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German Pages 220 [224] Year 2006
Frühe Neuzeit Band 115 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt
Der Kommentar in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Ralph Häfner und Markus Völkel
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-36615-2
ISBN-10: 3-484-36615-X
ISSN 0934-5531
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Andreas Pecar, Rostock Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Danksagung
Die in diesem Band gesammelten Beiträge gehen auf ein Arbeitsgespräch zurück, das vom 5. bis 7. Mai 2002 an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel stattgefunden hat. Die damals gehaltenen Vorträge wurden in der inzwischen verstrichenen Zeit überarbeitet und an die aktuelle Forschungs- und Literaturlage angepaßt. Ralph Häfner hat seinen damaligen Vortrag über den Kommentar des Aulus Gellius gegen eine Studie über die .Verteidigungsrede des Apuleius' ausgetauscht. Der ebenso aufregende wie amüsante Beitrag von Luc Deitz über ,Die Scarith von Scornello. Fälschung und Methode in Curzio Inghiramis Etruscarum antiquitatum fragmenta (1637)' stand den Herausgebern leider nicht zur Verfugung. Auf sein Erscheinen im Neulateinischen Jahrbuch 5 (2003), S. 103-133 sei hier aber ausdrücklich verwiesen. Die Diskussion, die sich an diesen Vortrag anschloß, gehört zu den Höhepunkten dieser Tagung. Der herzliche Dank der Herausgeber gilt Friedrich Niewöhner und der Herzog August-Bibliothek in Wolfenbüttel, den Herausgebern der Reihe „Frühe Neuzeit", Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt, sowie dem Max Niemeyer Verlag, welche die Durchführung des Projekts ermöglicht und konstruktiv begleitet haben. Große Verdienste um das Erscheinungsbild dieses Bandes hat sich Dr. Andreas Peöar (Rostock) erworben, der die Formatierung und textliche Bearbeitung der Beiträge mit großer Umsicht durchgeführt hat. Die Endformatierung des Umbruchs hat Dr. Gunther Viereck (Rostock) zuverlässig und sorgfältig besorgt. An den Korrekturen waren weiterhin Anne Blaudzun M.A. (Rostock) und Daniel Münzner (Rostock) beteiligt. Sie alle haben zum technischen Gelingen dieses Sammelbandes viel beigetragen.
Markus Völkel / Ralph Häfner
Inhalt
Ralph Häfner Zur Einführung
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Irena Backus French Calvinist and Catholic Commentaries on the Apocalypse of John, 1539-1589
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Sicco Lehmann-Brauns Spiritueller Kommentar und pietistische Gelehrsamkeit Gottfried Arnolds Kommentardichtung zum ,Hohen Lied' und ihre Verankerung in der Sophienmystik
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Florian Neumann Petrarcas literarische Autorität und die Genese der Kommentare zu seinen Rerum vulgarium fragmenta im 16. Jahrhundert
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Thomas Leinkauf Marsilio Ficinos Platon-Kommentar
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Ann Blair The Collective Commentary as Reference Genre
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Martin Muslow Subversive Kommentierung - Burleske Kommentarparodien, Gegenkommentare und Libertinismus in der frühen Neuzeit
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Ralph Häfner Der Kommentar als Spiegel einer Lebensform - Apuleius' Verteidigungsrede (Apologia pro se de magia) in Ausgaben von Isaac Casaubon, Scipione Gentiii und Johannes Pricaeus
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Markus Völkel Der Kommentar zu Historikern im 16. und 17. Jahrhundert
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Index
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Ralph Häfher
Zur Einführung Friedrich Niewöhner in memoriam Formen und Funktionen des „Kommentars" unterliegen in der frühen Neuzeit einer bemerkenswerten Versatilität. Die Geschichte seines Begriffs ist dementsprechend von der Antike her durch einen reich differenzierten Bedeutungsumfang bedingt. Caesars Kommentarien haben inhaltlich und formal wenig gemein mit jenen „Attischen Nächten", die ihr Autor Aulus Gellius um die Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts als Kommentare bezeichnet hat. Der Band vereinigt die Beiträge, die zum überwiegenden Teil anläßlich des internationalen und interdisziplinären Arbeitsgesprächs vom 5. bis 7. Mai 2002 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel zur Diskussion gestellt wurden. Unser Blick richtet sich vor allem darauf, etwas von jener Variationsbreite zur Anschauimg zu bringen, von der die Traditionsgeschichte des Kommentars vom 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein bestimmt worden ist. Irena Backus zeigt in ihrem Beitrag über „Common ground and confessional tensions in French Calvinist and Catholic commentaries on the Apocalypse of John, 1539-89", daß die Johannes dem Evangelisten zugeschriebene Offenbarung vor dem Hintergrund ihrer seit dem vor-nicaenischen Chiliasmus zu beobachtenden Kommentierung insbesondere seit dem Kommentar des Joachim von Fiore eine verstärkte Aufnahme gefunden hat. In der Konfrontation zweier reformierter (Antoine du Pinet; Nicolas Colladon) und zweier katholischer Kommentare (Jean de Gagny; Pierre Bulenger) wird deutlich, daß die Instrumentalisierung der Apokalypse im konfessionellen Dissens der Zeit ganz wesentlich von solchen hermeneutischen Voraussetzungen abhängig ist, die von der spirituellen Überlieferung der Apokalypse-Deutung bereitgestellt worden waren. Die Kommentierung der Offenbarung des Johannes ist daher auch vor dem Hintergrund der Kommentare des Victorinus von Poetovio, Haimo von Auxerre und Rupert von Deutz zu sehen, die im 16. Jahrhundert wieder zugänglich waren. Die Berufung auf Autorität, der Status der Inspiration und die spirituelle Grundierung gingen hier wie dort eine höchst komplexe Symbiose ein. Der Beitrag von Sicco Lehmann-Brauns, „Spiritueller Kommentar und pietistische Gelehrsamkeit. Gottfried Arnolds Kommentardichtung zum ,Hohen Lied' und ihre Verankerung in der Sophienmystik" macht deutlich, daß der „Geist der Wahrheit", der aus dem Kommentar im Umkreis pietistischer Mystik spricht, nicht an historisch-kritische Verfahren des Textaufschlusses gebunden ist. Da sich die göttliche Weisheit im Wort der Heiligen Schrift offenbart hat, ist
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Ralph Häflier
die Kommentierung dieses Wortes niemals bloß verstehender Aufschluß dunkler Sachverhalte, sondern vielmehr Rückführung der menschlichen Weisheit durch das geistliche Wort in den Grund der göttlichen Weisheit selbst. Arnolds Übersetzung und Kommentierung des Hohenliedes hatten demnach zum Ziel, die Spur des Heiligen Geistes im menschlichen Gemüt als spirituelle Form frommer Lebenspraxis aufzunehmen. Entsprechend vielfaltig sind die literarischen Formen des Kommentierens. Sie reichen von Beglaubigungen durch frühchristliche und mittelalterliche Gewährsleute über die appellative Kraft der Dichtung bis hin zum freien Epigramm. Florian Neumann geht in „Petrarcas literarische Autorität und die Genese der Kommentare zu seinen Rerum vulgarium fragmenta im 16. Jahrhundert" der Frage nach, in welcher Weise die erst seit dem sechzehnten Jahrhundert blühenden Kommentare zu Petrarcas volkssprachlichen Werken die Kanonisierung des Canzoniere begünstigt haben. Die Klassizität des „Petrarca volgare" ist demnach das Ergebnis eines komplexen Transformationsprozesses, der sich in einem von den lateinischen Vorbildern dominierten Umkreis vollzieht. Die Kommentare (oder kommentierten Ausgaben), mit denen Gelehrte seit Pietro Bembo Petrarcas Dichtungen zugänglich machen, lassen in ihren unterschiedlichen Zugangsweisen sehr verschiedene Wissenskulturen erkennen. Wortverzeichnisse, die sich an der Lexikographie des 16. Jahrhunderts orientieren, sezieren Petrarcas Werke, um geeignete Mittel für eine erfolgreiche Nachahmung des Klassikers aufzuzeigen und bereitzustellen. In „Marsilio Ficinos Platon-Kommentar" erkennt Thomas Leinkauf eine bemerkenswerte Koinzidenz von Übersetzung und Deutung. Hatte Ficino in seinem Kommentar zu Piatons Menon betont, die Aufgabe des Kommentators sei es, das Einzelne zu erörtern („singula discutere"), so faßte er dieses Verfahren der Erörterung doch ganz im Sinne neuplatonischer PiatonKommentierung auf. Leinkauf unterscheidet vier Aspekte der Kommentierang: „Implementierung": Unter dem Leitbegriff der Paideia stellt Ficino die platonischen Dialoge in einen umfassenderen Zusammenhang. „Fokussierung": Ficino greift Problembereiche heraus, deren Ausfaltung nicht mehr durch die Schriften Piatons gedeckt sind. „Vernetzung": Ficino verweist auf andere Platon-Texte sowie auf seine eigenen Kommentare. „Digression": Indem sich Ficino ganz vom Ausgangstext löst, gelingt ihm die Freilegung des theologischen Kerns des platonischen Denkens im Blick auf die Lebens- und Denkform einer „philosophia Christiana". Ann Blair untersucht in ihrem Beitrag „The Collective Commentary as Reference Genre" das diffuse Feld von Sammelwerken unterschiedlichster Art, deren innere Struktur von Sammlungen von Sentenzen und loci communes über lectiones antiquae und kollektive Kommentare bis hin zu Wörterbüchern reichen können. Das Beispiel von Etienne Dolets Commentarii linguae latinae (1536-1538) zeigt eindrucksvoll, daß verschiedene Definitionen des Kommentars - als „memoriae promptuarium", im Sinne von „capita" und „summae rerum" und als Exposition eines Autors - in der frühen Neuzeit gleichberechtigt nebeneinander stehen. Bücher von der Art wie Niccolö Perottis Cornucopiae,
Zur Einführung
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Caelius Rhodiginus' Lectiones antiquae oder Adrien Turnebes Adversaria wurden kaum jemals im ganzen durchgelesen. Indem man über mannigfaltige Indices Zugang zu bestimmten Sachproblemen fand, erzeugte die „vermischte Ordnung" ein Vergnügen, das die Lektüre mindestens ebenso anleitete wie die Aussicht auf Belehrung. Im Gegensatz zu den petrarkistischen Tendenzen der Zeit kam in jenen Jahrzehnten eine Form der literarischen Auseinandersetzung zur Entfaltung, die Martin Mulsow mit dem Titel „Subversive Kommentierung. Burleske Kommentarparodien, Gegenkommentare und Libertinismus in der frühen Neuzeit" belegt. Ausgehend von dem Anti-Petrarkisten Francesco Berni richtet der Beitrag unseren Blick auf die Parodiestruktur von Kommentaren zwischen 1520 und 1715, die durch Einbeziehung niederer und populärer Themen zu einem erstaunlichen Experimentierfeld für intellektuelle Innovationen geworden sind. Werke wie Bernis Lob des Kartenspiels oder Annibale Caros Commento [...] sopra la prima ficata del Padre Siceo (1538) gerieten zu einer geradezu karnevalesken Parodie bekannter Kommentierungsverfahren, indem sie sozial problematische Sachverhalte mit der Berufung auf die Autorität altehrwürdiger Gewährsleute gewissermaßen sanktionierten. Auf dem weiten Probierfeld des libertinage erudit gab Themiseul de Saint-Hyacinthe (1716) die gelehrte Form von kumulativem Kommentar und Mehrfachindices der Lächerlichkeit preis und stellte die Möglichkeiten poly-,historischer' Erkenntnis damit selbst in Frage. Politische, gesellschaftskritische und gelehrte Aspekte des Kommentierens konvergieren auch in Ralph Hafners Beitrag „Der Kommentar als Spiegel einer Lebensform. Apuleius' Verteidigungsrede (Apologia pro se de magia) in Ausgaben von Isaac Casaubon, Scipione Gentiii und Johannes Pricaeus". In einer Zeit, die dem Phänomen der Magie hohe Aufmerksamkeit geschenkt hat, mußte Apuleius' Apologie auf großes Interesse stoßen. Neben der seit langem kontrovers diskutierten Sprachform des Afrikaners erläuterten die Kommentatoren den alten Text im Blick auf eine Widerlegung der Zauberei durch das Argument des gesunden Menschenverstandes. Pricaeus (1635) rückt dann archäologische Gesichtspunkte stärker in den Mittelpunkt. In der Archäologie der Wörter findet er die Möglichkeit, die spätantike Kultur anhand von materialen Sachverhalten zu rekonstruieren. Markus Völkel bestimmt in seinem Beitrag „Der Kommentar zu Historikern im 16. und 17. Jahrhundert" die Historie in ihrer grundsätzlichen Kommentargestalt und machte an ihr einen doppelten imitativen Aspekt aus: In Beziehung auf die res beschreibt die Historie eine moralische imitatio, in Rücksicht auf die verba ist sie eine nach Gattung, Autor und Stil bestimmte imitatio. Obwohl in hohem Grade fiktional, wird Geschichte mit einer faktischen, sie beglaubigenden Referenz ausgestattet. Neue Zeugnisse eröffnen der Historie eine „futuristische Differenz", die eine innere semiotische Drift erkennen läßt. Die Kommentierung antiker Historiker ist sowohl von einem Sach- als auch einem Stilinteresse geleitet, auch wenn selbst in Tacitus-Ausgaben die stilistische Anlehnung an Cicero und Livius dominiert. Die Kommentierung
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Ralph Häftier
mittelalterlicher, byzantinischer und neuzeitlicher Historiker zeichnet sich demgegenüber durch eine stärkere moralisch-pragmatische Aufarbeitung des Stoffes aus. Die historische prudenza des Lesers zu fördern, ist das ausgesprochene Ziel der Kommentierung von Guiccardinis Historia d 'Italia durch Tommaso Procacchi (1583). Die Erforschung des frühneuzeitlichen Kommentarwesens hat inzwischen eine bemerkenswerte Dynamik entwickelt. Der Band versteht sich als Baustein zu entsprechenden Erkundungen, die von italienischer, französischer und angelsächsischer Seite insbesondere in den vergangenen zwei Jahrzehnten unternommen worden sind. Die Funktionsweisen, denen die Objekte der „intellectual history" unterliegen, beschreiben Strukturfelder kultureller Räume, denen nur eine transdisziplinäre Form der Auffassung gerecht zu werden verspricht. Dieser Anspruch auf eine am überlieferten Material stets überprüfbare Rekonstruktion historischer Zustände, dem die Beiträge der beteiligten Historiker und Literaturwissenschaftler, Theologie- und Philosophiehistoriker geschuldet sind, fand in der angenehmen Atmosphäre konstruktiver Diskussionen lebhaften Ausdruck.
Irena Backus
French Calvinist and Catholic Commentaries on the Apocalypse of John, 1539-1589 Common Ground and Confessional Tensions
I. Introduction The chiliast ante-Nicene fathers who took the Apocalypse to be the work of John the Evangelist held it in great esteem. Irenaeus, particularly in Aduersus haereses V, was convinced of its apostolic origin and used it to defend chiliasm against the doctrine of spiritual resurrection put forward by the Valentinian Gnosis. As chiliasm began to lose hold in the Eastern, particularly the Alexandrian Church, the respectability of the Apocalypse was challenged. In the West, however, the attribution to John the Evangelist was maintained and the text was viewed more favourably. Indeed Commentaries on the book from Antiquity to the Renaissance tend to be Western. They are shaped in different ways by the commentaries of Victorinus of Poetovio (d. 304) who saw the book as a recapitulation of one and the same vision and of Tyconius (d. ca. 380) who removed from it all eschatological connotations. Beatus, Primasius and the Venerable Bede whose chief innovation was to divide the book into seven sections represent the spiritual exegesis of the book which grew up in the early Middle Ages. The twelfth century saw the birth of the historico-prophetic school of exegesis as represented by Rupert of Deutz and Nicholas of Lyra. Commentators belonging to that school relate the book's prophecies to real events in the history of the church and tend to put an eschatological interpretation on the final chapters. The major breakthrough in exegesis of the Apocalypse, however, came with the commentary of Joachim of Fiore (1195) who, while retaining a certain number of spiritual elements, took the book to be prophesying a spiritual age which would take place on earth prior to the Last Judgement and after the defeat of the Antichrist, whom he described as an individual emanating from Rome. Joachim's interpretation was adopted and expanded in the 14th and 15th century by the spiritual Franciscans who openly identified the Antichrist with the papacy or even with particular popes. The object of this paper is to examine the most influential Commentaries on the Apocalypse, which appeared in French speaking areas of Europe (France and French speaking Switzerland) at the time of the Wars of Religion. The Wars themselves gave rise to Roman Catholic sermons which identified them with the imminent advent of the end of history and the Last Judgement, but also to Protestant polemical literature which
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Irena Backus
tended to gloss over eschatology while making extensive use of the book's potential for anti-Roman and anti-papal polemic. We shall examine whether and to what extent the same tendencies are reflected in the commentaries on the Apocalypse of the period produced by Catholics and Protestants. Is an interest in eschatology a predominant characteristic of Roman Catholic commentaries? Are protestant commentaries first and foremost polemical? Are commentators, whatever their confession, influenced by contemporary events or do they prefer to take refuge in the traditional historico-spiritual method? If the latter were the case, this would suggest that methods of commenting on the Apocalypse were as it were autonomous and that a commentary had to conform to a set of traditional norms to be considered respectable. This in turn would mean that necessarily there had to be much common ground between Catholic and protestant commentaries as both had the same exegetical tradition to draw on. This is the hypothesis that we propose to test.
II. Catholic Sermons and Protestant Polemical Literature Religious climate in France was particularly uncertain in the 16th century and the Wars of religion naturally lent themselves to a prophetic or even a quasimillenarian interpretation as the final struggle before a period of peace or the Last Judgement itself. This point of view is particularly evident in French Roman Catholic sermons of the period. I shall confine myself to two examples from the sermons of Simon Vigor (1515-1575) French controversialist preacher elevated to the see of Narbonne in 1572. In his sermon "pour le lundy d'apres le premier dimanche du Caresme" dating from the 1560s he announces that the Wars are a sign of the approaching Last Judgement in the following terms: II y a cinquante ans que la guerre est en la France. Et combien avez vous veu de mouvemens de terre et d'inondations? Parquoi ces signes lä nous doiuent bien faire peur et nous faire penser au iugement Et vn autre signe qui est, que refrigescet Caritas multorum et abundabit iniquitas: la charite de plusieurs refroidira et Γ iniquity abondera: il y aura tant de faux ministres et de faux prophetes qui seront les precurseurs del'Antechrist.
And further on in the same sermon: Ce sera vn iour d'indignation: ainsi l'ont appelle pour nous faire peur et tremeur, afin que nous nous gardions d'offenser Dieu. Neantmoins ce malheureux Calvin en son Catechisme enseigne le contraire. Car quand ce vient ä cest article du iugement: Inde venturus est iudicare, le maistre demande au disciple: et bien doit on craindre ce iugement pourtant? Le disciple respond: et pourquoi le craindrons-nous? Veu que celui qui nous iugera est nostre
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Several collections of Vigor's sermons were published posthumously. I am referring to: Simon Vigor: Sermons catholiques pour tous les iours de Caresme et feries de Pasques, faits en l'Eglise S. Etienne du mont ä Paris par feu de bonne memoire maistre Simon Vigor [...] Reveuz pr lean Christi [...] et repurgez de fautes survenues en la premiere edition, Paris, Nicolas Chesnault 1580 [first edition : 1576]. Hereafter cited as Vigor: Sermons. Vigor: Sermons (Anm. 1), fol. 55r.
French Calvinist and Catholic Commentaries on the Apocalypse of John
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advocat? Et ainsi il veut oster aux hommes la crainte de ce iugment et par consequent donner une liberty ä mal faire et asseurer les meschans.3
However, the prophetic perspective was less present in Protestant polemical literature in France and French speaking area of Europe. Authors like Viret, Farel or Calvin himself tended to exploit the association between the Antichrist and the papacy for purely controversial ends and did not consider its eschatological implications. The best instance of this is the famous passage in Calvin's Institutio IV. 2, 12: Daniel et S. Paul ont predit que Γ antichrist serait assis au temple de Dieu: nous disons que le pape est le capitain de ce regne maudit et exöcrable, pour le moms en l'Eglise occidentale. Puisqu'il est dit que le siege de l'Antechrist sera au temple de Dieu, par cela il est signifii que son regne sera tel qu'il n'abolira point le nom du Christ ni de son Eglise [.. ,].4
Given this differing eschatological perspective between the two confessional extremes as represented by Vigor on the one hand and Calvin on the other, it is legitimate to ask whether the difference is as flagrant when we come to examine biblical commentaries produced by the two sides, especially commentaries on the Book of Revelation or Apocalypse of John. Some work has been done in recent years on the prophetic significance of Apocalypse 11, 1-14 in 16th-17th century Protestant circles and on the importance of prophetic teaching in the Lutheran Reformation generally. Moreover, some historians take it for granted that the Reformation possessed an eschatological dimension, which was not confined to its Anabaptist "lunatic fringe". However, if one excepts Richard Bauckham's classic study of 16th century English attitudes to the Book of Revelation, there has been very little work done on exegetical approaches to the book in the 16th century. It was to remedy this lacuna that I devoted some years to researching the main Calvinist and Lutheran commentaries for the period 1525-1584 and also to the issue of the book's place in the canon after the strictures passed on it by Erasmus and
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Vigor: Sermons (Anm. 1), fol. 60v. I am referring to the edition of Jean-Daniel Benoit; Jean Calvin: Institution de la religion chretienne, ed. Jean-Daniel Benoit, Paris 1958, p. 52. See Rodney Petersen: Preaching in the Last Days. The Theme of Two Witnesses in the 16th and 17th Centuries, New York / Oxford 1993; Robin Barnes: Prophecy and Gnosis. Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation, Stanford 1988. See Denis Crouzet: Les guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion (vers 1525-vers 1610/ 2 vol., Seyssel 1990. On the Anabaptist millenarianism see esp. Klaus Deppermann: Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979; George H. Williams: The Radical Reformation, 3rd Ed., Kirksville (Missouri) 1992, p. 553-588. See Richard Bauckham: Tudor Apocalypse. Sixteenth Century Apocalypticism, Millenarianism and the English Reformation, From John Bale to John Foxe and Thomas Brightman, Appleford 1978. See also Richard Bauckham: Heinrich Bullinger and the English, in: Henry D. Rack (Hg.): The Swiss Connection. Manchester Essays on Religious Connections between England and Switzerland between the 16th and the 20th centuries, Manchester 1995, p. 9-54.
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Irena Backus g
the young Luther. It then became clear to me that Roman Catholic commentaries from the same period were very few and far between particularly in the French speaking areas of 16th century Europe where the Wars of Religion were propitious to both prophecy and polemics. Furthermore, although the plastic nature of its text and its hostility to Rome made the Apocalypse the ideal book for medieval radical movements which could use it to attack not just the papacy but particular popes and could read specific historical events into e.g. the opening of the seven seals, French speaking protestants who interpreted the book eschewed all historico-prophetic exegesis, while exploiting to the full the book's potential for anti-papal polemics. As is well known, John Calvin did not comment on the book and, contrary to what some have asserted, there is absolutely no reason for placing him or his followers in the tradition of reformed Apocalyptics. My aim in this paper is simply to compare two Protestant and two Roman Catholic commentaries published in France or for French use in the time of confessional conflicts in order to examine their exegetical method and the use they make of the polemical and prophetic potential of the Book of Revelation. So as not to make this paper unnecessarily general, I have decided to concentrate on passages most likely to reveal the commentators' approach, eschatology and polemical inclinations and have therefore chosen Ape. 4, 6-8 (the four animals), Ape. 5, 1 (scroll with writing inside and out), Ape. 6; 8, 1 (the seven seals), Ape. 9,1 (the fallen star), Ape. 13 (the two beasts), Ape. 20, 2 (thousand years). The commentaries I shall be considering are (1) the first edition of the Familiere et brieftie exposition sur I 'Apocalypse de sainct Jehan, one of the rare vernacular biblical commentaries of the period first published in 1539 (and then with revisions in 1543, 1545, 1552, and 1557) by Antoine du Pinet, Calvin's
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Irena Backus: Reformation Readings of the Apocalypse (Geneva, Zurich, Wittenberg, 1525-84), New York / Oxford 2000. See also Irena Backus: Les sept visions et la fin des temps. Les commentaires genevois de l'Apocalypse entre 1539 et 1584, Geneve / Lausanne / Neuchätel 1997 (Cahiers de la Revue de Theologie et de Philosophie, 19) and Irena Backus: The Church Fathers and the Canonicity of the Apocalypse in the Sixteenth Century: Erasmus, Frans Titelmans and Theodore Beza, in: The Sixteenth Century Journal 29(1998), p. 651-665. On this see e.g. Howard Kaminsky: A History of the Hussite Revolution, Berkeley / Los Angeles 1967; Randolph E. Daniel: Reformist Apocalypticism and the Friars Minor, in: Michael F. Cusato / F. Edward Coughlin (Ed.): That Others May Know and Love. Essays in Honor of Zachary Hayes, St. Bonaventure 1997, p. 237-253; Howard Kaminsky: Joachimism and John Calvin: New Approaches, in: Roberto Rusconi (Hg.): Storia e figure dell'Apocalisse fra '500 e '600. Atti del 4Congresso internazionale di studi gioachimiti, San Giovanni in Fiore, 14-17 sett. 1994, Rome 1996, p. 163-73. Historico-prophetic exegesis does, however, figure prominently in post-Zwinglian and Lutheran commentaries of the period. See Backus: Reformation Readings (Anm. 8), p. 87112. See Kaminsky: Joachimism and John Calvin (Anm. 9).
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French Calvinist and Catholic Commentaries on the Apocalypse of John 12
friend and translator into French of his Epistola ad Sadoletum; (2) the practically contemporary Breuissima Scholia in D. Ioannis Apocalypsim first published in 1543 by Jean de Gagny, chancellor of the University of Paris and one of the most conservative doctors of the Paris Theology Faculty; (3) the Methodius facilima [!] ad explicationem sacrosanctae Apocalypsews Ioannis Theologi published in 1581 by Nicolas Colladon, Calvin's former friend expelled from Geneva in 1572 after a quarrel with the Company of Pastors; (4) the Ecphrasis et scholia in Apocalypsim, published in 1589 by Pierre Bulenger (or Boulenger) of whom nothing much is known except that he came from Troyes, taught in a school at Loudun and was a fervent supporter of Henri de Lorraine, third duke of Guise, the leader of the Roman Catholic malcontents executed by King Henry III on 23 december 1588, before he had a chance to see the commentary that was dedicated to him. Indeed, the commentary, its author and the milieu at which the work was directed were considered sufficiently dangerous for the printer to heed the advice of those who thought
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Antoine du Pinet: Familiere et briefue exposition sur l'Apocalypse de sainct Jehan, Geneva 1539. On Antoine du Pinet, see Backus: Reformation Readings (Anm. 8), chap. II, p. 3760. Brief characterisation of his commentary on the Apocalypse in Backus: Les sept visions (Anm. 8), p. 43-54. All the editions of du Pinet's commentary were published in Geneva by Jean Girard. It is thought that particularly the first (anonymous) and the fourth (pseudonymous) editions were intended for export to France. The Scholia on the Apocalypse appeared together with Gagny's scholia on the Pauline and on the Catholic Epistles, Gagny feeling that someone who undertakes to comment on the New Testament is duty-bound to include the Apocalypse. Here I shall be referring to the second printing of the work; Ioanne Gagnaeio: Breuissima et facillima in omnes D. Pauli Epistolas scholia, vltra priores editiones, ex antiquissimis Graecorum authoribus abunde locupletata. Itidem in septem Canonicas Epistolas et D. Ioannis Apocalypsim Breuissima scholia recens edita, Parisiis (apud Viuantium Gualtherot) 1550. On Gagny's life and work see Andre Jammes: Un bibliophile ä decouvrir, Jean de Gagny, in: Bulletin du bibliophile (1996), p. 35-81. Brief descriptions of his scholia on the Apocalypse in Backus: Les sept visions (Anm. 8), p. 17-22 and Backus: Reformation Readings (Anm. 8), chap. Ill, p. 8385. Nicolas Colladon: Methodus facilima [!] ad explicationem sacrosanctae Apocalypsews Ioannis Theologi, 3rd Ed., Morges 1584. I shall be referring to the expanded third edition published in Morges by Jean le Preux in 1584. Although I have treated Colladon and his commentary in some detail in Backus: Reformation Readings (Anm. 8) chap. ΙΠ, this is the first time I examine his exegesis of Ape. 4, 6-8; 5, 1; 6; 8, 1; 9, 1 and 13. I have investigated his exegesis of Ape. 20, 2 in Irena Backus: Apocalypse 20, 2—4 et le millenium Protestant, in: Revue d'Histoire et de Philosophie religieuses 79 (1999), p. 101117. On Boulenger see Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon, Leipzig 1750, Bd. 1, Sp. 1475. This commentary on the Apocalypse was printed in Paris: Petri Bulengeri Trecensis in Apocalypsim D. Ioannis Apostoli Ecphraseos et scholiorum libri septem, Parisiis (apud Michaelem Sonnium) 1589. On Henri de Lorraine see Arlette Jouanna u.a. (Ed.): Histoire et dictionnaire des Guerres de religion, Paris 1998, p. 955-960, p. 1042-1044. In his preface addressed to Henri, Boulenger states that his object in producing the work was to free the Apocalypse „from the pernicious comments with which it had been contaminated by cursed men" (a 4r.)
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that he should wait before publishing it, which so angered Boulenger that he decided not to publish any more works of theology. Given the orientations of the four commentators, it is interesting to see whether they share any hermeneutical presuppositions about the text they are commenting or whether polemics be it of the anti-papist sort or of the more eschatological anti-protestant variety, is their chief concern. In fact, we can state from the outset that all four practice spiritual exegesis deriving from Tyconius' lost commentary and perpetuated in the commentaries of Primasius and Bede, which were readily available. Equally, all four are very aware of standing in an exegetical tradition, even though Colladon refuses to cite the commentaries to which he referred. Apart from Primasius and Bede, Haymo of Auxerre, Victorinus of Poetovio, Rupert of Deutz and Arethas are the most frequently cited authors both in the Catholic and in the protestant commentaries. Victorinus of Poetovio's work was available from 1543 onwards without the millenarian ending. Haymo of Auxerre belonged very much to the spiritual tradition and Rupert of Deutz, although a historical exegete and more precise in his identification of the Antichrist, did not see John's prophecy as extending beyond the Council of Nicea. As for the glosses of Arethas, they were no more than a 9th century collection of isolated comments on the Apocalypse by Greek theologians. And yet, despite the common exegetical tradition they draw upon, our four 16th century commentators have very different aims. Du Pinet's commentary has a strong pastoral orientation, comforting the French protestants in their difficult hour and instructing them on their duties and obligations. Gagny seems to have directed his scholia at a learned audience and, being most reluctant to comment on the Apocalypse as a difficult, obscure and somewhat dubious book, claims that he did no more than compile what others before him had said about it. Colladon, on the other hand, claims that he had inside knowledge of Calvin's views on the text and that his Methodus was no more and no less than the 19 commentary Calvin himself would have written had he lived. Finally, Boulenger intends to free the Apocalypse from protestant polemic and to 20 recover it for Catholic use. 17
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Boulenger: In Apocalypsim (Anm. 15), a 4v: "Ilia [exegesis] quidem longo iam tempore in apertum prodiisset, si bibliopola ad quem miseram, vt a doctissimis theologis probatam aeneis typis excuderet, stetisset promissis, nec fidem nonnullorum hominum dictis temere habuisset, qui male de religione sentientes ac videntes me serio impudentissimam linguae ipsorum procacitatem coercere et reprimere, hominem a proposito auerterunt. Quae certe quidem res ita me offendit vt apud animum statuerim nihil in posterum quod ad sacram theologiam spectaret literis mandare." See Backus: Reformation Readings (Anm. 8), chap. Ill, p. 68f. Backus: Reformation Readings (Anm. 8), chap. ΙΠ, p. 68f. Boulenger: In Apocalypsim (Anm. 15) a 4r: „Ac cum pestiferos homines styli mucronem in catholicam Christi ecclesiam et salutaria eius dogmata exacuisse et diui Ioannis Euangeliographi Apocalypsim impiis suis commentis contaminasse animaduerterem, aliquid coelesti fultus ope in medium adferre constitui quod ad Dei gloriam et aliquam studiosorum vtilitatem redundaret."
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a) Ape. 4, 6ff. The four commentators' exegesis of the animals in Ape. 4, 6ff. reflects very well their respective stances without any overt desire for polemics being made manifest. Thus according to du Pinet the four animals represent all the true faithful in the world who constantly announce the word of God. They have eyes all over (Ape 4, 8) because they see and recognise the truth while others walk in darkness. It is to arm them against the power of persuasion of false brethren that the Lord has endowed them with the capacity to thus distinguish between the true and the false doctrine. It is more than probable that du Pinet did not know the commentary of Victorinus of Poetovio who interpreted the four animals as the four Gospels. However, he certainly knew the work of Irenaeus who had also interpreted the passage in that way in Adu. haer. 3, 11, 8 as well as the explanation of Jerome and Augustine and the commentary on the Apocalypse of Rupert of Deutz, which had been available in print since the 1530s. It is thus more likely choice than simple ignorance which made him interpret the four animals as incarnating the main virtues of the true faithful: the lion, patience and courage; the ox, usefulness and tranquillity; the human - who could also be a child, notes du Pinet referring to the visions of Ezekiel 1, 4—13 and 10, 8-14 - prudence, innocence and submission to God; and the eagle, alacrity in executing God's orders and serving his glory. Just as du Pinet ignores all learned explanations of the meaning of the four animals, so Gagny ignores all the pastoral significance they might have. Moreover, he seems quite uninterested in broadening his audience's knowledge of the Bible and does not even mention that the vision is to be found in the Book of Ezekiel. What interests him most of all are the discrepancies in identification found in the different Fathers. Thus he notes that Irenaeus identifies the lion with the Gospel of John, whereas Jerome prefers to identify it with Mark. All agree that the ox represents the Gospel of Luke and almost all think that the eagle stands for John but Augustine differs from other Fathers in preferring to identify the third animal with the Gospel of Mark. Gagny does not try to iron out the discrepancies and does not put forward any alternative identification. Only his exegesis of eyes all over (Ape. 4, 8) gives away something of his convictions as he applies the phrase not only to the Evangelists but to all those who "eorum vicem gerunt doctores et pastores"; in other words to the ecclesiastical hierarchy who have to be careful and prudent in their actions and in their thoughts. Thus whereas for du Pinet it is the true faithful who surround the throne of God in the celestial service in Ape. 4, 6 ff., for Gagny it is the ecclesiastical hierarchy. Colladon who devotes very little time to the passage, gives it as Calvinist an interpretation as possible: the four animals represent the whole of creation; the
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Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 57-60. Gagny: Breuissima scholia (Anm. 13), p. 255f.
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lion, all the wild beasts; the ox, all the domestic animals; the human, humans and the eagle, birds. They are to be found in the centre, around the throne because they submit to God who created them. They have eyes all over (Ape. 4, 8) not because of any prudence, wisdom etc. that they themselves might possess but because God's all-seeing providence works through them. They all sing sanctus, sanctus, sanctus so as to demonstrate the power of God over all of 23
creation. Given that our protestant commentators tend to identify the four animals with either all the faithful or all of creation, which is governed by divine providence, one would expect Boulenger to adopt a similar line to Gagny and interpret the four animals as the ecclesiastical hierarchy assembled around God's throne. In fact, Boulenger is not at all interested in identifying each of the animals with a Gospel. Instead, he suggests two alternative interpretations of Ape. 4, 6 ff. One is to interpret the animals as embodying the main virtues of the true faithful, exactly as du Pinet did, with the lion standing for patience and courage; the ox, for usefulness; the human, for utilising correctly whatever God sends and the eagle, for placing one's faith in Christ above all earthly things. Only the interpretation of the human as someone endowed with enough free will to make good use of whatever God sends distinguishes Boulenger's exegesis from the protestant du Pinet's. The other interpretation of the passage is to take the animals as standing for the whole of creation through which God accomplishes everything. There seems to be no substantial difference between Boulenger's second interpretation and Colladon's exegesis of the same passage. It would thus seem that the potential for a confessionally biased interpretation of Ape A, 6ff. was only partly exploited by commentators in France. b) Ape. 5, 1 (a scroll with writing inside and out sealed up with seven seals) Ape 5, 1 does not offer a better example of confessionally biased exegesis. Du Pinet was obviously not sure how to interpret the passage. He notes that some take inside and out to denote knowledge of things present and of things future, whereas others take it that the scroll is full of laments and woes, which like the laments and woes in Ezekiel 2, 10 are too numerous to be contained inside. Others yet take inside to refer to the Scripture and out to external ceremonies, which prevent us from knowing Scripture. He finally opts for interpreting the scroll as the perfect book of God's counsel not accessible to men25, i.e. a symbolic representation of God's providence. Gagny adopts the interpretation which goes back to Victorinus of Poetovio: The scroll is the Old Testament and only Christ was able to open it, i.e. unseal its spiritual meaning when he rose from the dead. Gagny also adopts Arethas' 23 24
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Colladon: Methodus (Anm. 14), p. 83-85. Boulenger: In Apocalypsim (Anm. 15), fol. 137v.-139r. Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 62f. See Victorin de Poetovio: Sur l'Apoclypse et autres ecrits, ed. Martine Dulaey, Paris 1997 (Sources chritiennes, 423), p. 74f.
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interpretation of the scroll as standing for God's memory with all the names of the true faithful written on the inside and the names of the wicked on the 27 outside, interpretation very similar to du Pinet's and indeed Colladon's, who unlike du Pinet, is quite clear that the only correct way to interpret the passage is to take the scroll to stand for the perfect book of God's counsel, i.e. not a book in any literal sense. Boulenger, although he reviews several likely interpretations, including the one adopted by Gagny, finally also ogts for the "protestant" interpretation of the passage, which goes back to Arethas. c) Ape. 6; 8, 1 (the opening of the seven seals) Few passages lent themselves better to a polemical interpretation than chapters six and thirteen. In chapter six it was difficult to resist the temptation to show the course of the history of the Christian church with the fifth seal standing either for the reign of Pepin the Short or for the reign of Hildebrand, and marking the beginning of the reign of the popish Antichrist. The Zurich reformers all adopted this interpretation. Did the French protestant commentators do the same and did the Roman Catholic commentators put up an anti-protestant interpretation in defence? In fact, all four commentaries are astonishingly similar in their interpretation of the seven seals, with the sole exception of Colladon whose exegesis is ahistorical. Thus du Pinet takes the prophecy of the seals to extend from John's own time until the Last Judgement. The first seal represents the very first years of the reign of the Gospels, and the rider of the white horse is Christ himself "qui vse de ses apostres et disciples comme d'vn cheual blanc, e'est adire pur et net." The second seal (the red horse) stands for the persecution of the Christians in ancient times. The rider of the red horse can only be Satan, although, as du Pinet is quick to point out, Satan can only destroy ^eace in the world; he can never destroy the peace in the hearts of the faithful. The third seal stands for the ancient heretics and the pair of scales the rider holds represents the way they weigh everything up according to their wish and interpret the Scripture exactly as it pleases them. Only his interpretation of the fourth, fifth and sixth seals gives the reader an inkling of du Pinet's confessional stance. The pale horse represents hypocrites who take up where the ancient heretics left off. He sees hypocrisy, Satan's main instrument, as extending into
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Gagny: Breuissima scholia (Anm. 13), fol. 256r. Colladon: Methodus (Anm. 14), p. 86f. Boulenger: In Apocalypsim (Anm. 15), fol. 149r-151r. See Backus: Reformation Readings (Anm. 8), chap. IV, p. 87-112. Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 69: "Or il est certain que sainct Iehan applique ceste prophetie ä son temps, poursuyuant tousiours iusques au dernier iour." Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 70. Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 71. Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 72.
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his own day. "Car nous voyons ces hypocrites contrefaisans leurs faces, ayans le col tort, soubz l'vmbre de piete et religion, dresser guerre mortelle contre Iesus Christ" - is obviously an allusion to Roman Catholic clergy. Du Pinet also follows the exegesis which originates with Victorinus and so sees the pale horse as standing for famine, not of earthly commodities, however, but of the word of God. As examples of this, he cites the spreading of Islam in Africa and Asia and the ban on vernacular Bibles in France (decreed on 5th February 1526).36 The fifth seal, the saints under the altar, aims to show the faithful that the Lord will avenge them and their suffering after a long period of waiting. Although no contemporary event is mentioned, the memory of the persecutions following upon the "Affaire des placards" in 1535 was sufficiently fresh for du Pinet's words to find an immediate echo with the French protestants. As if to make his point more clearly, he sees the sixth seal as the outpouring of God's wrath on all 37
those who persecute the true servants of Christ. The seventh seal (Ape. 8, 1) does not stand for the Last Judgement but for a period of peace for the Church which, according to du Pinet, is called symbolically a thousand years in Ape. 20, 2-4. That period follows upon the defeat of "la miserable Babylone" and is characterised by the conversion of the Jews. Once it has elapsed, Satan will be unleashed for the final time. Du Pinet obviously envisages some sort of period of peace on earth for the prosecuted Protestant Church and wants to impress this on his readers so as to give them hope. However, as we shall see, he is very careful to correct this impression in his exposition of Ape. 20, 2ff. so as not to be taken for a millenarian. It is interesting to note too that not once in his exposition of the seven seals does he refer explicitly to the papacy or to Rome but prefers to talk about the defeat of Babylon. This timidity or perhaps a genuine wish to conceal his real convictions and intentions meant that his commentary would have appealed to the most zealous but also to more hesitant Protestants in France. Thus it is not really surprising to find that Gagny's exposition of the seven seals does not differ substantially from du Pinet's. The main difference is in fact the absence of all allusions to contemporary events and Gagny's continued identification of the four animals (who invite John to witness the opening of seals one to four) with the four Evangelists. Furthermore, unlike du Pinet, Gagny does not envisage (however tentatively) any earthly period of peace for the church, prior to the final unleashing of Satan. This is not surprising, seeing that, as a member of the Establishment, he needs neither to console his readers nor to define his church. Thus for Gagny, the first seal and the white horse represent the elect in the primitive church. The rider is Christ "qui in sanctis suis sedet et habitat". The second seal and the red horse stand for persecutions
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Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 73. Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 73f. Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 75-77. Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 85. Gagny: Breuissima scholia (Anm. 13), fol. 257v.
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of the early Christians beginning with Nero. Like du Pinet, Gagny thinks that the rider is Satan himself. His exegesis of the third seal fully accords with du Pinet's. The black horse represents heretics raised up by the devil once he saw that he could not stop the progress of Christianity by persecutions. The scales in the hands of the rider stand for the Holy Scripture, which the heretics interpret not according to the consensus of the church but as their fancy takes them. Although Gagny does make overt allusions to protestant practices elsewhere in the Scholia, e.g. in Ape. 11, 1 where he refers the measuring of the temple to adjusting the church's teaching to the masses who are incapable of understanding the Bible unless it is first interpreted by the church, he says nothing about the protestants in his interpretation of the third seal. Similarly he refers the fourth seal and the pale horse to hypocrites who "emaciate their faces so that they look as if they were fasting" without any further comment. The fifth seal represents the souls of martyrs who have to wait to enter the kingdom of heaven until the whole of Israel is saved. As for the sixth seal, he does not interpret it as Lord's vengeance, but as the time of the Antichrist prior to the Last Judgement. The seventh seal then signifies not the period of peace before the final unleashing of Satan but the brief period of silence for the church militant after the death of the Antichrist and before the Last Judgement. Colladon, whose commentary taken as a whole condemns the Roman church and the papal Antichrist almost to the point of boring his readers, chooses to give a completely atemporal and therefore non-polemical interpretation of the seven seals. He states quite frankly that the opening of the seals has nothing whatsoever to do with the unfolding of time and concerns simply the ordering of John's vision. He does admit, however, that the sixth and the seventh seal 46
represent the approach of the Last Judgement and the Last Judgement itself. For the rest, Colladon considers the opening of the seals as an event, which is reflected by the blowing of the seven trumpets and the pouring out of the seven bowls. All the three visions represent punishments that the Lord inflicts on his enemies and are designed to warn us not to desire consolation from earthly things. Boulenger's interpretation of the seven seals echoes Gagny's even to the extent of identifying the four animals as the four Evangelists. It would therefore seem that even Boulenger who aimed to recover the Apocalypse for
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On this see Backus: Les sept visions (Anm. 8), p. 20f. Gagny: Breuissima scholia (Anm. 13), fol. 258v. Gagny: Breuissima scholia (Anm. 13), fol. 259r. Gagny: Breuissima scholia (Anm. 13), fol. 259r.-v. Gagny: Breuissima scholia (Anm. 13), fol. 259v.-260v. Gagny: Breuissima scholia (Anm. 13), fol. 262r. Colladon: Methodus (Anm. 14), p. 7: „Neque enim septem sigillorum apertio ordinem temporis interuallis certis distinctum semper denotat, sed saepe tantum ad ordinem diuinae narrationis et sanctae visionis spectat. Vnum tamen excipio quod septimum sigillum omnino est vltimus dies et sextum praeparatio magis ac magis aduentantis proximeque instantis illius diei." Colladon: Methodus (Anm. 14), p. 108-118, p. 164, p. 251.
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catholic use did not feel the need to fully exploit the polemical potential of the seven seals. d) Ape. 9, 1 (the fallen star) Similarly, all four opt for a fairly classical exegesis of the fallen star resisting all temptation to refer it either to Luther or to Hildebrand. To du Pinet the fallen star represents the chief ministers of the church who have fallen away from the union of the faithful and from the truth, into wisdom of the flesh, sects and 48
heresies. Once again the words "Rome" and "papacy" are not mentioned. Gagny considers following the consensus and also referring the fallen star to heretics (of all periods of history) but finally opts for an even more innocuous interpretation and, following Venerable Bede, takes the star to stand for Lucifer. Colladon also considers the interpretation of those who take the star to stand for Arius prior to stressing that his whole purpose is to refer all the prophecies and visions of the Apocalypse to the papacy which will come to an end with the Second Coming and the Last Judgement. However, having said that, he takes the fallen star to signify Lucifer just as Gagny does. Boulenger discusses the same options: Lucifer, a heresiarch such as Luther, or all the heresiarchs from all periods in history, before finally opting for the latter, so that he can be said to some extent to echo du Pinet's exegesis. e) Ape. 13 (the two beasts) It is only when we come to the exegesis of the two beasts that we can see all four commentators take up a clear, confessional stance. Du Pinet has no hesitations about interpreting the first beast as all the kingdoms and earthly powers "qui comme Antechristz afferment en main forte les mensonges et doctrines des diables", in other words as all rulers who support Catholicism and the papacy. Although du Pinet yet again is not explicit, the implication this time is quite clear. As for the second beast, more cruel than it appears, it can only represent the Antichrist who will emerge from among Christians to combat the truth with spiritual weapons. This power which is directly opposed to Christ is divided into two horns: Islam and the papacy. In view of this du Pinet interprets the number 666 as denoting the number of years the kingdom of the Antichrist will last: a long time in human terms but certainly not eternally. Even the discreet Gagny does not hesitate to give an (admittedly slightly) confessionally oriented interpretation of the chapter. He takes the first beast to be the Antichrist and the second beast to be his false preachers, risen from the 48 49
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Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 92. Gagny: Breuissima scholia (Anm. 13), fol. 265r.-v. See Bede: In Ape. ad loc., MPL 93, 157. Colladon: Methodus (Anm. 14), p. 141f. Boulenger: In Apocalypsim (Anm. 15), fol. 241r.-243v. Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 153. Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 153-159.
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earth, in the sense of serving their own earthly desires. The two horns of the second beast are the two testaments of the Scripture which the false preachers of the Antichrist use to protect their own wickedness. Gagny refuses even to try and interpret the meaning of 666. Although less explicit than his Protestant counterpart, Gagny has said enough to enable those who wish to do so to identify "the false preachers of the Antichrist" as Protestant preachers. Colladon adopts the classic Protestant exegesis and identifies the first beast with the Roman Empire whose wound (i.e. downfall) was healed by the second beast, the papacy. Although Boulenger's interpretation differs little in substance from Gagny's, it is much more overtly polemical. He is, to my knowledge, the first commentator on the passage to note that the identification of the papacy as the Antichrist is due to the Protestants' conviction that this is the only way to understand Paul's words in 2 Thess. 2, 4. Boulenger shows no restraint in calling protestants blind, mad and unfortunate in their identification of the Roman pontiff as the Antichrist. The seat of the church, he continues, has been in Rome for the past 1500 years and will remain there until the end of the world. The first beast and the second beast are thus manifestations of the Antichrist. All those who worship Mohammed and also Luther, Calvin and other monsters of that kind thereby worship the dragon that gave the power to the beast. The second beast stands for all those who attempt to preserve demonic doctrines with their perverse interpretations and their false ceremonies, that is Lutherans, Calvinists, Zwinglians and leaders of other, similar sects. As reluctant as Gagny to speculate on the number 666, Boulenger finally refers it to Mohammed. Although Gagny's interpretation of Ape. 13 is sufficiently open-ended to allow an anti-protestant reading, he nonetheless remains firmly in the Tyconian perspective, seeing the Antichrist as the anonymous corpus diaboli, the sum total of anti-Christian forces at any or all times of history. Boulenger, who ostensibly adopts the same exegesis, identifies the Antichrist as Mohammed and all supporters of the Reformation and thus moves from the spiritual to the historico-prophetic perspective. The same can be said of the two protestant commentators, seeing as both identify the papacy as either a crucial aspect of the Antichrist's activity or as the Antichrist himself. Although the anti-Roman tone of the Apocalypse is a well-known feature of the text, it does not mention the Antichrist or indeed the bishop of Rome. The Protestants simply adopted the joachite or radical Franciscan interpretation of the text in an attempt to isolate the papacy from the true church, which they thought they represented. Boulenger's retort was clumsy but no clumsier than the attack. Neither side
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Gagny: Breuissima scholia (Anm. 13), fol. 278r.-280r. Colladon: Methodus (Anm. 14), p. 267-273. Boulenger: In Apocalypsim (Anm. 15), fol. 376v.-393r. Boulenger: In Apocalypsim (Anm. 15), fol. 402v. On the medieval notions of Antichrist see esp. Bernard McGinn: Antichrist. Two Thousand Years of the Human Fascination with Evil, San Francisco 1994.
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claims prophetic gifts or powers, each is determined to show the adversary that it is they who are the true catholic church. f) Ape. 20,2ff. (chained him up for a thousand years) Although all four commentators are interested in the presence and the eventual demise of Antichrist, not one of them is a millenarian. Du Pinet, although he referred the half an hour in Ape. 8, 1 to what seemed to be a future period and although he stated that the half hour is to be understood in the same way as thousand years of Age. 20, 2ff., criticises severely the millenarianism of the ante-Nicene Fathers. The idea of the perfectly happy, "unmixed" church on earth is inadmissible to him. Thus he is very careful to interpret the thousand years as the time from the Incarnation until the end of history. This period is brief comparing to eternal life but also very long because Christ reigns forever in the hearts and minds of the faithful. For Gagny there is equally no doubt that the thousand years covers the time from the Incarnation until the advent of the Antichrist, when Satan will be released for a little while. There is no hint in Gagny's commentary that he is in any way interested in the probable date of the elapsing of the thousand years. Colladon, although practically obsessed by the papal Antichrist, neutralises completely all chiliastic content of the biblical text. He refers the thousand years in Ape. 20, 2 to the church's beginnings and stresses that the church of the apostolic times, although in a better condition than the church of his own era, was by no means perfect. The thousand years in Ape. 20, 4 is the inner blessedness of the true Christians, living or dead, which lasts eternally. By thus separating the papal Antichrist from his exposition of the book's eschatology, Colladon reduces his status from that of an eschatological anti-god to that of an insignificant servant of the devil who finally will have no option but to convert. Boulenger too is amillenaristic and condemns sharply those who understand thousand years as a period on earth when Christ will come down and reign with his saints. However, he does not venture his opinion as readily as in his exegesis of e.g. Ape. 13 but tends to cite other commentators, especially Primasius, Bede and Augustine. He thus accepts three possible interpretations of thousand years: either, the chaining up of the devil for the period of the duration of the church, or his chaining up in the final thousand years (i.e. the sixth thousand) of the duration of the world before the Last Judgement, explanation put forward by Augustine in De ciuitate Dei 20, 7. Boulenger also considers a third opinion
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Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 205: "Aucuns, comme Lactance, estiment que Iesus Christ regnera entre ses esleuz mille ans, en grande paix et tranquillite, puis apres mille ans la consommation du siecle sera. Ceste opinion d'autant qu'elle tend ä vn regne quasi charnel, voulant establir vne eglise sans contradiction n'est & receuoir; car tousiours l'hyuroye sera mestee auec le bl6." Du Pinet: Briefve exposition (Anm. 12), p. 205. See Backus: Apocalypse 20,2-4 (Anm. 14).
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of those who think that the thousand years should be counted from the beginnings of the kingdom of Christ, that is from apostolic preaching [...] until the time when the empire of MohammedJ...] began to rage against the Gospel of Christ to safeguard its own laws and institutions.
The problem of the millennium was obviously not a crucial issue to Boulenger, any more than it was to the other commentators in the 16th century. Millenarianism was disreputable and only a spiritual or a historical interpretation of the thousand years was felt to be respectable.
III. Conclusion Common exegetical heritage played more of a part than confessional stance in French Calvinist and Roman Catholic commentaries that we have been discussing. Chapter thirteen seemed to be the only one to have its polemic potential exploited to the full. Finally, what really distinguishes the Calvinist commentaries from the Catholic is their attitude to the papacy and to the Roman ecclesiastical hierarchy. To the protestants the papacy was either the Antichrist or one of its manifestations but the papacy had been governing the church for some hundreds of years and could not seriously be described as the eschatological anti-god that would appear at the end of time. Indeed, none of the commentaries that we have examined gives the end-time any kind of serious consideration. By the 16th century the Antichrist had simply become a term of abuse, at least in French speaking exegetical literature. For men like Gagny, particularly sparing with their use of polemics, the Antichrist retained its Tyconian significance as the corpus diaboli. To return to our starting point, there was a chasm separating French Protestant and Catholic commentaries on the Apocalypse from both Catholic sermons and Protestant polemical literature. Eschatology, which dominated the sermons of Simon Vigor is absent from both Gagny's and Boulenger's Commentary. As for the issue of the papal Antichrist which so dominates French speaking polemical Protestant literature, it surfaces in the commentaries of both Protestants and Catholics as a matter of routine. In all, as has been shown by our examination of the passage on the four animals, the seven seals, the scroll written inside and out, the fallen star and the unleashing of Satan, common ground and reliance on the same models far outweigh confessional polemic in protestant and Catholic commentaries on the Apocalypse published at the time of the Wars of Religion. This phenomenon suggests that theologians, whatever their confession had a particular idea of what a commentary on the Apocalypse should contain to be worthy of the name. Basically it had to be
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Boulenger: In Apocalypsim (Aran. 15), fol. 574r.-583r., esp. 582r.: "[...] Alii qui mille annos accipiendos putant a Christi regno exorta, nimirum ab apostolica praedicatione [...] vsque ad ea tempora quibus Mahumetanum Imperium pro suis legibus ac institutis aduersus Christi Euangelium [...] saeuire coepit [...]."
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grounded in tradition going back to Victorinus of Poetovio and Tyconius. Only on occasions, could it adopt the historico-prophetic approach. The Reformation period, normally considered as the golden age of biblical exegesis, did not see any substantial innovations in methods of commenting the Apocalypse of John. This is illustrated particularly well by the French Commentaries on the book. What was judged appropriate for sermons and polemical tracts, was not found to be suitable for learned exegesis.
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Spiritueller Kommentar und pietistische Gelehrsamkeit Gottfried Arnolds Kommentardichtung zum , Hohen Lied' und ihre Verankerung in der Sophienmystik
I. Vom Historiker zum Sophienmystiker und Editor Der radikale Pietist Gottfried Arnold hat sich stets außerordentlich kritisch gegenüber Gelehrsamkeit und profaner Wissenschaft verhalten und im Gefolge der Wissenschaftskritik eines Agrippa, Sebastian Franck und insbesondere Caspar Barth ein Erziehungsideal entworfen, das die göttliche Erleuchtung zur Aneignungsbedingung alles weltlichen Wissens erklärte. Arnold gehört in die Geschichte der frühneuzeitlichen Wissenschaftskritik und des antigelehrten Dichtens, die die Entwicklung nicht nur der modernen Naturwissenschaft, sondern auch der kritischen Philologie von ihren Anfangen her begleitet hat. Wie fur Sebastian Franck, so hatte auch fur Arnold nur der von Gott erleuchtete Mensch Teil an der göttlichen Weisheit, die streng von den Gehalten weltlicher Wissenschaften unterschieden war und deren Besitz der Beschäftigung mit jenen vorauszugehen hatte: „Es ist alles gantz eitel [auch die Welt-Gelehrsamkeit] und noch dazu eine böse Plage / wenn sie ohne Gott und seinen Geist getrieben wird." Alles äußere Wissen konnte Arnold nur dann akzeptieren, wenn es der durch den göttlichen Geist bewirkten inneren Wiedergeburt diente und also spirituell auf die .wahre Weisheit' ausgerichtet war: „Mit der wahren Weisheit aber wird erstlich alle menschliche Erudition 3
recht brauchbar und ersprießlich." Zugleich hat Arnold eines der einflußreichsten gelehrten Werke der frühneuzeitlichen Kirchen- und Mystikgeschichte verfaßt, zahlreiche Übersetzungen spätantiker, mittelalterlicher und zeitgenössischer Autoren angefertigt und diese mit Einleitungen und Kommentaren versehen. Sein wichtigstes Kommentarwerk ist eine Kommentardichtung zum Hohen Lied:
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Vgl. Gunter E. Grimm: Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang, Tübingen 1998. Grimm behandelt den Pietismus nicht. Gottfried Arnold: Der wohleingerichtete Schulbau, Anhang, Leipzig / Stendal 1711, S. 80. Arnold: Schulbau (Anm. 2), S. 16. Es gibt keine komplette Bibliographie; vgl. aber das Werkverzeichnis bei Erich Seeberg: Gottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit, Meerane 1923, ND, Darmstadt 1964, S. 56-62. Zur Arnold-Literatur bis 1993 vgl. die von Hans Schneider zusammengestellte Bibliographie in: Dietrich Blaufuß / Friedrich Niewöhner (Hg.): Gottfried Arnold (1666-1714), Wiesbaden 1995, S. 415-424.
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Poetische Lob- und Liebes-Sprüche/von der Ewigen Weißheit. So zeugt Arnolds Werk von einem Gelehrsamkeitsverständnis, das durch den Zusammenhang von historischer Gelehrsamkeit, Bibeldichtung und mystischer Rede gekennzeichnet und in Arnolds Sophienmystik spirituell fundiert ist. Der Umgang mit gelehrtem Textmaterial stellt sich im Kontext heterodoxer Spiritualität als Gegenmodell zur historisch-kritischen Philologie aber auch zur lutherisch-orthodoxen Bibelexegese dar, gegen die gemeinschaftlich der Vorwurf erhoben wird, ihr methodisches Instrumentarium betreffe nur das η äußere, verfehle aber das entscheidende .innere' Wort. Arnolds historischphilologische Arbeit steht mithin in der Tradition spiritueller Exegese und Kirchengeschichtsschreibung, die vor allem auf Caspar Schwenckfeld und Sebastian Franck zurückgeht und richtet sich ausdrücklich auf das innere, geistige Wort, das einen spirituellen Sinngehalt transportiert und nicht mit dem äußeren, buchstäblichen Wort der Bibel identisch ist. Arnold teilte mit den Schwärmern des linken Reformationsflügels die Abwertung des äußeren Wortlauts zugunsten eines inneren Wortes, das weder mit dem Rüstzeug profaner Philologie, noch mit dem der lutherisch-orthodoxen Exegese, wie sie Flacius Illyricus methodisch begründet hatte, erfaßt werden konnte. Für diese Philologie des inneren Wortes war seit Schwenckfeld die Verbindung der johanneischen Logostheologie mit der paulinischen Kontrastierung von Buchstabe und Geist konstitutiv: Über den äußeren Buchstaben hinaus wird ein zu erschließender innerer Sinn unterstellt, der mit dem göttlichen Logos des Johannesprologs identifiziert und erst durch das Wirken des Geistes aktiviert wird. Auf dieses innere Wort als den eigentlichen Sinn einer Textstelle im Unterschied zu seinem buchstäblichen Wortlaut richtet sich die spirituelle Exegese, die für Arnold in der Weisheit der Himmlischen
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Zum Zusammenhang von Mystik und .Gelehrsamkeit' bei Arnold vgl. die vorzügliche Untersuchung von Hanspeter Marti: Die Rhetorik des Heiligen Geistes. Gelehrsamkeit, poesis sacra und sermo mysticus bei Gottfried Arnold, in: Dietrich Blaufuß (Hg.): Pietismus-Forschungen. Zu Philipp Jacob Spener und zum spiritualistisch-radikalpietistischem Umfeld, Frankfurt a.M. / Bern / New York 1986, S. 197-294. Marti geht jedoch nicht auf Arnolds Sophienlehre ein, sondern ist insbesondere an Arnolds spiritueller Sprachauffassung interessiert. Zur Entwicklung der philologischen Methodik in der Frühen Neuzeit vgl. die Aufsätze im Band Ralph Häfher (Hg.): Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher .Philologie', Tübingen 2001. Vgl. Rudolf Keller: Der Schlüssel zur Schrift. Die Lehre vom Wort Gottes bei Matthias Flacius Illyricus, Hannover 1984. Er behandelt die paradigmatische Kontroverse zwischen Schwenckfeld und Flacius und dessen Grundlegung der lutherischen Exegese in der Clavis sacrae scripturae. Vgl. Peter Erb (Hg.): Schwenckfeld and Early Schwenckfeldianism, Pennsbury 1986. Vgl. Wolf Peter Klein: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins, Berlin 1992, bes. S. 161-184. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Spiritualistische Exegese im Streit. Brenz, Soto, Schwenckfeld, Flacius, in: Hans-Jürgen Goertz / James M. Stayer (Hg.): Radikalität und Dissent im 16. Jahrhundert, Berlin 2002 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beih. 27), S. 141-166.
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Sophia kulminiert. Die Sophia ist als schöpfungsvorgängige Entäußerung Gottes von christologischer Qualität, sie ist der Schöpfungs- und Erlösungslogos, das wahre innere Wort, das es zu erschließen gilt. Jedwede Art philologischer Tätigkeit hat für Arnold dieser Erschließung zu dienen.
II. Vita und Werk im Spannungsfeld von Wissenschaft und Innerlichkeit Arnold besitzt eine selbst für einen radikalen Pietisten exzeptionelle Biographie, die sich zwischen Innerlichkeit und Gelehrsamkeit, Weltabkehr und sozialem Wirken, Kirchenkritik und Kirchenamt spannt. Er wurde 1666 in Annaberg (Sachsen) geboren und studierte nach einer in kargen Verhältnissen verbrachten Jugend an der Hochburg lutherischer Spätorthodoxie in Wittenberg Theologie. Mit zwanzig Jahren wurde Arnold zum Magister artium promoviert. Sein wichtigster Lehrer in Wittenberg ist bezeichnenderweise kein Theologe gewesen, sondern der Professor für Historie und Griechisch, Conrad Samuel Schurzfleisch, der Arnold das historisch-philologische Rüstzeug vermittelte und seine ersten kirchengeschichtlichen Arbeiten über das vornicaenische Christentum anregte. Neben diesen historischen Arbeiten verfaßte der künftige Spiritualist Arnold auch eine Dissertation über die Engelssprache als Möglichkeit immediater Kommunikation. Durch die Lektüre Speners und frühchristlicher Schriften näherte sich Arnold dem aufkommenden Pietismus. In Dresden übernahm er eine Hauslehrerstelle und intensivierte den persönlichen Kontakt zu Spener. Nachdem der strenge Arnold sich mit seinem Dresdner Arbeitgeber in Fragen der Erziehung und Lebensführung restlos überworfen hatte, wechselte er nach Quedlinburg, ins Sammelbecken eines separatistischen Spiritualismus, wo er wiederum als Hauslehrer beim Hofprediger Johann Heinrich Sprögel eine Anstellung fand. Hier verfaßte er in Auseinandersetzung mit dem Werk des anglikanischen Patristikers William Cave eine Darstellung des apostolischen Urchristentums, das als wahres Christentum vor dem Verfall zur Staatskirche beschrieben und der gegenwärtigen kirchlichen Situation als Idealbild kontrastiert wird: Die erste Liebe. Das ist: wahre Abbildung der ersten Christen nach ihrem lebendigen Glauben und heiligen Leben (1696). Dieses Werk wurde durch seine Akzentuierung der urchristlichen Herzensfrömmigkeit vor aller
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Zur Biographie vgl. noch immer Franz Dibelius: Gottfried Arnold. Sein Leben und seine Bedeutung für Kirche und Theologie, Berlin 1873. Gottfried Arnold: De locutione angelorum. Vgl. Hanspeter Marti: Gottfried Arnold Magister der Philosophie in Wittenberg. Seine Dissertation über die Engelssprache zum erstenmal ediert und vorläufig kommentiert, in: Linguistica Biblica 52 (1982), S. 41-70. Martin Brecht: Geschichte des Pietismus, Bd. 1, Göttingen 1993, S. 410, Anm. 156 weist daraufhin, dass diese Dissertation aus dem Dezember 1687 nicht wie früher angenommen der Magisterpromotion im April 1687 zugrunde gelegen haben kann. Vgl. Martin Schulz: Johann Heinrich Sprögel und die pietistische Bewegung Quedlinburgs, Diss, theol. (masch.), Halle 1974.
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äußeren Institutionalisierung auch als pietistisches Erbauungsbuch ein Erfolg und brachte Arnold die Berufung auf eine Geschichtsprofessur an der pietistischen Universität Glessen ein. Arnold nahm diese Professor mit einer Antrittsvorlesung unter dem bezeichnenden Titel De corrupto historiarum studio auf. Doch nach nur einem Jahr trat Arnold von seiner Professur bereits wieder zurück, aus „Ekel vor dem hochtrabenden, ruhmsüchtigen Vernunftwesen des akademischen Lebens" - wie es in der Demissionsbegründung heißt.14 Er kehrte nach Quedlinburg ins Spiritualistenmilieu zurück und widmete sich fortan der kirchengeschichtlichen Arbeit, gemeinsam mit seinem Freund, dem Spiritualisten und Comenius-Schüler Friedrich Breckling. Arnold vollendete hier 1699 sein berühmtestes Werk: die Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie, deren radikale Kritik an der institutionalisierten Mauerkirche einen Sturm der Entrüstung und eine lebhafte orthodoxe Polemik gegen Arnold entfachte.16 Auf dem Höhepunkt seines mystischen Spiritualismus und offenen Separatismus verfaßte Arnold 1700 sein Sophienbüchlein, in dem er im Anschluß an Jakob Böhmes Sophienmystik die keusche Vereinigung mit der himmlischen Sophia als höchstes Lebensziel pries. Seine Weigerung, den Gottesdienst zu besuchen und das Abendmahl gemeinschaftlich zu empfangen, verwickelte Arnold in kirchenpolitische Konflikte, deren Eskalation er verhinderte, indem er Quedlinburg schließlich verließ. Innerhalb des spiritualistischen Milieus erzeugte Arnolds Eheschließung im Jahr 1701 heftige Enttäuschungen: Der Spiritualist Johann Georg Gichtel, der die erste kritische Böhme-Ausgabe 1682 in Amsterdam herausgegeben und mit Arnold in Briefleontakt gestanden hatte, sprach sogar vom ,FalP und Verrat Arnolds an der wahren Sophia. Die Enttäuschung der radikalpietistischseparatistischen Kreise wurde jedoch noch gesteigert, als Arnold im Jahr darauf überdies in den Dienst der Kirche trat und Prediger in Thüringen (Allstedt) wurde. Weil Arnold sich jedoch weiterhin weigerte, einen Eid auf die lutherischen Bekenntnisschriften abzulegen, kam es bald zum Konflikt mit der thüringischen Landeskirche. Durch Vermittlung Speners wurde Arnold im toleranteren Brandenburg schließlich Superintendent und Kircheninspektor erst in Werben (Altmark), dann in Perleberg (Westprignitz). Hier konnte Arnold seine spirituell motivierte gelehrte Arbeit fortsetzen, bis er 1714 im Alter von nur 44 Jahren verstarb.
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Vgl. Hans Schneider: Gottfried Arnold in Gießen, in: Blaufoß: Gottfried Arnold (Anm. 4), S. 267-299. Zu Breckling vgl. Brecht: Geschichte des Pietismus (Anm.12), S. 228-233. Vgl. Seeberg: Gottfried Arnold (Anm. 4). Vgl. auch Fritz Tanner: Die Ehe im Pietismus, Zürich 1952, bes. S. 19—46 zu Gichteis Einfluß auf Arnold. Arnold stieß die später unter dem Titel Theosophia practica firmierende Edition der Briefe Gichteis an, indem er anonym dessen Briefe herauszugeben begann: Erbauliche Theosophische Sendschreiben, Heliopolis (Büdingen?) 1700.
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Als Kirchenhistoriker hatte Arnold mit Arbeiten über das frühe, vordogmatische Christentum begonnen, an dem er die urchristliche praktische Frömmigkeit herausstellte, bevor der Verfall der Kirche mit der Konstantinischen Wende durch Dogmatisierung und Verweltlichung begann. Arnold beabsichtigte eine vollständige Revision der Kirchengeschichte in der Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie·. Einzige Kriterien der Geschichtsdarstellung sollten innere Erleuchtung und fromme Praxis sein. Nach der chronologischen Anordnung des Stoffes in den beiden ersten Teilen gab Arnold die zenturiale Darstellungsmethode auf und ersetzte sie durch die Präsentation von frommen Textzeugnissen aus der gesamten Kirchengeschichte zwischen Frühchristentum und eigener Gegenwart, wobei der Schwerpunkt auf der frühneuzeitlichen Heterodoxie lag. Die zunächst chronologisch geordnete Kirchengeschichte zerfaserte so gleichsam in ein Kompendium von Zeugnissen heterodoxen Christentums. Arnold rehabilitierte in den umfangreichen letzten beiden Teilen seines ,Opus magnum' das gesamte Spektrum der von Ehregott Daniel Colberg als platonisch-hermetisches Christentum denunzierten .spirituellen' Heterodoxie, die seit Flacius Illyricus' Kritik an Schwenckfeld im Kreuzfeuer der orthodoxen Kritik gestanden hatte. Dazu gehörten neben Schwenckfeld, Carlstadt und Müntzer vor allem Paracelsus und Jakob Böhme. Weil Arnolds Kirchengeschichte nicht länger von einem konfessionellen Standpunkt aus verfaßt war, konnte sie gleichsam als anti-orthodoxer Catalogus testium veritatis auch katholische oder reformierte Autoren mit einbeziehen, sofern diese nur von einer inwendigen Gotteserfahrung zeugten, die sich in der praxis pietatis äußerlich manifestiert hatte. Die letzten Teile der Kirchenhistorie besaßen bereits mehr Editions- und Kommentarcharakter, als daß sie eine geschichtliche Abfolge darstellten. In ihnen versammelte Arnold mit der unermüdlichen Hilfe Friedrich Brecklings Lebensbeschreibungen und Textauszüge verketzerter Christen und schuf so das wohl umfangreichste frühneuzeitliche Kompendium heterodoxen Christentums. Von einer Anordnung der Originalzeugnisse gemäß einer chronologischen Abfolge hatten sich die Redaktoren bereits vollständig verabschiedet - Historie war hier nicht temporal zu verstehen, sondern topisch als Sammelbecken frommer exempla. Die Paulinische Aufforderung .alles zu prüfen und das beste zu behalten' (1. Thess. 5, 21), die als biblische Referenzstelle für alle Spielarten eklektischer Philosophie diente, galt auch für Arnold und Breckling, die sie zur Legiti20 mation ihrer »eklektischen Theosophie' nutzten: Der orthodoxen Dogmatik 18
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Die Arnold historisch rehabilitierte und an die er auch konzeptionell anknüpfte; vgl. Siegfried Wollgast: Arnolds philosophische Quellen, in: Blaufuß: Gottfried Arnold (Anm. 4), S. 301-335. Vgl. Helmut Holzhey: Philosophie als Eklektik, in: Studia Leibnitiana 15 (1983), S. 20-29. Vgl. Wilhelm Kühlmann: Frühaufklärung und chiliastischer Spiritualismus - Friederich Brecklings Briefe an Christian Thomasius, in: Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius. Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Tübingen 1997, S. 179— 234, hier S. 185.
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wurde eine Fülle von Exempeln gegenübergestellt, die den rationalen Kriterien systematischer Theologie nicht entsprachen, die aber von innerer Erleuchtung und praktischer Frömmigkeit zeugten. Auf diese Weise wurde auch der Schwierigkeit begegnet, angesichts der Diskreditierung jedweder systematisch-rationalen Theologie gleichwohl die Umrisse der präferierten eigenen Theologie bzw. Theosophie darstellen zu können: Die wahre theologia mystica konnte und durfte nicht begrifflich beschrieben werden, sondern sollte durch die Fülle der Zeugnisse und deren inspirierte Lektüre gleichsam von selbst und unmittelbar zur Wirkung kommen. Nach Abschluß der letzten beiden Teile der Kirchenhistorie hat Arnold sich denn auch gänzlich von der Kirchengeschichtsschreibung verabschiedet. Seine Geschichtsprofessur in Gießen hatte er bereits zurückgegeben und der Kirchengeschichte wollte er sich fortan nicht mehr widmen, weil deren Darstellung auch und vor allem die Behandlung unfrommer Christen der bloß äußerlich institutionalisierten Kirche einschloß. Fortan überließ sich Arnold der schon die letzten beiden Teile der Kirchenhistorie bestimmenden Sammlung von affirmativen Belegen wahren Christentums. Aus dem früheren Kirchenhistoriker war ein Sammler und Herausgeber geworden, der Wahrheitszeugnisse aus allen Zeitaltern und allen Konfessionen sammelte und in seinen Vorreden oder in Einschüben - wenn überhaupt zurückhaltend kommentierte. Selbstverständlich arbeitete Arnold keine am äußeren Material orientierten gelehrten Annotationen aus. Das spirituelle Wirkungspotential der Textzeugnisse sollte vielmehr direkt zur Geltung kommen, weshalb Arnold mit Vorliebe als Redaktor und Editor hinter die präsentierten Zeugnisse zurücktritt. Arnolds spiritualistischer Indifferentismus befähigte ihn, von einem Standpunkt überkonfessioneller Unparteilichkeit aus die historischen Zeugnisse allein nach dem Maßstab innerer Erleuchtung und frommer Praxis zu bewerten. Die dogmatischen Wahrheitsansprüche der konfessionellen Theologien wurden durch die Fülle der von Arnold versammelten frommen Exempel konterkariert. Als Produkt menschlicher Vernunft und politischer Interessen erschien jedwede Kontroverstheologie gegenüber einer nicht dogmatisch ausformulierbaren inneren Gotteserfahrung diskreditiert, die Arnold bei den Vertretern des wahren Christentums in allen konfessionellen Milieus auffand 23
und die sich in der praxis pietatis äußerlich manifestierte. Seine umfangreiche Editionsarbeit mußte sich daher nicht auf heterodoxe Protestanten und frühchristliche Mystiker und Asketen wie Makarius beschränken, sondern konnte sich auch katholischer Autoren annehmen: Sie umfaßte die Heilige Theresa a Jesu und ihren Schüler Johannes vom Kreuz, Johannes Ruysbrock, den
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Arnolds Verhältnis zu Johann Arndt müsste einmal näher untersucht werden. Seeberg: Gottfried Arnold (Anm. 4). Vgl. Alfred Schindler: Dogmengeschichte als Dogmenkritik bei Gottfried Arnold und seinen Zeitgenossen, in: Heinrich Bornkamm (Hg.): Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen, Bielefeld 1975 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 14), S. 404—419.
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französischen Quietismus der Madame de Guyon und des Miguel de Molinos, aber auch die Dichtung des katholischen Konvertiten Johannes Scheffler (Angelus Silesius), die von Arnold erneut ediert wurde. In allen Konfessionen und zu allen Zeiten fand Arnold Vertreter einer „unsichtbaren, allgemeinen Kirche", die nicht an eine „gewisse sichtbare Societät gebunden" war und die die „rechte heilige gemeine Christi" bildeten. Jedenfalls zeitweise hatte Arnold gehofft, durch seine historische Arbeit und die von ihm präsentierten Zeugnisse das Ende aller theologischen Kontroversen bewirken und die millenaristische Restitutio omnium in integrum vorbereiten zu können, von der auch Speners .Hoffnung besserer Zeiten' gehandelt hatte und deren Anbruch zahlreiche Pietisten für den Jahrhundertwechsel erwarteten. Dabei kam der unparteilichen Kirchengeschichte die Aufgabe zu, den finalen Zustand der Differenzlosigkeit, in dem Gott wieder .alles in allem' werde (l.Kor. 15,28) vorzubereiten. Ihre eschatologisch ausgerichtete Präparationsleistung bestand darin, den finalen Zustand göttlicher Differenzlosigkeit spirituell zu antizipieren, kirchengeschichtlich umzusetzen und so die Aufhebung konfessioneller Partikularität zu unterstützen. Erschöpft von den gelehrten Strapazen nach über 1.200 Seiten Kirchengeschichte hat Arnold diesen eschatologischen Impetus seiner historischen Arbeit hoffnungsvoll beschworen: Und nun nahet die zeit auch herbey, daß sich auch würklich alle Scheidung und trennung nacheinander verlieren, alle menschen-namen und partheyen verschwinden, und alle creaturen in ihr ursprüngliches allerseligstes eins, durch die herwiederbringung aller dinge, als in ein unergründliches meer der ewigen liebe, die gott selber wesentlich ist, hinein gezogen werden soll, auf das Gott sey alles in allem.
Umsomehr berührte es Arnold, daß die Publikation des ersten Teils seiner Kirchenhistorie keineswegs das Ende theologischer Streitigkeiten bewirkte, sondern vielmehr eine Intensivierung der orthodoxen Polemik gegen sein Werk zur Folge hatte. Angesichts von Arnolds mystischer Theologie, die den je einzelnen Willen affizierte, ohne eine kollektive Erlösungsperspektive zu bieten, und auch angesichts seiner strikten Ablehnung jeder organisierten Glaubensgemeinschaft verwundert es nicht, daß Arnold sich von der Hoffnung auf eine äußerliche Verwirklichung des wiedergewonnenen Paradieses und damit von den millenaristischen (Breckling) bzw. origenistischen (Peterson) Geschichtsinterpretationen seines spiritualistischen Umfelds spätestens nach 27 dem Ausbleiben des heiß erwarteten Milleniums im Jahr 1700 distanziert hat. 24 25
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UKKH, Vorrede, S. 25, Beschluß des 2. Teils. Vgl. Hans Schneider: Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700, in: Manfred Jakubowski-Tiessen u.a. (Hg.): Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 187-212. UKKH, Beschluß, S. 1202. Für Arnolds Predigten hat das untersucht Hanspeter Marti: Die Verkündigung des irdischen Paradieses. Spiritualismus und Utopie bei Gottfried Arnold, in: Blaufuß: Gottfried Arnold (Anm. 4), S. 179-196.
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Bei der Zusammenstellung geeigneter Exempelsammlungen oder geistlicher Florilegien kam es für Arnold stets allein auf das spirituelle Potential der Texte, nicht aber auf deren nach den Maßstäben der kritischen Philologie methodisch korrekte Rekonstruktion an. Zwar setzte sich Arnold mit den Einwänden der Philologie gegen die Authentizität von ihm hoch geschätzter Texte, wie etwa der Schriften des Dionysius Areopagita, auseinander, diese Auseinandersetzung ließ sich aber nirgends auf die historisch-kritischen Bewertungskriterien der Philologen ein. Vielmehr betonte Arnold stets, daß die Korrektur von Datierungen und der Aufweis von Pseudepigraphien nur den äußeren Buchstaben, nicht aber die spirituelle Relevanz der Texte betreffe. Die historische Wahrheit, die der Kirchenhistoriker, Bibelexeget und Editor Arnold nach eigenem Bekunden aufzudecken suchte, war gemäß der Lehre vom geistigen Sinn des Wortes nicht der sensus historicus der Profanhistoriker. Authentizität war deshalb fur Arnold keine historische, sondern eine spirituelle Kategorie, die nur Texten zugesprochen wurde, denen ein innerer geistiger Sinn unterstellt werden konnte. Über die spirituelle Authentizität konnte daher müder selbst erleuchtete Historiker urteilen, der an der göttlichen Weisheit teilhatte. So war sich Arnold sicher, daß „der Geist der weißheit selbst zeugniß 28
und nachdruck geben werde / zu erkennen / was Wahrheit sey." Dieser Wahrheitsanspruch konnte nicht historisch-kritisch eingelöst werden, da er vom Zeugnis nicht der Quellen, sondern des Geistes abhing. Er stand in der Tradition einer philosophia adepta, die menschliches Wissen als abhängiges Teilhabewissen bestimmte und Wahrheit im göttlichen Geist verankerte. Die Partizipation an der göttlichen Weisheit als Basis der historischen Wahrheitsfindung hat Arnold als Sophienerfahrung beschrieben; sie stellt gleichsam die Bedingung der Möglichkeit einer frommen Aneignung äußeren Wissens und eines adäquaten Bibelverständnisses dar.
III. Sophienerfahrung Die .Struktur' der Teilhabe am göttlichen Wissen hat Arnold in seinem 29
Sophienbüchlein Das Geheimniß der göttlichen Sophia (1700) dargelegt, das sein Konzept von Spiritualität präzisierte. Im unmittelbaren Anschluß an die Kirchen- und Ketzerhistorie und auf dem Höhepunkt seines mystischen Spiritualismus veröffentlicht, stand Arnolds Sophientraktat in der Tradition von Seuses Büchlein der ewigen Weisheit und knüpfte unmittelbar an Jakob Böhmes Sophienlehre an. Arnold beanspruchte nachdrücklich die biblische Verbürgtheit seiner Sophienmystik, die er durch die Verknüpfung der Weisheitslehre aus dem Buch 28 29
Vorrede zur Sophia, Abschn. 21. Gottfried Arnold: Das Geheimniß Der Göttlichen Sophia oder Weißheit / Beschrieben und Besungen von Gottfried Arnold, Leipzig 1700. Es existiert ein Faksimile ND mit einer Einfuhrung von Walter Nigg, Stuttgart 1963.
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der Weisheit mit der Brautmetaphorik aus dem Hohen Lied gleich in doppelter Weise für gewährleistet hielt. Durch den in Arnolds historischen Arbeiten versammelten Katalog von Wahrheitszeugen wurde die Sophienmystik über ihre interne Struktur hinaus äußerlich in der Kirchengeschichte anschaulich. Sie war auf den Rückbezug auf eine bis aufs frühe Christentum zurückreichende Tradition angewiesen, um so den Vorwurf der Neuheit und Ungewöhnlichkeit der eigenen Lehre zu entkräften. Arnolds Kirchengeschichte stellte auf diese Weise gleichsam einen spiritualistischen Konkurrenzkatalog zu Flacius Illyricus' Catalogus testium veritatis auf, den Flacius entworfen hatte, um die historische Ursprünglichkeit und folglich Legitimität der lutherischen Theologie zu belegen und der zusammen mit den Magdeburger Zenturien zur Basis 30
orthodox lutherischer Kirchengeschichtsschreibung geworden war. Gegen diese an der lutherischen Orthodoxie dogmatisch und historisch orientierte Kirchengeschichtsschreibung rekonstruierte nun Arnold eine kontinuierliche Gegenströmung heterodoxen Christentums, das von Christus als ,Erzketzer' schlechthin ausging. Auf diese Weise verlieh er der anti-orthodoxen Spiritualität eine lange vorreformatorische Geschichte, die diese als wahres Christentum vor aller dogmatischen Verfälschung ausweisen sollte: Es wird auch dieser einwurff allhier benommmen werden / wenn man meinet / diese lehre sey etwas neues oder ungewöhnliches: Alldieweil der grosse hauffe alter unverwerfflicher zeugen aus allen zeilen das gegentheil weisen mag. Und welche davon nichts gewust oder noch wissen wollen / die müssen dißfalls alls ihre eigene schuld allerdings tragen und bekennen / nachdem an Gottes seite keine nöthige krafft oder nachricht iemahls und zu einiger zeit unter allen völckern gemangelt hat.
Was aber stand im Zentrum des wahren Christentums, das Arnold in allen Epochen der Kirchengeschichte bei ihren heterodoxen Dissidenten wiederzufinden beanspruchte? Unter wahrem Christentum verstand Arnold eine praxis pietatis, die äußerlich an frommer Lebensführung, nicht an dogmatischer Orthodoxie erkennbar war und die in der Innerlichkeit der Sophienerfahrung gründete. Für Arnolds Sophienlehre war die Interpretation der Weisheit als imago Dei, die in jedem Menschen anwesend, durch den Sündenfall jedoch getrübt ist, entscheidend. Sie wurde von einer Sophienmystik ausgestaltet, die auf die Wiedervereinigung der menschlichen Seele mit der integren Jungfrau Sophia zielte.
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Vgl. Heinz Scheible: Die Entstehung der Magdeburger Zenturien. Ein Beitrag zur Geschichte der historiographischen Methode, Gütersloh 1966. Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), Vorrede zur Sophia, Abschn. 18. Vgl. dazu treffend Ernst Benz: Gottfried Arnolds .Geheimnis der göttlichen Sophia' und seine Stellung in der christlichen Sophienlehre, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 18 (1967), S. 51-82, S. 71: „Die Verbindung zwischen dem transzendenten Gott und der geistigen Kreatur, die nach seinem Bild geschaffen ist, vollzieht sich durch die himmlische Weisheit, in der der Unfaßliche nicht nur sich selbst, sondern auch dem Wesen, das von seinem Geist bewegt ist, faßlich wird. Diese Verbindung ist als Hochzeit verstanden. Wie die Sophia als seine Gestalt und Leiblichkeit die Braut Gottes ist, so ist sie auch die Braut Adams, als sein inneres
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In dem Restitutionsverlangen der menschlichen Seele nach ihrem göttlichen Urbild bestand der Impetus der Arnoldschen Sophiologie, mit der er sich an Jakob Böhmes christologische Fassung der Sophia anschloß. Bei seiner Verteidigung Böhmes in der Kirchen- und Ketzerhistorie hatte Arnold in seinem Referat betont, daß Böhme durch die sophiam das Göttliche wesen verstehe, wie es sich in Christo bey dessen Vereinigung mit den glaubigen und in dem bilde Gottes in ihnen offenbahre. Es sey Gottes weißheit und liebe in der seelen, das himmlische bild Christi, dadurch das bild Gottes in der Seelen mit wtirckung des heiligen Geistes wieder aufgerichtet und lebendig gemachet werde: Dahero dieses von Böhmen bald die himmlische jungfrau, bald das göttliche keusche bild der Göttlichen Wesenheit, bald der Göttliche wesendliche Spiegel der göttlichen weißheit, die männliche jungfrau Gottes genennet werde. [...] Wie aber Christus oder die weißheit und liebe Gottes bey den menschen anklopffe, bey den gehorsamen eingehe, und seine liebe offenbare, hat Böhme in dem büchlein von der busse und den angehängten gebeten, unter dem bild der geistlichen Vermählung zwischen braut und bräutigam beschrieben.33
Das war eine konzise Zusammenfassung und Reduktion der Böhmeschen Sophiologie, fur die die christologische Akzentuierung und trinitarische Einbindung der Sophia entscheidend war. Auch von Arnold wurde die Weisheit als eine der Trinität integrierte gleichewige Instanz, als ein Character des göttlichen Wesens gedeutet, der christologisch akzentuiert war. Dabei kommen der Sophia die christologischen Eigenschaften des johanneischen Logos zu, göttliche Hypostase und Schöpfungsinstanz zugleich zu sein. Für eine aus der Indentifikation der Sophia mit dem johanneischen Logos hervorgehende Sprachauffassung begründet das die Abwertung des äußeren, philologisch-kritisch zu erschließenden Wortes, weil die Weisheit der Sophia sich als inneres Wort, als geistiger Sinn darstellt, auf den alle äußeren Wörter nur unzulänglich hinzudeuten vermögen. Die Identifikation der himmlischen Sophia mit dem göttlichen Logos ist in den Prozeß der Schöpfung eingebunden und besitzt daher auch eine
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himmlisches Bild, als die Gestalt, in der er sein transzendentes Urbild erkennt, liebt und in beständiger Liebe umfaßt. In der Sophia wird sich der Mensch seiner göttlichen Bildhaftigkeit bewußt und damit zugleich der Einheit aller Wunder, die in Gottes Bild beschlossen liegen." Kirchen- und Ketzerhistorie, Teil II, cap. XIX, 30, S. 1144. Das Referat endet mit einer Invektive gegen die Schultheologie, die an der Weisheit nicht teilhat, welche sie aufgrund ihrer Intellektualität weder zu erkennen, noch zu erfahren vermag, ebd.: „Weil aber dergleichen krafft Jesu Christi die Schul-Theologen weder erkannt, noch erfahren gehabt, ist ihnen dieses alles fremde und verwerfflich vorgekommen, nachdem doch Gott die weißheit dieser weit zur thorheit machet, seine thorheit aber weiser denn die menschen in seinen gläubigen beweiset." Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), Kap. V,S. 35. Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), Kap. III, S. 24 f: „Also ist nun die weißheit allerdings ein ewiges wesen / welches vor allen sichtbaren und unsichtbaren creaturen mit der hochheiligen Drey-Einigkeit gleich ewig gewest." Die Sophiologie Arnolds ist bislang nur von Ernst Benz untersucht worden: Benz: Arnolds ,Geheimnis der göttlichen Sophia' (Anm. 32). Der Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt jedoch auf der Geschichte der Sophienlehre vor Arnold.
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soteriologisch-heilsgeschichtliche Dimension, die den Rahmen für Arnolds gelehrte Arbeiten darstellt: Nach dem Vorbild der innergöttlich-christologischen Weisheit war der gottebenbildliche Mensch anfangs geschaffen, doch er büßte mit dem Paradies seine androgyne Übergeschlechtlichkeit und die Vereinigung mit der göttlichen Weisheit ein. Die angestrebte Vereinigung mit der Sophia verstand Arnold daher als Wiedererlangung des göttlichen Urbildes, das sich der Seele als Weisheit darstellte. Das fur Arnold zentrale Anliegen der Wiedergeburt des gefallenen inneren Menschen durch Restitution seiner Gottebenbildlichkeit ließ sich als Wiedergewinnung der himmlischen Weisheit beschreiben. Diese erschien allerdings dem erbsündenverdorbenen Menschen als Torheit, zunächst unbekannt und verächtlich zu sein. Daher bedurfte es des intensiven Appells an den verdorbenen Menschen, sein Urbild zu suchen und sich auf dessen Wiedererlangung vorzubereiten. Die Sophia war nach Arnold Resultat der gottinternen Selbstoffenbarung, die ein Akt des göttlichen Willens darstellte: Der göttliche Wille wird sich in der Weisheit selbst faßlich, so daß seine Begehrlichkeit einen Gegenstand, einen Inhalt bekommt. Die Betonung des Willens ist für Arnolds wie auch schon für Böhmes Sophiologie von entscheidender Bedeutung: Gott ist ursprünglich nicht Geist, sondern dynamischer Wille, der sich selbst generiert. Als erstes Produkt stellte die Weisheit sich als Verwirklichung des göttlichen Willens dar. Dabei blieb es für Arnold eine letzthin unlösbare Schwierigkeit, den Status der Weisheit gegenüber der Trinität und vor allem gegenüber der Christologie dergestalt herauszuarbeiten, daß die Weisheit weder in Christus aufgeht, noch auch die Trinität sprengt. Sie stellt gleichsam den in der Seele zuhöchst intensiv empfundenen Wirkungscharakter der Vereinigung mit Christus dar, der sich zuletzt jeder theologisch konsistenten Darlegung entzieht: Biß hieher ist nun die Weißheit unter dem geheimnuß-vollen namen Jesu der seelen in etwas offenbahr worden / unter welchen auch einfältiglich alles zusammen gefasset werden mag. Nun reden aber auch die alten bißweilen also von ihr / daß zwar selbige von Christo nicht dem wesen nach unterschieden / doch unter einem andern Character und merckmahl dem gemüthe vorgestellet werde / wiewohl inzwischen keinem vernünfftlichen scrupulieren hiebey räum gegeben / sondern allein auff die inwendige krafft und äusserung solcher geheimnüsse gehorsamlich gesehen werden muß.
Die Weisheit wird so als eine Qualität, gleichsam als eine spezifische Eigenschaft Christi und des Heiligen Geistes gefaßt, wobei Arnolds Interesse sich nicht so sehr auf die innergöttliche Weisheit richtet, „wie sie in der stillen
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Von dieser erbsündenbedingten humanen Misere geht Arnolds Sophientraktat im ersten Kapitel aus; vgl. Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), Kap. I, S. 1-10. Damit steht Arnold in der Tradition eines theologischen Voluntarismus; zu dessen Begründung vgl. Ernst Benz: Marius Victorinus und der Beginn der abendländischen Willensmetaphysik, Stuttgart 1932 (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte, 1). Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), Kap. V: vom Geist Jesu und der Weißheit, S. 34—39. Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), Kap. V, S. 37.
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Ewigkeit ausser natur und creatur ist / sondern wie sie sich in der zeit zu den menschen herunter läßt." Die liebevolle Herunterlassung der göttlichen Weisheit zum gefallenen Menschen und die innige Erwiderung dieser Liebe stehen im Mittelpunkt von Arnolds Sophienmystik. In der Herunterlassung aber teilt sich die Weisheit dem Menschen mit und macht ihn durch Teilhabe selbst weise. Wie aber war diese auch dem Menschen zugängliche Weisheit zu verstehen? Für Arnold stellte die Lehre der himmlischen Sophia keinen propositionalen Erkenntnisgehalt dar, der intellektuell begriffen werden könnte. Die Lehre der Weisheit betraf gemäß ihres Ursprungs aus dem göttlichen Willen nicht den menschlichen Intellekt, der als rationales Erkenntnisvermögen gegenüber dem Willen sekundär war. Die aus dem Willen Gottes hervorgehende Weisheit betrifft vielmehr ihrerseits den kreatürlichen Willen, dessen Ausrichtung sie zu korrigieren unternimmt. ,Weisheit' ist für Arnold also keine theoretische, abstrakte Lehre, keine Wissenschaft im menschlichen Sinne, sondern die Einwirkung der göttlichen Sophia, die den menschlichen Willen affiziert. Weil sie den Willen und nicht den Intellekt betrifft, kann diese Weisheit mit den Erkenntnismitteln des Intellekts nicht erkannt und in der Abstraktion begrifflicher Rede nicht adäquat beschrieben werden. Die Rede von ihr ist wie in der negativen Theologie nur via negationis und also im uneigentlichen Sinne möglich. Deshalb ist Dichtung das bevorzugte Medium ihrer Darstellung, nicht die Begrifflichkeit wissenschaftlicher Prosa, die das arationale Wesen der Weisheit und ihre Wirkung stets unumgänglich verfehlen muß. Aber auch die Möglichkeiten der Dichtung sind auf zwei Funktionen beschränkt: Sie kann entweder unter Aufwendung aller rhetorischen Mittel die Wiedervereinigung mit der Sophia vorzubereiten versuchen oder aber die Sophienerfahrung selbst bezeugen. Dann kommt ihr freilich die Aufgabe zu, einen .Sachverhalt', dessen Dignität gerade in seiner wortlosen Unmittelbarkeit besteht, in den Bereich der Sprache überfuhren zu müssen. Diesen Transfer leistet die Arnoldsche Dichtung dann primär mit den rhetorischen Mitteln des sermo mysticus: Negation und Paradoxie. In seiner Kommentardichtung zum Hohen Lied hat Gottfried Arnold die Unaussprechlichkeit der Erfahrung des inneren geistigen Wortes in der Sophia betont. Indem die Sophia aus dem Selbstaufschluß Gottes hervorgeht und dessen verborgenes Wesen faßlich macht, bleibt sie bei Arnold letztlich in der Sigetik der negativen Theologie verborgen: Denn es bleibet doch auch hier der beschluß: Wenn man gleich viel von dem wesen der Weißheit geredet hätte / und noch mehr reden wollte: so bliebe sie doch noch höher / ja an
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Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), Kap. V, S. 37. Vgl. Marti: Verkündigung des irdischen Paradieses (Anm. 27).
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sich selbst unaußsprechlich und unbegreifflich. ,Die rede der Weißheit / (und also noch vielmehr ihr wesen) außzusprechen / ist über deß menschen krafft': hat schon der uhralte weise Hermes gesagt.43
Eine nicht näher begrifflich faßbare, den kreatürlichen Willen korrigierende Sophienerfahrung stellte also den affirmativ aussagbaren Gehalt der Sophiologie dar. Das innere geistige Wort, das die Erfahrung der Sophia erschloß, war selbst nicht von sprachlicher Natur, es wirkt ohne das Medium der Sprache unmittelbar. Diese Unmittelbarkeit der Erfahrung muß erfahren, sie kann nicht beschrieben werden. Deshalb ist für Arnold selbst der offenbarte Bibeltext sekundär gegenüber jener nicht-sprachlichen Erfahrungsintensität: Ja wenn du in der schlifft noch so ein meister bist / So must du alles doch erst in der that erfahren / Was du aus buch und schall nach kunst buchstaben weißt / Der Geist muß dir im grund ohn mittel offenbahren / Was Christus in uns sey / was neuer namen heist.
Der Geist offenbart sich also nicht im Medium der Sprache, sondern „ohn mittel" und erschließt so das wortlose Wort Gottes, das eine eigene, von der menschlichen unterschiedene Sprachformigkeit besitzt, die Arnold gleichwohl nicht anders denn als „neuen namen" bezeichnen kann. Die .Lehren' der Weisheit lassen sich folglich nicht in dogmatische Formulierungen umsetzen, sie betreffen das inwendige Gemüt des Gläubigen, nicht aber dessen Vernunft. Aus der unter dem Vorrang des Willens stehenden Sophienmystik Arnolds resultierte daher eine theologia experimentalis, die auf die Erfahrung der göttlich bewirkten Willenskorrektur zielte, diese aber nicht intellektualisieren oder dogmatisch fassen konnte. Die von der Weisheit erreichte Neuausrichtung des Willens ließ sich nur an der praxis pietatis ablesen. Diese avancierte daher zum entscheidenden Kriterium der historischen und editorischen Arbeiten Arnolds. Die Art der Lebensführung war angesichts des mystischen Indifferentismus der einzige Indikator für den Besitz der Weisheit. Gelehrsamkeit und alles
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Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), Kap. V, S. 39. Wie die Stelle zeigt, akzeptiert Arnold die philologische Demontage des Corpus hermeticum nicht, die er jedoch kennt. Arnold: Poetische Lob- und Liebes-Sprüche (Anm. 29), LXVI, S. 81. Vgl. auch die Interpretation Maitis: Verkündigung des irdischen Paradieses (Anm. 27), S. 258-263, der den .neuen namen' jedoch uninterpretiert läßt. Ohne Zweifel hat Arnold an einer trinitarischen Fassung des Gottesbegriffes selbst festgehalten und die Wesensgleichheit der göttlichen Personen betont (vgl. etwa Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), Kap. XXIII, S. 163-169). Allerdings hat er den Antitrinitariem und Sozinianern in seiner Kirchen- und Ketzergeschichte Asyl gewährt. Zu Arnolds Bewertung der Trinitätstheologie vgl. seine kritische Darstellung des Konzils von Nicäa in der Kirchen- und Ketzerhistorie I, lib. IV, cap. 7, 6. Eine solche hat Arnold denn auch noch am Ende seines Lebens verfaßt, vgl. Gottfried Arnold: Theologia experimentalis, Das ist: Geistliche Erfahrungslehre, Oder Erkäntniß und Erfahrung Von denen vornehmsten Stücken Des Lebendigen Christenthums, Von Anfang der Bekehrung biß zur Vollendung, Frankfurt a.M. 1715.
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Wissen stehen bei Arnold folglich unter dem Praxisgebot: Wenn es zur frommen Lebensführung anleitet, ist es gerechtfertigt und nützlich, wenn es jedoch rein theoretisches Wissen bleibt, wird es eitel und verwerflich: Man findet / wie die wahren weißheits-kinder niemals auf blossem verstehen oder wissen beruhen dürften / sondern von dieser ihrer mutter immer zu der praxi angetrieben worden.48
Genau in dieser Anleitung zur frommen Praxis bestand der Zweck von Arnolds Materialsammlungen in der Kirchenhistorie oder in seinen späteren Editionen. In ihr bestand auch der Sinn der Amoldschen Kommentierung von Texten: Das spirituelle Potential der Texte muß herausgestellt werden, damit diese den Leser unmittelbar betreffen und ihn für die Sophienerfahrung präparieren können. Das geschieht jedoch nicht durch ein die Vernunft betreffendes Wissen, sondern durch Intensivierung ihres den Willen affizierenden Sinns. Vor dem Hintergrund seiner Sophiologie wird deutlich, warum der außerordentlich gelehrsamkeitskritische Arnold, der nach seinem Studium seine Bibliothek verkauft und seine Professur nach nur einem Jahr zurückgegeben hatte, sich doch immer wieder der Sammlung von Texten zuwandte. Die für Arnolds Werk ausschlaggebende Ersetzung theologischer Lehrgehalte durch Zeugnisse frommer Praxis erforderte dies: Die Zeugnisse mußten gesammelt, ediert und gegebenenfalls kommentiert werden, wobei die Funktion ihrer Zusammenstellung vornehmlich darin bestand, die Frömmigkeit des Lesers zu stimulieren, seine Willenskorrektur einzuleiten und die unartikulierbare Sophienerfahrung durch die Sammlung von Zeugnissen nach außen zu stabilisieren und historisch zu legitimieren. Der gelehrte historisch-kritische Kommentar vermochte dieses Ziel nicht zu erreichen, weil er nur äußerliches, allein den Intellekt, nicht aber den Willen betreffendes Wissen auftürmte. Mit seinem Abschied von der Kirchenhistoriographie hat Arnold sich auch endgültig von aller historisch-gelehrten Erörterung abgewandt. Die historische Arbeit löst sich gleichsam in die Vorworte seiner Ausgaben frommer Textzeugnisse auf, in denen sich Arnold auf die unmittelbare Applikationskraft der präsentierten Texte verließ, deren inneren Sinn es spirituell zu erschließen galt. Diese Erschließung blieb aber unverfügbar, sie konnte zwar vorbereitet, nicht aber instrumenteil erzwungen werden, weil sie letztlich von der nicht kalkulierbaren Einwirkung der Sophia abhing. Im Vorfeld der Sophienerfahrung kam für Arnold vor allem der Dichtung eine wichtige präparatorische Funktion zu. Das galt insbesondere für die Kommentardichtung zu Bibelversen: Von einem Bibelvers ausgehend, versucht der dichterische Kommentar, den inneren geistigen Sinn einer Textstelle zu explizieren und in der Sinnlichkeit der Sprache der Sinnlichkeit der Sophienerfahrung nahe zu kommen.
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" Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), Kap. XIX, S. 139.
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IV. Das Geheimnis der göttlichen Sophia als Kommentarwerk Das Geheimnis der göttlichen Sophia läßt sich am besten als ein Kompendium der Sophienmystik und Weisheitsliteratur beschreiben, in dem auf Arnolds sophienmystischen Traktat in einem zweiten Teil Poetische Lob- und Liebes= Sprüche / von der Ewigen Weißheit folgten, die die für Arnold zentrale Verbindung von Hohelied- und Sophienmystik in teils kommentierenden, teils dialogisch aufgebauten Gedichten entfalteten, durch autoritative Zitate bestätigten und durch eine neue Übersetzung des Hohenliedes ergänzten. Darauf schlossen sich drittens Neue Göttlichen Liebes-Funken an, in denen Arnold die Vielzahl dichterischer Weisheitszeugnisse durch eigene und fremde Gedichte, Epigramme und Kirchenlieder noch weiter vermehrte. Dieses Erbauungsbuch ist mit seiner Kombination von Bibeltext, Dichtung und gelehrtem Zitat signifikant für die Darstellungsmethode Arnolds: Originale Zeugnisse wie das von Arnold neu übersetzte Hohelied, poetisch gestaltete Annotationen, Poeme auch anderer Autoren - ein dichtes Zitatgewebe patristischer und mittelalterlicher Autoren sowie historisch-gelehrte Ausführungen über die Authentizität und Rezeptionsgeschichte des seit Luther aus dem biblischen Kanon ausgeschlossenen Buchs der Weisheit - unter Einschluß verschiedenartigster literarischer Gattungen wird eine Stoffülle erzeugt, die die Himmlische Weisheit expliziert. Arnolds Hinzufügung dichterischer Zeugnisse im Anschluß an seinen Sophientraktat verdeutlicht, daß die Traktatgestalt ergänzungsbedürftig war, um den Leser zur Sophienerfahrung anzuleiten. Durch die nachfolgenden Gedichte, zu denen Arnold oftmals Kirchenlieder angab, nach denen sie gesungen werden sollten, konnten die Gemüter unmittelbarer angesprochen und für die Sophienerfahrung präpariert werden. Da die Sophienerfahrung dem einzelnen Gläubigen innerlich zugänglich wird und durch die Applikationskraft frommer Zeugnisse stimuliert wird, ist Arnolds Sophienbuch nicht auf den Kommentar der einschlägigen biblischen Texte beschränkt: Zwar verwendet Arnold einigen Aufwand darauf, die Anciennität und mit dieser die Dignität des Buchs der Weisheit zu belegen und das Hohe Lied adäquat zu übersetzen. Auch führt er patristische und mittelalterliche Kommentare zum Hohenlied an, jedoch in der Regel ohne den Autor und die Stelle des zitierten Kommentars zu nennen. Auf philologische Exaktheit kam es Arnold ausdrücklich nicht an. Er bringt das deutlich zum Ausdruck, wenn er sagt, er sei von verschiedenen
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Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), Kap. XVII, S. 111; sowie die Vorbemerkung zu den Poetischen Lob- und Liebessprüchen: Kurtzer Bericht Von dem Hohenliede und dessen wahrem Verstand, unpag., Abschn. 17-21, 17: „Ferner haben etliche etwas merckwürdiges dißfalls vorgetragen / indem sie unter dem namen der Braut die himmlische ewige weißheit Gottes oder Sophiam, und unter dem Bräutigam den seelen-geist / oder den gantzen inneren menschen verstanden."
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Kommentaren 50 und vor allem von Daniel Sudermanns Erläuterung des Hohenlieds von 1622 ausgegangen: Demnach bin ich auch denen fußstapfen derselben verse fast über die heifite nachgegangen: biß mir im fortgang der zweck und verstand des Hohen-Liedes immer tieffer kund worden / daß ich hernach von dem Autore ab- und der spur des H. Geistes / wie selbige in meinem gemüthe mich geleitet / nachgehen müssen.
An die Stelle der aktiv historisch-kritisch verfahrenden Erläuterung und Rekonstruktion des Textgehalts - von der Arnold methodisch immerhin ausging - tritt im hermeneutischen Prozeß die innere Anverwandlung des spirituellen Gehalts. Die äußere historisch-kritische Herangehensweise leitet so zu einem intensiven spirituellen Verständnis über, das es sogar erlaubt, von der kommentierenden Vorlage vollends abzugehen. Die Folge ist der weitgehende Verzicht auf gelehrtes Wissen, das als Beiwerk der Stimulation eines spirituellemphatischen Textverständnisses dienen kann, selbst aber ohne jeden Eigenwert ist. Zuletzt löst sich die Lektüre sogar gänzlich vom Text und folgt allein dem frommen Gehalt. Arnold versprach zwar, die bei Sudermann angegebenen Referenzstellen patristischer Kommentare ebenfalls abzudrucken: Weil aber die im Autore beygefügten örter aus denen Patribus, und anderen Lehrern manche gute anmerckung an die hand geben und die sache selbst erläutern: so mögen dieselben allhier zum beschluß in etlichen bogen platz nehmen.
Diese Bogen sind in den mir bekannten Auflagen des Büchleins jedoch nie erschienen, so daß die von Arnold angeführten Textzeugnisse weitgehend anonym bleiben. Für Arnold stellte das keine Einschränkung ihres Wertes dar: Sie sind als äußere Zeugnisse ohnehin nur dann von Belang, wenn sie den Gläubigen innerlich zu affizieren vermögen, sich ihr spiritueller Sinn erschließt. Bleibt diese Wirkung aus, so sind sie nicht mehr als ein Zugeständnis an diejenigen, die noch der äußeren Gelehrsamkeit und Autorität anhangen und denen noch nicht jene innere Offenbarung der Sophia zuteil geworden ist. Deshalb hatte Arnold in seiner Vorrede die Verwendung biblischer und patristischer Literatur eigens gerechtfertigt: Was sonst von der art des vortrage in dieser schrifft gefraget werden könnte / ist derselbe mit fleiß aus denen Zeugnissen so wohl der schrifft als der Altväter genommen. Weil doch
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Vgl. Martin Goebel: Die Bearbeitungen des Hohen Liedes im 17. Jahrhundert, Halle 1914, zu Sudermann S. 64-74. Daniel Sudermann: Hohe geistreiche Lehren und Erklärungen über die die fUrnembsten Sprüche des Hohen Lieds, o.O. 1622. Sudermann (1550-1630) war Schwenckfeldianer und Handschriftensammler, der bedeutende Texte der mittelalterlichen Mystik besaß und teilweise auch publizierte (Seuse, Tauler, Ruysbroek). Vgl. Hans Hornung: Der Handschriftensammler Daniel Sudermann und die Bibliothek des Straßburger Klosters St. Nikolaus in undis, Karlsruhe 1959. Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), S. 177f. Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), S.177f.
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die meisten annoch auf die autorität mehr sehen / als auf das zeugniß des H. Geistes in dem hertzen.54
Zuletzt also kam es nicht auf die äußeren Zeugnisse weder der Heiligen Schrift, noch gar der theologischen Tradition an, sondern auf das innere .Zeugnis des Geistes und der Kraft'. Entsprechend konsequent war es, daß Arnold sich auf den dichterischen Kommentar zur Weisheit konzentrierte: Die Inspiration durch den Heiligen Geist konnte in der Dichtung unmittelbaren Ausdruck finden, ohne von gelehrtem Beiwerk überdeckt zu werden. Auf den Sophientraktat folgten Arnolds Poetische Lob- und Liebes-Sprüche von der Ewigen Weißheit / nach Anleitung des Hohenlieds Salomonis: nebenst dessen neuen Übersetzung und Beystimmung der Alten. Hier verfolgte Arnold das Hohelied Vers für Vers und kommentierte die jeweils wörtlich wiedergegebenen Verse durch ein oder mehrere Gedichte. Dabei griff er auf ein breites Repertoire unterschiedlicher Gedichtformen zurück, wobei die Dialogdichtung dominierte: In ihr ließ sich - in origenistischer Tradition - das direkte Gespräch zwischen himmlischer Weisheit und sehnsuchtsvoller Seele am eindringlichsten gestalten. Dazu gab Arnold die Kirchenlieder an, nach denen die Gedichte gesungen werden sollten. Auf Vers 4 des Hohenliedes, „Zieh mich, so werden wir nach Dir laufen", dichtete Arnold: Zeuch meinen Geist, ο HErr von hinnen Gantz über sich zu Dir hinauff: Ich sehn mich sehr, den gantzen lauff Nach dir zu thun mit hertz und sinnen. Regier mich nur nach deinem Willen, Den fuhrer nachzufolgen schlecht: Was kann sonst meinen hunger stillen? Wer ist der mich vergnüge recht?
Diese Gedichte, erbaulich gesungen, sollten das Gemüt des Gläubigen treffen und den biblischen Vers innerlich wirksam werden lassen. Ziel dieser Wirksamkeit war zuletzt die Begegnung mit der göttlichen Sophia, wie sie Arnold zuvor geschildert und in seiner Sophienlehre entfaltet hatte. Um die Erbaulichkeit noch zu steigern und weitere Wahrheitszeugen zu Wort kommen zu lassen, bot Arnold nicht nur eigene Gedichte dar, sondern zitierte gemäß seiner Methode der eklektischen Theosophie' auch andere Autoren: so unter anderem Paul Gerhardts Bitt-lied umb die Weißheit oder einen Auszug aus Prudentius' Psychomachia. Den kompletten biblischen Text, auf den diese Dichtungen sich alle bezogen, präsentierte Arnold bezeichnenderweise erst am Schluß der Poetischen Lob- und Liebes-Sprüche, nachdem das Gemüt des Gläubigen durch die Dichtung entsprechend vorbereitet und der Wille präpariert worden war. Der von Arnold eigens übersetzte biblische Text steht also nicht im Zentrum des
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Arnold: Das Geheimniß (Anm. 29), Vorrede, Abschn. 23. Arnold: Poetische Lob- und Liebessprüche (Anm. 29), VI, S. 4.
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Erbauungsbuches, das die innere Offenbarung der Sophia herbeizuführen versucht. Zusammen mit den abschließend angeführten Erklärungen aus denen geheimen Gottesgelehrten über das Hohelied Salomonis kommt dem Bibeltext eine Zeugnisfunktion zu, die von der den Gläubigen direkt ansprechenden appellativen Kraft der Dichtung und schließlich vom Kirchenlied flankiert wird. Alle Textarten einschließlich der Heiligen Schrift sind aber aufgrund ihrer Angewiesenheit auf Sprache als Medium ihrer Darstellung sekundär gegenüber der immediaten Erfahrungsintensität der Sophia. In der Kommentardichtung zum Hohen Lied hat Gottfried Arnold die eingeschränkte Reichweite der menschlichen Sprache angesichts der Unaussprechlichkeit der Sophienerfahrung eigens reflektiert. Die unmittelbare Sophienerfahrung transzendiert die menschliche Sprachfahigkeit und ist zugleich Voraussetzung für ein adäquates Verstehen des äußeren Wortes des Bibeltextes. Es ist also nicht das biblische Wort, das die innere Sophienerfahrung stimuliert, sondern vielmehr ist diese die Bedingung der Aneignungsmöglichkeit der Heiligen Schrift. Diese Überbietung wird auch dadurch bestätigt, daß Arnold dem Sophientraktat noch einen dritten Teil beigefügt hat, in dem die Dichtung aus ihrer Abhängigkeit vom Bibeltext nun vollständig befreit ist: In den Neuen Göttlichen Liebes-Funcken und Ausbrechende Liebes-Flammen läßt Arnold zuletzt die Kommentardichtung ganz hinter sich. Die eingangs traktathaft behandelte Vereinigung mit der himmlischen Sophia wird in einigen Stücken epigrammatisch fokussiert und aus dem Bezug zum Bibeltext vollständig gelöst: Nicht der dichterische Kommentar einzelner Bibelverse, sondern das freie Epigramm und das Kirchenlied stehen am Ende des Sophienbüchleins. Im Epigramm können die rhetorischen Mittel des sermo mysticus, Negation und Paradoxie, nachhaltig zum Einsatz gebracht und der Leser durch die Verknappung der Sprache auf die Erfahrung einer jenseits sprachlicher Vermittlung und Differenz liegenden Intensitätserfahrung vorbereitet werden. Dabei wird jener prekäre Status der menschlichen Sprache, Medium des Unaussprechlichen zu sein, hervorgehoben und dem ,ewigen Wort' kontrastiert: Zuletzt würdet gott allein im innern Chor der Seelen / Ohn mittel / bild und hülff / figur und creatur; Diß ist daß ew'ge wort / das sich mit ihr vermählen Und gantz ermengen will nach sterbender natur. Willtu / ο mensch / hievon die gnade selbst empfinden / So muß die lieb zu dir und zum geschöpf verschwinden: Drum wehl den besten theil / den niemand nimmt noch stiehlt / Ο wol / wer in sich selbst nach solchem himmel ziehlt!
Das .ewige Wort' ist die Sophia, die innergöttliche Schöpfungsinstanz, johanneischer Logos und Urbild des Menschen ist. Auf sie richtet sich die menschliche Restitutionssehnsucht, und auch die menschliche Sprache erhält 56 57
Vgl. Marti: Verkündigung des irdischen Paradieses (Anm. 27), S. 258f. Arnold: Poetische Lob- und Liebessprüche (Anm. 29), LXXV, S. 97.
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von ihr aus eine propädeutische Funktion: Das gesprochene Wort kann dazu auffordern, sich auf die Verbindung mit dem wahren, ewigen Wort vorzubereiten, das als Sophia begegnet und selbst nicht mehr vom Charakter menschlicher Sprachförmigkeit ist. Dieses ewige Wort ist an kein Medium gebunden, seine Erfahrung ist innerlich unmittelbar und setzt die Abkehr von Eigenliebe und irdischer Natur voraus. Gegenüber der inneren Gnadenerfahrung des wirkenden Wortes sind Bibeltext, Kommentardichtung und historische Gelehrsamkeit als Zeugnisse einer Erfahrungsintensität, die jenseits aller medialen Vermittlung liegt, bestenfalls sekundär. Ohne diese Zeugnisse aber bliebe die Sophienerfahrung in den undurchdringlichen Schleiern der negativen Theologie verborgen und fromme Praxis ihr einziges Resultat.
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Petrarcas literarische Autorität und die Genese der Kommentare zu seinen Rerum vulgarium fragmenta im 16. Jahrhundert Francesco Petrarca (1304—1374) ist einer der am meisten kommentierten Dichter der italienischen Literaturgeschichte. Zweierlei macht die Kommentierungen von Petrarcas Werken dabei besonders interessant: Zum einen betreffen die Kommentare fast ausschließlich das - im Vergleich zu Petrarcas lateinischem Werk recht schmale - italienische (Euvre: Petrarcas Lyrikbuch {Rerum vulgarium fragmenta, auch: Canzoniere) und sein allegorisches Epos in Terzinen (Trionfi). Zum anderen setzt die Kommentierung dieser volkssprachlichen Werke nach verhaltenen Anfangen im späten 14. und im 15. Jahrhundert mit Entschiedenheit erst anderthalb Jahrhunderte nach Petrarcas Tod, im zweiten 2 Viertel des 16. Jahrhunderts ein. Ausschlaggebend für diese spezifische Ent-
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in dem Beitrag präsentiere ich Forschungsergebnisse, die ich im Rahmen des Teilprojekts A 4 (.Autorität, Autor, Text: Kanonisierung und ,neue Hermeneutik' im Lyrikkommentar der italienischen Renaissance"; Leitung: Prof. Dr. Gerhard Regn) des Sonderforschungsbereichs 573 („Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit") an der LudwigMaximilians-Universität in München erarbeitet habe. Bei den Kommentaren des späten 14. und des 15. Jahrhunderts handelt es sich um folgende Arbeiten: Luigi Marsiiis Kommmentar zu den beiden Kanzonen Italia mia und Ο aspettata in del (entstanden zwischen 1374 und 1394); Pietro Lapini da Montalcinos nicht erhaltener Kommentar zum gesamten Canzoniere (1443); Guiniforte Barzizzas Kommentar zu Voi ch'ascoltate (vor 1447); Antonio da Tempos integraler Canzoniere-Kommentar (ediert 1477); Francesco Filelfos Kommentar zu den ersten 135 Gedichten des Canzoniere (entstanden zwischen 1445 und 1447); Francesco Acciapaccias im Manuskript verbliebener Kommentar zum Canzoniere (entstanden um 1450); Gerolamo Squazaficos Fortsetzung des unvollendeten Canzoniere-Kommentars von Filelfo (geschrieben und veröffentlicht 1484). Zu diesen Kommentaren vgl. den Überblick von Gino Belloni: Art. „Commenti Petrarcheschi", in: Vittore Branca (Hg.): Dizionario critico della Letteratura italiana, Bd. 2, Turin 1986, S. 22-39, hier S. 22-30. Dort (S. 37ff.) auch weiterführende Literatur. Die Kommentare des 16. Jahrhunderts, die z.T. zahlreiche Neuauflagen erlebten: Alessandro Vellutello: II Petrarca con l'esposizione d'Alessandro Vellutello, Venedig 1525 (in überarbeiteten Ausgaben erschienen 1528 und 1532, danach häufig nachgedruckt); Fausto da Longiano: II Petrarca col commento di M. Sebastiano Fausto da Longiano, con rimario et epiteti in ordine d'alphabeto, Venedig 1532; Silvano da Venafro: II Petrarca col comento di M. Sylvano da Venaphro, dove son da quattrocento lochi dichiarati diversamente da gli altri spositori, nel libro col vero segno notati, Neapel 1533; Giovanni Andrea Gesualdo: II Petrarcha colla spositione di misser Giovanni Andrea Gesualdo, Venedig 1533; Bernardino Daniello da Lucca: Sonetti, Canzoni, e Triomphi di messer Francesco Petrarcha con la spositione di Bernardino Daniello da Lucca, Venedig 1541; Lodovico Dolce: II Petrarcha, nuovamente revisto, e ricorretto da M. Lodovico Dolce. Con alcuni dottissimi avertimenti di M. Giulio Camillo, et indici di esso Dolce utilissimi di tutti
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wicklung sind vielschichtige Prozesse literarischer Autorisierung, mit anderen Worten: der Etablierung Petrarcas als im Wortsinn maßgebenden Autor fur die 3 literarisch-gelehrte Kultur in Italien. Diese Autorisierung vollzog sich zunächst im Rahmen der spätmittelalterlich-neulateinischen res literaria und erfolgte erst sehr viel später für die italienische Sprach- und Dichtungskultur. In dieser Staffelung und zeitlichen Streckung macht der ,Fall Petrarca' wie kaum ein anderer in der Literaturgeschichte in charakteristischer Weise sichtbar, wie Kommentatoren auf Prozesse der Autorisierung reagieren, wie sie diese in ihren Kommentaren in spezifischer Weise aufnehmen, fortschreiben und potenzieren. Im Folgenden ist daher zunächst auf die Strategien der Durchsetzung Petrarcas als zentrale Autorität in der lateinhumanistischen und in der volkssprachlichen literarischen Kultur Italiens einzugehen. In einem zweiten Schritt wird dann ein zentraler Strang der Autorisierung Petrarcas in den Blick genommen werden, der sich durch alle Kommentare des 16. Jahrhunderts zu den Rerum vulgarium fragmenta zieht.
I. Francesco Petrarca und die Konstituierung literarischer Autorität In der Literaturwissenschaft ist der Konstituierung literarischer Autorität bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Und doch ist sie in der
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i concetti, et delle parole, che nel poeta si trovano. Ε di piu con una breve, e particolare spositione di tutte le rime di esso poeta, Venedig 1547; Lodovico Castelvetro: Le Rime del Petrarca brevemente sposte per Lodovico Castelvetro. Con privilegio del Re christianißimo, Basel 1S82. Zu der Autorisierungsproblematik Petarcas in Italien vgl. Florian Neumann: Die Neukonstitution auktorialer Autorität in den Petrarca-Kommentaren des 16. Jahrhunderts, in: Wulf Oesterreicher / Gerhard Regn / Winfried Schulze (Hg.): Autorität der Form Autorisierung - Institutionelle Autorität, Münster u.a. 2003 (Pluralisierung und Autorität, 1), S. 159-174; Florian Neumann: Autorität, Klassizität, Kanon. Petrarca und die Konstitution literarischer Autorität, in: Gerhard Regn (Hg.): ,Questo leggiadrissimo poeta!' Autoritätskonstitution im rinascimentalen Lyrik-Kommentar, Münster 2004 (Pluralisierung und Autorität, 6), S. 79-109; Florian Neumann: Formale Autorisierung und Tavole in den Petrarca-Kommentaren des Cinquecento, in: Regn: Questo leggiadrissimo poeta (s.o.) S. 263-295. Dies gilt sogar für die renommiertesten Fälle der Literaturgeschichte, etwa Cicero. Seine Autorität wird als selbstverständlich vorausgesetzt, ohne daß auch nur die Frage gestellt würde, warum er sich etwa gegenüber Hortensius Hortalus durchsetzen konnte. Auch für die Entstehung des Ciceronianismus im 16. Jahrhundert ist nur ansatzweise herausgearbeitet, wie vielfältig literarästhetische, politische und religiöse Diskurse ineinandergriffen. Die Vorgänge sind aufgrund unterschiedlicher Fragestellungen bisher nur ausschnitthaft behandelt von: Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982; Marc Fumaroli: L'äge de l'61oquence. Rhetorique et 'res literaria' de la Renaissance au seuil de l'epoque classique, Genf 1980; und vor allem von Christian Mouchel: Ciceron et Sen£que dans la rhetorique de la Renaissance, Marburg 1990 (Ars rhetorica, 3). Alle Arbeiten schließen an die Vorarbeiten von Morris W. Croll an; dazu: Morris W. Croll: Style, Rhetoric and Rhythm. Essays by Morris W. Croll, hg.
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Entwicklungsgeschichte der Literaturen und der Literaturwissenschaft v o n größter Bedeutung. D i e Frage, warum bestimmte Personen oder Personengruppen Erfolg haben und Autorität erlangen, andere hingegen nicht, ist eine zentrale Frage bei der Rekonstruktion historischer Prozesse in der Literatur-, Geistes- und Wissenschaftsgeschichte. D i e Analyse der Vorgänge des Zuschreibens, Infragestellens und Absprechens der Autorität einer Person oder Personengruppe und deren Ersetzen durch eine oder mehrere andere darf fur die Literaturwissenschaft als fundamental angesehen werden. In der Literatur wird „Autorität" (auctoritas) seit der römischen Antike Autoren zuerkannt, deren Werke als nachahmenswert angesehen werden. Auctoritas beinhaltet dabei eine Wertzuschreibung, die aus der gehaltlichen und formalen Qualität eines Kunstwerks hergeleitet und auf dessen Urheber übertragen wird. Literarische Autorität ist w i e die Bildung v o n Listen kanonischer Autoren und die Bestimmung von Autoren als „Klassiker" s o w o h l mit der Beherrschung der literarischen artes als auch mit den Prinzipien der imitatio auctorum verbunden.
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von John Max Patrick / Robert O. Evans, Princeton (New Jersey) 1966. Zur Übersicht vgl. Neumann: Autorität, Klassizität, Kanon (Anm. 3). Vgl. Lucia Caboli Montefusco: Art. „Auctoritas. Antike: Öffentliches und privates Leben", in: Gerd Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 177-185, hier Sp. 183; dort allerdings keine Definition und kein Verweis auf die einschlägige Textstelle bei Quintilian: Institutio oratoria 1.6.42. Die Studien von Horst Rabe sind fur den hier behandelten Themenbereich .literarische Autorität' nicht einschlägig: Horst Rabe: Art. .Autorität", in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhard Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 382-406; Horst Rabe: Autorität - Elemente einer Begriffsgeschichte, Konstanz 1969 [Antrittsvorlesung Konstanz 29.01.1969]. Der Lexikonartikel ist schon vom Publikationsort her auf die politisch-soziale Sprachverwendung von auctoritas konzentriert, und in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung (S. 6) erklärt Rabe: „Es wird in dieser Vorlesung vom Verständnis der Autorität in sehr verschiedenen Bereichen gesellschaftlichen Lebens - etwa in denen der Familie, der Kirche, der Schule - die Rede sein; vor allem aber möchte ich das Problem der politischen Autorität erörtern". Auch im von Daniele Letocha herausgegebenen Sammelband wird auctoritas ausschließlich im politisch-juristischen Kontext behandelt: Daniele Letocha (Hg.): Aequitas, aequalitas, auctoritas. Raison theorique et legitimation de l'autoriti dans le XVIe si£cle europeen / Theoretical Reason and Legitimation of Authority in XVIth Century Europe, Paris 1992. Auctoritas steht juristisch (nach Rabes Antrittsvorlesung, S. 7) fur die „Gewährleistung des Verkäufers für den Fall, daß der verkaufte Gegenstand von einem Dritten, etwa dem Eigentümer, herausverlangt wird" und als auctoritas tutoris für „die genehmigende Gegenwart des Vormunds bei Rechtsgeschäften des Mündels"; Auctoritas konnte aber auch in Bedeutungserweiterung „wie potestas und Imperium" eine „rechtlich begründete Zwangsgewalt" darstellen. Zur Frage der Kanonbildung vgl. Markus Asper: Art. „Kanon", in: Gerd Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, Sp. 869-882; die griechischrömische Antike bezeichnet die Auswahl von als „kanonisch" angesehenen Autoren nicht als ,Kanon'. Der heute allgemein verwendete Kanon-Begriff geht auf David Ruhnken zurück, der ihn in seiner „Historia critica oratorum Graecorum" 1768 vermutlich als bildlichen Vergleich zum Kanonbegriff der Kirche verwendete. Vgl. dazu Herbert Oppel: Κανών. Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes und seiner lateinischen Entsprechungen,
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Im Hinblick auf die ars besagt dies, daß es zur kunstvollen und zweckmäßigen Ausgestaltung eines Textes oder eines mündlichen Vortrage nicht nur einer individuell ausgeprägten Grundanlage (natura) bedarf, sondern auch einer sie unterstützenden und formenden Unterweisung in der Kunst (ars, τέχνη). Die ars wird dabei als ein System von „aus der Erfahrung (εμπειρία) gewonnener, aber nachträglich logisch durchdachter, lehrhafter Regeln zur richtigen Durchführung einer auf Vollkommenheit zielenden, beliebig wiederholbaren Handlung" verstanden, „die nicht zum naturnotwendigen Geschehensablauf gehört und nicht dem Zufall überlassen werden soll." Für den sprachkünstlerischen Bereich heißt dies, daß für die zweckorientiert spezifisch zu formende Sprache aus den Werken von als vorbildhaft begriffenen Autoren Regeln abgeleitet werden, die durch Übung und Anwendung (exercitatio, usus) die kunstvolle Gestaltung von Texten ermöglichen. Somit kommt es zur Ausbildung der imitatio auctorum als der sprachlich-stilistischen beziehungsweise gattungs- und stoffbezogenen Nachahmung rhetorischer oder literarischer Vorbilder. Dabei hat sich in der Antike und in allen späteren Renaissancen und Klassizismen der sogenannte „klassizistische Dreischritt" als wiederkehrendes Autorisierungsmodell erwiesen. Er besagt, daß die Künstler und Autoren einer Leipzig 1937 (Philologus, Supplement XXX/4), S. 47; Rudolf Pfeiffer: Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfangen bis zum Ende des Hellenismus, 2. durchgesehene Auflage, München 1978, S. 255; Hellmut Flashar: Die klassizistische Theorie der Mimesis, in: Le Classicisme a Rome aux leres siecles avant et apres J.-C., Genf 1978, S. 79-97 und S. 98-111 [Diskussion], hier S. 84; Ernst A. Schmidt: „Historische Typologie der Orientierungsfunktion von Kanon in der griechischen und römischen Literatur", in: Aleida Assmann / Jan Assmann (Hg.): Kanon und Zensur, München 1987 (Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, 2), S. 246258, hier S. 247; zusammenfassend auch Maria Moog-Grünewald: Kanon und Theorie, Heidelberg 1997, S. VII-IX.; Die Bezeichnung „Klassiker" geht auf Aulus Gellius zurück; vgl. Gellius: Noctes Atticae 19.8.15; dazu Peter Lebrecht Schmidt: ,De honestis et nove veterum dictis'. Die Autorität der veteres von Nonius Marcellus bis zu Matheus Vindocinensis, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken, Stuttgart 1993, S. 366-388, hier: S. 366, bes. Anm. 1. 7
Vgl. Florian Neumann: Art. „Natura", in: Gerd Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 135-139, hier 135; und Art. „Natura - Ars g Dialektik", ebd. Sp. * 139-171, hier 139 ff. Die Definition bei Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwisenschaft. Mit einem Vorwort von Arnold Arens, 3. Aufl., Stuttgart 1990, § la, 3; dazu auch Neumann: Natura- Ars - Dialektik (Anm. 7), Sp. 140. 9 Vgl. Neumann: Natura - Ars - Dialektik (Anm. 7), Sp. 141ff.; dazu auch in radikaler Zuspitzung Cicero, der die Existenz einer ars rhetorica insofern in Frage gestellt hat, als sie nur eine Zusammenstellung von Erfahrungswerten sei und eine Rede stets am äußeren aptum orientiert werde; vgl. Cicero: De oratore 1.102 u. 108ff.; dazu auch Neumann: Natura - Ars - Dialektik (Anm. 7), Sp. 145. 10 Vgl. dazu Geizer in der Diskussion zu Felix Preishofen: Kunsttheorie und Kunstbetrachtung, in: Le Classicisme a Rome (Anm. 6), S. 263-282; das Modell wurde später übernommen von: Konrad Heldmann: Antike Theorien über Entwicklung und Verfall der Redekunst, München 1982 (Zetemata, 77), S. 128 u. 130 und Manfred Fuhrmann: Klassik in der Antike, in: Hans Joachim Simm (Hg.): Literarische Klassik.
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als „klassizistisch" bezeichneten Kunstgestaltung in Reaktion auf einen negativ beurteilten Zustand der Kunst und Literatur der unmittelbar vorausgehenden Zeit (und unter Umständen auch noch ihrer Gegenwart) bewußt auf Werke zurückgreifen, die von Künstlern und Autoren einer weiter zurückliegenden Periode stammen, die sie nun zu maßgebenden Vorbildern für das eigene Schaffen erklären. Diese alten Autoren und Künstler haben dabei die normative - oder anders ausgedrückt: kanonische, autoritative - Bedeutung von Klassikern. Die in verschiedenen literarischen Quellen des Altertums belegbare Struktur des „klassizistischen Dreischritts" wurde wahrscheinlich im zweiten Jahrhundert v. Chr. ausgebildet und läßt sich etwa bei Dionysios von Halikarnass und bei Quintilian nachweisen. In Ansätzen findet sie sich auch bei Cicero und dem Philologen Santra ausgebildet. Jüngere Forschungen haben erwiesen, daß es bei der Analyse von Autorisierungs- und Kanonisierungsvorgängen nötig ist, auch der Selbstdarstel-
Frankfurt a.M. 1988, S. 101-119; dazu auch Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike: Aristoteles - Horaz, 'Longin'. Eine Einfuhrung, Darmstadt 1992, S. 192. In der Forschungsliteratur herrscht hinsichtlich der Terminologie ein liberaler bis indifferenter Umgang vor. So werden „literarische Autorität", „kanonischer Autor" und „Klassiker" weitgehend synonym verwendet. Vgl. dazu z.B. die einschlägigen Artikel im „Historischen Wörterbuch der Rhetorik": Markus Asper: Kanon (Anm. 6); Lucia Caboli Montefusco (Anm. 5); Nicola Kaminski: Art. „Imitatio auctorum", in: Gerd Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, Sp. 235-285 und im selben Band auch Peter Lebrecht Schmidt: Art. „Klassik. Definition, Antike", Sp. 977-980. Zum Begriff „Klassiker" vgl. v.a. folgende Arbeiten: Wolfgang Brandt: Das Wort .Klassiker'. Eine lexikologische und lexikographische Untersuchung, Wiesbaden 1976 (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Neue Folge, Beiheft 21) und Hans Joachim Simm: Einleitung. Literarischer Kanon und literarische Klassik, in: ders. (Hg.): Literarische Klassik, Frankfurt a.M. 1988, S. 7-41, hier S. 38. Zum Begriff „Klassizismus" vgl. Ulrich von Wilamowitz: Die Thukydideslegende, in: Hermes 12 (1977), S. 326-367, hier bes. S. 332 und Ulrich von Wilamowitz: Asianismus und Atticismus, in: Hermes 35 (1900), S. 1-52; auch Ivo Bruns: Die attizistischen Bestrebungen in der griechischen Literatur, Kaisergeburtstagsrede Kiel 1896, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, München 1905, S. 194— 216, hier S. 202; dazu Geizer: Klassizismus, Attizismus, Asianismus (Anm. 10), S. 9 und Thomas Hidber: Das klassizistische Manifest des Dionys von Halikarnass. Die Praefatio zu De oratoribus veteribus. Einleitung, Übersetzung, Kommentar, Stuttgart / Leipzig 1996, S.14f. mit Anm. 90; ferner Thomas Geizer: Klassik und Klassizismus, in: Gymnasium 82 (1975), S. 147-173; auch Wladyslaw Tatarkiewicz: Les quatre significations du mot 'classique', in: Revue internationale de philosophie 12 (1958), S. 5-11 und Alain Cantillon: Classique et classicisme: de la reification d'une notion de l'historiographie de la litterature, in: Georges Forestier / Jean-Pierre Neraudau (Hg.): Un classicisme ou des classicismes? Paris 1995; zu „Klassik" und „Klassizismus" vgl. ferner die Studien des Centre de recherches sur les classicismes antiques et modernes an der Universität Reims. Zum Klassizismus aus kunsthistorischer Sicht vgl. Michael Greenhalgh: Was ist Klassizismus? Über Stil und Tradition, Zürich / München 1990. 12
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Vgl. Dionysios von Halikarnass: De oratoribus veteribus 1,1; 1,2; 2,1 u. 3,1; Quintilian: Institutio oratoria 10.1.74f. Vgl. Cicero: Brutus 36ff. u. 51; Orator 25; Wann genau Santra gelebt hat, ist nicht überliefert. Die einschlägige Stelle findet sich bei Quintilian (Institutio oratoria 12.10.16).
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lung autorisierter und kanonisierter Autoren Rechnung zu tragen. Denn die Durchsetzungsfahigkeit eines Autors gegenüber anderen Autoren, die dann dazu fuhrt, daß ihm von späteren Autoren gegenüber anderen der Vorzug gegeben wird, ist nicht selten auf die spezifische Abgrenzung und Zurüstung persönlicher Auffassungen einzelner gegenüber anderen Autoren zurückzufuhren. Diesen Vorgängen ist namentlich von Stephen Greenblatt - vermutlich in Rückgriff auf Terminologiebildungen im amerikanischen Behaviorismus und der im Anschluß daran bei Norbert Elias herausgearbeiteten Grundzüge des Verhaltens in der Renaissance - in einer fundamentalen Studie zum Renaissance Self-Fashioning im England des 16. Jahrhunderts Rechnung getragen worden. Mit Hilfe der Ergebnisse seiner Arbeit kann auch das self-fashioning von Literaten anderer Zeiten kritisch hinterfragt werden. Kurz gefaßt lautet das Ergebnis von Greenblatts Analyse, daß es beim self-fashioning stets um eine agonistische Delimitation und Zurüstung der eigenen Position gegenüber einem als feindlich angesehenen Anderen geht, wobei in der Auseinandersetzung mit diesem Anderen argumentativ auf Personen und/oder Institutionen zurückgegriffen wird, die für das eigene Handeln als autoritativ angesehen werden. Greenblatts Entwurf des self-fashioning und der „klassizistische Dreischritt" weisen, genau besehen, charakteristische Parallelen und Differenzen auf: Beide Schemata ermöglichen die Posititionsbestimmung eines Autors in seinen diachronen und synchronen literarästhetisch fundierten Relationen zu anderen Autoren, wobei in Greenblatts „schematic charting" die Person des agierenden Autors zentral gestellt wird. Um die Schemata für die Analyse der Konstituierung literarischer Autorität fruchtbar machen zu können, ist es über 14
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Dies zeigt sich beispielsweise in folgender Aufsatzsammlung: Kevin Brownlee / Walter Stephens (Hg.): Discourses of Authority in Medieval and Renaissance Literature, Hanover (New Hampshire) / London 1989. Als Quintessenz der wenigen Aufsätze der Sammlung, die überhaupt das Thema .Autorität" zentral behandeln, kann festgehalten werden, daß in den untersuchten Fällen auf unterschiedliche Weise eine starke, den spezifischen Diskursabhängigkeiten geschuldete Selbstfassionierung zur Autorisierung beigetragen hat. Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago / London 1980. Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1976, Bd. 1, S. 109, mit S. 319 Anm. 40; Elias spricht von einer ,Fassionierung' des Verhaltens in der Renaissance, von einer „Einpassung des Einzelnen an jene Verhaltensweisen, die der Aufbau und die Situation seiner Gesellschaft erforderlich macht". Greenblatt hat in seiner Arbeit (Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning, [Anm. 15]) die zentralen Aspekte des self-fashioning in Untersuchungen zu Thomas More, William Tyndale, Thomas Wyatt, Edmund Spenser, Christopher Marlowe und William Shakespeare herausgearbeitet. Eine Zusammenstellung der Prinzipien des self-fashionings bei Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning (Anm. 15), S. 9. Dem von ihm ausgebreiteten Schema hat Greenblatt erstaunlicherweise die folgende Einschränkung vorausgeschickt (S. 8): „But we must recognize that such approximate and schematic chartings are of limited value. The closer we approach the figures and their works, the less they appear as convenient counters in a grand historical scheme. A series of shifting, unstable pressures is met with a wide range of discursive and behavioral responses, inventions, and conterpressures."
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diese Modelle hinaus jedoch notwendig, zusätzlich zu den synchronen Relationen von Autoren untereinander die diachronen Beziehungen des in Frage stehenden Autors zu seinen Vorbildern stärker in den Blick zu nehmen. In 19
Anlehnung an Harold Bloom - aber ohne den bei ihm dominanten freudianischen Überbau - ist daher der im Bemühen um Originalität vollzogene „Agon" des jeweiligen Autors mit seinem Vorbild zu untersuchen, wobei seinen Zielsetzungen, seinem Gelingen oder Nichtgeiingen und seiner Rezeption bei Zeitgenossen und Nachgeborenen besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist. 1. Die Autorisierung Petrarcas im Rahmen der lateinhumanistischen Kultur des 14. und 15. Jahrhunderts Für den Bereich der lateinischsprachigen Literatur und Kultur läßt sich Petrarcas Autorisierung als mustergültiges Vollziehen des .klassizistischen Dreischritts' in Verbindung mit einer aggressiven Selbstfassionierung beschreiben: Petrarca reagiert auf einen von ihm negativ beurteilten Zustand der Literatur und Erudition der unmittelbar vorausgehenden Zeit und noch seiner Gegenwart und greift bewußt auf Werke von Künstlern und Autoren des römischen Altertums zurück, die er zu maßgebenden Vorbildern für das eigene Schaffen und das all jener Zeitgenossen erklärt, die in seinen Augen als wahrhaft gelehrt anzusehen sind. Bekanntermaßen hat sich Petrarca über die 20 seiner Meinung nach in geistiger Enge verharrenden Gelehrten beklagt, und
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Harold Bloom hat seine Idee vom Kanon und seiner Ausbildung bekanntlich im Rahmen der Interpretation modemer englischsprachiger Lyrik entwickelt; Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York 1973 [2. Aufl. New York 1997]. In der Folge hat er sein Kanonmodell auf andere Epochen, Gattungen und Literaturen übertragen. Er geht davon aus, daß jeder Autor seine Werke in Abhängigkeit von und vor allem in Auseinandersetzung mit Vorbildautoren verfaßt hat. Dabei resultiert aus dem Anspruch des Autors auf Originalität, die mit jener des Vorbilds in einem Konfliktverhältnis steht, Angst (anxiety). Angst ist ftir Bloom nicht allein ein psychischer Faktor, der den Autor bei seiner Textproduktion beeinflußt. Für ihn ist das neue Werk selbst Angst; vgl. Harold Bloom: The Westem Canon. The Books and the School of the Ages, New York 1994, S. 8. Folge davon ist eine Deutung der literarischen Tradition als ein evolutionärer Agon. Es geht dabei um literarisches „Überleben" durch Aufnahme in den Kanon von Autoren und Werken. Erfolgreich ist nur der starke Autor, dem es gelingt, in seinen Texten die Vorgaben seines Vorbilds nicht zu wiederholen, sondern zu verändern. Dieses Abändern erfolgt mittels Fehllesens der Werke des Vorgängers; vgl. Harold Bloom: A Map of Misreading, New York 1975. Ist dieses Fehllesen in hinreichendem Maße originell, wird der nachfolgende Autor selbst zum kanonischen Autor, denn „all strong originality becomes canonical" (ebd., S. 25). Und kanonisch heißt, daß der Autor und sein Werk weiter rezipiert werden und selbst wiederum Ausgangspunkt für Fehllesen sind. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der freudianisch geprägten Deutung der Literaturgeschichte, die auch sein Kommentarverständnis bestimmt, durch Bloom vgl. Graham Allen: Harold Bloom. A Poetics of Conflict, New York u.a. 1994, S. 150ff.
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Vgl. Rerum memorandarum libri. A cura di Guiseppe Billanovich, Florenz 1945 (Edizione Nazionale, V), S. 19:1.19,3.
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ihren scholastischen Formalismus, ihren schlechten lateinischen Stil und ihre Nachlässigkeit im Umgang mit den Zeugnissen der antiken Literatur angeprangert.23 Im Gegensatz zu ihnen sah Petrarca seine Aufgabe in der Rettung der vernachlässigten antiken Gelehrsamkeit und Literatur fur seine Zeit und für die Zukunft. Zudem schließt er in seinen lateinischen Werken und in ihrer stilistischen und formalen Ausgestaltung programmatisch an die Antike an: In der Prosa dient ihm Cicero zum Vorbild, in der epischen Dichtung Vergil, in den Versepisteln Horaz. Und 1341 läßt er sich in einem vermutlich von ihm selbst angeregten Festakt auf dem römischen Kapitol nach Maßgabe der höchsten antiken Dichterehrung zum Dichter krönen. Am deutlichsten macht Petrarca sein literarisches und gelehrtes Programm an exponierter Stelle in seiner ersten Briefsammlung: im 24. und letzten Buch seiner Rerum familiarium libri. In den 13 Briefen des Buchs bildet er nicht nur
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Gegen die Scholastiker gerichtet sind vor allem die vier Invective contra medicum; ferner das Buch De sui ipsius et multorum ignorantia; Invective contra medicum, in: Francesco Petrarca: Opere latine. A cura di Atonietta Bufano, Turin 1975, Bd. II, S. 818-980; De sui ipsius et multorum ignoratia, in: Petrarca: Opere latine (s.o.), Bd. II., S. 1026-1150. Mit Stilistik setzt sich Petrarca v.a. in seinem Brief Rerum familiarium libri XXIII. 14 auseinander; Le Familiari. Α cura di Vittorio Rossi e Umberto Bosco, 4 Bde., Florenz 1933-1942 (Editione Nationale, X-XIII), hier Bd. 4, S. 196. Die bekannteste Stelle in seinem Werk ist hier Rerum familiarium libri XXIV.4,3-5, Petrarca hat das Thema auch in das Bild von der Vergeßlichkeit der Zeiten gefaßt; vgl. dazu Le Familiari (Anm. 22), Bd. 4, S. 228, S. 230, S. 235, S. 237f„ S. 240f., S. 245 u. 256 (XXIV.4,14; 5,19; 6,2; 7,1; 9,1 und 12,10 f.). Das wird schon im Titel seiner Schrift Rerum memorandarum libri deutlich, in der auch der locus classicus zu seinem Unterfangen zu finden ist (1.19,3); vgl. Rerum memorandum libri (Anm. 20), S. 19. Vgl. Rerum senilium libri, in: Francisci Petrarcae Opera quae extant omnia, Bd. II., Basel 1554, S. 1046-1050 (Epistolae Seniles XVI. 1); für die Briefe: Le Familiari (Anm. 22), Bd. 1,S. 10.(1.1,32). Vgl. Petrarcas Epos Africa·, zur Inspiration zu diesem Werk Francesco Petrarca: Lettera ai posteri, a cura di Gianni Villani, Rom 1990, S. 52, § 26. Vgl. Petrarcas Epystole [metrice], in: Francisci Petrarcae Opera (Anm. 25), Bd. III, Basel 1554, S. 1330-1372; Le Familiari (Anm. 22), Bd. 4, S. 247-251 (XXIV.10). Zur Dichterkrönung vgl. Ernest Hatch Wilkins: The Coronation of Petrarch, in: Speculum 18 (1943), S. 155-197 sowie in deutscher Übersetzung und teilweise überarbeitet; ders.: Die Krönung Petrarcas, in: August Buck (Hg.): Petrarca, Darmstadt 1976, S. 100-167. Vgl. dazu die erstmals integrale Interpretation des 24. Buchs der Rerum familiarium libri im Nachwort in: Florian Neumann (Hg.): Francesco Petrarca: Epistolae familiares XXIV / Vertrauliche Briefe. Lateinisch - Deutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Florian Neumann, Mainz 1999, S. 295-342, hier: S. 315ff. Zu Einzelaspekten von Petrarcas Antikenrezeption in Buch XXIV der Familiares und zu ihrem Hintergrund vgl. Giuseppe Billanovich: Petrarca e Cicerone, in: Miscellanea Giovanni Mercati, Bd. 4: Letteratura classica e umanistica, Vatikanstadt 1946, S. 88-106; Giuseppe Billanovich: Petrarca e i classici, in: Associazione intemazionale per gli studi di lingua e letteratura italiana (Hg.): Petrarca e il petrarchismo, Bologna 1961; Giuseppe Billanovich: II Virgilio del Petrarca da Avignone a Milano, in: Studi petrarcheschi, Nuova Serie 2 (1985), S. 15-52; Enrico Carrara: Le 'antiquis illustrioribus', in: ders.: Studi petrarcheschi et altri scritti, Torino 1959, S. 136-179; Agostino Pertusi: Leonzio Pilato fra Petrarca e Boccaccio. Le sue versioni omeriche negli autograft di Venezia e la cultura del
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den von ihm vorgelebten lebendigen Umgang mit der antiken Tradition ab, sondern entwirft, genau besehen, darüber hinaus das Ideal einer gelehrten Kommunikations|emeinschaft. Und er formuliert darin gleichsam sein geistiges Vermächtnis. Sein strategisches Vorgehen im Hinblick auf die Antikengelehrsamkeit seiner Zeit und in eigener Sache wird deutlich, wenn man sich Darstellungsmodus und Argumentationszusammenhang der Briefe genauer vor Augen fuhrt. Petrarca gibt im einleitenden Briefen zunächst seinen ^persönlichen Ausbildungsgang wieder, der stark autodidaktisch geprägt war. Er referiert sodann das Ideal eines Gelehrtengesprächs in Form eines Schlagabtauschs zwischen ihm und einem alten Gelehrten über die Bewertung von Ciceros Lebenswandel, wenn man ihn an seinen eigenen philosophischen Schriften mißt, und über die Beurteilung von Ciceros rhetorischen Leistungen. Petrarca präsentiert im Anschluß daran acht Briefe, die er über die Zeiten hinweg an römische Autoren geschrieben hat, wobei er stets eine persönliche Adresse an die Autoren richtet und eine Zusammenstellung und Bewertung ihrer Werke liefert. Dabei fallt die Referenz an die veteres illustriores in den Briefen an Horaz und Vergil besonders markant aus: Sie sind in den fur die beiden Dichter typischen Versmaßen gehalten. Einen weiteren Brief richtet Petrarca an Homer, dem er neben den Ausführungen zu Homerübersetzungen ins Lateinische und den Streit um den Vorrang von Homer und Vergil eine Reihe von Gelehrten nennt, die sich wie er selbst für Antikenstudien interessieren. Im abschließenden Brief beschwört Petrarca dann noch einmal die Gemeinschaft der Antikengelehrten, die er auffordert, das ständige Gespräch mit ihresgleichen zu suchen.
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primo Umanesimo, Venedig / Rom 1964 (Civiltä veneziana. Studi, 16); Petrarcas Korrespondenz mit Cicero, in: Der Altsprachliche Unterricht 11 (1978), S. 30-38; Peter Lebrecht Schmidt: Petrarca und Horaz, in: Quaderni petrarcheschi 9/10 (1992/93), S. 443457. Die auf das Nachleben der von Petrarca aufgerufenen antiken Autoren konzentrierte Forschung hat lange übersehen, daß Petrarca in den 13 Briefen des Buchs nicht nur den von ihm vorgelebten lebendigen Umgang mit der antiken Tradition schildert, sondern zudem das Ideal einer gelehrten Kommunikationsgemeinschaft entwirft. Dazu ausfuhrlich Neumann: Nachwort (Anm. 29), S. 332ff. Vgl. Neumann: Nachwort (Anm. 29), S. 341. Vgl. Rerum familiarium libri (Anm 22), XXTV.l,5f. Vgl. Rerum familiarium libri (Anm. 22), XXIV.2. Es sind dies: Marcus Tullius Cicero, Anneus Seneca, Marcus Varro, Marcus Fabius Quintiiianus, Titus Livius, Asinius Pollio, Horatius Flaccus, Publius Virgilius Maro. Die Formulierung „veteres illustriores" (berühmte Alte), nach der die Briefe an die antiken Autoren auch „epistolae veteribus illustrioribus" genannt werden, findet sich in Rerum familiarium libri (Anm. 22), XXIV.13,4. Der Brief an Horaz ist im kleinen Asklepiadeus gehalten, den Horaz in Carmen 1.1 und Carmen 3.30, also in Gedichten verwendet hatte, die von ihrer Position her in seinen Carmina besonders exponiert sind. Der Brief an Vergil ist in Hexametern abgefaßt. Vgl. Rerum familiarium libri (Anm. 22), XXIV. 12,26-42.
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Die Intention, die Petrarca mit diesem letzten Buch der Rerum familiarium libri verfolgt, läßt sich thesenhaft zusammenfassen. Er macht erstens deutlich, daß es auf die Eigeninitiative des einzelnen ankommt, ein Antikengelehrter zu werden. Der persönliche, von niemandem reglementierte Umgang mit den klassischen Texten ist dabei von entscheidender Bedeutung. Er selbst gibt dafür ein erfolgreiches und nachahmenswürdiges Beispiel ab. Zweitens erfordert das Studium der Autoren des Altertums das Einbeziehen aller nur irgend verfügbaren Informationen über das Leben und Werk des jeweiligen Autors. Die Lebenserfahrung des studierten Autors, seine sprachlich-literarische Meisterschaft und seine Gelehrsamkeit sind in gleichem Maße in den Blick zu nehmen und kritisch zu würdigen. Auf welche Weise dies bestenfalls erfolgt, hat er, Petrarca, selbst vorgeführt. Drittens sollte man danach streben, die Autoren als ebenbürtig zu behandeln und es in den eigenen Werken ihnen gleichzutun. Wie anhand der Versepisteln an Horaz und Vergil besonders deutlich wird, können die Autoren des Altertums in ihrer Sprachbeherrschung nachgeahmt werden. Viertens wird die Gemeinschaft der Gelehrten vom Gedankenaustausch im Gespräch oder mittels Briefen bestimmt. Petrarca fuhrt beide Formen der Kommunikation hier beispielhaft vor. Zentrum dieser prototypischen „humanistischen" Kommunikationsgemeinschaft ist Petrarca selbst, der sich als exemplarischer Gelehrter stilisiert. Fünftens schließt der humanistische Diskurs, den Petrarca hier schildert, bewußt Elemente der Fiktionalisierung mit ein. In symbolkräftiger Weise öffnet Petrarca in seinen Briefen an die Alten die Kommunikationsgemeinschaft der Antikengelehrten zu den antiken Autoren hin: Die veteres illustriores sollten für die Gelehrten seines Schlages stets lebendig und gegenwärtig sein. Sechstens bestimmt Petrarca in seinem Brief an Homer selbst, wer als Antikengelehrter des neuen Typs gelten kann. Und er tut dies in gewisser Weise schon „kraft Autorität": Petrarca versteht sich - wie schon bei den anderen Punkten deutlich wurde - als zentrale Instanz für Definition und Bewertung der neuen Gelehrtengemeinschaft. Als Verfasser einer mit gelehrten Informationen angefüllten Schrift wird Petrarca mit seinem Text selbst zum Objekt gelehrten Nachfragens und Kommentierens. Der exemplarische Gelehrte Francesco Petrarca offeriert sich - ganz im Sinne seiner Behandlung der Autoren des Altertums - zusammen mit seinen Werken selbst als Studienobjekt.
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Für Petrarcas Selbstverständnis ist in diesem Zusammenhang der Abschluß interessant, den er für seine zweite Briefsammlung (Rerum senilium libri, auch: Seniles, also: Altersbriefe) vorgesehen hatte: Es ist eine Schrift, die in eigenartiger Weise mit dem letzten Buch der Famiiiares korrespondiert - der „Brief an die Nachwelt" (Epistola posteritati), der anstelle eines 18. Buches die Seniles abschließen sollte. Aus inhaltlichen Zusammenhängen, die hier nicht genauer referiert werden können (vgl. dazu Neumann: Nachwort (Anm. 29), S. 339f.), geht hervor, daß Petrarca schon zur Abfassungszeit seiner Briefe an die antiken Autoren nicht nur in die Vergangenheit geschaut, sondern auch seinen Blick in die Zukunft gerichtet hat. Er hat sich in dem Schreiben an die Nachgeborenen nämlich darum bemüht, eben die biographischen und bibliographischen Informationen zu versammeln, die er bei den antiken Autoren mühsam hatte zusammensuchen müssen; und er hat in einer Weise über sich Auskunft gegeben, daß das Wissen über ihn nicht in dem Maße verfälscht würde, wie er es durch die Zeiten bei den antiken Autoren hatte verfälschen sehen.
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Hält man sich Petrarca Vorgehen in seiner ganzen Komplexität vor Augen, wird zunächst deutlich, wie er in seinen Briefen kunstvoll den .klassizistischen Dreischritt' vollzieht: Mit einer Kanonisierung von .klassischen' römischen Autoren, denen er sich in poetologischer Hinsicht durch Umsetzen der imitatio auctorum anschließt. Mit der Abrundung des Vorgehens durch das selbstbewußte Bild seiner selbst als Mittelpunkt einer von ihm persönlich definierten Gelehrtengemeinschaft ist das letzte Buch der Rerum familiarium libri aber zugleich einer der Kulminationspunkte jener großangelegten Selbstfassionierung, die Petrarca hier wie in fast allen seinen anderen lateinischen Werken 39
vornimmt. Wie so häufig stellt er sich als großer Gelehrter vor, der sich in seinem Denken und Schreiben am Altertum orientiert, mit Invektiven gegen als feindlich markierte scholastische Denkmuster vorgeht und im selben Zug Begriffe und Argumentationsmodi bereitstellt, derer sich andere, ihm gleichgesinnte Gelehrte fur ihre Selbstfassionierung bedienen konnten und sich dann auch de facto bedienten. Aufgrund dessen läßt sich die Konstituierung Petrarcas als Autorität im Lateinischen als eine auf gelehrt-antiquarische und humanistisch-antischolastische Diskurse gestützte Autorisierung beschreiben, die auf Petrarcas mit dem .klassizistischen Dreischritt' verschränkter Selbstfassionierung und Selbstautorisierung basiert. 2. Die Konstituierung Petrarcas als Autorität in der italienischen Dichtungskultur des 16. Jahrhunderts Während Petrarca auf dem Gebiet der lateinhumanistischen Literatur und Gelehrsamkeit als Diskursbegründer und Autor richtungsweisender literarischer und moralphilosophischer Schriften noch zu Lebzeiten autoritativer Status zuerkannt wurde, stellt sich die Konstituierung seiner Autorität als normgebender Dichter in der italienischen Volkssprache, dem volgare, sehr viel komplexer dar: Sie ist erst postum, zu Beginn des 16. Jahrhunderts erfolgt, und unterlag damit nur bedingt Strategien der Selbstautorisierung. Die Autorisierung des „Petrarca volgare" mußte in einem humanistischen, dominant lateinischen Ambiente vollzogen werden, in dem das Italienische noch der vollen Anerkennung als Sprache der studio und litterae bedurfte. Aufgrund dessen war zunächst - und vor allem - das sprachliche Autoritätsdefizit der Lyrik Petrarcas zu beheben. Als weiteres Problem bei der Autorisierung des Petrarca volgare erwies sich der Status von Dante Alighieri (ca. 1265-1321), denn Dante galt in der italienischen Dichtung als die unbezweifelte Leitfigur, gegen die Petrarca als Autorität erst etabliert werden mußte.
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Petrarca hat in seinen Werken, wenn sie nicht ausschließlich der Weitergabe gelehrter Stoffe dienten, fast ausnahmslos über sich selbst geschrieben. Der Grund dafür kann m.E. darin gesehen werden, daß Petrarca erkannt hat, daß seine eigene Biographie auch so viel Exemplarisches bot, daß er sie schließlich selbst zum Ausgangspunkt der moralphilosophsichen Reflexion nahm. Vgl. dazu Neumann: Nachwort (Anm. 29), S. 295ff. Vgl. dazu Neumann: Neukonstitution (Anm. 3), S. 160. Vgl. Neumann: Neukonstitution (Anm. 3), S. 160.
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Das äußerst komplexe Gefiige der Bedingungen für die Autorisierung des Petrarca volgare sind - wie die Autorisierungsmodalitäten selbst - in der Petrarca-Forschung bislang nur am Rande behandelt worden. Das gilt auch für die Untersuchungen zu den Kommentaren des volkssprachlichen CEuvres von Petrarca, obwohl gerade die Kommentierungen des Canzoniere und der Trionfi im 16. Jahrhundert darüber Auskunft geben können, warum und wie Petrarca im volkssprachlichen Dichten autoritativer Status zuerkannt wurde. Neben kleineren Arbeiten zur Kommentareditorik, zu methodischem 44 45 Vorgehen und poetischen Auffassungen einzelner Kommentatoren haben 42
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Eine Ausnahme bildet hier der Artikel von Andreas Kablitz: Warum Petrarca? Bembos Prose della volgar lingua und das Problem der Autorität, in: Romanistisches Jahrbuch 50 (1999), S. 127-145. Die von Kablitz vorgenommene Interpretation zur Autorisierung Petrarcas durch Bembo ist insofern nicht unproblematisch, als Kablitz das auctoritasVerständnis Bembos (die auctoritas der Sprache) mit seinem eigenen auctoritasVerständnis (persönliche auctoritas des Autors) überblendet. Sie sind jedoch zu unterscheiden und fur das volle Verständnis auch von Kablitz' Aufsatz stets auseinanderzuhalten. Festzuhalten ist ferner, daß Bembo keineswegs - wie von Kablitz unterstellt (vgl. S. 131 ff.) - zwei verschiedene auctoritas-Begnffe kennt. Zum Problem vgl. die ausführliche Erörterung in Neumann: Autorität, Klassizität, Kanon (Anm. 3), S. 94f. Zu Castelvetros Kommentar: Guido Baldassari: Per un diagramma degli interessi culturali del Tasso. Le postille inedite al commento petrarchesco del Castelvetro, in: Bergomum 69 (1975), S. 5-22; Guido Baldassari: Le rime del Petrarca brevemente sposte per Ludovico Castelvetro, in: Bergomum 69 (1975), 23-74. Giuseppe Frasso: Studi sui Rerum vulgarium fragmenta e i Triumphi, Bd. 1: Francesco Petrarca e Ludovico Beccadelli, Padua 1983; Giuseppe Frasso: Francesco Petrarca, Trifon Gabriele, Antonio Brocardo. Appunti sull'incunabolo Vaticano Rossiano 710, in: Studi petrarcheschi 4 (1987), S. 159-189; Giuseppe Frasso / Giordana Mariani Canova / Ennio Sandal (Hg.): Illustrazione libraria, filologia e esegesi petrarchesca tra Quattrocento e Cinquecento. Antonio Grifo e l'incunabolo Queriano G V 15, Padua 1990, bes. S. 19-144; zu Giulio Camillo: Paolo Zaja: Nell'officina di Giulio Camillo. Esegesi petrarchesca e memoria dei modelli classici e volgari, in: Quaderni veneti 24 (1997), S. 81-105; Paolo Zaja: Per una sistemazione retorica del commento al Canzoniere: appunti intomo alle postille inedite di Giulio Camillo, in: Bianca Maria Da Rif (Hg.): II commento e i suoi dintorni. Con una nota di Guido Capovilla, Milano 2002, S. 105-128; zu Castelvetro bes. Emilio Bigi: L'interesse per le strutture tematiche nel commento petrarchesco del Castelvetro, in: Studi petrarcheschi 4 (1987), S. 191-217; Karlheinz Stierle: Les lieux du commentaire, in: Gisele Matthieu-Castellani / Michel Plaisance (Hg.): Les commentaires et la naissance de la critique litteraire, Paris 1990, S. 19-29; Karlheinz Stierle: Vom Petrarkismus zu Petrarca. Castelvetros Rime del Petrarca, breuemente sposte, in: Klaus W. Hempfer / Gerhard Regn (Hg.): Der Petrarkistische Diskurs. Spielräume und Grenzen, Stuttgart 1993 (Text und Kontext, 11), S. 147-163. Dazu Bernard Weinberg: The Sposizione of Petrarch in the Early Cinquecento, in: Romance Philology 13 (1960), S. 374-386; zu Antonio da Tempo vgl. Giovanni Patroni: Antonio da Tempo commentatore del Petrarca e la critica di Giusto Grion, in: Propugnatore, Nuova Serie 1 (1888), S. 57-83 und S. 226-239; zu Filelfo vgl. Ezio Raimondi: Francesco Filelfo interprete del Canzoniere, in: Studi petrarcheschi 3 (1950), S. 143-164; Rosella Bessi: Sul commento di Francesco Filelfo ai 'Rerum vulgarium fragmenta', in: Quaderni petrarcheschi (1987), S. 229-270; Rosella Bessi: Filelfo commenta Petrarca, in: Schifanoia 15/16 (1995), S. 91-98; zu Daniello vgl. Ezio Raimondi: Bernardino Daniello e le variant! petrarchesche, in: Studi petrarcheschi 5 (1952), S. 95-130, auch in: Ezio
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sich vor allem Gino Belloni und William J. Kennedy eingehender mit den CawzoHi'ere-Kommentaren des 16. Jahrhunderts befaßt. Doch bei ihnen bleibt die Frage nach den Modalitäten der Autorisierung des Petrarca volgare durch die Kommentatoren ausgeblendet. Belloni stellt die Frage nach der Autorisierung erst gar nicht. Er geht wie selbstverständlich von der Autorität Petrarcas aus und weist im Anschluß an die 48 Arbeiten von Vittorio Cian detailgenau und mit paläographischem Instrumentarium Abhängigkeiten verschiedener 49Canzom'ere-Kommentare besonders in den Venezianer Gelehrtenkreisen nach. Anders als Belloni, der die Kommentare traditionell positivistisch-philologisch analysiert, untersucht Kennedy sie im Rahmen soziohistorischer Leserforschung. Er liest die Canzoniere-Kommentare ausschließlich auf ihre Wirklichkeitsbezüge hin. Die Pragmatik der Kommentare stellt sich fur ihn als Resultat ihrer Verankerung in der Lebenswelt des Kommentators dar. Der methodische Schwachpunkt der Arbeit liegt neben Unstimmigkeiten im argumentativen Zugriff50 darin, daß Kennedy in unproblematisierter Weise die Kommentare als historische Belege für den sich im Verlauf der Geschichte entfaltenden Werksinn liest. Damit jedoch benimmt er nicht nur das kommentierte Werk seiner historischen Spezifik. Mehr noch: Die Frage des Rückbezugs der Kommentare auf das kommentierte Werk und seinen
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Raimondi: Rinascimento inquieto, Palermo 1965, S. 25-69; zu Castelvetro vgl. Ezio Raimondi: Gli scrupoli di un filologo: Ludovico Castelvetro e il Petrarca, in: Studi petrarcheschi 5 (1952), S. 131-210, auch in: Ezio Raimondi: Rinascimento inquieto, Palermo 1965, S. 71-174. Vgl. v.a. Gino Belloni: Laura tra Petrarca e Bembo. Studi sul commento umanisticorinascimentale al 'Canzoniere', Padua 1992; vgl. aber auch die weiteren, thematisch verwandten Arbeiten von Belloni: Sul Daniello commentatore del 'Canzoniere', in: Lettere italiane 32 (1980), S. 172-202; Un eretico nella Venezia del Bembo: Alessandro Vellutello, in: Giornale storico della letteratura italiana 157 (1980), S. 43-74; Art. „Commenti Petrarcheschi" in: Vittore Branca (Hg.): Dizionario critico della Letteratura italiana, Bd. 2, Torino 1986, S. 22-39; Due commenti di Luigi Marsiii a Petrarca, in: Studi petrarcheschi 4 (1987), S. 87-141; Les commentaires de Petrarque, in: Mathieu-Castellani / Plaisance: Les commentaires (Anm. 44), S. 147-155. Vgl. William J. Kennedy: Authorizing Petrarch, New York 1994; William J. Kennedy: Petrarchan Textuality. Commentaries and Gender Revisions, in: Brownlee / Stephens: Discourses of Authority (Anm. 14), S. 151-168. Vgl. Vittorio Cian: Un Petrarca aldino del 1521 postillato da Pietro Bembo, in: Bollettino del Museo Civico di Padova 21 (1928), S. 238-245; Vittorio Cian: Pietro Bembo postillatore del canzoniere petrarchesco, in: Giornale storico della Letteratura italiana 98 (1931), S. 255-290; 99 (1932), S. 235-264; 100 (1933), S. 209-259. Dazu v.a. Belloni: Laura tra Petrarca e Bembo (wie Anm. 46), 147ff. Kennedy ordnet in seinem Buch (Authorizing Petrarch [Anm. 47]) die Kommentatoren verschiedenen .Ideologien' zu, relativiert seine Einordnung jedoch auch wieder (S. 79): „None of the commentators is exclusively ,Protestant' or .rhetorical' or .monarchist' or ,republican'. To think otherwise would be to impose an ideological consistency or a modern - and hence anachronistic - awareness of subsequent history that no commentator entertained. As each commentator responds to Petrarch's text, each shifts gears, offering now a moral observation, now a stylistic note, now a political comment. The dominant concerns transgress categorical boundaries."
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Autor bleibt offen, denn die Kommentare werden von ihm nur noch als Instrumente zur Entfaltung des Sinns des kommentierten Werks verstanden. Vollkommen inkonsistent erscheinen dabei Kennedys Auslassungen zu den Intentionen der Autoren, Petrarca zu kommentieren. Er versucht sie zwar herauszuarbeiten, sie sind in seiner Grundkonzeption einer quasi-werkmetaphysisch begründeten Entfaltung des Werksinns in der Geschichte aber letztlich nicht von Bedeutung, denn jede vom Kommentator eingenommene Position muß notwendig die jeweilige Position in der Sinnentfaltung des Werks sein. Die Aporien, in die eine derartige Deutung fuhrt, liegen auf der Hand. Ungeklärt bleibt nicht nur, wie die Vermittlung des Werksinns und die Prägung der Kommentarausrichtung durch die je spezifische Verankerung in der Lebenswelt des Kommentators zu vereinbaren sind. Vollkommen nivelliert wird auch die spezifische Funktion der Narrativisierung des Canzoniere, deren Bedeutung für die Petrarca-Rezeption des 16. Jahrhunderts schon Luigi Baldacci ansatzweise herausgearbeitet hatte. Die beiden bisher vorgelegten Monographien zu den CanzoniereKommentaren des 16. Jahrhunderts erweisen sich mithin im Hinblick auf die Frage nach der Konstituierung der Autorität des Petrarca volgare und damit auch weitgehend der raison d'etre der Canzoniere-Kommentzre als unzulänglich. Hier bedarf es eines Neuansatzes. Die Beantwortung der besagten Fragen zur Autorisierung Petrarcas und ihrer Bedeutung für die Canzoniere-Kommentare führt über Pietro Bembo und seinen 1525 erstmals veröffentlichten traktathaften Dialog Prose della volgar lingua, der in weiten Teilen als ein Kommentar zu Petrarcas Canzoniere aufgefaßt werden kann. In Bembos Prose findet sich der zentrale und literaturgeschichtlich epochale Passus für die Zuschreibung von „Autorität" an Francesco Petrarca als maßgeblicher italienischer Lyriker und Sprachschöpfer: Einer der Gesprächspartner in Bembos Dialog wirft nämlich die Frage auf, nach welcher Regel (regola) man entscheiden könne, an welcher Schreibweise (maniera) man sich im Lateinischen wie auch in der Volkssprache zu orientieren habe. Bembos Antwort darauf lautet, daß es darauf ankomme, wie die Autoren (scrittori) gelobt würden, daß es also auf die fama, nach dem damaligen Sprachgebrauch also auf Ruhm, Ruf und Ansehen ankomme, die ein Autor genieße. Ausschlaggebend ist für Bembo dabei primär die Sprache und ihre auctoritas im Sinne von „Würdigkeit" und „Wertigkeit". Aus ihr beziehen dann die sprachschöpferischen Autoren ihren Ruhm, ihren Ruf, ihr „divenire famosi e illustri". Nach Bembos Auffassung verliehen dabei die Autoren ihren jeweiligen Sprachen „nur so viel Wertigkeit (autoritä) und Würde", „wie sie für
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Vgl. Luigi Baldacci: II Petrarchismo italiano nel Cinquecento, Mailand / Neapel 1957. Vgl. Pietro Bembo: Prose della volgar lingua, in: ders.: Prose della volgar lingua. Gli Asolani. Rime, hg. von Carlo Dionisotti. Turin 1966, S. 73-309, hier S. 82f. Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 82f. Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 83.
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sie hinreichend war, um berühmt und bedeutend zu werden." 55 Bembo bedient sich dabei einer Sprachkonzeption, die Aristoteles ausgebildet hat. Sie besagt, daß die Sprache als ein natürliches Dispositiv aufzufassen ist, das Lücken aufweist, die Sprachkünstler mit ihrer Kunstfertigkeit ausfüllen können. Diese Offenheit des sprachlichen Dispositivs für Optimierung ist prinzipiell immer gegeben. Verschiedene Sprachkünstler füllen es jedoch in unterschiedlicher Weise aus. Diejenigen, so nun Bembo, denen dieses künstlerische Ergänzen in besonderem Maße gelungen ist, die also der Sprache durch ihr Wirken auctoritas verliehen haben, erlangen durch ihr Handeln und mit ihren Werken fama. Diese fama wiederum können prinzipiell alle erwerben, die sich am Wirken dieser Autoren orientieren, alle, die sich zunächst der Handlungsstrukturen und Errungenschaften dieser wirkungskräftigen Autoren vergewissern und dann ihr sprachkünstlerisches Schaffen an diesen ausrichten. Die Orientierung an den mit Ruhm, Ruf, Ansehen versehenen .autoritativen' Autoren erhöht die Chancen, selbst fama zu erlangen und zur Autorität zu werden. Und dies sollte in Bembos Augen das Anliegen eines jeden ernsthaft um Sprache und Literatur Bemühten sein. Bembos Plädoyer für eine allein an Petrarcas Ausformung des volgare orientierte italienische Dichtungssprache erfolgte im Kontext von Überlegungen und Diskussionen verschiedener Gelehrter über die Kodifizierung und Grammatikalisierung der italienischen Sprache im allgemeinen. Die Diskussionen darüber wurden seit dem Ende des 15. Jahrhunderts gefuhrt. Dabei hatte sich weitgehend ein Konsens darüber ausgebildet, daß es sprachlicher und literarischer Vorbilder bedürfe, an denen sich die im volgare Sprechenden und vor allem Schreibenden auszurichten hätten. Uneinigkeit bestand jedoch
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Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 83: „Questo medesimo [erg. was Cicero und Vergil für das Lateinische bewirkt haben] della nostra volgare messer Cino e Dante e il Petrarca e il Boccaccio e degli altri di lontano prevedendo, e con essa molte cose e nel verso e nella prosa componendo, le hanno tanta autoritä acquistata e dignitä, quanta ad essi e bastato per divenire famosi e illustri, non quanta per awentura si pud in sommo allei dare e accrescere scrivendo." Aristoteles: Politik 1337al; zu diesem Gedanken ferner 1254b27-34, 1255b3f„ 1256b2^, 127a30, 1295a25-31, 1332a40-42 und Aristoteles: Physik 199al5-17; zum größeren Zusammenhang vgl. Neumann: Art. Natura - Ars - Dialektik (Anm. 7), Sp. 143f. Der Kreis der an den Diskussionen beteiligten Personen läßt sich anhand von zwei Textzeugnissen rekonstruieren: Es ist zum einen ein Brief von Pietro Bembo (vom 1. April 1512), in dem er einige Gelehrte um eine Stellungnahme zu den ersten beiden Büchern seiner „Prose" bittet; es sind Augurelli, Trifon Gabriele, Nicolö Tiepolo, Gian Francesco Valiero, Ramusio und Novagero. Zum anderen handelt es sich um eine Passage im „Castellano" des Gian Giorgio Trissino, in dem einige Gelehrte aufgezählt werden, die sich mit Sprachregeln befaßt haben: Giovan Aurelio da Rimini, Pietro Bembo, Trifon Gabriele, Giovanfrancesco Fortunio, Nicolö Delfino, Girolamo Fracastoro und Giulio Camillo; dazu Giovan Giorgio Trissino: Scritti linguistici, hg. von Alberto Castelvecchi, Rom 1986, S. 54f.; Antonio Daniele: II Petrarca del Bembo, in: Silvia Morgana / Mario Piotti / Massimo Prada (Hg.): 'Prose della volgar lingua' di Pietro Bembo, Mailand 2000, S. 157179, hier S. 157f.
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darüber, an wie vielen und welchen Autoren diese Orientierung erfolgen sollte. 59
So hatte Vincenzo Colli, genannt Calmeta, in seiner vermutlich Anfang des 16. Jahrhunderts verfaßten Abhandlung über die Frage Quale stile tra' volgare poeti sia da imitare verschiedene Vorbild-Autoren vorgeschlagen. Für diejenigen, die beabsichtigten, in der „muttersprachlichen Ausdrucksweise" Fortschritte zu machen, empfahl er so z.B. Boccaccio, weil man sich durch ihn „eine Sprache und Ausdrucksweise" erwerben könne, die „etwas leichter und schmucker" sei als die, die man im häuslichen Umkreis erwerbe. Und für das Schreiben von Liedern empfahl er als Vorbilder den Morgante und ähnliche Ritterepen. Eine spezielle Zielgruppe stellen fur ihn sodann diejenigen dar, die sich in der Sprache in höherem Maße ausbilden wollen. Ihnen legt er mit einer Differenzierung hinsichtlich des Dichterischen Petrarca und Dante ans Herz, weil sich Petrarca in Sonetten und Kanzonen und Dante in der Terzinendichtung ausgezeichnet haben. Aufgrund dessen ist die imitatio bei ihm nicht nur sektorial nach gesprochener und geschriebener Sprache unterschieden, sondern in der poetischen Schriftsprache abermals in verschiedene dichterische Genera aufgeteilt. Ein allgemeingültiges Modell für die imitatio kennt er nicht. Auch Mario Equicola beruft sich in der Begründung der von ihm verwendeten Sprachform des volgare in seinem Libro de natura de Amore auf keinen speziellen volkssprachlichen Musterautor. Er orientiert sich vielmehr gleichermaßen an der gesprochenen und geschriebenen Sprache und lehnt im Hinblick auf letztere eine Orientierung am Toskanischen und an seinen großen Autoren entschieden ab. Ihm geht es um eine „Sprache des Hofes", die er an der Kurie in Rom gewissermaßen in einem lexikalischen Panregionalismus realisiert sieht. Eine imitatio toskanischer Musterautoren lehnt er dagegen strikt ab. Das nachmals berühmte Dreigestirn Dante, Boccaccio und Petrarca findet sich in dieser Konstellation als Musterautoren erst bei Giovan Francesco Fortunio. Fortunio hat 1516 seine Regole grammaticali della volgar lingua
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Vgl. dazu zusammenfassend Bruno Migliorini: Storia della lingua italiana, 2 Bde., Florenz 1988, Bd. 1, S. 281ff; in sprachphilosophischer Kontextualisierung: Karl Otto Apel: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, 3. Aufl.,. Bonn 1980, S. 20Iff. Der Name, den sich Colli als Humanistenname gewählt hat, stammt von einer Figur im Filocolo Boccaccios. Vincenzo Calmeta: Prose e lettere edite e inedite (con due appendici di altri inediti), hg. von Cecil Grayson, Bologna 1959; Calmetas Werk Deila vulgar poesia ist verlorengegangen; vgl. dazu Migliorini: Storia (Anm. 58), Bd. 1, S. 312. Vgl. Calmeta: Prose e lettere (Anm. 60), S. 20: „si adatta la lingua ad un parlare un poco piü blando e ornato che Ί materno non insegna". Vgl. Calmeta: Prose e lettere (Anm. 60), S. 21. Vgl. Laura Ricci: La redazione manoscritta del Libro de natura de Amore di Mario Equicola, Rom 1999.
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vorgelegt, die an der Sprache der sogenannten „tre corone" ausgerichtet sind. Fortunio geht dabei von der (nach heutigen Erkenntnissen nicht ganz korrekten) Ansicht aus, daß die lateinischen Grammatiker ihre Sprachregeln aus den großen Autoren der Antike zusammengestellt hatten und dies nun auch fur das volgare zu leisten sei. Fortunio sieht dabei keine großen Unterschiede in der Sprache der drei ausgewählten Autoren und empfiehlt dementsprechend auch, wenn es um den dichterischen Ausdruck geht, Petrarca und Dante gleichermaßen als Vorbilder. In diese Richtung weist nicht zuletzt auch Niccolö Liburnio, der in seinen Vulgari elegantie und in seiner Schrift Le tre fontane, in der er über grammatikalische und rhetorische Formen bei Dante, Boccaccio und Petrarca handelt, keine Option zugunsten einer der drei für ihn vorbildhaften Autoren formuliert. Pietro Bembo stellt seinen Sprach-Dialog Prose della volgar lingua, bewußt mitten in diese Auseinandersetzungen hinein: Er hat die Schrift zwar schon 1515 begonnen, aber erst 1525 veröffentlicht; und dennoch hat er sie in das Jahr 1512 datiert, und zwar in der Absicht, die Priorität seiner Arbeit gegenüber den Regole Fortunios herauszustellen. Entgegen den anderen Autoren, die sich mit der Normierung und Grammatikalisierung der italienischen Volkssprache befaßt hatten, optiert er in Kohärenz mit seinen Ansichten hinsichtlich der imitatio im Lateinischen für die imitatio eines einzigen Vorbildautors jeweils in Prosa und Dichtung des Italienischen. Wie in seinen Augen im Lateinischen
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Vgl. die jüngste Edition: Giovan Francesco Fortunio: Regole gramaticali della volgar lingua, hg. von Brian Richardson, Rom / Padua 2001 (Scrittori italiani commentati, 6). Vgl. dazu als Überblick Johannes Kramer: Geschichte der lateinischen Sprache, in: Fritz Graf (Hg.): Einleitung in die lateinische Philologie, Stutgart / Leipzig 1997, S. 115-162, bes. S. 136ff. Vgl. Fortunio: Regole (Anm. 64), S. 3f. Vgl. Fortunio: Regole (Anm. 64), S 7. Vgl. Niccolö Liburnio: Le vulgari elegantie di Messer Nicoiao Liburnio. Venedig (Nelle Case d'Aldo Romano & d'Andrea Asolano suo suocero) 1521; sowie der Nachdruck: Nicoiao Liburnio: Le vulgari elegantie, hg. von Giovanni Presa, Mailand 1965, Buch ΙΠ (fol. 47v-64r), passim. Niccolö Liburnio: Le tre fontane di Messer Nicolo Libvrnio in tre libbri divise, sopra la grammatica, et eloquenza di Dante, Petrarcha, et Boccaccio, Venedig 1526. Dabei ist daraufhinzuweisen, daß die Verteidigung Dantes in Liburnios La spada di Dante rein moralphilosophisch ausgerichtet ist; Niccolö Liburnio: La spada di Dante Alighieri poeta fiorentino. Opera utile a fuggire il vizio, et seguitar virtü, Venedig 1534. Zur Datierung der Prose vgl. zusammenfassend Mirko Tavoni: Prose della volgar lingua di Pietro Bembo, in: Alberto Asor Rosa (Hg.): Letteratura italiana. Le opere, Bd. 1: Dalle Origini al Cinquecento, Turin 1992, S. 1065-1088, hier S. 1068f. Vgl. Dionisottis Anm. 1 in Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 73. Vgl. dazu Giorgio Santangelo (Hg.): Le epistole De imitatione di G. F. Pico della Mirandola e di P. Bembo, Florenz 1954, S. 56; zum größeren Zusammenhang Giorgio Santangelo: II Bembo e il principio di imitazione, Firenze 1950, vor allem aber die äußerst sorgfältige und bisher unbeachtet gebliebenen Zusammenhänge erhellende Analyse bei Jörg Robert: Norm, Kritik, Autorität. Der Briefwechsel De imitatione zwischen Giovanfrancesco Pico della Mirandola und Pietro Bembo und der Nachahmungsdiskurs in der Frühen Neuzeit, in: Daphnis 30 (2001), S. 597-644.
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Cicero und Vergil zu imitieren waren, so waren im Italienischen nun Petrarca und Boccaccio nachzuahmen, wobei Bembo in seiner Sprachkonzeption - wie bereits erwähnt - nicht eine Unüberwindbarkeit dieser Modelle festgeschrieben hat, sondern von der Perfektionierbarkeit ihrer Sprachformen ausgeht.75 Dadurch - und besonders durch das noch genauer zu erörternde Konzept der varietä - legt Bembo die Grundlagen für die formale Autorisierung Petrarcas. Bembo stützt sich dabei auf seine intensive Textarbeit mit den Handschriften der Dichtungen Dantes und Petrarcas, die er im Rahmen der Vorbereitung der von ihm besorgten Editionen geleistet hatte. Und er konnte auf seine Erfahrung als Dichter zurückgreifen, in der sich bei ihm schon schnell eine Bevorzugung des petrarkischen Vorbilds herauskristallisiert hatte.
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Vgl. Santangelo (Hg.): Le epistole (Anm. 73), S. 56; Daniele: II Petrarca (Anm. 57), S. 164; femer immer noch informativ: Eduard Norden: Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v.Chr. bis in die Zeit der Renaissance, 2 Bde., 9. Aufl., Darmstadt 1983, Bd. 2, S. 773ff. Vgl. zum Zusammenhang die Arbeit von Kablitz: Warum Petrarca? (Anm. 42) und die Erörterungen in Neumann: Autorität, Klassizität, Kanon (Anm. 3). Die Originale und Abschriften von Petrarcas volkssprachlichen Werken haben die gelehrten grammatici und späteren Philologen seit dem späten 15. Jahrhundert beschäftigt. Vgl. dazu die Arbeit von Corrado Bologna: Tradizione testuale e fortuna dei classici italiani, in: Alberto Asor Rosa (Hg.): Letteratura italiana, Bd. 6: Testo, musica, tradizione dei classici, Turin 1986, S. 445-928, bes. S. 616f. Zu Petrarcas Manuskripten ferner die Untersuchung von von Ruth S. Phelps: The Earlier Forms of Petrarch's 'Canzoniere', Chicago 1925 und die fundamentale Arbeit von Ernest Hatch Wilkins: The Making of the 'Canzoniere' and other Petrarchan Studies, Rom 1951, v.a. S. 146ff., darauf aufbauend Ugo Dotti: Vita di Petrarca, Rom / Bari 1987, S. 107ff., S. 343ff., S. 420ff., Roberto Antonelli: Rerum vulgarium fragmenta di Francesco Petrarca, in: Asor Rosa: Letteratura italiana. Le opere, Bd. 1 (Anm. 71), S. 379-471, S. 388 ff., Marco Santagata: I frammenti dell'anima. Storia e racconto nel Canzoniere di Petrarca, Bologna 1993, S. 105ff.; auch Bertolo Martinelli: L'ordinamento morale del Canzoniere del Petrarca, in: Studi petrarcheschi 8 (1976), S. 93-167, sowie zusammenfassend in der Einleitung zu den Rerum vulgarium fragmenta der von Santagata besorgten Ausgabe; Francesco Petrarca: Canzoniere. Edizione commentata a cura di Marco Santagata, Mailand 1996. Zentrale Bedeutung kommt dabei abermals Pietro Bembo zu, der 1501 und 1514 in Venedig bei Aldus Manutius Ausgaben der Cose volgari del Petrarca, also des Canzoniere und der Trionfi herausgebracht hat, die vorgeblich auf Autografen Petrarcas basierten; Le cose volgari di Messer Francesco Petrarcha, Venedig 1501 und II Petrarcha, Venedig 1514. Bei genauerer Prüfung zeigt sich allerdings, daß die Ausgaben zwar Petrarcas Texte wiedergeben, aber einige redaktionelle Eingriffe in die Sprachgestalt aufweisen, die auf Bembo zurückgehen. Auf jeden Fall aber sind die so genannten Aldine als wichtige Komponenten im Rahmen der Strategien zu sehen, die Bembo im Hinblick auf die Etablierung Petrarcas als Autorität für die Normierung der italienischen Dichtungssprache verfolgte. Vgl. zu der Frage der von Bembo verwendeten Manuskripte Rinaldo Fulin: Documenti per servire alia storia della tipografia veneziana, in: Archivio Veneto 23 (1882), S. 84-212, bes. S. 146; nach heutigem Kenntnisstand handelte es sich bei dem von Bembo verwendeten Dante-Manuskript (Biblioteca Vaticana, cod. Vat.lat. 3199) nicht um eine Originalhandschrift Dantes.
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Bembo bevorzugt Petrarca, weil er gegenüber Dante weniger Provenzialismen aufweist und in seiner Sprache homogener ist. Es kommt Bembo dabei ausdrücklich auf die fixierte, geschriebene Sprache an, wie er überhaupt sein Sprachmodell als ein Modell der Schriftsprache versteht. Die dafür notwendige, aller Zeitgebundenheit und letztlich aller Zeitlichkeit enthobene und auf Dauer anerkannt hohe Qualität der sprachlichen Form sieht er in der Dichtung allein bei Petrarca verwirklicht, der für ihn „alle Anmut, alle Reize (grazie) der volkssprachlichen Dichtung" vereinigt, wohingegen Boccaccio seiner Meinung nach „allein für die Prosa geboren" ist. Das ist auch der Grund dafür, warum Bembo dann im zweiten Buch seiner Prose eine minutiöse Analyse der dichterischen Parameter Petrarcas vornimmt - eine Analyse, wie sie vor ihm niemand geleistet hat und mit der er die Grundlage für alle weiteren formalen Auseinandersetzungen mit Petrarcas Dichtung schafft. Die argumentative Basis von Bembos Untersuchung bildet der aus der antiken Rhetorik vertraute Kriterienkatalog für die Gestaltung und die Beurteilung von nach Maßgabe der Rhetorik verfaßten Reden und Schriften. Die Kriterien beziehen sich in Bembos Worten auf „Stoff und Gegenstand" und die „Form oder Erscheinung", wobei es bei letzterem besonders auf die „Wahl" und die Anordnung der Worte ankommt. Bembos Aufmerksamkeit gilt dann vor allem dieser Wahl und Anordnung der Worte, die nicht nur in Kohärenz mit den drei Stilhöhen, sondern auch mit der behandelten Materie stehen muß. Und unter „Anordnung" (disposizione) faßt er nicht nur die Stellung der Worte in einem Satz, sondern auch ihre Flektionsmodi und ihre phonetischen Veränderungen.
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Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 94ff; zu Dante und Petrarca speziell S. 98ff., ferner S. 102. Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 118: „la lingua delle scritture [...] non dee a quella del popolo accostarsi, se non in quanto, accostandovisi, non perde gravitä, non perde grandezza; che altramente ella discostare se ne dee e dilungare quanto le basta a mantenersi in vago e in gentile stato. II che aviene per ciö che appunto non debbono gli scrittori por cura di piacere alle genti solamente che sono in vita quando essi scrivono [...], ma a quelle ancora, e per aventura molto piü, che sono a vivere dopo loro." Zu Petrarcas Dichtung und ihrem gegenüber der alltäglich gebrauchten Volkssprache schreibt Bembo (S. 119): „Credete voi che se il Petrarca avesse le sue canzoni con la favella composte de' suoi popolani, che eile cosl vaghe, cosl belle fossero come sono, cosl care, cosi gentili? Male credete, se ciö credete." Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 130: „tutte le grazie della volgar poesia". Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 131: „[...] II qual Boccaccio, come che in verso altresi molte cose componesse, nondimeno assai apertamente si conosce che egli solamente nacque alle prose." Vgl. die Kapitel II. 4-8; Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 135-145; zur Anwendbarkeit der Kriterien auf die Dichtung im volgare vgl. S. 135f. Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), Kap. II. 7 u. 8, S. 140ff. Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 142ff.
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In diesem komplexen System von Regeln ist für Bembo allerdings nichts wichtiger als das Vermeiden jeder „Sättigung" (sazietä), jeden Überdrusses.84 Es geht ihm darum, daß man die Worte richtig miteinander in Beziehimg setzt und sich so gut es geht darum bemüht, „immer die reinsten, die klarsten, die hellsten, die schönsten und angenehmsten Worte" auszuwählen und in die Wortkompositionen einzufügen, was eine intensive Textarbeit erfordert. Diese Arbeit am Text, den labor limae, hat Bembo selbst an den handschriftlichen Aufzeichnungen Petrarcas, im sogenannten Codice degli Abbozzi, verfolgen können, einer Art Skizzenbuch Petrarcas, in dem einige Gedichte in verschiedenen Fassungen und mit Spuren der Überarbeitung notiert sind. Diese einzigartige Quelle gab Bembo die Möglichkeit, in singulärer Weise Petrarcas Feilen an seinen Gedichten zur Darstellung zu bringen: zu zeigen, wie Petrarca etwa im ersten Gedicht des Canzoniere, im berühmten Voi 87
ch'ascoltate, in der Wortwahl die Wiederholung vermeidet, wie er zur Steigerung der Ausdrucksintensität die Worte im Vers in spezifischer Weise setzt, wie er den Klang der einzelnen Silben variiert und Apokopen einsetzt.88 „Geringschätzen" und „Vermeiden des Überdrusses" bedeutet für Bembo das Bemühen um Abwandlung (variazione). Nur durch sie ist es seiner Meinung nach möglich, jene Verbindung von Gewichtigkeit und Gefälligkeit zu erlangen, die Petrarcas Gedichte in einzigartiger Weise auszeichnet. Zwar bezieht 90 Bembo auch hier seine Kriterien aus Quintilians Institutio oratoria und 91
Ciceros De oratore, aber er unterlegt der Abwandlung eine persönliche Deutung, wenn er in Bezug auf sie von Petrarcas sprachlicher Meisterschaft sagt: Wie umsichtig Petrarca darin war, die Abwandlung in einen Vers einzubringen, kann man eher erspüren als hinreichend in Worte fassen. Er hat aus einem einzigen Gegenstand und einem einzigen Stoff so viele Kanzonen komponiert, sie einmal in dieser, einmal in einer anderen Art gereimt, einmal ganze, ein andermal gekürzte, einmal nah beieinander stehende, ein andermal weit von einander entfernte Reime verwendet und sich tausend anderer Abwandlungen bedient; er hat so viel getan und sich so viel darum bemüht, auf daß nicht nur kein Überdruß aufkomme, sondern es wirklich keinen Teil gibt, der in einem nicht den 92 Wunsch und das Begehren weckte, weiter zu lesen.
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Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 137 u. 169. Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 137: „le piu pure, le piü monde, le piü chiare sempre, le piü belle e piü grate voci." Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 139ff.; die Seite des Codice degli Abbozzi mit Voi ch 'ascoltate ist nicht erhalten, sie muß Bembo aber vorgelegen haben. Zu den Zusammenhängen der Zerstreuung von Petrarcas Manuskripten vgl. Bologna: Tradizione testuale (Anm. 76), S. 634ff. Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 140. Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 140. Zur varietä/variazione vgl. Bembo: Prose (Anm. 52), S. 169-172. Vgl. Quintilian: Institutio oratoria 9.4,43. Zum „fastidium" in der Rhetorik vgl. Cicero: De oratore 3.25 (100). Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 171: „[...] della varietä che puö entrar nel verso, quanta ne sia stato diligente il Petrarca, estimare piü tosto si puö, che isprimere bastevolmente; il quale d'un solo suggetto e materia tante canzoni componendo, ora con
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Wie hier deutlich wird, ist die „varieta" keine dekorative Äußerlichkeit, sondern fester Bestandteil des Schreibens, mithin ein Grundkriterium, das auch Klang (suono) und Metrum (numero) der Dichtung betrifft. Da der Klang (suono), die Kombination von Wohlklang (concento) und Harmonie (armonia), in den Gedichten nicht wie in der Prosa allein durch den Tonwert der Silben und Worte, sondern auch durch die Reime erlangt wird, überprüft Bembo die Buchstaben auf ihre ästhetischen und phonosymbolischen Werte und weist - immer verdeutlicht an Petrarcas Gedichten Kategorisierungen und Sub-Kategorisierungen von Reimen und Reimschemata in der volkssprachlichen Dichtung auf. Darüber hinaus versucht er wie auch einige seiner Zeitgenossen, die lateinischen Kategorien der Prosodie auf das Italienische zu übertragen, wobei er tonische Vokale mit Längen, atonische mit Kürzen gleichsetzt. Und schließlich deutet er auch die aus der antiken Rhetorik 94
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bekannten Konzepte decorum und persuasio als Konstituentien des Stils: Der decorο gibt in diesem Sinne die Grenzen hinsichtlich der positiven Eigenschaften (virtü) und der Fehler (vizi) der formalen Gestaltung eines Sprachkunstwerks vor, und die persuasione bemißt ,jene verborgene Eigenschaft, die jedem Wort innewohnt und andere dazu bringt, darauf aufmerksam zu werden, was sie lesen". Wie nun Bembo all dies in seinen Prose in einem Kommentar zusammenbringt, kann eine Textpassage verdeutlichen: Damit ihr besser versteht, was ich sage, [so ein Gesprächspartner Bembos in seinen Prose\ machen wir es an einem Beispiel deutlich. Petrarca hätte den ersten Vers des Gedichts [des Canzoniere] wie folgt formulieren können: ,Voi ch'in rime ascoltate'. Aber er bedachte, daß das Wort ,ascoltate' aufgrund der großen Zahl seiner Konsonanten und auch angesichts der Qualität der Vokale und der Zahl der Silben ein sehr hoher und klarer Ausdruck ist, wohingegen ,rime' aus gegenteiligen Gründen einen niederen und wenig hervortretenden Ausdruck darstellt. Man sieht also: Wenn er ,Voi ch'in rime...' geschrieben hätte, hätte der Vers eine zu große Neigung gehabt und ein Gefalle aufgewiesen; dadurch, daß er aber ,Voi ch'ascoltate...' geschrieben hat, hat er ihm sofort eine Aufwärtsbewegung gegeben, was dem Vers mehr Würdigkeit verliehen hat. Darüber hinaus hat er ,rime', weil es ein schwaches und schnell verklingendes Wort ist, zwischen die beiden Worte .ascoltate' und .sparse' gesetzt, die beide voll und gewichtig sind und gewissermaßen die gleiche Natur aufweisen. Und das hat dann auch den Effekt, daß diese Worte, wenn er sie spricht und rezitiert, geordneter einhergehen, eben: ,Voi ch'ascoltate in rime sparse'. Und die Vokale
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una maniera di rimarle, ora con altra, e versi ora inten e quando rotti, e rime quando vicine e quando lontane, e in mille altri modi di varietä, tanto fece e tanto adoperö, che, non che sazietä ne nasca, ma egli non έ in tutte loro parte alcuna, la quale con disio e con aviditä di leggere ancora piü oltra non ci lasci." Vgl. dagegen Auetor ad Herennium 4.11; Quintilian: Institutio oratoria 9.4,43. Vgl. Auetor ad Herennium 4.10. Bei Quintilian (Institutio oratoria 12.10,59) ist das persuadere in die drei Grade des docere, delectare und movere unterteilt. Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 173. Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 173: „quella occulta virtü che, in ogni voce dimorando, commuove altrui ad assentire acciö che egli legge"; zu decoro und persuasione bei Bembo vgl. auch Dionisottis Anm. 1 auf derselben Seite.
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wechseln angenehmer und leichter ab als in der anderen Form. [...] Petrarca hätte auch jenen anderen Vers desselben Gedichts so formulieren können: ,Fra la vana speranza e'l van dolore.' Da aber die Reihe des Vokals ,A' dem ganzen Anmut nahm, und die Abwechslung mit einem dazwischengeschobenen ,E' dem Vers diese Anmut wieder verlieh, hat er die Einzahl in die Mehrzahl verwandelt und daraus ,Fra le vane speranze...' gemacht. Und er hat recht daran getan, denn wenn auch inhaltlich der Unterschied gering sein mag, so ist doch, wenn man es recht bedenkt, der Unterschied im Hinblick auf die Anmut des Verses nicht gering zu veranschlagen. [...] Das Kürzen, Hinzufügen oder Austauschen von Wortteilen betrifft das folgende: .Quand'era in parte altr'uom da quel ch'i sono'; und auch das: ,Ma ben veggi' or, si come al popol tutto | favola fui gran tempo...' ,Uomo' und ,ροροΐο' waren die vollständigen Worte, von denen er jeweils den letzten Vokal wegnahm; wenn er sie nicht weggenommen hätte, dann wären es einigermaßen kraftlose und matte Worte gewesen, Worte, die jetzt dagegen anmutig und gefällig sind.' 8
Hält man sich diese Kommentierungsweise vor Augen, so erweist sich das zweite Buch von Bembos Prose als ein großangelegter Versuch, zum einen den Wert des dichterischen Schreibens im volgare als äquivalent zum Schreiben im Lateinischen zu erweisen und zum anderen Petrarca in diesem Rahmen als vollendeten Dichter und maßgebenden Meister in der Beherrschung und Entwicklung der Volkssprache herauszustellen. Nur so ist es Bembo dann auch möglich, Petrarca fur das volgare in die Position einzusetzen, die im Lateinischen allein Vergil zugestanden worden war und ihn so mit dem Signum der Klassizität zu versehen.
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Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), S. 142ff.: „accio meglio quello che io dico vi si faccia chiaro, ragioniamo per atto d'essempio cosi. Potea il Petrarca dire in questo modo il primo verso della canzone [...]: Voi ch'in rime ascoltate. Ma considerando egli che questa voce Ascoltate, per la moltitudine delle consonanti che vi sono e ancora per la qualitä delle vocali e numero delle sillabe, e voce molto alta e apparente, dove Rime, per Ii contrari rispetti, έ voce dimessa e poco dimostrantesi, vide che se egli diceva Voi ch 'in rime, il verso troppo lungamente stava chinato e cadente, dove, dicendo Voi ch 'ascoltate, egli subitamente lo inalzava, il che gli accresceva dignitä. Oltra che Rime, perciö che έ voce leggiera e snella, posta tra queste due, Ascoltate e Sparse, che sono amendue piene e gravi, έ quasi dell'una e dell'altra temperamento. Ε aviene ancora che in tutte queste voci dette e recitate cosi, Voi ch 'ascoltate in rime sparse, et esse piü ordinatamente ne vanno, e fanno oltre acciö le vocali piü dolce varietä e piü soave che in quel modo. [...] Poteva eziandio il Petrarca, quell'altro verso della medesima canzone dire cosi: Fra la vana speranza e Ί van dolore. Ma perciö che la continuazione della vocale A toglieva grazia, e la variazione della Ε trapostavi la riponeva, mutö il numero del meno in quello del piü, e fecene Fra le vane speranze; e fece bene, che quantunque il mutamento sia poco, non έ perciö poca la differenza della vaghezza, chi vi pensa e considera sottilmente. [...] togliendo alle voci alcuna loro parte, ο aggiugnendo ο pure tramutando come che sia, cade quest'altro: Quand'era in parte altr'uom da quel ch'i sono; e quest'altro: Ma ben veggi' or come al popol tutto | favola fui gran tempo. Erano Uomo e Popolo le intere voci, dalle quali egli levö la vocale loro ultima; la quale se egli levata non avesse, eile sarebbono state voci alquanto languide e cascanti, che ora sono leggiadrette e gentili."
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II. Die „Autorisierung der Form" in den Kommentaren zu Petrarcas Canzoniere im 16. Jahrhundert Pietro Bembo hat mit seinen Prose und mit der von ihm besorgten Ausgabe von Petrarcas italienischen Dichtungen die Grundlagen zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Petrarcas Lyrik gelegt. Auf ihnen sollten viele Gelehrte des 16. Jahrhunderts aufbauten. Sie erschlossen Petrarcas Canzoniere in seiner ganzen Vielschichtigkeit. Und sie bemühten sich darum, Petrarcas dichterische Verfahrensweisen offenzulegen - sei es im Hinblick auf die in ihm angesprochenen Themenkompexe (concetti), hinsichtlich Petrarcas hochrhetorisierter Raffinesse oder - und dies ganz besonders - seiner sprachlich-formalen Meisterschaft. Deutlichster Ausdruck der von Bembos Prose wesentlich beförderten Hinwendung zu Petrarca und seinem Canzoniere sind die kommentierten Ausgaben des Lyrikbuchs. Die Kommentare sind dabei als vielschichtige Gebilde zu begreifen, die im Zentrum eines Netzes gelehrter Petrarca-Diskurse stehen und so auf vielfaltige Weise zur Autorisierung Petrarcas beigetragen haben. In ihnen werden verschiedene Diskursmuster von Grammatik oder Philologie über Rhetorik und Poetologie, Moral- und Naturphilosophie bis hin zu Mythographie und Biographik aufgerufen. Die zentrale Rolle spielt dabei allerdings von Anfang an - wenn auch bei den einzelnen Kommentatoren in unterschiedlicher Gewichtung - die formale Autorisierung Petrarcas: die Beschäftigung mit seiner Sprache und mit seinem Dichtungsverfahren und seine daran stets aufs neue aufgezeigte unübertroffene Perfektion. Dabei geht es immer auch um eine Stellungnahme zur Argumentation Bembos. Das wird schon im ersten und erfolgreichsten Kommentar des 16. Jahrhunderts zum Canzoniere deutlich, den Alessandro Vellutello 1525
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Zu den von ihm besorgten Ausgaben der „Cose volgari del Petrarca" s.o. Anm. 76. Neben ihrer Beziehung zur provenzalischen Dichtung wurde vor allem ihre Verwurzelung in der italienischen Lyriktradition besonders des Dolce stil novo und der lateinischen Antike herausgearbeitet. Dabei wurde trotz der Kopräsenz von Liebeslyik, von religiösen und politischen Gedichten sowie von thematisch vielfältiger Korrespondenzlyrik der Liebesthematik zentrale Bedeutung beigemessen, und die Gedichtsammlung wurde infoge dessen besonders in ihrem daraus resultierenden antinomisch-paradoxalen Zuschnitt analysiert. So konnten eine ganze Reihe von Themenkomplexen herausgearbeitet werden, die in der komplexen Schmerzliebe des lyrischen Protagonisten angelegt sind: Das Durchleben sämtlicher Liebeswinen von der Freude, die Herrin zu sehen, bis zum Leiden, weil sie unerreichbar ist; das Schwanken des Geliebten zwischen Hoffen und Verzweiflung, zwischen Glück und Unglück. Davon ausgehend konnte dann die ganze hochrhetorisierte Raffinesse von Petrarcas Schreiben transparent gemacht werden: der kalkulierte Aufbau der Gedichte, das Spiel mit Antithesen und Oxymora, mit Parallelismen und Chiasmen und vieles mehr. Einige dieser in den Kommentaren wirksamen Diskursmuster finden sich herausgearbeitet in den Beiträgen des Sammelbands Regn: Questo leggidrissimo poeta (Anm. 3).
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veröffentlicht hat. Der Kommentar ist aus einer direkten Auseinandersetzung Vellutellos mit der von Bembo 1514 besorgten Ausgabe des Canzoniere hervorgegangen und ist Ausdruck eines generellen Mißtrauens von Vellutello gegenüber dem philologischen und editorischen Verfahren des großen venezianischen Gelehrten. Aufgrund mißverständlicher und sich widersprechender Formulierungen auf dem Titel der von Bembo besorgten Ausgabe der Cose volgari del Petrarca und in deren Nachwort war nicht eindeutig, ob Bembo Manuskripte Petrarcas vorgelegen hatten und wie er diese benutzt 104
hatte. Vellutello gegenüber hatte Bembo eingestanden, daß er die Textausgabe nicht aus Originalmanuskripten Petrarcas angelegt hatte, sondern vielmehr eine von ihm selbst besorgte Version des Canzoniere die Grundlage darstellte. Dies hatte nun Vellutello zum Anlaß genommen, neben dem Wortbestand auch die Anordnung der Gedichte einer allgemeinen und gründlichen Revision zu unterziehen und die thematisch heterogenen Gedichte durch eine Neuzusammenstellung in eine Ordnung zu bringen, die die Entwicklungsgeschichte einer Liebe, einen ,romanzo di Laura' ergab. In der Ausgabe von 1528 sollte er sich dann allerdings auch selbst darum bemühen, in die Sprachgestalt des Canzoniere im Sinne Bembos einzugreifen - Petrarca mit einem „Petrarca piü fiorentino" zu korrigieren - und ihn so zu einem Autor
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Vgl. II Petrarca con l'esposizione d'Alessandro Vellutello, Venedig 1525 mit den beiden späteren Überarbeitungen Vellutellos von 1528 und 1550. Vellutellos Kommentar war der erfolgreichste der Kommentare des Cinquecento zum Petrarca volgare. Vgl. dazu besonders Belloni: Laura (Anm. 46), S. 58-88, hier speziell S. 61ff. Vgl. Belloni: Laura (Anm. 46), S. 61ff. Auf dem Titelblatt wurde nicht der Begriff „correggere" verwendet, was besagt hätte, daß der Text nach Maßgabe der Manuskripte korrigiert worden war, sondern das Wort „racconoscere", das ein Terminus technicus der Drucktechniker für „Korrigieren der Druckfahnen" ist; im Nachwort war wiederum davon die Rede, daß Bembo die Originalmanuskripte Petrarcas vorgelegen hätten. In der jüngeren Forschung ist überhaupt in Frage gestellt worden, ob das Nachwort von Aldus stammt oder nicht doch von Pietro Bembo verfaßt wurde; Sprache und Sprachformen sind jedenfalls bembesk (S. 46 ff.). Vgl. dazu Vellutello: Trattato de l'ordine de' sonetti et canzoni del Petrarca mutato, in der Editio princeps von 1525 (Anm. 102), fol. AA6v ff.; in späteren Ausgaben von Vellutellos Kommentar fehlt der Traktat; er ist jetzt abgedruckt in Belloni: Laura (Anm. 46) S. 89-93 [im folgenden: Trattato d'ordine]; dort S. 89f. zur Frage der Petrarca-Originalmanuskripte. Das dominante Thema des Canzoniere ist bekanntermaßen die Liebe des lyrischen Protagonisten zu seiner Dame (Laura). Daneben finden sich aber zahlreiche Gedichte, die mit diesem Thema nicht im Zusammenhang stehen, etwa politische oder kirchenkritische Poeme. Zudem hat Petrarca, wie man heute weiß, die Gedichte in einer wohlkalkulierten Unordnung zusammengestellt, die Vellutello zu „korrigieren" versuchte. Vgl. auch Anm. 100. Vgl. Vellutello: Trattato d'ordine (Anm. 105), S. 89ff. Vellutello schreibt dort (S. 89), daß er „un altro volume, forse non minore di quello dal quale il comento e contenuto" schreiben könnte, um die Neuanordnung der Gedichte zu begründen, daß er dies aber auf keinen Fall tun wolle. Vgl. Belloni: Laura (Anm. 46), S. 82.
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einer mustergültigen fiorentinitä zu machen, der er sich auch selbst in der 109
Sprachgestalt seines Kommentars anschloß. Ganz auf Bembos Linie befindet sich dagegen der Kommentar von Giovanni Andrea Gesualdo, der 1533 veröffentlicht wurde. Auch wenn heute nicht mehr zu klären ist, ob Bembo das Manuskript des Kommentars zur Erteilung der Druckerlaubnis in Venedig wirklich durchgesehen hat - er hätte von seiner sprach- und literaturtheoretischen Warte aus keinerlei Einwände vorbringen können: Nicht nur schließt sich Gesualdo in seiner Ausgabe der Anordnung der Gedichte des Canzortiere in Bembos Ausgaben von 1501 und 1514 an, sondern er unterfuttert in seinem Kommentar zudem Bembos Ausführungen in den Prose mit weiteren detaillierten sprachlichen, rhetorischen und metrischen Analysen. Und er geht im Hinblick auf Petrarcas Sprachform sogar noch weiter als Bembo in seinen Prose: Er erkennt den Nutzen von Petrarcas Dichtung in den „süßen und lieben Früchten des anmutigen sprachlichen Ausdrucks", und zwar nicht nur für die Dichtung: Man kann ferner erkennen, wie viel Sorgfalt er auf die Wahl, die Anordnung und Zusammenstellung der Worte verwandt hat und darauf, sie mit der Abwechslung aller Farbnuancen, die die antiken Autoren in ihren Sprachbildern in Anschlag gebracht haben, mit aller erdenklichen Anmut zu versehen. Damit hat er unter Beweis gestellt, daß man sich in der toskanischen Sprache nicht weniger als in der griechischen oder lateinischen gut und angemessen ausdrücken kann - etwas, was anderen bisher unmöglich erschien. Deshalb gilt er bei uns so viel wie bei den Griechen Homer und bei den Lateinern Vergil. Wenn sich aber jemand von dieser [von ihm bestimmten] Regel des sprachlichen Ausdrucks, die für alle jene gilt, die sich in unserer Sprache ausdrücken wollen, befreien und losmachen will, dann steht er nicht in Ansehen, so sehr er sich auch mit all seinem sprachlichen Urteilsvermögen darum bemüht und so gut er auch sprechen und schreiben mag. Mehr noch: Er kann sich nicht ohne Tadel einer anderen Ausdrucksweise bedienen. Deshalb müssen nicht nur die Dichter ihn nachahmen, sondern auch die Prosaschriftsteller können sich frei an ihm ausrichten - nicht allein was die Redeteile, die Ausdrucksweise und die Redefiguren betrifft, die in seinen Wortkompositionen gewissermaßen den Sternen am Himmel gleichen, sondern auch, was die Worte anbelangt.11
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Vgl. Belloni: Laura (Anm. 46), S. 82. Vgl. Gesualdo: II Petrarcha (Anm. 2). Vgl. Belloni: Laura (Anm. 46), S. 194, mit Anm. 13. Zum Überborden des rhetorischen Kommentars vgl. Belloni: Laura (Anm. 46), S. 209; zur hervorragenden Qualität des Metrikkommentars von Gesualdo S. 213ff. Vgl. Gesualdo: II Petrarcha (Anm. 2), Abschnitt „L'vtilitate", fol. [19]v (meine Paginierung): „dolci e cari frutti de parlar leggiadro". Vgl. Gesualdo: II Petrarcha (Anm. 2), fol. [19]v (meine Paginierung): „Tanto poi si uede hauer riguardato nella elettione, e ne l'ordine, e ne la compositione de le parole, & in adomarle d'ogni leggiadria colla varieta di tutti colori, i quali nella pittura del parlare gli antichi usarono, che dimostra nella Thoscana lingua non men, che nella Greca, e nella Romana quel, che ä glialtri per addierto pareua impossibile, bene & acconciamente potersi dire. Ne pur uale tra noi, quanta apo i Greci Homero, e tra Latini Virgilio; Ma d'una certa norma del dire ä coloro, che uogliono scriuere nel nostro Idioma, che s'alcuno έ, che sciolto e libero da quelle sue leggi, per quanta il suo giudicio gliene detta, si forzi di comporre, anchor che dica, ο scriua assai bene, non pero e in pregio: anzi non puo senza biasmo tenere altro Stile, onde non pur lo debbono i rimatori imitare, ma i prosatori anchora
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Weil Petrarca, wie hier deutlich wird, alle von Bembo aufgestellten sprachlichen und sprachkünstlerischen Kriterien erfüllt und die italienische Sprache als der griechischen und lateinischen ebenbürtig erwiesen hat und folglich nachzuahmen ist, stellt Gesualdo seinen Lesern sein Wissen zur Verfügung, um diese absolut gebotene imitatio vollziehen zu können. Das Ziel, die Gedichte Petrarcas nicht nur zu erläutern, sondern darüber hinaus den Lesern Hilfsmittel für die imitatio Petrarcas an die Hand zu geben, hat sich auch Bernardino Daniello mit seinem Kommentar gesteckt. Er greift dabei auf eine einzigartige Quelle zurück. Wie er im Widmungsschreiben seines 1541 erstmals veröffentlichten Canzoniere-Kommentars herausstreicht, bedient er sich eines singulären Textkorpus. Es sind dies viele Dinge, die bislang von den anderen Auslegern übergangen wurden (auch wenn sie mit ihren Arbeiten nicht wenig Licht in diesen Dichter gebracht haben, der viele Jahre lang in größter Dunkelheit gefangen war) und die sowohl die Aussagen, die Kunstfertigkeit und die unterschiedlichen Formen der Ausdrucksweise betreffen. Mit den verschiedenen Lesarten vieler Stellen, die den Manuskripten Petrarcas entnommen sind, können die Gelehrten mit gesundem Urteil seinen Schriften nicht nur sein umsichtiges Vorgehen entnehmen; sie können auch ersehen, wie sie in ihren eigenen Dichtungen besser und vollendeter wer, 1 1 5 den.
Daniello zieht also jenes Konvolut von Petrarca-Autographen heran, das schon Bembo für seine Prose benutzt hatte. So wie Bembo im Zusammenhang mit dem Sonett Voi ch 'ascoltate verfahren war, so konnte nun Daniello zum Nutzen seiner an einer imitatio Petrarcae interessierten Leserschaft den gesamten Canzoniere mit Erläuterungen zum Aufbau der Gedichte, zu ihrer Kompositionsweise im Hinblick auf Lautgestalt und Reimstruktur versehen, er konnte ursprüngliche Varianten anführen und Petrarcas Option für die schließlich von ihm bevorzugten Endversionen der Gedichte plausibel machen. Wie viele der angeführten Varianten tatsächlich von Petrarca selbst 118 stammten, war den damaligen Lesern allerdings nicht klar. Es genügt jedoch,
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possono liberamente pigliame non solamente tutte le parti del parlare, & i modi, e le figure, che nelle sue compositioni sono quasi stelle al cielo comparte, ma le parole." Vgl. Daniello da Lucca: Sonetti (Anm. 2), fol. Iijr: „molte cose per l'addietro da glialtri Spositori pretermesse, (quantunque essi con le loro habbino non poco di lume dato ä questo Poeta, stato molt'anni in oscure, e folte tenebre sepolto), cosi intorno ä sensi, come all'arte, e modi del dire; senza le diuerse lettioni di molti luoghi tratte da gli scritti di man propria del Petrarcha, nelle quali con l'occhio sano del giuditio mirando, potranno gli studiosi delle cose sue, non solamente l'acutezza di quello di lui chiaramente discrenere; ma come essi anchora possino il loro, nelle loro compositioni migliore, e piu perfetto hauere appareranno." Zu Daniello vgl. die Ausführungen bei Raimondi: Bernardino Daniello (Anm. 45), und ergänzend dazu Belloni: Laura (Anm. 46), S. 226-283. Vgl. Belloni: Laura (Anm. 46), S. 233f. Vgl. Bembo: Prose della volgar lingua (Anm. 52), Buch II, Kap. 9-19, S. 137ff.; auch bei Daniello geht es um die Wahl und Anordnung der Worte, die harmonische Gestaltung von Wortgruppen, den überlegten Einsatz von Stilfiguren, die Reimtechnik, den Klangwert der Vokale und Konsonanten. Es ist nicht zu klären, ob Daniello alle Varianten, die er anfuhrt, wirklich aus PetrarcaAutographen bezogen hat. Er erwähnt nur an einer Stelle in seinem Kommentar, daß er die
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daß den Rezipienten des Kommentars der Eindruck vermittelt wurde, mithilfe dieser Erläuterungen unmittelbar von jenem vorbildhaften Dichter lernen zu können, der - wie Daniello im Widmungsbrief hervorgehoben hat - alle anderen Dichter, die lateinischen wie die italienischen, „geschlagen und besiegt hinter sich gelassen hat". Daniello bietet so in seinem Kommentar in diskursiver Vermittlung ausdrücklich ein Hilfsmittel für die Nachahmung Petrarcas, also für jene auf Petrarcas volkssprachliche Lyrik bezogene imitatio, die schließlich als „Petrarkismus" bezeichnet werden sollte. Die von Daniello im Hinblick auf eine Petrarca-/7M/'taft'o bediente Leserschaft konnte auch schon auf andere Werke zurückgreifen, mit denen zumindest das Reimen und das Bilden von Epitheta im Stile Petrarcas zu erlernen war. Das erste schematische Hilfsmittel für petrarkisches Reimen hatte der Mantuaner Pellegrino Morato vorgelegt. Er hat 1528 ein Reimlexikon (rimario) mit „allen Kadenzen von Dante und Petrarca" herausgebracht. In ihm hat er gemäß dem Verständnis des Reims als vollkommenem Gleichklang von Versenden vom 122
letzten betonten Vokal an keine Reimwörter, sondern nur die Kadenzen aus Dantes und Petrarcas volkssprachlichen Werken in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet, wobei er diesen jeweils die auf sie reimenden Kadenzen beigegeben hat. Entsprechend der paroxytonen rima piana als italienischem Normalreim
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Autographen benutzt habe, die auch Bembo zur Verfugung standen: Im Rahmen seines Kommentars zu Non fur mai Giove (RVF 155) schreibt er (fol. 107v): „Ma non mi par che sia da tacere quello che negli scritti di man propria di questo poeta che sono appresso il mio reverendissimo Mon. Bembo ho veduto." Dieser Passus fehlt in der Ausgabe Daniello 1549 an der entsprechenden Stelle. Zum Problemkomplex vgl. Belloni: Laura (Anm. 46), S. 236ff. Vgl. Daniello da Lucca: Sonetti (Anm. 2), fol iijr: „lasciasse ä dietro correndo abbattuto, e uinto." Zum Petrarkismus vgl. die Überblicke von Gerhard Regn: Art. „Petrarkismus", in: Gerd Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 911-921 und Thomas Borgstedt: Petrarkismus, in: Reiner Speck / Florian Neumann (Hg.): Francesco Pretrarca 1304—1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Biblioteca Petrarchesca, Köln 2004, S. 127-151. Die Erstausgabe von 1528 war mir nicht zugänglich; die folgenden Angaben beziehen sich auf die Ausgabe Moratos von 1546: Pellegrino Morato: Rimario de tutte Ie cadentie di Dante, e Petrarca, raccolte per Pellegrino Moreto Mantouano. Nuouamente con la gionta ristampato, Venedig 1546. Der Rimario von Morato war sehr erfolgreich; eine Bibliographie der Ausgaben fehlt; weitere Ausgaben gab es z.B. in Venedig 1533 und 1550. Vgl. zu Morato (auch: Moreto, Moretto) Ornella Olivieri: I primi rimari italiani, in: Lingua nostra 3 (1941), S. 97-102, hier S. 97; Brian Richardson: Fulvio Pellegrino Morato and Fortunio's Regole grammaticali della volgar lingua, in: Gino Bedani u.a. (Hg.): Sguardi sulPItalia. Miscellanea dedicata a Francesco Villari, Leeds 1997 (Society for Italian Studies. Occasional Papers, 3), S. 43-54. Vgl. dazu Wilhelm Theodor Elwert: Italienische Metrik. 2., vom Verfasser durchgesehene und erweiterte Auflage, Wiesbaden 1984, S. 79. Vgl. Elwert: Italienische Metrik (Anm. 122), S. 81.
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umfassen die Kadenzen je zwei Silben, zumindest aber zwei Vokale. Darüber hinaus sind den reimenden Kadenzen jeweils Stellenangaben beigegeben, anhand derer der interessierte Leser die entsprechenden Reime in den Werken Dantes oder Petrarcas auffinden konnte. Das gleiche Verfahren hat auch Giovanni Maria Lanfranco angewandt, der 1531 126 ein Rimario nuovo di tutte le concordanze del Petrarca herausgebracht hat. Der erste Kommentator, der ein solches Reimlexikon als Beigabe zu seinem Kommentar 127 bot, war Sebastiane Fausto da Longiano, der seinen Petrarcha 1532 vorlegte. Er war bemüht, mit seiner Kommentierung über den seinerzeit maßgebenden Kommentar von Alessandro Vellutello hinauszudringen und seiner eigenen Arbeit Gewicht zu verleihen. Sebastiano Fausto hat dies in zweifacher Hinsicht erreicht: Zum einen dadurch, daß er das integrale, also auch lateinische, Werk Petrarcas fur die Kommentierung heranzog, und zum anderen dadurch, daß er Beigaben zu seinem Kommentar machte. So hat er im Anschluß an die dem Kommentar paratextuell beigegebenen Viten von Petrarca und Laura einen Brief von Benvenuto da Imola an Francesco Petrarca 129 abgedruckt und fünf Sonette und zwei Kanzonen wiedergegeben, die Petrarca nicht unter die Rerum vulgarium fragmenta aufgenommen hatte. Und er hat
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Die Kadenzen sind wie folgt angeordnet: Abbia, abbo, ace, aci, aco, accia, acia, acio, accio usw. bis utto, urpa, urse, urchi, usto (mit stimmlosem 's'), ustra, usto (mit stimmhaftem 's'); vgl. dazu Morato: Rimario (Anm. 121), fol. 3r-27v. Die Stellenangaben bezüglich der Gedichte Petrarcas sind dabei etwas unglücklich geraten, da sie sich auf eine nicht genannte Ausgabe in Oktavformat beziehen, und deren Seitenangaben wiedergeben; vgl. Morato: Rimario (Anm. 121), fol. A2r: „[...] appresso Dante citando Ii capitoli, appresso Petrarcha Ii folgi, & perche il maggior numero delli contesti del Petrarcha e in ottauo foglio, ho signato Ii numeri spora quelli egli e uero che seruira sopra ogni altro Codice di che stampa si sia non ui essendo mai piu differenza che di due carticelle." Giovanni Maria Lanfranco: Rimario nuovo di tutte le concordanze del Petrarca, Brescia 1531; zu dem Werk sehr kursorisch: Olivieri: I primi rimari italiani (Anm. 121), S. 97f. Vgl. Sebastiano Fausto da Longiano: II Petrarca col commento di M. Sebastiano Fausto da Longiano, con rimario et epiteti in ordine d'alphabeto. Nuovamente stampato, Venedig 1532; zu dem Werk vgl. Belloni: Laura (Anm. 46), S. 120ff. Die Vita del Poeta vgl. Fausto da Longiano: II Petrarca (Anm. 127), fol. [2]r-[3]v; dort auch die Vita di Laura fol. [4]r/v. Vgl. Fausto da Longiano: II Petrarca (Anm. 127), fol. [4]v-[5]r; die Authentiziät dieses Briefs ist umstritten; vgl. dazu Maria Luisa Uberti: Sul frammento di epistola presunto apocrifo di Benvenuto da Imola a Petrarca, in: Studi sul Boccaccio 9 (1979), S. 383-402 mit der Forschungsliteratur zu dem Problemkreis; vgl. auch Belloni: Laura (Anm. 46), S. 134f. Vgl. Fausto da Longiano: II Petrarca (Anm. 127), fol. 131r-132r; es handelt sich nach der Ausgabe der von Solerti besorgten Ausgabe der Rime disperse um die Sonette Nr. 85, 148, 22, 130, 51, um die Kanzone 127 und die Ballata 11; vor den Sonetten hat Fausto (fol. 129v-131r) Sonetti de diversi, scritti al P. a cui rispose abdrucken lassen, mit Angaben dazu, mit welchen Sonetten Petrarca auf diese Sonette antwortete. Vgl. Angelo Solerti: Rime disperse di Francesco Petrarca ο a lui attribuite per la prima volta raccolte a cura di Angelo Solerti. Edizione postuma con prefazione, introduzione e bibliografia, Firenze 1909.
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das besagte Reimlexikon131 und eine Liste von Epitheta Petrarcas in alphabeti132 scher Reihenfolge zusammengestellt und den Sonetten und Kanzonen Petrarcas vorausgeschickt. Bei dem beigefügten Rimario remissive del Petrarcha listet er wie Morato die Kadenzen auf, gibt zu ihnen aber nicht wie dieser die auf sie reimenden Kadenzen an, sondern verweist in Zahlensiglen auf die Gedichte, in denen die entsprechenden Reime vorkommen. Sein Reimlexikon ist also direkt an seine Ausgabe von Petrarcas Dichtungen gekoppelt und fuhrt den Leser unmittelbar an die als vorbildhaft markierten Gedichte heran. Für Sebastiano Faustos Verzeichnis der Epiteti del Petrarca gab es auch ein Vorbild, wenn es auch nicht speziell auf Petrarca bezogen war: Die Vulgari elegantie des Niccolö Liburnio. Liburnio hatte in seinem Werk erklärt, was ein Epitheton ist und an Beispielen deutlich gemacht, wie diese adjektivischen Beifügungen einzusetzen sind. In gleicher Weise verfuhr nun Sebastiano Fausto im Hinblick auf die Epitheta Petrarcas. Wo Liburnio zum Beispiel zu „Amore" die Epitheta „placido, lasciuo, aureo, a^ro, cieco, iniquo, fallace, duro, blando, crudele, misero, tenero" anführte, bot Fausto nun folgende Beifügungen aus Petrarcas volkssprachlichen Dichtungen auf: „legittimo, lecito, degno, pauentoso, bellissimo, honesta, cieco, inerme, vile, casta, barbarico, tenace, forte, fauoloso, vano, viuace, crudele, prauo, crudo, pio, pronto, subbito, forte." Fausto verzichtet dabei auf Verweise hinsichtlich der Stellen in Petrarcas Gedichten, in denen diese Epitheta zum Einsatz kommen. Überhaupt setzt er bei seinen Lesern stillschweigend voraus, daß sie wissen, was mit einer solchen Liste anzufangen ist: daß sie sich für ihr eigenes Dichten mm Kombinationen zusammenstellen und sich damit petrarkischem Dichten nähern können. Ein erheblich elaborierteres Hilfsmittel zur Petrarca-imitatio hat Lodovico Dolce im Anhang zu der von ihm besorgten und kommentierten Ausgabe des
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Vgl. Fausto da Longiano: II Petrarca (Anm. 127), fol. [5]v-[10]v. Vgl. Fausto da Longiano: II Petrarca (Anm. 127), fol. [1 l]r-[21]v. Vgl. Fausto da Longiano: II Petrarca (Anm. 127), fol. [5]v-[10]v. Ein Beispiel: Morato: Rimario (Anm. 121), gibt (fol. 4r) zu '-agge' folgende Reimworte mit Stellenangaben an: „sagge. 49. piagge. 17.46.90. seluagge. 17.46. sotragge. 46.90. tragge"; bei Fausto da Longiano: II Petrarca (Anm. 127), fol. [5]v findet man zu 'agge' folgende Eintragung: „28.191.248.270. C.21", wobei die ersten Zahlen auf die bei Fausto durchnumerierten Sonette verweisen (RVF 35, 226, 288 u. 310) und „C.21" auf die nach seiner Ausgabe 21. Kanzone (Mai non vo' piu cantar, RVF 105). Vgl. Liburnio: Le vulgari elegantie (Anm. 58). Vgl. Liburnio: Le vulgari elegantie (Anm. 58), Buch III., bes. fol. 51r-62v. In der Inhaltszusammenfassung des dritten Buchs (ebd., fol. 4v) heißt es zum Argumentationsziel: „Che cosa sia Epitheto con dimostratione d'alcune comparationi conueneuoli al componitore di uerso. Sono ultimamente certe utili similitudini piü alia prosa che alla rima confaceuoli: ma non senza di lettori piacere, & ornamento nel componere." Vgl. Liburnio: Le vulgari elegantie (Anm. 58), fol. 5 lv. Vgl. Fausto da Longiano: II Petrarca (Anm. 127), fol. [ll]r; die beiden letzten Epitheta (subito, forte) sind dabei nach „lo & la amante" nachgetragen.
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Petrarca volgare vorgelegt, die erstmals 1547 veröffentlicht wurde. Dolce hat Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta in sprachlicher, thematischer und reimtechnischer Hinsicht minutiös analysiert und die Ergebnisse dieser Arbeit, soweit es ihm möglich war,1 1 in acht Verzeichnisse einfließen lassen.142 Dolce ist es dabei nicht mehr nur um eine sprachliche Nachahmung zu tun, sondern auch um eine inhaltliche, also integrale Orientierung an Petrarca. Allem voran liefert er dafür ein Verzeichnis der von Petrarca behandelten Themenbereiche (concetti), von denen er 115 in alphabetischer Reihenfolge auflistet. So führt er zum Beispiel Themenkomplexe an, die mit der in den Gedichten lustvoll ausgekosteten Schmerzliebe in Zusammenhang stehen (allegrezza, amore, conforto, disperatione, felicitä, invidia, miseria, odio, speranza, tristezza), die Geliebte betreffen (bellezza, dolcezza, guanto, mano, occhi, viso) oder für die Verhaltensweisen des lyrischen Protagonisten kennzeichnend sind (escusatione, lamenti, sospiri, vergogna). Dabei verweist Dolce jeweils mit Seitenzahl und Versbeginn auf die Stellen, an denen das entsprechende concetto direkt benannt oder aber umschrieben wird. Wie Gabriel Giolito den Tabellen vorausgeschickt hat, ist dabei allerdings keineswegs von einer Vollständigkeit des concetti- Verzeichnisses auszugehen. Diese thematische Aufschlüsselung des Canzoniere ist zentraler Bestandteil von Dolces Vorhaben einer umfassenden Erschließung des Lyrikbuchs. Den Schwerpunkt des Sprach-Komplexes bildet dabei eine umfangreiche „Tabelle aller von Petrarca benutzer Worte mit ihrer Erklärung". Auch sie ist nur unvollständig, denn sie enthält weder „alle Worte", noch sind sämtliche 13
' Dolce: II Petrarcha (Anm. 2), von mir benutzt in der Ausgabe von 1560: II Petrarca. Nuovamente revisto, et ricorretto da M. Lodovico Dolce. Con alcvni dottissimi auertimenti di M. Giulio Camillo, & indici di esso Dolce utilissimi di tutti i concetti, & delle parole, che nel Poeta si trouano. Ε di piu con una breue, e particolare Spositione del medesimo Dolce, di tutte le Rime di esso Poeta, Venedig 1560. 140 Dolce war nach dem Studium in Padua zeitlebens für das Venezianer Verlagshaus Giolito als Editor tätig. 141 Gabriel Giolito weist im Supplement zu Dolce (1560; mit neu einsetzender Paginierung, fol. 2v) darauf hin, daß Dolce die Verzeichnisse nicht hat vollenden können: „Et ancora, che per le sue molte occupationi lo istesso non le habbia potute condurre a quella pienezza, che egli & io desideravamo; Nondimeno, serviranno eile per la maggior parte al bisogno di ciascuno: promettendoui nelle altre impressioni di supplire peraventura in questo e in altro a quanta si ricerca." 142 Die Verzeichnisse im einzelnen: Capi, sotto i quali per ordine di lettere sono compresi tutti i concetti, che nelle Rime del Petrarca si contengono; Dolce: II Petrarca (Anm. 139), fol. llv-18v; fol. 19r-20r: Comparationi e similitudini; fol. 20v-27r: Contrari metafore, overo traslati; fol. 27v-28r: Rendere a una ο piu voci il suo proprio, ο per contrariety ο altrimenti; fol. 28v-39r: Tavola di molte belle et affigurate forme di dire, usate dal Petrarca; Epitetti, fol. 39v-59v: altrimente aggiunti, tratti dall'istesse rime del Petrarca; fol. 60r-90r: Tavola di tutte le voci usate dal Petrarca: con la sposition loro; fol. 90v-132v: Rimario. 143 Nur als Beispiel sei erwähnt, daß unter „solitudine" das berühmteste Gedicht zu diesem Thema, das Sonett „Solo et pensoso" (RVF 35), nicht verzeichnet ist. 144 Vgl. Dolce: II Petrarca (Anm. 139), fol. 60: „Tavola di tutte le voci usate dal Petrarca con la sposizion loro".
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aufgeführten Worte mit einer Erklärung versehen. Die im Titel der Tabelle formulierte Absicht Dolces weist jedoch auf etwas sehr Wesentliches hin: Dolce hatte offensichtlich vor, ein vollständiges Petrarca-Vokabular und damit letztlich ein Wortverzeichnis für die italienische Volkssprache anhand der Schriften Petrarcas zusammenzustellen. In ein solches Projekt ließen sich auch die weiteren Verzeichnisse ohne weiteres integrieren: die Listen mit „Vergleichen" und „ähnlichen Ausdrücken", mit „Gegensätzen" und „Metaphern", mit Amplifizierungsmodi für verschiedene Ausdrücke, mit „Redewendungen" und schließlich auch mit Listen von Epitheta und Reimworten, wie sie den Petrarca-Kennern in ähnlicher Weise schon von Morato, Lanfranco und Fausto da Longiano vertraut waren. Der Verleger Gabriel Giolito hebt dabei ausdrücklich hervor, daß es Dolce bei diesen Zusammenstellungen darum ging, den „klugen und fleißigen jungen Leuten" den Weg zu ebnen, „es in den volkssprachlichen Dingen zu jeder nur denkbaren Perfektion zu bringen". Mit anderen Worten: Es ging ihm um das Bereitstellen von Material zum Zwecke der exercitatio, die ganz im Sinne Quintilians als praktische Handhabung der ars mit dem Ziel der firma facilitas verstanden wurde, bei der die imitatio eine zentrale Rolle spielt. Wie Quintilian in der Institutio oratoria gelehrt hatte, konnte die exercitatio unterschiedlich realisiert werden, und zwar scribendo, legendo und dicendo. Für die Dichtung war dabei nur ein Teil der Übungs-Modi einschlägig.149 Für sie nun hat Dolce seine Listen, Tabellen und Verzeichnisse zusammengestellt.
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Vgl. Dolce: II Petrarca (Anm. 139), fol. 60ff.; um einen Eindruck von den unterschiedlichen Eintragungen zu geben: Die tavola beginnt mit folgenden Einträgen: „Abbaglia, offosca il uedere a car[ta], 93; Abbagliato, offiiscato dal lume & dallo splendore 248; abargalia, lo istesso, che abbaglia, car. 97; abbassare 53; abbandona 66.216;" usw. Interessant bei Albia der Eintrag: „fiume, che passa per la Germania, illustre per la presa, che fece Carlo Q[uinto] del Duca di Sassonia. car. 195." Die Eintragung erläutert also nicht das Verständnis, das Petrarca von dem Fluß haben konnte, sondern bietet den Zeitgenossen Dolces Orientierung. Manche Erklärungen erscheinen wiederum überflüssig: „bilancia, stromento da pesare 228"; „candido, bianco 205"; „cenno con doppio n, dinota quel mouimento dell'occhio, ο della mano, con che si fa segno altrui, che se uenga 190"; die umfangreichste Eintragung des Verzeichnisses ist folgende: „Parca, Parche, sono tre dee fatali, lequali rappresentano il principio, il mezzo, & il termine della uita humana, delle quali la prima e detta Cloto, che porta la conocchia, onde si trahe il filo, l'altra e detta Lachesis, che trahe il filo nel suo fuso. la terza e detta Atropos, che rompe il filo con la uita 241". Während hier also der mythologische Hintergrund erklärt wird, verzichtet Dolce bei Ariadne z.B. vollständig auf eine Erklärung: „Arianna, nome di donna". Die überwiegende Zahl der aufgeführten Worte ist nicht erklärt. Vgl. Dolce: II Petrarca (Anm. 139), fol. 2v: „da poter ascendere ad ogni perfettione nelle Volgari cose". Zur exercitatio vgl. Quintilian: Institutio oratoria 2.17,5; 10.1,1: Zur Relevanz der exercitatio gegenüber der doctrina vgl. 5.10,119-125 und im Vergleich zur natura 2.17,5; 12.10,40-44. Vgl. Quintilian: Institutio oratoria 10.5,1. Es entfallen einzelne Teile der exercitatio, die auf Prosatexte ausgerichtet sind: die ProsaParaphrasen sowohl von Prosatexten als auch von Dichtung; ferner einige spezifische formae tractandi und auch fast vollständig die exercitatio dicendo.
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Die schriftlichen Übungen zur Erlangung der εξις (oder: firma quaedam facilitas) beziehen sich nach Quintilian sowohl auf Wortschatzübungen (verba singula) als auch auf das Abfassen von Texten (verba coniuncta). Was die verba singula betrifft, geht es um die Einübung der steten Verfügbarkeit des Wortschatzes, wobei besonders Synonyme und Tropen zur Bezeichnung der behandelten res wichtig sind. Bezüglich der Synonyme und Tropen mit ihren Bedeutungs-, Wert- und Wohlklangdifferenzen macht Dolce seine Verzeichnisse der comparationi e similitudini, der contrari, metafore overo traslati, der Amplifizierungsmodi und der affigurate forme di dire auf. Mit ihnen stellt er über das Verzeichnis „sämtlicher" von Petrarca verwendeter Worte hinaus ein Reservoir von Worten für die electio verborum zur Verfugung, das allen von Quintilian formulierten Ansprüchen entspricht: Dolces Listen dienen dem inneren aptum eines an Petrarcas Dichtung orientierten Textes und damit zum einen dem Wechsel des Ausdrucks bei mehrfacher Nennung einer res-, sie ermöglichen ferner die Lockerung der Gleichheit hinsichtlich des Wortkörperganzen (synonymia), die durch disiunctio, also den Einsatz der verborum differentia synonymer Prädikate durch Zuordnung zu den entsprechenden Substantiven zur Geltung gebracht werden kann; sie liefern Material für das incrementum als graduell aufsteigende sprachliche Bezeichnung eines zu amplifizierenden Gegenstandes und für die interpretatio, also die Synonymität ganzer Kola. Mit den Listen und Verzeichnissen ist zugleich das Material für die Übungen in den verba coniuncta bereitgestellt, bei denen die exercitatio die imitatio mit einschließt. Die imitatio wird dabei als abwandelnde Wiedergabe einer literarischen Vorlage verstanden. Im Falle der Poesie umfaßt sie sowohl die poetische Paraphrase eines poetischen Mustertextes, als auch die Übung in den modi tractandi, also die Variation der Behandlungsarten des gleichen Inhalts.151 Im Hinblick auf die Paraphrase ist das Ziel idealiter nicht die reine Übersetzung (imitatio) der Vorlage, sondern ein in aktiver Detailarbeit in Konkurrenz mit dem Autor der Vorlage erfolgendes Bemühen, es ihm gleichzutun (aemulatio). Die Änderungsmöglichkeiten, denen der Mustertext bei der Paraphrase unterworfen werden kann, sind dabei durch die vier Änderungskategorien von Texten vorgegeben: die adiectio, die detractio, die transmutatio und die immutatio. Sie schlagen sich in Form von Figuren und Tropen nieder, die sich bei Dolce zum Teil in den Listen der comparationi et similitudini, der contrari und metafore sowie dem Verzeichnis der molte et affigurate forme di dire usate dal Petrarca aufgelistet finden und denjenigen, die bei der exercitatio zur Orientierung dienen können.
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Zu den verba singula vgl. Quintilian: Institutio oratoria 10.1,6 ff.; zu den verba coniuncta 10.5,1-23. Vgl. Quintilian: Institutio oratoria 10.5,8. Vgl. Quintilian: Institutio oratoria 10.5,8. Vgl. Quintilian: Institutio oratoria 1.5,38.
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Geht es bei der exercitatio in der Paraphrase um den Sprach- und Formgebrauch, so betreffen die Übungen in den modi tractandi das certamen in stofflicher Hinsicht. Grundlage der exercitatio ist hier die Vorstellung, daß die gleiche res immer wieder aufs Neue in stets verschiedene Worte gefaßt werden kann, wofür Petrarca, wie Bembo mit seinem Hinweis auf die „Abwandlung" (varietä) deutlich gemacht hatte, im Canzoniere ein hervorragendes Beispiel geliefert hat. Daher boten sich Petrarcas lyrische Dichtungen in idealer Weise nicht nur als stofflicher Vorwurf für Übungen in den modi tractandi an, sondern gaben selbst schon Beispiele für die varietas ab. Zum Erschließen dieses Fundus und zur Weiterarbeit mit ihm konnte eben jenes Verzeichnis dienen, in dem Dolce all jene concetti zusammengestellt hatte, „die in den Reimen Petrarcas enthalten sind". Es ist nicht bekannt, was Lodovico Dolce mit seinen Verzeichnissen und Listen ursprünglich intendiert hatte, und vor allem, ob er größere Ziele mit ihnen verfolgte, als daraus ein auf viele Tabellen verteiltes Hilfsmittel für die Petrarca-wwtoft'o im Anhang zu seiner Ausgabe des Petrarca zusammenzustellen. Vermutungen können jedoch angestellt werden, denn Dolces Verfügbarmachen der genannten Mittel zum Zwecke der exercitatio weist eine enge Verbindung zu einem Diskurs auf, der sich eben zu jener Zeit herauszubilden begann, als er an seinem Projekt arbeitete: der Diskurs der lateinischen und volkssprachlichen humanistischen Lexikographie. Die Lexikographie, die in den romanischsprachigen Ländern im 157
16. Jahrhundert einsetzt, war aus den gleichen sprachdidaktischen Absichten heraus entstanden, wie sie Dolce bestimmten: Die Lexika sollten Unterricht und Lehre dienen, indem sie dem humanistischen Bildungsideal einer an Cicero und Quintilian orientierten Verbindung von eloquentia und sapientia 58 dadurch sekundierten, daß sie sowohl ein umfassendes Benennungswissen bezüglich der Welt und der in ihr vorkommenden Dinge als auch ein spezifisches Namenwissen über Personen, Figuren und Topographien aus der antiken Geschichte und Mythologie zur Verfügung stellten. In diesem didaktischen Rahmen war es das ausdrückliche Ziel der Lexikologen, mit ihren Werken die Grundlagen für die Ausdrucksvielfalt (varietas) und für das sprachliche
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Vgl. Quintilian: Institutio oratoria 10.5,9. Vgl. Quintilian: Institutio oratoria 10.5,9. Vgl. Dolce: II Petrarca (Anm. 139), fol. llv-18v: Capi, sotto i quali per ordine di lettere sono compresi tutti i concetti, che nelle Rime del Petrarca si contengono. Vgl. Mechtild Bierbach: Grundzüge humanistischer Lexikographie in Frankreich. Ideengeschichtliche und rhetorische Rezeption der Antike als Didaktik, Tübingen 1997, S. 448f.; zum Hintergrund - allerdings nur sehr kursorisch - vgl. Martin Reisigl: Art. „Lexikographie: Neuzeit", in Gerd Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 215-236. Vgl. Cicero: Orator, 70; De inventione, 1.1; De oratore, 3, 142; Quintilian: Institutio oratoria, 8.pr.,13; 11.1,36. Vgl. Bierbach: Grundzüge (wie Anm. 157), Sp. 448f.
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Materialreservoire (copia verborum) bereitzustellen, aus dem der Redende oder Schreibende zweckkonditioniert auszuwählen hatte. In konsequenter Fortführung - und gewissermaßen als bildungssoziologische Transformation der imitatio-Oebatte - kam es in diesem Rahmen zur Veröffentlichung von Lexika, in denen das komplette Vokabular eines einzelnen oder mehrerer Autoren zusammengestellt war. Prominentestes Beispiel für die formale Autorität eines Autors sind dabei die diversen Thesauri Ciceroniani, die seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts gedruckt wurden und große Verbreitung fanden. Daß Ciceros Ausdrucksweise dabei auch fur das Schreiben von Briefen in den Volkssprachen als vorbildhaft angesehen wurde, machen die Zusammenstellungen von Locutioni Ciceros von Orazio Toscanella und Aldus Manutius dem Jüngeren deutlich. Auch für die Volkssprachen wurden nun vermehrt Lexika ausgearbeitet, die einzelne Autoritäten in den Mittelpunkt stellten. Im Falle des Italienischen waren dies im Anschluß an den grammatikalischen Diskurs die drei Florentiner Dante, Petrarca und Boccaccio. Eine Vorrangstellung kam in der Lexikographie zunächst Boccaccio zu, der von Bembo ausdrücklich als maßgeblicher Autor für die vulgärsprachliche Prosa empfohlen worden war; er konnte damit gegenüber dem für die Dichtungssprache kanonisierten Petrarca für eine größere Zielgruppe von Relevanz sein. Der gebürtige Ferrareser Francesco del Bailo,
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Zur copia verborum vgl. Quintilian: Institutio oratoria 10.1,5; zusammen mit der copia rerum ergibt sie das Ideal des copiose dicere (vgl. 2.2,24 u.ö.). In chronologischer Reihenfolge: Ambrosius Calepinus: F. Ambrosii Calepini [...] Dictionarium ex optimis quibusdamque authoribus studiose collectum et recentius acutum et recognitum, Paris 1514; Laurentius Corvinus: Hortulus elegantiarum magistri Laurentii Corvini partim ex Marci Tullii Ciceronis, partim ex suo germine consitus [...], Augsburg 1516; Hubertus Susannaeus: Dictionarium ciceronianum authore Huberto Susannaeo [...] Epigrammatum eijusdem libellus, Paris 1536; Hubertus Susannaeus: Connubium adverbiorum, id est elegans adverbiorum applicatio et mirificus usus ex omnibus Ciceronis operibus, Paris 1548; Marius Nizolius: M. Nizolii in Μ. T. Ciceronem observationes utilissimae. Omnia illius verba, universamque dictionem alphabet! ordine complectentes. Caelii Secundi Curionis opera non parva, vocum accessione locupletatae, Lyon 1552; Carolus Stephanus: Thesaurus M. Tullii Ciceronis, authore Carolo Stephano, Paris 1556; Marius Nizolius: Nizolius, sive Thesaurus ciceronianus omnia Μ. Τ. Ciceronis verba, omnemque loquendi atque eloquendi varietatem complexus, nunc iterum Caelii Secundi Curionis labore [...] quarta parte auctior [...], Basel 1559; Orazio Toscanella: Concetti e forme di Cicerone, del Boccaccio, del Bembo, delle lettere di diverse et d'altri, da M. Oratio Toscanella raccolti a beneficio di coloro che si dilettano di scrivere lettere dotte e leggiadre, Venedig 1560; Pedro Juan Nufiez: Epitheta Μ. Τ. Ciceronis collecta [...], Venedig 1571; Aldus Manutius: Locutioni dell'epistole di Cicerone, scielte da Aldo Manutio, utilissime al comporre nell'una e l'altra lingua, Venedig 1575. Toscanella: Concetti (wie Anm. 161). Manutius: Locutioni (wie Anm. 161). Vgl. zur Übersicht Bierbach: Grundzüge (Anm. 157) mit dem Schwerpunkt Frankreich; Reisigl: Art. „Lexikographie" (Anm. 157), sehr kursorisch mit dem Schwerpunkt Frankreich und Deutschland.
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der unter seinem Humanistennamen Francesco Alunno bekannt werden sollte,165 hat so trotz seines großen Interesses an der volkssprachlichen Lyrik Petrarcas sein 1543 erstmals veröffentlichtes lexikographisches Werk, die Ricchezze della lingua volgare, auf dem von Boccaccio verwendeten Vokabular aufgebaut. Erst im zweiten Teil des Lexikons, der als Ergänzung zu den Ricchezze ausgearbeiteten Fabrica del Mondo, sollte er auch Petrarca und Dante berücksichtigen. Normatives und selektives Aufnahmekriterium für die Sprachbeispiele war dabei die imitatio, die auch Dolce bei der Zusammenstellung seiner Listen im Blick gehabt hatte. Darüber hinaus wird bei Alunno beispielhaft die auch bei weiteren Lexikographen zu konstatierende Unschlüssigkeit sichtbar, wie mit dem gesammelten Material im einzelnen zu verfahren war. Dies zeigt sich vor allem in der über die bloße Enumeration und mit Textbeispielen belegte Verwendungsweise hinausgehende Erklärung der Worte. Sie tritt zunächst noch hinter der Vermittlung der proprietas, verstanden als „Benennungsrichtigkeit", „eigene Bedeutung" und „Grundbedeutung" zurück. Die metasprachliche semasiologische Bedeutungsbestimmung sollte erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit der Zunahme etymologischer und analogischer Bedeutungsexplikation in der lexikographischen Praxis der Humanisten in den Vordergrund rücken. Auch Dolces „Tabelle mit allen von Petrarca verwendeten Worten" macht diese Unschlüssigkeit im Umgang mit dem gesammelten petrarkischen Sprachschatz deutlich: Worterklärungen stehen hier in unterschiedlicher
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