fatale Paradoxie. Denn die Moral selbst erscheint als Ausdruck eines Willens zur Macht. Sie beruht, wie er sehr wohl wahrnimmt, auf Moral-Gesetzen, die einmal statuiert wurden und so ihre Autorität und Gültigkeit erhalten haben, im Extremfall sogar durch Berufung auf die über alles Menschliche hinausgehende Machtinstanz der Gottheit wie im mosaischen Dekalog. Aus dieser Paradoxie suchte er sich später zu lösen, indem er eine auf dem angeblichen Recht des Stärkeren beruhende „Herrenmoral“ von der „Sklavenmoral“ unterschied, als die er die jüdisch-christliche Moral attackierte.
4 Die Rede von den „Werten“ und den „Wertschätzungen“: Ein erster Ansatz zur „Umwertung aller Werte“ Nachvollzug der in der Aufklärung beginnenden und im 19. Jahrhundert fortgeschrittenen Erosion der christlichen Jenseits-Religion: „Gott ist tot.“ Zarathustra als Gegen-Moses. Die Aporien des theoretischen Immoralismus. Flucht in Voluntarismus, Dynamismus und Übermenschen-Utopie
Ein besonderer Schwerpunkt liegt seit dem Zarathustra, der zu den Radikalismen des Spätwerks überleitet, auf dem Schaffen. Die schöpferische Produktivität versteht Nietzsche, wie später Heidegger in seinem Gefolge,66 als intensivste Manifestation des expansiven Machtstrebens, das er in allem Leben erkennen will, und Schaffen ist für ihn vorrangig das Schaffen neuer Werte. Zuallererst setzt es das Zerstören der alten, bisher geltenden Werte voraus, so dass Schaffen und Vernichten sich gegenseitig bedingen, wie er in Erinnerung an eine Denkfigur seines Lieblingsphilosophen Heraklit betont und wie Heidegger ihm ebenfalls nachspricht.67 Allerdings gibt es für Nietzsche keine Werte an sich, vielmehr sind alle Werte, und darin folgt er zeitgenössischen Theorien, nur Ausdruck von Wertgefühlen, die aus Erfahrungen resultieren. In dem von ihm intensiv studierten Handbuch der Moral von Johann Julius Baumann (Leipzig 1879) konnte Nietzsche die Feststellung finden: „Alle Werthgefühle überhaupt sind ein Bewußtsein von Erhöhung des Lebens, von Steigerung der Kraft“.68 Aus diesen Wertgefühlen wiederum resultieren Wertschätzungen und schließlich Wertsetzungen. Im Zuge einer zunehmenden Autonomisierung und Absolutsetzung des „Willens zur Macht“ in Nietzsches Texten seit dem Zarathustra kehrt er dann allerdings die Reihenfolge um: Wertschätzungen und Wertsetzungen resultieren nicht mehr aus vorgängigen Erfahrungen, sondern sind nur noch Ausdruck des „Willens zur Macht“. „Alle Werthschätzungen“, schreibt Nietzsche, „sind nur Folgen [!] und engere Perspektiven i m Dienste [ !] dieses Einen Willens: das Werthschätzen selbst ist nur dieser Wille zur Macht“.69 Schon im Zarathustra kündigt sich diese Wendung mit aller Deutlichkeit an. Im Zarathustra-Kapitel ‚Von der Selbst-Ueberwindung‘, das erstmals die Lehre vom ‚Willen zur Macht‘ formuliert, heißt es:
66 Vgl. S. 35. 67 Vgl. S. 28 f. 68 Johann Julius Baumann: Handbuch der Moral nebst Abriss der Rechtsphilosophie, Leipzig 1879, S. 60. 69 NL November 1887-März 1888, 11[96], KSA 13, 45, 4–7.
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„Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht; und auch wenn ihr vom Guten und Bösen redet und von den Werthschätzungen“70; und noch deutlicher: „Mit euren Werthen und Worten von Gut und Böse übt ihr Gewalt, ihr Werthschätzenden“.71 Nietzsche propagiert die „Umwertung aller Werte“ aufgrund solcher „Macht“, ja „Gewalt“, aber indem er voraussieht, dass die in dieser Umwertung neugenerierten Werte künftig von anderen Wertschätzungen und Wertsetzungen wieder aufgehoben werden können, bleibt im Prinzip nur ein sich jeweils anders und neu artikulierender, ewig fluktuierender „Wille zur Macht“. Die Formel „Wille zur Macht“ steht demnach in engstem Zusammenhang mit dem Konzept der „Umwertung aller Werte“.72 Dies zeigt auch der im Sommer 1886 wiederholt notierte Titelentwurf: „Der Wille zur Macht/Versuch einer Umwertung aller Werte“. Der Zarathustra bringt diese Umwertung am eindringlichsten zum Ausdruck. In der letzten, erst postum erschienenen Schrift Ecce homo nennt Nietzsche, rückblickend auf seine Werke, das Zarathustra-Kapitel ‚Von alten und neuen Tafeln‘73 eine „entscheidende Partie“.74 Dass die Tafeln einer alten Moral und einer paradoxen neuen Anti-Moral gemeint sind, verrät schon die Anspielung auf den Begründer der biblischen Religion: auf Moses, der auf dem Berg Sinai von Gott die alten Tafeln empfing. Die auf ihnen fixierten Zehn Gebote sind ja Moral-Gesetze – Gesetze, denen der biblische Verfasser mit der Erzählung der Übergabe durch Gott eine absolute Autorität zuspricht. Nietzsche konzipiert seine Zarathustra-Figur als Gegen-Moses. Zarathustra will die neuen Werte-Tafeln bringen. Aber weil die alten Tafeln mit ihren alten Werten zunächst ungültig gemacht werden müssen, damit die neuen, auf verräterische Weise unbestimmt bleibenden Tafeln mit ihren neuen Werten Geltung erlangen können, muss zuallererst die absolute Legitimation der alten Tafeln durch Gott beseitigt werden. Dies geschieht durch die Botschaft vom Untergang der Legitimationsinstanz: vom Tod Gottes. Deshalb steht am Anfang des Werks Zarathustras Begegnung mit einem Einsiedler, einem „alten Heiligen“. Er lebt in einem Wald, gewissermaßen als ein aus der Zeit gefallener Hinterwäldler. Zugleich ist er ein gegen das Hereinbrechen der Moderne abgeschotteter Weltanschauungs idylliker. Nach einem von hintergründiger Ironie durchzogenen Gespräch verabschiedet sich Zarathustra von ihm, und die letzten Worte dieses für das ganze
70 KSA 4, 146, 11–13. 71 KSA 4, 149, 13 f. 72 Zu diesem Thema vgl. Jochen Schmidt: Nietzsches Umwertung aller Werte, in: Barbara Neymeyr/Andreas Urs Sommer (Hg.): Nietzsche als Philosoph der Moderne, Heidelberg 2012, S. 11–29. Aus dieser Abhandlung übernehme ich einige der folgenden Ausführungen. 73 KSA 4, 246–269. 74 KSA 6, 341, 19.
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Werk horizontbildenden Beginns lauten: „Als Zarathustra aber allein war, sprach er also zu seinem Herzen: ‚Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch Nichts davon gehört, dass G ott todt ist!‘“75 – Erst mit dieser Erkenntnis, dass Gott tot ist, d. h. mit dem zu seiner letzten Konsequenz getriebenen Aufklärungs- und Säkularisierungsprozess, mit dem schon von Feuerbach verkündeten Ende einer als Selbstentfremdung des Menschen begriffenen Transzendenz, wird der Weg frei für das Schaffen neuer Werte. Weil allerdings jedwede neue Wertsetzung nur eine vorläufige sein kann, treiben Nietzsches Gedanken hier endgültig einer Aporie zu. Mit suggestiven Formeln versucht er der zeitlichen Unabsehbarkeit eine dynamisierende Energie abzugewinnen. Die grenzenlose Prozessualität des Wertewandels, die mit der permanenten Umwertung immer auch schon die künftige Entwertung mitproduziert, gerät ihm zu einem Überwindungs- und Selbstüberwindungsrausch. Die anthropologische Chiffre hierfür ist der Übermensch, der sich permanent im Übergang befindet, indem er zu immer neuen Formen des Menschseins voranstürmt. In Nietzsches Vorstellung vermag sich der Übermensch schier endlos zu steigern. Doch wird nirgends plausibel, inwiefern das Voranschreiten nicht nur zu neuen, sondern auch zu den prätendierten höheren Lebensformen führt. Aus dieser Aporie versuchte sich Nietzsche zu lösen, indem er im Spätwerk die zeitgenössischen Ideologeme von Zucht und Züchtung adaptierte und damit in den Biologismus abglitt. Der Übermensch blieb eine Utopie, die sich in einem überanstrengten Dynamismus und Voluntarismus erschöpft. Darin erschöpft sich letztlich auch der ‚Wille zur Macht‘.
75 KSA 4, 14, 4–7.
5 Der „Wille zur Macht“ als Movens des „Lebens“ und universelles Erklärungsmodell Der Philosoph als Rätsellöser und „Tyrann des Geistes“. Übergang zur autoritären und totalitären Gewaltverherrlichung im Spätwerk. Nietzsches Grössenwahn. Wendung zum Dezisionismus
Für Nietzsche verband sich mit der Konzeption des ‚Willens zur Macht‘ ein außerordentlicher Anspruch, denn er erhob dieses Theorem zum universellen Erklärungsmodell. Allerdings diagnostizierte er zugleich in einem Aphorismus der Morgenröthe, der unter dem Titel „Die Tyr anne n des G eis tes “ steht (Nr. 547), den Versuch, eine alles übergreifende Formel zu finden, schon als einen ‚Willen zur Macht‘. Nietzsche führte dies insbesondere auf die eitle Selbstüberschätzung von Philosophen zurück, die mit ihren Universal- und Superioritätsambitionen sich zu eben solchen „Tyrannen des Geistes“ aufzuschwingen versuchen. Diese These, in der auch ein gut Teil subversiver Selbstdiagnose steckt, exemplifiziert er an Schopenhauer. Eine Leitvorstellung hierbei ist die auch von Ernst Haeckel für seine monistische Weltanschauung publikumswirksam exponierte Phantasie eines Welt-„Rätsels“. Sie verbindet sich mit der Phantasie einer „Rätsellösung“, welche den gordischen Knoten unauflösbarer Komplexität mit einem Schlage durchhauen soll. Trotzdem thematisierte Nietzsche selbst in seinen Werken aus den Achtzigerjahren immer wieder die Rätsel-Lösung durchaus affirmativ. Sein Rätsel-Wort, das alles enträtseln sollte, wurde der ‚Wille zur Macht‘ als innerstes Movens des Lebens. Das ist seine Version der schon populärwissenschaftlich verbreiteten monistischen Weltanschauung. In einem nachgelassenen Notat formuliert er im Ton größter Entschiedenheit und mit stolzem Pathos: „wollt Ihr einen Na m e n für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Räthsel? ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – D i e s e We lt i s t der Wille z u r Macht – u nd nichts außerdem!“76 Bereits Schopenhauer, den Nietzsche als Beispiel für den Glauben an die eigene Einzigartigkeit anführt, exponiert die Vorstellung des „Rätsels“ samt der Rätsellösung mit Vorliebe. Das lösende Wort, das Schopenhauer gefunden zu haben beansprucht, lautet: „Wille“. Im ersten Band seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung behauptet er, es sei „dem als Individuum erscheinenden Subjekt des Erkennens das Wort des Räthsels gegeben: und dieses Wort heißt
76 NL 1885, 38[12], KSA 11, 611, 14–19.
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Wi l l e . Dieses und dieses allein, giebt ihm den Schlüssel […]“.77 In der beigefügten ‚Kritik der Kantischen Philosophie‘ lässt sich Schopenhauer mit folgenden selbstbewussten Worten vernehmen: „Besonders aber lese man über die Auflösung der Antinomien den § 53 der Prolegomena [gemeint sind Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können] und beantworte dann aufrichtig die Frage, ob alles dort Gesagte nicht lautet wie ein Räthsel, zu welchem meine Lehre das Wort ist“.78 Damit beansprucht Schopenhauer insbesondere, das von Kant als unerkennbar dargestellte „Ding an sich“ doch erkannt zu haben: als „Wille“. In einem Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft (Nr. 99) kritisiert Nietzsche an Schopenhauer, dass er sich „vom eitlen Triebe, der Enträthseler der Welt zu sein, verführen und verderben liess“.79 Unschwer ist das „tua res agitur“ in der Kritik an Schopenhauers Gestus des Rätsel-Lösers zu erkennen. In einer Vorstufe zu dem schon vorgestellten Aphorismus Die Tyr annen des G eistes nennt Nietzsche Schopenhauer ausdrücklich und setzt sein eigenes Schlüsselwort „Macht“ ein. „Man suchte“, schreibt Nietzsche, „alles mit Einem Schlage zu lösen, mit Einem Worte: wie ein Räthsel. Und die Aufgabe schien: alles in die einfachste Räthselform zusammenzudrängen, so daß alle Fragen mit Einer Antwort beantwortet werden konnten, d. h. man that den Dingen die ärgste Gewalt an, um sich die grenzenlose Freude, Enträthseler der Welt zu sein, zu machen. So noch Schopenhauer. […] Philosophie war eine Art, Macht zu zeigen – man wollte Ty r a n n des Geistes sein“.80 Genau dies aber ist auch Nietzsches eigenes Projekt, mit dem er sich als „Philosoph der Zukunft“ immer wieder in Szene setzt. Er verschiebt, was er als problematisch erkennt, lediglich auf vage bleibende Zukunftsprophetien oder auf die Kritik an anderen, hier auf die Kritik an Schopenhauer. Und was er in dem zitierten Text „Philosophie“ nennt, mit dem Begriff, der im Wortsinn „Liebe zur Weisheit“ bedeutet, transformiert er ins Voluntative: in den Begriff „Wille zur Wahrheit“, um diesen sodann als „Willen zur Macht“ auszugeben. Der in Anlehnung an Platons Politeia und sein syrakusisches Experiment erträumte Machthaber, ja Befehlshaber und Führer ist er selbst als „Philosoph der Zukunft“. Unüberhörbar ist im Zarathustra nicht nur ein prophetischer, sondern mindestens ebenso sehr auch befehlshaberischer und dekretierender Ton. In der Schrift Jenseits von Gut und Böse weist Nietzsche nicht etwa Biologen, sondern Philosophen die Aufgabe zu, „Gesammt-Versuche von Zucht und Züch-
77 WWV I, 119. 78 WWV I, 595. 79 KSA 3, 454, 9 f. 80 KSA 14, 227 f.
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Der „Wille zur Macht“ als Movens des „Lebens“ und universelles Erklärungsmodell
tung vorzubereiten“, und er fährt fort: „dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern nöthig sein […] das Bild solcher Führer ist es, das vor u nsern Augen schwebt“.81 In solchen „cäsarischen Züchtern und Gewaltmenschen“82 lebt der reine, unverstellte „Wille zur Macht“. Was sie zu setzen und durchzusetzen vermögen, wird als „Wahrheit“ deklariert, und zwar allein, weil sie es durchzusetzen vermögen. Die eigentlichen Philosophen, so statuiert Nietzsche, und nur er selbst ist in seiner Selbsteinschätzung ein solcher „eigentlicher“ Philosoph, denn alle anderen von Platon bis zu Kant und Hegel nennt er „Falschmünzer“ ‒, „Die eigent lichen Philo s o phen ab er s ind B e f e h l e n d e u nd G esetzgeber: sie sagen ‚so soll es sein!‘ […] ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht“.83
81 KSA 5, 126, 18–27. 82 KSA 5, 136, 21. 83 KSA 5, 145, 7–16.
6 Heidegger als ‚zeitgemäßer‘ Interpret des „Willens zur Macht“ Die ‚Lichtung des Seins‘ im Hirn des Philosophen Heidegger und in der Machtergreifung Hitlers.
Von dieser autoritären und totalitären Gewaltverherrlichung durch Berufung auf den ‚Willen zur Macht‘ geht Heidegger aus, und im Gefolge Nietzsches gerät er in eine ontologisierende, damit aber auch enthistorisierende Willensmetaphysik, in welcher der ‚Wille zur Macht‘ endlich nur noch sich selbst will. Abgesehen von Heideggers tautologischem Sprachhabitus verlieren sich seine Denkbewegungen in eine leere, tautologisch um sich selbst kreisende Struktur. Sie erhält durch die Beschwörung eines allein dem Philosophen zugänglichen „Sein des Seienden“ einen Anschein von Begründung aus dem Grundlosen, das Heidegger dennoch, mit umgestülpter Metaphysik, zum „Grund“ erklärt. Dieses vorgebliche „Sein“ meint er im Sinne Nietzsches als „Wille zur Macht“ definieren zu können und im „Übermenschen“ zur Geltung kommen zu sehen. Im Übermenschen, so Heidegger, will „das neue Menschentum das Sein des Seienden als den Willen zur Macht“. Und er fährt fort: „Es [dieses neue Menschentum] will dieses Sein, weil es selbst von diesem Sein gewollt, d. h. als Menschentum sich selbst unbedingt überlassen bleibt“.84 Auch ohne das dubiose „Menschentum“ und ohne die Absolutsetzung „unbedingt“ tritt hier die tautologische und zugleich in Behauptungen sich erschöpfende Struktur der Aussagen zu Tage. Das angeblich neue „Menschentum“, das seine Auferstehung aus der existentialistisch transformierten expressionistischen Vision der ‚Menschheitsdämmerung‘ – aus dem Untergang des ‚alten‘ Menschentums – verrät,85 „will“ das „Sein“, aber nur, weil es von diesem „Sein“ seinerseits gewollt wird. Und wer kennt den „Willen“ des „Seins“? Der Philosoph, in dessen Hirn sich das Sein „gelichtet“ hat! Es hat sich allerdings samt dem „Willen“ als einem „Willen zur Macht“ bereits mit der Heraufkunft des Nationalsozialismus und dem von ihm verkörperten „neuen Menschentum“ gelichtet. In seiner Rektoratsrede von 1933, der Heidegger den Titel
84 Heidegger: Nietzsche II, S. 304. 85 Zahlreiche Zeugnisse hierzu bietet der Band von Thomas Anz/Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920, mit Einleitungen und Kommentaren, Stuttgart 1982, S. 128–262: ‚Der alte und der neue Mensch‘. Vgl. Otto F. Best (Hg.): Theorie des Expressionismus, Stuttgart 1976; Paul Raabe (Hg.): Index Expressionismus. Bibliographie der Beiträge in den Zeitschriften und Jahrbüchern des literarischen Expressionismus 1910– 1925, 18 Bde., Nendeln 1972.
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Heidegger als ‚zeitgemäßer‘ Interpret des „Willens zur Macht“
„Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ gab und die ihren ‚Grund‘ in Hitlers Machtergreifung hat, gerinnt Nietzsches sich selbst wollender „Wille zur Macht“ zum pseudometaphysisch legitimierten Selbstbehauptungswillen. Er ist vorab entschieden vom Geschehen des ins „Sein“ hineinprojizierten vorgeb lichen Willens zur Macht. Damit degeneriert der „Wille“, obwohl er immer noch voluntaristisch aufgeladen und avantgardistisch aufgeputzt ist, zu einer Selbst ermächtigung, die eine Kopie des Ermächtigungsgesetzes ist, mit dem Hitler 1933 seine Diktatur formal legitimierte. Paradoxerweise führt Heideggers Selbst ermächtigung zu einer Selbstentmächtigung angesichts der historischen Ereignisse, indem sie dem Philosophen nur noch ein opportunistisches Nachhutgefecht überlässt – ein verzerrtes Echo auf Nietzsches „amor fati“. „Aber niemand wird uns auch fragen“, verkündete Heidegger in seiner Rektoratsrede, „ob wir wollen oder nicht wollen“. „Es komme darauf an“, fährt er fort, indem er mit einem absonderlichen Volksbegriff operiert, „ob wir als geschichtlich-geistiges Volk uns selbst noch und wieder wollen“, und weiter: „Wir wollen uns selbst. Denn die junge und jüngste Kraft des Volkes, die über uns schon hinweggreift, hat darüber bereits entschieden“.86 Wenn ein Nietzsche-Wort auf Heideggers letztlich nur auf sich „selbst“ zurückweisende permanente Ausstellung des „Selbst“ zutrifft, dann das Wort über die von „grosser Liebe zu sich selber“ beflügelte Projektionsfigur Zarathustra: „im eignen Safte kochte Zarathustra“.87 Nietzsches unablässige Beschwörung des „Selbst“ und der „Selbstsucht“ ist noch immer von Selbstaufhebungsfiguren unterminiert – wie sein „Wille zur Macht“ häufig und ausdrücklich als Reaktion auf Ohnmachtsgefühle erkennbar bleibt. Derartiges liegt Heideggers Versimpelungen fern. Zwar glaubte er später, nachdem er sich vom Nationalsozialismus und dessen „Willen zur Macht“ halbwegs – in Wahrheit kaum halbwegs – distanziert hatte, eine „Kehre“ zu vollziehen, indem er auch Nietzsches antimetaphysischen Furor als Metaphysik in anderer Form erkannte und dies samt dem „Willen zur Macht“. Doch übertrug er den „Willen zur Macht“ in die Vorstellung bloßer Herrschaft. Mit antimoderner Wendung entwarf er eine Kritik der instrumentellen Vernunft, die in der „Technik“, wenn nicht gar im „Gestell“ das Fundament des von ihm beschworenen „Seins“ bedrohe. Gerade auf den „Willen“ und das „Wollen“: auf den desperat voluntaristischen und autoritären Zug in Nietzsches Zarathustra ist Heideggers Betonung des
86 Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg i. Br. am 27. 05. 1933. Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken, Frankfurt am Main 1990, S. 19. 87 KSA 4, S. 204 und S. 205.
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„Wollens“ zurückzuführen, auch wenn er Nietzsches psychisches Drama nicht erfasst. Dass seine eigentliche Quelle das Zarathustra-Kapitel ‚Auf den glückseligen Inseln‘ ist, ergibt sich daraus, dass er wie Nietzsche in diesem Text den „Willen“ und das „Wollen“ mit dem „Schaffen“ unmittelbar verbindet. „Schaffen“, verkündete Nietzsche gegen Schopenhauer und um seine eigenen Leidenserfahrungen durch eine Flucht nach vorne zu balancieren, „Schaffen – das ist die grosse Erlösung vom Leiden, und des Lebens Leichtwerden“, und er fährt fort mit einer von Heidegger adaptierten tautologischen Selbstaffirmation des „Willens“: „[…] so will’s mein schaffender Wille […]/Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit – so lehrt sie euch Zarathustra./Nicht-mehr-wollen und Nicht-mehr-schätzen und Nicht-mehr-schaffen! ach, dass diese grosse Müdigkeit mir stets ferne bleibe!/Auch im Erkennen fühle ich nur meines Willens Zeuge- und Werdelust“.88 Heideggers vordergründig reduziertes Echo: „Ob solches geschieht oder nicht geschieht, das hängt allein daran, ob wir als geschichtlich-geistiges Volk uns selbst noch und wieder wollen – oder ob wir uns nicht mehr wollen […] Aber wir wollen, daß unser Volk seinen geschichtlichen Auftrag erfüllt./Wir wollen uns selbst […]“.89 Obwohl Heidegger wohl kaum den in den nachgelassenen Schriften überlieferten Basler Vortrag des jungen Nietzsche Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten gekannt haben dürfte, sind für die geschichtliche Kontinuität der autoritären Führer-Idee in Deutschland folgende Ausführungen Nietzsches aufschlussreich: Denn ich wiederhole es, meine Freunde! – alle Bildung fängt mit dem Gegentheile alles dessen an, was man jetzt als akademische Freiheit preist, mit dem Gehorsam, mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit. Und wie die großen Führer der Geführten bedürfen, so bedürfen die zu Führenden der Führer.90
Schon vor Beginn des Dritten Reichs wuchs sich dieser Führerkult aus,91 für den der inzwischen zum Mode-Autor aufgestiegene Nietzsche die Vorgaben geliefert hatte, Vorgaben, die in einer Zeit krisenhafter Desorientierung infolge des politischen und militärischen Zusammenbruchs Orientierung zu stiften schienen. Heidegger entwarf den Ruf nach dem Führer ‚existentialistisch‘ auf Hitler hin. Als Rektor der Universität Freiburg veröffentlichte er in der Badischen Zeitung am
88 KSA 4, 110 f. 89 Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 19. 90 Vortrag V, KSA 1, 750, 18–23. 91 Hierzu Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, 4. Auflage, München 1962 (8. Kapitel b: ‚Der Ruf nach dem Führer‘, S. 268–280).
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3. November 1933 unter der Überschrift ‚Deutsche Studenten‘ einen Artikel, der mit den Worten begann: „Die nationalsozialistische Revolution bringt die völlige Umwälzung unseres deutschen Daseins“, und er endete: „Der Führer selbst und allein ist [Heideggers Hervorhebung] die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz. Lernet immer tiefer zu wissen: Von nun an fordert jedwedes Ding Entscheidung und alles Tun Verantwortung./Heil Hitler! Martin Heidegger, Rektor“. Der Widersinn der abschließenden Aufforderung zu „Entscheidung“ und „Verantwortung“ erhellt aus der unmittelbar vorangehenden Feststellung, dass der Führer „allein“ die deutsche „Wirklichkeit“ und ihr „Gesetz“ ist, folglich ihm allein auch „Entscheidung“ und „Verantwortung“ zukommt. Da es Heidegger immer nur um sein autoritär formiertes „Selbst“ ging, begrüßte er die vom nationalsozialistischen Führerprinzip her gebotene Möglichkeit, nun dieses Führerprinzip als Führer der Universität Freiburg und weit darüber hinaus als maßgebender Führer der anderen deutschen Universitäten durchzusetzen und damit eine radikale Hochschulreform zu bewirken, die ihn allein als „Führer“ einer ruinierten Universität übrigließ. Am 22. August, einen Tag nach Erlass der neuen badischen Führerverfassung für die Hochschulen, notierte der Freiburger Prorektor Joseph Sauer in seinem Tagebuch: „Finis universitatum! – das Ende der Universitäten – und das hat uns dieser Narr von Heideg ger eingebrockt, den wir zum Rektor gewählt haben, daß er uns neue Geistigkeit der Hochschulen bringe“.92 Ebenso wie Heidegger als Rektor scheiterte und deshalb sein Rektorat 1934 aufgab, scheiterte er mit seinen im vollen Sinne des Wortes bodenlosen Hölderlin-Interpretationen, weil er, ideologisch verblendet, auf Hölderlins Dichtungen nur seine eigenen Präokkupationen: sein „Selbst“ projizierte. Einen deprimierenden Eindruck nicht nur dieser Unfähigkeit, Texte in ihrer Eigenart und in ihren historischen Kontexten und Bedingtheiten wahrzunehmen, sondern auch den Eindruck niveaulosen Drauflos-Redens machen seine Hölderlin-Vorlesungen, die von den Verwaltern seines Nachlasses in mehrere Bände der an sich schon dubiosen, weil einer Vorzensur unterliegenden Gesamtausgabe aufgenommen wurden. Dass Heidegger einfach nicht lesen konnte, weil sein „Selbst“ ihm als „Eigentlichkeit“ im Wege stand und er, wie Nietzsche-Zarathustra in dem schon zitierten Text, ausschließlich dieses Selbst „wollte“, zeigen auch seine Kommen92 Zitiert nach: Bernd Martin: Martin Heidegger und das ‚Dritte Reich‘. Ein Kompendium, Darmstadt 1989, S. 214. Eine umfassende, durch Quellen-Studien fundierte Darstellung bietet Helmut Heiber: Universität unterm Hakenkreuz. Teil 2: Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen, 2 Bde., München u. a. 1992 und 1994. Aus der uferlosen Heidegger-Literatur ist auch das Werk von Hugo Ott einschlägig: Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt am Main/New York 1988.
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tare zu antiken Texten, nicht zuletzt diejenigen zu Platon und Aristoteles. Die Forschung hat nachgewiesen, wie sehr er sein Ziel verfehlte, weil er sich selbst mit dem „Eigenen“ schon immer am Ziel glaubte, wo sich ihm das „Sein des Seienden“ metaphysisch kundtat.93
93 Günter Figal: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, 3. Auflage, Weinheim 2000, darin vor allem das vierte Kapitel: ‚Freiheit und Zeit‘, S. 273–368.
7 Nietzsche als Kompilator und Plagiator Eine erste Horizontbildung.
Hier schließt sich der Kreis zurück zu Nietzsche, denn Nietzsche war wesentlich Kompilator von Vorhandenem, teils unkritisch und affirmativ wie in seinen noch im Bann Schopenhauers und Wagners stehenden Frühschriften, teils kritisch oder distanziert wie in seiner mittleren, aufklärerischen Phase (Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe, Die fröhliche Wissenschaft), bevor er dann, mit dem Zarathustra und den auf ihn folgenden Schriften, also seit etwa 1883, in die halbverzweifelten, weil immer schon unterhöhlten Radikalismen der späten Jahre regredierte und „Tyrann des Geistes“ sein wollte (Morgenröthe Nr. 5: „Die Tyrannen des Geistes“). Wie sehr Nietzsche in haltloses Schwadronieren geriet, und dies besonders dort, wo er sich zu historischen Themen äußerte oder „Genealogien“ konstruierte, zeigen einige der in den folgenden Kapiteln analysiertenTexte aus seinen Aphorismen-Sammlungen Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft, die zunächst als Fortsetzung der Morgenröthe geplant war. Darüber hinaus wird zu sehen sein, dass Nietzsche nicht nur seine wichtigsten Quellen verschwieg, sondern auch ungeniert als Plagiator agierte – bei gleichzeitiger Versicherung seiner „unzeitgemäßen“ Originalität gerade dort, wo er das Wesentliche von Anderen und durchaus „zeitgemäß“ übernahm. Doch wusste er alle seine Schriften – bis zum Ende immer gezielter – rhetorisch zu dem an Wagner kritisierten „Sursum! Bumbum!“ zu formieren, das übertönen sollte, dass er seit Mitte der Siebzigerjahre nur um einige wenige Gedanken und Vorstellungen kreiste, die er ununterbrochen repetierte, variierte, ausspann, inszenierte und instrumentierte. Dies gilt insbesondere für seine Moralkritik, die fast alle seine Werke von 1876 bis zum Zusammenbruch 1889 monomanisch bestimmt (hierzu das nächste Kapitel). Er war, wie später der Freund Paul Rée, mit dem er jahrelang in enger Gemeinschaft und intensivem geistigen Austausch lebte, rückblickend feststellte, „geistreich und gedankenarm“.94 Dieser Gedankenarmut versuchte er teils durch Radikalismen auf die Beine zu helfen, um zu provozieren und nach langen Jahren fast vollständiger Nichtbeachtung auf sich aufmerksam zu machen, teils versuchte er durch „Buntschriftstellerei“95 mit allen Mitteln seine Texte zu verlebendigen. 94 Paul Rée: Philosophie (Nachgelassenes Werk), Berlin 1903, S. 362. 95 In der Geburt der Tragödie (KSA 1, 93, 26–28) spricht Nietzsche von den „cy n i s ch e n Schriftstellern“, welche die „grösste Buntscheckigkeit des Stils“ anstrebten, um eine unterhaltsame, abwechslungsreiche Darstellung zu erreichen, wie sie der griechischen Forderung nach ποικιλία („Buntheit“) entsprach. Nietzsche denkt in der Tragödienschrift und später an den Kyniker Menippos von Gadara, der in der 1. Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. lebte und in seinen (ver-
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Dennoch reichte es nicht zur Erfüllung des von ihm immer wieder und besonders mit dem Zarathustra erhobenen Anspruchs, Künstler zu sein. Sein treuester Freund, der ihm bis zum Zusammenbruch im Januar 1889 beistand, Franz Overbeck, notierte in seinem Erinnerungsbuch über die Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde klarsichtig: „Nietzsche’s Künstlerbegabung ist eine zu beschränkt rhetorische gewesen“.96
lorenen) Satiren Prosa und Verse mischte. Damit und überhaupt mit der „Buntscheckigkeit des Stils“ wirkte er stark auf die römische Literatur, so auf die Saturae Menippeae des Varro, die zwischen 81 und 67 v. Chr. entstanden, auf Senecas Apocolocynthosis, die Satyrica des Petronius und Lukians Ikaromenippos. Die Menippeische Satire ist nur gelegentlich ‚Satire‘ im modernen Sinn, primär bezeichnet das Wort „Satura“ Uneinheitlichkeit und bunte Mannigfaltigkeit der Themen und Formen. Nietzsche hatte sich wissenschaftlich mit der menippeischen Satire beschäftigt (KGW I 5, 7–11). Vgl. auch KSA 6, 155, 23 f. – In Deutschland dominierte bis hin zu Kant der begrifflich rigide und wissenschaftlich trockene Stil der Wolffschen Aufklärungsphilosophie. Eine gefälligere Form der Darbietung pflegte unter den Nietzsche bekannten Philosophen Schopenhauer mit seinem oft lebendigen und unterhaltsamen Stil. In Frankreich hatte neben anderen „philosophes“, die sich als Schriftsteller – nicht als ‚Philosophen‘ im engeren Sinn – mit aufklärerischem Engagement verstanden, Voltaire den unterhaltsamen Stil kultiviert, sogar bis hin zum Genre des philosophischen Wörterbuchs: in seinem witzigen, außerordentlich erfolgreichen Dictionnaire philosophique portatif. Nietzsche diagnostiziert (in Nr. 427 der Morgenröthe) in seiner Zeit die inzwischen angesagte Form eines unterhaltsamen Philosophierens. Er selbst hatte schon früh eine Vorliebe für die spätantike „Buntschriftstellerei“ entwickelt, die einen durch Anekdoten und andere Einlagen aufgelockerten Unterhaltungsstil bis in die philosophische Sphäre hinein kultivierte; zu den von ihm herangezogenen Werken dieses Genres gehören diejenigen des Diogenes Laërtios, des Athenaios und des Stobaios. Über die soeben beendete Morgenröthe schrieb Nietzsche an Heinrich Köselitz auf einer Postkarte vom 9. Februar 1881: „Es sind so viel bunte [!] und namentlich rothe Farben darin!“ (KSB 6, Nr. 80, S. 60 f.). 96 Franz Overbeck: Werke und Nachlass, Bd. 7/2: Autobiographisches. „Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde“, hg. von Barbara von Reibnitz und Marianne Stauffacher-Schaub, Stuttgart/Weimar 1999, S. 31.
8 Freigeisterische Moralkritik: Nietzsches zentrales Thema von 1876 bis 1889 Er folgt im Wesentlichen und bis in die Einzelheiten den Vorgaben und Zuarbeiten seines Freundes Paul Rée. Nietzsches Originalitätssucht und seine Angst, insbesondere mit Rée „verwechselt“ zu werden. Die Bedeutung der moralistischen Tradition. Naturalistisch und ‚physiologisch‘ verengte Aufklärung.
Nietzsche übernahm von einem Andern, von Paul Rée, die Konzeption, die für alle seine Schriften von 1876 bis 1889 maßgebend war: die Moralkritik. Am klarsten lässt sich dies an der Morgenröthe studieren, weil Nietzsche gerade in der Zeit, in der er an diesem Schlüsseltext arbeitete, in den Jahren 1880 und 1881, mit Rée in Italien eine enge Beziehung pflegte. Rée vermittelte Nietzsche die moralkritische Grunddisposition der Morgenröthe und sogar ihre wichtigsten thematischen Bereiche. Schon vorher – denn Nietzsche war bereits Jahre früher mit Rée gut bekannt – absorbierte er Rées Schriften bis hin zur Übernahme von Kapitelüberschriften und wörtlichen Formulierungen in Menschliches, Allzumenschliches. Rées Erstlingswerk Psychologische Beobachtungen (1875), eine Sammlung von Aphorismen, waren Nietzsches Vorbild für seine eigene Hinwendung zum aphoristischen Genre und auch zur französischen Moralistik, die ihm allerdings auch schon von Schopenhauer her vertraut war. 1877 erschien Rées Schrift Der Ursprung der moralischen Empfindungen, die – wie einige Jahre später Nietzsches Morgenröthe – schon im Titel die genealogische Methode ankündigte, der Nietzsche noch bis hin zu seiner späten Abhandlung Zur Genealogie der Moral als Grundmuster seiner eigenen moralkritischen Methode folgte. Sogar der Ausgangs- und Angelpunkt dieser Moralkritik, die genealogische Subversion der moralischen Werturteile „gut und böse“, die Nietzsche in der Morgenröthe adaptierte und später in der Titelformulierung seiner Abhandlung Jenseits von Gut und Böse aufnahm, war der Ausgangspunkt Paul Rées: Der erste Paragraph seiner Abhandlung über den Ursprung der moralischen Empfindungen trägt die Überschrift ‚Der Ursprung der Begriffe gut und böse‘. Bereits im Vorfeld von Nietzsches Arbeit an der Morgenröthe konzipierte Rée sein erst 1885 erscheinendes Hauptwerk Die Entstehung des Gewissens und teilte Nietzsche dessen Konzeption im Grundriss mit. Wie aus einer Nachricht Nietzsches hervorgeht97, war er davon beeindruckt, und alsbald hielt er sich an die Vorgaben und Zuarbeiten des Freundes. Am 19. Oktober 1879 schrieb ihm Rée: „Die Arbeit ist im Rohbau fertig“.98
97 Postkarte an Franz Overbeck, 15. Juni 1879, KSB 5, Nr. 857, S. 418 f. 98 KGB II 6/2, Nr. 1244, S. 1195, Z. 33.
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Auf weiten Strecken entspricht sowohl Nietzsches moralkritisches Spektrum wie auch seine Methode Rées Darlegungen, die er konsequent ausbeutete. Zuerst behandelt dieser nach einem in der einschlägigen zeitgenössischen Populärwissenschaft gängigen und im Grundsätzlichen bis auf die Aufklärung zurückgehenden Muster die Ablösung übernatürlicher Erklärungen durch natürliche Erklärungen, dann traktiert er historisierend das Gewissen als ein „Produkt der Geschichte“, um schließlich auf den historischen Ursprung moralischer Gebote und Verbote und in diesem Zusammenhang auf die christliche Ethik überzugehen ‒ ohne die antichristliche Polemik, die Nietzsche von der radikalen Freidenker-Bewegung übernimmt. Im letzten Kapitel seines Buchs wechselt Rée von der historisch-genealogischen zur psychologischen Analyse, die ebenso wie die historische bei Nietzsche von maßgeblicher Bedeutung ist. Sogar einzelne Hauptelemente, die in Nietzsches Darstellung erscheinen, hat Rée aus historischer sowie aus psychologischer Sicht moralkritisch analysiert, so die Entstehung der Strafe nach ursprünglich auf Rache und Vergeltung zielenden Bräuchen, die Entstehung kategorischer Imperative und moralischer Urteile. Der für Nietzsche zentralen Auseinandersetzung mit Schopenhauers Begründung der Moral auf das Mitleid widmet Rée ebenfalls eine Partie, weiterhin erörtert er das für Nietzsche auffallend interessante Phänomen der Grausamkeit, die Bewertung des „Egoismus“, die ‚moralische‘ Dimension von Lob und Tadel sowie der „Eitelkeit“. Nicht zuletzt führt Nietzsche wie Rée und seine Vorgänger auf diesem Gebiet – u. a. Montaigne und Pascal – die ‚moralischen‘ Gefühle, Wertungen und Urteile auf Gewohnheiten und Sitten zurück. Dem damals in der florierenden ethnologischen Literatur üblichen Verfahren entsprechend zieht Rée wie auch Nietzsche zahlreiche Berichte von Sitten und Bräuchen noch in „primitiven“ Kulturen lebender ‚Wilder‘ heran, um die ursprünglich nicht in unserem Sinn ‚moralischen‘ Verhaltensweisen und Wertungen in eine teils relativierende, teils ‚genealogisch‘ perspektivierende Betrachtung einzubeziehen. Mit Darwins Naturstudien, die alle herkömmliche Teleologie erledigten, weil sie die Evolution auf „natürliche Auslese“ begründeten, hatte sich Rée schon in den Siebziger Jahren beschäftigt. Sie hinterließ in seinem Werk tiefe Spuren wie bei vielen Zeitgenossen und so auch bei Nietzsche – sowohl in Zustimmung wie in Auseinandersetzung. Nietzsche, der immer die Originalität seiner Gedanken behaupten wollte und seine Quellen verschwieg, befürchtete noch bis ins Vorwort von Ecce homo hinein, „verwechselt“ zu werden,99 und dies besonders im Hinblick auf Paul
99 KSA 6, 257, 16–18: „Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!“ Nietzsche hob diese Worte am Ende des ersten Abschnitts seines Vorworts durch Sperrdruck hervor.
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Rée. Nachdem er von Rée sowohl für Menschliches, Allzumenschliches wie für die Morgenröthe die entscheidende Anregung erhalten hatte und sie wie eine Blaupause für seine Schriften benutzte, wollte er diesen Zusammenhang ‒ wohl auch wegen des Zerwürfnisses aufgrund der Lou-Affäre – nicht öffentlich dokumentiert wissen. An den Freund Franz Overbeck schrieb er am 6. März 1883: „Eine andere ‚Befreiung‘ will ich Dir nur andeuten: ich habe es abgelehnt , daß Rée’s Hauptbuch ‚Geschichte des Gewissens‘ mir gewidmet wird – und damit einem Verkehre ein Ende gesetzt, aus dem manche unheilvolle Verwechslung entstanden ist. ‒“.100 Man hatte bei ihm zu viel „Réealismus“ bemerkt! In einem von einer Intrige seiner Schwester beeinflussten Brief schrieb Nietzsche an Malwida von Meysenbug Mitte Juli 1883: „Man soll sein Ideal vom M enschen durchsetzen, man soll mit seinem Ideale seine Mitmenschen wie sich selber zwingen und überwältigen: und also schöpferisch wirken! Dazu aber gehört […] daß man, was unserm Ideale z uwider geht (wie z. B. solches Gesindel wie L und R) auch als Fe i n d e behandelt“101 – und dies, obwohl er in einem Brief an Heinrich Köselitz vom 21. April 1883 gestand: „Rée ist immer gegen mich von einer rührenden Bescheidenheit gewesen, dies will ich Ihnen ausdrücklich bekennen“.102 Rée, in bemerkenswertem Kontrast zu seinen immoralistischen Theorien ein Charakter von reiner Güte und Hilfsbereitschaft, auch gegenüber Nietzsche, dem fünf Jahre älteren und ihn dominierenden Freund, starb 1901, nachdem er 10 Jahre lang unentgeltlich als Armenarzt gewirkt hatte.103 In einem Brief vom November des Jahres 1897, den Paul Rée an einen Freund schrieb und der 1903 aus seinem Nachlass ans Licht kam,104 heißt es, er habe Nietzsche erst in einer neueren Darstellung genauer studiert, und er fügt hinzu und unterstreicht diese Bemerkung: „ich habe ihn doch nie zu lesen vermocht“.
100 KSB 6, Nr. 386, S. 339, Z. 26–30. 101 KSB 6, Nr. 437, S. 404, Z. 33–39. 102 KSB 6, Nr. 405, S. 366, Z. 51 f. 103 Vgl. Ernst Pfeiffer (Hg.): Friedrich Nietzsche, Paul Rée, Lou von Salomé. Die Dokumente ihrer Begegnung, Frankfurt am Main 1970. Samuel Danzig: Drei Genealogien der Moral. Bernard de Mandeville, Paul Rée und Friedrich Nietzsche, Preßburg 1904 (Phil. Diss. Bern 1903). Charlotte Morawski: Der Einfluß Rées auf Nietzsches neue Moralideen, Phil. Diss. Breslau 1915. Hubert Treiber: Zur Genealogie einer ‚science positive de la morale en Allemagne‘. Die Geburt der ‚r(é)ealistischen Moralwissenschaft‘ aus der Idee einer monistischen Naturkonzeption, in: Nietzsche-Studien 22 (1993), S. 165–221; Ludger Lütkehaus: Ein heiliger Immoralist. Paul Rée (1849– 1901). Biographischer Essay, Marburg 2001. 104 Die kaum bekannte Quelle ist ein von Freunden Rées anonym herausgegebenes Werk mit dem Titel: ‚Philosophie/Von Paul Rée./(Nachgelassenes Werk.)‘ Es erschien in Berlin 1903 (Verlag von Carl Duncker, Herzogl. Bayer. Hof- und Erzherzogl. Kammer-Buchhändler). Im Anhang dieses Werks steht die zitierte Partie S. 361–363.
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Darauf folgt die gewichtige Begründung: „Er ist geistreich und gedankenarm“. Weiterhin berichtet Paul Rée im gleichen Brief: „Nietzsche konnte nicht angestrengt geistig arbeiten, nur stossweise, explosiv; er fühlte, dass ihm keine lange Arbeitszeit beschieden sei. Er wollte durchaus etwas Ungeheures hervorbringen, die Welt bewegen. Er klagte mir einst in Leipzig über die gänzliche ‚Wurschtigkeit‘ seines Denkens; damit meinte er, dass niemand sich darum kümmere. In seinem Aerger über die Wurschtigkeit brachte er in den wenigen Momenten, in denen zu schaffen ihm seine Gesundheit erlaubte, Unerhöhrtes, Grässliches […] hervor; Aufsehen Erregendes um jeden Preis. Jeder thut Jedes aus Eitelkeit; aber seine Eitelkeit ist eine pathologische, krankhaft gereizte. […] in dem Kranken, der nur selten denken, schreiben konnte, bald es überhaupt nicht mehr zu können fürchtete, Ruhm um jeden Preis erobern wollte, brachte die krankhafte Eitelkeit Krankes, vielfach Geistreiches und Schönes, aber im wesentlichen doch Verzerrtes, Pathologisches, Wahnsinniges hervor; kein Philosophieren, sondern Deli rieren!!“
9 Nietzsches Rhetorik und sein rhetorisierter Stil Die Hauptmasse von Nietzsches Schriften, von Menschliches, Allzumenschliches über die Morgenröthe bis zur Fröhlichen Wissenschaft, besteht aus mehr oder weniger aphoristischen Kurztexten. Auch der Zarathustra, der auf diese großen Aphorismen-Sammlungen folgt, ist mit seinen in zahlreichen kurzen Kapiteln und vor allem aufgrund der Spruchform der von Zarathustra verkündeten Lehren aphoristisch strukturiert. Alle diese Texte, die von 1876 bis 1884 entstanden und in mehrfachem Sinn die ‚Mitte‘ von Nietzsches Schaffen bilden, stehen unter dem Vorzeichen aufklärerischer Moralkritik und haben als Leitvorstellung den „Freigeist“. Eine Charakterisierung von Nietzsches Stil hat zuallererst von der Form des Aphorismus auszugehen. Inwiefern handelt es sich um Aphorismen, also um knappe, scharf konturierte und pointierte Gedankenkonzentrate, die sich am – nicht nur für den Aphorismus geltenden – Stilideal der brevitas orientieren? Schon ein kurzer Überblick zeigt, dass es bei Nietzsche zwar solche Aphorismen gibt, aber dass er meistens nicht einem strengen Formideal folgt, sondern einen impulsiven und experimentell offenen Stil bevorzugt. Nicht selten erstrecken sich Texte über mehrere Seiten. Schon deshalb sind sie nicht aphoristisch. Manche knüpfen glossenartig an Lektüre-Eindrücke an, um sie weiter auszuspinnen oder um sie zu kommentieren. Ein betont subjektives, erlebnishaft gefärbtes Monologisieren, das ins Selbstgespräch übergeht, begegnet ebenso wie der dialogisch mit Rede und Gegenrede inszenierte Wechsel von Positionen, mit denen das Ich seine eigene innere Mehrstimmigkeit kundtut. Überlegungen zu zentralen Themen wie ‚Moral‘, ‚Vorurteil‘, ‚freier Geist‘, ‚Christentum‘, ‚Wahrheit‘ und ‚Erkenntnis‘ wachsen sich immer wieder zu kleinen Abhandlungen aus, die an Kleists Vorstellung vom „Verfertigen der Gedanken beim Reden“ erinnern und eher nicht ins aphoristische Genre gehören. Eine aufschlussreiche Selbstdiagnose im Hinblick auf seinen Stil wie überhaupt auf sein darstellerisches Verfahren gibt Nietzsche in der Morgenröthe unter der Überschrift „Das gefürchtete Auge“. Darin ist die Rede von der Furcht vor der Entdeckung des „kleinen B etrugs“, auch von der „unschuldigen Lust an sich selber oder zum Effect-machen“.105 Mit einem Seitenblick auf sein eigenes Unternehmen ironisiert er Künstler, Dichter und Schriftsteller, die einen „Alltags-Gedanken“, der als „Diebstahl an aller Welt“ erscheinen könnte, „dehnen, kürzen, färben, einwickeln, würzen mussten, um Etwas aus ihm zu machen“.106
105 KSA 3, 195, 23–26. 106 KSA 3, 196, 3–5.
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Nietzsche kannte eine bedeutende Tradition unsystematischen, ‚offenen‘ Schreibens in Kurztexten. Schon in seinen frühen Schriften beruft er sich immer wieder auf Lichtenberg, der mit seinen Sudelbüchern eine Sammlung experimenteller Gedanken hinterließ. Nietzsche hatte sie als Bestandteil einer achtbändigen Lichtenberg-Ausgabe für seine persönliche Bibliothek erworben. In der Romantik, bei Novalis wie bei Friedrich Schlegel, hatte eine bewusst fragmentarisch gehaltene Inszenierung von ‚Ideenparadiesen‘ große Bedeutung gewonnen. Und von Giacomo Leopardi (1798–1837), der Nietzsche schon von Schopenhauer her als Repräsentant eines tiefen Pessimismus bekannt war und dessen Gedicht L’Infinito den letzten Text der Morgenröthe inspirierte, hatte er 1878, also kurz vor Beginn der Arbeit, neben einer deutschen Übersetzung der Gedichte auch eine deutsche Auswahlausgabe von vermischten ‚Gedanken‘ geschenkt bekommen. Leopardis Operette morali (‚Kleine moralische [moralistische] Werke‘), die in diesen Band eingingen, waren 1827 erschienen. Dagegen kannte Nietzsche ebensowenig wie Schopenhauer die Pensieri di varia filosofia e di bella letteratura (‚Gedanken über Verschiedenes aus der Philosophie und der schönen Literatur‘), die Leopardi von 1817 bis 1832 verfasst hatte, die aber erst 1898–1907 unter dem bezeichnenden Titel Zibaldone (‚Sammelsurium‘) erschienen, den Leopardi selbst notiert hatte. Die in einem allgemeineren Sinn als ‚Stil‘ zu bezeichnende sprachliche Form ist, wie in allen Werken Nietzsches, markant rhetorisch. Anders als die argumentierenden philosophischen Dialoge Platons, als die nach den therapeutischen Rezepten der mittleren Stoa (Panaitios, Poseidonios) eindringlich meditierenden Selbstgespräche Mark Aurels, die Nietzsche hoch hielt, anders auch als Epikurs auf private Selbstsorge gestimmte, gänzlich untheatralische ‚Garten‘-Philosophie, die Nietzsche gleichwohl liebte, inszeniert er eine überlebendige Betroffenheitsprosa mit erregten Ausrufen und Fragen (und der entsprechenden Zeichensetzung), mit Ellipsen, Anakoluthen, Interjektionen, asyndetischen Wortkaskaden, Apostrophen, die ebenso wie die durch Gedankenstriche angedeuteten atemlosen – oder atemholenden – Sprechpausen unmittelbare Sprechsituationen simulieren. Nietzsche war sich der Problematik dieses Stils durchaus bewusst. Ende Juli 1877 schrieb er an den Musiker Carl Fuchs: „Unter den gefährlichen Nachwirkungen W’s scheint mir ‚das Lebendig-machen-wollen um jeden Preis‘ eine der gefährlichsten: denn blitzschnell wird’s Manier, Handgriff“.107 Im August 1882 teilte er Lou von Salomé zehn Regeln „Zur Lehre vom Stil“ mit. Er beginnt mit der Feststellung: „Das Erste, was noth thut, ist Leben: Der Stil soll leben.“108 Ein Beispiel von vielen bietet der erste Text des fünften Buches der Morgenröthe:
107 KSB 5, Nr. 640, S. 262, Z. 48–51. 108 KSB 6, Nr. 288, S. 243, Z. 4.
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Nietzsches Rhetorik und sein rhetorisierter Stil
Im grossen S chwe ige n . – Hier ist das Meer, hier können wir der Stadt vergessen. Zwar lärmen eben jetzt noch ihre Glocken das Ave Maria […], aber nur noch einen Augenblick! Jetzt schweigt Alles! […] Das Sprechen, ja das Denken wird mir verhasst: höre ich denn nicht hinter jedem Worte den Irrthum, die Einbildung, den Wahngeist lachen? Muss ich nicht meines Mitleidens spotten? Meines Spottes spotten? – Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen au f h ö re n , Mensch zu sein! Soll er sich euch hingeben? Soll er werden, wie ihr es jetzt seid, bleich, glänzend, stumm, ungeheuer, über sich selber ruhend? Über sich selber erhaben?109
Zum Erregungsstil, wie er sich hier ausprägt, gehören auch die zahlreichen Stilfiguren, die den Ausdruck intensivieren sollen, aber wenn sie die vorgefertigte Effekt-Schablone übertreiben, ins Maniriert-Serielle und, nach einem Ausdruck Grillparzers, in den „Mietpferdegalopp“ geraten. Später kritisierte Nietzsche an Wagner das „espressivo um jeden Preis“,110 das doch bei ihm selbst immer mehr zum Stilprinzip wurde. In der hier angeführten Passage verwendet er neben erregten Ausrufen und Fragen überreichlich die einfachen rhetorischen Figuren der Anapher und der Häufung (accumulatio). An der am schärfsten pointierenden Stelle („Meines Spottes spotten“) ahmt er eine figura etymologica aus den biblischen Sprüchen Salomonis nach (Kap. 3, 34: „Der Herr wird der Spötter spotten“). Nietzsche ist vor allem Rhetoriker. Franz Overbeck, der Freund, der ihm bis zum Ende beistand und ihn aus vertrautem Umgang kannte, stellte später fest: „Nietzsche’s Künstlerbegabung ist eine zu beschränkt rhetorische gewesen“.111 Schon früh, längst vor den ‚aphoristischen‘ Schriften, hatte sich Nietzsche in diesen rhetorisierten Sprachstil eingeübt. Eine erhebliche Anzahl seiner in Basel gehaltenen Vorlesungen waren Rhetorik-Vorlesungen; er studierte die großen antiken Rhetoriken (Aristoteles, Cicero, Quintilian) und zog die zeitgenössischen Rhetorik-Lehrbücher heran, so das Werk Hermagoras oder Elemente der Rhetorik von Richard Volkmann (1865), das er am 14. Februar 1872 aus der Universitätsbibliothek Basel auslieh und für seine eigene Rhetorikvorlesung benutzte. Zwar setzen Aphorismen seit jeher rhetorische Mittel ein, um Pointen zu erzielen, aber eine so massive Häufung ist ihnen fremd. Fremd ist dem Aphorismus in der spanisch-französischen Tradition vor allem der die eigene Subjektivität hervorkehrende emphatische Sprechstil. Der Aphorismus älteren Typs, wie ihn La Rochefoucauld pflegte und wie ihn Goethe in seinen Maximen und Reflexionen als Ausdruck von Erfahrungsweisheit wählte, zeugt von distanzierter Diagnose und von geistreich desillusionierter Weltklugheit. Er kultiviert nicht das Pathos
109 KSA 3, 259 f. 110 KSA 6, 422, 25. 111 Overbeck: Werke und Nachlass, Bd. 7/2, S. 31.
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und schon gar nicht die Passion des einsamen Problemdenkers, sondern gilt der beobachteten Wirklichkeit. Allerdings konnte Nietzsche den selbstquälerischen, vom Zweifel, auch vom Selbstzweifel heimgesuchten Seelenzustand des Wahrheitssuchers in den Pensées Pascals finden, für den er auch als Leidenden Sympathie empfand. Nietzsche selbst verstand seine vom aufklärerischen Ideal des Freigeists bestimmten ‚aphoristischen‘ Schriften als große Loslösung von Wagner, dem er im Frühwerk – in der Geburt der Tragödie und in den Unzeitgemäßen Betrachtungen – noch weitgehend huldigte. Zugleich wollte er sich von einem als spezifisch deutsch empfundenen Geist der Schwere und mystischen Dunkelheit befreien. Insofern spricht die Neu-Orientierung am Aphoristischen und Essayistischen dem Streben nach einer übergreifenden geistigen Neu-Orientierung. Dennoch tut sich eine tiefe Kluft zwischen dem traditionellen Aphorismus mit seiner auch geistig klaren Grenzziehung (aphorizein = ‚abgrenzen‘) und Nietzsches Tendenz zu Grenzüberschreitungen und zur Polychromie auf. Es handelt sich um die Kluft zwischen einer meist aufklärerischen Rationalität, die innerhalb der Grenzen der Vernunft bleibt, und einem Entgrenzungsverlangen, ja einem romantischen Unendlichkeitstrieb, der bei Nietzsche immer wieder durchbricht. Er zeigt sich besonders deutlich im letzten Aphorismus der Morgenröthe „Wir Luft-S chifff a h re r d e s G e i s tes“, aber auch schon in dem für die stilistische Charakterisierung herangezogenen ersten Aphorismus des fünften Buches: „Im grossen S chwe ige n“. Dieser gipfelt in einem ins Grenzenlose deutenden Gestus der Selbstüberbietung und Selbstübersteigung, wenn das hybridisierte Ich fragt: „Muss ich nicht meines Mitleidens spotten? Meines Spottes spotten?“ Darauf folgt die nachdrückliche Betonung dieser auf das Konzept des „Übermenschen“ vorausweisenden Selbst-Überhebung bis ins Wortwörtliche hinein: „über sich selber ruhend? Über sich selber erhaben?“ Im 18. Jahrhundert ließen sich Münchhausens Abenteuer, deren burlesken Höhepunkt der Versuch darstellt, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, als Satire auf den Autonomismus der Genie-Ideologie und den Titanismus der Stürmer und Dränger verstehen; später führte der romantische Infinitismus zu einer tendenziell endlosen Selbstreflexivität, die in leere Selbstbespiegelung, wenn nicht in Selbstzerstörung überzugehen drohte. Dieser romantische Infinitismus beförderte eine mit Siebenmeilenstiefeln ins Metaphysische und zugleich in den Nihilismus ausschreitende Subjektivitätsphilosophie. Obwohl Nietzsche in der Morgenröthe ein partiell aufklärerisches Programm verfolgt, schlägt diese radikal-romantische Vorkodierung hier immer wieder von Neuem durch. Jean Paul hatte seinen Titan, der sich gegen den genialisch-hybriden Titanismus wendet, in einem Brief an Friedrich Jacobi vom 14. Mai 1803 mit den Worten kommentiert: „Jeder Himmelsstürmer findet im Titan seine Hölle“. Eigentlich
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müsse sein Roman deshalb „Anti-Titan“ heißen. Abgeschlossen hatte er ihn mit der großen Parabelerzählung vom Absturz des „Luftschiffers Giannozzo“, eines modernen Ikarus. Das überraschend genaue Echo gibt Nietzsche mit der Parabel „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes“, mit der er die Morgenröthe enden lässt. Am nächsten freilich lag Nietzsche die Gestalt des Fliegenden Holländers, den Wagner in seiner Schrift Eine Mitteilung an meine Freunde als Synthese von Odysseus, Ahasver und Kolumbus deutete. Nietzsches Stil hängt eng zusammen mit seiner methodisch-unmethodischen Darstellungsstrategie. Oft bewegen sich die Texte selbst dort, wo sie einen konzeptionellen Zusammenhang erkennen lassen, nach Art eines Perpetuum mobile. Ununterbrochen repetiert, variiert, revidiert, assoziiert, räsoniert, pointiert und maskiert Nietzsche die aus antiken Schriftstellern und zeitgenössischen Publikationen absorbierten Gedanken, er bricht sie ab, greift sie wieder auf und lässt sie in einem „beweglichen Heer von Metaphern“112 entgleiten. Er entwirft Positionen und dazu die Gegenpositionen, wie um zu demonstrieren, dass es nichts Festes gibt. Er lanciert pathetisch provozierende Fragen und gibt emphatische Antworten, die er alsbald selbst wieder in Frage stellt. Diese Art des Schreibens wollte er als „Experimental-Philosophie“113 verstehen, doch ebenso sehr hält er alles im Fluss, in dem jede Bewegung dem Nichts oder bloß dem isolierten Ego zutreibt, an dem ihm in einer ganzen Reihe von Texten explizit oder implizit so sehr liegt – nach dem er sucht, ohne es zu finden.
112 KSA 1, 880, 30. 113 NL 1888, 16[32], KSA 13, 492, 22.
10 Rückblick auf ein Desaster und die Folgen: Die Geburt der Tragödie So unselbständig und ganz und gar nicht zu Nietzsches Originalitätsambitionen passend der Umgang mit seinen Quellen war, so aberrant waren viele seiner Thesen und insbesondere seine historischen Ausflüge – auch auf einem Terrain, auf dem er sich als klassischer Philologe souverän bewegen zu können wähnte. Die Erstlingsschrift, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, die sich weitgehend auf die griechische Tragödie bezog, um deren „Wiedergeburt“ durch Wagner zu feiern, war von allen führenden Gräzisten der Zeit als unseriöses Machwerk abgelehnt worden. Nietzsches Freund Erwin Rohde, der gerade zum Extraordinarius für Klassische Philologie an der Universität Kiel ernannt worden war, fand sich auf Wunsch Nietzsches zu einer umfangreichen Anzeige in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung bereit, die sich an alle „ernst Gesinnten“ wandte. Dann aber kam Mitte des Jahres 1872 die vernichtende öffentliche Attacke aus der Feder des eben erst promovierten Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931). Sein Verriss trug den Titel Zukunftsphilologie! eine erwidrung auf Friedrich Nietzsches „geburt der tragödie“. Wilamowitz, bald der berühmteste klassische Philologe für mehrere Generationen, erhob darin schwere „vorwürfe der unwissenheit und des mangels an wahrheitsliebe“114, er wies „geflissentliche entstellungen“115 nach und kritisierte die „alle schranken brechende orgiastische mystik“116: die von Creuzers Werk ausgehende romantisierende Grundtendenz, die dem Griechenbild der klassischen Tradition widersprach. Seine – zutreffende – Feststellung zahlreicher Fehler und Ungenauigkeiten ließ Wilamowitz, der wie Nietzsche aus der berühmten Schule Schulpforta hervorgegangen war, in dem Ausruf gipfeln: „welche schande hr. N. machen Sie der mutter Pforte!“117 Parodistisch attackierte er am Ende Nietzsches Anruf an die Jünger des Dionysos im 20. Kapitel der Geburt der Tragödie:
114 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Zukunftsphilologie! eine erwidrung auf Friedrich Nietzsches „geburt der tragödie“, Berlin 1872, S. 32; bei Karlfried Gründer (Hg.): Der Streit um Nietzsches ‚Geburt der Tragödie‘. Die Schriften von E. Rohde, R. Wagner, U. v. Wilamowitz-Möllendorff, Hildesheim 1969, S. 55. 115 S. 25, bei Gründer S. 48. 116 S. 18, bei Gründer S. 41. 117 S. 13, bei Gründer S. 36.
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halte hr. N. wort, ergreife er den thyrsos, ziehe er von Indien nach Griechenland, aber steige er herab vom katheder, auf welchem er wissenschaft lehren soll; sammle er tiger und panther zu seinen knieen, aber nicht Deutschlands philologische jugend.118
Wagner veröffentlichte einen offenen Brief in der Norddeutschen Zeitung vom 23. 6. 1872, in dem er Nietzsches „tiefsinnige Abhandlung“ zu verteidigen suchte, und Nietzsche, der um seinen wissenschaftlichen Ruf fürchtete, stiftete den Freund Rohde mit präzisen Ratschlägen zu einer philologischen „Hinrichtung“ an119, die wenig später unter dem Titel erschien: Afterphilologie. Zur Beleuchtung des von dem Dr. phil. Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff herausgegebenen Pamphlets: „Zukunftsphilologie!“ Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner. Doch war in der wissenschaftlichen Welt Nietzsches Reputation nicht mehr zu retten. Wie das Urteil eines bedeutenden Wissenschaftlers, des Bonner klassischen Philologen Hermann Usener ausfiel, berichtet Nietzsche selbst in einem Brief an Erwin Rohde: „In Leipzig ist eine Stimme über meine Schrift: wie sie lautet, hat der brave und von mir sehr geachtete Usener in Bonn, vor seinen Studenten, die ihn gefragt haben, verrathen ‚es sei der baare Unsinn, mit dem rein gar nichts anzufangen sei: jemand, der so etwas geschrieben habe, sei wis senschaftlich todt‘“.120 Gekränkt und hochmütig notierte Nietzsche in der Zeit zwischen Sommer 1872 und Anfang 1873: „Die Philologen dieser Zeit haben sich als unwürdig erwiesen, mich und mein Buch zu sich rechnen zu dürfen: es bedarf kaum der Versicherung, daß auch in diesem Falle ich es ihnen anheim gebe, ob sie etwas lernen wollen oder nicht, fühle mich aber nicht geneigt, ihnen irgend wie entgegenzukommen./Das was sich jetzt ‚Philologie‘ nennt und was ich mit Absicht nur neutral bezeichne, möge auch diesmal mein Buch übersehen: denn es ist männlicher Natur und taugt nicht für Castraten. Denen geziemt vielmehr am Conjekturenwebstuhl zu sitzen“.121 Von jetzt ab füllen sich Nietzsches Notizhefte mit bitter abwertenden Urteilen über die „Gelehrten“. Dass er tatsächlich seinen wissenschaftlichen Ruf verloren hatte, geht auch daraus hervor, dass die Studenten der klassischen Philologie, von denen es in Basel ohnehin nur wenige gab, nun seine Vorlesungen mieden. In einem Brief an den Freund Erwin Rohde vom März 1873 heißt es: „In diesem Semester [im Wintersemester 1872/1873] hatte ich es zu zwei Zuhörern gebracht, der eine war Germanist, der andre Jurist, beiden trug ich Rhetorik vor!“122 Und
118 Gründer, S. 55. 119 An Erwin Rohde, 18. 6. 1872, KSB 4, Nr. 230, S. 12, Z. 49. 120 25. 10. 1872, KSB 4, Nr. 265, S. 70, Z. 20 und S. 71, Z. 1. 121 NL 1872/1873, KSA 7, 19[58], 437, 21–438, 5. 122 KSB 4, Nr. 300, S. 137, Z. 78–80.
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bald darauf, am Beginn des Sommersemesters 1873, beschließt er einen auf den 5. Mai datierten Brief an Rohde mit den Worten: „Ich dachte, es würden während des Briefschreibens einige Herrn Studenten kommen, um zu meinem Collegio sich anzumelden. Denn es war meine Stunde; aber es ist keiner gekom men. Wehe! Wehe!“123 Sowohl für Nietzsches nahes Verhältnis zu Wagner wie für die verheerende Wirkung der Tragödienschrift aufschlussreich ist der Brief an Richard Wagner vom 7./8. November 1872. „Geliebter Meister“ redet er ihn an, um alsbald mitzuteilen: „unser Wintersemester hat begonnen und ich habe gar keine Studenten! Unsre Philologen sind ausgeblieben! Es ist eigentlich ein Pudendum und ängstlich vor aller Welt zu verschweigen. Ihnen, geliebter Meister, erzähle ich es, weil Sie alles wissen sollen. Das Factum ist nämlich so leicht zu erklären – ich bin unter meiner Fachgenossenschaft plötzlich so verrufen geworden, dass unsre kleine Universität Schaden leidet! Das quält mich sehr […] Doch entspricht es dem, was mir aus andern Universitätsstädten zu Ohren kommt […] alles verur theilt mich […]“.124
123 KSB 4, Nr. 307, S. 151, Z. 70–73. 124 KSB 4, Nr. 274, S. 89, Z. 8–23.
11 Die verfehlte Opposition von Antike und Moderne Die Geschichte der Freundschaft als Beispiel
Weil die gräzistische Fachwelt ihre Aufmerksamkeit auch weiterhin auf die Tragödienschrift konzentrierte, blieb bis heute vernachlässigt, was Nietzsche in seinen späteren Schriften, insbesondere in den zahlreichen, weit verstreuten aphoristischen Texten zur Antike verlautbarte. Dies gilt besonders für die Aussagen, in denen er nach einem schon seit Jahrhunderten etablierten Schema die Differenz von Antike und Moderne thematisierte. Ein eklatantes Beispiel bietet sein Vergleich der antiken und modernen Anschauungen von der Freundschaft in einem Aphorismus der Morgenröthe (Nr. 503). Darin heißt es: „Das Alterthum hat die Freundschaft tief und stark ausgelebt, ausgedacht und fast mit sich in’s Grab gelegt. Diess ist sein Vorsprung vor uns: dagegen haben wir die idealisirte Geschlechtsliebe aufzuweisen“.125 Wie unhaltbar diese Aussagen sind, geht aus dem historischen Befund hervor. Denn neuzeitliche Autoren haben zahlreiche Freundschaftserfahrungen zum Ausdruck gebracht, ja geradezu einen Freundschaftskult zelebriert. In Montaignes Essai De l’amitié verbindet sich die philosophische Reflexion auf das Wesen der Freundschaft mit der persönlichen Erinnerung an den Freund La Boétie, ähnlich wie Laelius in Ciceros Schrift De amicitia sich an die von tiefer Zuneigung geprägte Freundschaft mit Scipio erinnert: Beide Autoren geben zu verstehen, dass das Sprechen über Freundschaft nur authentisch sein kann, wenn es in gelebter Erfahrung wurzelt. Im 18. Jahrhundert entstand ein sentimentalisch intensivierter, oft patriotisch überhöhter und heroisch stilisierter Freundschaftskult. Schon Shaftesburys Morallehre setzte die Freundschaft in Bezug zur Gesellschaft. Die freundschaftliche Beziehung könne nicht gelebt werden „without such an enlarged Affection and Sense of Obligation to Society“126, so dass der wahre Freund auch „Man’s Friend“ und „Friend of Mankind“ sein müsse.127 Klopstock hatte den dichterischen Freundschaftskult gepflegt, Gleim inszenierte ihn geradezu in seinem Wohnhaus in Halberstadt. Die herausragenden Zeugnisse aus der Zeit der Weimarer Klassik sind Schillers
125 KSA 3, 295, 19–22. 126 Anthony Ashley Cooper Shaftesbury: The Moralists, in: ders.: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, 3 Bde. [1711], Bd. 2, 2. Auflage, London 1714, S. 239 [ins Deutsche übersetzt von Ludwig Christoph Heinrich Hölty, in: Shaftesbury: Philosophische Werke, 3 Bde., Leipzig 1776–1779]. 127 S. 240.
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Drama Don Karlos mit der für die Freiheit engagierten Freundschaft zwischen Marquis Posa und Don Karlos sowie Hölderlins Briefroman Hyperion, in dem die revolutionär bewegte Freundschaft zwischen Hyperion und Alabanda einen großen Teil des Geschehens bestimmt, eines Geschehens, das die rückblickenden Freundschaftsbriefe Hyperions an Bellarmin auf die Höhe philosophischer Reflexion heben. Einprägsamen Ausdruck fand der Freundschaftskult auch in Schillers Ballade Die Bürgschaft, nachdem bereits Goethe in seiner Iphigenie die bis zur Aufopferungsbereitschaft gehende Verbundenheit der Freunde Orest und Pylades gestaltet hatte. Goethe und Schiller selbst schlossen bekanntlich einen produktiven Freundschaftsbund, und die Romantiker kultivierten Freundschaftsbünde, in denen sich das Gemeinschaftsempfinden der romantischen Schule zum Programm des ‚symphilosophein‘ steigerte. Angesichts dieses weiten Spektrums moderner Freundschaftskultur trifft Nietzsches Entgegensetzung der Moderne zum „Alterthum“ nicht zu, das angeblich die Freundschaft „fast mit sich in’s Grab gelegt“ habe. Auch lässt er mit der Opposition „dagegen haben wir die idealisirte Geschlechtsliebe aufzuweisen“ außer Acht, dass in einem der berühmtesten und bis in die Moderne wirkungsreichsten Texte, in Platons Symposion, gerade Eros, die Geschlechtsliebe, ins Reich des Idealen führt und insofern schon hier eine Idealisierung der Geschlechtsliebe stattfindet. Bei Platon ist sie homoerotisch unterlegt. Seit der frühen Neuzeit wurde die Eroslehre des Symposion, vermittelt durch Marsilio Ficino im Florenz des Quattrocento, zur Grundlage vielfältiger Idealisierungen der Liebe.
12 Nietzsche als Falschmünzer Seine Entstellung der philosophischen Tradition: Platon und Aristoteles. Seine Verfälschung der deutschen Philosophie: Kant und Schopenhauer.
Wie sehr sich Nietzsche bei seinen verfehlten Vergleichen von Antike und Moderne bis in elementare, sowohl literaturgeschichtliche und philosophische wie sprachliche Kalamitäten hineinverirrte, geht aus der Schlusspartie des Aphorismus Nr. 207 der Morgenröthe hervor. Darin kontrastiert er, wie schon in einigen vorangehenden Texten, die antike Mentalität mit der deutschen, hier mit der deutschen Neigung zum Gehorsam.128 Dafür glaubt er Deutsche wie Luther (188, 5), Kant (188, 10) und Schopenhauer (188, 21) mit dem pauschal genannten „antiken Philosoph[en]“ (188, 19 f.) zum Nachteil der deutschen Philosophen vergleichen zu können. Diese abwegige Partie beginnt mit dem Satz: „Gar der antike Philosoph! Nil admirari – in diesem Satze sieht er die Philosophie“ (188, 19 f.). Die Losung „nil admirari“ („Nichts anstaunen“) stammt nicht von einem antiken Philosophen oder gar pauschal von ‚dem‘ im Kollektivsingular genannten Philosophen, sondern von einem römischen Dichter. Horaz beginnt eines seiner Briefgedichte (Epistulae) mit den Versen: „nil admirari prope res est una, Numici/ solaque, quae possit facere et servare beatum“ (Epist. I 6, 1; „Nichts anstaunen: nur dies Eine, dies allein kann, o Numicius, glücklich machen und [glücklich] erhalten“). Anschließend führt Horaz aus, dass er diesen Leitsatz „nil admirari“, auf dem das Glück beruhe, als Vermeiden unruhestiftender Gemütsbewegungen und Begehrlichkeiten versteht, zu denen das Anstaunen aller möglichen Güter und Schätze führen würde. Horaz selbst erinnert an die Herkunft seines Rezepts: an die stoische Ethik, die hauptsächlich vor vier schädlichen Affekten (πάθη) bewahren will: ἡδονή (freudige Erregung), λύπη (Schmerz), ἐπιθυμία (Begierde), φόβος (Furcht) – Horaz fasst sie in V. 12 zusammen („gaudeat an doleat, cupiat metuatne“). Wenn Nietzsche überdies verallgemeinernd behauptet, es sei „der antike Philosoph“, der in diesem Satz („nil admirari“) generell „die Philosophie“ sieht, so setzt er sich über die bedeutendsten Philosophen der Antike hinweg. Denn Platon und Aristoteles bezeichnen gerade im Gegenteil das „Staunen“ (thaumázein) als den Beginn alles Philosophierens. Indem Nietzsche feststellen will: „Und ein Deutscher, nämlich Schopenhauer, geht so weit im Gegentheil zu sagen: admirari id est philosophari“129, und indem er dies in ‚moralisch‘ empörtem Ton mit „dem“
128 KSA 3, 187, 29–188, 34. 129 KSA 3, 188, 21 f.
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„antiken Philosophen“ kontrastiert, betreibt er selbst nicht nur einen in Nr. 223 der Morgenröthe nachsichtig beurteilten „kleinen B etrug“130, sondern eine Falschmünzerei, derer er andere Philosophen oft bezichtigt.131 Denn es handelt sich um berühmte Aussagen Platons und Aristoteles’, die dem Altphilologen Nietzsche gut bekannt waren. In Platons Theaitetos, den Nietzsche nachweislich kannte, heißt es: μάλα γὰρ φιλοσόφου τοῦτο τὸ πάθος, τὸ θαυμάζειν · οὐ γὰρ ἄλλη ἀρχή φιλοσοφίας ἢ αὕτη (Theaitetos 155 d 2–4: „Denn das ist besonders die Grund empfindung des Philosophen: das Staunen – Es gibt nämlich keinen anderen Ursprung der Philosophie als diesen“). Und Aristoteles definiert im 1. Buch seiner Metaphysik das Staunen im Sinne einer Neugier verursachenden Verwunderung über etwas zunächst noch nicht dem Erkennen Zugängliches. Darin liegt für ihn der Beginn der Weisheit: der Philosophie und der Wissenschaft: ἄρχονται μὲν γάρ, ὥσπερ εἴπομεν, ἀπὸ τοῦ θαυμάζειν, πάντες εἰ οὕτως ἔχει (Metaphysik A, 983 a 12–13; „Denn es beginnen, wie gesagt, alle mit der Verwunderung (thaumázein) darüber, ob sich etwas wirklich so verhält“). Abgesehen von der verfälschenden Konstruktion, die den Gegensatz von deutscher und antiker Philosophie demonstrieren soll, beachtet Nietzsche auch nicht die semantische Differenz zwischen „mirari“ und „admirari“ in der Losung „nil admirari“. Denn „admirari“ meint bei Horaz das Bewundern eines begehrten Gegenstands, weshalb er es mit dem Akkusativ (in diesem Fall: „nil“ – „nichts“) verbindet; „mirari“ dagegen heißt „sich (über etwas oder jemanden) wundern, staunen“. Im griechischen θαυμάζειν sind beide Bedeutungen möglich; mit dem gegenstandsbezogenen Akkusativ verbunden heißt es: jemanden oder etwas bewundern, sonst: sich wundern, oft mit dem in dem Platon-Zitat und präziser noch in dem Aristoteles-Zitat liegenden Sinn: nicht wissen und daher zu erfahren suchen, wie sich etwas verhält, weshalb dann oft eine indirekte Frage oder, wie in dem Aristoteles-Zitat, ein εἰ („ob“) folgt. Anders als Nietzsche gibt Schopenhauer eine historisch zutreffende Erklärung, indem er die semantische Differenz von „admirari“ und „mirari“ sowie den stoischen Kontext beachtet:132 Ich habe bereits am Ende des ersten Buches auseinandergesetzt, daß, meiner Ansicht nach, die Stoische Ethik ursprünglich nichts, als eine Anweisung zu einem eigentlich vernünftigen Leben, in diesem Sinne, war. Ein solches preiset auch Horatius wiederholentlich an sehr vielen Stellen. Dahin gehört auch sein ‚Nil admirari‘ und dahin ebenfalls sein μηδεν αγαν. [Schopenhauer lässt hier die Akzente weg] ‚Nil admirari‘ mit ‚Nichts bewundern‘ zu übersetzen ist ganz falsch. Dieser Horazische Ausspruch geht nicht sowohl auf das Theore-
130 KSA 3, 195, 23. 131 Z. B. in Ecce homo, KSA 6, 361, 1–9. 132 WWV I, 616.
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tische, als auf das Praktische, und will eigentlich sagen: ‚Schätze keinen Gegenstand unbedingt, vergaffe dich in nichts, glaube nicht, daß der Besitz irgend einer Sache Glücksäligkeit verleihen könne: jede unsägliche Begierde auf einen Gegenstand ist nur eine neckende Chimäre, die man eben so gut, aber viel leichter, durch verdeutlichte Erkenntniß, als durch errungenen Besitz, los werden kann‘. In diesem Sinne gebraucht das ‚admirari‘ auch Cicero, De divinatione, II, 2.
Am Ende seines Textes wünscht sich Nietzsche von den Deutschen statt ihrer Gehorsamkeits-Moral den „Ungehorsam“ (188, 25), mit dem sie etwas Neues erreichen könnten, und dieses Neue ist das, was Nietzsche selbst in der Morgenröthe als „Immoralist“ unternimmt, nämlich sich über die Moral erheben133 – Moral verstanden als „Herkommen“, als normenbildende Konvention. Doch will Nietzsche das Gehorchen durch das „Befehlen“134 ersetzen (programmatisch heißt es: „etwas Neues thun, nämlich befehlen“)135, ohne zu reflektieren, dass Befehlen auf der Seite des Adressaten das Gehorchen voraussetzt, ja geradezu will. Die Hinwendung zum „Befehlen“, die in Nietzsches späteren Werken immer entschiedener zum Ausdruck kommt und im Wunsch nach „Gesetzgebern“, „Befehlshabern“ und „Führern“ gipfelt136, entspricht seiner eigenen dezisionistisch-autoritären – wenn auch immer wieder vom Gestus der Selbstaufhebung gebrochenen – Tendenz. Symptomatisch hierfür ist der apodiktische Verkündigungsstil des Zarathustra und die immer häufigere Attitüde des Gesetzgebers.
133 Vgl. KSA 3, 288, 30 f. 134 KSA 3, 188, 32 f. 135 KSA 3, 188, 31 f. 136 KSA 5, 126, 23–26 und KSA 5, 145, 8.
13 Die verfälschende Darstellung der griechischen Literatur Aberrationen über „Vornehmheit“ und Plädoyer für den Tyrannen.
Ganz entgegen seinen Auslassungen über die von ihm behauptete Gehorsamkeitsmentalität der Deutschen kontrastiert Nietzsche in einer ganzen Reihe von Texten die von seinen persönlichen Nobilitierungsambitionen grundierte Vorstellung von der angeblichen „Vornehmheit“ „der“ Deutschen mit der vermeintlich nicht so vornehm-adeligen Haltung „der“ Griechen – Nietzsche verwendet gerne den pauschalierenden Kollektiv-Singular. Zugleich griff er mit dem Thema eine zeitgenössische Aktualität auf: die Diskussion über die Rolle des Adels in der modernen Gesellschaft. Im Aphorismus Nr. 199 der Morgenröthe, den er unter das Thema „Wir sind vornehmer“ stellte, versucht er auch hiermit eine Unterscheidung von antiker und moderner Haltung zu konstruieren. Der zeitgenössische Hintergrund der Adelsproblematik ist bekannt: Der durch ererbten Grundbesitz, Schlösser oder andere repräsentative Wohnsitze, alten Reichtum, Privilegien und Titel von den anderen Bevölkerungsschichten abgehobene, aber auch aufgrund des ökonomischen Strukturwandels oft durch Verarmung (vgl. Nr. 200) bedrohte Adel geriet immer mehr ins Abseits. Ursächlich hierfür waren die Dynamik der Industrialisierung, die Entstehung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, das nicht mehr auf dem Großgrundbesitz und dessen feudalistischer Nutzung beruhte, ein expandierender Handel sowie ein neues, zu selbst erworbenem Reichtum gelangendes bürgerliches Unternehmertum und schließlich auch die Verlagerung der Schwerpunkte sozialen Lebens in die neu entstandenen Großstädte. Seine zunehmende Funktionslosigkeit machte den Adel zu einer anachronistischen Erscheinung. Nur im Militär, wo dem Adel die Offiziersposten zustanden, und in Staatsämtern, wo ihm die der Monarchie nahen hohen Positionen vorbehalten blieben, spielte er noch eine nicht unwichtige Rolle. Die ökonomische Krise, das obsolete Standesdenken und die Funktionslosigkeit des Adels thematisierte zur gleichen Zeit, in der Nietzsche seine Texte schrieb, Fontane in mehreren bedeutenden Romanen: in Irrungen, Wirrungen, Effi Briest und Der Stechlin. In Irrungen, Wirrungen (1888) lässt er den in die ökonomische Krise geratenen und deshalb zu einer Heirat mit einer reichen, aber ungeliebten Frau gezwungenen adligen Protagonisten, der in Berlin als preußischer Offizier ein müßiges Dasein führt, eines Tages selbstkritisch und resigniert feststellen: „Was kann ich? Ich kann ein Pferd stallmeistern, einen Kapaun tranchieren und ein Jeu machen. Das ist alles“.137
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Andererseits kam bei bürgerlichen Parvenus das Bedürfnis auf, sich durch repräsentatives Ambiente, gesellschaftliche Verbindungen zu – wenn auch marginalisierten – Adligen und durch einen zur Schau getragenen Sinn für ‚Höheres‘ zu nobilitieren. Dies ist das Thema von Fontanes satirischer Zeitdiagnose in seinem Roman Frau Jenny Treibel. Nietzsche, der selbst das Bedürfnis verspürte, sich eine adlige Herkunft zuzuschreiben, versuchte aus seinem nicht sehr deutsch klingenden Nachnamen eine angeborene Vornehmheit abzuleiten, indem er überlegte, ob er aus polnischem Adel stammen könnte.138 Einmal behauptet er sogar: „Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang“!139 Entsprechend fallen seine Aussagen über den Adel und die „vornehme“ Art in der Morgenröthe aus.140 Obwohl Nietzsche als übergeordnetes Thema die „moralischen Vorurtheile“ traktiert, moralisiert er hier selbst: Er preist die „Tugenden“141, die „vo r n e h m“ und „adelig“ seien. Da die „alten Gegenstände“, auf die das adlige Leben einst bezogen war, keine „Achtung“ mehr erfahren, fordert er, „diesem unserem köstlichen Erbtriebe“, nämlich einer adligen „Gesinnung“, „neue Gegenstände unter[zu]schieben“, ohne allerdings zu sagen, welche Gegenstände er dabei im Sinn hat. Anstelle der ererbten Besitztümer und Privilegien, die dem Adel früher zukamen, möchte er an anderem Ererbtem festhalten. Er spricht von „vererbter ritterlicher Abenteuerlichkeit und Opferlust“.142 Als einziges Beispiel der angeblich ererbten Abenteuerlichkeit und Opferlust weiß er für die Gegenwart das „Duell“143 zu nennen, das damals bereits als Inbegriff überholter und sinnloser Ehrvorstellungen galt. Die berühmteste literarische Darstellung des auf einen obsoleten Ehrenkodex fixierten Duell-Brauchs aus dieser Zeit ist Fontanes Roman Effi Briest. Schon Schopenhauer hatte das Duellwesen samt dem fragwürdigen Ehrbegriff in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit, Kapitel IV: ‚Von dem, was einer vorstellt‘ kritisch aufs Korn genommen. Vollends fragwürdig ist der anschließende Versuch, die angeblich aus „unserem“144 Erbtrieb zu erklärende quasi-adlige Vornehmheit der Gesinnung mit der angeblich nicht so hoch stehenden „Gesinnung“ der „vornehmen Griechen“ zu kontrastieren. Homer, an den Nietzsche zunächst erinnert, schuf seine
137 Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen, in: ders.: Werke. Schriften und Briefe, 1. Abt., Bd. 2, hg. von Walter Keitel/Helmuth Nürnberger, 2. Auflage, München 1971, S. 319–475, S. 403. 138 Vgl. NK 6/2, S. 372–374. 139 KSA 6, 268, 2 f. 140 Nr. 199 und Nr. 200. 141 KSA 3, 173, 12 f. 142 KSA 3, , 31 f. 143 KSA 3, 174, 2. 144 KSA 3, 173, 14.
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Epen im 8. Jahrhundert v. Chr. für eine adlige Gesellschaft, an deren Adelssitzen sie vorgetragen wurden. Er gestaltet in der Ilias mit archaisierender und monumentalisierender Absicht ein vergangenes Heldenzeitalter. Der trojanische Krieg lag schon ein halbes Jahrtausend zurück. Dieses älteste Werk der europäischen Literatur hat seinen Schwerpunkt in der Darstellung heroischer Kämpfe und tragischer Schicksale, wie sie in Heldensagen und Heldenliedern seit alter Zeit fortlebten. In der Odyssee werden die Griechen als Seefahrervolk in einer bunten Fülle von Abenteuern lebendig, die Odysseus nach dem Ende des trojanischen Kriegs auf seinen Irrfahrten über das Meer erlebt. Die Odyssee ist eine von einer ganzen Anzahl von Heimkehrergeschichten, die sich an die Sage vom trojanischen Krieg anschlossen und eine eigene Spezies von Erzählungen ausmachten, die sogenannten Nostoi. Sie boten die Gelegenheit, vielfältige Abenteuer märchenhaft auszugestalten. Die Odyssee bietet Ungeheuer, Nymphen, Zauberer, Riesen und exotische Wesen ebenso auf wie ein ganzes gesellschaftliches Spektrum von Insel-Königen bis hin zu Hirten und Dienerinnen. Wenn die Sehnsucht nach der Heimat und den Seinen für Odysseus der gefühlshafte Kompass durch alle Abenteuer ist, so sind neben körperlicher Stärke, wie sie für einen archaischen Helden selbstverständlich ist, List, Ausdauer und Selbstbeherrschung, nicht zuletzt die zähe Fähigkeit, vieles zu erdulden, ohne daran zu zerbrechen – programmatisch ist vom „Dulder“ Odysseus die Rede –, die geistigen und charakterlichen Qualitäten, die zum Erreichen des Zieles notwendig sind. Nietzsche setzt sich nicht nur über den Charakter des homerischen Epos und seines Protagonisten hinweg. In der für ihn typischen Art des Zitierens – nicht umsonst hatte Wilamowitz in seiner vernichtenden Rezension der Geburt der Tragödie von „geflissentlichen Entstellungen“ gesprochen – versucht er darüber hinaus, bei Odysseus eine doch nicht „vornehme“ Art festzustellen. Er zitiert aus dem 20. Gesang der Odyssee die Worte, die Odysseus nach seiner Rückkehr, noch als unerkannter Fremdling auftretend, in seinem Herrschaftssitz spricht. Odysseus beobachtet, wie die in seinem Palast schmarotzenden Freier seine Gemahlin Penelope bedrängen, und besonders empört ihn, dass die Dienerinnen der Penelope es mit den Freiern halten, anstatt die Treue zu ihrer Herrin zu bewahren. „Durch die schändlichen Greuel erbittert“, heißt es in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß, sprach Odysseus, der sich noch zurückhalten muss, um nicht vorzeitig erkannt zu werden, „die zürnenden Worte“ – und nun folgen die Verse, von denen Nietzsche nur den ersten zitiert (173, 20). In Voßens Übersetzung lauten sie: Dulde, mein Herz! Du hast noch härtere Kränkung erduldet, Damals, als der Kyklop, das Ungeheuer, die lieben, Tapfern Freunde dir fraß. Du duldetest, bis dich ein Anschlag Aus der Höhle befreite, wo dir dein Tod schon bestimmt war. (XX, 18–21)
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Voß übersetzt das griechische Adjektiv κύντερος im ersten der hier zitierten Verse (τέτλαθι δή, κραδίη · καὶ κύντερον ἄλλο ποτ᾽ ἔτλης) in einer auch sonst belegten metaphorischen Bedeutung. Die Lexika verzeichnen zwei ganz verschiedene metaphorische Bedeutungen: „schamlos“ und „schrecklich“. Da im Kontext der zitierten Verse (18–21) nur die zweite Bedeutung in Frage kommt, also „schrecklich“, trifft die (aus metrischen Gründen dehnende) Version von Voß („härtere Kränkung“) im Wesentlichen zu, denn was Odysseus in der Höhle des menschenfressenden Kyklopen Polyphem erleiden musste, war in der Tat „schrecklich“ und ‚hart‘. Die andere metaphorische Bedeutung „schamlos“, obwohl sie dem eigentlichen unmetaphorischen Sinn von κύντερος näher ist („hundemäßig“, „hündisch“), scheidet hier ebenso aus wie die etymologisch ‚eigentliche‘ Version des von κύων, „Hund“ abgeleiteten Komparativs κύντερος. Nietzsche manipuliert Homers Worte auf zweifache Weise, um die im Vergleich mit „uns“ angeblich nicht „vornehme“ Art der Griechen am Beispiel des Odysseus zu demonstrieren. Erstens reißt er den von ihm zitierten Vers aus dem Kontext, der seine Ausdeutung im Sinne von „hündisch“, „schamlos“ nicht erlaubt. Schon im ersten Satz hatte er von der „Scham des guten Rufs“ aufgrund unserer angeblich ererbten „Vornehmheit“ gesprochen, um damit auf das konstruierte Gegenbild zuzusteuern. Zweitens – und allgemeiner – verstößt Nietzsche mit dem manipulierten Paradigma Odysseus, mit dem er generell die vergleichsweise unvornehme, ja zur Schamlosigkeit tendierende Art der Griechen darlegen möchte, gegen das aus dem gesamten Geschehen der Odyssee sich ergebende Odysseus-Bild. Homer hatte schon in der Ilias gerade die auf den Ruhm und die Ehre (κλέα ἀνδρῶν) gegründete, entschieden „vornehme“ Adelsethik in zahlreichen Heldengestalten von archaischer Größe ausgestaltet. In der Odyssee rühmt er das unbeirrbare Durchhaltevermögen, das auf Geschicklichkeit, auf Erfindungsgeist und List, aber auch auf Kraft und eine letztlich unwandelbare Treue zur Heimat und zu den Seinen angelegte Wesen des Odysseus. Dessen Abenteuer und Taten werden zu einem erheblichen Teil in einer epischen Rückschau innerhalb des Geschehens vom Sänger Demodokos am Königshof der Phäaken vorgetragen. Sie entfalten dort in einer hochadligen Gesellschaft und in einer ganz auf „vornehmen“ Edelmut gestimmten Atmosphäre ihre Wirkung. Auch die Dichtung und der Dichter selbst erhalten im Rahmen einer vornehmen höfischen Kultur hohen Rang – wahrscheinlich ist der Sänger Demodokos eine Perspektivfigur, durch die Homer (oder der so genannte Dichter) seine gesellschaftliche Rolle innerhalb der Adelsgesellschaft definiert. Nicht weniger interessengeleitet und aberrant als die Darstellung des homerischen Odysseus ist diejenige des Themistokles. Nietzsches Quelle ist Schopenhauer, der in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit eine Episode aus Plutarchs
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Vergleichenden Lebensläufen erzählt, und zwar aus dem Kapitel, das den Griechen Themistokles in Parallele zu dem Römer Camillus setzt. Schopenhauer greift diese Episode auf, um im Kontext längerer Ausführungen den Ehrbegriff ad absurdum zu führen, der mit der Romantisierung des Rittertums in Europa aufkam und bis zu dem im 19. Jahrhundert grassierenden Duellwesen fortlebte. Er stellt diesen Ehrbegriff als lächerlich dar, insbesondere auf der historischen Folie der Griechen und Römer, die „ganze Helden“ hervorgebracht hätten, ohne doch einem derart irrationalen Ehrbegriff zu verfallen. Als eines von mehreren Beispielen führt Schopenhauer die Konfrontation des athenischen Oberbefehlshabers Themistokles mit dem Kommandanten der spartanischen Flotte kurz vor der Seeschlacht bei Salamis an, in welcher die Griechen – Athener und Spartaner – die Übermacht der persischen Flotte dank der genialen strategischen Planung des Themistokles besiegen konnten. In der von Schopenhauer aufgegriffenen Partie berichtet Plutarch, wie der spartanische Flottenkommandant Eurybiades kurz vor Beginn der Schlacht angesichts der gewaltigen Übermacht der Perser den Mut verlor und mit seinem Flottenverband noch zu entkommen suchte. Als Themistokles ihn zurückhalten wollte, habe er diesen in beleidigender Weise bedroht. In Schopenhauers Worten: „Im Plutarch (Them. 11) lesen wir, daß der Flottenbefehlshaber Eurybiades, mit dem Themistokles streitend, den Stock aufgehoben habe, ihn zu schlagen; jedoch nicht, daß dieser darauf den Degen gezogen, vielmehr daß er gesagt habe: παταξον μεν ουν, ακουσον δε [Schopenhauer lässt die Akzente weg]: ‚schlage mich, aber höre mich‘. Mit welchem Unwillen muß doch der Leser ‚von Ehre‘ hiebei die Nachricht vermissen, daß das Atheniensische Offizierskorps nicht sofort erklärt habe, unter so einem Themistokles nicht ferner dienen zu wollen!“145 Die etwas verwirrende Einleitung zu Nietzsches tendenziöser Charakterisierung des Themistokles ist präjudiziert von dem Hinweis auf den von Nietzsche für „ehrenvoll“ gehaltenen zeitgenössischen Brauch des Duells.146 Weil der DuellBrauch besonders bei Offizieren verbreitet war, nennt Nietzsche Themistokles zunächst nicht mit Namen; er bezeichnet ihn auch nicht als den Oberkommandierenden der Athener, der die Strategie für die entscheidende, zu einem triumphalen Sieg führende Seeschlacht bei Salamis entwarf; er spricht „von jenem athenischen Officier, der, vor dem ganzen Generalstabe, von einem andern Officier mit dem Stocke bedroht, diese Schmach mit dem Worte von sich abschüttelte:
145 Arthur Schopenhauer: Sämmtliche Werke, hg. von Julius Frauenstädt, Bd. 5: Parerga und Paralipomena I, Leipzig 1874, S. 399. 146 KSA 3, 173, 32–174, 2.
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‚Schlag‘ mich nur! Nun aber höre mich auch!‘ (Diess that Themistokles […])“.147 Nietzsches Absicht ist es, ganz im Gegensatz zu Schopenhauer, den „athenischen Officier“ Themistokles als wenig ehrenvoll im Vergleich mit Offizieren seiner Gegenwart erscheinen zu lassen, die eine solche schmachvolle Drohung mit einer Herausforderung zum Duell beantwortet hätten. In Plutarchs Erzählung geht es aber gar nicht um einen beliebigen Ehrenhandel zwischen zwei Offizieren, wie Nietzsche wegen des von ihm unterschwellig forcierten Vergleichs mit zeitgenössischen Offizieren suggeriert, sondern um den angesichts der ultimativen strategischen Entscheidung entbrannten Wortwechsel zwischen dem Kommandeur der von Sparta entsandten Flotte, und Themistokles, dem Befehlshaber der athenischen Flotte. Aus dem Kontext dieser Worte geht hervor, dass Themistokles in einer Situation, die für die Athener von schicksalhafter Bedeutung war, in unmittelbarer Erwartung der Entscheidungsschlacht, für die er die strategischen Dispositionen schon getroffen hatte, alles Persönliche und so auch die beleidigende Grobheit seines Kontrahenten hintanstellte, um ihn doch noch zu überzeugen, er solle gemeinsam mit den Athenern die Seeschlacht bei Salamis wagen. Nietzsche übergeht das alles und reduziert die Konstellation auf einen persönlichen Ehrenhandel im Kleinformat preußischer Duell-Kombattanten, die er als „vornehm“ und „ritterlich“ bewundert. Wie sehr sein auf „Ehre“ und auf Ehrverletzung durch „Schmach“ konzentriertes Interesse die Darstellung bestimmt, geht auch aus der anachronistischen Phantasie hervor, der „Officier“ Themisto kles sei „vor dem ganzen Generalstabe“ beleidigt worden. Weder steht etwas auch nur annähernd Entsprechendes bei Plutarch, noch hatten die Athener überhaupt einen „Generalstab“; doch ließ sich Nietzsche von Schopenhauers (ironischer) Rede vom „Atheniensischen Offizierskorps“ verleiten. Die weiteren Ausführungen sind aberrante Phantasien über ‚Vornehmheit‘. Dies gilt besonders für die Behauptung „Wenn aber gar Sokrates sagte: ‚der Tugendhafte ist der Glücklichste‘, so traute man [!] seinen Ohren nicht, man [!] glaubte etwas Verrücktes gehört zu haben. Denn bei dem Bilde des Glücklichsten dachte jeder Mann [!] vornehmer Abkunft an die vollendete Rücksichtslosigkeit und Teufelei des Tyrannen“.148 Diese generalisierende Aussage entbehrt jeder Grundlage; Nietzsche reflektiert auch nicht, dass Platon, der aus einem vornehmen Adelsgeschlecht stammte, die dem Sokrates in den Mund gelegten Worte sich selbst zu eigen machte. Und wiederum setzt er sich mit der Erwähnung „des Tyrannen“ über die historischen Verhältnisse hinweg.
147 KSA 3, 173, 22–26. 148 KSA 3, 174, 15–19.
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In der griechischen Geschichte gab es mehrere Phasen und Formen der Tyrannis, die nicht in jedem Fall mit dem modernen Begriff der ‚Tyrannei‘ übereinstimmen. Die ältere Tyrannis entstand gegen Ende des 7. und im Laufe des 6. Jahrhunderts v. Chr., als die Adelsherrschaften in den Städten zusammenbrachen. Das Volk vertraute sich einzelnen Führern an, die als Alleinherrscher (‚Tyrannen‘) regierten. Ganz im Gegensatz zu Nietzsches Behauptungen bewunderten die Adligen nicht die Alleinherrscher, vielmehr hassten sie diese, weil sie unter ihnen ihre adligen Vorrechte einbüßten und weil ihr Großgrundbesitz verteilt wurde; dieser Hass spricht aus den Gedichten des Alkaios und des – Nietzsche gut bekannten – Theognis (eine ähnliche Konstellation ergab sich später im Rom der frühen Kaiserzeit, als der auf seine Vorrechte bedachte senatorische Adel durch die Kaiser entmachtet wurde). Die sog. jüngere Tyrannis entstand Ende des 4. Jahrhunderts, als die athenische Demokratie sich infolge des Peloponnesischen Krieges auflöste. In der Schlussphase dieses Krieges kam es zu der brutalen Willkürherrschaft der ‚Dreißig Tyrannen‘. Gleichzeitig propagierten einige radikale Sophisten, an denen sich Nietzsche orientiert, die Lehre vom Recht des Stärkeren, der zufolge die verfassungsmäßige Gleichheit der Bürger nur eine Erfindung der vielen Schwachen sei, um sich vor dem ‚natürlichen Recht‘ der Stärkeren zu schützen. Nietzsche übernimmt diese Lehre später in seine Schrift Zur Genealogie der Moral. Diese Art von Tyrannis kritisiert Platon im ersten Buch der Politeia und im Gorgias. Insofern enthält Nietzsches ‚immoralistische‘ Schwärmerei über die „Tyrannen“ schon im vorliegenden Text eine Gegenposition zu Platon. Vor allem ist sie Ausdruck seiner entschieden antidemokratischen Einstellung. Aristoteles definierte die Tyrannis, die er zu den entarteten Verfassungsformen zählte, als „Alleinherrschaft, die ohne Rechenschaftspflicht über alle Gleichen und Bessern herrscht mit dem Ziel ihres eigenen Vorteils, nicht des Nutzens der Untertanen. Daher gehorcht niemand ihr freiwillig, denn kein freier Mann erträgt gerne diese Art von Herrschaft“.149 Im 5. Buch seiner Politik charakterisiert Aristoteles die verwerflichen Herrschaftsmethoden der Tyrannis. Seither versteht man unter einem „Tyrannen“ einen ungerechten und grausamen Herrscher.
149 Aristoteles: Politik, 4. Buch, 10. Kapitel, 1295 a 19–24.
14 Die Verfälschung der deutschen Bildungstradition Nietzsche als Kulturkritiker.
Zu den aufschlussreichsten Texten Nietzsches in der Morgenröthe und nicht nur hier gehört seine rückblickende Diagnose der deutschen Bildungstradition. Der im Stil einer Kurz-Abhandlung geschriebene ‚Aphorismus‘ Nr. 190: „Die ehemalige deutsche Bildung“ ist zusammen mit der bald darauf folgenden Nr. 195: „Die sogenannte classische Erziehung“ ein Beispiel seines kulturkritischen Engagements. Es hängt zusammen mit der zeitgenössischen Vorliebe für Kulturgeschichten aller Art. Nietzsches Diagnosen sind vom Zeitgeist bestimmt, zugleich aber zeugen sie von einem manipulierenden, ja verfälschenden Umgang mit den historischen Gegebenheiten und selbst mit Hauptrepräsentanten der deutschen Bildungstradition. Im ersten Satz des Textes über die „ehemalige deutsche Bildung“ bedauert Nietzsche, dass die Deutschen die ‚klassische‘ Bildung „mit einem blinden Eifer abgeschüttelt haben“150, dann aber wertet er diese Bildungssphäre der Jahrzehnte um 1800, die er durch Nennung einiger ihrer Hauptrepräsentanten vergegenwärtigt, entschieden ab. Der erste seiner kritischen Einwände, der im Horizont seiner übergeordneten Moralkritik steht, trifft unter den Genannten nur Schiller (den er später in der Götzen-Dämmerung als „Moral-Trompeter von Säckingen“151 verspottet): „die Sucht, um jeden Preis moralisch erregt zu erscheinen“.152 Die zweite kritische Abwertung gilt einem ästhetischen Idealismus, der sich in wirklichkeitsfernen Abstraktionen verliert: in „glänzenden knochenlosen Allgemeinheiten, nebst der Absicht auf ein Schöner-sehen-wollen in Bezug auf Alles […] ein weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus“.153 Allerdings nennt Nietzsche den ihm wohlbekannten Begründer eines solchen idealistisch formierten Ästhetizismus und Klassizismus nicht: Winckelmann, dessen epochemachende Schrift Über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst bereits 1755, also vor der großen Zeit deutscher „Bildung“ erschienen war. Nietzsche reproduziert mit seiner Kritik an der Blütezeit von Klassik, Romantik und idealistischer Philosophie lediglich die schon von Heine in mehreren Schriften (die zu Nietzsches Lektüren gehörten), so in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland vollzogene und dann
150 KSA 3, 163, 2 f. 151 KSA 6, 111, 5 f. 152 KSA 3, 163, 17 f. 153 KSA 3, 163, 19–24.
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durch das ‚Junge Deutschland‘ weiterverfolgte antiästhetizistische und antiidea listische Wendung. In Nietzsches Gegenwart verstärkte sie sich im Zeichen des Realismus und des Naturalismus, gegen den er in der Geburt der Tragödie noch polemisiert hatte. Dass Nietzsche von dem idealistisch-ästhetizistischen „Widerwillen gegen die ‚kalte‘ oder ‚trockene‘ Wirklichkeit“ handelt und sich dagegen auf „Anatomie“ und „Naturerkenntniss“154 beruft, entspricht der dominierenden Zeitströmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei sieht er sich gezwungen, die Einseitigkeiten und Übertreibungen seiner Retrospektive auf die „deutsche Bildung“ zu kaschieren, indem er die Zentralfigur Goethe zum außerhalb stehenden bloßen ‚Zuschauer‘ macht: „Diesem Treiben der deutschen Bildung sah Goethe zu“155 – als ob Goethe nicht auch, und jahrzehntelang, sowohl in seinen Dichtungen wie in seinen theoretischen Texten eine klassizistisch-idealistisch formierte Ästhetik vertreten hätte: von seiner Italienischen Reise und der Iphigenie über die von ihm herausgegebene, programmatisch ‚Propyläen‘ genannte Zeitschrift sowie die Winckelmann-Gedenkschrift von 1805 bis hin zum Helena-Akt im Faust II, in dem er diese Epoche und seine eigene Stellung in ihr bereits historisch reflektiert. Nietzsche lässt sich von dem Stereotyp bestimmen, dem zufolge Goethe, im Gegensatz zum ‚Idealisten‘ Schiller, ein ‚Realist‘ gewesen ist. Nicht zuletzt: Hätte er Goethe einbezogen, dann hätte er nicht mehr das Fehlen der „Anatomie“ und der „Naturerkenntniss“ in dieser Zeit der „deutschen Bildung“ tadeln können, da sich Goethe ja intensiv mit Anatomie beschäftigte – ein Resultat seiner anatomischen Studien ist bekanntlich die Entdeckung des Zwischenkieferknochens – und da er sich der „Naturerkenntniss“ im Bereich der Botanik, der Mineralogie, der Licht- und Farbentheorie, der Meteorologie u. a. über Jahrzehnte hinweg zuwandte. Zum bloßen Zuschauer macht Nietzsche auch Schopenhauer156: „Dem sah etwas später auch Schopenhauer zu“, obwohl Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, das 1819, mitten in dieser erst mit Hegels Tod 1831 und mit Goethes Tod 1832 zu Ende gehenden Epoche „deutscher Bildung“ erschienen war und in vielfältiger Weise mit ihr zusammenhängt. Wohl nichts ist aber für das Verfahren Nietzsches aufschlussreicher als die große Leerstelle: Kant. Er war mit seiner Kritik der Urteilskraft ein Wegweiser für Schillers ästhetische Schriften und für Goethe von großer Bedeutung; auch wirkte er im Hinblick auf die von einer postulatorischen „Vernunft“ in der Kritik der praktischen Ver-
154 KSA 3, 163, 27–30. 155 KSA 3, 163, 31 f. 156 Vgl. KSA 3, 163, 34–164, 1.
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nunft statuierte ‚Moral‘ neben vielen anderen auf Schopenhauer. Indem Nietzsche diese epochale Gestalt eskamotierte, wollte er seine pauschale Abwertung der „deutschen Bildung“ ebenso retten wie mit der Abdrängung Goethes und Schopenhauers in den Zuschauerraum.
15 Nietzsches Missverständnis der Evolutionslehre Nicht zu den bewussten Entstellungen und Verfälschungen zu rechnen, sondern auf mangelnde Kenntnis der Texte zurückzuführen ist Nietzsches Missverständnis von Darwins Evolutionslehre – ein großes, sensationelle Aufmerksamkeit erregendes Thema der Zeit. Darwins Evolutionslehre zufolge kennt die Natur keine Zwecke und keine Absicht. Philosophisch hatte schon Spinoza die Annahme von Zwecken in der Natur als falsche Projektion menschlichen Zweckdenkens auf die Natur erörtert.157 In den Aphorismen Nr. 122 und Nr. 123 der Morgenröthe, schließlich noch in der Götzen-Dämmerung greift Nietzsche die falsche Annahme von Zwecken in der Natur auf und beruft sich dabei auf die Rolle des bloßen „Zufalls“ im Prozess der Evolution. Nietzsches Missverständnis geht darauf zurück, dass Darwin in seinem Werk Über die Entstehung der Arten (The Origin of Species) zunächst (!) vom „Zufall“ („chance“) gesprochen hatte. Im Schlusswort des deutschen Übersetzers Heinrich Georg Bronn heißt es: „Je mehr ein Naturforscher sich mit Detail-Studien über den Bau der natürlichen Wesen und über dessen wunderbare Zweckmäßigkeit […] beschäftigt hat, umso schwerer wird es ihm anfangs werden, darin nichts weiteres als die Folgen eines fortschreitenden Verbesserungs-Prozesses zu sehen, worin jeder weitre Fortschritt nach des Vfs. Theorie jedesmal nur ein Zufall ist und erst durch Vererbung festgehalten werden kann. Doch darf man darin noch kein unbedingtes Hinderniss für diese Theorie erblicken“. Darwin selbst schränkt seinen Begriff des „Zufalls“ in mehrfacher Hinsicht ein: im Zusammenhang mit der von ihm angenommenen Entstehung der Arten aufgrund natürlicher Selektion („by means of natural selection“), insbesondere der geschlechtlich gesteuerten Auswahl des Partners („selection in relation to sex“) sowie aufgrund einer Anpassung an vielfältige Umweltbedingungen wie Klima und Lebensräume und schließlich aufgrund der von Malthus konstatierten Über-Population in Relation zu den vorhandenen natürlichen Ressourcen, die zum „Kampf ums Dasein“ führt („in the struggle for life“). Die aus diesen multifaktoriellen Konstellationen folgende Neukodierung des Zufallsbegriffs (nämlich im Hinblick auf Bedingungen, die auf unerklärliche Weise besondere Geltung erlangen) führt Darwin dazu, dass er die Verwendung des traditionellen Zufallsbegriffs ablehnt und seine eigene Rede vom „Zufall“ in einem „als ob“-Modus vorträgt: „Ich habe bisher von den Abänderungen [d. h. von der Varietät der Arten] – die so gemein und manchfaltig [ältere Schreibweise]
157 Spinoza: Ethik, Propositio I-XXXVI, Appendix.
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im Kultur-Stande der Organismen und in etwas minderem Grade häufig in der freien Natur sind – zuweilen so gesprochen, als ob [!] dieselben vom Zufall veranlasst wären. Diess ist aber eine ganz unrichtige Ausdrucks-Weise [!], welche nur geeignet ist unsre gänzliche Unwissenheit über die Ursache jeder besonderen Abweichung zu beurkunden.“158 Die deutsche Übersetzung von Heinrich Georg Bronn ist die zeitgenössisch maßgebende. Sie folgte der zweiten englischen Auflage von 1860 im Abstand von nur wenigen Monaten und wirkte in Deutschland auf Jahre hinaus außerordentlich. Nicht zuletzt wirkte diese Übersetzung durch die von Bronn beigefügte umfangreiche eigene Auseinandersetzung mit Darwins Theorie, deren Bedeutung er nicht abstreitet, aber doch mit manchen Zweifeln konfrontiert. Schon Bronns Übersetzung von Darwins Titelbegriffen ist problematisch. Darwin spricht von der Erhaltung der begünstigten Rassen, Bronn aber von der Erhaltung der vervollkommneten Rassen. Für Bronn hat die Natur ein Ziel: die ‚Vervollkommnung‘; bei Darwin gibt es evolutionäre Fortschritte nur aufgrund von Selektionsvorteilen. Durch die epochemachenden Veröffentlichungen Darwins, insbesondere durch sein Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (1859) erhielten die Begriffe „Species“ und „Race“ eine fundamental biologische Qualität. Verfehlt war allerdings die vom sog. ‚Darwinismus‘ vollzogene Übertragung dieser Begriffe auf geschichtliche Konstellationen und sogar auf aktuelle gesellschaftliche Verhältnisse: erstens weil Darwin die biologische Evolution in Zeiträumen wahrnahm, die weit über die relativ kurze Spanne der Menschheitsgeschichte hinausreichen, zweitens weil die gesellschaftlichen, technischen, ökonomischen und politischen Prozesse die biologisch-evolutionären ganz in den Hintergrund des im eigentlichen Sinne nicht mehr ‚geschichtlich‘ Relevanten treten lassen. Bezeichnenderweise hielt Bronn infolge seiner religiösen Überzeugungen an der Konstanz der Arten fest, die der biblischen Erzählung zufolge von Gott geschaffen wurden. In der Genesis heißt es, dass Gott alle Wesen schuf, und zwar „jedes in seiner Art“, mit Ausnahme des Menschen, den er nach seinem „eigenen
158 Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung/oder/Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn. Nach der zweiten [englischen] Auflage mit einer geschichtlichen Vorrede und andern Zusätzen des Verfassers für diese deutsche Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. H. G. Bronn, Stuttgart 1860 [Reprint Darmstadt 2008, S. 142]. Darwins eigene Formulierungen stehen am Anfang des fünften Kapitels seines Buchs: „I have hitherto sometimes spoken as if the variations – so common and multiform with organic beings under domestication, and in a lesser degree with those under nature – were due to chance. This, of course is a wholly incorrect expression, but it serves to acknoledge plainly our ignorance of the cause of each particular variation.“
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Bilde“ gestaltete, damit vor allen anderen Wesen privilegierte und zugleich diese ihm untertan machte. Ebenso bezeichnend ist es, dass Bronn Darwins Aussage über den Menschen wegließ: „Light will be thrown on the origin of man and his history!“159 Auch verstand er den von Nietzsche so favorisierten „Zufall“ nicht, wie Darwin selbst, als eigentlich „unrichtigen Ausdruck“, sondern insistierte in seinem Appendix darauf, dass „jeder neue weitre Fortschritt nach des Vfs. Theorie selbst jedesmal nur ein Zufall ist und erst durch Vererbung festgehalten werden kann“.160 Wie meistens auch in anderen Bereichen zog Nietzsche nicht die primären Quellen heran, sondern verließ sich auf sekundäre, z. T. populärwissenschaftliche Darstellungen und ‚darwinistische‘ Perspektivierungen.
159 S. 488 der englischen Originalausgabe. 160 S. 513.
16 Nietzsches „Ego“ – Individualismus Seine individualistische Moralkritik: Die irreführende Darstellung der stoischen Philosophie am Beispiel Epiktets. Die individualistische Deformation der christlichen Überlieferung.
Zum Kern von Nietzsches Theorien, die eng mit seiner Absicht zusammenhängen, jedwede Form allgemeinverbindlicher Moral zu negieren und die Sonderrolle des großen Einzelnen, des „Individuums“ zu markieren, gehört ein strikt antigesellschaftlich, ja asozial und anarchistisch geprägter Individualismus. Er erinnert in Vielem an Max Stirners Schrift Der Einzige und sein Eigentum (1845). Die Aphorismen Nr. 108 und 109 der Morgenröthe und andere Texte betonen auffällig oft das ‚Eigene‘. Auch viele Partien des Zarathustra folgen dieser Tendenz. Sie wirkt deformierend auf Nietzsches Erörterungen sowohl der griechischen Philosophie wie der christlichen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. An der griechischen Philosophie waren für ihn vor allem Epikur und die Stoiker interessant, sofern sie sich die Bewahrung der „Seelenruhe“ (Ataraxie, tranquillitas animi) und einer diesem Ziel dienenden Lebensart zuwandten. Im Aphorismus Nr. 131 der Morgenröthe wählt Nietzsche Epiktet als Repräsentanten der strengsten, radikal asketischen Form der Stoa. Er war unter den römischen Stoikern, zu denen auch Seneca und Kaiser Marc Aurel zählen, aufgrund seiner Lebensumstände – er lebte lange als besitz- und rechtloser Sklave – eine Ausnahmefigur. Durch die Vermittlung des Kirchenvaters Augustinus, der ihn in seinem Hauptwerk Über den Gottesstaat (De civitate Dei) den „edelsten Stoiker“ genannt hatte, wirkte er noch lange auf die asketischen Strömungen des Christentums, insbesondere auf das Mönchtum. Epiktet repräsentierte die kynisch gehärtete Form des stoischen Ideals: den ganz auf Bedürfnislosigkeit und Askese ausgerichteten Kynismus, der schon fünfhundert Jahre früher in Griechenland entstanden und eng mit den Anfängen der stoischen Schule verbunden war.161 Aufgrund seiner Erfahrungen als ehemaliger Sklave wusste er, wovon er sprach, wenn er in einem programmatischen Lehrgespräch (einer ‚Diatribe‘) die Freiheit zu einer inneren Haltung erklärte. Er galt als Paradigma eines glaubwürdigen stoischasketischen Lebens – anders als Seneca, der als reichster Mann des römischen Imperiums im 90. seiner an den Freund Lucilius gerichteten Moralischen Briefe das Ideal der Eigentums- und Bedürfnislosigkeit verkündete und deshalb schon von dem römischen Historiker Cassius Dio (etwa 150–235 n. Chr.) und später u. a. von La Rochefoucauld als Heuchler desavouiert wurde.
161 Diogenes Laërtius VI, 11–15.
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Nietzsche deformiert Epiktets Anliegen bis zur Unkenntlichkeit, um sein Darstellungsziel zu erreichen: die Absage an das Mitempfinden mit „Anderen“ oder gar ein Leben für Andere. Denn nur so meint er sein Plädoyer für den auf das „Ego“ ausgerichteten Kult des Individuums mit dem fälschlich hierfür als Gewährsmann herangezogenen Epiktet stützen zu können. Epiktet aber erstrebt die stoische Unabhängigkeit (Freiheit) und Selbstbewahrung nur im Hinblick auf die Gefahr affektiver Destabilisierungen des Ichs durch äußere Umstände. Er stand in der Tradition der stoischen Psychotherapie, und diese bezog sich sehr wohl auch auf das Gemeinwesen. Der berühmteste und bis in die Neuzeit fortwirkende Arzt des Altertums, Galen, nannte Chrysipps Schrift Über die Affekte ein „therapeutisches Büchlein“ (θεραπευτικὸν βιβλίον). Chrysipp war die Zentralfigur der älteren Stoa. Die Stoiker, aber auch die Platoniker traten, anders als Epikur und die Epikureer, nicht für einen Rückzug ins Private ein, geschweige denn für Nietzsches individualistische Ego-Vorstellung, sondern propagierten im Gegenteil ein Engagement in der Gesellschaft und im Staat, ein Engagement, das dem Gemeinwohl dienen sollte. Plutarch, der die platonische Tradition und Elemente der Stoa aufnahm, wandte sich in seiner kleinen Schrift Εἰ καλῶς εἴρηται τὸ λάθε βιῶσας („Ist ‚Lebe im Verborgenen‘ eine gute Lebensregel?“) gegen Epikur. Schon Zenon, der Begründer der Stoa, hatte in einer eigenen Schrift Über die Affekte (περὶ παθῶν) die Überwindung der Affekte empfohlen, um die stoische Gemütsruhe (ἀταραξία, tranquillitas animi) zu erreichen. Zugleich hatte er die „Pflicht“ (καθῆκον) gegenüber Anderen zu einem Hauptthema gemacht162, was Nietzsche nicht wahrhaben will. Mit der gleichen Absicht, mit der Nietzsche Epiktet für seine strikt individua listische Tendenz verfügbar zu machen versucht, deformiert er die christliche Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Obwohl er vehement gegen das Christentum zu Felde zieht, beruft er sich auf diese christliche Lehre als ein willkommenes Zeugnis für die Absolutsetzung des Individuums: das Christentum verkünde den unbedingten Vorrang der individuellen Einzelseele, da es deren persönliches Fortleben bis in alle Ewigkeit propagiere.163 Geflissentlich lässt Nietzsche außer Acht, dass das ‚Evangelium‘ die „frohe Botschaft“ für die Gemeinschaft der Gläubigen, ja für die ganze Menschheit sein will. Den nihilistischen Hintergrund seiner Spekulationen und seines Umgangs mit historischen Fakten, ja überhaupt mit dem Überlieferten hat Nietzsche wiederholt mit dem ihm aus anderen Zusammenhängen bekannten Spruch evoziert:
162 Diogenes Laërtius VII, 108. 163 KSA 3, 123, 14–17.
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„Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“.164 Allerdings ist es nicht allen erlaubt, wie er insbesondere im Hinblick auf die Philosophen mit folgenden Worten seiner Schrift Jenseits von Gut und Böse feststellt: „Für jede hohe Welt muss man geboren sein; deutlicher gesagt, man muß für sie gezüchtet sein: ein Recht auf Philosophie – das Wort im grossen Sinne genommen – hat man nur Dank seiner Abkunft, die Vorfahren, das ‚Geblüt‘ entscheidet auch hier“.165 Alsbald, in Ecce homo, bezeichnete er sich selbst als einen solchen Mann von „Geblüt“, indem er sich von angeblich adligen polnischen Ahnen herzuleiten versuchte: „Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang“.166 Das „Geblüt“ des einzig zur Philosophie Berufenen, so statuiert er in Jenseits von Gut und Böse anschließend an seine Ausführungen zum „Recht auf Philosophie“, beweist sich in der „Hoheit herrschender Blicke“ und in der „Kunst des Befehlens“.167 In dieser Vorstellung vom Philosophen gipfelt sein schließlich in den Ego-Wahn übergegangener „Wille zur Macht“.
164 Die Herkunft dieser Losung erörtert Andreas Urs Sommer: Kommentar zu Nietzsches ‚Der Antichrist‘. ‚Ecce homo‘. ‚Dionysos-Dithyramben‘. ‚Nietzsche contra Wagner‘ (= Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 6/2), Berlin/Boston 2013, S. 501 zu KSA 6, 319, 2 f. 165 KSA 5, 148, 27–31. 166 KSA 6, 268, 2 f. 167 KSA 5, 149, 2; 149, 7.
17 Nietzsche zitiert Goethe und Schiller absichtlich falsch Eine Rückblende auf Nietzsches früheres Werk zeigt die gleichen Mängel, Entstellungen und Verfälschungen wie seine späteren Schriften. Schon Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik verrät den in den späteren Schriften auffallenden Umgang mit der deutschen und der griechischen Literatur bis in die zitierten Texte hinein. Nietzsche verkehrt sie manchmal sogar ins Gegenteil. So macht er den Vers von Goethes Faust (Szene Nacht, Faust I, V. 409): „Das ist deine Welt! Das heisst eine Welt!“ zum stolzen Ausdruck des selbstbewusst schöpferischen Prometheus bei Aischylos. Goethe hingegen lässt Faust sein lebensfernes Gelehrtenlos beklagen und meint den von Nietzsche zitierten Vers bitter-selbstironisch: Weh! steck ich in dem Kerker noch? Verfluchtes dumpfes Mauerloch, […] Mit Gläsern, Büchsen rings umstellt, Mit Instrumenten vollgepfropft, Urväter-Hausrat drein gestopft ‒ Das ist deine Welt! das heißt eine Welt!
Nietzsche zitiert auch Schiller zu Unrecht, obwohl er ihn im Gegensatz zu der späteren Ablehnung des „Moral-Trompeters von Säckingen“ noch als den Kronzeugen einer idealistischen, antirealistischen Kunstauffassung feiert und obwohl er diese mit folgenden Worten auf den Chor der griechischen Tragödie zurückzuprojizieren versucht: „Freilich ist es ein ‚idealer‘ Boden, auf dem, nach der richtigen Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der Chor der ursprünglichen Tragödie, zu wandeln pflegt, ein Boden hoch emporgehoben über die wirkliche Wandelbahn der Sterblichen. Der Grieche hat sich für diesen Chor die Schwebegerüste eines fingirten Naturzustandes gezimmert und auf sie hin fingirte Na t ur we s e n gestellt“168. Die Berufung auf Schiller ist in doppelter Weise unzutreffend und sogar irreführend. Erstens: Nirgends in seiner Vorrede zur Braut von Messina: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie sagt Schiller, „der griechische Satyrchor“ sei der Chor der ursprünglichen Tragödie gewesen. Zweitens: Es ist gerade nicht der Chor der antiken Tragödie, der in Schillers Traktat über die (in Nietzsches Worten) „wirkliche Wandelbahn der Sterblichen“ emporheben sollte; im Gegenteil gibt es in Schillers geschichtsphilosophischer Sicht bei den
168 KSA 1, 55, 12–18.
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Nietzsche zitiert Goethe und Schiller absichtlich falsch
Griechen noch nicht wie in der Moderne die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit, und deshalb schreibt er: „Der Chor war folglich in der alten Tragödie mehr ein natürliches Organ, er folgte schon aus der poetischen Gestalt des wirklichen [!] Lebens“.169 Dagegen konzipiert Schiller für die moderne Tragödie, in der Ideal und Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmen, den Chor als ein gegenüber der Wirklichkeit distanzschaffendes, zum Ideal und zur ‚Freiheit‘ erhebendes Kunstmittel. Nietzsche setzt seine Zustimmung zu Schillers idealistischem Konzept und die Polemik gegen den Realismus, der sich an der „wirklichen Wandelbahn der Sterblichen“ orientiert, auf absurde Weise fort. Die Satyrn als Darstellung einer ans Tierische grenzenden Triebhaftigkeit sind keineswegs „hoch emporgehoben“ über die Wirklichkeit wie die olympischen Götter, sondern im Gegenteil eine naturalistische Repräsentation, die aus den mit dem Dionysoskult verbundenen Sexual- und Fruchtbarkeitsritualen resultiert, zu denen auch die Phallos-Umzüge gehörten. Ein Wesensmerkmal des Satyrs ist der erigierte Phallos. Daraus eine in Schillers Sinn idealisierte Natur zu machen, ist ebenso abwegig wie die Verwechslung des Fiktiven ‒ der „fingirten Naturwesen“170 ‒ mit dem ‚Idealen‘.
169 Friedrich Schiller: Werke und Briefe, hg. von Otto Dann u. a., Bd. 5: Dramen IV, hg. von Matthias Luserke, Frankfurt am Main 1996, S. 286. 170 KSA 1, 55, 18.
18 Die wider besseres Wissen unternommene Verfälschung der Überlieferung am Beispiel des Euripides Wie Nietzsche Goethe und Schiller zu Unrecht zitiert, um ihre Texte nach seiner Intention zu modeln, so verfährt er auch mit den Texten des Euripides, den er im Gefolge August Wilhelm Schlegels aus idealistischer und antiaufklärerischer Absicht bewusst falsch interpretiert, um ihn herabzusetzen. Im elften Kapitel der Tragödienschrift schreibt er: „Die bürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine politischen Hoffnungen aufbaute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin in der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr oder der Halbmensch den Sprachcharakter bestimmt hatten“.171 Die politische Position des Euripides wird traditionell aus Versen abgeleitet, die er in seinem Drama Die Hiketiden (Die Schutzflehenden) dem athenischen Nationalheros Theseus in den Mund legt (V. 238–45): Von den drei für die Polis wesentlichen Gruppen sei diejenige „in der Mitte“ – zwischen Arm und Reich – die staatstragende (V. 244: ἡ ᾽ν μέσῳ σῴζει πόλεις). Daraus ein Plädoyer des Euripides für „Mittelmässigkeit“ abzuleiten, zeugt, mit den Worten von Wilamowitz, von „geflissentlicher Entstellung“.172 Dies gilt ebenso für die Behauptung, dass bis hin zu Euripides „in der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr oder der Halbmensch den Sprachcharakter bestimmt hatten“. Mit Ausnahme des (pseudo-) aischyleischen Prometheus, den Nietzsche immer wieder zum alleinigen Maßstab erhebt, und der Herakles-Dramen ist die Handlung keiner einzigen erhaltenen Tragödie des Aischylos und des Sophokles von einem „Halbgott“ oder einem als halbgöttlich aufzufassenden Helden bestimmt, woraus Nietzsche den besonderen „Sprachcharakter“ dieser Dramen abzuleiten versucht. Dass in der Komödie „der betrunkene Satyr oder Halbmensch den Sprachcharakter bestimmt hatten“, trifft schon deshalb nicht zu, weil in der Komödie – auch in derjenigen des Aristo phanes, den Nietzsche zum Kronzeugen gegen Euripides aufruft – Satyrn und „Halbmenschen“ gar nicht vorkommen. Diese Figuren waren den Satyrspielen vorbehalten, die nach den Tragödien-Aufführungen zur Entspannung dienten. Nietzsche verfälscht auch bewusst die europäische Wirkungsgeschichte des Euripides, um ihn zu desavouieren. Im zwölften Kapitel der Tragödienschrift behauptet er in Anspielung auf das in den Bakchen des Euripides über den thebanischen König Kadmos und seine Gemahlin Harmonia verhängte Strafgericht (die
171 KSA 1, 77, 14–19. 172 Wilamowitz-Moellendorff S. 25, bei Gründer S. 48.
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Verwandlung in Drachen): „dass Euripides zur Strafe von den Kunstrichtern aller Zeiten in einen Drachen verwandelt worden ist“.173 Keineswegs haben die „Kunstrichter aller Zeiten“ den Euripides negativ beurteilt; mit wenigen Ausnahmen, zu denen gerade der von Nietzsche herangezogene Aristophanes und in dessen Gefolge August Wilhelm Schlegel gehören, schätzen im Gegenteil schon viele ‚Kunstrichter‘ der Antike, von Platon über Cicero bis zu Quintilian, den Euripides besonders hoch. In der Neuzeit gehören zu den prominenten ‚Kunstrichtern‘, die Euripides rühmen, Wieland, Lessing und Goethe. Selbst A. W. Schlegel, eine der wichtigsten Quellen für Nietzsche und auch schon für die von ihm benutzte philologische Literatur des 19. Jahrhunderts, hatte trotz seiner Abneigung gegen Euripides immerhin erwähnt, dass auch in der Moderne viele den Euripides hochgehalten haben: „Wie wohl die Neueren nicht selten den Euripides seinen beiden Vorgängern vorgezogen, ihn mehr als diese gelesen, bewundert und nachgeahmt haben, sei es nun, daß sie durch die größere Verwandtschaft der Ansichten und Gesinnungen angezogen oder durch einen mißverstandenen Ausspruch des Aristoteles [der in seiner Poetik, 1453a 29 f., den Euripides den „tragischsten“ (τραγικώτατός γε τῶν ποιητῶν) unter den Dichtern genannt hatte] irre geleitet wurden“.174 Für Nietzsches schwindelhaftes Verfahren ist es bezeichnend, dass er die von A. W. Schlegel erwähnte, wenn auch nicht akzeptierte positive Rezeption des Euripides ausblendet und wider besseres Wissen nur die negativen Beurteilungen zur Sprache bringt. Noch in den Aufzeichnungen zu seiner Tragö dienvorlesung vom Sommersemester 1870 hatte Nietzsche richtig notiert: „Der Euripides-Cultus ist der älteste u. der verbreitetste – bis auf A. W. Schlegel“.175 Die Bezeichnung „Euripides-Cultus“ fand Nietzsche in dem von ihm benutzten mehrbändigen Werk von Julius Leopold Klein über die Geschichte des Drama’s (Leipzig 1865 ff.), wo es heißt: „Auch liess der Widerspruch gegen den EuripidesCultus nicht lange auf sich warten. Schon vor A. W. Schlegel hob Jacobs, in den Nachträgen zu Sulzer’s Theorie der Künste, die Mängel des Tragikers hervor, und weit gründlicher und gerechter als Schlegel; aber auch immer noch mit voller Anerkennung und Bewunderung für die grossen Vorzüge, Verdienste und das tragische Genie des Euripides“.176 Kurz vorher heißt es bei Klein: „Um keines Dichters Seele haben guter und böser Engel, Vergötterung und Verdammniss so
173 KSA 1, 83, 14–16. 174 August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe, hg. von Edgar Lohner, Bd. V/1: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Stuttgart u. a. 1966, S. 102. 175 KGW II 3, 45. 176 Julius Leopold Klein: Geschichte des Drama’s, 13 Bde., Leipzig 1865–1876, Bd. 1, S. 417.
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heftig gestritten und gerungen, wie um die dramatische Kunstseele des Euripides: von Aristophanes’ komischer Hölle bis zu J. A. Hartungs komischem siebenten Himmel, in den er seinen heilig gesprochenen Tragiker erhoben. J. A. Hartung konnte 1843 eine unabsehbare Reihe von Phileuripiden [Euripides-Freunden] bis herab in das Zeitalter überschauen, das seine zwei dicken Bände entstehen sah“.177 Auf diesem Hintergrund wird erkennbar, wie entschieden Nietzsche sich in einen schon längst zur Mode gewordenen Parteikampf um Euripides stürzte, wie einseitig er dies tat und wie er trotz der ihm wohlbekannten Fülle von Euripides-Bewunderern sogar behauptete, Euripides sei „von den Kunstrichtern aller Zeiten in einen Drachen verwandelt worden“. Über die hohe Beliebtheit des Euripides war Nietzsche ganz im Gegensatz zu seiner verfälschenden Darstellung nicht zuletzt durch ein zu seiner Zeit maßgebendes und von ihm intensiv benutztes Handbuch informiert, das er in seiner persönlichen Bibliothek besaß und zusätzlich wiederholt auslieh: durch das von Gottfried Bernhardy verfasste zweibändige Werk Grundriss der Griechischen Litteratur.178 Darin steht eine ganze Partie über die Hochschätzung des Euripides in Antike und Neuzeit aufgrund der Vorliebe für sentenzenhafte Prägungen in seinen Dramen. Allerdings resultierte deren Beliebtheit nicht nur wie diejenige von Schillers jederzeit zitierfähigen Sentenzen im 19. Jahrhundert aus ihrer bürgerlichen Alltäglichkeit, wie Nietzsche im Anschluss an die karikierende Euripides-Kritik des Aristophanes unterstellt. Platon würdigte diese Sentenzen als Weisheitsschatz, die Zentralfigur der Stoa, Chrysipp, machte sie sich zu eigen, Alexander der Große, von seinem Lehrer Aristoteles gut unterwiesen, schätzte sie, und auch die wirkungsmächtigsten Rhetoriker: Cicero und Quintilian sowie ein großes humanistisch gebildetes Publikum huldigte dem griechischen Tragiker bis in die Florilegien seiner Sentenzen hinein.
177 S. 412. 178 Gottfried Bernhardy: Grundriss der griechischen Litteratur, mit einem vergleichenden Ueberblick der Römischen, 2 Teile, Halle 1836 und 1845 [1. Teil in Nietzsches persönlicher Biblio thek (= NPB)].
19 Die Entstellung der griechischen Mythen Die griechischen Mythen manipuliert der frühe Nietzsche, indem er sie nach schon vorhandenen Mustern ‚symbolisch‘ und allegorisch darstellt, um sie zum archetypischen Ausdruck von Philosophemen Schopenhauers umzudeklarieren. Schopenhauers Theorien sollten damit eine hinter alles Historische und Zeitbedingte zurückreichende apriorische Legitimation erhalten. Außerdem sollte Wagners Umgang mit Mythen in seinem ‚Gesamtkunstwerk‘ und die in seinen theoretischen Schriften exponierte irrationalistische Kunstideologie samt dem damit verbundenen romantisierten Mythos-Begriff gefeiert werden. Nietzsches akademischer Lehrer Friedrich Ritschl, der sich für ihn in Basel mit einer Empfehlung so nachdrücklich eingesetzt hatte, dass der junge Gelehrte gegen alle akademischen Gepflogenheiten unpromoviert und unhabilitiert allein aufgrund der wissenschaftlichen Autorität Ritschls den Ruf nach Basel erhielt, reagierte auf die Zusendung der Tragödienschrift am 14. Februar 1872 mit einem Brief, der bei aller freundlichen Höflichkeit doch nicht kritischer und enttäuschter sein konnte – gerade im Hinblick auf die Manipulation des historisch Überlieferten durch ‚symbolisches‘ Schopenhauerisieren und mystifizierendes Wagnerisieren. Dieses Zeugnis verdient es, ausführlich zitiert zu werden: Wenn ich nun aber, trotz Ihres Wunsches, zu einer eingehenden Besprechung Ihrer Schrift, die für Sie irgend einen Werth haben könnte, mich auch jetzt noch außer Stande fühle und wohl auch weiterhin außer Stande fühlen werde, so müssen Sie bedenken, daß ich zu alt bin, um mich noch nach ganz neuen Lebens- und Geisteswegen umzuschauen. Meiner ganzen Natur nach gehöre ich, was die Hauptsache ist, der h i s to r i s ch e n Richtung und historischen Betrachtung der menschlichen Dinge so entschieden an, daß mir nie die Erlösung der Welt in einem oder dem andern philosophischen System gefunden zu sein schien; daß ich auch niemals das natürliche Abblühen einer Epoche oder Erscheinung mit ‚Selbstmord‘ bezeichnen kann [wie Nietzsche in seinem Euripides-Kapitel]; daß ich in der Individualisirung des Lebens keinen Rückschritt zu erkennen, und nicht zu glauben vermag, daß die geistigen Lebensformen und -potenzen eines von Natur und durch geschichtliche Entwickelung selten begabten, gewissermaßen privilegirten Volkes absolut maßgebend für alle Völker und Zeiten seien – so wenig wie e i n e Religion für die verschiedenen Völkerindividualitäten ausreicht, ausgereicht hat und je ausreichen wird. – Sie können dem ‚Alexandriner‘ und Gelehrten unmöglich zumuthen, daß er die E r ke n n t n i ß verurtheile und nur in der Kunst die weltumgestaltende, die erlösende und befreiende Kraft erblicke. Die Welt ist Jedem ein Anderes: und da wir so wenig, wie die in Blätter und Blüthen sich individualisirende Pflanze in ihre Wurzel zurückkehren kann, unsere ‚Individuation‘ überwinden können, so wird sich in der großen Lebensökonomie auch jedes Volk seinen Anlagen und seiner besondern Mission gemäß ausleben müssen. Das sind so einige allgemeine Gedanken, wie sie mir die flüchtige Durchsicht Ihrer Schrift eingegeben hat. Ich sage ‚Durchsicht‘, weil ich freilich bei meinen 65 Jahren nicht die Zeit und die Kräfte mehr habe, um die nothwendige Führerin Ihrer Entwickelungen, die Schopenhauersche Philosophie, zu studiren, und mir deshalb auch kein Urtheil darüber erlaube,
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ob ich Ihre Intentionen überall recht verstanden habe. Wäre mir Philosophie geläufiger, so würde ich mich ungestörter an den mannigfachen schönen und tiefsinnigen Gedanken und Gedankenvisionen erfreut haben, die mir nun wohl manchmal durch eigene Schuld unvermittelt geblieben sind. Ist es mir doch in jüngeren Jahren schon ähnlich ergangen mit der Lectüre Schellingischer Ideenentwickelung, um von den speculativen Phantasien des tiefsinnigen ‚Magus des Nordens‘ [Hamanns] gar nicht zu reden. Ob sich Ihre Anschauungen als neue E r z i e h u ngs fundamente verwerthen lassen, ‒ ob nicht die große Masse unserer Jugend auf solchem Wege nur zu einer unreifen Mißachtung der Wissenschaft gelangen würde, ohne dafür eine gesteigerte Empfindung für die Kunst einzutauschen, ‒ ob wir nicht dadurch, anstatt Poesie zu verbreiten, vielmehr Gefahr liefen, einem allseitigen Dilettantismus Thür und Thor zu öffnen ‒: das sind Bedenken, die dem alten Pädagogen vergönnt sein müssen, ohne daß er sich, meine ich, deshalb als ‚Meister Zettel‘ zu fühlen braucht. […] Gegenüber Ihrer ‚Fülle der Gesichte‘ würde es wenig am Platze sein, wenn ich eine alexandrinische Frage an sie richten wollte […] daher unterlasse ich es.179
Der im Zentrum der Tragödienschrift stehende Dionysos-Mythos und die Konzeption des ‚Dionysischen‘, deren Erfindung Nietzsche später wahrheitswidrig sich selbst zuzuschreiben versuchte180, dienen der Aufzäumung eines anti sokratischen, d. h. antiaufklärerischen Irrationalismus. Ein Beispiel dafür ist seine Darstellung des eng mit dem Dionysos-Kult verbundenen Geheimkults: der Mysterien. Im zwölften Kapitel der Tragödienschrift greift er auf die älteste Nennung des Dionysos in Homers Ilias zurück, um daraus eine Allegorie für die Ausbreitung des Mysterienkults in der Antike zu machen: „insofern aber der Kampf gegen das Dionysische der älteren Kunst gerichtet war, erkennen wir in Sokrates den Gegner des Dionysus, den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus erhebt und, obschon bestimmt, von den Mänaden des athenischen Gerichtshofes zerrissen zu werden, doch den übermächtigen Gott selbst zur Flucht nöthigt: welcher, wie damals, als er vor dem Edonerkönig Lykurg floh, sich in die Tiefen des Meeres rettete, nämlich in die mystischen Fluthen eines die ganze Welt allmählich überziehenden Geheimcultus“.181 Nietzsche erfindet hier, seiner Vorliebe für „Kampf“-Konstruktionen folgend, wo doch geschichtlich bedingte geistige und künstlerische Prozesse sich abzeichnen, eine bei Sokrates nirgends bezeugte Gegnerschaft gegen „das Dionysische“. Diese Erfindung kleidet er mythologisch-metaphorisch ein, indem er sich auf den Mythos beruft, in dem Orpheus von den zum Gefolge des Dionysos gehörenden Mänaden zerrissen wurde. Die bekannteste Version dieses Mythos ist in Ovids
179 KGB II 2, Nr. 285, S. 541–543. 180 Vgl. Ecce homo: „Die Geburt der Tragödie“ 1, KSA 6, 310, 15–18. 181 KSA 1, 87, 34–88, 8.
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Metamorphosen (11, V. 1–66) überliefert. Nietzsche zieht die Sage heran, um das im Jahr 399 v. Chr. von einem athenischen Gericht gegen Sokrates verhängte Todesurteil zu metaphorisieren – in aberranter Weise, denn die athenischen Richter können ebensowenig mit „Mänaden“ verglichen werden wie der durch einen Gifttrank verursachte Tod des Sokrates mit der Zerstückelung des Orpheus durch die rasenden Weiber im Gefolge des Dionysos. Dass der in Nietzsches Phantasie „übermächtige Gott“ Dionysos dann doch von seinem vorgeblichen Gegner (Sokrates) „zur Flucht“ genötigt worden sei, soll die Aussage-Intention illustrie ren, derzufolge in der Geschichte der Tragödie die ‚sokratische‘ Tendenz, die sich am stärksten bei Euripides ausprägte, schließlich über den „dionysischen“ Ursprung siegte. Induziert sind Nietzsches Phantasien durch eine Partie der Ilias. In diesem ältesten literarischen Zeugnis, in dem Dionysos erwähnt wird, ist von der Flucht des Dionysos die Rede, der als Gott des Wahnsinns „der Rasende“ heißt. Er flieht vor dem König Lykurgos, als dieser ihn und sein weibliches Gefolge („die Ammen“, die den Dionysos als Kind in der Naturwildnis von Nyssa aufgezogen haben) verfolgt182: Nicht des Dryas Erzeugter einmal, der starke Lykurgos, Lebete lang, als gegen des Himmels Mächt’ er gestrebet, Welcher vordem Dionysos’ des Rasenden Ammen verfolgend Scheucht’ auf dem heiligen Berge Nysseion; alle zugleich nun Warfen die laubigen Stäbe dahin, da der Mörder Lykurgos Wild mit dem Stachel sie schlug; auch selbst Dionysos voll Schreckens Taucht’ in die Woge des Meers, und Thetis nahm in den Schoß ihn, Welcher erbebt’, angstvoll vor der drohenden Stimme des Mannes. Jenem zürnten darauf die ruhig waltenden Götter, Und ihn blendete Zeus der Donnerer; auch nicht lange Lebt’ er hinfort; denn verhaßt war er allen unsterblichen Göttern.
Diesen Mythos von der Flucht des Dionysos in die „Tiefen des Meeres“ benutzt Nietzsche, um metaphorisch die Entstehung der unter der Oberfläche der Kultur sich ausbreitenden Dionysos-Mysterien zu verdeutlichen: des „Geheimcultus“, der die „ganze Welt“ allmählich überzog. Aber schon die behauptete zeitliche Abfolge – die Dionysos-Mysterien seien erst entstanden, nachdem die ‚dionysische‘ Tragödie und mit ihr die öffentlichen Dionysosfeiern verschwunden gewesen seien – trifft nicht zu, denn bereits im 5. Jahrhundert v. Chr., also gerade in der Zeit der großen Tragödiendichtung, sind auch die Dionysos-Mysterien gut
182 Ilias, 6. Gesang, V. 130–140, in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß, München 2004.
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bezeugt, so von Herodot (IV 79), von Sophokles (Antigone, V. 118–120), von Aristophanes (Frösche, V. 314 ff.). Aus den Versen des Sophokles und des Aristophanes geht die enge Verbindung der Dionysos-Mysterien mit den Demeter-Mysterien in Eleusis hervor, die wiederum durch den spätestens schon um 600 v. Chr. entstandenen ‚homerischen‘ Demeterhymnus bezeugt sind. Obwohl die Dionysos-Mysterien ein mit einem Geheimhaltungsgebot belegtes Einweihungsritual enthielten, waren sie im Ganzen nicht, wie Nietzsche will, ein „Geheimcultus“, sondern öffentlich zugängliche, von großen Kultvereinen getragene und mit Prozessionen (etwa von Athen nach Eleusis) verbundene Feiern. Auch lösten sie keineswegs andere Formen des – öffentlichen – Dionysoskults ab, denn diese lebten bis in die römische Kaiserzeit weiter.
20 Nietzsches Verfälschung der Operngeschichte im Dienste Wagners Die Tragödienschrift sollte eine Huldigung an Wagner sein, wie schon aus dem Vorwort zur Erstauflage hervorgeht. In ihr verurteilt Nietzsche, ganz nach Wagners Vorgaben in dessen Schrift Oper und Drama (1851), alle vor Wagner entstandenen Opern als Missgeburten. Schließlich geht Nietzsche als Bauchredner Wagners so weit, das gesamte Opernschaffen vor und neben Wagner als Vernichtung des einzig im Werk Wagners verwirklichten wahren Wesens der Oper darzustellen. Er wendet sich gegen die zahlreichen zeitgenössischen Wagner-Kritiker unter der Leitvorstellung „Wer die Oper vernichten will“183 und zugleich eskamotiert er alle anderen Opernkomponisten. Schon die um 1600 in Italien beginnende Geschichte der neuzeitlichen Oper durfte nicht als die – allein Wagner vorbehaltene – „Wiedergeburt“ der antiken Tragödie mit ihrer Verschmelzung von Musik und Wort erscheinen, obwohl die italienischen Komponisten und Librettisten in dieser Spätphase der Renaissance, die ja ihrem Selbstverständnis nach insgesamt eine Wiedergeburt der Antike sein sollte, ihre Opernkonzeption ausdrücklich auch als eine „Renaissance“: als eine Wiedergeburt der antiken Tragödie verstanden. Weil Nietzsche einen epochalen Neu-Anfang durch Wagners Opern markieren will, stellt er wie schon Wagner selbst die italienische Entstehungsgeschichte der neuzeitlichen Oper im 19. Kapitel der Tragödienschrift als Entartung dar. Deshalb erwähnt er auch mit keinem Wort das spätere Opernschaffen von Händel, Gluck und Mozart, ja mit Stillschweigen übergeht er Wagners großen zeitgenössischen Konkurrenten Verdi, dessen Opern schon zu einem großen Teil komponiert und aufgeführt waren, darunter mit internationalem Erfolg Rigoletto, Il Trovatore, La Traviata. Gleichzeitig mit dem Erscheinen der Geburt der Tragödie wurde Aida uraufgeführt. Die Opernbühne vor und neben Wagner sollte leergeräumt werden, damit dessen in Bayreuth unmittelbar bevorstehender Auftritt – für diesen Anlass sollte die Tragödienschrift werben – umso triumphaler nicht nur als Neubeginn sondern als erstmals legitime „Wiedergeburt“ der antiken Tragödie erscheinen konnte. Später, als sich Nietzsche schon von Wagner und dessen Musikästhetik abgewandt hatte, veröffentlichte Eduard Hanslick, der bedeutendste Musikkritiker des 19. Jahrhunderts, eine Reihe von Kritiken unter dem Titel Musikalische Statio nen (Berlin 1880). Darin findet sich ein Artikel mit dem Titel Kritische Nachfeier von Bayreuth, der auch einen Verriss der Geburt der Tragödie enthält. Hanslick
183 KSA 1, 125, 26 f.
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bezeichnet Nietzsches Erstling als „haarsträubende Abhandlung“. Der Autor sei der „durch Talent und Bildung wohl hervorragendste, in seinen Übertreibungen zugleich abenteuerlichste unter Wagners Kämpen“. Nach einem längeren Zitat aus der Tragödienschrift kommt er zu dem Resultat: „Man glaubt in einem Narrenhaus zu sein“.184 Wie sehr Nietzsche Wagners Wünsche und Wertungen übernahm, besonders wenn sie von Cosima Wagner ihrem jungen Verehrer vermittelt wurden, zeigt auch eine scheinbare Beiläufigkeit: Wagners Ablehnung von Sentenzen, die gerade bei Euripides von besonderer Bedeutung sind.185 Am 11. März 1872 notierte Cosima in ihrem Tagebuch: „Wie wir gestern abend noch von den Sentenzen der Helden Schillers redeten, sagte R., schließlich sprechen sie wie Sancho Pansa in Sprichwörtern“.186 Wagner spottete auch über die Verwendung von Sentenzen in den Stichomythien der Euripideischen Iphigenie auf Tauris, wie Cosima ebenfalls in ihrem Tagebuch berichtet.187 Schon in der kurz vor Nietzsches Geburt der Tragödie erschienenen kleinen Schrift Über die Bestimmung der Oper (1871), auf die sich Nietzsche alsbald in mehreren Briefen bezog, lehnte Wagner die „Sentenz“ ab, weil sie ein letztlich unkünstlerisches „Werkzeug der Verständlichung der Begriffe“ sei; dagegen könne die Musik das Wesentliche „zu einem einzigen unmittelbaren Ausdruck“ verschmelzen.188 In der vierten der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Richard Wagner in Bayreuth heißt es: „die wirkliche Leidenschaft des Lebens spricht nicht in Sentenzen und die dichterische erweckt leicht Misstrauen gegen ihre Ehrlichkeit“.189 Im Zuge der in der Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches unternommenen Selbstrevision, die viele Wertungen des Frühwerks betraf, änderte Nietzsche nicht nur seine Einschätzung Wagners generell, sondern speziell auch im Hinblick auf Sentenzen. Sie wurden für ihn mit der Hinwendung zur aphoristischen Schreibart und zur französischen Moralistik sogar besonders interessant.190 Zwar rückte Nietzsche 1886, vierzehn Jahre nach der Erstveröffentlichung, in der Neuauflage seiner Tragödienschrift mit einem vorangestell-
184 Eduard Hanslick: Musikalische Stationen. Die moderne Oper 2, Berlin 1880, S. 259. 185 Hierzu S. 77. 186 Cosima Wagner: Die Tagebücher, ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin/Dietrich Mack, hg. von der Stadt Bayreuth, Bd. 1, München 1976, S. 499. 187 Cosima Wagner: Tagebücher, Bd. I, 1027. 188 Richard Wagner: Ueber die Bestimmung der Oper. Ein akademischer Vortrag, Leipzig 1871, S. 20 f. 189 KSA 1, 488, 21–23. 190 Vgl. Menschliches, Allzumenschliches II: Vermischte Meinungen und Sprüche 165 u. 168, KSA 2, 445 f.
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ten ‚Versuch einer Selbstkritik‘ von den methodischen Unzulänglichkeiten, vom Überschwang und von den einst für ihn maßgebenden Autoritäten Schopenhauer und Wagner ab. Vor allem aber handelt es sich, neben mancherlei Neuperspektivierungen, die der identitätstiftenden Konstruktion einer geistigen Autobiographie dienen sollten,191 um einen Versuch, die Weisheit des in Misskredit geratenen Erstlings zu verteidigen. Die Distanzierung erscheint damit als eine lediglich die Oberfläche betreffende, während die tiefere Wahrheit davon gar nicht tangiert wird.
191 In einem Brief an Heinrich Köselitz vom 30. März 1881 schreibt Nietzsche: „Genug: wenn ich meine eignen Schriften sehe, ist es mir als ob ich alte Reiseabenteuer hörte, die ich vergessen hätte. Sehen wir zu, daß wir unser ganzes Leben derartig f ü r u n s monumentalisiren – es ist mir ganz gleichgültig und leerer Schall in den Ohren, wenn ein solches Begehren ‚Eitelkeit‘ heißt. Seien wir doch eite l f ü r u n s und so sehr als möglich!“ (KSB 6, Nr. 97, S. 77, Z. 31–37).
21 Etikettenschwindel als ‚zeitgemässe‘ Strategie: Die angeblich Unzeitgemässen Betrachtungen Ihr Echo in der vernichtenden zeitgenössischen Kritik. Nietzsches „Grossmanns-Sucht“. Die Schlüsselfunktion des im 19. Jahrhundert epidemischen Epigonen- und Décadence-Syndroms in Nietzsches Geschichtsvorstellung. Seine Flucht in eine irrationalistische Jugendbewegung und in leere Zukunftsprophetien.
Aufsehen erregen und Skandal machen, das gehört schon zu den in Nietzsches Frühwerk sich abzeichnenden Strategien. Auch der Etikettenschwindel ist nicht erst im späteren Werk ein Charakteristikum: nicht erst in der Morgenröthe und in der Fröhlichen Wissenschaft, für die er solche verheißungsvollen Titel wählt, obwohl diese Werke über den fundamentalen, immer noch von Schopenhauers Nihilismus grundierten Pessimismus nicht hinauskommen. Sie inszenieren lediglich vordergründig einen aufklärerischen Optimismus. Schon im Frühwerk praktiziert Nietzsche diese Camouflage in seiner Titelwahl. Die von ihm als „Unzeitgemäße Betrachtungen“ etikettierten Schriften, mit denen er eine sich von allem Zeitgemäßen kühn abhebende Originalität und Souveränität beansprucht, sind durchgehend ‚zeitgemäß‘, ja sie bleiben im ‚Zeitgemäßen‘ stecken. Schopenhauer und Wagner, beide Exponenten der zeitgenössischen kulturellen Wahrnehmung, bestimmen zwei der insgesamt vier ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen‘: die Abhandlung über Schopenhauer als Erzieher und die abschließende Schrift Richard Wagner in Bayreuth. Obendrein verrät die Huldigung an Schopenhauer, der nach Jahrzehnten der Nichtbeachtung seit Mitte des Jahrhunderts zum ModePhilosophen aufgestiegen war, woher Nietzsche seine Konzeption des Unzeitgemäßen nahm. Denn Schopenhauer hatte aus Erbitterung über seinen jahrzehntelang ausbleibenden Erfolg gegen alles Zeitgemäße und Zeitgenössische gewütet. Deshalb beruft sich Nietzsche auf ihn als idealen Repräsentanten der Unzeitgemäßheit, der eben zu dieser erziehe. Doch liefert er nur eine hastig hingeworfene Paraphrase des Traktats Über die Universitätsphilosophie, in dem Schopenhauer insbesondere gegen die an den Universitäten etablierten philosophischen Leitfiguren, allen voran gegen die von ihm mit lustvollen Schimpfkanonaden attackierte „Hegelei“ zu Felde zog. In doppelter Weise also blieb Nietzsche mit seiner Paraphrase ‚zeitgemäß‘ – zunächst indem er Schopenhauer, den aktuellen und auch von Wagner weltanschaulich adaptierten Modephilosophen, als Vorbild nahm, dann aber dessen Tiraden gegen alles Zeitgemäße adaptierte. Ursprünglich plante er zum Thema der (Un-)Zeitgemäßheit nicht weniger als dreizehn ‚Betrachtungen‘. Die tatsächlich aber letzte (vierte) der Unzeitgemäßen
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Betrachtungen veröffentlichte Nietzsche unter dem Titel Richard Wagner in Bayreuth. Sie ist offenkundig ebenso ‚zeitgemäß‘ wie diejenige über Schopenhauer. Wagner war mit seinen Musikdramen ein internationaler Star, der mit der Förderung des bayerischen Königs Ludwig II. und anderer Gönner in Bayreuth ein eigenes Festspielhaus erhielt, ja sogar hoffte, nach dem siegreichen Krieg 1870/71 dem in Versailles zum deutschen Kaiser proklamierten preußischen König seinen sogleich komponierten Kaisermarsch als deutsche Nationalhymne andienen zu können. Der ‚zeitgemäße‘ Republikaner und Revolutionär, der 1849 am Dresdner Aufstand teilgenommen hatte und sich nur durch die Flucht in die Schweiz der Verhaftung entziehen konnte, verwandelte sich in einen wiederum ‚zeitgemäßen‘ Monarchisten. Nietzsche bemühte sich in seiner Schrift über Richard Wagner in Bayreuth auf peinliche Weise, solche diametral entgegengesetzten Zeitgemäßheiten in eine innere Biographie Wagners zu integrieren und sie zu rechtfertigen, indem er nach Wagners Vorgaben von der nach der Idealfigur des Siegfried (im „Ring des Nibelungen“) entworfenen Vision von „Menschen der Zukunft“192 redete. Damit imaginierte der Egomane Wagner immer nur die „Zukunft“ seiner eigenen, alles bisherige Opernschaffen hinter sich lassenden Musikdramen. Ohnehin schwankt die von weitreichenden inneren Ambivalenzen bestimmte Wagnerschrift Nietzsches zwischen Huldigung und schon deutlicher Distanzierung. Zu Nietzsches erster ‚unzeitgemäßen‘, fälschlich als „Betrachtung“ firmierenden Attacke auf David Friedrich Strauß hatten Richard und Cosima Wagner ihren noch bedingungslos ergebenen Jünger angestiftet, weil sie mit Strauß verfeindet waren. ‚Zeitgemäß‘ ist Nietzsches Pamphlet schon insofern, als Strauß ein zeitgenössischer Erfolgsschriftsteller war, und besonders zeitgemäß, weil sich Nietzsche schon vorhandenen Kritiken anschloss, die bereits aktuelles Aufsehen erregten. Das Alterswerk, das Strauß nach dem bahnbrechenden großen Wurf über das „Leben Jesu“ (1835) als populären Nachzügler konfektionierte und das in kurzer Zeit sechs Auflagen erlebte, reizte Nietzsches Spott nicht zu Unrecht. Allerdings lieferte er nur ein Nachhutgefecht zu einer schon von Anderen geführten Auseinandersetzung.193 Er wollte, ganz nach Wagners und Cosimas Wunsch, den alten Strauß kurz vor dessen Tod als Erfolgsschriftsteller vom Sockel stoßen. Was herauskam, empfanden selbst die Wagners als kleinlich
192 KSA 1, 505, 6. 193 Hierzu die Bibliographie – auch zu allen anderen Werken von Strauß und zu ihrem Echo – in der Untersuchung von Friedrich Wilhelm Graf: Kritik und Pseudo-Spekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982, dort S. 613–664.
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und peinlich. Denn Nietzsches Diensteifer erschöpfte sich in despektierlichen Spöttereien und in einem nicht enden wollenden Aufspießen und Nachrechnen der stilistischen Schwächen des altersschwachen Strauß. In der ursprünglichen Vorrede zur Morgenröthe bedauert Nietzsche selbst den „Fanatismus“, von dem, wie er nun bekennt, sein ganzes Frühwerk vergiftet gewesen sei.194 Aber er zog diese ursprüngliche Vorrede zurück und begeisterte sich ganz im Gegenteil noch in Ecce homo über das „prachtvolle“195 Echo, das seine Attacke auf Strauß vor allem in der Basler Lokalpresse hervorgerufen hatte. Endlich ein Echo! Was er allerdings verschwieg, ist die Tatsache, dass er sich bloß noch in einen längst tobenden Parteikampf um David Friedrich Strauß stürzte, der sich in zahlreichen Rezensionen Pro und Contra Strauß niederschlug.196 Strauß hatte durch sein bereits 1835 erschienenes Hauptwerk Das Leben Jesu eine Revolution in der Theologie ausgelöst, indem er zwischen dem Christus der kirchlichen Tradition und dem Jesus der Geschichte unterschied. Daher fochten nun aus Anlass des Alterswerks Der alte und der neue Glaube, das der Gegenstand auch von Nietzsches erster ‚Unzeitgemäßer Betrachtung‘ ist, orthodoxe Kirchenleute und deren liberal aufgeklärte Gegner und Kritiker verschiedener Couleur neuerlich ihre Kämpfe aus. Der überwiegende Teil der meist ausführlichen Besprechungen von Nietzsches Pamphlet war geradezu vernichtend, weil er zahlreicher Verdrehungen, Unterstellungen und Verfälschungen von Aussagen in Strauß’ Schrift überführt wurde, und dies mit genauen Belegen und Zitaten.197 Die umfangreichste und gründlichste, ganz vernichtende Besprechung stammt von einem bekannten Literaturkritiker: von Emil Kuh, einem Freund Gottfried Kellers. Mit ihm wusste er sich in der Ablehnung nicht nur von Nietzsches Schrift, sondern auch von Nietzsches anmaßender Großmannssucht einig. Am 14. November 1873 fragte Emil Kuh bei Gottfried Keller an:
194 „Als ich jüngst den Versuch machte, meine älteren Schriften, die ich vergessen hatte, kennen zu lernen, erschrak ich über ein gemeinsames Merkmal derselben: sie sprechen die Sprache des Fanatismus. Fast überall, wo in ihnen die Rede auf Andersdenkende kommt, macht sich jene blutige Art zu lästern und jene Begeisterung in der Bosheit bemerklich, welche die Abzeichen des Fanatismus sind“ (NL Frühjahr 1880, 3[1], KSA 9, 47, 5–11). 195 KSA 6, 317, 9. 196 Hierzu die umfassende Dokumentation von Hauke Reich: Rezensionen und Reaktionen zu Nietzsches Werken 1872–1889, Berlin/Boston 2013. 197 Hierzu die maßgebliche und lange nachwirkende Besprechung: David Strauß und sein neuester Kritiker, in: Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel, Nr. 218 f. vom 15. und 16. 09. 1873. Der Tenor: „Unredliche Mittel“. Das Fazit: noch nie habe man sich solches Pathos „in so maßlosem Selbstgefühl, in so hohler Emphase, in so unwürdiger Herabsetzung des Gegners, in solcher Häufung von Schimpfwörtern“ expektorieren sehen.
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Ist Ihnen etwas über die Person des Professors Friedrich Nietzsche in Basel bekannt? Derselbe hat eine Schandbroschüre gegen Strauß geschnellt [d. h.: geschleudert] und ein wahnwitziges Buch über die „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ zu Ehren Richard Wagners dieses betrunkenen Schulmeisters, geschrieben. Ich frage deshalb, weil ich vier Wochen angestrengter Arbeit an eine Kritik über Nietzsche schon gewendet habe, welche ich selbständig herauszugeben gedenke. Ich bin gleichwohl kein Bewunderer des „Alten und neuen Glaubens“.198
Gottfried Keller gab am 18. November 1873 die erbetene Auskunft: Das knäbische Pamphlet des Herrn Nietzsche gegen Strauß habe ich auch zu lesen begonnen, bringe es aber kaum zu Ende wegen des gar zu monotonen Schimpfstiles ohne alle positiven Leistungen oder Oasen. Nietzsche soll ein junger Professor von kaum 26 Jahren sein, Schüler von Ritschl in Leipzig und Philologe, den aber eine gewisse Großmannssucht treibt, auf anderen Gebieten Aufmerksamkeit zu erregen. Sonst nicht unbegabt, sei er durch Wagner ‒ Schoppenhauerei [sic] verrannt und treibe in Basel mit ein paar Gleichverrannten einen eigenen Kultus. Mit der Straußbroschüre will er ohne Zweifel sich mit einem Coup ins allgemeine Gerede bringen, da ihm der stille Schulmeisterberuf zu langweilig und langsam ist. Es dürfte also zu erwägen sein, ob man einem solchen Spekulierburschen dieser Art nicht noch einen Dienst leistet, wenn man sich stark mit ihm beschäftigt.199
Trotz dieses Freundesrats ließ sich Emil Kuh nicht von seinem Plan abbringen, seine kritische Gegenschrift zu veröffentlichen. Am 27. November 1873 teilte er Gottfried Keller mit, er bestätige ihm den Eindruck, den er von Nietzsches „Schandschrift“ gewonnen habe und nun habe er sich auch noch ‚Die Geburt der Tragödie‘ vorgenommen. Emil Kuh veröffentliche seine Auseinandersetzung mit Nietzsche erst Jahre später als selbständige Schrift200 und eröffnete seine Attacke mit den Worten: „Wer ist Nietzsche? Ein großer Mann im Geheimen, der nichts sehnlicher in der Welt wünscht, als daß dieses Geheimniß den weitesten Kreisen offenbar werde. Ein Professor der classischen Philologie zu Basel, der im Gefühle seiner Superio rität entrüstet ist, daß sein Lehrstuhl nicht so hoch ragt, wie vormals der Kaiserstuhl zu Aachen“. Nach der kritischen Durchleuchtung der „gynäkologisch denkwürdigen Geburt der Tragödie“ distanziert sich Emil Kuh zunächst von der altersschwachen Strauß-Schrift Der alte und der neue Glaube und rückt dann
198 Irmgard Schmidt/Erwin Streitfeld (Hg.): Briefwechsel Gottfried Keller – Emil Kuh, Zürich 1988, S. 74. 199 A. a. O. S. 77 f. 200 Emil Kuh: Professor Friedrich Nietzsche und David Friedrich Strauß. Eine kritische Studie, in: Literaturblatt. Wochenschrift für das geistige Leben der Gegenwart, Bd. 2, Nr. 19–22, Wien, September bis Oktober 1876.
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Nietzsche zuleibe: Alles, was dieser schreibe, geschehe mit „einer ausgesuchten Gehässigkeit, bald bitter satyrisch, bald süßlich hämisch, jetzt mit dem Stirnrunzeln einer widerspänstigen Gelassenheit, dann wieder mit der Wildheit eines erbosten Katers“! Und er fährt fort: „Professor Nietzsche ist ein von seinem Eigennutze gedungener Fechter, der das flaue Buch eines verehrungswürdigen und edlen Gelehrten mit gemietheter Entrüstung anfällt, um die Augen der Menge auf sich selbst zu lenken“. In eingehender Analyse weist Emil Kuh nach, wie gehässig Nietzsche einzelne Aussagen von Strauß entstellt oder verfälscht, dass er aber selbst immer wieder sprachlich entgleist. Sein Fazit mit Goethes Worten: „ungebildete Anmaßung“ und „Sansculottismus“. Wohl mobilisierte Nietzsche seinen Freundeskreis, insbesondere die Wagnerianer, eingefleischte Antisemiten und sogar seinen Schwager Bernhard Förster. Aber all dies half wenig, denn der bekannte, in Paris lebende Publizist Karl Hillebrand schrieb einen kritisch distanzierten Artikel,201 den Nietzsche in Ecce homo in verfälschender Weise ins Positive zu wenden suchte,202 und aus England kam ein Verriss der ersten drei Unzeitgemäßen Betrachtungen, speziell des Pamphlets gegen Strauß. Die Westminster Review brachte im April 1875 eine Sammelbesprechung zum Thema Contemporary Literature, die Strauß aufgrund seines für die moderne Theologie bahnbrechenden Werks Das Leben Jesu (1835) würdigte und die Diffamierung von Strauß lediglich aufgrund seines Alterswerks Der alte und der neue Glaube als unangemessen verurteilte. Das Fazit lautet: widerwärtig und denunziatorisch. Trotz gelegentlich zutreffender Bemerkungen sei Nietzsches Pamphlet „in a bitter and denunciatory spirit“ geschrieben.203 Die einzige der Unzeitgemäßen Betrachtungen, die eine allgemeinere Wirkungsgeschichte hatte, ist die Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Auch sie ist in mehrfacher Hinsicht ‚zeitgemäß‘. Nietzsche operiert mit der Opposition von Historie und Leben, wobei unklar bleibt, was er unter „Leben“ versteht. Von Anfang an legt er das Gewicht viel mehr auf den Nachteil als auf den Nutzen der Historie. Diese interessiert ihn nur, sofern sie dem „Leben“ dient, sei es als monumentalische, als antiquarische oder als kritische Historie. Eine grundsätzliche Feststellung geht von der Erwägung aus, dass die Geschichte an sich keinen Sinn hat, sondern diesen nur durch die Deutung erhält, welche der Geschichtsschreiber ihr verleiht. Daraus ergibt sich für Nietzsche eine doppelte Konsequenz: erstens dass der Historiker keine Rücksicht auf Fakten zu nehmen
201 Karl Hillebrand: Nietzsche gegen Strauß, in: Allgemeine Zeitung. Augsburg, Nr. 265 f. vom 22. und 23. 09.1873. 202 Vgl. KSA 6, 318, 9–31. 203 Westminster Review, April 1875, S. 503.
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habe, vielmehr frei nach subjektivem Belieben verfahren könne wie ein Dichter; zweitens dass, ganz im Gegensatz zur teleologisch-heilsgeschichtlichen und insbesondere Hegelschen Geschichtsauffassung, nicht nur die Geschichte, sondern auch die Geschichtsschreibung sinnlos sei, da sie aus Deutungen bestehe, die aus vielen differierenden Standpunkten und folglich Perspektiven erzeugt werde. Die aus dieser Argumentation resultierende Leerstelle versucht Nietzsche durch die These zu füllen, die Geschichtsschreibung habe dem „Leben“ zu dienen und erhalte erst dadurch einen ‚Sinn‘, obwohl sie doch – und damit gerät er in einen circulus vitiosus – grundsätzlich keinen Sinn hat. Indirekt ergibt sich die ihm von Schopenhauer her vertraute nihilistische Konsequenz, dass auch das „Leben“ keinen Sinn habe. Jenseits, oder besser gesagt: diesseits solcher noch ins Metaphysische hineinreichender Spekulationen sind die von Nietzsche als unzeitgemäß bezeichneten Erörterungen besonders zeitgemäß, weil sie sich gegen das „Jahrhundert der Geschichte“ richten. Sie bleiben als Reaktion auf ein Zeitphänomen diesem notwendigerweise verhaftet. Das tieferliegende eigentliche Motiv des Leidens an der Geschichte, die als besonders aktuelles Phänomen moderner Entfremdungserfahrungen aufgegriffen wird, ist das überaus ‚zeitgemäße‘ Epigonensyndrom. Nietzsche beschwört es schon in der Geburt der Tragödie, um als Gegeninstanz des Epigonentums das „Dionysische“ als Inbegriff des „Lebens“ zu setzen.204 In der Historienschrift rückt er diesen an sich ganz vagen Begriff des „Lebens“ ins Zentrum. Nietzsches Verfahren besteht in einem fortwährenden Verschieben, Umetikettieren und Radikalisieren. Was zuerst das „Dionysische“ hieß, wird in der Historienschrift als „Leben“ deklariert, in der Morgenröthe als „Gefühl der Macht“, im Zarathustra als „Willen zur Macht“, im Spätwerk, immer deut licher ontologisierend und radikalisierend, als blinder und tyrannischer Machttrieb. Nur aus dem Gegenbegriff des Epigonentums erhält der des „Lebens“ überhaupt eine Kontur: eine ganz und gar zeitgemäße Kontur. Denn seit Immermanns Roman Die Epigonen (1836), die aus dem Eindruck entstanden, dass mit der großen Zeit der deutschen Dichtung und Philosophie 1770–1830 auch alle schöpferische Kraft versiegt sei und nur noch resignierte und schwächliche Nachkömmlinge ihr kümmerliches Treiben fristen oder in restaurativer Nachzeitigkeit stagnieren, wurde vor allem in der Literatur das Bewusstsein des Epigonentums zu einer lähmenden Obsession. Es radikalisierte sich zum Bewusstsein eines allgemeinen Niedergangs, ja Verfalls: der Décadence, die Nietzsche in seinem Spätwerk zum universellen kulturkritischen Erklärungsmodell machte und im Gefolge der
204 Vgl. KSA 1, 132, 10–13.
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Vorgaben in der deutschen Spätromantik, bei Heine sowie in der französischen Literatur als „modernes“ Schicksal sah. Obwohl Nietzsche schon in der Geburt der Tragödie das Epigonensyndrom adaptiert, macht er es erst in der Historienschrift zum Leitthema, mit dem er das Bekenntnis zum „Leben“ ins Profil hebt. Er diagnostiziert ein „Gefühl des gar zu Ueberspäten und Epigonenhaften“205, das die Zeit beherrsche, und den „oftmals peinlich anmuthende[n] Gedanke[n], Epigonen zu sein“206, um dann immer von Neuem das Los der „Nachkommen“ und der „Spätlinge“ zu beklagen.207 Im Namen einer erhofften Zukunft wehrt er sich gegen dieses Gefühl des Epigonentums: „Formt in euch ein Bild“, so ruft er seinen Lesern zu, „dem die Zukunft entsprechen soll, und vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein“208, denn: „Wahrhaftig, lähmend und verstimmend ist der Glaube, ein Spätling der Zeiten zu sein“.209 Emphatisch hatte er schon in der Geburt der Tragödie ausgerufen: „Fort, fort mit euch verkümmerten, abgemagerten Epigonen! Fort in den Hades, damit ihr euch dort an den Brosamen der vormaligen Meister einmal satt essen könnt!“210 Ähnlich wie mit der griechischen Tragödie, auf die er in absurder Weise die Epigonenobsession des 19. Jahrhunderts zurückprojiziert, verfährt Nietzsche mit der griechischen Philosophie. Auch sie glaubt er als Verfallsgeschichte deuten zu können. In der ungefähr gleichzeitig mit der Geburt der Tragödie entstandenen Abhandlung Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen lanciert er einen archaisierenden Kult der Vorsokratiker, um deren „Epigonen, mit Plato an der Spitze“211 abzuqualifizieren. Nietzsche stilisierte sich zum Propheten einer kommenden Zeit, und der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts florierende Nietzschekult machte ihn vollends dazu. Doch erweist er sich, wie besonders das Epigonensyndrom erkennen lässt, zuallererst als ein Sohn des 19. Jahrhunderts, aus dem er zunächst reaktiv und dann mehr und mehr reaktionär ausbrechen wollte. Die „Zukunft“, die er verkündet, ist – wie das „Leben“ – nichts als eine emphatisch ins Visionäre erhobene Luftnummer. Nietzsche vertraut, wie er im letzten Kapitel seiner Historienschrift bekundet, „der inspirirenden Macht, die mir anstatt eines Genius das Fahrzeug lenkt, ich vertraue der Jugend, dass sie mich recht geführt habe“ – die bedeutendsten Gräzisten der Zeit, die seine Geburt der Tragödie als unseriöses Mach-
205 KSA 1, 305, 11 f. 206 KSA 1, 307, 18. 207 KSA 1, 306–308. 208 KSA 1, 295, 6 f. 209 KSA 1, 308, 11 f. 210 KSA 1, 75, 29–32. 211 KSA 1, 810, 4.
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werk entlarvt hatten, waren meist älter als er! Deshalb pocht er in Stürmer- und Drängermanier auf seine „Jugend“ als Genialitätsgarantie.212 Ja Nietzsche verkündet ein „Reich der Jugend“213 und beginnt das Schlusskapitel mit den pathetisch exponierten Worten: „An dieser Stelle der Jugend gedenkend, rufe ich Land! Land!“214 Es ist nicht das Land oder gar das „Reich“, zu dem die Jugend gelangt, vielmehr ist die Jugend selbst dieses „Land“. Eine Leerformel geht in die andere über: „Leben“, „Zukunft“, „Jugend“, „Macht“. Bemerkenswert ist allerdings, dass Nietzsche seine erste Verbindung von „Wille“ und „Macht“ bald darauf in der vierten der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Richard Wagner in Bayreuth herstellt, indem er von der autobiographisch und tiefenpsychologisch fassbaren Persönlichkeit Wagners ausgeht. „Zu unterst“, schreibt er, „wühlt ein heftiger Wille in jäher Strömung, der gleichsam auf allen Wegen, Höhlen und Schluchten an’s Licht will und nach Macht verlangt“.215 Da Nietzsche, wenn er von Wagner spricht, fast immer auch an sich selbst denkt, geht man wohl nicht fehl, dass er mit dieser Aussage nicht zuletzt sich selbst meint. Die dritte und vierte der Unzeitgemäßen Betrachtungen, Schopenhauer als Erzieher und Richard Wagner in Bayreuth paraphrasieren weitgehend deren Verlautbarungen. In Schopenhauer als Erzieher schreibt Nietzsche nur dessen Abhandlung Über die Universitätsphilosophie aus, in der Wagner-Schrift reproduziert er dessen theoretische Traktate und Selbststilisierungen. Die peinlichen Partien der Schrift Richard Wagner in Bayreuth bestehen nicht nur in den missglückten Versuchen, Wagners ursprünglich revolutionäres Engagement mit seinem später um Fürstengunst buhlenden Verhalten zu vermitteln, ja sogar Wagners Kaisermarsch zu akzeptieren; auch nicht nur in der von gequälter Zustimmung zeugenden Feststellung, dass im Weiheort Bayreuth sich eine Luxusgesellschaft treffe und daher auch der Zuschauer selbst anschauenswert sei. Wie er schon in der ersten der Unzeitgemäßen Betrachtungen versucht, das schwache, gleichwohl enorm erfolgreiche Werk des alten Strauß bis in Details hinein zu zerrupfen und den Autor zu verunglimpfen, um die Rachsucht der Wagners zu bedienen, so ist auch die im 9. Kapitel der Historienschrift lancierte Attacke auf das erfolgreiche Buch von Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung (1869) von mesquinen Motiven und Schlimmerem bestimmt. Das „Unbewußte“ gehört durchaus in den Horizont der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung, denn in Wagners eigenen Schriften ist das Unbewusste
212 KSA 1, 324, 30–32. 213 KSA 1, 324, 9. 214 KSA 1, 324, 11 f. 215 KSA 1, 437, 3–6.
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ein wichtiges Thema. Es gehe um die „Anerkennung des Unbewußten“ schreibt er in seiner Abhandlung Das Kunstwerk der Zukunft.216 Schon im Sommer 1870 hatte Nietzsche Eduard von Hartmanns Werk intensiv studiert, wie seine Notizen und seine Exzerpte aus diesem Buch zeigen.217 Obwohl also Nietzsche selbst Hartmanns Werk viel verdankte, ärgerte er sich, ähnlich wie die Wagners, über dessen großen Erfolg beim Publikum – wie schon im Hinblick auf David Friedrich Strauß. Nicht umsonst spricht er erbost von der „berühmten Philosophie des Unbewussten“218, um dann diese als ein Beispiel ‚zeitgemäßer‘ Anpassung aufs Korn zu nehmen und sich selbst mit seiner Attacke als ‚unzeitgemäß‘ darzustellen, auch wenn er doch gerade an diesem Exempel zeitgemäßer Schriftstellerei hängen blieb. Die von ihm attackierte Darstellung reizte ihn, weil Eduard von Hartmann trotz seiner vielen anerkennenden Worte für Schopenhauer, der die Basis seiner Hinwendung zum Unbewussten bildete, sich dann doch kritisch gegen Schopenhauers Pessimismus wandte, um mit Hegelschem Vernunft- und Geschichtsglauben und mit neudeutsch gestärktem Erfolgsbewusstsein einen flach wohlmeinenden Optimismus zu propagieren, der ihm selbst offenkundig nicht geheuer war. Diese inneren Spannungen und Widersprüchlichkeiten nimmt Nietzsche zum Anlass, um Eduard von Hartmann als lächerlichen Parodisten seiner selbst zu verhöhnen. Er unterstellt ihm „philosophische Schelmerei“219, verspottet ihn in gespielter Munterkeit und bemühter ‚Heiterkeit‘ als „Schelm der Schelme“220, als Vertreter einer Spaßphilosophie, als perversen „Schalk“221, ja als „groteske Fratze“.222 Diese Tiraden, die Nietzsche mit vielen Zitaten, predigerhaften Einlassungen, pseudoprophetischem Pathos und langweiligen Repetitionen aus den früheren Unzeitgemäßen Betrachtungen durcheinanderwirbelt, verursachten ihm selbst Unbehagen. Er legt im Schlusskapitel ein erstaunliches Bekenntnis ab: „gerade diese Abhandlung zeigt, wie ich mir nicht verbergen will, in der Unmäs-
216 Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 3, Leipzig 1907, S. 45. 217 Vgl. Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung, Berlin 1869, besonders Abschnitt B III: „Das Unbewußte der Gefühle“, S. 188–201. Hierzu die Notatgruppe 3, Winter 1869/70-Frühjahr 1870 sowie in den nachgelassenen Schriften die unter dem Titel Die dionysische Weltanschauung stehende Vorstufe zur Tragödienschrift: „Was wir ‚Gefühl‘ nennen, das lehrt die auf Schopenhauers Bahnen wandelnde Philosophie [gemeint ist Eduard von Hartmanns Buch] als einen Komplex von unbewußten Vorstellungen und Willens zuständen begreifen“ (KSA 1, 572, 2–4). 218 KSA 1, 314, 1. 219 KSA 1, 314, 4. 220 KSA 1, 318, 4 f. 221 KSA 1, 324, 5. 222 KSA 1, 315, 26.
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sigkeit ihrer Kritik, in der Unreife ihrer Menschlichkeit, in dem häufigen Uebergang von Ironie zum Cynismus, von Stolz zur Skepsis, ihren modernen [d. h. zeitgemäßen] Charakter, den Charakter der schwachen Persönlichkeit“.223
223 KSA 1, 324, 25–30.
22 Ausblick auf Hauptwerke der literarischen Wirkungsgeschichte: Kafka, Musil, Thomas Mann 22.1 Nietzsches ‚Wille zur Macht‘ bei Kafka Von der Beschreibung eines Kampfes zu der Erzählung Das Urteil.
Seit 1900 war Kafka ein Nietzsche-Leser.224 Von der Beschreibung eines Kampfes und dem Roman Der Prozess (1914/15), die er beide nicht selbst veröffentlichte, bis zu der von ihm vorbehaltlos bejahten und veröffentlichten Erzählung Das Urteil sind schon seine frühen Geschichten von einer intensiven Nietzsche-Rezeption bestimmt, und diese wirkt auch noch auf sein späteres Werk.225 Bereits in
224 Walter H. Sokel fasst in seinem Buch Franz Kafka. Tragik und Ironie. Zur Struktur seiner Kunst, Frankfurt am Main 1976, S. 545, zusammen: „Der junge Kafka liebte Nietzsche, wie Kafkas Jugendfreundin Frau Selma Robitschek (geb. Kohn) bezeugt, der er im Jahre 1900 unter einer alten Eiche oft aus Nietzsche vorgelesen hat (Br., 495). Auch Wagenbach hebt hervor, daß Kafka in seiner Jugend Nietzsche-Anhänger gewesen ist (102). Die von Avenarius herausgegebene Zeitschrift ‚Der Kunstwart‘, die Kafkas Jugendjahre tief beeinflußt, wurde in ihrem Entstehen noch von Nietzsche selbst gefördert und blieb in ihrer Grundeinstellung Nietzsches Ideen treu (Wagenbach, 103). Übrigens war es gerade Die Geburt der Tragödie, die Kafka bis in seine reifste Zeit schätzte. Kafka schenkte dem jungen Gustav Janouch dieses Werk, wie mir Janouch gesprächsweise mitteilte. Wie Janouch dabei betonte, war es Kafkas Gewohnheit, nur solche Bücher zu schenken, die ihm wertvoll waren“. 225 Hierzu Patrick Bridgewater: Kafka and Nietzsche, Bonn 1974; Bert Nagel: Kafka und die Weltliteratur. Zusammenhänge und Wechselwirkungen, München 1983, S. 299–327; Forschungsüberblick von Peter U. Beicken: Franz Kafka. Eine kritische Einführung in die Forschung, Frankfurt am Main 1974. Max Brod behauptete noch in seinem Buch Über Franz Kafka, Frankfurt am Main 1976, S. 259, der Gedanke an eine Beziehung Kafkas zu Nietzsche sei eine „Instinktlosigkeit“. Der Autorität Brods schloss sich Claude David in seiner Abhandlung Sur Kafka: Quelques livres parmi beaucoup an (in: Études germaniques 30 (1975), S. 55–65, hier S. 61: „Max Brod n’avait pas tort: entre Nietzsche et Kafka, il n’y a pas de rapport“. Erich Heller dagegen bezeichnete bereits 1954 Nietzsche als „geistigen Vorfahr Kafkas“ (E. Heller: Enterbter Geist. Essays über modernes Dichten und Denken, Frankfurt am Main 1954, S. 294). Vgl. Peter Heller: Kafka and Nietzsche, in: Proceedings of the Comparative Literature Symposium 4 (1971), S. 71–95. Weitere Zeugnisse in dem schon genannten Werk von Walter H. Sokel sowie bei Patrick Bridgewater: Kafka and Nietzsche. Gerhard Kurz kritisiert in seinem Buch Traum ‒ Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart 1980, dass die Arbeiten über Kafka und Nietzsche oft den Nachteil haben, „daß sie die Parallelen zu unkritisch ziehen und die Differenzen übersehen“ (S. 215, Anm. 80). Er hebt eine entscheidende Differenz hervor (S. 36): „Bei Nietzsche steht die Beschwörung des Unter-
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Ausblick auf Hauptwerke der literarischen Wirkungsgeschichte
der Romantik war die von Nietzsche thematisierte Subversion des souveränen Subjekts und des konsistenten Individuums ein markantes Thema: zuerst bei Jean Paul, dann in großem Stil bei E. T. A. Hoffmann und, in widersprüchlicher Weise, bei Schopenhauer. Nietzsche kannte diese Tradition, die von seinen Zeitgenossen aktualisiert und wissenschaftlich unterbaut wurde.226 Im Gegensatz zu seinem eigenen Plädoyer für den großen Einzelnen erklärte er: „das Ich […] ist zur Fabel geworden, zur Fiktion, zum Wortspiel: das hat ganz und gar aufgehört, zu denken, zu fühlen und zu wollen!“227 Er spricht von der „Seele als SubjektsVielheit“228 und in einem nachgelassenen Notat von der „Mehrheit der ‚Person‘“, wobei er den Begriff ‚Person‘ bezeichnenderweise in Anführungszeichen setzt.229 Damit reproduziert Nietzsche die von den Hauptvertretern der Experimentalpsychologie induzierte zeitgenössische Konjunktur von Theorien, welche das traditionelle Individualitätsdenken konterkarierten, bis hin zum Phänomen der gespaltenen, ja sogar in sich antagonistischen Persönlichkeit. Zwar wurde das „Individuum“ in einer langen Tradition für ein, wie schon dieses Wort besagt, ‚Unteilbares‘, ein Atomon gehalten, aber die Spaltung der Persönlichkeit in antagonistische Teile war schon längst ein literarisches Thema. Größtes Beispiel ist Goethes Faust, in dem der Protagonist nicht nur von den „zwei Seelen in meiner Brust“ spricht, sondern in der Konfiguration mit Mephisto auch in zwei antagonistische Bestandteile zerfällt. Goethe psychologisiert durchdringend die religiöse Vorstellung einer Psychomachie, wo ein von Gott gesandter Engel und ein vom Satan abgeordneter Teufel um die menschliche Seele kämpfen. Für Kafka relevant wurde die Pluralität von Persönlichkeitskomponenten bis hin zum innerpsychischen Antagonismus besonders durch Nietzsches Betonung des „Kampfes“, zu dem dieser Antagonismus führt, und zu dem in diesem Kampf durchbrechenden „Willen zur Macht“. In seinem Erstling Beschreibung eines Kampfes transformiert Kafka den innerpsychischen Kampf in eine erzählerische Konstellation, welche einen inneren Prozess als äußeres Geschehen mit
gangs noch im Dienste einer Fantasmagorie überwältigenden, glückhaften Lebens. … Bei Kafka hingegen wird der Tod beschworen als Zurücknahme der verfehlten, schuldigen Existenz. … Wenn man nach geistigen Vorfahren sucht, dann ist es hier Schopenhauer, zu dem Kafka wieder zurückgeht“. 226 Am Beispiel des Doppelgängers hat der Psychoanalytiker Otto Rank, der einige Zeit zur Freud-Schule gehörte, diesen literaturgeschichtlichen Zusammenhang eindrucksvoll dargestellt. Er schrieb sein Buch Der Doppelgänger 1914, einige Jahre nach Kafkas Beschreibung eines Kampfes und anderen frühen Werken. 227 KSA 6, 91,7–9. 228 KSA 5, 27, 16. 229 NL Frühjahr 1888, 14[113], KSA 13, 290, 26.
Nietzsches ‚Wille zur Macht‘ bei Kafka
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verschiedenen, gegeneinander operierenden Akteuren erscheinen lässt. Diesen „Kampf“ inszeniert er in Nietzsches Sinn als eine Geschichte, in der ein Akteur den anderen zu übermächtigen und zu besiegen sucht. Beide sind von einem „Willen zur Macht“ getrieben. Nietzsche imaginiert das „Individuum selbst als Kampf der Theile […]: seine Entwicklung geknüpft an ein Siegen, Vorherrs ch e n einzelner Theile“.230 Damit griff er einen im Fin de siècle weitverbreiteten psychiatrischen Diskurs auf. Doppelgänger-Erzählungen eigneten sich als ideale Figuration der Ich-Dissoziation. Der Erfinder solcher Doppelgänger war Jean Paul, der intensivste und wirkungsreichste Gestalter E. T A. Hoffmann in einer ganzen Reihe seiner Erzählungen. Zu diesen gehören Die Elixiere des Teufels, die für Freuds Psychoanalyse des Narzissmus maßgebende Erzählung Der Sandmann, sodann das nach dem Muster der venezianischen Commedia dell’ arte entworfene Capriccio Prinzessin Brambilla, in dessen Mittelpunkt der „chronische Dualismus“ steht, „jene seltsame Narrheit, in der das eigene Ich sich mit sich selbst entzweit, worüber denn die eigene Persönlichkeit sich nicht mehr festhalten kann“.231 Heine sagte, wer über der Prinzessin Brambilla nicht den Kopf verliere, der habe keinen zu ver lieren. Die Dissoziationsprozesse der Doppelgänger-Figuren entwickeln eine Psychodynamik, die das hinfällig gewordene, im Wortsinn ‚dekadente‘ Ich destabilisieren und im Extremfall bis zur Depersonalisierung führen können. Systematisch inszeniert Kafka in seiner surrealistischen Metaphorologie das Schwanken und Fallen der Figuren und das Verschwimmen der Konturen; er verwendet die Metapher des Flusses, dessen Strömung alles mit sich fortreißt und in dem alles individuell Gestaltete untergeht. Weiterhin bezieht Kafka in sein metaphorisches Repertoire einen unheimlich wie aus der Unterwelt blasenden „Wind“ ein, die „Wolken“, deren Formen sich fortwährend wandeln, er beschwört die „Ferne“ in einem durchaus antiromantischen Sinn als entgrenzende Bedrohung, nicht zuletzt die „Dunkelheit“, die keine distinkte Wahrnehmung mehr erlaubt und teils gespenstische, teils mystisch einer ungreifbaren und tödlichen Innerlichkeit zugehörende Imaginationen erzeugt. Fast sein ganzes metaphorisches und metonymisches Instrumentarium konzentriert Kafka schon in seiner ersten Erzählung Beschreibung eines Kampfes.
230 NL Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[25], KSA 12, 304, 17–19. 231 E. T. A. Hoffmann: Prinzessin Brambilla, in ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden, hg. von Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke, Bd. 3: Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke 1816–1820, hg. von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen, Frankfurt am Main 1985 (= Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 7), S. 894.
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Zugleich überträgt er die Dekomposition des in seine verschiedenen Bestandteile zerfallenden Ichs, das vergeblich um Selbstkonstitution und Selbstbehauptung ringt und schon von der Furie des Verschwindens erfasst ist, in die narrative Struktur: Die erzählte Geschichte zerfällt in Bruchstücke, die der fragmentierten Identität verschiedener Ich-Erzähler entspricht. Sigmund Freud diagnostizierte ungefähr gleichzeitig, im Jahr 1908, in seiner Schrift Der Dichter und das Phantasieren das Charakteristikum des modernen „psychologische[n] Roman[s]“ in der Tendenz, das „Ich durch Selbstbeobachtung in Partial-Ichs zu zerspalten und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelenlebens in mehreren Helden zu personifizieren“.232 Allerdings verwechselt Freud das Ich des Dichters mit dem seiner verschiedenen Figuren und der Instanz des – fiktiven – Erzählers. E. T. A. Hoffmann mit seinen Doppelgängergeschichten war nicht nur das Vorbild der zeitgenössischen surrealistischen Erzählkunst233, die es auf die Psychologie des dissoziierten und von Identitätsauflösung bedrohten Ichs abgesehen hatte. Kafka folgt in der Beschreibung eines Kampfes sowohl konzeptionell wie strukturell sogar dem Vorbild einer einzelnen Erzählung E. T. A. Hoffmanns: der als unheimliches „Abenteuer“ solcher Identitätsauflösung inszenierten Geschichte Die Abenteuer der Sylvester-Nacht. Die neuere Forschung hat herausgefunden, dass die gesamte Konzeption und insbesondere die Komposition der Beschreibung eines Kampfes diesem Muster folgt.234
232 Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren, in: ders.: Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich u. a., Bd. 10: Bildende Kunst und Literatur, Frankfurt am Main 1982 (FischerWissenschaft, Bd. 7310), S. 169–179, darin S. 177. 233 Goth, Maja: Der Surrealismus und Franz Kafka, in: Politzer, Heinz (Hg.): Franz Kafka, 3. Auflage, Darmstadt 1991 (Wege der Forschung, Bd. 322), S. 226–266. 234 Barbara Neymeyr: Konstruktion des Phantastischen. Die Krise der Identität in Kafkas ‚Beschreibung eines Kampfes‘, Heidelberg 2004. Hier wird erstmals eine durchgreifende strukturelle und konzeptionelle Analyse der Erzählung geboten sowie Kafkas entscheidende Quelle – E. T. A. Hoffmanns surrealistische Erzählung Die Abenteuer der Sylvester-Nacht – als literarisches Modell nachgewiesen, ferner der Kontext der Zeit eruiert. Vgl. das Konzentrat von B. N. in Manfred Engel/Bernd Auerochs (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2010, S. 91–102. Vgl. auch die speziellere narratologische Analyse von Sophie von Glinski: Imaginationsprozesse. Verfahren phantastischen Erzählens in Franz Kafkas Frühwerk, Berlin/New York 2004, S. 26–83. Zum zeitgenössischen kulturellen Kontext: Peter Cersowsky: „Mein ganzes Wesen ist auf Literatur gerichtet“. Franz Kafka im Kontext der literarischen Dekadenz, Würzburg 1983. Ders.: Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Untersuchungen zum Strukturwandel des Genres, seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und zur Tradition der „Schwarzen Romantik“, insbesondere bei Gustav Meyrink, Alfred Kubin und Franz Kafka, 2. Auflage, München 1989.
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Die Entstehung der Erzählung Das Urteil hat Kafka in seinem Tagebuch vom 23. September 1912 genau datiert und zugleich als großes Durchbruchserlebnis mit den oft zitierten Worten bezeichnet: „Diese Geschichte ‚Das Urteil‘ habe ich in der Nacht vom 22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben […] Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele“.235 Walter H. Sokel hat in seinem bahnbrechenden Werk: Kafka. Tragik und Ironie236 nachgewiesen, dass die Beschreibung eines Kampfes den Grundriss einer ganzen Reihe späterer Werke enthält. Er hat auch die Struktur-Analogie der Erzählungen Beschreibung eines Kampfes und Das Urteil festgestellt: die Vorstellung eines inneren, aber in die äußere Handlung projizierten Kampfes. Vor allem hat er auf „die Sehnsucht nach dem Verlöschen und Vergehen der Individuation“ und die damit verbundene „Rückkehr zum Strom der All-Einheit“ hingewiesen.237 Diese Vorstellung entspricht der vom frühen Nietzsche in die Geburt der Tragödie übernommenen Funktion, die Schopenhauer dem „principium individuationis“ zuweist und auf die buddhistische Nirwana-Lehre hin perspektiviert. In der Beschreibung eines Kampfes hat Kafka mit manchen noch experimentellen Zügen eine entschieden phantastische Geschichte entworfen, aber schon hier zeigt sich eine genau kalkulierte und jede Einzelheit bestimmende Strategie. Innere, psychische Verhältnisse erscheinen als äußere. Insbesondere werden psychische Vorgänge als körperliche Bewegungen dargestellt. Des Weiteren findet eine Verräumlichung des Inneren statt. Die auf Projektion beruhende, nur scheinbar äußere Wirklichkeit spottet aller für die Außenwelt geltenden Wahrscheinlichkeit. Die Möglichkeitskategorie scheint suspendiert. Deshalb wirkt alles Geschehen, sofern man es als äußere Handlung auffasst und auf reale Verhältnisse bezieht, inkohärent, extrem verfremdet, grotesk. Gerade dadurch aber erfährt der Leser eine hermeneutische Provokation, die ihn in die Untiefen des Unbewussten treibt. Der Text fordert dazu heraus, hinter der äußeren Scheinwirklichkeit der Erzählung, eben weil sie in einer realistischen Lektüre zum bloßen Nonsens geriete, einen Sinn jenseits der äußeren Realität zu suchen, einen Sinn, der das Inkohärente kohärent, das Unwahrscheinliche einleuchtend und das Fremde wieder vertraut macht, ohne doch den Schock der surrealistischen Verfremdung zu negieren. Der Leser kann die Geschichte nur verstehen, wenn er die Handlung als Metonymie innerer Vorgänge und die Figuren-Konstellation
235 Fanz Kafka: Tagebücher in der Fassung der Handschrift, hg. von Hans-Gerd Koch, Bd. 2: 1912–1914, Frankfurt am Main 1994, S. 101. 236 Sokel: Franz Kafka. Tragik und Ironie, S. 46–84. 237 S. 82 f.
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als bildhafte Projektion innerer, unbewusster Konstellationen nimmt. Dennoch erschöpft sich solches Verstehen nicht im psychologischen Rückübersetzen. Erst durch die aggressive Intensität und das Irritationspotential der bildhaften Vorstellungen, die für das expressionistische Erzählen typisch sind,238 kommt das Bedrängende der inneren Problematik zum Vorschein: die des gespaltenen und in seiner Gespaltenheit unaufhebbar ambivalenten Menschen. Kafka macht die gespaltene Persönlichkeit zum schizophrenen Phänomen, indem er sie in zwei Figuren auseinanderlegt: in die des Ich-Erzählers und seines Alter ego in der Gestalt des „Bekannten“. Jede dieser beiden Figuren repräsentiert eine von den beiden einander entgegengesetzten und sich unaufhörlich bekriegenden Valenzen der Persönlichkeit. Der Titel Beschreibung eines Kampfes bezeichnet exakt dieses ambivalente und zugleich antagonistische Verhältnis, das Nietzsches ganz auf Kampf und Krieg ausgerichtetes Denken mit erzählerischer Konsequenz als sich im Unterbewusstsein abspielende Vorgänge inszeniert. Mit einer knappen Formel lässt sich der eine Teil als der Sphäre der Innerlichkeit und des Geistes zugewandt, dafür aber der Realität und dem Leben entfremdet, nicht zuletzt als unglücklich charakterisieren; der andere Teil, der als der „Bekannte“ der Ich-Figur auftritt, dagegen als realitätsbezogen, lebenslustig, erotisch erfolgreich und glücklich. Diese Konstellation erfährt eine groteske Übersteigerung durch die Gegenüberstellung des körperlosen „Beters“, dessen Bezeichnung als „Beter“ schon auf die Sphäre der Innerlichkeit weist, und des „Dicken“ mit seinem Übermaß an Körperlichkeit. In einer ganzen Reihe späterer Erzählungen kehrt diese desintegrierte, fragmentierte, ja in sich antagonistische Persönlichkeit in analogen Konfigurationen wieder. Im Urteil ist der programmatisch entworfene „Kampf“, der von Nietzsches Vorstellung eines sich im Kampf manifestierenden „Willens zur Macht“ unterlegt ist, so weit fortgeschritten, dass der zur Sphäre der Innerlichkeit gehörende Teil der Existenz bereits verdrängt wurde in Gestalt des ins ferne Rußland verschwundenen Freundes, während der dem Leben zugewandte Teil von dem geschäftstüchtigen, vor der Heirat stehenden Georg Bendemann verkörpert wird. In den Fragmenten zur Geschichte des Jägers Gracchus kehrt die Opposition in der Konstellation des heimatlosen Jägers Gracchus und des in die Gesellschaft, wie schon sein Amt signalisiert, voll integrierten „Bürgermeisters“ von Riva
238 Vgl. Walter H. Sokel: Der literarische Expressionismus. Der Expressionismus in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, München 1960 [ursprünglich erschienen als: The Writer in Extremis. Expressionism in Twentieth-Century German Literature, Stanford University Press, 1959]; und Hans-Georg Kempers Kapitel „Gestörte Kommunikation. Franz Kafka: Das Urteil“, in: Vietta, Silvio/Kemper, Hans-Georg: Expressionismus, München 1975 (= UTB, Bd. 362), S. 286–305.
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wieder.239 In der spät, kurz vor Kafkas Tod entstandenen Erzählung Ein Hungerkünstler radikalisiert sich diese Opposition zu einer alle menschlichen Verhältnisse sprengenden Polarisierung in der Vorstellung des sich zu Tode hungernden Künstlers einerseits und andererseits des Panthers, dem „die Freude am Leben“ „mit derart starker Glut aus seinem Rachen“ kam, „daß es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten“. Schon die Beschreibung eines Kampfes macht exemplarisch deutlich, dass die gespaltene Persönlichkeit nicht bloß in antagonistische, sich bekämpfende Teile zerfällt. Der Dissoziation ist auch eine unaufhebbare Assoziation eingeschrieben. Die oppositionellen Wesensteile stehen in einem Verhältnis fortwährender Interdependenz, sie brauchen einander kompensatorisch, weil der eine hat, was dem anderen fehlt. Sie faszinieren sich gegenseitig und können sich nicht voneinander lösen, auch wenn jeder den anderen zu überwältigen oder zu verdrängen sucht. Die Beschreibung eines Kampfes inszeniert mit hoher bildlicher Intensität vom „Willen zur Macht“ bestimmte Situationen solcher Überwältigungs- und Verdrängungsvorgänge sowie deren notwendiges Scheitern. Immer dann, wenn der eine Teil der gespaltenen Existenz den andern gänzlich unterdrückt zu haben scheint, kommt es zu einem dialektischen Umschlag. Kafka hat demnach seine Grundkonzeption einer gespaltenen, ambivalenten Persönlichkeit, für die schon Goethes Faust mit der dramatischen Interaktion von Faust und Mephisto ein klassisches und ebenfalls weitgehend psychologisiertes Vorbild bot240, nicht statisch, sondern im Sinne psychodynamischer Prozessualität entworfen. Die Beschreibung eines Kampfes bringt die Dynamik durch forcierte, surrealistisch verfremdete Bewegungsabläufe zum Ausdruck. Diese Prozessualität macht es überhaupt erst möglich, aus der Grundkonstellation ein lebendiges Geschehen zu entwickeln, führt aber nie zu einem konstruktiven Fortschritt, nie zu einer Lösung. Sie wäre nur denkbar, wenn in der Interaktion der getrennten und doch aufeinander angewiesenen Teile der gespaltenen Existenz eine Vermittlung stattfände. Dass sie unmöglich ist, zeigt in der Beschreibung eines Kampfes nicht nur der fortwährende, wenn auch vergebliche Versuch der beiden Ich-Bestandteile, den jeweils anderen zu überwältigen oder auszumanövrieren, sondern auch das „Gespräch“ zwischen dem Beter und dem Dicken, das lediglich die Fragwürdigkeit und das Destruktive der einseitigen Existenzformen erkennen lässt, aber zu keinem vermittelnden Ausgleich führt. Es handelt sich
239 Eine genaue Analyse bietet Thorsten Valk: Der Jäger Gracchus, in: Müller, Michael (Hg.): Franz Kafka. Romane und Erzählungen, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Stuttgart 2003 (Reclams Universalbibliothek, Nr. 17521, Reihe Interpretationen), S. 333–345. 240 Kafka war nach Ausweis seiner Tagebücher ein großer Goethe-Verehrer und Goethe-Leser.
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um eine nach dem alten Modell der Psychomachie entworfene, aber ohne metaphysische Überbauten auskommende Konfiguration. Sowohl Kafkas Auseinanderlegung des Ichs in verschiedene Bestandteile wie auch deren antagonistisches und zugleich kompensatorisches Verhältnis zueinander entspricht Nietzsches psychologischen Analysen. In der Erzählung Das Urteil machte Kafka das Scheitern der Vermittlung zu einem wesentlichen Thema. Die Forschung hat sich auf die Figuren-Konstellation des berühmten, bis heute umrätselten Texts konzentriert, aber nicht genügend wahrgenommen, dass im Zentrum der Problematik von Beginn an ein Schreibakt steht.241 Dieser Schreibakt, wenn er gelänge, käme dem Glücken der Vermittlung gleich. Georg Bendemann hat, so heißt es schon im zweiten Satz, „gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet“. Das Entschwinden des Jugendfreunds in eine ferne Fremde als Figuration einer sehr weit gehenden Entfremdung resultiert aus einem psychischen Dissoziationsprozess. Denn der von Georg Bendemann verkörperte Ich-Bestandteil hat sich immer mehr mit der bürgerlichen Lebensrealität verbunden, die durch das wiederholt betonte „Geschäft“ und die anvisierte Heirat repräsentiert wird. Eben dadurch hat er sich von seiner anderen Ich-Dimension in der Gestalt des Freundes entfremdet. Nach der gleichen psychodynamischen Gesetzlichkeit, die auch in anderen Erzählungen immer dann zum Umschlag führt, wenn der Dissoziationsprozess auf ein Maximum zusteuert, wird der Impuls zum Schreiben an den Freund durch die bevorstehende Heirat und die sich anbahnende endgültige Einhausung in der bürgerlichen Lebensrealität ausgelöst. Das Schreiben an den fernen, fremd gewordenen Freund ist ein letzter reflexhafter Versuch, die Lebensganzheit durch Reintegration: durch einen Akt der Vermittlung zwischen den dissoziierten Teilen wiederherzustellen. Aber wie immer bei Kafka misslingt der Vermittlungsversuch, weil die schon zum unaufhebbaren Verhaltenszwang gewordene Einseitigkeit des einen Ich-Bestandteils diesen so vermittlungsunfähig gemacht hat, dass er seinen eigenen Vermittlungsversuch scheitern lässt, obwohl er aus dem tieferen Ganzheitsbedürfnis entspringt, das Nietzsche wie schon Schopenhauer als unaufhebbares romantisches Grundverlangen versteht. Der destruktive und letztlich auf Selbstdestruktion hinauslaufende Verhaltenszwang wird in Georg Bendemanns seitenlanger Reflexion über den soeben geschriebenen Brief und generell über sein Briefe-Schreiben an den Freund mani-
241 Aufschlussreiche Hinweise geben Sokel: Franz Kafka. Tragik und Ironie, S. 46–67, sowie Richard T. Gray in seiner eindringlichen Analyse: Das Urteil, in: Müller, Michael (Hg.): Franz Kafka. Romane und Erzählungen, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Stuttgart 2003 (Reclams Universalbibliothek, Nr. 17521, Reihe Interpretationen), S. 11–41.
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fest. Virtuos macht Kafka diese lange briefliche Reflexion zu einem Paradestück des bei avantgardistischen Schriftstellern seiner Zeit beliebten personalen Erzählens in der „erlebten Rede“: zum sprachlichen Medium möglichst unmittelbar wirkender Introspektion. „Was sollte man [!] einem solchen Manne schreiben“, so denkt er über seinen Brief an den Freund nach, „der sich offenbar verrannt hatte, den man [!] bedauern, dem man [!] aber nicht helfen konnte“. Er nennt ihn dann in Gedanken „ein altes Kind“. All diese herabwürdigenden und abdrängenden Suggestionen untergraben a limine den mit dem Brief unternommenen Versuch, die innere Verbindung mit dem Freund wiederherzustellen. Schon die Bezeichnung „Jugendfreund“ signalisiert, dass der verdrängte, ausgegrenzte und damit gleichsam in die Fremde exilierte Ich-Bestandteil in der Jugend noch in eine ursprungshafte Lebensganzheit integriert war, die inzwischen verloren gegangen ist. Wenn Georg Bendemann den Jugendfreund nun gar „ein altes Kind“ nennt, so dementiert er seine Ganzheits- und Ursprungssehnsucht im gleichen Moment, in dem er dem Impuls zur Reintegration des Verlorenen mit dem Akt des Briefschreibens folgt. Damit ist die Vermittlung des Getrennten unmöglich geworden. Vollends zum Ausdruck kommt dies in der abschließenden Reflexion Georg Bendemanns über seinen Brief an den Freund: „Aus diesen Gründen konnte man [!] ihm, wenn man [!] noch überhaupt die briefliche Verbindung aufrecht erhalten wollte, keine eigentlichen Mitteilungen machen […]“. „Keine eigentlichen Mitteilungen“ – so ist die gescheiterte und zum Scheitern verurteilte Vermittlung exakt benannt. Das Schicksal der gespaltenen Existenz ist unaufhebbar. Wie in dem Kurztext Die Sorge des Hausvaters, wo das rätselhaft Beunruhigende, das doch nur dem bürgerlichen Sicherheitsbedürfnis des „Hausvaters“ entspringt, in dem ebenfalls zum „Kind“ depotenzierten Phantom Odradek exterritonalisiert wird, und wie das Ich des Hausvaters seine persönliche Involviertheit zu verdrängen und seine Superiorität zu behaupten sucht, indem es sich hinter ein entpersonalisiertes „man“ zurückzieht, so verfährt auch Georg Bendemann mit seinem obsessiv bemühten „man“.242 Die größten Schwierigkeiten hat Georg Bendemann, dem Freund die „eigentliche Mitteilung“ zu machen: diejenige von seiner bevorstehenden Heirat. Als er es schließlich doch tut, beschränkt er sich auf das Uneigentlichste: auf die Bemerkung, dass er sich mit einem „Mädchen aus einer wohlhabenden Familie“ verlobt habe. Im übrigen aber versichert er seinem Freund wiederholt und geradezu aufdringlich, wie „glücklich“ er sei. Damit will er seine eigene Überlegenheit
242 Hierzu die Interpretation von Günter Saße: Die Sorge des Hausvaters, in: Müller, Michael (Hg.): Franz Kafka. Romane und Erzählungen, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Stuttgart 2003 (Reclams Universalbibliothek, Nr. 17521, Reihe Interpretationen), S. 313–323.
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kundtun, den vom Freund verkörperten Ich-Anteil also unterdrücken und abwerten. Die gleiche psychologische Strategie verfolgt Kafka schon in der Beschreibung eines Kampfes, wo der erotisch und gesellschaftlich erfolgreiche Ich-Anteil durch die ständige Versicherung, wie „glücklich“ er sei, den anderen Ich-Anteil seine Überlegenheit fühlen lässt. Im Urteil handelt es sich um eine scheiternde Vermittlung, weil der Vermittlungsakt selbst schon, der Brief an den Freund, zum Gegenteil von Vermittlung gerät. Er legt eine noch größere Distanz zwischen die dissoziierten Teile des Ichs. Für das Verständnis der Erzählung ist es entscheidend, die Figur des Vaters nicht als eine bloß familiäre Instanz zu sehen, die in ihrem Verhalten auf eine biographisch-realistisch definierbare Vater-Sohn-Beziehung zu reduzieren wäre. Zwar ist die Versuchung groß, Kafkas Brief an den Vater zu analogisieren und damit die Geschichte lediglich biographisch zu lesen, aber dies reicht aus einem doppelten Grunde nicht aus: erstens, weil Kafkas Vater gerade nicht wie die Vaterfigur im Urteil den Part der Innerlichkeit und der Normabweichung, sondern den Part der bürgerlichen Normalität und Lebenstüchtigkeit spielte; zweitens und grundsätzlich, weil eine derart realistische Lesart der insgesamt surrealistischen Geschichte inadäquat wäre. Das Biographische243 wird lediglich zum Motiv im erzählerischen Funktionszusammenhang. Die Figur des Vaters entspringt als psychische Instanz erst der Aporie des Schreibens: dem Scheitern der Mitteilung. Vorher gibt es sie gar nicht, und in einem realistischen Horizont ist auch überhaupt nicht einzu sehen, warum der Sohn wegen des Briefes an den Freund gerade den Vater aufsuchen sollte. Der Sohn geht erst zum Vater, nachdem er den Brief geschrieben hat, der nichts als eine gescheiterte Vermittlung ist, und er geht mit diesem Brief zum Vater, in dessen Zimmer er „schon seit Monaten nicht gewesen“ ist. Daraus geht hervor, dass gerade dem Brief und dem Akt des Schreibens eine Schlüsselfunktion zukommt. Er wird zum Anlass, einen seit langem nicht mehr aufgesuchten InnenRaum zu betreten. Dass Georg mit dem Vater, sofern man diesen als reale Figur auffasst und eine realistische Lektüre verfolgt, in einer völlig unnachvollziehbaren obsessiven Weise ausschließlich über seinen Freund und den an ihn geschriebenen Brief spricht, macht den Vater zu einer letzten und endgültigen Instanz der Rechenschaft, wie sie Kafka in seinen Gerichtsphantasien (besonders im ‚Prozeß‘) immer wieder entwirft – einer Rechenschaft, der sich Georg Bendemann in seinem eigenen tiefsten Innern ausgesetzt sieht und der er sich nicht entziehen kann.
243 Zu den biographischen Elementen vgl. Hartmut Binder: Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, München 1975; speziell zum Urteil: ders.: Kafkas Schaffensprozess, mit besonderer Berücksichtigung des ‚Urteils‘. Eine Analyse seiner Aussagen über das Schreiben mit Hilfe der Handschriften und auf Grund psychologischer Theoreme, in: Euphorion 70 (1976), S. 129–174.
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Wie in anderen Erzählungen deutet die Dunkelheit, die im Zimmer des Vaters herrscht, auf weltabgewandte Innerlichkeit. Als Georg Bendemann aus der Taghelle des Bewusstseins und vordergründiger Rationalisierungen in diesen Innenraum tritt, findet er ihn „unerträglich dunkel“, worauf der Vater antwortet: „Ja, dunkel ist er schon“. Und wie auch sonst, etwa in den Gracchus-Fragmenten, kommt es zur entscheidenden Auseinandersetzung nicht nur in einem „dunklen“, sondern auch in einem geschlossenen Raum. Georg Bendemann konstatiert, die Fenster seien „geschlossen“. Die Sphäre, in welcher die Auseinandersetzung auszutragen ist, erhält demnach etwas Hermetisches. Aber selbst in dieser Situation äußerster Herausforderung ist Georg Bendemann zur Mitteilung nicht fähig, damit aber auch nicht zur Vermittlung der Wesensanteile der eigenen gespaltenen Existenz. Als der Vater ihm die entscheidende Frage stellt: „Hast du wirklich diesen Freund in Petersburg?“ antwortet er ausweichend: „Lassen wir meine Freunde sein. Tausend Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater“. Kafka inszeniert hier einen auch sonst für seine Werke charakteristischen Prozess psychischer Verschiebung, einen Stationen- und Instanzenweg, auf dem der Prot agonist zu einer entweder unerreichbaren oder tödlichen Letztinstanz unterwegs ist. Indem Georg Bendemann die Herausforderung seines eigenen Innern, die ihn in der Gestalt seines Freundes beunruhigt, zu verdrängen sucht, verschiebt sich diese Herausforderung auf den Vater als nicht mehr zu eskamotierende Letzt instanz. Dass der Freund sich gerade in „Petersburg“ befindet und alsbald mit dem revolutionären Aufstand von 1905 und dessen blutiger Niederschlagung durch das Zaren-Regime assoziiert wird, entspricht dem surrealistisch konfigurierten innerpsychischen Vorgang: der auf Destabilisierung hinauslaufenden Subversion der bestehenden Ordnung. Das Ganze wie das Einzelne ist aus den Fugen geraten. Kafka hat damit aus seiner Naherfahrung in der sich bereits auflösenden Habsburger Monarchie die vor dem Ersten Weltkrieg weitverbreitete Ahnung einer heraufziehenden Katastrophe aufgenommen. Der nach Rußland verschwundene Freund, der noch einmal zu einem kurzen Besuch zurückkehrte, so erinnert sich Georg, „erzählte damals unglaubliche Geschichten von der russischen Revolution. Wie er z. B. auf einer Geschäftsreise in Kiew bei einem Tumult einen Geistlichen auf einem Balkon gesehen hatte, der sich ein breites Blutkreuz in die flache Hand schnitt, diese Hand erhob und die Menge anrief“.244 Diese propheti-
244 Heinz Politzer: Franz Kafka, der Künstler, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1978 (SuhrkampTaschenbuch, Bd. 433), S. 95, weist auf ein konkretes historisches Geschehen: auf die Oktoberrevolution des Jahres 1905, in welcher der Geistliche Georgi Gapon einen Arbeiteraufstand in Petersburg anführte. Dieser wurde von zaristischen Soldaten blutig niedergeschlagen.
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sche Blutzeugenschaft signalisiert die herannahende große Krise im Ganzen. Ihr entspricht exemplarisch das individuelle Schicksal Georg Bendemanns. In einem letzten Abwehrreflex versucht Georg Bendemann den Vater zuzudecken. Dieser mit expressiver Bildhaftigkeit gestaltete Akt des Zudeckens ist ein zum Äußersten getriebener Verdrängungsversuch. Wie die Verdrängungs- und Überwältigungsversuche in der Beschreibung eines Kampfes führt er zum dialektischen Umschlag. Der äußerste Punkt wird zum Wendepunkt: Sofort richtet sich der Vater mit überraschender Energie auf und identifiziert sich geradezu mit dem nach Petersburg entschwundenen Freund. „Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen“, sagt er und bezeichnet sich sogar als seinen „Vertreter hier am Ort“. Zeichenhaft wird damit deutlich, dass der Versuch, einen existentiell notwendigen und zugehörigen Ich-Anteil zu verdrängen, eine Bumerang-Wirkung haben muss. Georgs Versuch, zuerst den Freund und dann den Vater zu verdrängen, schlägt in eine ultimative Bedrängnis seiner eigenen einseitig-scheinhaften Identitätsbildung um. Diese Bedrängnis erhält ihren Ausdruck in der plötzlich furchterregend übermächtigen Erscheinung des Vaters. „Gregor sah zum Schreckbild seines Vaters auf“, heißt es. Unmittelbar darauf folgt der Satz: „Der Petersburger Freund, den der Vater plötzlich so gut kannte, ergriff ihn, wie noch nie“. Freuds Theorie entsprechend hat damit der Verdrängungsversuch die Wiederkehr des Verdrängten in bedrohlicher Form bewirkt. An diesem Punkt des sich krisenhaft zuspitzenden Geschehens stellt sich die Frage, warum nun, bei der Wiederkehr des Verdrängten, nicht eine Reintegration der dissoziierten Ich-Anteile möglich ist. Erstaunlicherweise geht die bisher als Schreibakt chiffrierte, aber bei Georg von vornherein zum Scheitern verurteilte Vermittlung auf den Vater über, und dies mit einer auffallenden Intensivierung der Bildlichkeit des Schreibens. Der Vater sagt zu Georg über den Petersburger Freund: „Er weiß doch alles, dummer Junge, er weiß doch alles! Ich schrieb [!] ihm doch, weil du vergessen hast, mir das Schreibzeug [!] wegzunehmen. Darum kommt er schon seit Jahren nicht, er weiß ja alles hundertmal besser als du selbst, deine Briefe zerknüllt er ungelesen in der linken Hand, während er in der Rechten meine Briefe sich zum Lesen vorhält!“ Und dann folgen die Sätze: „Seinen Arm schwang er vor Begeisterung über dem Kopf. ‚Er weiß alles tausendmal besser!‘ rief er. – ‚Zehntausendmal!‘ sagte Georg, um den Vater zu verlachen, aber noch in seinem Munde bekam das Wort einen todernsten Klang“. Kurz darauf folgt das Todesurteil. Während die Briefe Georgs, so lässt sich aus den Aussagen des Vaters schließen, vom Freund „zerknüllt“ wurden, weil sie nur Uneigentliches, nur eine Pseudo-Mitteilung enthielten, ist die Mitteilung des Vaters an den Freund gelungen. Dies kann keine Vermittlung auf der Ebene der schon dissoziierten Ich-Anteile, sondern nur eine in der präexistentiellen Schicht und des vorgängigen ganzheitlichen Lebenszusammenhangs angesiedelte Vermittlung sein. Das
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Präexistentiell-Vorgängige erhält in der Vater-Figur seinen Ausdruck, lässt sich aber seinerseits nicht mit der Ebene der Existenz vermitteln. In der Gestalt des Vaters überwältigt – um noch einmal mit der Terminologie Hofmannsthals zu sprechen245 ‒ die Präexistenz die Existenz des Sohnes. Psychologisch dechiffriert heißt dies, dass der Sohn zwar dunkel (das Zimmer ist „dunkel“!), intuitiv spürt, dass seine Existenz nur eine bruchstückhafte ist und dass es eine tiefere Ganzheit des Lebens gibt. Deshalb überkommt ihn am Anfang der Impuls, dem Freund zu schreiben und deshalb fühlt er sich von diesem als dem ihm zur Ganzheit fehlenden Wesensanteil geradezu „ergriffen“. Am Ende aber muss er erkennen, dass keine Vermittlung möglich ist, welche die disso ziierte Existenz im Sinne des intuitiv als Imperativ des Daseins wahrgenommenen tieferen Lebenszusammenhangs wieder zur Ganzheit formieren könnte. Deshalb vermag er nicht mehr zu leben. Ausdruck dessen ist das Todesurteil des Vaters. In der Beschreibung eines Kampfes steht über einem Kapitel, welches die aporetische Endgültigkeit der dissoziierten Existenz darstellt, die Überschrift: „Beweis dessen, daß es unmöglich ist zu leben“.246 Diese Unmöglichkeit zu leben nimmt in der Erzählung Das Urteil die Form des Todesurteils an. Der Vater verurteilt den Sohn bezeichnenderweise nicht etwa zu irgendeiner Hinrichtung durch eine fremde Instanz. Indem er ihm kundtut: „Ich verurteile dich zum Tode des Ertrinkens“, veranlasst er ihn zur Selbstaufgabe. Auch dies weist auf die vom Sohn selbst gezogene Konsequenz aus einer als verfehlt empfundenen Existenz. Zeichenhaft ist auch der Tod durch Ertrinken und dass sich Georg Bendemann in den Fluss fallen lässt – in den Fluss, auf den er schon ganz am Anfang der Erzählung blickt, als er den Brief schrieb und seine Gedanken zu dem fernen Freund schweiften. In der Beschreibung eines Kampfes entfaltet sich noch eine geradezu aufdringliche Landschaftsmetaphorik. Die Landschaft hat dort die Funktion der Entgrenzung, die das Ich destabilisiert (so schon im Motto) und auflöst. Den Wolken und dem Fluss als dem schlechthin Unfesten kommt im Lauf der Erzählung besondere Bedeutung zu. Wolken und Fluss bilden immer dann eine magische Szenerie, wenn das um Selbststabilisierung und feste Identität ringende Ich ins Gleiten und buchstäblich ins Schwimmen gerät. Ihre größte Intensität erreicht diese szenische Projektion des Innenlebens unmittelbar vor der Potenzierung der Hauptgeschichte in der Binnengeschichte des „Dicken“ und dann in dieser Binnengeschichte selbst. Der Dicke ist Inbegriff aufgeblähter
245 Er verwendet sie in ‚Ad me ipsum‘. 246 Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hg. von Malcolm Pasley, Frankfurt am Main 1993 (= ders.: Schriften. Tagebücher. Briefe, hg. von Gerhard Neumann/Jürgen Born, Bd. nach I/1), S. 72.
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und schon durch Deformation bedrohter Individualität. Trotz seiner Bemühung um Selbstbehauptung durch Abgrenzung sieht er sich zuerst der entgrenzenden Weite der Landschaft ausgesetzt und geht dann in der Strömung des Flusses unter. Dieses im Erstlingswerk noch differenziert ausgeführte Zeichensystem reduziert sich in der Erzählung Das Urteil auf die Chiffre des Flusses und des Tods durch Ertrinken. Dass das Todesurteil des Vaters nur Figuration des Triebs zur Aufgabe der verengten, einseitigen und gespaltenen Existenz in der alles individuelle Dasein aufhebenden Strömung ist, geht aus dem Satz hervor: „Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es [!] ihn“. Die so verstandene Gesamtkonstellation erlaubt es, Kafkas Text aus der verkürzenden autobiographischen Lektüre, aus der reduktiven psychoanalytischen Schematisierung der Vater-Sohn-Problematik (Politzer u. a.) und aus der Verengung auf die Fragen von Recht, Macht und Schuld zu lösen, auch wenn all diese Aspekte von Bedeutung sind und Kafka in seinem Tagebuch notierte: „Gedanken an Freud natürlich“.247 Sie erlaubt es zugleich, den Text historisch zu kontextualisieren und damit die Betrachtung Kafkas als eines ahistorischen, einmaligen Sonderfalls zu überwinden. Das gilt ja schon für den Ausgangspunkt des Geschehens: für die Ich-Dissoziation und die von Nietzsche im Anschluss an die zeitgenössische Psychologie vollzogene und ideologiekritisch akzentuierte Subversion des vermeintlich konsistenten Subjekts. Wie überhaupt die Fragmentierung des einheitlich konsistenten Ich ist die Ich-Dissoziation von der Jahrhundertwende bis zum Expressionismus und weit in die Zwanziger Jahre hinein von vorrangigem Interesse. Lange wirkte die von Anfang an sensationell erfolgreiche Erzählung des schottischen Dichters Robert Louis Stevenson fort: The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Diese erstmals 1886 erschienene und sofort ins Deutsche übersetzte Geschichte einer doppelgängerischen Ich-Spaltung erfuhr ihre Hochkonjunktur durch nicht weniger als vier Verfilmungen bezeichnenderweise in den Jahren 1910 bis 1914248 und dann noch einmal durch vier Filme in den Zwanziger Jahren.249 1906, ungefähr gleichzeitig mit der Entstehung der ganz vom Thema der Ich-Dissoziation bestimmten Beschreibung eines Kampfes erschien das einflussreiche, auch für die 1907 beginnende Konzeption von Hofmannsthals Andreas-Roman wichtige Buch des amerikanischen Psychopathologie-Professors Morton Prince: The Dissociation of a Personality. A Biographical Study in Abnor-
247 Tagebuch vom 23. 09. 1912. 248 Dr. Jekyll og Mr. Hyde, Dänemark 1910 (Regie: A. Blom). – Dr. Jekyll and Mr. Hyde, England 1913. – Dass. USA 1913. – Ein seltsamer Fall, Deutschland 1914 (Regie: M. Mack). 249 Der Januskopf, Deutschland 1920 (Regie: F. W. Murnau). – Dr. Jekyll and Mr. Hyde, USA 1920 (Regie: J. S. Robertson). – Dr. Pyckle and Mr. Hyde, USA 1925. – Dr. Jekyll and Mr. Hyde, USA 1931.
Nietzsches ‚Wille zur Macht‘ bei Kafka
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mal Psychology (New York 1906).250 Von den Malern entwickelte vor allem Picasso eine Vorliebe für die Gestaltung des gespaltenen Menschen, wie seine Bilder mit den in zwei Hälften gespaltenen Gesichtern in aggressiver Deutlichkeit zeigen. Die Literatur ist voll von Imaginationen des fragmentierten und insbesondere des dissoziierten Ichs: von Hofmannsthal über den Expressionismus, dem die IchDissoziation zu einem Grundthema wird251, bis in mehrere Romane der Zwanziger Jahre. Musil traktierte das Thema in der Moosbrugger-Geschichte des Mannes ohne Eigenschaften, Broch griff es in seinem Roman Die Schlafwandler auf. Kafka steht mit seinen gespaltenen Figuren in dieser Zeitgenossenschaft als einer ihrer größten Exponenten. Und dass die eine Komponente seiner dissoziierten Existenzen den mystischen Weg nach Innen nimmt, wodurch die andere überhaupt erst die Valenz des Äußerlichen erhält, entspricht der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden neumystischen Faszination. Sie hatte seit Maeterlincks „gebatikter Metaphysik“ (Musil) eine Konjunktur, die in Deutschland alsbald durch die irrationalistisch ideologisierte Renaissance Meister Eckarts befördert wurde. Martin Buber trieb sie mit seinen Ekstatischen Konfessionen (1903 u. ö.) voran und verband diese mit seiner jüdischen Religionsphilosophie. Die Schriften Walter Rathenaus, insbesondere sein Werk Zur Mechanik des Geistes, stehen in dieser neumystischen Strömung. Sie erreichte einen neuen Höhepunkt in den Zwanziger Jahren, als die vielbändige Mystiker-Sammlung Der Dom erschien. Kafkas Gestaltung der Ich-Dissoziation sowohl in der Beschreibung eines Kampfes wie im Urteil lässt darüberhinaus erkennen, dass sie in einem dialektischen Zusammenhang mit der Lebensreform-Bewegung und der von Nietzsche propagierten und seit der Jahrhundertwende zur Mode avancierenden Lebensphilosophie steht. Denn die Lebensphilosophie verband sich nicht nur mit einem von der Décadence-Obsession des Fin de siècle bestimmten Kult des ungebrochenen, starken, nicht-dekadenten Lebens, und sie entwarf nicht nur die Utopie eines vorrationalen, ursprungshaften Lebens, das allen Verengungen des unter der Herrschaft der Ratio entfremdeten Daseins überlegen sein sollte. Zwar spielt in Kafkas Texte auch dies mit herein – in der Beschreibung eines Kampfes trägt das Gesicht des Dicken, bevor er in der Strömung des Flusses untergeht, den „einfäl-
250 Zur Bedeutung für Hofmannsthal vgl. Richard Alewyn: Andreas und die ‚wunderbare Freundin‘. Zur Fortsetzung von Hofmannsthals Roman-Fragment und ihrer psychiatrischen Quelle, in: Euphorion 49 (1955), S. 446–482 [wiederabgedruckt in: ders.: Über Hugo von Hofmannsthal, 4. Auflage, Göttingen 1967, S. 131–167, hier S. 135–139]. 251 Hierzu: Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper: Expressionismus, München 1975 (= UTB, Bd. 362), S. 171–174: ‚Darstellung der Ich-Dissoziation bei Benn und van Hoddis. Totalisierung der Vernunftkritik und die Sehnsucht nach dem Irrationalen‘.
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tigen Ausdruck eines Menschen, der nachdenkt“.252 Noch wichtiger scheint aber das lebensphilosophische Ganzheitsdenken zu sein. Sowohl in der Beschreibung eines Kampfes wie im Urteil ist das Ertrinken der Individuen in der Strömung des Flusses ein Untergang in der großen Lebensströmung: eine aus innerer Notwendigkeit geschehende Selbstaufgabe der individuellen, fragmentierten Existenz im Ganzen. Erst aus der Fixierung auf eine solche präexistentielle Lebensganzheit erhält die Vorstellung der fragmentierten individuellen Existenz ihre Virulenz. Sie steigert sich bis zum tödlichen Zwang zur Selbstaufgabe als dem einzigen Weg zurück zum Ganzen. Das Ganze des Lebenszusammenhangs, so die Leitvorstellung, wird erst durch Auslöschung alles Individuellen hergestellt. Schopenhauer hatte daher die Aufhebung des „principium individuationis“ zu einem pessimistisch grundierten Leitmotiv seiner Philosophie gemacht. Nietzsche folgte ihm darin in der Geburt der Tragödie. Für Kafka ist dieses Ganze des Lebenszusammenhangs, ganz nach Schopenhauer, nur durch Negation des individuellen Daseins zu erreichen. Schopenhauer seinerseits war mit dieser Vorstellung durch die buddhistische Nirwana-Lehre, den vorbuddhistischen altindischen Vedanta und den Spruch des Anaximander vertraut, demzufolge das Heraustreten der individuellen Qualitäten aus dem ursprünglichen Ganzen ein schuldhaftes Geschehen ist, das abgebüßt werden muss. Die vieldiskutierte Frage der „Schuld“ im Urteil rückt damit in einen Horizont jenseits des Persönlichen und auch jenseits der persönlichen Verantwortung. „Schuld“ ist letztlich das Schicksal der Individuation. Nichts allerdings lag Kafka ferner als die vitalistisch-„dionysische“ Lebensberauschung, mit der Nietzsche auf das Epigonensyndrom des 19. Jahrhunderts und die Décadence-Obsession reagierte – und sich selbst damit euphorisierte. Dementsprechend ist die im weit fortgeschrittenen Säkularisierungsprozess des 19. Jahrhunderts auffallend oft beschworene „Erlösung“ als Erlösung vom individuellen Dasein bei Schopenhauer und Nietzsche gegensätzlich kodiert.
252 Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, S. 79.
Musils Satire auf Nietzscheanismus und Wagnerismus im Mann ohne Eigenschaften
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22.2 Musils Satire auf Nietzscheanismus und Wagnerismus im Mann ohne Eigenschaften Seine Kritik des vom ‚Willen zur Macht‘ und von der Genie-Ideologie bestimmten Voluntarismus.
Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften ist eine großangelegte und aporetisch endende Diagnose der sich in der untergehenden Donaumonarchie, in „Kakanien“, paradigmatisch abzeichnenden allgemeineren Zivilisationskrise. Sie zeugt zugleich von einer tief zwiespältigen Nietzsche-Rezeption. Der Protagonist erfährt den Rückstoß einer Welt der „Eigenschaften“, in der alles schon fixiert und konventionalisiert ist. Er entschließt sich deshalb, „Urlaub vom Leben“ zu nehmen, um „die fertigen Einteilungen und Formen des Lebens, … dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle“ hinter sich zu lassen.253 „Eigenschaften“ aller Art engen das Dasein in bestehende Schablonen ein und rauben ihm die schöpferische Freiheit. An die Stelle von scheinhaft und hinfällig gewordenen Wirklichkeiten, bis hin zu den sprachlichen, in Gefühlen und Denkformen konventionalisierten „Eigenschaften“ soll die Fülle schöpferischer Möglichkeiten treten. Das heißt aber auch, dass an die Stelle der überlieferten Moral – hier adaptiert er Nietzsches zentrales Thema, die Moralkritik – eine neue Moral tritt, die den Menschen vor Entfremdung bewahren und ihm seine Authentizität sichern soll. Mindestens hält sie ihn für ursprüngliche Erfahrungen offen und sucht seine schöpferischen Energien freizusetzen. Was Ulrich deshalb seine „Genie-Moral“ nennt, ist die innere Loslösung von allem durch Gewohnheit Fixierten, eine Loslösung, die Nietzsche im Anschluss an die zeitgenössische Freidenker-Bewegung zum Kennzeichen seines ‚Freigeists‘ und der von ihm bis zum Immoralismus radikalisierten Freigeisterei macht.254 Entsprechend tritt Ulrich, der „Mann ohne Eigenschaften“ auf. Er entzieht sich allen Festlegungen: den beruflichen, indem er „Urlaub vom Leben“ nimmt, den familiären, indem er ein Junggesellen-Dasein mit anarchischem Liebesleben führt, den politischen, indem er sich zu keiner Partei und keiner Richtung schlägt, den ideellen, indem er skeptische Distanz zu allen Systemen und Ideologien bewahrt. Er ist „nichts“, um alles sein zu können. Als „potentieller Mensch“255, der ver-
253 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften = ders.: Gesammelte Werke, hg. von Adolf Frisé, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 129 (= MoE). 254 Vgl. Morgenröthe 20, KSA 3, 32 f. 255 MoE, S. 251.
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mutet, „daß wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche“256, verachtet er die Wirklichkeiten und lebt bewusst den Möglichkeiten: dem, was noch nicht ist, aber jederzeit neu geschaffen werden könnte. Obwohl sich im Potentialis auch eine Potenz-Phantasie und damit ein verkappter ‚Wille zur Macht‘ ausdrückt, verkörpert der „Mann ohne Eigenschaften“ den Typus der ungefähr gleichzeitig von Karl Mannheim charakterisierten „frei schwebenden Intelligenz“. Doch geht er auf doppelte Weise auch darüber hinaus, da er einem leidenschaftlichen „Utopismus“ huldigt und eine bis in eine säkularisierte Mystik reichende Innerlichkeit kultiviert, die in der Erfahrung eines „anderen Zustands“ ihre höchste Intensität erhält. Der Utopismus als freigesetztes Möglichkeitsdenken ist nicht messianisch gefärbt257, sondern vom Verlangen nach rationaler Kontrolle bestimmt, das
256 MoE, S. 19. 257 Hierzu die Analyse von Klaus Schreiner: „Wann kommt der Retter Deutschlands?“ Formen und Funktionen von politischem Messianismus in der Weimarer Republik, in: Saeculum 49 (1998), S. 107–160. Nach dem Ersten Weltkrieg stellte Max Scheler (der schon 1928 starb) eine „beispiellose Sehnsucht nach Führerschaft“ fest, die sich auch in den zahlreichen neuen ‚Kreisen‘, ‚Schulen‘, Sekten und sonstigen Gruppierungen „für alle Arten von Lebensinteressen“ ausprägte, „jede mit ihrem besonderen ‚Heiland‘, ‚Propheten‘, ‚Weltverbesserer‘ in der Mitte, jede mit hohen Ansprüchen aller Art, die Welt zu bessern und zu bekehren“ – als Surrogat für die verlorenen „bisherigen geschichtlichen Führerschaften“ (Max Scheler: Vorbilder und Führer, in: ders.: Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre, hg. von Maria Scheler, Berlin 1933). „Die größte Frage der politischen Gegenwart“, so Scheler, „ist: entweder Umformung des Parteiwesens oder Weg der Diktatur und der Restauration“ (S. 220). Vor allem in der Zeit zwischen 1919 und 1933 erlangten lebensreformerische Wanderprediger und Propheten Bedeutung, die sich als ‚Erlöser‘ gerierten und zur Projektionsfläche für die Heilserwartungen einer von Existenzängsten geplagten, an Sinnverlust, Orientierungsmangel und kollektiver Verunsicherung leidenden Generation wurden. Hierzu vor allem Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983. Vgl. Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘, Heidelberg 2005, S. 177; dort in Anm. 339 der Hinweis auf die literarischen Verarbeitungen des historischen Phänomens in Gerhart Hauptmanns Der Apostel, Rilkes Der Apostel und Thomas Manns Beim Propheten. – Klaus Schreiner weist S. 158 f. darauf hin, dass die Begeisterung für messianische Führergestalten schon im 19. Jahrhundert und am Anfang des 20. Jahrhunderts kein Spezifikum der Deutschen, sondern eine europäische Erscheinung war. In dieser Strömung steht Nietzsche mit seinem Preis der „Führer“ und der „cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen“ (KSA 5, 136, 21). Schon in dem Vortrag V der nachgelassenen frühen Basler Reden Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten ruft er aus: „Denn ich wiederhole es, meine Freunde! – alle Bildung fängt mit dem Gegentheile alles dessen an, was man jetzt als akademische Freiheit preist, mit dem Gehorsam, mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit. Und wie die großen Führer der Geführten bedürfen, so bedürfen die zu Führenden der Führer“ (KSA 1, 750, 18–23). Vgl. auch das 9. Kapitel ‚Der Ruf nach dem Führer‘ in dem schon genannten Werk von Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republlik, S. 268–280.
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„Genauigkeit und Seele“ vereinen soll. Es soll nicht deduktiv von schwärmerischen Idealen abgeleitet werden, sondern sich einer experimentellen „Utopie der induktiven Gesinnung“ verpflichten. Mit ihr verbindet Musil das für seinen Roman inhaltlich und strukturell zentrale Unternehmen des „Essayismus“. Sein Protagonist orientiert sich hierfür an Nietzsche, denn dieser hatte in seiner „mittleren“, aufklärerischen Phase, insbesondere in der Morgenröthe, ein aus horizontloser Offenheit kommendes experimentelles, als „Versuch“ angelegtes „Abenteuer“ propagiert: eine experimentelle Haltung, die nicht feste Ziele oder philosophische Systembauten anvisiert, sondern wagemutig sogar die Aporie und das Scheitern riskiert. Dem oft zitierten letzten Aphorismus der Morgen röthe: „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes“ entspricht diese Einstellung von Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘, der nicht vorhandene Realitäten erstrebt, sondern nach unbekannten Möglichkeiten sucht – oft genug, um sie wieder zu verwerfen. Seine Geschichte ist auf Widerruf geschrieben, so wie Ulrich auf Widerruf lebt. Als „essayistisches“, d. h. nie abgeschlossenes und prinzipiell nie abschließbares Gedankenexperiment erscheint das Unternehmen, folgt man Musils Perspektiven, als ein „genialer“ Roman. Ausschlaggebend ist für Musil die eigene historische Erfahrung: die im Krieg gipfelnde Zivilisationskrise, in der sich alle „Wirklichkeit“ als scheinhaft, brüchig und suspekt erwiesen hat. Sie findet ihren anthropologischen Ausdruck in der Identitätsauflösung eines Mannes ohne Eigenschaften. Musil radikalisiert sie bis zu seinem „Theorem der Gestaltlosigkeit“ und der daraus resultierenden beliebigen Verformbarkeit, ja Funktionalisierbarkeit des Menschen. Trotz dieser skeptisch-pessimistischen Perspektive teilt er mit vielen Zeitgenossen die Stimmung eines neuen Anfangs, der sich, nach vorausgegangener apokalyptischer „Menschheitsdämmerung“, bis zur Vision eines „neuen Menschen“ steigert. Nietzsche hatte im Zarathustra den Übermenschen als denjenigen bestimmt, der sich permanent selbst übersteigt. Nicht ein irgendwann erreichter oder als erreichbar vorzustellender Typus ist für ihn der Übermensch, vielmehr eine unendliche Progression, in der jeder Zustand sofort wieder aufgehoben wird zugunsten eines noch ferneren und vorgeblich höheren. Über-Mensch heißt immer schon Über-Gang. Daraus ergibt sich ein Dynamismus und ein in den „Willen zur Macht“ einmündender Voluntarismus, von dem sich Musil deutlich distanziert. Zwar kennt die „Genie-Moral“ des Mannes ohne Eigenschaften ebenfalls nur Hypothesen, Möglichkeiten, Vorläufigkeiten, aber nicht Nietzsches hybride Potenzierung zu immer höheren Formen des Menschseins. Ulrichs schöpferische Moral gilt als eine experimentelle und essayistische nicht dem lebensberauschten Überholen ins Zukünftige hinein. Schon gar nicht ist sie vom Vitalismus und von den biologistischen Züchtungsphantasien bestimmt, in die Nietzsche seit dem Zarathustra abglitt. Das pseudoprophetische Pathos und der dekretierende,
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befehlshaberische Ton samt der von diesem transportierten Gewaltideologie war Musil zuwider. Zwar ist auch der Zarathustra immer wieder von den bei Nietzsche generell symptomatischen Selbstaufhebungsfiguren unterhöhlt, aber gerade deshalb überspielt er sie umso mehr durch einen autosuggestiven Voluntarismus, der so viele Zeitgenossen Musils beeindruckte und einen Grundzug des seit der Jahrhundertwende florierenden Nietzscheanismus ausmachte. Mit ihm setzte sich Musil satirisch und ideologiekritisch auseinander. Diese Auseinandersetzung steht im Zentrum der Clarisse-Handlung. Sie gehört zu den Keimzellen des Romans und durchzieht in episodischer Reihung das ganze Werk, das viel mehr Satire und psychologisch vertiefte Kulturkritik ist als die lange Zeit einseitige Konzentration der Forschung auf den mystischen „anderen Zustand“ wahrnahm. Clarisse repräsentiert in einer bis zum Hysterischen gesteigerten Intensität den Voluntarismus, den Musil bei all seinen Nietzsche-Anleihen nicht übernimmt. Wohl weil er sich seiner grundsätzlichen Nähe zur Gedankenwelt Nietzsches bewusst war, wollte er damit markieren, was ihn von Nietzsche trennt. Noch mehr aber ging es ihm darum, eine sehr entschieden ausgeprägte Form der Nietzsche-Adaptation: den vom „Willen“ getriebenen blinden Aktivismus und die „Aktion“ ad absurdum zu führen und zugleich ihre desaströsen Folgen zu analysieren: „Sie hielt Genie für eine Frage des Willens“, heißt es von Clarisse.258 Ihr ganzes Dasein ist auf das Genie ausgerichtet. Prinzipiell gleicht sie darin Ulrich mit seiner Genie-Moral, wie ja alle Gestalten des Romans nur Varianten der Hauptgestalt sind. Aber während Ulrichs Genie-Moral von seinem Möglichkeitsdenken bestimmt ist und deshalb ohne konkrete Fixierungen bleibt, in einer souveränen, experimentell eingestellten Gelassenheit, stürzt sich Clarisse mit kurzschlüssig-aktivistischer Energie auf die jeweils nächstbeste Wirklichkeit, die ihr unter die Kategorie des Genialen zu fallen scheint. Daraus resultieren nur Enttäuschungen. Exemplarisch zeigt das ihre Ehe. „Sie hatte Walter seit ihrem fünfzehnten Jahre für ein Genie gehalten, weil sie stets die Absicht gehabt hatte, nur ein Genie zu heiraten“.259 Walter aber ist lediglich ein begabter Dilettant, der sein Unvermögen durch die Kehrseite des Geniekults, durch Klagen über Dekadenz und Entartung260 kompensiert und außerdem Wagners Musik als Droge zur Betäubung der eigenen desolat-unschöpferischen Existenz benutzt. In dem Paar Clarisse ‒ Walter hat Musil die für das deutsche Geistesleben seit der Jahrhundertwende zentrale Nietzsche-Wagner-Konstellation als ein kulturpsychologisches Syndrom dargestellt.
258 MoE, S. 53. 259 MoE, S. 53. 260 MoE, S. 52.
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Dass sich Clarisse, wie immer wieder hervorgehoben wird, schon mit fünfzehn Jahren endgültig auf das „Genie“ festgelegt hat, mit „substanzlos flammendem Willen“261, zeugt von backfischhafter Unreife. Es geht dabei überhaupt um die Unreife einer derartigen Geisteshaltung, wie sie den sich auf Nietzsche berufenden, in Jugendbewegung und Expressionismus einmündenden leervoluntaristischen und aktivistischen Irrationalismus kennzeichnet.262 Er tendiert zu falschen Unmittelbarkeiten. Deshalb heißt es von Clarisse: „Für zeitkritische Gespräche war sie nicht zu haben; sie glaubte schnurstracks an das Genie“.263 Indem sie nur ein Erlösungsbedürfnis auslebt und weder weiß, was das Genie ist, noch den realen Mangel an Genie zu ertragen vermag, erweitert sich immer mehr „die Kaverne des Unheils, das Arme, Kranke, unselig Genialische in Clarisse“264 bis zur vollständigen Wahnbildung. So werden an Clarisse die zerstörerischen Konsequenzen einer falschen Ideologie deutlich: die Unfähigkeit, in der Realität anderes als ungeniale Trivialität zu sehen, fanatische Intoleranz, schließlich Selbstentfremdung und Wahnbildung. Zu verhängnisvollen Verengungen dieser Art muss es nach Musil offenbar überall dort kommen, wo nicht genügend Intellektualität und innere Stärke vorhanden ist, eine horizontlose Weite als geistiges Abenteuer zu erfahren, als Abenteuer, wie es Nietzsche im letzten Aphorismus der Morgenröthe (‚Wir Luftschifffahrer des Geistes‘) entworfen hatte. Charakteristischerweise hat Ulrich Clarisse mit Nietzsche nicht intellektuell herausgefordert, sondern bloß infiziert, als er ihr Nietzsches Werke schenkte. Clarisse und Nietzsche – das ist die literarische Gestaltung eines fragwürdigen Rezeptionsvorgangs. Ihre Virulenz erhält die Nietzsche-Krankheit nur durch besondere Disposition. Musil stellt Clarisse als ein erblich von übermäßiger Sinnlichkeit bedrohtes Wesen dar, das nach Sublimierung der schon früh in dumpfen Ängsten erlittenen Triebwelt sucht. Nietzsche und das „Genie“ setzt sie als erlösende Transformationsinstanzen ein. „Ihre Beine hatten nicht mehr Genie als ihr Kopf, sie hatten genau das gleiche, sie waren es selbst“, heißt es einmal sarkastisch.265 Jenseits seiner Reflexion auf die bloß ideologische Entwicklung, die der Genie-Kult im deutschen Geistesleben nahm, bemüht sich Musil also noch um eine psychologische Fundierung dieser Entwicklung. Die Phantasie vom genialen Übermenschen entpuppt sich ihm als Flucht-Reflex allzu erdenschweren Daseins. Das eine Extrem ruft das andere. Daher auch das spezifisch Exzentrische und Exaltierte 261 MoE, S. 62. 262 Seine Ablehnung des irrationalistischen Expressionismus kleidete Musil in die Satire auf den Dichter „Feuermaul“, eine Werfel-Karikatur. 263 MoE, S. 62. 264 MoE, S. 63. 265 MoE, S. 441.
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von Clarisses Nietzsche-Idolatrie, mit der Musil zugleich die auffallende Rolle von Frauen im Nietzsche-Kult thematisiert.266 Bereits im Jahr 1899 erschien in der Zeitschrift Die Frau ein Artikel über „Friedrich Nietzsches Einfluss auf die Frauen“. Er hebt das „Nietzsche-Fluidum“ von „unwiderstehlichem Durchdringungsvermögen“ und „hypnotischer Kraft“ hervor, das „in immer steigendem Grade die Gedanken und Worte eines großen Teils der redenden und schreibenden Menschen“ durchzieht: „Auch unter den Frauen hat Nietzsche eine große Zahl begeisterter Anhängerinnen. Sie machen das Wort des alten Weibleins … ‚du gehst zu den Frauen, vergiß die Peitsche nicht‘ zu einem Rat voll tiefer psychologischer Weisheit. Dem, der die Peitsche so nachdrücklich über ihnen geschwungen hat [eine Anspielung auf Nietzsches misogyne Äußerungen], küssen sie anbetend den Saum des Gewandes“. Der Nietzsche-Kult, so fährt die Autorin fort, „der von ihm Hypnotisierten“ reicht so weit, „dass ihr ganzes Sein und Wesen, ihre Weltanschauung, ihre seelischen Äußerungen … darin eingetaucht“ sind.267 Erst aus derart existentiellem Unterbau entsteht die subjektive Plausibilität und die psychische Valenz der Genie-Ideologie. Sie resultiert nicht aus abstraktgedankenhaften Vorstellungen, sondern ist ein aus dumpfer Befangenheit aufsteigender Erlösungstraum. Die Negativität des Ungeistigen und Ungenialen produziert, wo sie unter pathologischen Druck gerät, die kompensatorischen Ausbruchsversuche ins Reich des Genies, allerdings nur, um alle Lebensnormalität zu zerstören und im Irrsinn zu enden. So führt Musil an Clarisse eine ironische Variation des schon fest etablierten Mode-Themas ‚Genie und Wahnsinn‘ vor. Nicht die geistige Gefährdung bringt das Genie hervor, vielmehr produziert das krampfhafte Bedürfnis nach dem erlösenden Genie den Irrsinn – den Irrsinn einer ganzen Epoche. Das ist zugleich eine Abrechnung mit Nietzsches Übermenschen, der sich dem „Willen“ zur Macht hingibt und im Wahnsinn seines Autors wie der im kollektiven Kriegs-Wahnsinn der vom Nietzsche-Kult ideologisch bestimmten Epoche endet. Die Sehnsucht nach dem Über-Menschen endet in selbstzerstörerischer Über-Spannung. Nicht Genie und Wahnsinn, sondern Wahnsinn ohne Genie ist das Resultat. Clarisses zunehmende Aberration und die Reduktion ihres Interesses auf den geisteskran-
266 Hierzu: Aschheim: Nietzsche und die Deutschen, S. 86–94 und 59–64. 267 Marie Hecht: Friedrich Nietzsches Einfluss auf die Frauen, in: Die Frau 6, Nr. 8 (1898/99), S. 486–491 [wiederabgedruckt in: Ruprecht, Erich/Bänsch, Dieter (Hg.): Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890–1910, Stuttgart 1970, S. 543–549, darin S. 543–545]. Clarisse, der Ulrich zum Hochzeitstag eine Nietzsche-Ausgabe geschenkt hat, repräsentiert exemplarisch eine solche Nietzscheanerin. Auch die deutsche Frauenrechtlerin Helene Stöcker veröffentlichte einen Artikel zum Thema Friedrich Nietzsche und die Frauen, in: Bühne und Welt 6, Nr. 20 (1904), S. 857–860.
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ken Frauenmörder Moosbrugger ist symptomatisch. Während sich Ulrich von Moosbruggers Fall nur insofern fasziniert fühlt, als dieser eine pathologische Variante der reflektierten Anomie eines Mannes ohne Eigenschaften ist, wittert Clarisse in dem irren Verbrecher den Abgrund, in den ihr psychischer Zersetzungsprozess sie selbst hinabzwingt. Ja, da Moosbrugger ein Frauenmörder ist268, lässt sich ihr Drang nach ihm auch als unbewusster Drang zur reinigenden und erlösenden Selbstauslöschung verstehen. Musil setzt das pathologische Potential, das dem „Genie“ in besonderem Maße seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und insbesondere durch Nietzsches originalitätssüchtiges Geltungsund Machtbedürfnis aus „Ohnmacht“, Krankheit und Schwäche zugewachsen war, ideologiekritisch ein, indem er die Triebmechanismen der Genialitätssucht freizulegen versucht. Trotz des Aufwandes, mit dem Musil die Formen der Pseudo-Genialität und die falsche Idealisierung des genialen Übermenschen von der eigenen Konzeption einer schöpferischen Genie-Moral abzugrenzen versucht, sah er doch immer wieder das Fragwürdige auch dieser Konzeption. Ist Clarisses aktivistische Manie leer und destruktiv, so führt der passiv-kontemplative Zustand Ulrichs, der lediglich die Vorstellung von Möglichkeiten erlaubt, ins Abseits. In einer Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1936 heißt es: „U. [Ulrich] weiß, daß alles, was ihn zu bewegen vermag, Utopien sind. Die eine seiner Rechtfertigungen ist: Rasse des Genies. Aber dazu muß man aufgelegt sein; und außerdem: ein Genie ohne Werk ist recht problematisch und nahe der Gefahr purer Einbildung …“.269 Sowenig Diotimas „Parallelaktion“ eine konservativ „erlösende Idee“ zu präsentieren und damit die bestehende politische Ordnung zu legitimieren vermag, sowenig geht aus Ulrichs Genie-Moral irgendein praktikabler neuer Daseinsent-
268 Auch mit dem Thema des Lustmords greift Musil ein zeittypisches Phänomen auf, das vor allem in der expressionistischen Malerei auffällt. Otto Dix malte 1920 ein ‚Selbstbild als Lustmörder‘ (Fritz Löffler: Otto Dix. Leben und Werk, Dresden 1960, Tafel 23), Paul Fuhrmann 1921 das Aquarell ‚Lustmord‘ (Berlinische Galerie, Inv. BG-G 125/6. ‚Lustmord in der Ackerstraße‘ heißt eine berühmte Federzeichnung von George Grosz aus dem Jahre 1916 (George Grosz – Nachlaß, Princeton, New Jersey; vgl. Hans Hess: George Grosz, Dresden 1982, S. 55). 1918 variierte Grosz das Motiv in den beiden Gemälden ‚Der Frauenschänder‘ und ‚John der Frauenmörder‘ (Privatbesitz Mailand, vgl. Hess S. 61; Kunsthalle Hamburg, vgl. Hess S. 59). Oskar Kokoschka schrieb zwei kurze Dramentexte mit dem Titel ‚Mörder Hoffnung der Frauen‘ (1907/10 und 1907/16), die mit einer Mordszene enden (Oskar Kokoschka: Das schriftliche Werk, hg. von Heinz Spielmann, Bd. 1: Dichtungen und Dramen, Hamburg 1973, S. 33–41 und 43–51). Zeichnungen gleichen Titels fertigte Kokoschka um 1909/10 an. Sie erschienen in der Zeitschrift Sturm. Vgl. hierzu und zum gesamten Moosbrugger-Komplex Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose, S. 238–255. 269 Robert Musil: Tagebücher, hg. von Adolf Frisé, Bd. 2: Anmerkungen, Anhang, Register, neu durchgesehene und ergänzte Auflage, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 1097.
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wurf hervor. Sowohl Diotimas wie auch Ulrichs Ambitionen müssen vor einer Instanz kapitulieren, die pragmatisch Ordnung schafft. Diese Instanz verkörpert General Stumm von Bordwehr, der Vertreter des Militärs. Ihm bleibt der „Zivilgeist“ trotz redlichen Bemühens verschlossen. Nicht ohne innere Berechtigung stellt er die Liederlichkeit der bloßen Schöngeisterei und auch die Unzulänglichkeit der Genie-Moral fest. Dass Musil als die Macht des Faktischen, die Schöngeisterei wie experimentelle Theorie überwältigt, das Militär statt der hohen Politik bevorzugt, liegt in seinem Plan begründet, das Geschehen dem Mechanismus geistlos-unpolitischer Sachzwänge zu überantworten und in den Ersten Weltkrieg einmünden zu lassen. Vor allem aber wird so in grotesker Weise offenkundig, wie die idealistisch-schöngeistige und andererseits die innerlich-mystische und „geniale“ Haltung dem äußeren Weltgeschehen in seiner grobschlächtigsten Form zum Opfer fallen müssen. Wohl sollte das Entstehen des Krieges aus der Durchsetzung der militärischen „Ordnung“ dem Nachweis dienen, dass diese, als Pseudo-Ordnung par excellence, in katastrophale Un-Ordnung führt und dass die geistige Orientierung auf wahre und innerlich verantwortbare Ordnung um so dringlicher ist. Den Impuls hierzu verspüren nicht zufällig gerade im Vorfeld des Ersten Weltkriegs Diotima und Ulrich in ihrer jeweils verschiedenen Weise. Aber es geht auch um die Demonstration der Ohnmacht, ja Irrelevanz des Geistes, die um so größer scheint, je verinnerlichter er ist und je mehr er sich dem utopischen Wahren anzunähern sucht. Nachdem der Roman mit soviel Elan den hohen Anspruch eines Mannes ohne Eigenschaften, die Idee des Utopismus und Essayismus entwickelt hat, nachdem der mystische „andere Zustand“ in der Verbindung Ulrichs mit seiner Schwester Agathe trotz des schließlichen Scheiterns soviel Faszination gewonnen hat, scheint es, als habe Musil in mühseliger Selbstanzweifelung und sogar Selbstwiderlegung alles Frühere abzuarbeiten begonnen, ohne doch eine weiterführende neue Perspektive zu bieten. Erledigt war damit zugleich, wie indirekt auch immer, Nietzsches und Wagners, ja schon Schopenhauers Erlösungs pathos samt der überständigen Genie-Ideologie.
22.3 Nietzsche in Thomas Manns Werken bis zur Verschmelzung von nationaler Faust-Ideologie und Nietzsche-Mythologie im Doktor Faustus Vom Frühwerk bis zu seinem Roman Doktor Faustus (1947), dessen Protagonist Adrian Leverkühn nach Nietzsches biographischem Schicksal modelliert ist, hat Thomas Mann seine Beschäftigung mit Nietzsche immer seinen eigenen schriftstellerischen Interessen, Plänen und Konzeptionen dienstbar gemacht. Insofern
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war Nietzsche für ihn ‚Material‘, das er verarbeitete. Entsprechend seinen eigenen Wandlungen, die über eine lange Lebens- und Schaffenszeit hinweg durch die alles verändernden und erschütternden historischen Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitbedingt waren, durchlief seine Nietzsche-Rezeption ganz unterschiedliche Phasen.270 Sie war von Anfang an durch seine Schopenhauer-Lektüre und durch den für Nietzsche selbst in unbedingter Anhängerschaft wie später in kritischer Distanzierung maßgebenden Schopenhauer-Bezug mitbestimmt. Thomas Mann erwarb sich seine umfassende und gründliche, ständig vertiefte Nietzsche-Kenntnis nicht nur aus dessen Schriften, sondern auch aus zahlreichen Aufsätzen und Werken über Nietzsche. Unter diesen war Ernst Bertrams Buch Nietzsche. Versuch einer Mythologie (erstmals 1918, zahlreiche Neuauflagen noch in den zwanziger Jahren) von herausragender Bedeutung, weil Bertram sein Werk aus dem heroisierenden Geist der George-Schule bewusst als „Mythologie“ gestaltete und damit Nietzsche zu mythisch-tragischer Größe erhob, wie dies dem in den Jahren 1900–1930 grassierenden Nietzsche-Kult entsprach. Gegenüber Nietzsches philosophischen Lehren allerdings blieb Thomas Mann skeptisch-distanziert, weil er ihre permanenten Selbstsuggestionen und andererseits Selbstaufhebungen, ja auf „Selbstüberwindung“ angelegten Strategien erkannte. In seinem 1930 verfassten Lebensabriß271 schreibt er „Ich nahm nichts wörtlich bei ihm, ich glaubte ihm fast nichts“. Tiefer beeindruckte ihn nur, was Nietzsche mit Schopenhauer und Wagner verband: „der Nietzsche, der mir eigentlich galt und meiner Natur nach erzieherisch am tiefsten auf mich wirken mußte, war der Wagnern oder Schopenhauern noch ganz Nahe oder immer Nahegebliebene“.272 Was Thomas Mann von Nietzsche übernahm, war dessen Lebensphilosophie, als Ironiker aber sah er die „Idee des Lebens“ immer schon durch Nietzsches Moralkritik und Entlarvungspsychologie unterhöhlt, weil der ‚Sinn‘ des Lebens als metaphysisches Hirngespinst der Desillusionierung verfiel. So endete auch dieser Weg, nach mancherlei (pseudo-)naiven Verführungen, etwa in Tonio Kröger und im Zauberberg, letztlich doch in Schopenhauers Pessimismus. Dem von Nietzsche zum Zentrum des ‚Lebens‘ deklarierten „Willen zur Macht“ konnte Thomas Mann sowenig abgewinnen wie der Verstiegenheit des „Über-Menschen“.
270 Thomas Manns Nietzsche-Rezeption hat mit allen wichtigen Nachweisen, sowohl aus den Werken wie aus den Essays, Briefen und Tagebüchern, Børge Kristiansen dargestellt, in: Helmut Koopmann (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch, Stuttgart 1990, S. 260–283. 271 Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, hg. von Hans Bürgin/Peter de Mendelssohn, Bd. XI: Reden und Aufsätze 3, 2., durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main 1974, S. 110 (= GW). 272 GW XII, 541.
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Stattdessen gewann gerade der Gegensatz: das Kranke, Dekadente die Oberhand. Den ‚Willen zur Macht‘ hatte ja schon Nietzsche als kompensatorische Projektion des Ohnmächtigen, die „große Gesundheit“ als Wunschtraum des Kranken zugleich lanciert und dementiert. Deshalb zeigt sich Thomas Mann dort in der größten Nähe zu Nietzsche, wo er dessen Décadence-Diagnose übernimmt und mit ihr die Décadence-Stimmung der Zeit. Beim Künstler wird sie zur Angst vor dem Versiegen schöpferischer Kraft, zu einer Angst, die durch Jugendkult, durch Hingabe an den ‚dionysischen‘ Lebensrausch, durch expressionistisches Wort getöse und futuristische Flucht nach vorne höchstens zu übertäuben ist. Das Mode-Thema ‚Genie und Wahnsinn‘ hatte durch Nietzsches Schicksal und den schon im 14. Aphorismus der Morgenröthe als höhere Legitimation seiner Genialität herbeigewünschten Wahnsinn eine fatale Wirkungsgeschichte. Im Gefolge Nietzsches wurde der Geisteskranke zur Verkörperung einer anarchistischen Anomie, die totale Befreiung verhieß. Georg Heym schrieb 1906 in seinem Tagebuch „O daß es mir gelingen möchte, mein Leben nun umzugestalten, um ein Pfeil zum Übermenschen zu werden“.273 In seiner Geschichte Der Irre feiert er den heilbringenden Wahnsinn.274 Und Marinettis Futuristisches Manifest (1909) hat als Wunschziel die „Stadt Paralysia“. Als der expressionistische Dramatiker Georg Kaiser wegen seiner Schulden unter Anklage gestellt wurde, verkündete er ganz nach Nietzsche: „Unsinnig ist der Satz: ‚Alles ist gleich vor dem Gesetz‘. Einem Genie gelte der schöpferische Akt als Höchstes, auch ‚wenn Frau und Kinder darüber zu Blut werden sollten‘“.275 Derartiger Extremismus und Aktivismus samt den Wurzeln bei Nietzsche war nicht Thomas Manns Sache. Er kultivierte oft eine bildungsbürgerliche, konservative Sicht Nietzsches und goutierte dessen Ästhetizismus: das Artistenbekenntnis, das sein eigenes war. Den Radikalismus in Nietzsches Spätschriften sah er je länger, desto mehr und besonders in der Zeit des Nationalsozialismus als verhängnisvoll an, auch wenn er bis hin zum Faustus-Roman Ernst Bertrams mythologisierender und verklärender Tendenz folgt, die aus dem Heros Nietzsche nun ein Opfer, einen Märtyrer macht, der alle Last, alles Leid und alle Schuld der Zeit zu tragen hat.
273 Georg Heym: Dichtungen und Schriften, hg. von Karl Ludwig Schneider u. a., Bd. 3: Tagebücher, Träume, Briefe, Hamburg 1960, S. 44. Vgl. Richard Frank Krummel: Nietzsche und der deutsche Geist, Bd. 2: Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum vom Todesjahr bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1901–1918, 2. verbesserte und ergänzte Auflage, Berlin/New York 1998, S. 232. 274 Der Irre, in: Georg Heym: Der Dieb. Ein Novellenbuch, Leipzig 1913. 275 Zitiert nach Walter H. Sokel: The Writer in Extremis, S. 66 [deutsch: Der literarische Expressionismus, S. 87 f.].
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Thomas Mann hatte sich während des Ersten Weltkriegs mit seinen Betrachtungen eines Unpolitischen noch von einem konservativ-antidemokratischen und antiwestlichen Standpunkt aus ganz im Sinne Nietzsches für den Krieg ausgesprochen. Zugleich wandte er sich gegen seinen Bruder Heinrich Mann, den „Zivilisationsliteraten“, der zur selben Zeit seinen Roman Der Untertan mit entgegengesetzter Tendenz verfasste. Nach dem verlorenen Krieg und dem Untergang des Wilhelminischen Kaiserreichs konvertierte Thomas Mann alsbald zum demokratischen Wanderprediger. Und erneut glaubte er sich auf Nietzsche berufen zu können. Den erklärten Gegner der demokratischen Bewegung und den radikalindividualistischen Feind alles sozialen Denkens versuchte er als Demokraten und sogar als Sozialisten zu vereinnahmen und zur legitimierenden Berufungsinstanz der eigenen Wende zu machen. Obwohl Nietzsche den Faschismus ideologisch mitformierte, schrieb Thomas Mann noch in einem Brief vom 3. Dezember 1945 an Karl Kerenyi, er habe Nietzsche gegen den „tendenziösen Mißbrauch“ durch die Faschisten verteidigen wollen.276 Und in einem Brief an Max Rychner vom 24. Dezember 1947, im gleichen Jahr, in dem sein Doktor Faustus erschien, machte er Nietzsche gar zum Sozialisten. „Die Wendung“, schrieb er, „vom ‚Sand der metaphysischen Dinge‘ ist ja von Nietzsche und hat sozialistische Färbung so gewiß wie es eine falsch-idealistische Art gibt, von ‚Materialismus‘ zu reden. Warum sollte seine Sensibilität nicht von den sozialistischen Tendenzen der Zeit so gut berührt gewesen sein, wie von den faschistischen …?“277 Er bedachte wohl nicht, dass sich die Nationalsozialisten schon in ihrem Parteinamen als ‚Sozialisten‘ ausgaben und derartige Etiketten kaum etwas über die politische Wirklichkeit aussagen. In der großen Rede vor Arbeitern in Wien 1932 kam eine Sozialismus-Definition zum Vorschein, die mit deutlichen Anklängen an Vorstellungen Nietzsches diesen wiederum indirekt für den Sozialismus in Beschlag nahm. „Und Sozialismus“, rief Thomas Mann aus, „ist nichts anderes als der pflichtmäßige Entschluß, den Kopf nicht mehr vor den dringendsten Anforderungen der Materie, des gesellschaftlichen und kollektiven Lebens in den Sand der metaphysischen Dinge zu stecken, sondern sich auf die Seite derer zu schlagen, die der Erde einen Sinn geben wollen, einen Menschensinn“.278 Diese auf „Sinn“ zielende Definition des Sozialismus kehrte stereotyp in den Schriften und Reden Thomas Manns bis 1937 wieder.279 Die von ihm angeführten Wendungen vom „Sand der metaphysi-
276 Thomas Mann: Briefe, hg. von Erika Mann, Bd. II: 1937–1947, Frankfurt am Main 1963, S. 461 f. 277 Mann: Briefe II, S. 579. 278 GW XI, 899. 279 GW XII, 680; GW XIII, 343; GW XII, 809.
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schen Dinge“ und vom ‚Erden-Sinn‘ entnahm er folgender Stelle aus dem (eigentlich ungeliebten) Zarathustra: „Einen neuen Stolz […] lehre ich die Menschen: nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern frei ihn zu tragen, einen Erden-Kopf, der der Erde Sinn schafft!“280 Nach 1933 durfte Thomas Mann noch einige Jahre, bis zu seiner Ausbürgerung, in Deutschland publizieren. Das war ihm wichtig. Er distanzierte sich vom Exil, nicht einmal das Engagement seines Sohnes Klaus in der Zeitschrift Die Sammlung unterstützte er. Damit versuchte er mit dem Nazi-Regime wenigstens soweit einen Kompromiss zu erreichen, dass seine Werke noch in Deutschland gedruckt werden konnten. Obwohl er in seinem Brief an den Reichsinnenminister Frick im Jahre 1934 dem Nationalsozialismus absagt, verspricht er zugleich, sich nicht mehr öffentlich politisch zu äußern. Im Wortlaut: Seitdem aber die Geschichte ihr Wort gesprochen, habe ich geschwiegen und mich strikt an die Erklärung gehalten, die ich beim Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste abgab: Es ist mein Entschluß, alles Offizielle, das sich im Lauf der Jahre an mein Leben gehängt hat, davon abzustreifen und in vollkommener Zurückgezogenheit meinen persönlichen Aufgaben zu leben.281
Erst nachdem die Nazis ihm 1936/37 die deutsche Staatsbürgerschaft und das Bonner Ehrendoktorat aberkannt hatten, begann Thomas Mann in mehreren politischen Kampfschriften282 auch von Nietzsche ein Stück weit abzurücken. Zwar hatte er von einem „Keim des Schlimmen“ in Nietzsches geistiger „Revolution“ bereits 1933 gesprochen283, 1935 von Nietzsches „bedenklicher Rolle“ (Tagebuch vom 8. 8. 1935), aber erst nachdem er selbst ausgebürgert worden war, sagte er nicht nur dem Hitler-Regime den Kampf an, sondern kritisierte scharf nun auch Nietzsche, allerdings erst nach der Katastrophe mit voller Entschiedenheit: in den großen Essays Deutschland und die Deutschen (1945) und Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947), wo er einen ebenso fulminanten wie treffenden Verriss des Zarathustra lancierte,284 der von Anfang an im Zentrum des Nietzsche-Kults stand. Immerhin warf er schon vor 1938 in seinem Schopenhauer-Essay Nietzsche vor, er habe mit seinen Begriffen von Krankheit und Gesundheit eine „falsche Gesundheit auf den Plan gerufen“.285 In dem Essay Denken und Leben (1941) kritisierte er die fragwürdigen Lieblingsbegriffe des 280 KSA 4, 36, 34–37,3. 281 GW XIII, 104. 282 Vom kommenden Sieg der Demokratie und Das Problem der Freiheit. 283 GW XII, 697. 284 Vgl. S. 5. 285 GW IX, 577.
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späten Nietzsche wie „Macht, Instinkt, Dynamismus, Übermenschentum, naive Grausamkeit“.286 Er rechnete nun mit Nietzsches politischer und sozialer Verantwortungslosigkeit ab, auch mit seiner Realitätsfremdheit und seinem haltlosen Hochmut. Bei aller Kritik jedoch entschuldigte er zugleich Nietzsche und enthob ihn der persönlichen Verantwortung, indem er ihn in eine deutsche Traditionslinie zu stellen versuchte, die mit fataler Zwangsläufigkeit von Luther bis zu Oswald Spengler, „dem klugen Affen Nietzsches, zu Carl Schmidt [!], dem Theoretiker des deutschen Faschismus, und zu Rosenbergs ‚Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts‘“ führt287, aber auch eine Reihe der bedeutendsten deutschen Dichter und Philosophen sowie die deutsche Musikgeschichte einschließt. Dieser Geschichtsfatalismus zeugt von einer gewaltsamen Konstruiertheit und dies erst recht, weil er auf einem eklektischen Verfahren beruht, das bestimmte Elemente der Geschichte herausgreift und andere eliminiert. Die entsprechende Geschichtsklitterung bot Thomas Mann in seinem auf Nietzsche und die ganze deutsche Tradition bezogenen Roman Doktor Faustus, der mit Nietzsche zugleich die FaustGestalt als zentrale Identifikationsfigur der Deutschen beschwor. Bereits im 18. Jahrhundert ist die Rede von „der Nationallegende vom Doctor Faustus“.288 Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es oft nur ein schma les Textsegment, auf das sich zunehmend sowohl die wilhelminische wie die nationalsozialistische und schließlich die kommunistische Vereinnahmung konzentrierte: Fausts kolonisierende Tätigkeit im zweiten Teil und insbesondere sein Schlussmonolog. In diesem lässt Goethe mit subversiver Ironie Faust als blinden Visionär einer grandiosen Selbsttäuschung verfallen. Er bemerkt nicht, dass sein Kolonialreich auf „Wasserboden“ gebaut ist und man schon sein Grab schaufelt. Diejenigen, die je nach politischer Couleur die Szene für sich vereinnahmten, unterschieden nicht zwischen der Faustfigur und dem Autor Goethe, sie bemerkten nicht die Ironie, sondern suchten plump nach legitimierender Identifikation mit ihren politischen Interessen. Die schon früher begonnene ‚Nationalisierung ‘ der Faustfigur wurde im 19. und 20. Jahrhundert epidemisch.289 Schelling, der in der Zeit der Romantik besonderes Interesse an einer „neuen Mythologie“ hatte, schrieb 1802 – in dieser
286 GW X, 365. 287 GW XII, 907 f. 288 Alexander Tille: Die Faustsplitter in der Literatur des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts nach den ältesten Quellen, Berlin 1900, S. 864. 289 Zwei Schlüsselpublikationen haben das relevante Material aufgearbeitet: Hans Schwerte in seinem Buch Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie, Stuttgart 1962; und André Dabezies: Visages de Faust au XXe siècle. Littérature, Idéologie et Mythe, Paris 1967.
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Zeit lag erst das 1790 erschienene Fragment von Goethes Faust vor –, Faust sei „unsere mythologische Hauptperson“, und er begründet dies damit, dass er „recht aus der Mitte des deutschen Charakters und seiner Grundphysiognomie wie geschnitten ist“.290 Heine, dessen weltanschauliches Credo in der Opposition Spiritualismus – Sensualismus seine Formel fand, propagierte gegen den reli giösen und den idealistischen Spiritualismus die „Emanzipation des Fleisches“. Er stülpte dieses Schema Goethes Faust über: Fausts Übergang vom Gelehrtendasein in das Weltleben, aus der Sphäre spekulativer Geistigkeit in die Sphäre der Sinnlichkeit erklärte er zum Modell des Emanzipationsprozesses, den er sich für die Deutschen wünschte. „Das deutsche Volk“, so schreibt er in der Romantischen Schule, zugleich selbstironisch übertreibend, „ist selber jener gelehrte Doktor Faust“, „jener Spiritualist, der mit dem Geiste endlich die Ungenügbarkeit des Geistes begriffen und nach materiellen Genüssen verlangt und dem Fleische seine Rechte wiedergibt“. Wie sehr Faust bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zur Identifika tions figur der Deutschen geworden war, zeigt am bündigsten Grabbes 1829 erschienenes Drama Don Juan und Faust, in dem Faust ausruft (I, 2): „Nicht Faust wär’ ich, wenn ich kein Deutscher wäre!“291 Seit Beginn des 20. Jahrhunderts amalgamierte sich diese Ideologie mit dem nun alles Andere an weltanschaulicher Bedeutung übertreffenden Nietzscheanismus. Dessen Hauptelemente waren ein forcierter Dynamismus, das Übermenschen-Pathos und ein vom „Willen zur Macht“ bestimmter „männlicher“ Voluntarismus, nicht zuletzt ein programmatischer Immoralismus. Im Medium dieses von Nietzsche propagierten Immoralismus wurden Fausts Schuld und Verfehlungen nicht bloß wie bisher ignoriert, sondern als notwendige Elemente einer sich über alle Normalbeschränkungen erhebenden Größe gewertet. Beides, der Nietzscheanismus wie die „faustische“ Ideologie, waren Ausdrucksformen des Imperialismus und eines hybriden Nationalismus. Zugleich dienten sie der Legitimation. Arthur Moeller van den Bruck, der 1923 aus dem Geist der konservativen Revolution sein Buch Das dritte Reich veröffentlichte,292 brachte in seinem schon 1907 erschienenen Goethe-Buch die nationale Faustideologie auf griffige Formeln. Für das „Nationalwesen“, das er in Faust repräsentiert sah, folgerte er aus Fausts Ende, wer aus der Gewissheit handle, „verpflichtet zu sein auf
290 Vorlesung über die Philosophie der Kunst, gehalten in Jena 1802/1803, postum veröffentlicht 1859 (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, Nachdruck der Ausgabe von 1859, Darmstadt 1980, S. 83). 291 Christian Dietrich Grabbe: Don Juan und Faust. Eine Tragödie, Frankfurt am Main 1829, S. 35. 292 Arthur Moeller van den Bruck: Das dritte Reich, Berlin 1923.
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ein tätiges Leben, dem kann die Schuld nichts mehr anhaben …“.293 Einer der bekanntesten Autoren der konservativen Revolution, Werner Sombart, vollzog die schon zitierte kriegsgerechte Adaptation im Jahr 1915. In seinem Buch Händler und Helden. Patriotische Besinnungen heißt es: „Militarismus ist der zum kriegerischen Geist hinaufgesteigerte heldische Geist. Er ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung. Er ist ‚Faust‘ und ‚Zarathustra‘ und Beethovenpartitur in den Schützengräben“.294 Nachdem Oswald Spengler in seinem Bestseller Der Untergang des Abendlandes295 den faustischen Menschen vollends zur Leitinstanz einer „Welt anschauung“ erhoben hatte, folgten zahlreiche Bücher, die das „Faustische“ als das „Deutsche“ priesen. Für den bekannten Literaturhistoriker Eugen Kühnemann steht in seiner weitverbreiteten Monographie Goethe (1930) hinter Faust „die ganze Geschichte des germanischen Geistes“296 und Faust ist „bis zum Ende das rechte Wahrzeichen der Deutschheit“.297 Ja, Kühnemann ernannte Faust zum „Führer“: „Wieder bedeutet Faust das Buch des Propheten für die deutsche Seele. Faust ist als der Führer zur wahren Deutschheit neu geboren …“.298 Schon vor Beginn des Hitler-Regimes erhoben besonnene Gelehrte Widerspruch gegen die grassierende Ideologisierung der Faustgestalt – es führte keine Einbahnstraße mit zwangsläufiger Notwendigkeit in die Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten, die „Faust im Braunhemd“ feierten.299 Programmatisch ist der Widerspruch im Titel, den ein bekannter Literaturwissenschaftler, Wilhelm Böhm, für sein Buch wählte: Faust der Nichtfaustische.300 Dieses schon 1932 geschriebene und 1933 erschienene Werk brachte die bereits im 19. Jahrhundert erhobenen kritischen Einwände gegen die Ideologisierung von Goethes Faustgestalt auf den Nenner. Böhm wies – und traf damit zugleich Nietzsche – auf das Zerbrechen der hybriden Vorstellung vom Übermenschen schon in der Erdgeist-Szene hin, in welcher der Elementargeist im Feuer erscheint und zu dem, wie es in der Szenen-Anweisung heißt, „zusammenbrechenden“ Faust sagt: „Welch erbärmlich Grauen fasst Übermenschen dich“! Böhm pointierte auch das
293 Arthur Moeller van den Bruck: Goethe, Minden 1907, S. 194. 294 Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München/Leipzig 1915, S. 84 f. 295 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Welt geschichte, 2 Bde., Wien 1918 und München 1922. 296 Eugen Kühnemann: Goethe, Bd. 1, Leipzig 1930, S. 31. 297 S. 53. 298 Kühnemann: Goethe, Bd. 2, S. 566. 299 Kurt Engelbrecht: Faust im Braunhemd, Leipzig 1933. 300 Wilhelm Böhm: Faust der Nichtfaustische, Halle 1933.
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Tragische in Goethes Faust: dass es sich gerade nicht um Fortschritt, vielmehr um ein Scheitern auf der ganzen Linie handelt. Faust verkörpere nicht ein vorbildhaftes, großartiges Menschentum, sondern richte nur Unheil an, wie sich schon in der Gretchentragödie zeigt; und am Ende, bei seinen Kolonisationsarbeiten, als er sich mit den drei Gewalttätern Raufebold, Habebald und Haltefest verbündet, gerät er ins Verbrechen. Schon vor Böhm hatten bedeutende Gelehrte vor der Stilisierung und Mythisierung Fausts zum genialischen Übermenschen und zum Vorbild gewarnt. Konrad Burdach zielte insbesondere auf Nietzsche und den Nietzschekult, indem er feststellte: „Faust ist nach Goethes Absicht nicht das Paradigma des idealen modernen Menschen, wozu ihn die perverse Auffassung aller vom Übermenschenwahn Angesteckten immer wieder macht“.301 Ein lange nachhallendes Echo fand Nietzsche in Thomas Mann erstmals 1947 erschienenem Roman Doktor Faustus. Obwohl Thomas Mann wie der Verfasser des Faustbuchs von 1587 und wie Goethe den Teufelspakt ins Zentrum des Geschehens stellt, geht sein Protagonist Adrian Leverkühn in seinem Pakt mit dem Teufel weder eine Verbindung mit einem religiös-metaphysischen Satan wie im alten Faustbuch ein, noch, wie bei Goethe, ein Bündnis mit einem psychologisch als negative Dimension des Menschen begriffenen Dämon. Zwar stimmt er mit Goethe darin überein, dass er den Teufel säkularisiert, auch darin, dass dieser eine Abspaltung des Ichs ist. Aber er konzipiert den Pakt mit dem Teufel als Metapher für die Hingabe an das Irrationale. Dafür inspirierte er sich an Nietzsches Biographie und Werk, insbesondere an Nietzsches Kult des ‚dionysischen‘ Rausches. Da Thomas Manns moderne Faustfigur das deutsche Wesen und die deutsche Geschichte repräsentieren sollte, schreibt er den Deutschen eine verhängnisvolle Tendenz zum Irrationalen zu, die schließlich zur Katastrophe des Nationalsozialismus führen musste. Grundlegend für die Konzeption des Romans ist die Sterilität der kulturellen Situation allgemein, die auch Nietzsche konstatierte, und besonders eine als endzeitlich und ausweglos begriffene Situation der Kunst. Thomas Mann behauptet diese, indem er die Décadence-Problematik des Fin de Siècle fortschreibt. Dem Protagonisten des Romans scheint sich ein Weg zu neuen schöpferischen Möglichkeiten nur noch durch rauschhafte Enthemmung zu eröffnen. Thomas Mann fixiert sie auf den in den zwanziger Jahren immer mehr und oft mit Berufung auf Nietzsche anschwellenden Irrationalismus, insbesondere auf den Expressionismus mit seiner Vorliebe für das Grelle und Exzessive, nicht zuletzt für eine untergangssüchtige Apokalyptik – Adrians „Durchbruchs“-Werk trägt den Titel Apocalipsis cum figuris, der zugleich an die
301 Konrad Burdach: Faust und die Sorge, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1 (1923), S. 1–60, hier S. 27.
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damalige Dürer-Mode erinnert und ein Geschichtskontinuum von der Dürerzeit bis zur Gegenwart suggeriert. Geradezu leitmotivisch verwendet der Erzähler den Begriff „Durchbruch“. Aus Verzweiflung über das Versiegen schöpferischer Energien, wie es bereits in Immermanns Roman Die Epigonen (1836) bis hin zu Nietzsches nachtönender Klage über das epigonale Schicksal der Zeit thematisiert wurde, paktiert Adrian Leverkühn mit dem „Teufel“ – dem dämonisierten Irrationalen. In der Entstehung des Doktor Faustus spricht Thomas Mann von der „Flucht aus den Schwierigkeiten der Kulturkrise in den Teufelspakt, dem Durst eines stolzen und von Sterilität bedrohten Geistes nach Enthemmung um jeden Preis und [der] Parallelisierung verderblicher, in den Kollaps mündender Euphorie mit dem faschistischen Völkerrausch“.302
302 GW XI, 163 f.
23 Der ‚Wille zur Macht‘ im Zeitalter des Imperialismus und Faschismus Nietzsches Verherrlichung von Kampf, Krieg und Heldentum. Sein Vernichtungs- und Ausrottungs-‚Wille’.
23.1 Die vom Zarathustra ausgehende Kriegspropaganda deutscher Intellektueller und Katheder-Helden Exemplarische Gegenstimmen: Joseph Roth, Die Krüppel. Ein polnisches Invaliden-Begräbnis (mit Abdruck des Textes). Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. Heinrich Mann: Der Untertan.
Es wurde schon deutlich, welche Rolle der Zarathustra als ideologischer Enthemmer im Ersten Weltkrieg spielte; auch dass Nietzsche mit dem Zarathustra-Kapitel ‚Vom Krieg und Kriegsvolke‘ tatsächlich ein Propagandist des Krieges und des „Kampfes“ war und wie sehr sich deshalb der Erste Weltkrieg mit seinem Namen verband.303 Zusammen mit der Wahnidee vom „Übermenschen“ transportierte der zum effektvollen Schlagwort zurechtgemachte „Wille zur Macht“ Gewaltverherrlichung und aggressive Vernichtungsphantasien. Damit konnte Nietzsche zum Ideologen des Krieges werden, neben vielen anderen deutschen Intellektuellen und Katheder-Helden, und aufgrund des inzwischen florierenden NietzscheKults alsbald sogar als Leitfigur.304 Nietzsche, der sich in der Phrenesie des Ecce
303 Hierzu das 1. Kapitel. 304 Rudolf Eucken: Die sittlichen Kräfte des Krieges, Leipzig 1914; Max Scheler: Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, Leipzig 1914; Max Scheler: Krieg und Aufbau, Leipzig 1916; Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, 11.-20. Tausend, Leipzig 1915; Lenore Ripke-Kühn: Nietzsches Willenserziehung, in: Der Panther 5 (1917), S. 519–535; Jürgen und Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf „An die Kulturwelt!“ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1997; Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000; Barbara Beßlich: Wege in den „Kulturkrieg“. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Darmstadt 2000; Nils Bruhn: Vom Kulturkritiker zum Kulturkrieger. Paul Natorps Weg in den Krieg der Geister, Würzburg 2007; Ulrich Sieg: Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013; August Faust (Hg.): Das Bild des Krieges im deutschen Denken, Stuttgart und Berlin 1941; Max Wundt: Die Wurzeln der deutschen Philosophie in Stamm und Rasse, Berlin 1944; Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005; Detlev Piecha: „Nietzsche und der Nationalsozialismus“. Zu Alfred Baeumlers Nietzsche-Rezeption, in: Christian Niemeyer u. a. (Hg.): Nietzsche in der Pädagogik. Beiträge zur Rezeption und Interpretation, Weinheim 1998,
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homo als „Vernichter par excellence“305 rühmte, nahm schon vorhandene Tendenzen und Parolen auf, die sich bei den europäischen Mächten immer mehr zur mentalen Kriegsbereitschaft, ja zur Kriegsbegeisterung steigerten. Doch radikalisierte er alles bis zum Äußersten, auch die vulgärdarwinistischen Ausrottungsprogramme. Er forderte „die schonungslose Vernichtung alles Entartenden“.306 „Jene neue Partei des Lebens“, verkündete er, „welche die grösste aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen, wird jenes Zuviel von Le b e n auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand wieder erwachsen muss“. Diese „neue Partei“ kam 1933 an die Macht. Das Giftgebräu eines rassistischen Biologismus, für das besonders Nietzsches Spätschriften die Ingredienzien boten, wurde bereits Jahrzehnte vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten durch den Hauptherausgeber seiner Werke, durch Heinrich Köselitz alias Peter Gast zur editorisch legitimierten politischen Lesart. Schon 1905 und dann im Nachbericht der für Jahrzehnte maßgebenden Edition schrieb er zu den Abhandlungen Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral sowie im Hinblick auf das Schlagwort „Wille zur Macht“: Liegen die Keime dieser Probleme auch schon in seinen früheren Schriften vor, so wachsen sie doch erst mit der hier beginnenden biokritischen Psychologie des Herren- und SklavenMenschen zu jener Umwerthungslehre empor, mit welcher Nietzsche’s Name für immer verknüpft bleiben wird und in deren bewusster Anwendung durch Einzelne die künftige Grösse und Macht der indogermanischen Rasse beschlossen liegt. Die höheren Typen sind biologisch anders bedingt, als die niederen; der führende Mensch hat eine andere Wer thungsweise als der geführte. Ein Zeitalter, das sich an die Forderung einer gleichen Wer thungsweise für Alle gewöhnt hat und verlangt, der höhere Mensch solle die des niederen zur seinigen machen, arbeitet an der Herabstimmung nicht nur des höheren Menschen, sondern der gesammten Masse, über der er stehen soll.307
S. 132–195.; Helmut Heiber: Universität unterm Hakenkreuz, Teil 1: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München u. a. 1991; Teil 2: Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen, 2 Bde., München u. a. 1992 und 1994.; Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, Stuttgart/München 2000; Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, München 1974. 305 KSA 6, 366, 33. 306 KSA 6, 313, 19–23. 307 Heinrich Köselitz: Nachbericht, in: Friedrich Nietzsche: Werke, Leipzig 1894–1911 u. ö. [Großoktav-Ausgabe], Bd. 7, S. I.
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Und Köselitz fährt in dem für ihn charakteristischen verschwurbelten Stil fort: In Nietzsche’s Unterscheidung der Herren-Moral (‚Gut‘ – ‚Schlecht‘, von oben aus gesehen) und der Sklaven-Moral (‚Gut‘ – ‚Böse‘, von unten aus gesehen) und der parallel laufenden Moralen des aufsteigenden und des niedergehenden Lebens liegt nicht nur die einzige Möglichkeit der Diagnose unsrer europäischen Willenserkrankung und Verdüsterung, sondern zugleich das Mittel zu ihrer Sanirung. Nietzsche erkannte schliesslich das Kräftespiel der gesammten Naturerscheinungen unter einander als im Zeichen des ‚Willens zur Macht‘ (gleichsam der Herren-Moral) stehend.308
Nietzsche, ein schwächlicher, physisch wie psychisch kranker und deshalb von der „großen Gesundheit“ schwärmender, am Abseits seiner isolierten Existenz leidender und doch der Einsamkeit bedürftiger Sonderling, imaginierte kompensatorisch „Macht“ und nahm Zuflucht zu einem desperaten Voluntarismus – desperat auch deshalb, weil er mit seinem Erstlingswerk Schiffbruch erlitten hatte und bis zum Ende seiner bewussten Lebenszeit keine Beachtung, geschweige denn Anerkennung gefunden hatte. Weil er Opfer von Ohnmachtsgefühlen war, wollte er eine „Unzahl Menschen“ opfern,309 um sich das „Gefühl der Macht“ wenigstens auf diese Weise zu verschaffen. Weil er nahezu ausschließlich Kompilator von schon längst Vorhandenem war und hauptsächlich Sekundärliteratur und hastig herangezogene populärwissenschaftliche Publikationen abschöpfte, wollte er sich als Originalgenie, als weltverändernder Philosoph und obendrein als inspirierter Künstler inszenieren. Seine künstlerische Begabung aber reichte selbst nach Einschätzung seines besten Freundes Franz Overbeck, der ihm bis zum Zusammenbruch beistand, über Rhetorik kaum hinaus. „Nietzsche’s Künstlerbegabung ist eine zu beschränkt rhetorische gewesen“, stellte Overbeck in seinen Erinnerungen fest.310 Immer mehr geriet Nietzsche ins Schwadronieren über Alles und Jedes, auf einen großmäuligen und größenwahnsinnigen, auch durch reichlichen Opium-Konsum beflügelten, wenngleich vielfältig gebrochenen Ego-Trip, in halluzinatorisch aufgeblähte Repetitionen, Redundanzen und Variationen, mit denen er meist nur früher schon von ihm selbst Gesagtes zusammenrührte und verquirlte. Immer mehr schrumpfte auch seine Gedankenwelt zusammen: auf die modische Moralkritik, die seine Schriften von Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe, Die fröhliche Wissenschaft bis hin zum Zarathustra und zu den Spätschriften Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, Götzen-Däm-
308 Ebd., I f. 309 KSA 5, 206, 28. 310 Overbeck: Werke und Nachlass, Bd. 7/2, S. 31.
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merung und Antichrist bestimmte. Mit ihr schloss er sich der Konjunktur des zeitgenössischen, radikal antichristlichen Freidenkertums an. Sein Freund Paul Rée, dessen selbstlosen Zuarbeiten und Anregungen er so viel gerade im Hinblick auf die Moralkritik zu verdanken hatte, bezeichnete ihn rückblickend als „geistreich und gedankenarm“.311 Weil er so zeitgemäß war, wollte er seine Originalität als großer Unzeitgemäßer beweisen. Weil er allen anderen Philosophen, von Platon bis zu Kant und Schopenhauer, Falschmünzerei bescheinigte, glaubte er sich selbst berechtigt, nach Belieben als Falschmünzer und Fälscher, nicht zuletzt als philosophischer Kosmetiker und Maskenbildner zu agieren,312 der sich vor der Demaskierung ebenso fürchtete wie vor dem Verwechseltwerden.313 Er sprach vom „kleinen Betrug“.314 Gerade deshalb erklärte er sich umso vehementer zum einzig „redlichen“ und rechtschaffenen, da der Wahrheit verpflichteten Dichter-Philosophen.315 Als Frührentner von der wohlwollenden Basler Behörde mit auskömmlichen Mitteln ausgestattet, verlegte sich der in seinem Elfenbeinturm von Krieg und Heldentum Träumende aufs Schwadronieren vom „Willen zur Macht“ – und dies, obwohl er selber als Sanitäter in einem Lazarett-Zug, der die Verwundeten von der Front im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 in die Heimat zurückbeförderte, das Leiden und das Elend der Soldaten unmittelbar erfahren hatte.
311 Paul Rée: Philosophie (Nachgelassenes Werk), Berlin 1903, S. 362. 312 Zur „Maske“ vgl. KSA 5,58, 25–28. 313 Vgl. hierzu Kapitel 8: ‚Freigeisterische Moralkritik: Nietzsches zentrales Thema von 1876 bis 1889‘ (S. 40–43). 314 KSA 3, 135, 23. 315 In Morgenröthe 456, thematisiert Nietzsche unter der Überschrift „E i n e we rd e n d e Tugend“ die „Redlichkeit“. Er verbindet sie mit dem unbedingten Willen zur Wahrhaftigkeit: „Man beachte doch, dass weder unter den sokratischen, noch unter den christlichen Tugenden die Redlichkeit vorkommt: diese ist eine der jüngsten Tugenden, noch wenig gereift, noch oft verwechselt und verkannt, ihrer selber noch kaum bewusst, – etwas Werdendes, das wir fördern oder hemmen können, je nachdem unser Sinn steht“ (KSA 3, 275, 23–28). Schon im Hinblick auf die „sokratischen Tugenden“ ist diese Aussage verfehlt, denn Sokrates hat nach dem Bericht Platons das Verfahren der philosophischen Rechenschaft (λόγον διδόναι) als methodisch konsequentes, gerade auf ‚Redlichkeit‘ und ‚Wahrheit‘ angelegtes Verfahren des Fragens praktiziert. Schon gar nicht trifft Nietzsches Aussage auf das schon längst gängige Verfahren der modernen Moralistik zu, die alle ‚moralischen‘ Standpunkte als illusionäre und unglaubwürdige entlarvt oder auf gesellschaftlich bedingte Heuchelei zurückführt. Zur ‚Redlichkeit‘ vgl. auch Nr. 370 und Nr. 556, sowie Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 344. In Ecce homo mutiert der Anspruch auf „Redlichkeit“ zur hybriden Egomanie: da alle andern Philosophen nur „Falschmünzer“ gewesen seien, sollen sie „nie die Ehre haben, dass der erste re ch t s ch a f f n e Geist in der Geschichte des Geistes, der Geist, in dem die Wahrheit zu Gericht kommt über die Falschmünzerei von vier Jahrtausenden, mit dem deutschen Geiste in Eins gerechnet wird“ (KSA 6, 361, 1–16).
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Von seinem Alter her hätte Nietzsche gerade noch das Ende des Ersten Weltkriegs erleben können, des „Nietzschean War“, und vielleicht hätte er noch 80 Jahre nach seiner Geburt den Bericht lesen können, den der Autor des ‚Radetzkymarschs‘ 1924 für die ‚Frankfurter Zeitung‘ schrieb. Joseph Roth: „Die Krüppel. Ein polnisches Invalidenbegräbnis“: In Lemberg wurde der berühmte polnische Invalide begraben, über dessen demonstrativen, heroischen Selbstmord alle Zeitungen der Welt berichtet hatten. Dieser Invalide sprach in einer Versammlung seiner Kameraden über die gemeinsame Not, schloß mit einem Hochruf auf die polnische Republik und schoß sich eine Kugel durch den Kopf. Er verließ das Leben früher als das Rednerpult. Man begrub ihn an einem jener trüben Tage, an denen der verhängte Himmel sehr nahe über unseren Köpfen zu hängen scheint und der liebe Gott dennoch ferner ist als je. Den Kondukt bildeten alle Invaliden der Stadt, alle Fragmente, alle gewesenen Menschen, die Hinkenden, die Blinden, die ohne Arme, die ohne Beine, die Gelähmten, die Zitternden, die ohne Gesicht und die mit zerschossenem Rückgrat, die Skrofulösen, die von der Liebe Zerfressenen, die Verblödeten und die taubstumm Gewordenen, die das Gedächtnis verloren hatten und sich selbst nicht erkannten und alle, für deren Krankheiten die Gelehrten noch keinen Namen gefunden haben, und die am Heldentum zu Grunde gehen. Es gab keinen Invaliden, der zu Hause geblieben wäre. Diejenigen, die humpeln konnten, humpelten; die kriechen konnten, krochen, und die sich überhaupt nicht bewegen konnten, lagen auf einem großen Lastauto. Leider fand dieses Begräbnis in Lemberg statt, im entlegenen Ostgalizien! Man hätte den Invaliden mitten in Europa begraben müssen, in Genf zum Beispiel, und Diplomaten und Feldherren einladen sollen. Denn es war ein Kondukt, wie man ihn nirgends zu sehen bekommt, und die polnischen Invaliden waren die Repräsentanten aller Kriegskrüppel der Welt, der internationalen Kriegskrüppelnation, deren gemeinsames Merkmal es ist, daß man ihnen verschiedene Merkmale weggeschossen hat, und die man unfehlbar daran erkennt, daß man sie nicht erkennen kann. Wir haben Massengräber gesehen, verschimmelte Hände, ragend aus zugeschütteten Gruben, Oberschenkel an Drahtverhauen und abgetrennte Schädeldecken neben Latrinen. Wer aber weiß, wie Ruinen aussehen, die sich bewegen; Schutt der sich rührt; Trümmer, die sich krümmen? Wer hat schon gehende Krankenhäuser gesehen, eine Völkerwanderung der Stümpfe, eine Prozession der Überreste? So war dieser Leichenzug. Tausende Krüppel zählte ich hinter dem Wagen. In Doppelreihen, so wie sie einmal in der Marschkompanie marschiert waren, bewegten sie sich vorwärts. Zuerst hinkten die Lahmen, zweihundert an der Zahl. Es waren jämmerliche Doppelreihen, ein entstellter Militarismus, eine groteske Truppe, und statt des gesunden, gleichmäßigen Rhythmus der Soldaten hörte man das ungleichmäßige Klopfen der Krücken auf dem holprigen Pflaster, eine Musik aus Holz und Stein, und dazwischen quietschten und knarrten die Gelenke der Prothesen, und aus den Kehlen der Kranken kamen verschiedene zischende Räusper- und Pfeifgeräusche, Gemurmel und Gestöhn. Hinter den Lahmen gingen die Blinden, gingen, tappten sich vorwärts in einer Welt aus schwarzem Samt, ein Blinder war dem andern Führer, alle vier in der Reihe hielten sich an den Händen fest, sie konnten nicht fehlgehen, sie hatten keinen Zusammenstoß zu fürchten, denn der Tote und der Tod ebneten ihnen den Weg. Sie hatten ihre Brillen und Binden abgenommen, man sah
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die ausgeronnenen Augen unter den vorgewölbten Stirnknochen, wie hohe Torbögen überschatteten die unteren Stirnränder die tiefen Augenhöhlen, die unbewohnten, grauenhaft leeren. Ein gleichmäßiges Schlürfen war hörbar, und Stöcke und Metallspitzen erklangen. So waren sie geordnet, alle nach ihren Schicksalen. Hinter den Blinden gingen die Einarmigen und hinter ihnen die Armlosen und nach den Armlosen die Kopfschüßler. Dann kam ein großes Lastauto, von dem ein solcher Schrecken ausging, daß man sein Rattern nicht hörte, denn stärker als das Hörbare wurde das Gesehene, und ein lautloser Jammer schrie so betäubend, daß er jedes Gepolter der Räder übertönte. Denn dieser Wagen sah aus, als käme er geradewegs aus einer furchtbaren Höllenphantasie. Da standen die Krüppel, deren ganzes Gesicht ein einziges gähnendes rotes Loch war, von weißem Verbandzeug eingesäumt, mit rötlichen Narbenrillen statt der Ohren. Da standen Klumpen von Fleisch und Blut, Soldaten ohne Gliedmaßen, Rümpfe in Uniform, die losen Ärmel auf dem Rücken zusammengebunden in einer koketten Grausamkeit. Da saßen die Rückenmarkschüßler, wie Taschenmesser, eine knappe Sekunde vor dem Zuklappen, die Rücken parallel zum Boden des Wagens. Da waren Männer, die ihre Finger fortwährend in der Luft herumschleuderten, wie tote Knochenbündel an Bindfäden, und andere, deren Gesichter seitwärts gewandt waren, links oder rechts, und andere, deren Gesichter rückwärts sahen, als hätte man ihnen den Kopf zurückgedreht. Das vorne war hinten, sie sahen unermüdlich zurück, als bannte sie die schreckliche Vergangenheit und als ließe das erlebte Grausen ihren Blick nicht los. Und all das war eine traumhafte Mischvision von Rot und faulendem Fleisch und rinnendem Rückenmark und gebrochenen Halswirbeln. Ganz hinten saß die Elite des schrecklichsten Schreckens, ein Mann, dessen Hals lang war, wie eine auseinandergezogene Harmonika, lang und faltig, und dessen Kopf bei jeder stärkeren Bewegung des Wagens hintenüber fiel, so daß der Boden der Mütze auf dem Nacken lag. Ganz lose saß der Kopf, ein schwerer Kürbis an dünner Kette aus welken Hautlappen. Hinter dem Auto schritten die Verblödeten. Sie hatten alles, Augen, Nase und Ohren, Beine und Arme, und nur der Verstand war ihnen ausgeronnen, und sie wußten nicht, wohin und wozu sie hier geführt wurden, sie sahen aus, wie Brüder, sie erlebten alle dasselbe große vernichtende Nichts, wie gelbe Nullen waren ihre Gesichter, und alle Münder standen halbgeöffnet in reglosem Lächeln. So belächelten sie blöde den Toten und die Welt, die Straße, die Häuser, die zusehenden Menschen. Ja, die Menschen blieben stehen und sahen zu und rührten sich nicht. Es begann zu regnen, und niemand spannte den Regenschirm auf, obwohl viele mit Schirmen ausgerüstet waren. Es tropfte stärker, ein Wind erhob sich, und über dem Leichenzug, knapp vor dem Knaben im weißen Hemd, der das mattschimmernde Metallkreuz trug, segelte eine dunkelblaue Wolke, zackig, wuchtig und schwer, und streckte vorne einen Zipfel aus, wie einen zerfetzten Zeigefinger, um den Krüppeln den Weg nach dem Friedhof zu weisen. Dritte Folge der dreiteiligen Serie ‚Reise durch Galizien“, Frankfurter Zeitung, 23. November 1924.
Nicht nur im fernen Lemberg, sondern in allen deutschen Großstädten war ähnliches Elend zu sehen. Es gab 2,7 Millionen Kriegsversehrte allein in Deutschland. Verkrüppelte Bettler gehörten zum Straßenbild. In Berlin entstanden für sie zwanzig Heime, und das Schlimmste blieb darin verborgen. Mehr als zwei Millionen deutsche Soldaten starben in diesem Krieg, viele Millionen Soldaten der anderen kriegführenden Nationen.
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Der ‚Wille zur Macht‘ im Zeitalter des Imperialismus und Faschismus
Schon zwei Monate vor Beginn des Ersten Weltkriegs hatte Heinrich Mann seinen satirischen Zeitroman Der Untertan vollendet, der erst 1918 erscheinen durfte. Er stellt die „Macht“-Anbetung des Untertanen ins Zentrum und antizipiert prophetisch die Kriegs-Katastrophe. Ähnlich sensationellen Erfolg wie Heinrich Manns psychologisch durchdringende Analyse der „deutschen Seele“ hatte der 1929 erschienene, realistisch-nüchterne Antikriegs-Roman Im Westen nichts Neues. Er stellt die Greuel des Krieges dar und wurde zu einem Welt-Bestseller. Beide Werke rangierten ganz oben auf der Liste der Bücher, welche die Nazis bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 ins Feuer warfen. Sie standen im scharfen Kontrast zur Kriegsverherrlichung, der Ernst Jünger im ausdrück lichen Anschluss an Nietzsche in seinem Frontbuch In Stahlgewittern frönte.
23.2 Die deutsche Universität unterm Hakenkreuz Die Rolle der führenden Nietzsche-Publizisten Alfred Baeumler und Ernst Bertram anlässlich der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933. Baeumlers Endkampf-Parolen zu Nietzsches 100. Geburtstag am 15. Oktober 1944 in der nationalsozialistischen Parteizeitung ‚Völkischer Beobachter’
Noch einmal sollte Nietzsches Stunde kommen. Im Jahr 1944, als der Zweite Weltkrieg viele Millionen Tote gekostet hatte, als die deutschen Städte in Schutt und Asche versanken und Frauen und Kinder unter den Trümmern begruben, als die Alliierten auf der Konferenz von Jalta die bedingungslose Kapitulation („unconditional surrender“) Deutschlands beschlossen, als fünfzehn Millionen Flüchtlinge ihre Heimat verloren, als immer mehr die ungeheuren Verbrechen des Hitler-Regimes und seiner Handlanger in den Konzentrationslagern und durch die Mordbanden der sogenannten Einsatzgruppen316 und der SS-Divisionen ans Licht kamen, als Kriegstreiberei und Kriegshetze das Inferno im „totalen Krieg“ endgültig entfesselt hatten, ‒ in diesem Jubiläumsjahr erschien ein großer Artikel zu Nietzsches hundertstem Geburtstag im ‚Völkischen Beobachter‘, dem 316 Hierzu die mustergültig recherchierte und fundierte Studie von Christopher R. Browning: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992 [deutsche Übersetzung: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung” in Polen, aus dem Englischen von Jürgen Peter Krause, Reinbek bei Hamburg 1993]. Die geheimen Berichte der Einsatzgruppen aus der Sowjetunion sind dokumentiert in den von Klaus-Michael Mallmann, Andrej Angrick, Jürgen Matthäus und Martin Cüppers herausgegebenen Bänden: Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Bd. 1: Die „Ereignismeldungen UdSSR“ 1941, Bd. 2: Deutsche Besatzungsherrschaft in der UdSSR 1941–1945, Bd. 3: Deutsche Berichte aus dem Osten, Darmstadt 2011–2014.
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Zentralorgan der Nationalsozialisten. Angesichts der unaufhaltsam herannahenden Katastrophe erschien Nietzsche darin als heroischer Verkünder eines bis zum Untergang durchhaltebereiten Kriegswillens. Der Verfasser war Alfred Baeumler, der sich als fanatischer Nazi und Antisemit ähnlich wie Heidegger besonders vom „Willen zur Macht“ inspiriert zeigte. 1930 war Baeumler Mitbegründer des völkisch-antisemitischen ‚Kampfbunds für deutsche Kultur‘. 1933 wurde er vom natio nalsozialistischen preußischen Kulturminister Bernhard Rust ohne Mitwirkung der Fakultät auf einen neu errichteten Lehrstuhl für Philosophie und Politische Pädagogik an der Berliner Universität berufen. Er hatte persönlichen Kontakt zu Hitler und seinem Chefideologen Alfred Rosenberg317 und fungierte als Organisator des deutschen Bildungswesens im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie. Am 10. Mai 1933 fanden in den deutschen Städten die von den Nationalsozialisten organisierten Bücherverbrennungen statt. Reichspropaganda-Minister Joseph Goebbels hielt aus Anlass der „Verbrennung undeutschen Schrifttums“ eine programmatische Rede.318 Der Nietzsche-Herausgeber Alfred Baeumler, der sich besonders auf den ‚Willen zur Macht‘ und die entsprechenden Texte in Nietzsches Nachlass konzentrierte und davon während des Dritten Reichs zahlreiche Taschenausgaben veröffentlichte, hielt an der Berliner Universität seine Antrittsvorlesung ‚Wider den undeutschen Geist‘ und rief am Ende die Studenten zur Bücherverbrennung auf dem gegenüberliegenden Opernplatz auf. Bei der von der Bonner Studentenschaft veranstalteten Kundgebung ‚Wider den undeutschen Geist‘ rezitierte Professor Hans Naumann in seinem Aufruf zur Bücherverbrennung ein Gedicht von Ernst Bertram, dem Bonner Ordinarius für Literaturgeschichte und Verfasser des bis Ende der 20er Jahre erfolgreichsten Nietzschebuchs. „Aus dem erlauchten Kreis um Stefan George, vom Dichter Ernst Bertram“, so Naumann, „bekamen wir folgenden Weihespruch mit auf den Weg:
317 Christoph Jahr: Die nationalsozialistische Machtübernahme und ihre Folgen, in: Bruch, Rüdiger vom/Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.): Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010, Bd. 2: Biographie einer Institution. Die Berliner Universität zwischen den Weltkriegen 1918–1945, Berlin 2012, S. 295–324. 318 Abdruck in der Zeitung Der Angriff am 11. Mai. Es existiert auch ein Tondokument dieser Rede.
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Feier der Jugend Laßt euch nicht irren: tragt Nur Reisig für euer Gericht! Allzu duldend besteht Jugend nicht vor dem Herrn. Verwerft was euch verwirrt, Verfemt was euch verführt! Was reinen Willens nicht wuchs, In die Flamme mit was euch bedroht! (sic!) Aber zu sondern wißt Den heilig fremderen Keim: Flamme des Dankes dereinst Lodert Geschontem hinauf.319
Als Baeumler am 10. Mai 1933 seine Antrittsvorlesung „Wider den undeutschen Geist“ hielt, erschien der größte Teil der Studenten in SA-Uniform. Zu Beginn der Vorlesung marschierte eine studentische Fahnenabordnung mit dem Hakenkreuzbanner ein. „Sie ziehen jetzt hinaus“, rief Baeumler seinen Hörern zu, „um Bücher zu verbrennen, in denen ein uns fremder Geist sich des deutschen Wortes bedient hat, um uns zu bekämpfen … Was wir heute von uns abtun, sind Giftstoffe, die sich in der Zeit einer falschen Duldung angesammelt haben“.320 Ein Zug von Fackelträgern marschierte zum Opernplatz. Das nationalsozialistische Parteiblatt ‚Völkischer Beobachter‘ berichtete, dass durch die Verbrennung von 20 000 Büchern der „Deutsche Geist“ gereinigt wurde. Man kann Nietzsche nicht unmittelbar für alles, was auch in seinem Namen verübt wurde, verantwortlich machen, aber die sozial und politisch verantwortungslose Radikalisierung und Enthemmung aller Vorstellungen, einschließlich der Greuel, auf welche die Forderung nach „schonungsloser Vernichtung alles Entartenden“ hinauslief, und generell sein „dionysischer“ Vernichtungsrausch machten ihn zum Brandstifter. Dass seine zerstörerischen und enthemmenden Radikalismen auch mitbedingt sein können durch seine seit 1880 immer deutlicher zu Tage tretenden Wahnsinnsschübe und seinen zerrüttenden Opium-
319 Ernst Bertram: Wartburg. Spruchgedichte, Leipzig 1933, S. 66. Die Gedichte entstanden im Laufe des Jahres 1932. Abdruck in: Gerhard Sauder (Hg.): Die Bücherverbrennung. Zum 10. Mai 1933, 2. Auflage, München 1985. Dieses Buch enthält zahlreiche Foto-Dokumente von der Bücherverbrennung. 320 Alfred Baeumler: Männerbund und Wissenschaft, Berlin 1934.
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Konsum, dass Nietzsche unter einem ererbten zerebralen Übel litt, das mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine syphilitische Infektion noch verschlimmert wurde – das alles gehört zu einem multifaktoriellen Syndrom, das jede monokausale Erklärung, aber auch einfache Schuld-Zuweisungen oder Entschuldigungen problematisch erscheinen lässt. Das gilt auch für die Tatsache, dass Nietzsche im Gegensatz zu seiner auf Originalität bedachten Selbststilisierung gerade mit seinem „Willen zur Macht“ nur die zeitgenössischen Tendenzen des Imperialismus und einer biologistisch und rassistisch deformierten Welterklärung aufnahm. Historisch entscheidend, noch mehr als seine Kriegshetze, ist die Ideologisierung und Mythologisierung321 des Nietzsche-Bildes durch den Nietzsche-Kult im Zeit alter des Imperialismus und Faschismus. Unabhängig davon ist dieTatsache, dass Nietzsche als Fälscher agierte und trotz seines Originalitäts-Anspruchs in wesentlichen Bereichen Kompilator und Plagiator war.
321 Speziell hierzu trug der George-Kreis bei, am erfolgreichsten Ernst Bertram in einem Werk, dessen Titel schon das Programm der Mythologisierung reflektiert: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918. Von diesem Buch, das für Thomas Mann von großer Bedeutung bis hin zum Doktor Faustus war, erschienen zwischen 1918 und 1929 fast jährlich Neuauflagen.
Bibliographie Der erste Teil der Bibliographie verzeichnet Nietzsches Quellen sowie zeitgenössische Editionen und Werke, die zum Kontext gehören. Um die Benutzung zu erleichtern, sind moderne Editionen wichtiger Quellentexte beigefügt. Die am Ende vieler Titel stehende Sigle NPB weist auf Werke in Nietzsches persönlicher Bibliothek, die Sigle BUB auf Werke, die er während der Arbeit aus der Basler Universitätsbibliothek entlieh. Andere Titel sind aus Nietzsches Schriften, seinem Nachlass, aus seinen Briefen und den Aufzeichnungen zu seinen Vorlesungen erschlossen. Damit die Angaben zu Nietzsches Bibliothek in vertretbaren Grenzen bleiben, werden besonders umfangreiche Werkkomplexe (mehrere umfassen 30 oder 40 Seiten) mit einem summarischen Hinweis auf die detaillierten Verzeichnisse in dem 2003 erschienenen Katalog Nietzsches persönliche Bibliothek versehen. Der zweite Teil der Bibliographie gilt markanten Texten der Wirkungsgeschichte, der modernen wissenschaftlichen Literatur und ihren Zusammenhängen, ferner übergreifenden Darstellungen und Kontexten.
1 Quellen und zeitgenössische Literatur Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach, hg. von Hellmut Flashar. Bd. 19: Problemata physica, 3. Auflage, Berlin 1983 (andere Aristoteles-Ausgaben NPB 114–125). Bacon, Francis: Neues Organ der Wissenschaften. Aus dem Lateinischen übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen begleitet von Anton Theobald Brück, Leipzig 1830 (NPB 129). Bacon, Francis: The works of Francis Bacon. Collected and edited by James Spedding, Robert Leslie Ellis, Douglas Denon Heath, 14 Bde., London 1857–1874 (nicht in NPB) [Nachdruck Stuttgart 1963]. Bacon, Francis: Neues Organon [von Franz Baco]. Uebersetzt, erläutert und mit einer Lebensbeschreibung des Verfassers versehen von J[ulius] H[ermann] von Kirchmann, Berlin 1870 (andere Ausgabe NPB 129). Baeumler, Alfred: Männerbund und Wissenschaft, Berlin 1934. Baeumler, Alfred: Friedrich Nietzsche zu seinem 100. Geburtstag am 15. Oktober, in: Völkischer Beobachter vom 13. 10. 1944, S. 1 f. Bagehot, Walter: Der Ursprung der Nationen. Betrachtungen über den Einfluss der natürlichen Zuchtwahl und der Vererbung auf die Bildung politischer Gemeinwesen. Autorisirte Ausgabe, Leipzig 1874 (NPB 129 f.). Bahnsen, Julius: Beiträge zur Charakterologie. Mit besonderer Berücksichtigung pädagogischer Fragen, 2 Bde., Leipzig 1867 (NPB 130). Bahnsen, Julius: Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt. Prinzip und Einzelbewährung der Realdialektik. Zweiter Band, Leipzig 1882 (NPB 130). Bain, Alexander: Geist und Körper. Die Theorien über ihre gegenseitigen Beziehungen. Autorisirte Ausgabe, Leipzig 1874 (NPB 131). Baudelaire, Charles: Les fleurs du mal. Précédées dʼune notice par Théophile Gautier. Nouvelle édition, Paris 1882 (NPB 131 f.). Baudelaire, Charles: Œuvres complètes, Paris 1868–1870 (nicht in NPB).
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Bibliographie
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Quellen und zeitgenössische Literatur
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Bibliographie
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Quellen und zeitgenössische Literatur
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Quellen und zeitgenössische Literatur
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Quellen und zeitgenössische Literatur
149
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Bibliographie
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Gesamtregister Namen, Themen, Begriffe Vorbemerkung zur Anlage und zur Funktion des Registers 1. Nach der Verzeichnung eines Namens steht in Klammern der mit einem Pfeil, gegebenenfalls mit mehreren Pfeilen versehene Hinweis auf andere Namen, auf Werke, Themen oder Begriffe, unter denen der im Stichwort angegebene Name in diesem Buch relevant ist. Beispiele: Abel, Günter (→ Wille zur Macht) Alewyn, Richard (→ Hofmannsthal → Kafka) Anaximander (→ Vedanta – Schopenhauer → Individuation als „Schuld“ → Kafka) 2. Nach der Verzeichnung eines Werktitels oder eines Begriffs steht der mit einem Pfeil versehene Hinweis auf andere Begriffe, Werktitel, Namen oder Themen, unter denen der im Stichwort angegebene Begriff in diesem Buch relevant ist. Beispiele: Décadence, dekadent (als Leitbegriff im späten 19. Jahrhundert und bei N.) → Epigonentum Freigeist (→ N. → Ludwig Büchner) Oper, N.’s Verfälschung der Operngeschichte (→ Wagner) „Tod Gottes“ (als Voraussetzung für die → Umwertung aller Werte) 3. Die mit Pfeil versehenen Hinweise beziehen sich meistens auf andere im Register stehende Stichworte, gelegentlich auch auf darüber hinaus reichende Komplexe. Abel, Günter (→ Wille zur Macht), 12 31 Abenteuer (→ Freigeist → Rittertum → Duell → Nietzsche → Kafka → Musil), 58, 59, 98 acte gratuit, 22 Adel, adlig (N.s Vorstellungen → Morgenröthe → Zarathustra), 57–62, 72 Adelsethik (→ Homer, Ilias), 60 Adelsgesellschaft (archaische) (→ Homer), 60 Adelsproblematik, zeitgenössische, 57 Affekte, stoische Überwindung (→ Chrysipp → Epiktet), 70 Aischylos (→Tragödie), 75 Aktivismus, „Aktion“ (→ N. → Ablehnung bei Musil), 114, 117 Alabanda (Figur in Hölderlins Briefroman Hyperion), 53 Alewyn, Richard (→ Hofmannsthal → Kafka), 108–110 Alexander der Große (→ Euripides), 77 Alkaios (→ Tyrannis, Adel), 63 Alleinherrschaft (→ Tyrann, Tyrannis), 63 Amerika (→ Sklaverei), 24 61
Anaximander (→ Vedanta → Schopenhauer → Individuation als schicksalshafte „Schuld“, → Kafka), 110 (der) „andere Zustand“ (→ Musil → Neumystik), 112 Andreas-Salomé, Lou, 23 54 Angst, N.s Angst, „verwechselt“ zu werden (→ Rée), 41 f. Anomie (→ Nietzsche → Musil), 117 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum, Spätschrift N.s, 131 antichristlich, 18, 41 Antiidealismus, (→ Materialismus), 18 (falsche Opposition von) Antike und Moderne bei N., 52 f. antiklerikal (→ Freidenker-Bewegung, N.s Anschluss an diese), 16 antimetaphysisch (→ Atheismus → Monismus → Ludwig Büchner → Haeckel), 18 f. Anti-Moral (→ Immoralismus → Moralkritik → Christentum), 56
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Gesamtregister
Antisemitismus, 135 Anti-Slavery-Society (→ Schopenhauer), 24 Anz, Thomas (→ Expressionismus), 33 85 Aphorismen, aphoristisches Genre (→ Moralistik), 40–47 Apokalyptik (→ Expressionismus → Th. Mann), 126 f. Apollinisch – Dionysisch, 4 Aporie der Konzeption des „Übermenschen“ und des „Willens zur Macht“, 26, 29 Aporie des Schreibens (→ Kafka), 102–104 Arbeit (→ Wertung der Arbeit), 23 Aristokratie, aristokratisch, Aristokratismus N.s, 57–62, 72 Aristophanes (→ Komödie → A. W. Schlegel), 75–77 (→ Dionysos-Mysterien), 81 Aristoteles (→ Ethik → Erkenntnis → Philosophie → Metaphysik → Glück), 37, 54 f., S. 63 „Arten“ („Species“) bei Darwin, 67 f. Aschheim, Steven E. (→ Nietzsche-Kult → Musil), 4 15, 6, 116 Asket, asketisch (→ Schopenhauer → Stoa, Kynismus), 70 Asket (→ Schopenhauer → Heiliger → Buddhismus → Affekt- u. Triebreduktion), 11 Ästhetik, 64–66 Ästhetizismus, 64 Ästhetizismus und „Artistenbekenntnis“ Thomas Manns, 120 Ataraxie (→ Stoa), 70 Atheismus (→ Materialismus), 18 Athenaios (→ „Buntschriftstellerei“), 39 95 Aufklärung, physiologisch u. naturalistisch verengte, 40 Aufklärungsprozess (Radikalisierung → Freidenker-Bewegung), 40 Augustinus (→ Stoa → Askese), 70 Ausbeutung, 23 Auslese, „natürliche Auslese“ (→ Darwin), 67 Ausrottung (→ Vernichtung) als biologistische Wunschvorstellung N.s, 129 Autobiographie, identitätstiftende (→ Rousseau → Goethe → N.), 84
Autorität (→ Gewohnheit → Sitte → Gesetze), 28 Avenarius (→ Nietzsche → Kafka), 95 224 Baeumler, Alfred (→ Wille zur Macht → Bücherverbrennung), 6, 135 f. Basel (→ Universität), 50 f., 88, 131 Baumann, Johann Julius (→ Ethik), 21 Becker, Wilhelm Carl (→ „Nietzsche-Kultus“), 1 Beicken, Peter U. (→ N. → Kafka), 95 225 Bellarmin (Figur in Hölderlins Briefroman), 53 Benn, Gottfried (→ Nietzsche-Kult → Dionysos → Rausch), 2 Berliner Universität, ihre Geschichte bis zum Ende des Dritten Reichs (→ Bücherverbrennung), 129 304 Bernhardy, Gottfried (→ Euripides), 77 Bertram, Ernst (→ George-Kreis → Th. Mann → Nietzsche-Mythologisierung → Bücherverbrennung), 119, 120 Beßlich, Barbara (→ N. im 1. Weltkrieg), 128 304 N.s „Betrug“, 44 Bildung, (N.s) Bildungsbegriff, 64–66 Binder, Hartmut (→ Kafka), 104 243 Biologismus N.s, 29 (→ Rasse, Rassismus), 129, 137 (→ Darwinismus), 68 Böhm, Wilhelm (→ Zurückweisung der FaustMythologisierung → Thomas Mann), 125 f. Boscovich, Roger Joseph (→ Naturphilosophie → Kraft → Materie), 17 Brahma, 12 (N. als) Brandstifter, 136 Bräuche (Gewohnheit → Sitten → Moral → Vorschrift), 28, 41 Bridgewater, Patrick (→ N. → Kafka), 95 225 Broch, Hermann (→ Fragmentierung des Ichs → Kafka), 109 Brod, Max (→ Kafka), 95 225 Bronn, Heinrich Georg (→ Darwin), 67–69 Browning, Christopher R. (→ 2. Weltkrieg), 134 316 Bruhn, Nils (→ N. im 1. Weltkrieg), 128 304 Brüssel (→ Freidenker-Verband), 16 Buber, Martin (→ Kafka → Musil → Neumystik), 109
Gesamtregister
Bücherverbrennung (1933), 134, 135 f. Büchner, Georg, 16 Büchner, Ludwig (→ Kraft und Stoff → Materie, Naturalismus → physiologisch → Frei denker-Verband → Freigeist → Darwin), 16–18 Buddhismus, buddhistisch (→ Schopenhauer → Affekt- u. Triebreduktion → Nihilismus), 11 f., 99, 110 „Buntschriftstellerei“ als Stilideal N.s (→ menippeische Satire), 38 f. Burdach, Konrad (→ Kritik an N.s Konzept des ‚Übermenschen‘ → Faust → Thomas Mann), 126 Bürgertum, bürgerlich (→ Kafka → Thomas Manns N.-Bild) 103, 120 Cabanis, Pierre Jean Georges de (→ Physiologie), 18 Camillus (→ Helden), 61 Campioni, Giuliano (→ N.s persönliche Bibliothek), 12 31 Cassius Dio, 70 „Causalität“ (→ Naturwissenschaft), 16 Cersowsky, Peter (→ Kafka im zeitgenössischen Kontext des Surrealismus), 98 234 Chor, Funktion in der griechischen Tragödie und in Schillers Braut von Messina, N.s Mißverständnis, 73 f. Christentum, christlich (N.s antichristliche Position → Freidenker → Freigeist), 41 Chrysipp (→ Stoa → Psychotherapie), 71, 77 Cicero (→ Rhetorik → Freundschaft), 46, 52, 56, 77 „Conjunctivus potentialis“ (→ Musil), 111 f. Dabezies, André (→ Faustfigur → Thomas Mann), 123 123 Danzig, Samuel (→ Paul Rée), 42 103 Darwin, Charles (→ Evolutionslehre), 18, 41, 67–69 darwinistisch (→ Darwin), 69 Daum, Andreas W. (→ Naturwissenschaft → Populärwissenschaft), 19 David, Claude (→ Kafka), 95 225
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Décadence, dekadent (als Leitbegriff im späten 19. Jahrhundert und bei N.), 90 f., (→ Epigonentum), 110, 127 Décadence-Diagnose (→ N. → Thomas Mann), 90 f., 120, 126 deduktiv (→ induktiv) (→ Platonismus → Idealismus → „Begriffe“ → Musil), 113 Dekalog (→ Moral-Gesetze), 26, 28 Dekomposition als Erzählstruktur (→ Fragmentierung → Ich-Dissoziation → Kafka), 97 f. Demaskierung (N.s Angst vor), 131 Demeter (→ Mysterien), 81 Demodokos (→ Homer), 60 Demokratie, demokratisch (N.s Gegnerschaft → Privilegien → Kultur → Tocqueville), 63 Depersonalisierung (→ Doppelgänger → E.T.A. Hoffmann → Sigmund Freud → Kafka), 97 Dilettant, Dilettantismus (→ Musil), 114 „Ding an sich“ (→ Kant → Schopenhauer), 15 37, S. 31 Diogenes Laërtios (Laërtius) (→ Kynismus → Stoa → Epikur →zentrale Quelle für N.), 39 95 dionysisch, (das) „Dionysische“ (→ „Leben“ → Irrationalismus → das „Apollinische“), 2, S. 90, 126 Dionysos (→ Geburt der Tragödie → Mythos), 79–81 Dionysos (→ Rausch → „Leben“ → Irrationalismus → Benn), 2 Dionysos-Kult, 74, 79–81 Dionysos-Mysterien, 80 f. Dionysos-Mythos, 79–81 Dissoziation (→ E.T.A. Hoffmann → N. → Sigmund Freud → Kafka), 95–110 Dix, Otto (→ Musil → Moosbrugger → Lustmord), 117 268 Don Karlos (Schillers Drama → Freundschaft), 53 Doppelgänger-Figuren (→ Jean Paul → E.T.A. Hoffmann → Dostojewski → Kafka), 97–98 Drossbach, Maximilian (→ Kraft), 19 Dualismus, innerer, der Persönlichkeit (→ E.T.A. Hoffmann → Kafka)
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Gesamtregister
Duell, Duellwesen (N.s Hochschätzung, dagegen Schopenhauer und Fontane), 57, 63 Dürer, Albrecht (→ Thomas Mann), 126 f. Dynamismus (N.s → Musil → Aktivismus), 113, 124) (Meister) Eckart (→ Kafka → Musil → Neumystik), 109 Editionsgeschichte des „Willens zur Macht“, 5–10 „Ego“ (→ Individualismus), 22 „Egoismus“ (→ Altruismus → „Ego“), 41 Ego-Trip N.s, 70–72, 130 Ehrbegriff N.s, 57–63 „Eigenschaften“ bei Musil, 111 „Einsamkeit“ N.s, 130 „Einsatzgruppen“: Gräueltaten im 2. Weltkrieg, 134 316 „Eitelkeit“ (als Thema der Moralistik → Paul Rée → N.), 84 191 Eleusis (→ Mysterien), 81 Engelbrecht, Kurt (→ Faust im Nationalsozialismus), 125 „Entartung“, 129, 136 Enthemmung durch N., 127–128, 136 Entindividualisierung (→ Kafka), 110 Entscheidung (→ Dezisionismus), 34, 36 Entstellung der philosophischen Tradition und der deutschen Philosophie durch N., 54–56 Entstellung der griechischen Mythen durch N., 78–81 Entwertung (→ Wertschätzungen, Wertsetzungen), 29 Entwicklung (→ Darwin → Evolution), 67–69 Entwicklungsgeschichte (→ Darwin → Evolution → Haeckel), 18, 67–69 Epigonalitätsbewußtsein (im 19. Jahrhundert, N.s Kritik → Historie), 90–91 Epigonen, Epigonentum (→ in der Literatur des 19. Jahrhunderts → Th. Mann), 90 f., 110, 127 Epiktet (→ Stoa → Ethik), 70–72 Epikur (→ Ethik → Psychotherapie → Freundschaft), 45, 71 erkennen (→ Wille, Wollen → Zarathustra), 3, 35
„Erlösung“ (→ Schopenhauer → Kafka → Musil), 110, 117, 118 Erregung, Aufsehen erregen als N.s Strategie (→ Rée), 43 Eroslehre in Platons Symposion, 53 Erzählen, personales (→ Kafka), 103 Essayismus, Essay (→ Montaigne → N. → Musil), 111–118 Ethik, ethisch (→ Stoa → Epiktet → Spencer), 21, 70–72 Ethnologie, 41 Etikettenschwindel N.s, 85–94 Eucken, Rudolf (→ N. im 1. Weltkrieg), 128 304 Euripides (→ Tragödie → Aufklärung), 75–77, 83 „Euripides-Cultus“, 75–77 Eurybiades (→ Salamis), 61 Evolution (→ Darwin), 41, 67–69 „ewige Wiederkehr des Gleichen“, 3 Experimentalphilosophie (→ Naturalismus → Aufklärung → Erkenntnis → „Wahrheit“ → unendliche Progression → Morgenröthe → Musil), 113 Experimentalpsychologie (→ Ernst Mach → N. → Kafka), 96 Expressionismus, expressionistisch (→ Irra tionalismus → Wirkungsgeschichte N.s → Kafka → Musil), 100, 109, 115 Exzerpte (N.s), 10 Falkenberg, Hans-Joachim (→ N. im Nationalsozialismus), 6 24 (N. als) Fälscher, 73 f., 77, 87, 131 „Falschmünzer“ (→ Ecce homo → N. als Falschmünzer), 54–56, 131 Fanatismus (N.s Selbstbezichtigung), 87 Faschismus (→ Wirkungsgeschichte N.s → ‚Zeitalter des Imperialismus und des Faschismus‘ → N. → Thomas Mann), 121 Faust bei Goethe (→ N. → Kafka → Persönlichkeitsspaltung → Psychomachie), 96 Faust als deutsche Identifikationsfigur vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, 123–127 Faust, August (→ Bücherverbrennung → N. im 2. Weltkrieg), 128 304
Gesamtregister
Faust-Ideologie und N.-Mythologie bei Thomas Mann, 118–127 Fehlen künstlerischer Begabung bei N. (→ Urteil Overbecks), 39 „Fehler“ und „Mangel an Wahrheitsliebe“ (Kritik von Wilamowitz an N. → Die Geburt der Tragödie → Friedrich Ritschl → Hermann Usener), 49–51 Feuerbach, 29 Ficino, Marsilio (→ Platon → Neuplatonismus), 53 Fick, Monika (→ Monismus), 19 45 Figal, Günter (→ Heidegger), 37 93 Flasch, Kurt (→ N. im 1. Weltkrieg), 128 304 Florenz (→ Platonismus → Neuplatonismus), 53 Fontane, Theodor (→ Adelsproblematik im 19. Jahrhundert), 57 f. Formel(n) (N.s Formierung von Schlagwörtern), 2–3 Fornari, Maria Cristina (→ N.s persönliche Bibliothek → Campioni) Förster-Nietzsche, Elisabeth (→ Nietzsche-Kult → Hitler), 6 Förster, Bernhard, 89 Forschungsdiskussion zum „Willen zur Macht“, 12–14 Fragmentierung, fragmentierte Persönlichkeit, fragmentiertes Erzählen (→ Kafka → Broch), S. 97 f., 109 Frauen (→ N.s Wirkung auf Frauen → Musil), 115 f. Frauenmörder als zeitgenössisches Thema (→ Musils Moosbrugger-Figur → Lustmord → zeitgenössische Malerei), 117 268 Freidenker, Freidenker-Bewegung (Bedeutung für N. → Ludwig Büchner → antichristlich → antiklerikal), 16–19 Freidenkertum (→ Paul Rée → N.s Übernahmen), 40–43 Freidenker-Verband, 16 Freigeist, freigeisterisch (→ N. → Ludwig Büchner), 40–43, 44 Freud, Sigmund (→ Kafka), 97, 98, 108 Fronterotta, Francesco (→ N.s persönliche Bibliothek → Campioni)
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Führer, führen, Geführte (N.s Plädoyer → Heidegger), 35, 257 Fürst (→ Machiavelli), 22 Galenos (→ Stoa → Psychotherapie), 71 Ganzheitsbedürfnis (→ Lebensreform-Bewegung → Kafka), 110 Gapon, Georgi (→ Kafka), 105 244 Gast, Peter (Pseudonym für → Köselitz, Heinrich), 7, 129–130 Gebote, die zehn (→ Dekalog → Moral-Gesetze), 41 Gedankenarmut N.s (→ Paul Rées Urteil), 38 „Gefühl“ (→ Wagner → Unbewusstes → N.: „Gefühl der Macht“), 93 217 „Gefühl der Macht“ (als Begriff N.s → Morgenröthe → Ohnmachtsgefühl), 20, 22, 90 „Geheimcultus“ (→ Mysterien), 80 Geistphilosophie (→ Hegel → Idealismus), 18 (die) Gelehrten (N.s Urteile), 50 Genealogie, genealogisch, genealogische Methode, 38 Genesis, 68 f. Genialitätsanspruch (N.s → Originalität), 91 Genie, Genialität (→ Original → Schopenhauer → N.), 16, 38, 40–43, 130 Genie-Ideologie (→ Schopenhauer → N. → Musil), 114 „Genie und Wahnsinn“ (→ antike und neuzeitliche Tradition → Lombroso → N. → Musil → Thomas Mann), 1 f, 116 f., 120 „Genie-Moral“ (→ Musil), 111 f. George-Schule (→ Ernst Bertram → Thomas Mann), 137 321 Geschichte der Freundschaft, 52 f. Geschichtsauffassung N.s (→ 2. Unzeitgemäße Betrachtung), 89 f. Geschichtsklitterung in Th. Manns Doktor Faustus, 123 Geschichtsschreibung, Geschichtswissenschaft, 4, 16, 90 Geschlechtsliebe, 53 Gesetze (biblische Moralgesetze → Dekalog), 26, 28 „Gesundheit“ als kompensatorische Ideologie bei N., 37, 130
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Gewalt (→ Macht → Zarathustra → Jenseits von Gut und Böse), 31 f. Gewaltideologie N.s, 31 f., 113 f., 128 Gewaltverherrlichung N.s, 31 f. Gewissen (→ Normen → Moral → Paul Rée), 40 Gewohnheiten (→ Sitten → Moral → Vorschriften), 41 Gleichheit (→ Demokratie → Tocqueville → Gesetz → Menschenrechte), 63 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig (→ Freundschaft), 52 Glinski, Sophie von (→ Kafka), 98 234 Gluck, Christoph Willibald (→ Oper), 82 Glück (→ Aristoteles → John Stuart Mill), 20, 22 Goebbels, Joseph (→ Bücherverbrennung), 135 Goethe, Johann Wolfgang, 46, 53. S. 64–66. S. 73 f. Goth, Maja (→ Kafka), 98 233 „Gott“ als Legitimationsinstanz und Machtinstanz (in der Bibel → Moral-Gesetze), 28 Grabbe, Christian Dietrich (→ Thomas Mann), 124 Graf, Friedrich Wilhelm (→ Theologie → David Friedrich Strauß), 86 193 Grausamkeit, 41 Gray, Richard T. (→ Kafka), 102 241 Griechen, griechische Literatur, 57 „Große Gesundheit“ als Imagination des kranken N., 130 Großmannssucht N.s (in der zeitgenössischen Kritik), 87 f. Grosz, George (→ Musil), 117 268 „Grund“ bei Heidegger, 33 Gründer, Karlfried (→ Geburt der Tragödie, Streit), 49 114–118 „Gut“ – „Böse“ (→ Wertungen → Paul Rée), 40 Haase, Marie-Luise (→ Wille zur Macht), 10 27 Haeckel, Ernst (→ Monismus), 18 f. Haffner, Sebastian (→ deutsche politische Geschichte im 20. Jahrhundert), 129 304 Händel, Georg Friedrich (→ Oper), 82 Hanslick, Eduard (→ Oper → Geburt der Tragödie → Wagner), 82 f. Harmonia (→ Euripides), 75 f.
Hartmann, Eduard von (→ „Unbewusstes“ → Pessimismus → Psychoanalyse → Freud), 92–94 Hartung, J. A. (→ Euripides), 77 Hecht, Marie (→ N. und die Frauen → Musil), 116 267 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (→ GeistPhilosophie → Idealismus → „Hegelei“ → Ästhetik → Geschichte → Schopenhauers Polemik) „Hegelei“, 85, 86 (→ Schopenhauer), 93 Heiber, Helmut (→ N. im 2. Weltkrieg), 36 92, 129 304 Heidegger, Martin (→ „Wille zur Macht“ → Hitler), 7 f., 27, 33–37 Heiliger (→ Schopenhauer → Asket → Buddhismus), 11 Heine, Heinrich (→ Sensualismus → Idealismus → Junges Deutschland → Romantische Doppelgänger → Kafka), 64 f., 97, 124 Held, Heldentum (bei N. → Krieg), 131, 132 Heldenlieder, Heldensagen (→ Homer), 59 Heldengestalten, heroisch, 60 Heldentum (→ Wille zur Macht → Thomas Carlyle → Schopenhauer → N. → 1. und 2. Weltkrieg), 4, 60, 61 f., 132, 135 Heller, Erich (→ Kafka), 95 225 Heraklit (→ Pantheismus → Stoa), 27 Herodot (→ Dionysos-Mysterien), 80 f. „Herrenmoral“ (→ Sklavenmoral), 26 Herrschaft (→ Heidegger), 34 Heym, Georg (→ Musil → Th. Mann), 120 Hillebrand, Karl (→ Unzeitgemäße Betrachtungen), 89 Historie, historisch, historisieren (als Leitwissenschaft im 19. Jahrhundert), 4 Historismus, Historismus-Debatte (Rolle N.s), 4 Hitler, Adolf (→ Wille zur Macht → Zarathustra → Elisabeth Förster-Nietzsche → Heidegger → Alfred Baeumler), 4, 6, 7, 9, 34, 35 f. Hochschulreform (Heideggers), 36 Hoffmann E. T. A. (→ Kafka), 98 Hofmannsthal, Hugo von (→ Präexistenz → Genealogie → N. → Kafka), 108 f.
Gesamtregister
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Hölderlin, Friedrich (→ Freundschaft → Heidegger), 53 Hölderlin-Vorlesungen Heideggers, 36 Homer (→ Ilias, Odyssee), 58–60 Horaz (→ Stoa), 54–56 Humanitätsvorstellungen, N.s Ablehnung, 21 Hylozoismus, 18 Hyperion (Figur in Hölderlins Briefroman), 53
Intelligenz, freischwebende (→ Musil → Karl Mannheim), 112 Intuition, intuitiv Iphigenie (bei Goethe), 53 Irrationalismus (→ N. → dionysisch → Expressionismus → Musil → Th. Mann), 115, 120 Itschner, Hermann (→ N. im 1. Weltkrieg), 4
Ich-Dissoziation (→ Jean Paul → E.T.A.Hoffmann → N. → Kafka → Fragmentierung → Doppelgänger), 95–110 Idealismus, ästhetischer (→ Winckelmann → Schiller → Hegel → N.), 64–66, 73 f. idealistisch, 18 Identitätsauflösung (→ Individualität → Selbstauslöschung → E.T.A. Hoffmann → Kafka → Musil), 98, 95–110, 116 Ideologisierung (des N.-Bildes) (→ NietzscheKult, → Hitler → Ernst Bertram → Alfred Baeumler → Carl Schmitt → Alfred Rosenberg → Musil → Th. Mann), 1–9, 128 Ilias (→ Homer), 58 f., 79 Illusion, illusionär (→Schopenhauer → N.), 11 Immanenz, immanent (→ Transzendenz → Pantheismus → Diesseits → Monismus → Freidenker), 3 Immermann, Karl (→ Epigonentum), 90 Immoralismus bei N., 127 (→ Rée → Musil), 42 Imperialismus (→ Wirkungsgeschichte N.s), 128–137 Individualismus N.s, 70–72 individualistische Moralkritik (bei N.), 70 f. Individualitätstheorien, 96 Individuation (als Schuld) (→ Vedanta → Anaximander → Schopenhauer: principium individuationis → Kafka), 99, 110 Individuum (→ Goethe → Schopenhauer → Stirner → N. → Kafka → Entindividualisierung), 96, 97 Infinitismus, 47 Innerlichkeit (→ Kafka → Musil → Neumystik), 100, 104, 112 Insel-Verlag (→ N. im 1. Weltkrieg), 4 instrumentelle Vernunft (→ Heidegger), 34
Jahr, Christoph (→ nationalsozialistische Machtübernahme) Janouch, Gustav (→ Kafka) Java (→ N.s Metaphorik → Aristokratie → Privilegien) Jean Paul, 47 f. (→ E.T.A. Hoffmann → Kafka → Doppelgänger → Subjekt), 96, 97 Joll, James (→ N. im 1. Weltkrieg), 4 17 „Jugend“ als Genialitätsgarantie bei N., 91 Jugendbewegung (→ N. → Musil), 115 Jünger, Ernst, 134 Junges Deutschland (→ Heine), 65 Kadmos (→ Euripides), 75 f. Kafka, Franz (→ N.s ‚Wille zur Macht‘ → Freud → E.T.A. Hoffmann → Dissoziation des Subjekts), 95–110 Kaiser, Georg (→ Th. Mann), 120 Kampf (→ Krieg → Darwin, Darwinismus → N.), 67, 79, 128 „Kampfbund für deutsche Kultur“ (→ Alfred Baeumler), 135 Kampfschriften Thomas Manns gegen das Hitler-Regime, 122 Kant, Immanuel (→ Aufklärung → kategorischer Imperativ → „Ding an sich“), 54, 65 f. Keller, Gottfried (→ Kritik an N. → David Friedrich Strauß), 87 f. Kemper, Hans-Georg (→ Kafka), 100 238 Kerenyi, Karl (→ Thomas Mann), 121 Klassik, Klassizismus, 64–66 Klein, Julius Leopold (→ Euripides), 76 f. kleinbürgerlich (Moralvorstellungen), 21 Kloot, O. te (→ N. im 1. Weltkrieg), 4 17 Klopstock (→ Freundschaft), 52 Kokoschka, Oskar (→ Musil), 117 268
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Komödie, griechische (→ Aristophanes → N.), 75 Kompilation in N.-Editionen (→ Elisabeth Förster-Nietzsche → Heinrich Köselitz → Alfred Baeumler → Heidegger), 5–10 Kompilator (N. als passim), 38–43 Konzentrationslager, 134 Konzeption (des „Willens zur Macht“), S. 10–14 Kopernikus, Nikolaus, 17 Köselitz, Heinrich (→ Gast, Peter), 7, 129 f. (N. als) Kosmetiker, philosophischer (→ Maske), 131 „Kraft“-(Begriff) (als zeitgenössischer Schlüsselbegriff, N.s Transformation von „Kraft“ in „Macht“), 15–20 „krank“, pathologische Züge bei N. u. im N.-Kult (→ Rée → Musil), 43, 115–117 Krieg (→ Kampf → Zarathustra: ‚Vom Krieg und Kriegsvolke‘), 4, 131–134, Musil S. 118, Joseph Roth S. 128–133 Kriegshetze N.s (→ Zarathustra), 4 f. (→ „Wille zur Macht“), 137 Kristiansen, Børge (→ Thomas Mann), 119 270 Kritik an N.: Zarathustra-Verriss Thomas Manns, 5 Krüppel (→ Krieg → Joseph Roth), 132 f. Kubin, Alfred (→ Kafka), 98 234 Kuh, Emil (→ Kritik an N. → David Friedrich Strauß), 87–89 Kuhn, Elisabeth (→ Wille zur Macht), 10 27 Kühnemann, Eugen (→nationalistische FaustIdeologie → Thomas Mann), 125 Kultbuch (Zarathustra → 1. Weltkrieg), 4 f. Kultur, höfische (bei Homer → Adelsethik), 60 Kulturkritiker, N. als, 64–66 „Kulturmensch“ (→ Privilegierung), 23 f. Kunst (→ Illusion →Ästhetik → Schopenhauer → Schein → Vorstellung), 11 Künstler-Anspruch N.s (→ Overbecks Urteil), 39 „Kunstrichter“ (→ Euripides → August Wilhelm Schlegel → Goethe), 75–77 Kurz, Gerhard (→ Kafka), 95 225 Kyniker (→ Antisthenes → Stoa → Stoizismus → Askese), 38 95, 70
La Boétie, Étienne de (→ Montaigne → Freundschaft), 52 Laelius (→ Freundschaft → Cicero), 52 La Rochefoucauld, François, Duc de (→ Moralistik), 46, 70 „Leben“ (→ das „Dionysische“ bei N. → Vitalismus), 90 Lebensphilosophie, lebensphilosophisch, 90, (→ Kafka), 109 f. (→ Thomas Mann), 119 Lebensreform-Bewegung (→ Kafka → Musil), 109 f., 112 Lebensströmung (→ Kafka), 109 f. Legende (→ Entstehung der Legende vom Willen zur Macht), 5–10 Leid (→ Mitleid), 21 f. (→ Leopardi, Giacomo), 45 Leiden und Elend der → Soldaten (→ Krieg → Joseph Roth → Erich Maria Remarque → Heinrich Mann), 128–134 Leopardi, Giacomo, 45 Lichtenberg, 45 Lincoln (→ Aufhebung der Sklaverei → N.s Protest dagegen), 14, 24 Linse, Ulrich (→ Musil), 112 257 Literatur, griechische (bei N.), 57–63 Lob – Tadel (Ethik), 41 Lombroso, Cesare (→ Wahnsinn), 2 Lou-Affäre, 42 Lübbe, Hermann (→ deutsche politische Geschichte im 20. Jahrhundert), 129 304 Lucilius (→ Seneca), 70 Ludwig II., König von Bayern (→ Richard Wagner), 86 Lütkehaus, Ludger (→ Paul Rée), 42 103 Lykurgos (→ Homer, Ilias), 80 Ma(a)ß (→ Zählen → Messen), 17 Machiavelli, Niccolò, S. 22 „Macht“ als Begriff (im „Willen zur Macht“), 10–14, 15 f., 17, 27–29, 30–32, 90 Machthaber, „Befehlshaber“ (der Philosoph in dieser Rolle → Jenseits von Gut und Böse), 32 Machtprinzip (→ Moral → „Gefühl der Macht“), 25 f. Maeterlinck, Maurice (→ Musil), 109
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Mallmann, Klaus-Michael / Angrick, Andrej / Matthäus, Jürgen / Cüppers, Martin (2. Weltkrieg), 134 316 Malthus (→ Darwin), 67 Mänaden (→ Dionysos), 80 Mandeville, Bernard de (→ Moralistik → Freidenker), 42 42 Mann, Heinrich (→ Thomas Mann → 1. Weltkrieg → Bücherverbrennung), 121, 134 Mann, Thomas (→ N. im Gesamtwerk, bes. im Doktor Faustus), 5 Mannheim, Karl (→ Musil), 112 Marc Aurel (→ Stoa → Ethik → Psychotherapie → Galenos), 45, 70 Marinetti, Filippo Tommaso (→ Musil → Futurismus → Th. Mann), 120 Martin, Bernd (→ Heidegger), 36 Maske, N. als Maskenbildner, 131 „Masse“ (→ Sklaverei → Demokratie → Individualismus), 24 f. Materie (→ Boscovich), 17 Materialismus, materialistisch, 17 Mathematik (→ Boscovich), 16, 17 medizinisch (→ physiologisch → Ludwig Büchner), 16 Menippos von Gadara (→ Satire), 38 95 Menschheit, 21 f. „Menschheitsdämmerung“ (→ Expressionismus), 33 Menschheitsgeschichte (im Evolutionsprozess → Darwin), 67–69 Metaphorik, Metaphern, metaphorisch, 24, 48, 80, 97 Metaphysik, metaphysisch (N.s antimeta physisches Pathos bei metaphysischen Voraussetzungen → Kant → Heidegger), 33 Meyrink, Gustav (→ Kafka), 98 214 Meysenbug, Malwida (→ Paul Rée → Wagner), 42 Mitleid (→ Rousseau → Schopenhauer), 21 f., 41 „Mitteilung“ (→ Kafka), 103 Moeller van den Bruck, Arthur (→ Thomas Mann), 124 f. Möglichkeitsdenken (→ Kafka → Musil), 99, 111–113
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Monismus, monistisch (→ Ernst Haeckel), 18 f. Montaigne, Michel de (→ Moralistik → Skepsis), 41, 52 Moral-Gesetze (→ „Sitte“ → Dekalog), 28 Moralistik, moralistisch, moralistische Tradition (Gracián, Larochefoucauld, Pascal, Schopenhauer, Rée, N.), 40 Moralkritik (→ Moralistik → Paul Rée → N. → Immoralismus → Freigeist → Musil), 40–43, 83, 111 Moralkritik (Zusammenschrumpfen der Gedankenwelt N.s auf das Thema der Moralkritik seit 1876), 130 f. Moralkritik, freigeisterische, 40–44 Morawski, Charlotte (→ Paul Rée), 42 103 Moses (→ Ethik, Monotheismus), 28 Mozart, Wolfgang Amadeus (→ Oper), 82 Müller-Lauter, Wolfgang (→ „Wille zur Macht“), 12 31 Musikästhetik (→ Wagner → Hanslick), 82 f. Musil, Robert (→ N. im Mann ohne Eigen schaften), 111–118 Mysterien (→ Dionysos), 80 f. Mysterienkult (→ Dionysos), 80 f. Mystifizierung bei N., 79 Mystik → Neumystik → Kafka → Musil Mythen, griechische (Verfälschung durch N.), 78–81 Mythologisierung des N.-Bildes (→ GeorgeKreis → Ernst Bertram → Thomas Mann), 119, 137 (N.s) Nachlass, nachgelassene Notate (→ Heidegger), 5, 7 Nächste, der (→ „Selbstsucht“ → „Ego“ → Altruismus → Nächstenliebe → Christentum), 21–23 Nagel, Bert (→ Kafka), 95 225 Narzissmus (→ E.T.A. Hoffmann → Sigmund Freud), 97 Nationalsozialismus, nationalsozialistisch (Verhältnis zum Nietzschekult), 4–9 Natorp, Paul (→ N. im 1. Weltkrieg), 128 304 Naturalismus (→ Idealismus), naturalistisch, 16, 65 „Naturerkenntnis“ (→ Goethe → Kant → Schopenhauer → N.), 65
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Gesamtregister
Naturphilosophie (→ Schelling → Goethe → Romantik → Schopenhauer), 11 29 Naturstudien Darwins, 41, 67 f. Naturwissenschaft (→ Freidenkertum → Aufklärung → Goethe), 16, 65 Nerven (→ Cabanis → Brüder Goncourt), 18 Nervenkraft, 18 Neumystik, neumystische Strömungen (→ Meister Eckart-Rezeption → Martin Buber → Walter Rathenau → Kafka → Musil), 109, 114, 118 Neymeyr, Barbara (E.T.A. Hoffmann → Schopenhauer → Kafka → Doppel gänger), 95–110 Nichts (→ Schopenhauer), 11 f. Niemeyer, Christian (→ N. im 2. Weltkrieg), 128 304 Nietzscheanismus und Wagnerismus (→ Musil → Th. Mann), 111–118 „Nietzschean War“ (→ 1. Weltkrieg), 4 Nietzsche-Archiv (→ Elisabeth Förster- Nietzsche → Köselitz → Baeumler → Heidegger → Hitler), 5–10 Nietzsche-Kult der Frauen (→ Musil → Steven E. Aschheim → Marie Hecht), 116 „Nietzsche-Kultus“, 5–10, 91, 122 Nietzsche-Publizisten, die führenden (→ Ernst Bertram → Alfred Baeumler), 134–135, 135–137 Nietzsche-Rezeption in Musils Mann ohne Eigenschaften, Diagnose einer Nietzsche-Krankheit, 111–118 Nihilismus, nihilistisch (→ Nichts → Schopenhauer → Vedanta → Buddhismus), 11 f., 71 „nil admirari“ („nichts anstaunen“), 54–56 Nipperdey, Thomas (→ Geschichte des 19. Jahrhunderts), 19 Nirwana (→ Schopenhauer → Buddhismus → Kafka), 110 Noack, Ludwig (→ Schopenhauer → Schelling), 10 28 Nobilitierungsambitionen N.s, 72 Normen (→ Moral → Antimoral → Anarchismus), 40–43 Novalis, 45 Numicius (→ Horaz) Nyssa (→ Dionysos), 80
Odysseus (→ Homer), 59 f. Offizier(e), 61 f. Ontologie, Ontologisierung (→ N. → Heidegger) Oper, N.s Verfälschung der Operngeschichte (→ Wagner), 82–84 Opfer, Opferung (anderer), opfern → Sklaverei (bei N.), 21–26, 58, 130 Opiumkonsum N.s, 130 Optimismus, optimistisch (→ Pessimismus, pessimistisch → Schopenhauer), 85, 93 organisch, das Organische, organologisch, 13, 18, 20 Original, Originalität (N.s Anspruch auf; → Genie), 16, 38, 40, 130 Orpheus (→ Dionysos), 79 f. Ott, Hugo (→ Heidegger), 36 92 Overbeck, Franz (→ Christentum → Basel → Urteil über N.s Künstleranspruch → N.s Rhetorik), 39, 42, 46, 130 Ovid (→ Dionysos), 79 f. Panaitios (→ Stoa), 45 Pascal, Blaise (→ Schopenhauer, Rée, N.), 47 Pasley, Malcolm (→ Kafka), 107 246 Pathos, pathetischer Stil N.s, 3, 87 197, 93, 113 Penelope (→ Homer), 59 Persönlichkeit, schwache, 94 Persönlichkeit, gespaltene (→ E.T.A. Hoffmann → Robert Louis Stevenson → Freud → Kafka), 95–98, 102, 108 f. perspektivisch, Perspektivismus als zentrales Thema N.s (→ Erkenntnistheorie), 27, 90 Pessimismus, pessimistisch (→ Schopen hauer → N. → Tragödie → Optimismus), 85, 93 Petronius (→ Satire), 38 95 „Pfaffen“, anglikanische (→ Schopenhauer → Sklaverei), 25 Pfeiffer, Ernst (→ Sigmund Freud → Lou Andreas-Salomé), 42 103 „Pflicht“, Pflichtbegriff (→ Stoa → Cicero → Kant), 71 Phantastische Literatur (→ E.T.A. Hoffmann → Kafka), 99
Gesamtregister
Philadelphia (→ Philanthropie → Antisklaverei-Bewegung → Quäker), 24 Philanthropie, philanthropisch (→ Quäker) Philosoph (→ Macht → „Tyrann des Geistes“), 31 f. „Philosophie“ (→ Platon → Aristoteles → „Staunen“), 31, 54–56 Philosophie, idealistische (→ Hegel, dagegen antiidealistische Wendung → Junges Deutschland), 65 Physiker, physikalisch (→ Naturwissenschaft → Naturalismus), 11 29, 19 Physiologie, physiologisch, 16–18 Piper, Ernst (→ Alfred Rosenberg), 128 304 Plagiat, (N. als) Plagiator, 38 f. Pläne (Publikationspläne N.s), 10 Platon (→ Platonismus → Dialektik → Philo sophie → Erkenntnis → Ethik), 31, 37, 45, 53, 63, 77, 91 Plessner, Helmuth (→ Wille zur Macht), 20 Pluralität der Persönlichkeit, (→ N. → Kafka), 96 Plutarch (→ Biographien großer Männer → Themistokles), 60–62, 71 Polis, 75 Politik, politisch Politzer, Heinz (→ Kafka), 98 233, 105, 108 Polyphem (→ Homer), 60 Populärwissenschaft, populärwissenschaftlich (→ Quellen N.s) Poseidonios (→ Stoa), 45 Positivismus (→ Philogen), 50 Präexistenz (→ Hofmannsthal → Kafka), 106 f. Prince, Morton (→ Kafka → Psychotherapie → Dissoziation des Ichs), 108 f. „principium individuationis“ (→ Die Geburt der Tragödie → Schopenhauer → Kafka), 99, S. 110 Privileg, Privilegien, Privilegierten-Existenz (→ Sklaverei), 23 f. Prometheus (→ Aischylos), 75 Prophetie(n), (pseudo-)prophetischer Habitus N.s, 16, 93, 113 Prozessualität, psychodynamische (→ Kafka), 101 Psychoanalyse (→ Unbewußtes → Schopen-
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hauer → Eduard von Hartmann → Freud → Kafka → Musil → Otto Rank), 95–110 Psychologie, psychologisch (→ Experimentalpsychologie → Psychomachie → Psychoanalyse → Rée → Freud → Kafka → Musil), 41, 108 (moderner) psychologischer Roman (→ Sigmund Freud → Kafka), 98 Psychomachie (in Antike, Christentum, säkularisiert in Goethes Faust → Kafka), 96 Psychotherapie, stoische (→ Chrysipp → Ataraxie), 71 Quäker (→ Antisklaverei-Bewegung → Philanthropie), 24 Quantifizierung, 17 Quellen (N.s), 38 Quintilian (→ Rhetorik → Euripides), 46, 77 Raabe, Paul (→ Expressionismus), 33 85 Rache (→ Vergeltung → Ethik → Rée), 41 Radikalismus, radikalisieren, Radikalismen N.s, 3 12, 136 Rank, Otto (→ Kafka → Doppelgänger), 98 226 „Rassen“ (bei Darwin), 68 Rathenau, Walter (→ Kafka → Musil → Neu mystik), 109 Rät(h)sel (→ Schopenhauer), 30–31 Rätsellöser (→ Schopenhauer), 30–31 „Rätsellösung“, Rätsellöser, Rätsel-Wort, enträtseln, „Enträthseler“, 30 f. Rausch (→ dionysisch), 2, 90, 126 Realismus, 65, 74 „Recht des Stärkeren“ (→ Sophistik → N. → Gleichheit → Demokratie), 63 Rede, erlebte (→ personales Erzählen → Kafka → literarische Avantgarde), 103 „Redlichkeit“, „redlich“, „rechtschaffen“ (von N. ‚moralisch‘ beansprucht), 131 Rée, Paul (→ Moralkritik → Freidenkertum), 38, 40–43, 131 „Réealismus“ N.s, 42 Reibnitz, Barbara von (→ Geburt der Tragödie → Overbeck), 39 96 Reich, Hauke (→ Rezensionen zu den Unzeitgemäßen Betrachtungen), 87 196
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Gesamtregister
Religion, biblische (→ Dekalog → Moses), 26, 28 Remarque, Erich Maria (→ 1. Weltkrieg → Bücherverbrennung), 134 Restauration, Restaurationszeit, 2 Rezeption (werkspezifische), 4 Rhetorik N.s, 5, 42 S. 44–48, 130 Ripke-Kühn, Lenore (→ N. im 1. Weltkrieg), 128 304 Ritschl, Friedrich (→ Geburt der Tragödie, kritische Ablehnung), 78 f. Rittertum, ritterlich (Romantisierung im 19. Jahrhundert (→ Adel → „Vornehm“), 57–62 Rohde, Erwin (→ Geburt der Tragödie), 49 Romantik, romantisch, 64 Rosenberg, Alfred (→ Hitler), 5, 128 304 Roth, Joseph (→ 1. Weltkrieg), 132 f. Rousseau, Jean-Jacques (→ Moral → Mitleid → Schopenhauer → Stoa → Kant), 21 Ruhm (→ Ehre, Ehrvorstellungen), 57–63 Ruprecht, Erich / Bänsch, Dieter (→ Musil), 116 267 Rychner, Max (→ Thomas Mann), 121 Sade, Donatien-Alphonse-François, Marquis de (→ N.s Sadomasochismus), 22–23 Säkularisierungsprozess (fortschreitende Radikalisierung → Feuerbach), 29, 110 Salamis (→ Themistokles), 61 Salaquarda, Jörg (→ Wille zur Macht), 10 27 Saße, Günter (→ Kafka), 103 Satire, menippeische → Nietzsche, 38 95 Satire Musils auf den Nietzscheanismus, 111–118 Satyr(n), Satyrchor (→ Tragödie), 73 f., 75 Satyrspiele, 75 Sauer, Joseph (→ Heidegger), 36 Sautter, Udo (→ Sklaverei in Amerika), 24 61 Schaffen (als Selbstbehauptung im Zara thustra → Heidegger → Mimesis), 35 Schein (→ Illusion → Ästhetik → Kunst → Schopenhauer), 11 Scheler, Max (→ Musil → 1. Weltkrieg), 112 112, 128 304 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (→ nationale Faust-Legende), 10 28, 123 f.
Schiller, Friedrich (→ Idealismus → Freundschaft), 53, 64–66, 73 f., 77(→ Wagner), 83 Schlagworte N.s, 2 f. Schlaikjer, Erich (→ „Nietzsche-Kultus“), 1 Schlegel, August Wilhelm (→ Euripides → Aristophanes), 75–77 Schmidt, Irmgard / Streitfeld, Erwin (→ Gottfried Keller → Emil Kuh), 88 198 Schmidt, Jochen (→ Umwertung aller Werte), 28 72 Schöngeisterei (→ Musil), 118 Schopenhauer, Arthur (passim), bes. S. 10– 12, 15 37, 24 f., 30 f., 41, 54–56, 65 f., 78, 93, 110, 119 Schöpfertum (→ Schaffen), 35 Schöpfungsgeschichte (→ Darwin → Evolution → Haeckel → Genesis), 18, 68 f. Schreibakt (→ Kafka → „Mitteilung“ →Aporie), 102–107 Schreiner, Klaus (→ Musil), 112 257 Schrumpfung von N.s Gedankenwelt (→ Moralkritik), 130 Schuld – Schicksal (→ Individuation → Schopenhauer → Kafka), 110 Schulpforta, 49 Schwerte, Hans (→ Thomas Mann), 123 289 Schwadronieren N.s, 38, 130 Scipio (→ Freundschaft), 52 „Seelenruhe“ (Ataraxie) (→ Stoa → Epikur → Epiktet → Seneca → Marc Aurel → Psychotherapie), 70 f. „Sein“ (→ Ontologie → Ontologisierung → Heidegger), 33 „Sein des Seienden“ (bei Heidegger), 33 „Selbst“ (Kult des „Selbst“ im Zarathustra → Heidegger), 33–37 Selbstaufgabe (→ Kafka), 110 Selbstaufhebung, 56 Selbstbehauptung (→ Kafka), 107 f. Selbst-Bejahung, 12 (→ Ego → Individualismus → Altruismus) Selbstbeobachtung (→ Pietismus → Sigmund Freud → N.), 98 Selbstdestruktion (→ Kafka), 102, 108, 110 Selbstentfremdung (→ Musil), 115 Selbst-Expansion (→ „Wille zur Macht“), 12
Gesamtregister
Selbstgenuss, 22 Selbstkonstitution und Selbstbehauptung (→ N. → Kafka → Heidegger), 107 f. Selbstopfer (bei N. → Sadomasochismus), 22 f. Selbststabilisierung (→ Kafka), 108 Selbstüberschätzung von Philosophen (→ Schopenhauer → N.), 30–32 Selbstüberwindung (→ Zarathustra), 20, 27 f., 29 Selbst-Verneinung, Selbst-Auslöschung (→ Schopenhauer → Buddhismus → Kafka → Musil), 110, 117 Selbstwertempfindung (→ Ego → Individualismus), 20 Selektion (bei Darwin), 67–69 Seneca (→ Stoa), 70 Sentenzen des Euripides, Florilegien (→ Wagner), 83 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of (→ Platonismus → Philanthropie → Freundschaft), 52 Sieg, Ulrich (→ N. im 1. Weltkrieg), 128 304 Siegfried (→ Ring des Nibelungen), 86 Sinai (→ Moses), 28 Sipo Matador (→ Metaphorik N.s → Aristo kratie → Privilegien), 24 Sitten (→ Gewohnheiten → Moral), 41 Skandal (N.s Inszenierung → David Friedrich Strauß), 85–89 Sklave(n), Sklaverei, Sklavendienst der „Masse“, 14, 23, 24 f. „Sklavenmoral“, 26 Sklaverei in Amerika (→ Abschaffung der Sklaverei → Lincoln → Stellungnahme N.s gegen die Abschaffung der Sklaverei), 24 f. Sokel, Walter H. (→ Kafka, Expressionismus), 95 224, 99 Sokrates (→ Ethik → Platon), 62, 79 f., 315 Sombart, Werner (→ N. im 1. Weltkrieg → Thomas Mann), 125, 128 304 Sommer, Andreas Urs (→ Overbeck → Kommentare zu N.s Spätschriften), 72 164 Sontheimer, Kurt (→ Führerkult → Musil), 35 91 Sophokles (→ Tragödie → Mysterien), 74, 81
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soziale Zustände (→ Schopenhauer), 25 Sozialismus (→ Th. Mann), 121 Sparta (→ Thermopylen → Salamis), 61 Spencer, Herbert (→ Ethik), 21 Spengler, Oswald (→ N. → Thomas Mann), 125 Spinoza, Baruch de (→ Teleologie → Zweckdenken), 67 SS-Divisionen, 133 Staat (→ Sklaverei → Kultur), 23 Standesdenken N.s (→ Adel → vornehm), 57–63 Stark, Michael (→ Expressionismus), 33 85 Stauffacher-Schaub, Marianne (→ Overbeck), 39 96 Staunen (als Anfang der Philosophie bei Platon und Aristoteles), 54–56 Stevenson, Robert Louis (→ Dissoziation des Subjekts → The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde → N. → Kafka), 108 Stilideal N.s (→ „Buntschriftstellerei“), 38 f., 45–48 Stirner, Max (→ Individualismus → Anarchismus), 70 Stoa, Stoiker, stoisch (→ Ethik → Psychotherapie), 54–56, 70 f. Stobaios (→ „Buntschriftstellerei“), 39 95 Stöcker, Helene (→ N. und die Frauen → Musil), 116 267 Strauß, David Friedrich (→ Theologie → Unzeitgemäße Betrachtungen), 86–89, 92 Strafe, 41 (der) Streit um N.s Geburt der Tragödie (→ Karlfried Gründer), 49–51 Subjekt (→ Individuum → Entindividualisierung → Doppelgänger), 95–110 Surrealismus, surrealistisch (→ Kafka → E.T.A. Hoffmann), 98 Syphilis, 136 Teleologie, teleologisch (→ Darwin → Spinoza → Kant → „Zweck“, Zweckmäßigkeit) S. 67 Tenorth, Heinz Elmar (→ die Berliner Universität zwischen den Weltkriegen), 135 317 Teufelspakt, seine Funktion in Thomas Manns Doktor Faustus (→ Irrationalismus), 126 Theaitetos (→ Platons Dialog), 55
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Gesamtregister
Themistokles (→ Helden → Salamis), 60–62 Theognis (→ Tyrannis, Adel), 63 Theologie, Revolution durch David Friedrich Strauß, 16, 89 „Theorem der Gestaltlosigkeit“ (→ Musil), 113 „Tod Gottes“ (als Voraussetzung für die „Umwertung aller Werte“), 2 f. Tönnies, Ferdinand (→ „Nietzsche-Kultus“), 1 Tragödie, griechische (→ Die Geburt der Tragödie) Transzendenz, transzendent – Immanenz, 2 f., 18 Treiber, Hubert (→ Paul Rée), 42 103 Treitschke, Heinrich von (→ Overbeck), 39 Trieb, Naturtrieb (→ Schopenhauer), 11 Triebleben, 13 Triebreduktion (→ Stoa → Stoizismus → Kynismus → Buddhismus), 11 „Tugend“, „Tugenden“ (→ Moral), 58, 315 Tyrann, Tyrannis (→ Alleinherrschaft), 57–63 „Tyrann des Geistes“ (→ N.s Wunschvorstellung → Schopenhauer), 38 (der) Übermensch, Übermenschenwahn (vor und bei N.) (→ „Nietzsche-Kultus“), 3, 29, S. 120, 125 f. „Übermensch“ und „Überspannung“ (→ N. → Musil → Th. Mann), 113, 199 „Umwertung aller Werte“ (→ „Tod Gottes“ → Christentum), 3, 4 (das) „Unbewußte“ bei Schopenhauer, Wagner und Eduard von Hartmann, 92–94 Ungern-Sternberg, Jürgen und Wolfgang von (→ N. im 1. Weltkrieg), 128 304 Unzeitgemäßheit, unzeitgemäß (→ Schopenhauer), 85 Unzeitgemäße Betrachtungen, 85–94 Usener, Hermann (→ Die Geburt der Tragödie: „baarer Unsinn“), 50 Utopismus (→ Musil), 111–118 Valk, Thorsten (→ Kafka), 101 Varro (→ Satire), 39 95 Vedanta, altindisches (→ Schopenhauer), 110 Verantwortung (→ Heidegger), 36
Verantwortungslosigkeit N.s soziale und politische „Verbrennung undeutschen Schrifttums“ (→ Goebbels), 135 Verdi, Giuseppe (→ Oper), 82 Verdrängung, Verdrängungsversuch (→ Sigmund Freud → Kafka), 106 Verfälschung der griechischen Überlieferung durch N. am Beispiel des Euripides, 75–77 Verfassungsformen (→ Aristoteles), 63 Verkündigungsstil im Zarathustra Vermittlung, Vermittlungsversuch, Mitteilung (→ Kafka), 102, 106 Vernichtung, Vernichtungsphantasien N.s, 3 Anm. 12, 128 f., 136 „Vernunft“ (→ Kant), 47, 65–66 Versöhnung (N.s Ablehnung im Zarathustra → Vertrag), 14 Vertrag (N.s Ablehnung im Zarathustra), 14 „Verwechseltwerden“, Angst N.s davor, 41 f., 131 Vietta, Silvio (→ Kafka), 109 251 Vogt, Johannes Gustav (→ Monismus → „Kraft“), 19 46 „Völkischer Beobachter“ (→ N. im National sozialismus → Alfred Baeumler), 136 Volkmann, Richard (→ Rhetorik), 46 Voltaire (→ Aufklärung → Unterhaltungsstil), 16, 29 95 Voluntarismus (N.s), voluntaristisch (→ Musils Ablehnung),S. 29, 111–118, 130 „Vornehmheit“, „vornehm“ (bei N.) (→ Adel, → Standesdenken), 57–63 Voß, Johann Heinrich (→ Homer), 59 Wagenbach, Klaus (→ Nietzsche → Kafka), 95 224 Wagner, Cosima (→ Tagebuch-Einträge zu N. und Wagner), 83 Wagner, Richard (passim), 17 38, 48, 51, 82–84, 85, 86, 92 Wahnsinn, wahnsinnig (→ Genie → N.), 1 f., 120 Wahnsinnsschübe N.s seit 1879, 136 Wahrscheinlichkeit (→ Wirklichkeit → Möglichkeit → Kafka → Musil), 99
Gesamtregister
„Weihespruch“ Ernst Bertrams zur Bonner Bücherverbrennung, 135 f. Weltanschauung → Nietzsche-Kult, 18 f., 116, 125 Weltkrieg, Erster, 4, 121, 128, 132–134 Weltkrieg, Zweiter, 134 f. Welträt(h)sel (→ Schopenhauer → Haeckel), 18 Werfel, Franz (→ Expressionismus → Musil), 115 262 Werte (→ N.s „Umwertung aller Werte“ → Entwertung), 5, 17, 27–29 Wert(h)gefühle (→ Wertschätzungen → Johann Julius Baumann als Quelle), 13 34, 27 Wertmaßstab, 17 Westminster Review, 89 „Wiedergeburt“ der Oper durch Wagner (→ Bayreuth), 82 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von (→ Die Geburt der Tragödie, vernichtende Kritik → Euripides), 49 f., 75–77 „Der Wille zur Macht“, Editionsgeschichte und Entstehung der Legende, 5–10 N.s „Wille zur Macht“, gedankliche Konzeption u. Tendenz zur Autonomisierung, 10–14 „Wille“ als Begriff (im „Willen zur Macht“ → Voluntarismus), 10 (der) „Wille zur Macht“ im Zeitalter des Imperialismus und Faschismus, 3 Willensmetaphysik, ontologisierende (→ Schelling → Schopenhauer → N. → Heidegger), 10–14
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Winckelmann, Johann Jakob (→ Klassizismus → Ästhetik), 64 „Wirklichkeit“ (→ Realismus → Naturalismus), 65 Wirkungsgeschichte, literarische (N.s) (→ Nietzschekult → Nietzscheanismus), 95–127 Wissenschaftspopularisierung (→ Ernst Haeckel), 18 f., 19 45 „Wollen“ (→ Schelling → Schopenhauer), 10 28, 96 Zahl (→ Quantifizierung, Quantum), 17 Zarathustra (im 1. Weltkrieg), 4, 128 Zarathustra-Sprüche, 4 Zeitdiagnose N.s (→ Epigonentum → Décadence), 90 f. „Zeitgemäßheit“, zeitgemäß (→ Schopen hauer → N.), 85 Zenon (→ Stoa), 71 Zerstören (→ Vernichten), 22 „Zucht“, „Züchtung“ (→ Darwin → Biologismus), 29, 72 „Züchter und Gewaltmenschen“ als Wunschvorstellung N.s (→ Jenseits von Gut und Böse), S. 32 „Zufall“ in Darwins Evolutionslehre, 67–69 „Zukunft“, Zukunftsprophetien (→ N. → Wagner), 16, 86, 91, 93, 113 Zweck (→ K(C)ausalität → Teleologie → Spinoza → Darwin), 67–69