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German Pages 406 Year 2000
PATRICK H Ö N I G
Der Kaschmirkonflikt und das Recht der Völker auf Selbstbestimmung
Schriften zum Völkerrecht Band 138
Der Kaschmirkonflikt und das Recht der Völker auf Selbstbestimmung
Von Patrick Hönig
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hönig, Patrick: Der Kaschmirkonflikt und das Recht der Völker auf Selbstbestimmung- / von Patrick Hönig. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum Völkerrecht ; Bd. 138) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-09982-6
Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-09982-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Meinen Eltern
„What is really at stake today in Jammu and Kashmir? What is it that the two Governments [of India and Pakistan] care about? What are they seeking to promote? It is not territorial aggrandizement; it is not the addition of population; it is not new sources of wealth for exploitation; it is not the false glory of victory by arms; it is not the old pernicious mirage of national prestige. Those are all discredited nineteenth century imperialistic ideas. The stake in Kashmir, what both Governments want, is the happiness, the peace and the prosperity of their people - Muslim and non-Muslim alike. They want their people to live, to worship and to be governed as they desire." Der britische Botschafter Philip Noel-Baker in der Sitzung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen am 24. Januar 1948 über die Indien-PakistanFrage
Vorwort Der Kaschmirkonflikt ist der Schlüssel zum Verständnis der Beziehungen zwischen Indien und Pakistan, die in den fünfzig Jahren ihrer Unabhängigkeit drei Kriege gegeneinander geführt, ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung umfangreichen Rüstungsprogrammen zum Opfer gebracht und Südasien an den Rand einer nuklearen Katastrophe gedrängt haben. Kaschmir illustriert das Trauma der Teilung des indischen Subkontinents, manifestiert die ideologischen Gräben zwischen den Nachbarstaaten und rührt letztlich an den wunden Punkt des Selbstverständnisses der jungen Nationen Indien und Pakistan. Gleichzeitig erinnern die reiche Geschichte Jammu und Kaschmirs, die Verschmelzung verschiedener Kulturen und Religionen zu einer eigenständigen Identität und die politische, wirtschaftliche und administrative Vernetzung mit den Erben der britischen Kronkolonie an die verschütteten Gemeinsamkeiten Indiens und Pakistans. Im Spannungsfeld von Nation und Volk, territorialer Integrität und Selbstbestimmung, Friedenswahrung und Gewaltverbot erweist sich die Suche nach einer Lösung des Kaschmirkonfliktes als Operation am offenen Herzen der völkerrechtlichen Werteordnung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Die Arbeit nimmt ihren Ausgang in einer Darstellung der Grundzüge des Kaschmirkonfliktes und seiner völkerrechtlichen Implikationen. Die Umstände der Beitrittserklärung des Maharajas von Kaschmir zugunsten Indiens werden geschildert und die Bedeutung der Ereignisse des Herbstes 1947 für den völkerrechtlichen Status des Fürstenstaates analysiert. Die Vermittlungsbemühungen der Vereinten Nationen werden referiert und auf ihre völkerrechtliche Bedeutung für die Lösung des Konfliktes abgeklopft. Die innenpolitischen Entwicklungen im indisch und pakistanisch besetzten Teil Kaschmirs werden ebenso wie die außenpolitischen Verwicklungen des Kaschmirkonfliktes aufgezeigt. Der zweite Teil der Untersuchung widmet sich der Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechtes auf den Kaschmirkonflikt in personaler und sachlicher Hinsicht. Die Frage der Rechtsträgerschaft des Selbstbestimmungsrechtes wird auf dem Hintergrund der historischen Besonderheiten, der politischen Realitäten und der Identitätsvermischungen in Jammu und Kaschmir beantwortet. Als materielle Anknüpfungspunkte des Selbstbestimmungsrechtes im Kaschmirkonflikt werden Okkupation bzw. Annexion, Kolonialismus und die Verletzung der Menschenrechte gewählt. Auch wenn nicht bestritten werden soll, daß in diese Unterscheidung ein Element der Willkür hineinspielt, läßt sich aus jeder dieser Alternativen ein eigener Kern herausschälen, der gegen die jeweils anderen klar abgrenzbar ist und in der Volkerrechtspraxis auch rechtlich eigenständig behandelt wird. Dem Selbstbestim-
10
Vorwort
mungsrecht liegt dabei das Verständnis eines Sammelbeckens korrelierender, amorpher Rechtsinstitute zugrunde, mit jeweils eigenem Rechtsgrund, Entwicklungshorizont und Geltungsanspruch. Der dritte Teil der Arbeit handelt von der Koordination des Selbstbestimmungsrechtes im Kaschmirkonflikt mit den Erfordernissen einer modernen Friedensordnung. Das Selbstbestimmungsrecht wird in Beziehung gesetzt zum Prinzip der territorialen Integrität, das nicht als antagonistischer Gegenpol, sondern völkerrechtliche Komplementärnorm entwickelt wird. Die territorialen Interessen Indiens und Pakistans werden auf ihre Schutzwürdigkeit untersucht und mit dem Selbstbestimmungsrecht abgewogen. Die Belange der regionalen Sicherheit, die völkerrechtliche Rechtfertigung bewaffneten Widerstandes und das Recht auf humanitäre Intervention werden diskutiert. Im Interesse der Herstellung praktischer Konkordanz sind dogmatische Gesichtspunkte vielfach zugunsten der empirischen Rechtspraxis in den Hintergrund getreten, allerdings nicht um den Preis der Aufgabe einer Konzeption des Völkerrechtes als einer in sich geschlossenen Werteordnung der internationalen Rechtsgemeinschaft. Im vierten Teil wird der völkerrechtliche Rahmen abgesteckt, in dem eine politische Konfliktlösung angestoßen werden kann. Die in der Praxis entwickelten Szenarien zur Beilegung des Streites um Kaschmir werden vorgestellt und einer völkerrechtlichen Prüfung unterzogen. Die Vorgaben des Selbstbestimmungsrechtes zur Wiederherstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse in Jammu und Kaschmir, zur Lösung des Flüchtlingsproblems und zur Einbeziehung der Bevölkerung in den Verhandlungsprozeß werden kenntlich gemacht. Zum Abschluß wird der Fragenkreis der Vorbereitung und Durchführung eines Plebiszites angeschnitten und ein Recht auf internationale Einmischung im Kaschmirkonflikt behauptet. Dank schulde ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Georg Brunner, für geduldige Begleitung, konstruktive Kritik und fürsorgliche Betreuung der Dissertation. Für die wache und zügige Zweitkorrektur danke ich Prof. Dr. Stephan Hobe. Danken möchte ich auch dem Brooklyn Architects Collective - Michele Bertomen, Gwendolyn Butler, Luis Diaz - und seinem Umfeld, insbesondere David Boyle, Sandro Dernini, Lucy Eichenwald und Heather Roslund, für emotionale und logistische Unterstützung. Der New York University School of Law, insbesondere Manina Flores, sowie der Columbia University School of Law, insbesondere Jody Armstrong und Bess Michaels, gebührt Dank für wertvolle Hilfe bei der wissenschaftlichen Durchführung meines Projektes. Ohne die zahlreichen klugen Köpfe und helfenden Hände in Indien, Pakistan und Kaschmir wäre die Arbeit nicht entstanden. Ihnen allen und besonders Tapan Bose und Parvez Imroz gilt mein herzlicher Dank. Köln, im April 2000
Patrick Hönig
Inhaltsverzeichnis Teil 1 Aufrlß des Kaschmirkonfliktes und seiner völkerrechtlichen Dimension
27
1. Kapitel Der völkerrechtliche Status Jammu und Kaschmirs I. Die Frage der staatlichen Unabhängigkeit des Fürstenstaates Jammu und Kaschmir
27 27
1. Von der Mogulherrschaft zur Dynastie der Dogra Rajputs
27
2. Der Indian Independence Act und die Unabhängigkeit Britisch-Indiens
28
3. Staatsqualität Jammu und Kaschmirs
30
II. Die völkerrechtliche Bedeutung der Beitrittserklärung des Maharajas
32
1. Politische Brisanz
32
2. Unterzeichnung der Beitrittsurkunde
33
3. Gültigkeit der Beitrittserklärung nach den Regeln über den völkerrechtlichen Vertragsschluß
35
a) Kollusion und Gewalt
35
b) Verlust der effektiven Herrschaftsgewalt
35
c) Völkermord an der Moslembevölkerung
37
d) Bedingte Annahme der Beitrittserklärung
38
e) Pakistan als Träger der auswärtigen Gewalt
38
4. Beitritt und Selbstbestimmungsrecht
39
a) Selbstbestimmung durch Beitritt
39
b) Beitritt vorbehaltlich Selbstbestimmung
40
c) Beitritt vor Verankerung des Selbstbestimmungsrechtes als Rechtsprinzip ...
42
III. Verpflichtung zur Abhaltung eines Plebiszites 1. Möglichkeit der Selbstbindung Indiens durch unilaterale Akte
44 44
12
Inhaltsverzeichnis 2. Die Behandlung der Parallelkonflikte in Hyderabad und Junagadh
45
3. Das Junktim von Beitritt und Plebiszit in der Kaschmirpolitik Indiens und Pakistans
47
2. Kapitel Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen I. Die Anrufung des VN-Sicherheitsrates durch Indien II. Die Resolutionen der VN-Kommission für Indien und Pakistan
49 49 52
1. Inhalt der UNCIP-Resolutionen vom 13. August 1948 und 5. Januar 1949
52
2. Rechtsqualität der UNCIP-Resolutionen
54
3. Verlust der Rechtswirksamkeit
56
a) Treuwidrigkeit Pakistans
56
b) Wegfall der Geschäftsgrundlage
57
c) Kriegerische Handlungen
58
III. Vermittlungsbemühungen der VN-Sondergesandten
59
1. McNaughton-Vorschläge
59
2. Die Dixon-Mission
60
a) Umfassendes Plebiszit
60
b) Teil-Plebiszit
61
c) Resolution 91 (1951)
62
d) Bewertung
63
3. Die Vermittlungstätigkeit Grahams
64
4. Die Jarring-Mission
67
IV. Versuche einer militärischen „Lösung" des Kaschmirkonfliktes
69
1. Der Krieg von 1965 und das Abkommen von Taschkent
69
2. Der Krieg von 1971 und das Abkommen von Simla
70
3. Kaschmir: Ein autonomer Regionalkonflikt
71
V. Bewertung
72
Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel Entwicklungen im indisch, pakistanisch und chinesisch besetzten Teil Jammu und Kaschmirs I. Gründung und Aufbau des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir
74 74
1. Ein- und Absetzung der Regierung unter Sheikh Abdullah und wachsender Einfluß Neu Delhis
74
2. Verabschiedung einer Verfassung des Bundesstaates Jammu und Kaschmir
76
3. Der „Kashmir Accord" und die zweite Amtszeit Sheikh Abdullahs
79
4. Die Auflösung indigener politischer Strukturen und der Ausbruch des Militantismus
81
II. Die Verhältnisse in den Gebieten unter pakistanischer Kontrolle
84
1. Azad Kaschmir
84
2. Die Nordgebiete
85
III. Die Lage in den von China besetzten Gebieten
86
1. Aksai Chin
86
2. Karakorum-Gebiet
87
4. Kapitel Der Mythos einer bilateralen Konfliktlösung I. Hegemonialpolitik Indiens
88 88
1. Abkehr von den Prinzipien der UNCIP-Resolutionen
88
2. Das Simla Abkommen
89
3. Perspektive bilateraler Verhandlungen
90
a) Der Siachen Konflikt
90
b) Diplomatische Initiativen seit Ausbruch des Militantismus
91
c) Bewertung
93
II. Die Haltung des Westens zur Lösung des Kaschmirkonfliktes durch bilaterale Verhandlungen
94
1. Positionen einzelner Staaten
94
2. Reflexion und Ausblick
96
14
Inhaltsverzeichnis Teil 2 Die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechtes auf den Kaschmirkonflikt
99
5. Kapitel Rechtsträger des Selbstbestimmungsrechtes im Kaschmirkonflikt
99
I. Charakteristika der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs
99
1. Geographie und Demographie Jammu und Kaschmirs
99
2. Ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle Besonderheiten a) Das Kaschmirtal
101 101
b) Die Provinz Jammu
101
c) Ladakh
102
d) Die Nordgebiete
103
3. Geschichte und Gesellschaft
103
a) „Quit Kashmir"-Bewegung
103
b) Regionale Ungleichbehandlung
105
c) Kashmiriyat
106
II. Der Begriff des Volkes im Völkerrecht
107
1. Problemaufriß
107
2. Staatsvolk
107
3. Das Prinzip uti possidetis iuris
109
4. Diskussion um den Volksbegriff
111
a) Objektive und subjektive Elemente
111
b) Funktionalität
113
III. Das kaschmirische Volk 1. Objektive Kriterien
114 114
a) Das Kaschmirtal
114
b) Azad Kaschmir, Jammu, Ladakh und die Nordgebiete
115
2. Identität
115
a) Kaschmirtal
115
b) Provinz Jammu
116
Inhaltsverzeichnis c) Azad Kaschmir
117
d) Ladakh und die Nordgebiete
118
e) Ergebnis
118
3. Bedürftigkeit
119
4. Überlebensfähigkeit eines eigenen Staates
120
a) Politische Selbstbehauptung
120
b) Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
121
5. Ergebnis
123
6. Kapitel Okkupation und Annexion Jammu und Kaschmirs I. Okkupation, Annexion und Selbstbestimmungsrecht
124 124
1. Die Entwicklung des Okkupationsbegriffes
124
2. Das Verbot der Annexion
126
3. Das Institut der konsolidierten Annexion
127
II. Militärische Repression im indischen „Bundesstaat" Jammu und Kaschmir
128
1. Intervention der indischen Streitkräfte 1947
128
2. Die Rolle des Militärs im Bundesstaat Jammu und Kaschmir
131
3. Verstöße der indischen Sicherheitskräfte gegen Menschenrechte, humanitäres Völkerrecht und wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht 134 a) Uferlose Kompetenzen der indischen Sicherheitskräfte
134
b) Der Einsatz von Gegenmilitanten und Verteidigungskomi tees
137
c) Beeinträchtigung der medizinischen Versorgung durch indische Sicherheitskräfte
139
d) Obstruktion der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung
140
4. Bewertung
142
III. Militärische Unterdrückung Azad Kaschmirs und der Nordgebiete durch Pakistan 143 1. Machtübernahme durch bewaffneten Überfall
143
2. Verfestigung der Okkupation
146
IV. Militärherrschaft Chinas in Aksai Chin und im Karakorum-Gebiet
149
Inhaltsverzeichnis
16
7. Kapitel Jammu und Kaschmir im Dekolonialisationskontext
151
I. Der Begriff des Kolonialismus unter besonderer Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechtes 151 1. Die Haltung der Vereinten Nationen
151
2. Staaten-und Vertragspraxis
153
II. Der koloniale Gehalt in den Beziehungen zwischen Kaschmir und Indien
156
1. Die mißlungene föderale Anbindung des Bundesstaates Jammu und Kaschmir an die Indische Union
156
a) Inhalt des Artikels 370 der Indischen Verfassung
156
b) Auslegung durch den Supreme Court of India
157
c) Verfassung des Bundesstaates Jammu und Kaschmir
160
d) Bewertung
160
2. Die Manipulation des demokratischen Prozesses
162
3. Das Phänomen der Verfilzung
166
4. Bewertung
168
III. Kolonialbeziehung zwischen Kaschmir und Pakistan
169
1. Azad Kaschmir
169
2. Die Nordgebiete
171 8. Kapitel
Menschenrechtsverletzungen und Selbstbestimmungsrecht in Jammu und Kaschmir I. Sezession bei Verstoß gegen Menschenrechtskern II. Menschenrechtslage im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir
173 173 175
1. Menschenrechtspolitik der indischen Regierung in Jammu und Kaschmir
175
2. Menschenrechtsverletzungen der indischen Sicherheitskräfte
178
a) Das Verschwindenlassen von Personen in staatlichem Gewahrsam
178
b) Folter
180
c) Zerstörung des religiösen und kulturellen Erbes
181
Inhaltsverzeichnis 3. Bewertung
184
a) Schwere der Menschenrechtsverletzungen in Jammu und Kaschmir
184
b) Systematik der Menschenrechtsverletzungen
187
aa) Duldung einer Rechtsamnesie der Sicherheitskräfte
187
bb) Anschlag auf die Identität des kaschmirischen Volkes
190
cc) Völkermord oder Ethnozid
192
III. Die Menschenrechtslage in den pakistanisch und chinesisch besetzten Gebieten ... 192
Teil 3 Ausgleich des Selbstbestimmungsrechtes der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs mit konkurrierenden Prinzipien der Völkerrechtsordnung 194
9. Kapitel Rechtsgüterabwägung im Völkerrecht I. Friendly Relations Deklaration als Richtschnur praktischer Konkordanz
194 194
1. Die VN-Charta als abschließendes Wertesystem
194
2. Bedeutung und Systematik der Friendly Relations Deklaration
195
3. Die Bruchkante vom inneren zum äußeren Selbstbestimmungsrecht
199
II. Prüfstein der Staatenpraxis
201
1. Dekolonialisation
201
2. Internationale Praxis der Anerkennung von Staaten
202
3. Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates zur Wahrung des Weltfriedens
204
4. Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten
206
5. Bewertung
208
10. Kapitel Ausgleich des Selbstbestimmungsrechtes mit der territorialen Integrität Indiens, Pakistans und Chinas I. Konkordanz von Selbstbestimmungsrecht und territorialer Integrität 1. Konflikt 2 Hönig
209 209 209
18
Inhaltsverzeichnis 2. Subordination
210
a) Funktion des Völkerrechts
210
b) Hierarchie der VN-Charta
213
c) ius cogens
213
3. Koordination
215
II. Bedrohung der territorialen Integrität Indiens durch eine Sezession des Bundesstaates Jammu und Kaschmir 216 1. Präklusion des Selbstbestimmungsrechtes durch vorkoloniale Titel
216
2. Konsumtion des Selbstbestimmungsrechtes durch Beitritt zu Indien
218
3. Gefährdung der nationalen Einheit Indiens
219
4. Erschütterung des säkularen Fundamentes Indiens
223
5. Schlag gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Indiens
228
6. Bewertung
231
III. Schutzwürdige Territorialinteressen Pakistans
232
1. Auswirkungen der Kaschmirfrage auf das pakistanische Selbstverständnis
232
2. Strategische Bedeutung Jammu und Kaschmirs für Pakistan
235
3. Wirtschaftsbeziehungen zwischen Kaschmir und Pakistan
238
4. Vernetzung der Infrastruktur Azad Kaschmirs und der Nordgebiete mit Pakistan
239
5. Beurteilung
240
IV. Chinas Territorialansprüche in Jammu und Kaschmir
240
11. Kapitel Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes unter dem Vorbehalt der Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in Südasien I. Selbstbestimmungsrecht und Friedenssicherung
241 241
1. Konflikt
241
2. Äußeres Selbstbestimmungsrecht unterhalb der Sezessionsschwelle
243
3. Föderales Selbstbestimmungsrecht
244
Inhaltsverzeichnis
19
II. Die Sicherheitslage in Südasien
245
1. Gefechte an der Kontrollinie
245
2. Die labile Sicherheitslage in Zentralasien
248
3. Gefahr eines nuklearen Schlagabtausches zwischen Indien und Pakistan
249
III. Konkordanz von Selbstbestimmungsrecht und Friedensinteresse im Kaschmirkonflikt 253 1. Prioritäten
253
2. Lösungsszenarien
254
12. Kapitel „ Azadi" und die völkerrechtliche Zulässigkeit der Anwendung von Gewalt
256
I. Selbstbestimmungsrecht und Militanüsmus in Jammu und Kaschmir
256
1. Ursachen und Entwicklung der militanten Bewegung in Kaschmir
256
2. Widerstandsrecht der Völker
259
a) Dekolonialisationskontext
259
b) Sezession
260
c) Internationaler Terrorismus
263
3. Bewertung
264
II. Die Unterstützung Pakistans im Spannungsfeld von humanitärer Intervention und Gewaltverbot 265 1. Formen pakistanischer Hilfeleistung
265
2. Völkerrechtliche Zulässigkeit der humanitären Intervention
268
a) Konkurrierende Völkerrechtsprinzipien
268
b) Resolutionen der Generalversammlung
269
c) Position des IGH
270
d) Fallbeispiele
271
e) Bewertung
274
3. Verletzung des Gewaltverbotes durch Pakistan III. Selbstverteidigungsrecht Indiens 2*
277 278
20
Inhaltsverzeichnis Teil 4 Die Vorgaben des Selbstbestimmungsrechtes zur Lösung des Kaschmirkonfliktes in der völkerrechtlichen Praxis
281
13. Kapitel Grundmuster zur Beilegung des Kaschmirkonfliktes im Lichte des Selbstbestimmungsrechtes I. Die Teilung Jammu und Kaschmirs zwischen Indien und Pakistan
281 281
1. Integration der Besatzungszonen
281
2. Rückgriff auf die Kriterien des Indus Waters Treaty
283
3. Das Triester Modell
284
4. Adjudikation Jammu und Kaschmirs durch den IGH
286
II. Die Durchführung von Parlamentswahlen 1. Wahlen als Ausübungsmodus des Selbstbestimmungsrechtes
287 287
2. Wahlen zur Lösung der Selbstbestimmungsproblematik im Kaschmirkonflikt ... 288 III. Die Abhaltung eines Plebiszites
289
1. Entbehrlichkeit der Feststellung des Volkswillens
289
2. Exklusivabstimmung im Kaschmirtal
290
3. Zwei-Optionen-Plebiszit
291
4. Drei-Optionen-Plebiszit
293
a) Politische Rahmenbedingungen
293
b) Rechtliche Hindernisse
295
14. Kapitel Vorbereitung und Durchführung eines Plebiszites I. Rückkehrmöglichkeit für Flüchtlinge und Vertriebene 1. Das Ausmaß des Flüchtlingsproblems in Jammu und Kaschmir a) Teilungsflüchtlinge
298 298 298 298
Inhaltsverzeichnis b) Verfolgung und Flucht religiöser Minderheiten
299
c) Bürgerkriegsflüchtlinge
300
2. Das Recht auf Heimat
301
3. Ansätze zur Lösung der Flüchtlingsproblematik in Jammu und Kaschmir
303
II. Voraussetzungen eines freien und fairen Plebiszites
304
1. Entmilitarisierung
304
2. Internationale Kontrolle
306
3. Vorgaben des Sicherheitsrates und der VN-Kommission für Indien und Pakistan für die Organisation eines Plebiszites 308 III. Abstimmungsmodalitäten
309
1. Aufteilung des Abstimmungsgebietes
309
a) Einheitliches Plebiszit
309
b) Regionales Plebiszit
310
c) Bewertung
311
2. Abstimmungsberechtigung
312
3. Zeitliche Staffelung der Abstimmungen
313
15. Kapitel Völkerrechtliche Rahmenbedingungen einer Verhandlungslösung zwischen Indien, Pakistan und der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs I. Das Konzept einer Dreierkonferenz 1. Die völkerrechtliche Pflicht zu Verhandlungen im Kaschmirkonflikt
314 314 314
2. Der politische Kampf um eine Einbeziehung der Bevölkerung Kaschmirs in den Verhandlungsprozeß 315 3. Trilaterale Gesprächsmodelle und rechtliche Grundlagen II. Die Suche nach Repräsentanten der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs
317 318
1. Lage im indisch besetzten Gebiet
318
2. Azad Kaschmir und die Nordgebiete
320
III. Vertrauensbildende Maßnahmen 1. Abbau der indo-pakistanischen Gefechtsstellungen an der Kontrollinie
321 321
22
Inhaltsverzeichnis 2. Waffenruhe zwischen indischen Sicherheitskräften und Militanten
321
3. Normalisierung der Lebensverhältnisse in Jammu und Kaschmir
323
16. Kapitel Internationale Vermittlung im Kaschmirkonflikt I. Das Recht der internationalen Gemeinschaft auf Einmischung II. Vermittlung regionaler und partikularer Einrichtungen des Völkerrechts
324 324 326
1. KSZE-Strukturen in Südasien
326
2. Südasiatische Wirtschaftszusammenschlüsse
327
a) Der Südasien Verband für Regionale Kooperation
327
b) Das Verband der Anrainerstaaten des Indischen Ozeans
330
c) Bewertung
331
3. Das Commonwealth
331
4. Bildung einer Kontaktgruppe/Initiative der fünf Atommächte
332
III. Vermittlung im Rahmen der Vereinten Nationen
334
1. Maßnahmen der Vereinten Nationen zur Friedenserhaltung und Friedenssicherung 334 2. Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen durch die VN-Kommission für Menschenrechte 335 3. Mandatierung des VN-Generalsekretärs durch die Generalversammlung
336
4. Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes
338
5. Maßnahmen des Sicherheitsrates nach dem VI. und VII. Kapitel der VN-Charta
339
Zusammenfassung
343
Summary: The Kashmir Dispute and the Right of Peoples to Self-Determination
348
Neueste Entwicklungen und Ausblick
351
Inhaltsverzeichnis Anhang
353
Anhang I:
Kaschmir Chronik
353
Anhang II:
Instrument of Accession of Jammu and Kashmir State
363
Acceptance of Instrument of Accession of Jammu and Kahmir State by the Governor-General of India 363 Schedule of Instrument of Accession
364
Anhang III:
Security Council Resolution 47 (1948) of 21 April 1948
367
Anhang IV:
Resolutions of the United Nations Commission on India and Pakistan ... 371 Resolution as Adopted on 13 August 1948
371
Resolution as Adopted on 5 January 1949
373
Anhang V:
Art. 370 of the Indian Constitution
375
Anhang VI:
Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Co-Operation Among States in Accordance with the Charter of the United Nations (Friendly Relations Declaration) (Extract) 376
Anhang VII:
Agreement on Bilateral Relations Between the Government of India and the Government of Pakistan (The Simla Agreement 1972)
Anhang VIII: The Kashmir Accord 1975
378 380
Anhang IX:
Draft Resolution of the Organization of Islamic Conference on Peace and Security in South Asia 382
Anhang X:
Karten: Jammu und Kaschmir
383
Literaturverzeichnis
385
Sachwortverzeichnis
404
Abkürzungsverzeichnis AEMR
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
AFP
Agence France Presse
AI
Amnesty International
AJK
Azad Jammu and Kashmir
AP
Associated Press
APHC
All Parties Hurriyat Conference
BJP
Bharatiya Janata Party
BSF
Border Security Forces
CENTO
Central Treaty Organization
CPO
Central Police Organizations
CRPF CSCAP
Central Reserve Police Force Conference on Security and Co-operation in Asia/Pacific
CTBT
Comprehensive Test Ban Treaty
DOA
Definition of Aggression
DPA
Deutsche Presse Agentur
ECOSOC
Economic and Social Council
HR
First Information Reports
FN
Fußnote
FRD
Friendly Relations Declaration
GA
General Assembly
GAOR
General Assembly Official Records
GUS
Gemeinschaft unabhängiger Sowjetrepubliken
HRC HRW
Human Rights Commission Human Rights Watch
ICJ
International Commission of Jurists
IGH
Internationaler Gerichtshof
IHK
Indian held Kashmir
Ind. Verf.
Indische Verfassung
IPbpR
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
IPwskR
Internatonaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
ITBP
Indo-Tibetan Border Police
J&K
Jammu and Kashmir
JKAFA JKLF
Jammu and Kashmir Armed Forces (Special Powers) Act Jammu and Kashmir Liberation Front
KSZE
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit
NHRC
National Human Rights Commission (India)
Abkürzungsverzeichnis NPT
Nuclear Non-Proliferation Treaty
NYT
New York Times
NYU
New York University
OIC
Organization of Islamic Conference
PLO
Palestinian Liberation Organisation
ΡΟΚ
Pakistan Occupied Kashmir
PPP
Pakistan People's Party
Res.
Resolution
RR
Rashtriya (National) Rifles
Rs.
Rupien
SAARC
South Asian Association for Regional Cooperation
SAHRC
South Asian Human Rights Commission
SC
Security Council
SCOR
Security Council Official Records
SEATO
South East Asia Treaty Organization
SR
Sicherheitsrat
SVN
Satzung der Vereinten Nationen
TADA
Terrorist Activities Disruptive (and Prevention) Act
UNCIP
United Nations Commission for India and Pakistan
UN Doc.
United Nations Document
UNHRC
United Nations Human Rights Commission
UNMOGIP
United Nations Military Observer Group for India and Pakistan
UNRIP
United Nations Representative for India and Pakistan
UNTS
United Nations Treaty Series
VN
Vereinte Nationen
Vol.
Volume
Vwd.
Vereinigte Wirtschaftsdienste
25
Teil 1
Aufriß des Kaschmirkonfliktes und seiner völkerrechtlichen Dimension 7. Kapitel
Der völkerrechtliche Status Jammu und Kaschmirs I. Die Frage der staatlichen Unabhängigkeit des Fürstenstaates Jammu und Kaschmir 1. Von der Mogulherrschaft zur Dynastie der Dogra Rajputs Über viele Jahrhunderte war Kaschmir begehrte Beute wechselnder Eroberer aus Zentralasien und dem indischen Subkontinent. Im Jahre 1586 eroberte der Mogulherrscher Akbar weite Teile Kaschmirs und leitete die Islamisierung der Bevölkerung ein, die sich bis dahin zum Brahmanismus bekannt hatte.1 Das Geschlecht der Mogulen herrschte fast zweihundert Jahre über Kaschmir, bis Pathanenfürst Ahmed Shah Durani Kaschmir 1753 seinem Reich einverleibte. Sikh-Herrscher Ranjit Singh besiegte die Pathanen im Jahre 1819 in der Schlacht von Shupayan und setzte General Raja Gulab Singh als Verwalter über Kaschmir ein, der in den Jahren 1834-1841 Ladakh und im Jahre 1840 Baltistan unterwarf. Im Jahre 1846 besiegten britische Truppen mit der Hilfe Gulab Singhs die Sikhs in der Schlacht von Subraon. Im Vertrag von Amritsar setzte die britische Krone gegen Zahlung einer Abfindung Gulab Singh und seine Nachfolger im Geschlecht der Dogra Rajputs als Herrscher über den Fürstenstaat Jammu und Kaschmir ein. Die Entscheidung der britischen Regierung, Jammu und Kaschmir an Gulab Singh zu veräußern, fiel gegen den Willen der lokalen Bevölkerung, die ihn als gewissenlosen Eroberer und habgierigen Besatzer kennengelernt hatte. Dennoch gab die britische Regierung der Errichtung einer militärischen Pufferzone im Norden des britischen Kolonialreiches unter dem loyalen Gulab Singh den Vorzug vor der Möglichkeit einer britischen Direktverwaltung. 2 Auf diesem Hintergrund mag die Transaktion moralisch 1
Einen Überblick über die Geschichte Kaschmirs von der prähistorischen Zeit bis ins 20. Jahrhundert bietet: G. Lai, A Short History of Kashmir, in: Grover, The Story of Kashmir, Vol. 1, S. 9 - 5 4 .
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
anrüchig sein. A n ihrer Rechtswirksamkeit bestehen aber keinerlei Bedenken. Der Verkauf von Gebiet ohne Rücksicht auf den Willen der Bevölkerung entsprach im 19. Jahrhundert gängiger Staatenpraxis. 3 Maharaja Gulab Singh erwarb Jammu und Kaschmir durch den Vertrag von Amritsar auf Dauer und vererbbar zu „unabhängigem Besitz", verpflichtete sich aber zur Anerkennung der britischen Oberhoheit. 4 A u f diese Weise erlangte der Fürstenstaat einen Status innerer Autonomie, nicht aber völkerrechtliche Unabhängigkeit. 5 Thronfolger Gulab Singhs war Maharaja Ranbir Singh, der 1869 Gilgit annektierte. Ihm folgte 1885 Maharaja Pratap Singh nach. I m Jahre 1925 bestieg Maharaja Hari Singh den Thron. I m Juni 1949 dankte er zugunsten seines Sohnes Karan Singh ab, der i m November 1952 zum repräsentativen Staatsoberhaupt Jammu und Kaschmirs gewählt wurde, den in ihn gesetzten Erwartungen aber nicht gerecht wurde. Unter der Regierung Farooq Abdullahs wurde Karan Singh 1996 zum Vorsitzenden des Komitees für Größere Autonomie Jammu und Kaschmirs berufen. Abermals erfolglos, trat er i m August 1997 von diesem A m t zurück.
2. Der Indian Independence Act und die Unabhängigkeit Britisch-Indiens A u f der Grundlage des Gesetzes über die Unabhängigkeit Indiens (Indian Independence Act) vom 8. Juli 1947 wurde Britisch-Indien am 14./15. August 1947, 2
Schofield, Kashmir in the Crossfire, S. 54 f. Die Inkorporation Jammu und Kaschmirs in das von der East India Company kontrollierte Gebiet hätte zu einer erheblichen Ausdehnung der Außengrenzen geführt und die Errichtung kostspieliger militärischer Außenposten und störanfälliger Versorgungslinien durch unwegsames Gelände erfordert, vgl. M.L. Kapur, Kashmir Sold, in: Grover, The Story of Kashmir, Vol. 1, S. 55, 61. Im übrigen ist es Spekulation anzunehmen, daß die Bevölkerung die Kolonisierung durch Großbritannien als das kleinere Übel empfunden hätte. 3 Dahm/Delbrück/ Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I 1, S. 370 (§ 58 II.l.), nennen als Beispiele den Verkauf von Louisiana durch Frankreich an die USA 1803, von Alaska durch Rußland an die USA 1867, der Westindischen Besitzungen durch Dänemark an die USA 1916 sowie den Helgoland-Sansibar Vertrag zwischen Deutschland und Großbritannien 1890. 4
The Treaty of Amritsar, 16 March 1846, Art. 1: „The British Government transfers and makes over, for ever, in independent possession, to Maharaja Gulab Singh and heirs male of his body, all the hilly or mountainous country, with its dependencies situated to the Eastward of the river Indus and Westward of the river Ravi, including Chamba and excluding Lahol, being part of the territories ceded to the British Government by the Lahore State according to the provisions of Article IV of the Treaty of Lahore dated 9 t h March, 1846 A.D." i.V.m. Art. X: „Maharaja Gulab Singh acknowledges the supremacy of the British Government and will in token of such supremacy present annually to the British Government one horse, twelve perfect shawl goats of approved breed (six male and six female) and three pairs of Kashmiri shawls.", zitiert nach: Grover, The Story of Kashmir, Vol. 3, S. 16-18. 5 Geiger, Die Kaschmirfrage im Lichte des Völkerrechts, S. 12, 120-122. F.K. Noon (Pakistan), SCOR, 12 th Year, 761 st Meeting, 16 January 1957, S. 3 (§ 11), bezeichnete den Fürstenstaat Jammu und Kaschmir als „Protektorat" der britischen Krone.
1. Kap.: Der völkerrechtliche Status Jammu und Kaschmirs
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nach Maßgabe der religiösen Mehrheitsverhältnisse in die Dominien Indien und Pakistan aufgeteilt, in die Unabhängigkeit entlassen. I m Hinblick auf die 565 Fürstenstaaten (Princely States) sah der Indian Independence Act vor, daß mit dem Tag der Unabhängigkeit alle Verträge Großbritanniens mit den Fürsten außer Kraft treten und alle Hoheitsrechte der britischen Krone erlöschen sollten. 6 Das politische Ziel Maharaja Hari Singhs in der Teilungsphase bestand darin, Indien und Pakistan gegeneinander auszuspielen, Jammu und Kaschmir in die Unabhängigkeit zu führen und die Herrschaft der Hindu-Dogras über die mehrheitlich moslemische Bevölkerung zu erhalten und zu festigen. 7 In der völkerrechtlichen Literatur ist Streit über die Frage entbrannt, ob den Fürsten das Recht zustand, sich in der Anschlußfrage gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen und gegebenenfalls auch für die staatliche Unabhängigkeit zu votieren. Die indische Regierung vertrat in den Beratungen des VN-Sicherheitsrates 1957 die Auffassung, daß Indien als Nachfolgestaat Britisch Indiens in die Rechte und Pflichten der britischen Krone eingetreten sei mit der Folge, daß es auch die Oberhoheit über Jammu und Kaschmir erworben habe. 8 Zwar teilte der Rechtsausschuß der VN-Generalversammlung den Ansatz der indischen Regierung insofern, als er Pakistan, nicht aber Indien, aufgab, einen Antrag auf Aufnahme in 6
India Independence Act, 1947, Art. 7 Abs. 1: „As from the appointed day ... (b) the suzerainty of His Majesty over the Indian States lapses, and with it, all treaties and agreements in force at the date of the passing of this Act between His Majesty and the rulers of Indian States, all functions exercisable by His Majesty existing at that date with respect to Indian States, all obligations of His Majesty existing at that date towards Indian States or the rulers thereof, and all powers, rights, authority or jurisdiction excercisable by His Majesty at that date in or in relation to Indian States by treaty, grant, usage, sufferance or otherwise.", zitiert nach: Geiger, Die Kaschmirfrage im Lichte des Völkerrechts, S. 38 f., Fußnote 34. Der Independence Act lehnte sich in diesem Punkt eng an das Memorandum on States' Treaties and Paramountcy presented by the Cabinet Mission to His Highness the Chancellor of the Chamber of Princes on 12 May 1946 an: ,,[T]he rights of the States which flow from their relationship to the Crown will no longer exist and ... the rights surrendered by the States to the paramount power will return to the States.", zitiert nach: Permanent Mission of India to the UN, Kashmir's Accession to India, SCOR, 12 th Year, 762 nd Meeting, 23 January 1957, Annex 4, S.3. 7
G. Rizvi, India, Pakistan and the Kashmir Problem, in: Yusuf, Perspectives on Kashmir, S. 19, 23. Das Schreiben Maharaja Hari Singhs an Lord Mountbatten vom 26. Oktober 1947 gibt deutliche Hinweise auf sein Streben nach Unabhängigkeit: „ I wanted to take time to decide to which Dominion I should accede or whether it is not in the best interests of both the Dominions and of my State to stand independent, of course with friendly and cordial relations with both. ... With the conditions obtaining at present in my State and the great emergency of the situation as it exists, I have no option but to ask for help from the Indian Dominion. Naturally they cannot send the help asked for by me without state acceding to the Dominion of India. I have accordingly decided to do so, and I attach the instrument of accession for acceptance by your Government. The other alternative is to leave my State and the people to freebooters. ... This alternative I will never allow to happen so long as I am the ruler of the State and I have life to defend my country.", zitiert nach: Rahman, Divided Kashmir, S. 192 f. s V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 762 nd Meeting, 23 January 1957, S. 5 - 7 (§§ 19-26), 22-24 (§§ 98-101), 764 th Meeting, 24 January 1957, S. 25 (§ 106).
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
die Vereinten Nationen zu stellen.9 Gegenüber den Fürstenstaaten konnte Indien aus den Abkommen, welche die britische Krone abgeschlossen hatte, eigene Rechte aber nicht herleiten. Im selben Augenblick, in dem Indien in die Rechtsposition Großbritanniens eintrat, war auch das rechtliche Band zwischen der britischen Krone und den Fürstenstaaten zerschnitten. Die Fürsten waren indischen Gebietsansprüchen somit eine juristische Sekunde voraus. Folgerichtig wurde in der Frühphase des Konfliktes weder von der indischen noch von der pakistanischen Seite bestritten, daß Jammu und Kaschmir mit dem Erlöschen der britischen Oberhoheit neben einem Beitritt zu Indien oder Pakistan auch die Option der Unabhängigkeit zustand.10
3. Staatsqualität Jammu und Kaschmirs Die Montevideo Konvention von 1933, von deren völkergewohnheitsrechtlicher Geltung im Jahre 1947 aufgrund allgemeiner Zustimmung ausgegangen werden kann, knüpft die völkerrechtliche Rechtsfähigkeit eines Staates an die Voraussetzungen einer ortsansässigen Bevölkerung, eines klar umrissenen Gebietes, einer effektiven Regierung sowie der Fähigkeit, im völkerrechtlichen Verkehr Rechte und Pflichten wahrzunehmen. 11 Ob der Fürstenstaat Jammu und Kaschmir unter Zugrundelegung dieser Kriterien im August 1947 staatliche Souveränität erlangte, ist bis heute heftig umstritten. Für die Staatlichkeit Jammu und Kaschmirs spricht, daß Maharaja Hari Singh im August 1947 mit Pakistan ein Stillhalteabkommen Schloß und mit Indien über den Abschluß eines entsprechenden Abkommens in Verhandlungen stand. Die Fähigkeit, mit anderen Völkerrechtssubjekten in Verhandlungen zu treten und Verträge abzuschließen, wurde in einer Resolution der Generalversammlung vom Dezember 1952 als wichtiges Indiz für das Vorliegen staatlicher Souveränität gewertet. 12 Bedeutsam dürfte weiterhin der Umstand sein, daß im Zeitpunkt des Erlöschens der britischen Gebietshoheit Jammu und Kaschmir ein konstitutionell verfaßtes Staatsgebilde war. Von einem Teil der Literatur wird die konstitutionelle Unabhängigkeit, nicht die weitgehend subjektive Beurteilung oft diffuser tatsächlicher Machtverhältnisse, als der wichtigste Maßstab für staatliche Souveränität ge9 Wittkowski, Staatensukzession und völkerrechtliche Verträge, S. 137-139. •o G. Ayyangar (Indien), SCOR, 3 r d Year, 227 th Meeting, 15 January 1948, S. 13; M.Z. Khan (Pakistan), SCOR, 3 r d Year, 228 th Meeting, 16 January 1948, S. 43. 11 Convention on Rights and Duties of States, 26 December 1933, in: League of Nations Treaty Series, Vol. 165, 1936, No. 3802, S. 19 ff.: Art. 1: „The State as a person of international law should possess the following qualifications: (a) a permanent population; (b) a defined territory; (c) government; and (d) capacity to enter into relations with the other States." >2 GA Res. 648 (VII), GAOR, 7 t h Session, Supplement No. 20, Annex, GA 402 nd Plenary Meeting, 10 December 1952, S. 33, 34: „Factors indicative of the attainment of independence: ... Power to enter into direct relations of every kind with other governments and with international institutions and to negotiate, sign and ratify international instruments."
1. Kap.: Der völkerrechtliche Status Jammu und Kaschmirs
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wertet. 13 Es liegt auf der Hand, daß die Effektivität der Regierungsgewalt entscheidend von der Stabilität der Beziehungen zwischen Regierten und Regierenden abhängt. Nach dem Verständnis der liberal-demokratischen Denkschule dient die Institutionalisierung der Beziehungen zwischen Volk und Regierung durch eine Verfassungsordnung der Machtbalance und bietet somit ein Bollwerk gegen Revolution und Tyrannei. 14 Auch lassen sich durch die Heranziehung des Kriteriums der Verfassung die Grenzen des Staatsgebietes leichter bestimmen. Der Geltungsbereich einer Verfassung kann in aller Regel ohne größere Schwierigkeiten abgesteckt werden, während die Bestimmung militärischer, politischer oder wirtschaftlicher Hoheitszonen von einer Vielzahl von Faktoren abhängt und ideologischer Eintrübung zugänglich ist. Eine Reihe von Autoren neigt daher der Auffassung zu, der Fürstenstaat Jammu und Kaschmir in Gestalt der Provinzen Jammu, Kaschmir, Gilgit, Baltistan und Ladakh habe im Zeitpunkt der Aufgabe der Gebietshoheit Großbritanniens staatliche Unabhängigkeit erlangt. 15 Zwei gewichtige Gründe sprechen gegen diese These. Zum einen läßt sich von der bloßen Existenz einer Verfassung noch nicht auf ihre gesellschaftliche Befriedungsfunktion schließen. Schon der Begriff des Staatsvolkes impliziert, daß das Volk im Staat eine Stellung einnehmen soll, in der es nicht der Willkür staatlicher Organe ausgeliefert ist, sondern ihnen gegenüber eine Rechtsposition innehat. Die vom Maharaja im Jahre 1939 verkündete (!) Verfassung des Fürstenstaates Jammu und Kaschmir wurde zwar als großer Erfolg der Freiheitsbewegung gefeiert. Sie leistete aber weder einen Beitrag zum sozialen Frieden, noch bot sie eine Handhabe, den absolutistischen Herrschaftsanspruch des Maharajas zu brechen. Die ultimative Entscheidungsgewalt über Exekutive, Judikative und Legislative war nach wie vor in seiner Person konzentriert. 16 Zum anderen läßt sich das Merkmal der 13 Asante, Election Monitoring, in: NYU Journal of International Law & Policy, Vol. 26 (1993-94), S. 235, 267; A. James, Sovereign Statehood, in: Wilkinson, Key Concepts in International Relations, S. 24: ,,[F]or all ... internationally active states, the sovereignty on which their international activity is based amounts to constitutional separateness. ... For sovereignty ... consists of being constitutionally apart, of not being contained, however loosely, within a wider constitutional scheme. A territory which is so contained is not sovereign and hence is not eligible to participate on a regular basis in international relations. Once any such connection is severed, the territory concerned has become sovereign and thus ready, if it and others wish it, to join in the usual kind of international activity." 14 Holmes, On the Theory of Liberal Democracy, S. 270 f. 15 Geiger, Die Kaschmirfrage im Lichte des Völkerrechts, S. 137-140, der im übrigen überzeugend darlegt, daß der Fürstenstaat Chitral trotz vertraglicher Bindungen zu Jammu und Kaschmir rechtliche Unabhängigkeit genoß; Lamb, Kashmir: A Disputed Legacy, S. 154; Justice Rajendra, in: Hidayatullah, Constitutional Law of India, Vol. 2, S. 752, 752; Tope, Constitutional Law of India, S. 938. Rahman, Divided Kashmir, S. 17, vertritt die These, die Nordgebiete seien durch die „Gilgit Lease" aus dem Fürstenstaat Jammu und Kaschmir ausgegliedert geworden: Im Jahre 1935 sei die Herrschaft über Gilgit für 60 Jahre an die Briten übertragen worden, die Gebietshoheit der Briten sei mit ihrem Abzug erloschen. 16
Vgl. Section 5 des ,Jammu and Kashmir Constitution Act": „Notwithstanding anything contained in this or any other Act, all powers, legislative, executive and judicial, in relation
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
effektiven Regierung durch theoretische Erörterungen der Verfassungslage nicht gänzlich ausfüllen. Voraussetzung ist ferner die Befolgung der von den Verfassungsorganen getroffenen Anordnungen in der Praxis, oder anders gesagt, ein Mindestmaß an Stabilität in Staat und Gesellschaft. Daran aber fehlte es im Falle Jammu und Kaschmirs. Innerhalb weniger Wochen nach Inkrafttreten des Indian Independence Act brach in Poonch eine Revolte aus, die sich rasch in der Region ausbreitete. Im Oktober 1947, nur neun Wochen nach der Unabhängigkeit, fielen afghanische Bergvölker nach Kaschmir ein und eroberten im Handstreich den Norden und Westen des Kaschmirtales, während die Truppen des Maharajas scharenweise desertierten. Der Maharaja floh und unterzeichnete eine Beitrittserklärung zugunsten Indiens. Fowler und Bunck ziehen aus den turbulenten Ereignissen des Herbstes 1947 den Schluß, Jammu und Kaschmir habe sich als eigener Staat nicht zu konsolidieren vermocht. 17 Sie haben recht.
II. Die völkerrechtliche Bedeutung der Beitrittserklärung des Maharajas 1. Politische Brisanz Die Vereinbarung zwischen Maharaja Hari Singh und Generalgouverneur Mountbatten im Oktober 1947 über den Beitritt Jammu und Kaschmirs zur Indischen Union bildet das Herzstück der Argumentation prominenter indischer Staatsmänner und Verfassungsrechtler zur Untermauerung des Herrschaftsanspruches Indiens auf den Fürstenstaat. Mit der Übertragung der Kompetenzen auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung und Telekommunikation auf Indien, so wird behauptet, sei der Fürstenstaat integraler Bestandteil der Indischen Union geworden. 18 Schließt man sich dieser Sichtweise an, liegt es nahe, Pakistan jeglichen locus standi in Jammu und Kaschmir abzusprechen. Der Kaschmirkonflikt in seiner internationalen Dimension wäre im Kern auf die Problematik einer Aggression Pakistans beschränkt. Pakistan hat die völkerrechtliche Bindungswirkung der Beitrittserklärung des Maharajas stets mit einer Kette von Argumenten bestritten. 19 Jammu und Kaschto the State and its Government are hereby declared to be and to have always been inherent in and possessed and retained by His Highness [Maharaja Hari Singh].", zitiert nach: Justice A.S. Anand, The Constitution of Jammu and Kashmir, S. 46. 17 Fowler/Bunck, Law, Power, and the Sovereign State, S. 48. 18 Bhatt, Political and Constitutional Development of the Jammu and Kashmir State, S. 199; Khurshid, Beyond Terrorism, S. 51. 19 M.Z. Khan (Pakistan), SCOR, 3 r d Year, 228 th Meeting, 16 January 1948, S. 67 f.; 5 t h Year, 463 r d Meeting, 7 February 1950, S. 31, 464 th Meeting, 8 February 1950, S. 18; 6 t h Year, 534 th Meeting, 6 March 1951, S. 2 - 8 (§§ 6-25); Schreiben des pakistanischen Ministers für Kaschmirangelegenheiten M.A. Gurmani an den Vorsitzenden der Kommission für Indien
1. Kap.: Der völkerrechtliche Status Jammu und Kaschmirs
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mir sei nach wie vor umstrittenes Gebiet. Die Frage seiner Zugehörigkeit zu Indien oder Pakistan müsse daher der Bevölkerung zur Entscheidung vorgelegt werden. Die Unabhängigkeitsbewegung Jammu und Kaschmirs argumentiert, der Umstand, daß die Vereinten Nationen die Zugehörigkeit des Fürstenstaates zu Indien niemals anerkannt hätten, zeige, daß sie den Anschluß Jammu und Kaschmirs an Indien ebenso bewerteten wie den der baltischen Staaten an die Sowjetunion im Jahre 1939, nämlich als einen Fall der völkerrechtswidrigen Annexion. 20 Wenn man, anders als hier, davon ausgeht, daß der Fürstenstaat im Oktober 1947 Staatsqualität aufwies, folgt aus der Unwirksamkeit des Beitrittes möglicherweise aber noch mehr. Dann hat der Staat Jammu und Kaschmir, ähnlich wie das Deutsche Reich nach der Besetzung der Alliierten 1945, durch die Teilung zwar seine Handlungsfähigkeit, nicht aber seine Völkerrechtssubjektivität eingebüßt. Auf diesem Hintergrund ist die Erregung der indischen Medien über die für Südasien zuständige Staatssekretärin im U.S.-Außenministerium, Robin Raphel, zu verstehen, nachdem sie Parallelen zwischen dem Bürgerkrieg in Afghanistan und dem Aufstand in Jammu und Kaschmir gezogen hatte.21
2. Unterzeichnung der Beitrittsurkunde Trotz jahrzehntelanger erbitterter Auseinandersetzungen über Inhalt und Tragweite der Beitrittserklärung des Maharajas schien zwischen Indien und Pakistan Konsens immerhin darüber zu bestehen, daß der Maharaja eine Beitrittserklärung zugunsten Indiens tatsächlich abgegeben habe. Seit Anfang der neunziger Jahre ziehen pakistanische Regierungsvertreter allerdings auch die Authentizität der Beitrittsurkunde in Zweifel, indem sie darauf verweisen, Indien sei bis heute den Beweis dafür schuldig geblieben, daß Maharaja Hari Singh die Beitrittserklärung überhaupt unterzeichnet habe.22 Sie stützen sich dabei auf eine Untersuchung des britischen Historikers Alastair Lamb, der die offizielle indische Darstellung der Ereignisse des Herbstes 1947 und Pakistan vom 1. Oktober 1949, in: UNCIP: Annexes to the Third Interim Report, S/ 1430/Add. 1, SCOR, 4 t h Year, Special Supplement No. 7, Annex 42, S. 155, 157; F.K. Noon (Pakistan), SCOR, 12 th Year, 761st Meeting, 16 January 1957, S. 4 - 6 (§§ 21 -29); Ministry of Foreign Affairs, Government of Pakistan, White Paper on the Jammu and Kashmir Dispute, January 1977, S. 3. 20 Vgl. R. Thomas, Managing Internal Security Problems, in: Krepon/ Sevak, Crisis Prevention, Confidence Building, and Reconciliation in South Asia, S. 107, 111. 21 I. Malhotra, Reality of Indo-U.S. Relations, in: The Times of India (Mumbai), 17 February 1994, S. 12. Robin Raphel beklagte in einem Interview, sie sei mißverstanden worden: „I said that while sources of the conflict were totally different, the tragedy was the same, that civilians were paying the price.", zitiert nach: Pakistan Outlook, Vol. 4, No. 4, 1994, S. 110,
112.
22 Akram (Pakistan), GAOR, UN-Doc. A/C.3/48/SR.6, 14 October 1993, S. 12 (§ 60); N.N. Khan, Chairman of the Kashmir Committee of the National Assembly of Pakistan, The Kashmir Issue, in: Pakistan Horizon, Vol. 47, No. 3, July 1994, S. 21, 22.
3 Hönig
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
nicht für plausibel hält und zu dem Schluß kommt, es sei zweifelhaft, ob Maharaja Hari Singh die fragliche Unterschrift überhaupt geleistet habe.23 Es müsse verwundern, so Lamb, daß im Indischen Weißbuch von 1948 lediglich ein leeres Formularblatt abgedruckt sei, wie es für den Beitritt der Fürstenstaaten vor der Unabhängigkeit benutzt worden sei. Zwar habe der Beitritt auf einem solchen Formular erklärt werden können, allerdings könne der Beweis, daß er erklärt worden ist, damit nicht geführt werden. Auch sei die Verwendung eines Standard-Formulars angesichts der besonderen Umstände des Beitrittes Jammu und Kaschmirs reichlich ungewöhnlich. Erst 1971 sei in den Memoiren Sardar Pateis erstmals eine mit den Unterschriften des Maharajas und Mountbattens versehene Beitrittsvereinbarung veröffentlicht worden. Seine Suche nach dem Original der Beitrittserklärung im Staatsarchiv von Jammu und Kaschmir, wo man zumindest das Exemplar des Maharajas vermuten müsse, sei allerdings ohne Erfolg geblieben. Abgesehen davon hätten V.P. Menon und Mahajan nach historisch gesicherten Erkenntnissen frühestens am 27. Oktober 1947 in Jammu eintreffen können, um dem Maharaja das vorbereitete Beitrittsdokument auszuhändigen.24 Zu diesem Zeitpunkt habe für den nach Unabhängigkeit trachtenden und zögerlichen Maharaja aber schlicht kein Grund mehr bestanden, den Beitritt zu vollziehen. Die indische Regierung habe sich nämlich mit der Errichtung der Luftbrücke nach Srinagar bereits am Morgen des 27. Oktober 1947 aller Verhandlungstrümpfe begeben. Die Argumente Lambs zwingen nicht zu dem Schluß, daß der Maharaja die Beitrittserklärung nicht unterzeichnet hat. Wenn der indischen Regierung aber daran gelegen ist, die zweifelnden Stimmen zum Verstummen zu bringen, könnte sie mit einem graphologischen Gutachten der Unterschrift des Maharajas auf der von Durga Das veröffentlichten Beitrittsurkunde 25 mit geringem Aufwand Licht ins Dunkel bringen. Angesichts des lebhaften Echos der Veröffentlichungen Lambs in wissenschaftlichen Publikationen und der Breitenwirkung seiner Thesen in der Diskussion auf dem indischen Subkontinent muß es jedenfalls befremden, daß die indische Regierung bis heute die Zweifel an der Echtheit der Unterschrift nicht ausgeräumt, sondern ihnen mit unsubstantiierten Angriffen auf die Berufsehre Lambs neue Nahrung gegeben hat. 26
23 Lamb, Birth of a Tragedy, S. 102 f. 24
Lamb legt überzeugend dar, daß die Zusammenkunft zwischen V.P. Menon, Mahajan und dem Maharaja nicht am 26., sondern am 27. Oktober 1947 stattgefunden hat, vgl. unten Kapitel G.2.II. 25 Das, Sadar Patel's Correspondence 1945-50, Vol. 1, New Light on Kashmir, S. i (zweite Titelseite). 26
Indische Stellungnahme zum Entwurf des Kaschmir-Berichtes der I.C.J., in: International Commission for Jurists, Human Rights in Kashmir, S. 99, 101: „Indeed Prof. Lamb was contracted by Pakistan to ... try and prove that the Instrument of Accession was never signed"
1. Kap.: Der völkerrechtliche Status Jammu und Kaschmirs
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3. Gültigkeit der Beitrittserklärung nach den Regeln über den völkerrechtlichen Vertragsschluß a) Kollusion und Gewalt In ihrem Antwortschreiben auf die Beschwerde Indiens vor dem Sicherheitsrat im Januar 1948 unternahm die pakistanische Regierung den Versuch zu beweisen, daß die britische Krone, die indische Regierung und Maharaja Hari Singh den Interessen und dem Willen der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs in kollusivem Zusammenwirken zuwidergehandelt hätten.27 Zunächst habe die für die Teilung Britisch Indiens zuständige Grenz-Kommission unter Sir Cyril Radcliffe Indien einen Landkorridor im Osten Punjabs zugesprochen, der nach Lage der Dinge allein die geographischen Anbindung Kaschmirs an Indien bezweckt haben könne. Das Stillhalteabkommen mit Pakistan habe der Maharaja nur zum Schein abgeschlossen, um die Moslembevölkerung in dem Glauben zu wiegen, er werde den Beitritt zu Pakistan erklären. Dann habe er die politischen Führer der Muslim Conference verhaften lassen und die Armee angewiesen, die moslemische Bevölkerung, insbesondere in Poonch, zu terrorisieren, um den Boden für den unpopulären Beitritt zu Indien zu bereiten. Die Ernennung des pro-indischen Mehr Chand Mahajan zum Premierminister und die Haftentlassung Sheikh Abdullahs im Oktober 1947 hätten der Intrige den letzten Schliff gegeben. Aus dieser Fülle von Details ergebe sich deutlich, daß der Beitritt durch Betrug und Gewalt („fraud and violence") zustande gekommen und daher nichtig sei. Die Geschichtsforschung hat wichtige Aspekte der bitteren pakistanischen Anschuldigungen bestätigt, den Verdacht einer großangelegten Konspiration britischer und indischer Politiker zulasten der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs aber nicht erhärtet. 28
b) Verlust der effektiven
Herrschaftsgewalt
Die Darstellungen Indiens und Pakistans bezüglich der Geschehnisse in Jammu und Kaschmir in den letzten Oktobertagen 1947 stimmen darin überein, daß der Maharaja die entscheidenden Verhandlungen über einen Beitritt zu Indien nach sei27
Schreiben des pakistanischen Außenministers M.Z. Khan an den VN-Generalsekretär vom 15. Januar 1948, S/1100, in: SCOR, 3 r d Year, Supplement for November 1948, Annex 6, S. 67, 82 f. (§ 18). In der völkerrechtlichen Literatur wird die pakistanische „Verschwörungstheorie" gelegentlich mit dem Hinweis abgetan, Pakistan habe den Vorwurf, der Maharaja sei durch Täuschung oder Drohung mit bzw. Anwendung von Gewalt zum Beitritt gezwungen worden, nicht ausreichend substantiiert, vgl.: A. Siehr, Conflicts, Indian Subcontinent, in: Wolfrum/Philipp, UN: Law, Policies and Practice, Vol. 1, S. 243, 246. Allerdings wird hier die Stoßrichtung der pakistanischen Argumentation verkannt. Opfer der Verschwörung war in den Augen Pakistans nicht der Maharaja, sondern das Volk. 28 Chaudhri, Pakistan and the Troubled World, S. 3; Lamb, Kashmir: A Disputed Legacy, S. 152-154; Millar, The Commonwealth and the UN, S. 24-29; Wirsing, India, Pakistan, and the Kashmir Dispute, S. 12-54.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
ner Flucht vor den anrückenden Pathanen in Jammu führte, wo er auch die Beitrittserklärung unterzeichnet haben soll. Als Flüchtling im eigenen Land und in Anbetracht der Proklamation einer eigenen Regierung in Azad Kaschmir, so wird nicht nur von offiziellen Stellen in Pakistan argumentiert, sei der Maharaja nicht nur in moralischer, sondern auch in rechtlicher Hinsicht seiner Vertretungsbefugnis über Jammu und Kaschmir verlustig gegangen und habe keine rechtswirksamen Erklärungen mehr im Namen seines Volkes abgeben können.29 Die indische Delegation vertrat im Sicherheitsrat die Auffassung, die Revolte in Poonch sei ebenso wie der Einfall der Pathanen von der pakistanischen Regierung vorbereitet und befehligt worden. 30 Dies würde bedeuten, daß die Regierung Azad Kaschmirs lediglich als der verlängerte Arm Karachis anzusehen und ihr jeglicher Legitimitätsanspruch abzusprechen wäre. Die Sachlage deutet aber darauf hin, daß es sich bei der Rebellion in Poonch um eine indigene Bewegung der lokalen Bevölkerung handelte. Unter den in der Region Poonch siedelnden Sudhanen, die ihren Lebensunterhalt zumeist mit Forstwirtschaft und Viehzucht bestritten und unter einer drückenden Steuerlast zu leiden hatten, regte sich schon kurz nach der Unabhängigkeit erster Widerstand gegen die als Joch empfundene Herrschaft der Dogras. 31 Aufgebracht über das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte des Fürstenstaates im Distrikt Jammu und das Zusammenziehen von Truppen in Poonch wuchsen sich einzelne Kampfhandlungen im Laufe des Monats September 1947 zu einer offenen Revolte aus. Die Rebellen erzielten gegen die Verbände des Maharajas, die in der Zivilbevölkerung jeglichen Rückhalt verloren hatten, schnelle Erfolge. Zur Sicherung ihres logistischen Nachschubes stellten die Sudhanen auch Kontakte zu pathanischen Waffenschmieden in der pakistanischen Nordwestprovinz und in Afghanistan her. Am 22. Oktober 1947 fielen pathanische Stammeskrieger von Pakistan aus in Kaschmir ein. Am 23. Oktober beklagte Mahajan Auflösungserscheinungen in Armee und Polizei des Fürstenstaates und zieh sie indirekt der Feigheit vor dem Feind. 32 Am 24. Oktober 1947 schließlich proklamierten die Poonch-Rebellen eine eigene Regierung. In Anbetracht der Umstände kann nicht davon ausgegangen werden, daß es sich dabei um eine pakistanische Strohmann-Riege handelte. Es kommt daher auf die Beantwortung der Ausgangsfrage an, ob die Handlungen eines in Bedrängnis geratenen Herrschers noch völkerrechtliche Wirkung zeitigen können. Unter Zugrundelegung des geltenden Völkerrechtes dürfte es keinem Zweifel unterliegen, daß die völkerrechtliche Vertragsabschlußkompetenz nicht an 29 Justice Farooqi, Kashmir Cries for Justice, S. 83. Lamb, Kashmir - A Disputed Legacy, S. 154, läßt Sympathie für diesen Anatz zumindest bezüglich des von den Poonch-Rebellen gehaltenen Gebietes erkennen. 30 M.C. Setalvad (Indien), SCOR, 3 r d Year, 234 th Meeting, 23 January 1948, S. 212.
31 Zur Genese der Revolte in Poonch: Chaudhry, Der Kaschmirkonflikt, Bd. 1, S. 150167; Stephens, Pakistan, S. 199 f. 32 Schreiben Mahajans an den indischen Innenminister Sadar Patel vom 23. Oktober 1947, in: Das, Patel's Correspondence, No. 66, S. 63, 63.
1. Kap.: Der völkerrechtliche Status Jammu und Kaschmirs
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moralische Legitimität, sondern an die Ausübung von Herrschaftsmacht gebunden ist. 33 Bei unklaren Machtverhältnissen streitet aber eine Vermutung zugunsten der Vertretungskompetenz der verfassungsmäßigen Regierung. 34 In der Staatenpraxis läßt sich dies eindrucksvoll am Beispiel der Taliban in Afghanistan belegen. Obwohl sie nach der Einnahme Mazar-e-Sharifs neun Zehntel des Landes kontrollieren, wird Afghanistan in den Vereinten Nationen nach wie vor von der Exilregierung Rabbanis vertreten. 35 Der Aufstand in Poonch war räumlich und zeitlich begrenzt. Die Pathanen hielten bei Abgabe der Beitrittserklärung durch den Maharaja nur einen Teil des Kaschmirtales besetzt. Die völkerrechtliche Vertretungskompetenz des Maharajas war daher durch den mit Rebellion und Invasion einhergehenden Machtverlust nicht berührt. 36 Die Rüge der Vertragsungültigkeit wegen mangelnder Kontrolle des Maharajas über die Lage im Fürstenstaat greift nicht durch.
c) Völkermord
an der Moslembevölkerung
Viele der durch die Kämpfe vertriebenen Bewohner berichteten von Gewalttaten, die nicht nur marodierende Banden, sondern auch reguläre Einheiten der Armeen Indiens und des Fürstenstaates gegen die Zivilbevölkerung verübt hätten.37 Die pakistanische Regierung warf Indien im Zusammenhang mit der Entsatzung Jammu und Kaschmirs unverblümt Völkermord vor. 38 Ausgehend vom Stellenwert der Menschenrechte in der Volkerrechtsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg liegt die Prüfung der Frage nahe, ob zurechenbare Menschenrechtsverletzungen die Vertragsabschlußkompetenz einer Regierung berühren. An die Ereignisse im Jahre 1947 sind sicherlich andere Rechtsmaßstäbe anzulegen als an Vorgänge in heutiger Zeit. Ungeachtet dessen wird man im zeitlichen Geltungsbereich der VN-Charta vom Verlust der Vertretungsmacht einer Regierung jedenfalls dann ausgehen müssen, wenn sie an ihrer eigenen Bevölkerung 33 Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 136, Rdnr. 629. 34
Geiger, Die Kaschmirfrage im Lichte des Völkerrechts, S. 158; Raina, Kashmir: Global Untruths Exploded, S. 17. 35 Msn., Skepsis und Hoffnung am Hindukusch, in: Neue Zürcher Zeitung, 16. März 1999, Nr. 62, S. 3. 36 Hewitt, Kashmir: The Unanswered Question, in: History Today, Vol. 47, No. 9, September 1997, S. 60, 63. 37 Pakistan legte dem Sicherheitsrat in den Beratungen über die „Indien-Pakistan Frage" umfangreiches Material über Menschenrechtsverletzungen an der Moslembevölkerung durch Truppen des Maharajas und Indiens vor, vgl. M.Z. Khan (Pakistan), SCOR, 3 r d Year, 228 th Meeting, 16 January 1948, S. 67-75, 235 th Meeting, 24 January 1948, S. 249-253; vgl. ferner: Bazaz, Azad Kashmir, S. 33; Lamb, Kashmir - A Disputed Legacy, S. 123; Stephens, Pakistan, S. 200. 38 F. K. Noon (Pakistan), SCOR, 12 th Year, 766 th Meeting, 30 January 1957, S. 3 (§ 9).
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
Volkermord verübt. Voraussetzung des Völkermordes i.S. der Völkermordkonvention ist aber die Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. 39 Es bestehen indes keine Anhaltspunkte für die Annahme, daß der Maharaja oder die Regierung in Delhi mit der Niederschlagung der Aufstände die Ausrottung der Moslembevölkerung verfolgten. 40 Der Beitritt ist somit nicht wegen Völkermordes ungültig.
d) Bedingte Annahme der Beitrittserklärung Ein anderer Argumentationsstrang bemüht Erklärungen indischer Regierungsvertreter, um die Gültigkeit der Beitrittsvereinbarung in Abrede zu stellen. Insbesondere aus dem Schreiben Generalgouverneur Mountbattens an den Maharaja vom 27. Oktober 1947 soll folgen, daß dieser das Beitrittsangebot nur unter der Bedingung der Bestätigung durch ein Plebiszit angenommen habe. Da der Beitritt unter einer aufschiebenden Bedingung in der indischen Verfassung aber nicht vorgesehen sei, unterfalle die Beitrittsvereinbarung der Nichtigkeit. 41 Diesem eher formal-juristischen Einwand ist zuzugeben, daß sich unter dem Aspekt der Rechtssicherheit und -klarheit die Bedingungsfeindlichkeit eines Beitrittes als allgemeiner Verfassungsgrundsatz in der völkerrechtlichen Ordnung durchgesetzt hat. Die indische Regierung hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines Bedingungsgefüges zu verneinen. Sie argumentiert, die Annahme der Beitrittserklärung und das Schreiben des Generalgouverneurs an den Maharaja seien zeitlich und sachlich voneinander getrennte Akte gewesen. Die Beitrittserklärung enthalte keine Bestimmung über eine Bedingung der Wirksamkeit der Erklärung, und das Begleitschreiben Mountbattens habe sich auf die bereits angenommene Beitrittserklärung bezogen.42 Dies leuchtet ein.
e) Pakistan als Träger der auswärtigen Gewalt Der Versuch des pakistanischen Lagers, die Unwirksamkeit der Beitrittsvereinbarung etwa aus dem Abschluß des Stillhalteabkommens zwischen Jammu und Kaschmir und Pakistan abzuleiten,43 soll hier nur Erwähnung finden, um die beina39 Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, 19. Dezember 1948, Art. II, U.N.T.S., Vol. 78, S. 277 ff. 40
Geiger, Die Kaschmirfrage im Lichte des Völkerrechts, S. 166.
« Jewad (Irak), SCOR, 12 th Year, 769 th Meeting, 15 February 1957, S. 5 (§ 14). « G. Ayyangar (Indien), SCOR, 3 r d Year, 242 nd Meeting, 6 February 1948, S. 31; B.N. Rau (Indien), SCOR, 6 t h Year, 533 r d Meeting, 1 March 1951, S. 3 (§ 8), 538 th Meeting, 29 March 1951, S. 1 f. (§§ 2, 3); V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 763 rd Meeting, 23 January 1957, S. 26 (§ 106); zustimmend: Ram, Jammu and Kashmir: Special Status in Indian Federalism, S. 45 f.
1. Kap.: Der völkerrechtliche Status Jammu und Kaschmirs
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he verzweifelte Entschlossenheit zu illustrieren, mit der Pakistan das rechtliche Fundament der indischen Argumentation in der Beitrittsfrage zu erschüttern sucht. Juristisch ist eine solche Konstruktion nicht haltbar. Das Stillhalteabkommen diente dem Zweck, bis zur Klärung des völkerrechtlichen Status Jammu und Kaschmirs den bisherigen Zustand im Handel sowie im Telegrafen- und Postverkehr aufrechtzuerhalten. 44 Die Frage der Wahrnehmung auswärtiger Gewalt als eine der wesentlichen Funktionen staatlicher Souveränität war gerade ausgeklammert. Wollte man dies anders sehen, käme man zu dem merkwürdigen Ergebnis, daß ein Erfolg in den Bemühungen des Maharajas, auch mit Indien ein Stillhalteabkommen zu schließen, eine indisch-pakistanische Gemeinschaftskompetenz über auswärtige Fragen begründet hätte, eine Pattsituation, die den von beiden Dominien gewünschten Beitritt des Fürstenstaates - fraglos eine auswärtige Angelegenheit - unmöglich gemacht hätte 4 5
4. Beitritt und Selbstbestimmungsrecht a) Selbstbestimmung durch Beitritt Der Jurist und indische Gesandte bei den Vereinten Nationen V.K. Menon vertrat in den Beratungen des Sicherheitsrates im Oktober 1957 die Auffassung, das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs habe sich in der Beitrittserklärung des Maharajas realisiert. 46 Offensichtlich liegt seiner Argumentation das klassische Verständnis des Selbstbestimmungsrechtes zugrunde, nach 43 Mahmood, The Kashmir Dispute, in: Current Affairs, September 1994, S. 1, 5: „The Standstill Agreement between Kashmir and Pakistan (a) debarred Kashmir from having any relations with any country other than Pakistan, (b) [put Kashmir] under an obligation to accede to Pakistan, and would [thus] render Kashmir's accession to India invalid." 44 Alam, Right of Self-Determination for the Kashmiri People, in: Bangladesh Institute of International and Strategic Studies Journal, Vol. 16, No. 2, April 1995, S. 201, 205. 45
Schreiben G.S. Bajpais (Indien) an den Vorsitzenden der VN-Kommission vom 21. November 1949, in: UNCIP: Annexes to the Third Interim Report, S/1430/Add.l, Annex 43, S. 161, 163: „That the Jammu and Kashmir State should have simultaneously asked both Pakistan and India to enter into standstill agreements which involved control of the State's foreign relations and defence has only to be mentioned to be dismissed as impossible."; ebenso: Geiger, Die Kaschmirfrage im Lichte des Völkerrechts, S. 157, der im übrigen schon den Abschluß eines Stillhalteabkommens zwischen Pakistan und Jammu und Kaschmir in Frage stellt. Im übrigen erhob Indien den Vorwurf, Pakistan habe Jammu und Kaschmir nach dem Abschluß des Abkommens von der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wie Öl, Zucker, Salz und Getreide abgeschnitten, um Druck auf den Maharaja in der Beitrittsfrage auszuüben, vgl. G. Ayyangar (Indien), SCOR, 3 r d Year, 227 th Meeting, 15 January 1948, S. 13 f. M.Z. Khan (Pakistan), SCOR, 3 r d Year, 229 th Meeting, 17 January 1948, S. 103, entgegnete, Ursache für die Unterbrechung des Warenverkehrs mit Kaschmir seien die Unruhen in Poonch und die chaotischen Zustände in Punjab nach der Teilung gewesen. ^ V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 795 th Meeting, 9 October 1957, S. 34 (§ 132): „Self-determination took place at the time when accession took place."
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
dem sich die Ausübung von Hoheitsmacht des im Staat organisierten Volkes als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechtes darstellt. 47 Voraussetzung dafür ist aber, daß die Regierung ihre Herrschaftsgewalt vermittels einer demokratischen Legitimationskette vom Volk ableiten kann. Dies ergibt sich zum einen aus der Bestimmung des Art. 21 Nr. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, die den Willen des Volkes als Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt hervorhebt. Zum anderen gehört die Verpflichtung, den in freier Willensbetätigung manifestierten Volkswillen zu respektieren, zum gesicherten Bestand des Selbstbestimmungsrechtes.48 Diesen Gedanken führte der pakistanische Delegierte in einer Sitzung der VN-Menschenrechtskommission weiter, indem er darauf hinwies, daß einem Volk, dessen Willen in der Beitrittsfrage nicht konsultiert worden sei, ein Sezessionsrecht vom bestehenden Staatsverband zustehe.49 Auch wenn man soweit nicht gehen mag, ist die These der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes durch Beitritt zu verwerfen. Das Regime des Maharajas entbehrte nämlich jeglicher Legitimation durch das Volk.
b) Beitritt vorbehaltlich
Selbstbestimmung
In seiner Eigenschaft als Gesandter der britischen Regierung richtete Lord Louis Mountbatten in einer Ansprache vor der Prinzenkammer im Juli 1947 an die Herrscher der Fürstenstaaten die eindringliche Bitte, mit der Handlungsfreiheit, die ihnen durch die Unabhängigkeit erwachse, verantwortlich umzugehen, und bei der Gestaltung ihrer Beziehungen zu Indien und Pakistan dem Willen der Bevölkerung Rechnung zu tragen. 50 Es liegt auf der Hand, daß es sich dabei lediglich um einen moralischen Appell, keine von der britischen Regierung auferlegte Rechtspflicht handelte. Angesichts der Kündigung der Verträge mit den Fürsten fehlte der britischen Krone jegliche rechtliche Handhabe, auf die Entscheidungen der Fürsten 47
Detter de Lupis, International Law and the Independent State, S. 3; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, S. 261. 48 IGH, Sahara Occidental, Avis Consultatif, 16 Octobre 1975, C.I.J. Recueil 1975, S. 12, 33 (§ 59); Craven, The International Covenant on Economic, Social, and Cultural Rights, S. 120; Pomerance, Self-Determination in Law and Practice, S. 75. 49
Zitiert nach: UN Special Rapporteur Gros Espiell, Right of People under Colonial and Alien Domination to Self-Determination, UN-Doc. E/CN.4/Sub.2/390, S. 9 (§ 37). 50 „The whole country is passing through a critical period. I am not asking any State to make any intolerable sacrifice of either its internal autonomy or independence. My scheme leaves you with all the practical independence that you can possibly use and makes you free of all [but] those subjects which you cannot possibly manage on your own. You cannot run away from the Dominion Government which is your neighbour any more than you can run away from the subjects for whose welfare you are responsible. Whatever may be your decision, I hope you feel that I have at least done my duty to the States.", zitiert nach: Das, Sadar Patel's Correspondence, Vol. 1, New Light on Kashmir, Appendix 2, S. 331, 336.
1. Kap.: Der völkerrechtliche Status Jammu und Kaschmirs
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Einfluß zu nehmen. Dennoch hat es nicht an Versuchen gefehlt, aus den Äußerungen Mountbattens einen rechtlichen Kern herauszuschälen. Die Schlüsselrolle, die der Sicherheitsrat und die VN-Kommission für Indien und Pakistan der Abhaltung eines Plebiszites in ihren Resolutionen beimaßen, wird als weiteres Indiz für den Klärungsbedarf hinsichtlich des Territorialstatus Jammu und Kaschmirs gewertet. 51 Von exemplarischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ein Wortbeitrag des VN-Botschafters Großbritanniens Jebb in einer Sitzung des Sicherheitsrates im März 1951. Darin nahm er Anstoß an der Haltung der indischen Regierung, wonach die Erklärung des Maharajas den Beitritt des Fürstenstaates zu Indien bewirkt habe. Jebb wies darauf hin, daß eine solche Sichtweise den Prinzipien zuwiderlaufe, die den Sicherheitsrat und die Konfliktparteien bei einer Suche nach einer Konfliktlösung fortwährend geleitet hätten.52 Der syrische VN-Gesandte El-Khouri drückte sich noch deutlicher aus. Bereits im April 1948 tat er die Auffassung kund, der Anschluß Jammu und Kaschmirs an Indien sei rechtsungültig, weil er unter Vorenthaltung des Selbstbestimmungsrechtes zustande gekommen sei. 53 In Ansehung der Haltung der Vereinten Nationen zum Kaschmirkonflikt gelangt die Internationale Juristenkommission zu dem Ergebnis, formal habe die Entscheidung über einen Anschluß an Indien oder Pakistan zwar den Fürsten und nicht der jeweiligen Bevölkerung zugestanden, inhaltlich habe das rudimentär entwickelte Selbstbestimmungsrecht diesen aber die Pflicht aufgegeben, die Beitrittsfrage im Einklang mit dem Willen der Bevölkerung zu lösen.54 Rechtlich gesehen bleibt von der Beitrittserklärung des Maharajas dann nicht mehr viel übrig. Einige Autoren legen ihr im Wege der geltungserhaltenden Reduktion die Bedeutung einer Ermächtigung zugunsten der indischen Regierung bei, die Aggression der pathanischen Stammeskrieger auf dem Gebiet Jammu und Kaschmirs militärisch abzuwehren. 55 Überzeugend ist das nicht.
51 Chaudhry, Der Kaschmirkonflikt, Bd. 1, S. 255. 52 G. Jebb (Großbritannien), SCOR, 6 t h Year, 537 th Meeting, 21 March 1951, S. 7 (§ 20). 53 El-Khouri (Syrien), SCOR, 3 r d Year, 286 ,h Meeting, 21 April 1948, S. 3 f.; vgl. auch Korbel, Danger in Kashmir, S. 351: „The accession of the State of Jammu and Kashmir to India cannot be considered as valid by cannons of international law." 54 International Commission of Jurists, Human Rights in Kashmir, Appendix 1, S. 84, 90; vgl. auch: M.Z. Khan (Pakistan), SCOR, 7 t h Year, 609 th Meeting, 16 December 1952, S. 15 (§ 40): ,,[W]here there was a dispute between a ruler and his people ... the ruler was to ascertain the wishes of the people and then accede in accordance therewith."; G.M. Wani, Third Option on Kashmir: American Perception, in: Wani, Kashmir: Need for Sub-Continental Political Initiative, S. 97, 104, zitiert U.S.-Staatssekretärin Raphel mit folgender Äußerung: „We view Kashmir as disputed territory and that means we do not recognise that instrument of accession as meaning that Kashmir is ever more integral part of India."
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
c) Beitritt vor Verankerung des Selbstbestimmungsrechtes als Rechtsprinzip Die völkerrechtliche Verbindlichkeit der Beitrittserklärung des Maharajas hängt entscheidend von der Beantwortung der Frage ab, ob Gebietsveränderungen bereits in der Gründungsära der Vereinten Nationen zu ihrer Gültigkeit der Zustimmung der betroffenen Bevölkerung bedurften. Außer Frage steht, daß der Wechsel der Gebietshoheit ohne Berücksichtigung des Volkswillens dem in Art. 1 Nr. 2 SVN verankerten Ziel der Vereinten Nationen entgegenläuft, freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln. Von Teilen der völkerrechtlichen Literatur wird daraus geschlossen, daß seit dem Inkrafttreten der Charta der Vereinten Nationen die völkerrechtliche Verbindlichkeit eines Gebietstransfers nur bejaht werden könne, wenn die betroffene Bevölkerung ihn sanktioniert habe.56 Bei dem Versuch, die Zielbestimmungen der Charta in völkerrechtliche Normen umzugießen, ist allerdings Vorsicht geboten. Rechtssatzqualität gewinnen sie erst, wenn sie sich in der internationalen Praxis durchgesetzt haben und von einer entsprechenden Rechtsüberzeugung getragen werden. Einigkeit besteht in der Völkerrechtswissenschaft darüber, daß Minderheitenschutz und Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg einen Platz auf der Galerie politischer Prinzipien einnahmen, nicht aber zum juristischen Werkzeug beim Aufbau einer neuen Völkerrechtsordnung gehörten. 57 Auch wenn eine Vielzahl territorialer Streitigkeiten kurz nach dem Zweiten Weltkrieg durch Plebiszit entschieden wurde, 58 konnte auch zu diesem Zeitpunkt von der Begründung einer völkerrechtlichen Übung nicht die Rede sein. Zum Beweis des Gegenteils sei nur an das Schicksal der deutschen und polnischen Ostgebiete, der baltischen Staaten, Tirols und Triests, um nur einige Beispiele in Europa zu nennen, erinnert. Zieger ist daher zuzustimmen, wenn er in einer historischen Analyse der Staatenpraxis, unter anderem unter Berufung auf Jammu und Kaschmir, zu dem Ergebnis kommt, daß der nach dem Ersten Weltkrieg einsetzende Trend einer Volksbefragung zur Entschei55 A. Khan, The Kashmir Dispute, in: Columbia Journal of Transnational Law, Vol. 31, 1994, S. 495, 508 f.: „The Maharajah's accession was thus considered no more than a temporary legal mechanism that assigned India the legal authority to repulse the unlawful incursion of foreign tribesmen."; ähnlich Sheikh Abdullah, Kashmir, India and Pakistan, in: Foreign Affairs, Vol. 43, Nos. 1 - 4 , October 1964-July 1965, S. 528, 529: „The resulting accession was to be purely provisional and temporary until the will of the people could be ascertained through a referendum." 56 Kimminich, Menschenrechte in der Friedensregelung, S. 104; H.J. Uibopuu, Plebiscite, in: Bernhardt, Encyclopedia of Public International Law, Vol. 8, S. 434, 438. 57 Crawford, The Rights of Peoples: Some Conclusions, in: Crawford, The Rights of Peoples, S. 159, 161; Hillgruber, Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft, S. 433. 58 Vgl. Beispiele bei Dahm/ Delbrück/ Wolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1 (§ 58 V.3.), S. 375.
1. Kap.: Der völkerrechtliche Status Jammu und Kaschmirs
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dung von Gebietsstreitigkeiten nach dem Zweiten Weltkrieg einen empfindlichen Rückschlag erlitten habe.59 In dieselbe Kerbe schlägt Seiffert mit der Feststellung, daß angesichts der zahlreichen Gebietsabtretungen, die im Gefolge der beiden Weltkriege ohne Zustimmung der betroffenen Bevölkerung stattgefunden hätten, die Annahme der Unzulässigkeit einer Zession ohne Volksentscheid in der völkerrechtlichen Praxis der Zwischen- und der unmittelbaren Nachkriegszeit keinen festen Boden finde. 60 Dieser Befund wird durch eine Analyse der Praxis der Vereinten Nationen erhärtet. Die Aufbauphase der Vereinten Nationen war von einem individualrechtlichen Menschenrechtsansatz geprägt, in dessen Schatten die spezifischen Belange der Völker und Volksgruppen kaum Beachtung fanden. 61 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine Resolution der VN-Generalversammlung von 1952 über die Lösung territorialer Konflikte. Danach war der Wille der betroffenen Bevölkerung neben politischen, geographischen, ethnischen, kulturellen und verfassungsrechtlichen Erwägungen lediglich ein mitbestimmender „Faktor" für die Beilegung eines Gebietsstreites.62 Die Wende zur Ausgestaltung des Selbstbestimmungsrechtes als rechtliches Instrument trat erst mit der Verabschiedung der Dekolonisierungs-Deklaration 1514 (XV) durch die Generalversammlung im Jahre 1960 ein. Frühestens zu diesem Zeitpunkt kann davon gesprochen werden, däß das Selbstbestimmungsrecht territoriale Gestaltungskraft entwickelte.63 Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der VN-Charta dagegen beschränkte sich der rechtliche Gehalt des Selbstbestimmungsrechtes auf eine Verstärkung des Prinzips der souveränen Gleichheit, während die Selbstregierung kolonialer Gebiete lediglich eine moralische Zielvorgabe war. 64 Daher ist derjenigen Literaturmeinung der Vorzug zu geben, die von der Wirksamkeit der Beitrittserklärung des Maharajas trotz der Evidenz des entgegenstehenden Willens der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs ausgeht.65 Im Ergebnis ist festzuhalten, daß der Fürstenstaat Jammu und Kaschmir durch die Beitrittsver59
G. Zieger, Gebietsveränderungen und Selbstbestimmungsrecht, in: Blumenwitz/Meissner, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, S. 73, 81-83. 60
Seiffert, Selbstbestimmungsrecht und deutsche Vereinigung, S. 61. H. Hannum, Minorities, Indigenous Peoples, and Self-Determination, in: Henkin/Hargrove, Human Rights, S. 1,2. 62 GA Res. 648 (VII), GAOR, 7 t h Session, 402 nd Plenary Meeting, 10 December 1952, Annex, Supplement No. 20, S. 33, 35. 61
63 Vgl. dagegen noch Verzijl, International Law in Historical Perspective, Vol. 1, 1968, S. 324: „The ,right of self-determination 4 has ... always been the sport of national or international politics and has never been recognized as a genuine positive right of »peoples4 of universal and impartial application, and it never will, nor can be so recognized in the future." 64 Quane, The UN and the Evolving Right to Self-Determination, in: International and Comparative Law Quarterly, Vol. 47, Part 3, July 1998, S. 537, 547. 65 Oeter, The Right of Self-Determination in Transition, in: Law and State, Vol. 49/50, 1994, S. 147, 157. Für ein unbeschränktes Entscheidungsrecht der Fürsten auch: M. Mendelson, Self-Determination in Jammu and Kashmir, in: International Commission of Jurists, Human Rights in Kashmir, S. 141, 145.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
einbarung zwischen Lord Louis Mountbatten und Maharaja Hari Singh integraler Bestandteil der Indischen Union wurde.
I I I . Verpflichtung zur Abhaltung eines Plebiszites 1. Möglichkeit der Selbstbindung Indiens durch unilaterale Akte In einem unter dem 27. Oktober 1947 datierten Schreiben teilte Generalgouverneur Mountbatten Maharaja Hari Singh mit, die indische Regierung habe sein Beitrittsgesuch angenommen, hege aber den „Wunsch", die Beitrittsfrage der Bevölkerung „zur Entscheidung vorzulegen", sobald die Invasoren aus Jammu und Kaschmir vertrieben und Ruhe und Ordnung wiederhergestellt seien.66 Noch deutlicher wurde Premierminister Nehru in einer Rundfunkansprache, die am 2. November 1947 in Neu Delhi ausgestrahlt wurde. Darin betonte er, die indische Regierung habe den Beitritt unter der „Bedingung" angenommen, daß er sobald wie möglich von der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs „überprüft" werde. 67 In rechtlicher Hinsicht stellt sich die Frage, ob die von indischen Staatsorganen in der Frühphase des Kaschmirkonfliktes geäußerte Zustimmung zur Abhaltung eines Plebiszites Bindungswirkung entfaltete oder unter dem Vorbehalt außenpolitischer Revision stand. In zwei in den Rechtsausführungen gleichlautenden Entscheidungen über die völkerrechtliche Zulässigkeit der Durchführung atomarer Testversuche in der Erdatmosphäre durch Frankreich bejahte der IGH die Möglichkeit einer völkerrechtlichen Bindungswirkung öffentlicher Verlautbarungen von Staatsorganen, wenn diese mit Verpflichtungsbefugnis ausgestattet seien und mit Rechtsbindungswillen gehandelt hätten.68 Chinkin streicht im Zusammenhang mit diesen Entscheidungen 66 Schreiben Lord Mountbattens an Hari Singh vom 27. Oktober 1947: „In the special circumstances mentioned by Your Highness, my Government have decided to accept the accession of Kashmir State to the Dominion of India. In consistance with their policy that in the case of any State where the issue of accession has been the subject of dispute, the question of accession should be decided in accordance with the wishes of the people of the State, it is my Government's wish that, as soon as law and order have been restored in Kashmir and its soil cleared of the invader, the question of the State's accession should be settled by a reference to the people.", zitiert nach: Rahman, Divided Kashmir, S. 193. 67 Nehru, Independence and After, S. 55, 57: „We decided to accept this accession . . . , but we made a condition that the accession would have to be considered by the people of Kashmir later when peace and order were established. We were anxious not to finalise anything in a moment of crisis and without the fullest opportunity being given to the people of Kashmir to have their say. It was for them ultimately to decide. And here let me make clear that it has been our policy all along that where there is a dispute about the accession of a State to either Dominion, the decision must be made by the people of that State. It was in accordance with this policy that we added a proviso to the Instrument of Accession of Kashmir." 68 IGH, Nuclear Tests (Australia v. France), Judgment of 20 December 1974, I.C.J. Reports 1974, S. 253, 267 (§ 43) = IGH, Nuclear Tests (New Zealand v. France), Judgment of
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heraus, daß die Äußerungen der französischen Regierung an die internationale Rechtsgemeinschaft als solche gerichtet gewesen seien und daher Bindungswirkung nicht nur zwischen den streitführenden Parteien, sondern erga omnes entfaltet hätten.69 Die Haltung des IGH wird von der Staatenpraxis, u. a. von Indien selbst70, ebenso geteilt wie von der völkerrechtlichen Literatur, wobei zur dogmatischen Begründung auf Treu und Glauben, das Estoppel-Prinzip, das Verbot des venire contra factum proprium und den Rechtsgedanken des pacta sunt servanda zurückgegriffen wird. 71
2. Die Behandlung der Parallelkonflikte in Hyderabad und Junagadh Ebenso wie Maharaja Hari Singh weigerten sich auch der Nizam von Hyderabad und der Nawab von Junagadh im Schicksalsjahr 1947 beharrlich, zur Kenntnis zu nehmen, daß mit dem Abzug der Briten auch die Stunde der Feudalherrschaft auf dem indischen Subkontinent geschlagen hatte. Der moslemische Nizam von Hyderabad, das in Zentralindien liegt, mehrheitlich von Hindus bewohnt und vollständig von indischem Staatsgebiet umgeben war, strebte wie Hari Singh die Gründung eines unabhängigen Staates an, wurde von Indien aber mit Waffengewalt daran gehindert. Im August 1948 brachte die Regierung Hyderabads den Konflikt nach Art. 35 Abs. 2 S VN vor den Sicherheitsrat und warf Indien eine völkerrechtswidrige Aggression vor. 72 Indien verteidigte sein Vorgehen damit, die Mehrheit der Bevölkerung habe den Anschluß an die Indische Union gewünscht. Die Beratungen im Sicherheitsrat zogen sich über Jahre hin, ohne daß eine Resolution verabschie-
20 December 1974,1.C.J. Reports 1974, S. 457, 471 (§ 46): „It is well recognized that declarations made by way of unilateral acts, concerning legal or factual situations, may have the effect of creating legal obligations. ... When it is the intention of the State making the declaration that it should become bound according to its terms, that intention confers on the declaration the character of a legal undertaking, the state being thenceforth legally required to follow a course of conduct consistent with the declaration." Näher zu dieser Problematik: Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 106. 69 Chinkin, A Mirage in the Sand?, in: Leiden Journal of International Law, Vol. 10, No. 2, 1997, S. 223, 242. 70 V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 763 r d Meeting, 23 January 1957, S. 46 (§ 174). 71
Carreau, Droit International, S. 214, Rdnr. 581; Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 210; von Heinegg, Quellen des Völkerrechts, in: Ipsen, Völkerrecht, S. 212 f. (§ 18 I 2, Rdnr. 5 - 8 ) ; H. Steinberger, Allgemeine Regeln des Völkerrechts, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, S. 525, 538 f. m. w. Ν.; Takano, Einführung in das Völkerrecht, Bd. 2, S. 4; Wengler, Volkerrecht, Bd. 1, S. 306 f., unter Hinweis auf die Registrierung der Erklärung Ägyptens vom 24. April 1957 im Konflikt um den Suez-Kanal nach Art. 102 SVN. 72 Schreiben des Außenministers Hyderabads Z. Ahmed an den Präsidenten des Sicherheitsrates vom 21. August 1948, UN-Doc. S/986, SCOR, 3 r d Year, Supplement for September 1948, S. 5.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
det wurde. Im Gegensatz zu Kaschmir wurde im Falle Hyderabads die Argumentation Indiens, d. h. seine Annexion, stillschweigend akzeptiert. Im Westen Indiens erklärte der moslemische Nawab von Junagadh den Beitritt seines mehrheitlich von Hindus bewohnten und bis auf einen schmalen Küstenstreifen gänzlich von indischem Gebiet umschlossenen Fürstenstaates zu Pakistan. Pakistan nahm die Beitrittserklärung an. Daraufhin zog die indische Regierung Truppen um das Gebiet von Junagadh zusammen, ermunterte eine „provisorische Exilregierung" zu Agitation von indischem Boden aus und ließ, nachdem der Nawab am 26. Oktober 1947 im Gefolge von Unruhen nach Pakistan geflohen war, „zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung" indische Verbände einmarschieren. 73 Mit der Begründung, die Entscheidung des moslemischen Nawabs sei gegen den mutmaßlichen Willen der hinduistischen Mehrheitsbevölkerung ausgefallen, ließ die indische Regierung zur Klärung des völkerrechtlichen Status Junagadhs ein Plebiszit durchführen. Unter Umständen, die alles andere als das Prädikat frei und fair verdienen, wurde darin der Anschluß an Indien bestätigt.74 Neu Delhi hat sich stets gegen eine parallele Bewertung der umstrittenen Beitrittsfälle verwahrt und immer wieder betont, die Lage in Junagadh sei mit der in Jammu und Kaschmir schon deshalb nicht zu vergleichen gewesen, weil die maßgeblichen politischen Parteien in Jammu und Kaschmir den Anschluß an Indien unterstützt hätten.75 Diese Behauptung tut den historischen Tatsachen indes Gewalt an. Das politische Spektrum in Jammu und Kaschmir wurde in der Phase der Unabhängigkeit von der National Conference und der Muslim Conference beherrscht. Während Sheikh Abdullah eine Assoziation mit Indien angestrebt haben mag, sprach sich die Muslim Conference in einer Resolution vom Juli 1947 offen für einen Beitritt zu Pakistan aus. 76 Die Ähnlichkeiten der Ausgangslage in Hyderabad, Junagadh und Jammu und Kaschmir sind augenfällig. In allen drei Fällen maßte sich der Herrscher eines Fürstenstaates eine Entscheidung in der Beitrittsfrage an, die dem mutmaßlichen Willen der Bevölkerungsmehrheit widersprach. 77 Die unterschiedliche Handhabung hat Indien (Pakistan im übrigen genauso) den Vorwurf einer inkonsistenten Haltung in der Beitrittsfrage eingetragen. Es bleibt unverständlich, warum die indische Regierung in Junagadh ein Plebiszit für erforderlich hielt, während sie glaubte, in Jammu und Kaschmir darauf verzichten zu können. Der VN-Gesandte Kubas brachte es auf den Punkt, als er im Februar 1957 im Si73 Stephens, Pakistan, S. 194 f. 74 G. Ayyangar (Indien), SCOR, 3 r d Year, 264 th Meeting, 8 March 1948, S. 47, präsentierte dem Sicherheitsrat folgendes Abstimmungsergebnis: Für Anschluß an Indien: 190.779 Stimmen, für Anschluß an Pakistan: 91 Stimmen, NichtWähler: 9.699. 75 B.N. Rau (Indien), SCOR, 5 t h Year, 466 th Meeting, 10 February 1950, S. 8; Stellungnahme der indischen Regierung zum Entwurf des Kaschmir-Berichtes der I.C.J., in: International Commission of Jurists, Human Rights in Kashmir, S. 99, 108 (§ 29). 76 Chaudhry, Der Kaschmirkonflikt, Bd. 1, S. 104. 77 Die Bevölkerung in Jammu und Kaschmir bestand einer Volkszählung von 1941 zufolge aus 77% Moslems und 20% Hindus, vgl.: Goldstein, Wars and Peace Treaties, S. 85.
1. Kap.: Der völkerrechtliche Status Jammu und Kaschmirs
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cherheitsrat erklärte, Indien habe sich in den Fällen Hyderabad und Junagadh auf das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Bevölkerung berufen; daran müsse es sich bei der Lösung des Kaschmirkonfliktes festhalten lassen.78
3. Das Junktim von Beitritt und Plebiszit in der Kaschmirpolitik Indiens und Pakistans Pakistan hat während der gesamten Dauer des Kaschmirkonfliktes an seinem Standpunkt festgehalten, daß Jammu und Kaschmir umstrittenes Gebiet sei und die Entscheidung über seine völkerrechtliche Zugehörigkeit zu Indien oder Pakistan in einem Plebiszit unter Aufsicht der Vereinten Nationen getroffen werden müsse.79 Eine Selbstbindung Pakistans zur Abhaltung eines Plebiszites kann daher unproblematisch angenommen werden. Die Haltung Indiens zur Frage des Plebiszites ist komplexer. Anfänglich pflichtete die Regierung Nehru dem Vorschlag, den Kaschmirkonflikt durch Abhaltung eines Plebiszites beizulegen, vollmundig bei. Nach Annahme der UNCIP-Resolutionen durch die Konfliktparteien schien eine Einigung über die Modalitäten eines Plebiszites zum Greifen nahe. Im Laufe der fünfziger Jahre rückte Indien von seiner ursprünglichen Position jedoch immer weiter ab und lehnte die Überprüfung des Beitrittes durch Volksentscheid schließlich offen ab. Nach der Kehrtwende Neu Delhis in der Plebiszitfrage haben es indische Regierungsvertreter nicht an Versuchen fehlen lassen, die Äußerungen Mountbattens und Nehrus zu relativieren. Krishna Menon erklärte im Februar 1957 im Sicherheitsrat, Mountbatten habe in seinem Schreiben an den Maharaja die Formulierung „Vorlage der Kaschmirfrage" mit Bedacht gewählt, um deutlich zu machen, daß die Abhaltung eines Plebiszites neben Wahlen und der Durchführung einer „Meinungsumfrage" nur eine von mehreren Möglichkeiten sei, um den Volkswillen zu konsultieren. 80 Diese sprachliche Spitzfindigkeit wurde später noch um eine rechtliche Pointe ergänzt. In ihrer Stellungnahme zum Berichtsentwurf der Internationalen Juristenkommission über die Menschenrechtslage in Kaschmir vertrat die indische Regierung die Auffassung, die Zusicherung Lord Mountbattens habe einem Teil des Staatsvolkes Indiens gegolten und könne daher nicht völkerrechtlicher, sondern, wenn überhaupt, nur verfassungsrechtlicher Natur sein.81 Aus der Zusam78 Nunez-Portuondo (Kuba), SCOR, 12 th Year, 768 th Meeting, 15 February 1957, S. 20 (§ 87). 79 F.K. Noon (Pakistan), SCOR, 12 th Year, 774 th Meeting, 21 February 1957, S. 3 f. (§ 13): „The question of the accession of the State of Jammu and Kashmir to Pakistan or to India is a matter in dispute between Pakistan and India. The dispute involves in essence the right to self-determination of the people of the State on this disputed question of accession." Vgl. ferner: Letter dated 14 May 1990 from the Minister for Foreign Affairs of Pakistan addressed to the President of the Security Council, UN-Doc. S/21297, 16 May 1990, S. 3, (§ 9). so V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 763 r d Meeting, 23 January 1957, S. 38 (§ 151).
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
menschau öffentlicher Äußerungen und privater Korrespondenz indischer Diplomaten und Kabinettsmitglieder kann man leicht den Eindruck gewinnen, die indische Regierung habe die Bevölkerung Jammu und Kaschmirs von Anfang an lediglich als potentiellen Störfaktor des von langer Hand geplanten Anschlusses auf der Rechnung gehabt und sei trotz aller Verbalartistik nicht bereit gewesen, der Abhaltung eines Plebiszites zuzustimmen, solange auch nur die Spur eines Zweifels an einem Votum zugunsten Indiens bestanden habe.82 Insbesondere Nehru, der aus einer einflußreichen Pandit-Familie aus dem Kaschmirtal stammte, dürfte dem Ausgang eines Plebiszites kaum gleichgültig gegenübergestanden haben.83 Für die rechtliche Bewertung kommt es allerdings nicht auf den inneren Willen (oder geheimen Vorbehalt) der indischen Amtsträger, sondern allein auf den objektiven Erklärungswert ihrer Äußerungen zum Plebiszit an. Im März 1948 erklärte Nehru vor der Verfassunggebenden Versammlung Indiens, die indische Regierung stehe nach wie vor zu ihrer „unilateralen Erklärung", daß sie sich in der Kaschmirfrage dem in einem „Plebiszit oder Referendum" manifestierten Willen der betroffenen Bevölkerung fügen werde. 84 Aus dem Gebrauch des Rechtsbegriffes der unilateralen Erklärung und der Bezugnahme auf einen konkreten Ausübungsmodus des Selbstbestimmungsrechtes darf vom Empfängerhorizont auf das Vorliegen eines Rechtsbindungswillens Nehrus zur Durchführung eines Plebiszites geschlossen werden. Mehr Chand Mahajan, der im Herbst 1947 die Beitrittsverhandlungen für den Maharaja geführt hatte, will aus den Gesprächen mit Nehru zwar den Eindruck 81 Stellungnahme der indischen Regierung zum Entwurf des Kaschmir-Berichtes der I.C.J., in: International Commission of Jurists, Human Rights in Kashmir, S. 99, 109. 82 G. Ayyangar (Indien), SCOR, 3 r d Year, 227 th Meeting, 15 January 1948, S. 20: ,Jt was clear to my Government - as indeed it was clear to everybody else - that peace in Kashmir could never be restored or maintained without the support of the people." Schreiben Nehrus an Maharaja Hari Singh unter dem 1. Dezember 1947: „It is of the most vital importance that Kashmir should remain within the Indian Union. ... But however much we may want this, it cannot be done ultimately except through the goodwill [Hervorhebung d. Verf.] of the mass of the population.", zitiert nach: Das, Patel's Correspondence, Vol. 1, No. 88, S. 101, 103. Vom Willen des Volkes ist bezeichnenderweise nicht die Rede. A. Bänziger, Minderheiten im Teufelskreis, in: Süddeutsche Zeitung, 28. Mai 1999, Nr. 120, S. 2, bilanziert: „Jede Regung von Eigenständigkeit wurde schon zu Nehrus Zeiten als Verrat empfunden, und die politische Entwicklung des Gliedstaates [Jammu und Kaschmir] wurde von der Zentralregierung in Delhi eifersüchtig überwacht und manipuliert." 83 Lord Louis Mountbatten beschreibt Nehru dagegen als einen Mann, der Pflicht stets über Neigung gestellt habe: „From the beginning, [Nehru] confessed he was deeply involved in Kashmir. He was a Kashmiri Brahmin, it was his home. But he was a man of highest integrity and intellect. He would not have dreamt of trying to coerce Kashmir into India on account of his emotional attachment.", zitiert nach: Collins/ Lapierre, Mountbatten and Independent India, S. 59. 84 Nehru, Independence and After, S. 73, 84: „Even at the moment of accession we went out of our way to make a unilateral declaration that we would abide by the will of the people of Kashmir as declared in a plebiscite or referendum. ... We have adhered to that position throughout and we are prepared to have a plebiscite, with every protection for fair voting, and to abide by the decision of the people of Kashmir."
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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gewonnen haben, dieser habe auch die Ratifizierung des Beitrittsabkommens durch frei gewählte Volksvertreter als Form eines Plebiszites verstanden.85 Der Wortsinn des Begriffes Plebiszit findet seine Grenze aber dort, wo die Stimmabgabe nicht mehr unmittelbar zur Entscheidung in der Sache führt. In Anbetracht der Eindeutigkeit der Formulierungen indischer Staatsmänner, der hohen Bedeutung der Kaschmirfrage für die Glaubwürdigkeit indischer Sicherheitspolitik und des massiven außenpolitischen Drucks, der wegen der Annahme der Beitrittserklärung auf der indischen Regierung lastete,86 durften die Bewohner Jammu und Kaschmirs und die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen nach Treu und Glauben davon ausgehen, daß die indische Regierung die völkerrechtliche Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs zur Disposition der betroffenen Bevölkerung stellen werde. Die Begründung einer Rechtspflicht zur Abhaltung eines Plebiszites berührt die Gültigkeit des Beitrittes insofern, als dieser nunmehr unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Bevölkerung steht.
2. Kapitel
Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen I. Die Anrufung des VN-Sicherheitsrates durch Indien Am 1. Januar 1948 brachte die indische Regierung den Kaschmirkonflikt nach Art. 35 Abs. 1 SVN vor den Sicherheitsrat. 87 Indien beschuldigte Pakistan, den Invasoren, zu denen neben pathanischen Stammeskriegern auch pakistanische Staatsangehörige zählten, Transit zu gewähren und die Unterhaltung von Stützpunkten auf pakistanischem Staatsgebiet zu dulden. Ferner warf Indien der pakistanischen Regierung logistische Unterstützung sowie militärische Ausbildung und Beratung der Invasoren vor. Indien verband seine Anschuldigungen mit der Warnung, es be8
5 Mehr Chand Mahajan, Accession of Kashmir to India, in: Vidya Mahajan, Chief Justice Mehr Chand Mahajan, S. 213, 234. Wie ungehalten die britische Regierung über die „provisorische" Annahme der Beitrittserklärung durch Indien war, wird deutlich an einem Telegramm, das sie im November 1947 an ihre Vertretungen in Delhi und Karachi schickte, vgl. Jha, Kashmir 1947, S. I l l f.: „Kashmir should have acceded to Pakistan. This was the natural course for it to have followed. ... The Government of India made provocative mistakes in accepting even provisionally the accession of Kashmir to India. Military help could have been sent without accepting the accession of the State." 87
Schreiben des VN-Gesandten Indiens Pillai an den Präsidenten des Sicherheitsrates vom 1. Januar 1948, UN-Doc. S/628, in: Interim Report of the UN Commission for India and Pakistan, S/1100, SCOR, 3 r d Year, Supplement for November 1948, Annex 28, S. 139144. 4 Honig
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
halte sich vor, die widerrechtlichen Eindringlinge in Zukunft auch auf pakistanischem Staatsgebiet zu bekämpfen, und ersuchte den Sicherheitsrat, Pakistan aufzufordern, jegliche Hilfeleistung an die Rebellen einzustellen und es wegen seiner „Aggression" zu verurteilen. Hintergrund der diplomatischen Initiative Nehrus war die militärische Pattsituation in Kaschmir. Die Offensive der indischen Verbände war im Winter 1947 steckengeblieben, und die indische Regierung rechnete sich gute Chancen aus, Pakistan durch die Brandmarkung als Aggressor diplomatisch aus dem Felde zu schlagen. Dabei vertraute sie zum einen auf die völkerrechtliche Gültigkeit des vollzogenen Beitritts, zum anderen auf eine pro-indische Haltung unter der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs dank der Einsetzung des populären Sheikh Abdullah als Premierminister. Sehr zur Enttäuschung Nehrus vermied der Sicherheitsrat eine Stellungnahme in der Sache und appellierte stattdessen an die Regierungen Indiens und Pakistans, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um zur Beruhigung der Lage in Jammu und Kaschmir bei zutragen. 88 Gemäß Art. 34 SVN wurde eine Kommission (UN Commission for India and Pakistan = UNCIP) eingesetzt, deren Mandat darin bestand, die Lage vor Ort zu erkunden und sich in Tuchfühlung mit dem Sicherheitsrat um eine Vermittlung zwischen den Konfliktparteien zu bemühen.89 Am 21. April 1948 verabschiedete der Sicherheitsrat auf Grundlage eines von Belgien, Kanada, China, Kolumbien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten eingebrachten Entwurfes Resolution 47, welche konkrete Empfehlungen zur militärischen Deeskalation der Lage enthielt und umfangreiche Vorschläge zur Durchführung eines Plebiszites auf dem umstrittenen Gebiet unterbreitete. 90 Zunächst solle Pakistan für den Rückzug der Stammeskrieger aus Jammu und Kaschmir Sorge tragen, weiterer Infiltration einen Riegel vorschieben sowie Hilfslieferungen für die Rebellen unterbinden. Sobald die VN-Kommission für Indien und Pakistan sich des Rückzuges der Freischärler und der Einhaltung der Waffenruhe versichert habe, solle Indien seine Truppen auf ein Mindestmaß reduzieren und so stationieren, daß eine Einschüchterung der Bevölkerung und eine Bedrohung Pakistans ausgeschlossen sei. Zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung solle in größtmöglichem Umfang auf lokale Sicherheitskräfte zurückgegriffen werden. Sollten diese ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, werde die Kommission in Absprache mit den Regierungen Indiens und Pakistans reguläre Truppen einer der beiden Dominien zum Einsatz in Kaschmir abordnen. Auf der Grundlage dieser Sicherheitsvorkeh-
88 SC Res. 38 (1948), S/651, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 3 r d Year, 229 th Meeting, 17 January 1948, S. 1 - 2 . 89 SC Res. 39 (1948), S/654, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 3 r d Year, 230 th Meeting, 20 January 1948, S. 2 - 3 . Die Kommission bestand aus Vertretern von insgesamt fünf VN-Mitgliedsstaaten: Tschechoslowakei (von Indien berufen), Argentinien (von Pakistan berufen), Belgien, Kolumbien (vom Sicherheitsrat berufen) und den USA (vom Präsidenten des Sicherheitsrates ernannt). 90 SC Res. 47 (1948), S/726, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 3 r d Year, 286 th Meeting, 21 April 1948, S. 3 - 8 (Anhang III).
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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rungen solle ein Plebiszit stattfinden, in dem die Bevölkerung Jammu und Kaschmirs in freier und fairer Abstimmung über einen Anschluß an Indien oder Pakistan entscheiden werde. Die Resolution zog die Interessen Indiens und Pakistans ins Kalkül, ohne für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen. Die Staffelung des Rückzuges trug Forderungen der indischen Regierung Rechnung, die Generalgouverneur Mountbatten bereits auf der Lahore Konferenz im November 1947 erhoben hatte.91 Der Sicherheitsrat enthielt sich aber einer Bewertung der Gültigkeit des Beitrittes und der Verantwortlichkeit Pakistans für den Einfall der Stammeskrieger. Die Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs zu Indien und die Feststellung einer Aggression von Seiten Pakistans bildeten aber die Axiome einer für Indien akzeptablen Lösung der Kaschmirfrage. Entsprechend scharf fiel die Kritik Indiens an der Resolution aus.92 Die Resolution mache nicht hinreichend deutlich, daß Indien das Recht zustehe, seine Truppen auf dem gesamten Gebiet Jammu und Kaschmirs zu stationieren. Auch müßten nach einer Demilitarisierung genügend indische Truppen in Jammu und Kaschmir verbleiben, um seine äußere Sicherheit gewährleisten zu können. Keinesfalls dürfe zur Unterstützung der lokalen Sicherheitskräfte auf pakistanische Verbände zurückgegriffen werden. Diese hätten in Kaschmir nichts zu suchen. Auch gingen die in der Resolution vorgeschlagenen Befugnisse des VN-Plebiszit-Beauftragten zu weit. Die Abhaltung einer Volksbefragung dürfe nicht die „souveränen Rechte des Staates Jammu und Kaschmir" beschneiden. Die pakistanische Regierung zeigte sich von der Resolution ebenfalls enttäuscht.93 Der Verbleib indischer Truppen in Jammu und Kaschmir berge ein Sicherheitsrisiko für Pakistan und setze die Moslembevölkerung der Gefahr willkürlicher Schikanierung und Einschüchterung aus. Pakistanische Truppen müßten zur Überwachung der Waffenruhe und des Rückzuges der Stammeskrieger zumindest in solchen Gebieten Jammu und Kaschmirs stationiert werden, die überwiegend von Moslems bewohnt seien. Im Gegenzug sei Pakistan bereit, seine Truppen dem Oberbefehl der VN-Kommission für Indien und Pakistan zu unterstellen. Außerdem müsse die Regierung Sheikh Abdullahs im Interesse eines fairen und unparteiischen Plebiszites durch eine mit Vertretern der National Conference, der Muslim Conference und der Regierung Azad Kaschmirs paritätisch besetzte provisorische Koalitionsregierung ersetzt werden. 94 Angesichts der großen Differenzen zwischen 91
Lamb, Kashmir - A Disputed Legacy, S. 160. 92 G. Ayyangir (Indien), SCOR, 3 r d Year, 285 th Meeting, 19 April 1948, S. 14-18; Schreiben des VN-Gesandten Indiens Pillai an den VN-Generalsekretär vom 15. Mai 1948, UNDoc. S/756, SCOR, 3 r d Year, Supplement for May 1948, S. 93; P.P. Pillai (Indien), SCOR, 3 r d Year, 304 th Meeting, 26 May 1948, S. 4 - 6 . 93 M.Z. Khan (Pakistan), SCOR, 3 r d Year, 285 th Meeting, 19 April 1948, S. 28-47; Schreiben des pakistanischen Außenministers M.Z. Khan an den Präsidenten des Sicherheitsrates vom 30. April 1948, UN-Doc. S/735, SCOR, 3 r d Year, Supplement for May 1948, S. 40-42. 4*
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1. Teil: Vlkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
Indien und Pakistan nahm der Sicherheitsrat Abstand von eigenen Vermittlungsbemühungen und überließ das weitere Vorgehen der VN-Kommission für Indien und Pakistan.
II. Die Resolutionen der VN-Kommission für Indien und Pakistan 1. Inhalt der UNCIP-Resolutionen vom 13. August 1948 und 5. Januar 1949 Nach Gesprächen in Karachi legte die VN-Kommission für Indien und Pakistan den Konfliktparteien am 13. August 1948 eine Resolution zur Annahme vor, die konkrete Vorschläge zur Lösung der Krise enthielt. Schrittweise sollte eine Waffenruhe vereinbart, ein Truppenrückzug ins Werk gesetzt und mit der Aufnahme von Verhandlungen über ein Plebiszit begonnen werden. 95 Teil 1 der Resolution regelte die Modalitäten einer Waffenruhe. Teil 2 präsentierte das Modell eines zeitlich gestaffelten Truppenrückzuges als Grundlage für eine Waffenstillstandsvereinbarung. Danach sollte Pakistan seine Truppen und die Stammeskämpfer aus Jammu und Kaschmir zurückziehen und die Verwaltung in die Hände lokaler Behörden legen, während Indien nach Benachrichtigung von dem Rückzug durch die Kommission den „Großteil seiner Truppen" (bulk of its forces) zurückzuziehen und Vorkehrungen zum Schutz der Menschenrechte und politischen Grundfreiheiten zu treffen hatte. Teil 3 sah eine Absichtserklärung Indiens und Pakistans zur Abhaltung eines Plebiszites und zur Aufnahme entsprechender Verhandlungen mit der Kommission vor. Die Resolution wurde dahingehend ausgelegt, daß die Einhaltung einer Feuerpause, die Vereinbarung eines Waffenstillstandes und die Durchführung eines Plebiszites einzelne Stufen eines Gesamtplanes darstellten, die nacheinander erfüllt werden müßten.96 94
Die pakistanische Regierung vertrat die Auffassung, Sheikh Abdullah könne mangels demokratischer Legitimation nicht im Amt bleiben, wenn das Plebiszit vorbereitet und durchgeführt werde, vgl. M.Z. Khan (Pakistan), SCOR, 3 r d Year, 266 th Meeting, 10 March 1948, S. 73. Indien widersprach mit dem Hinweis, jeder Versuch, die Regierung eines souveränen Staates durch eine Behörde von außen zu ersetzen, sei aus verfassungsrechtlichen Gründen abzulehnen, vgl. G. Ayyangar (Indien), SCOR, 3 r d Year, 266 th Meeting, 10 March 1948, S. 68. Sheikh Abdullah wies darauf hin, daß eine unparteiliche Führung der Regierungsgeschäfte nicht möglich sei, vgl. Sheikh Abdullah (Indien), SCOR, 3 r d Year, 241st Meeting, 5 February 1948, S. 23: „Frankly speaking, even if the Security Council were to request Almighty God to administer the State of Jammu and Kashmir during this interim period, I do not feel that He could act impartially. After all, one must have sympathy either for this side or that side." 95 UNCIP-Resolution vom 13. August 1948, in: Interim Report of the UN Commission for India and Pakistan, S/1100, SCOR, 3 r d Year, Supplement for November 1948, S. 17, 32-34 (§ 75), vgl.: An- hang IV. 96 Lodge (USA), SCOR, 12 th Year, 768 th Meeting, 15 February 1957, S. 7 (§ 15); Urrutia (Kolumbien), a. a. O., S. 15 f. (§ 67).
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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Indien nahm die Resolution unter Interpretationsvorbehält an. 97 Pakistan lehnte sie zunächst ab. 98 Der Verbleib indischer Truppen in Jammu und Kaschmir sei nicht hinnehmbar. Außerdem fehlten nähere Bestimmungen über das Plebiszit, wie sie in Resolution 47 des Sicherheitsrates vorgesehen seien. Nehru wiederum weigerte sich, mit der Kommission in Verhandlungen über die Einwände der pakistanischen Seite einzutreten oder direkte Verhandlungen mit Pakistan aufzunehmen. 99 In einer Analyse der Ursachen für die Weigerung Indiens und Pakistans, die Resolution anzunehmen, nannte die Kommission die diametral entgegengesetzten Prioritäten beider Länder. Während Indien erst nach Abschluß eines Waffenstillstandes über die Bedingungen eines Plebiszites zu verhandeln bereit gewesen sei, habe Pakistan einen Waffenstillstand von einem Konsens über die Details in der Plebiszitfrage abhängig gemacht. 100 Die Kommission versuchte, den Vorbehalten beider Seiten Rechnung zu tragen, indem sie am 5. Januar 1949 eine weitere Resolution zu Fragen der Durchführung eines Plebiszites verabschiedete, diese aber inhaltlich an die August-Resolution des vorangegangenen Jahres koppelte. In der Resolution vom 5. Januar 1949 finden sich daher ausführliche Bestimmungen über den Zeitpunkt des Plebiszites, die Einsetzung und Befugnisse eines Plebiszit-Administrators, Entscheidungskompetenzen und Kooperationspflichten in Fragen der Truppenstationierung beiderseits der Waffenstillstandslinie, die Repatriierung von Flüchtlingen und die Gewährleistung rechtsstaatlicher Verhältnisse. 101 Die Strategie der Kommission ging auf. Indien und Pakistan nahmen beide Resolutionen als Paket an. Ungeachtet der offenen Fragen unterzeichneten Vertreter Indiens und Pakistans im Juli 1949 unter der 97
Schreiben des indischen Premierministers Nehru an den Vorsitzenden der Kommission vom 20. August 1948, in: Interim Report of the UN Commission for India and Pakistan, S/ 1100, SCOR, 3 r d Year, Supplement for November 1948, S. 17, 34-36 (§ 78). 98
Schreiben des pakistanischen Außenministers Khan an die Kommission vom 6. September 1948, in: Interim Report of the UN Commission for India and Pakistan, S/1100, SCOR, 3 r d Year, Supplement for November 1948, S. 17,41 - 4 5 (§ 97). 99 Interim Report of the UN Commission for India and Pakistan, S/1100, SCOR, 3 r d Year, Supplement for November 1948, S. 17, 47 (§ 103). Geiger, Die Kaschmirfrage im Lichte des Völkerrechts, S. 206-209, hält den Umstand, daß Pakistan auf die mit einem Interpretationsvorbehalt versehene Annahmerklärung Indiens erst nicht antwortete und ihr dann am 30. Mai 1949 widersprach, für unbeachtlich. Die Erklärung Indiens sei als Ablehnung der UNCIP-Resolution verbunden mit einem modifizierten Angebot zu qualifizieren. Dieses Angebot habe Pakistan mangels rechtzeitigen Widerspruchs angenommen. Im Völkerrecht gelte Schweigen auf ein Angebot als Annahme. Auch wenn diese Argumentation angreifbar ist, kommt man zum selben Ergebnis, wenn man die Resolutionen als Einheit versteht, die Indien und Pakistan en bloc annahmen. Das Ergebnis der Annahme steht heute außer Streit. 100 Interim Report of the UN Commission for India and Pakistan, S/1100, SCOR, 3 r d Year, Supplement for November 1948, S. 17, 56 (§ 148 f.). ιοί UNCIP Resolution vom 5. Januar 1949, in: UNCIP: Second Interim Report, UN-Doc. S/1196, SCOR, 4 t h Year, Supplement for January 1949, S. 20, 23-26 (§ 15), vgl. Anhang IV.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
Schirmherrschaft des Waffenstillstands-Unterkomitees der VN-Kommission für Indien und Pakistan ein Abkommen über die Demarkation einer Waffenstillstandslinie in Jammu und Kaschmir. 102
2. Rechtsqualität der UNCIP-Resolutionen Der Sicherheitsrat stellte in verschiedenen Resolutionen klar, Indien und Pakistan hätten die UNCIP-Resolutionen „angenommen".103 Wenn in diesem Punkt auch Einigkeit besteht, gehen die Meinungen über die Frage, was die Annahme rechtlich bedeutet, weit auseinander. Der pakistanische Außenminister erklärte in einem Schreiben an den Präsidenten des Sicherheitsrates vom Januar 1957, Indien und Pakistan hätten durch die Annahme der Resolutionen ein „internationales Abkommen" geschlossen.104 Der indische VN-Gesandte Krishna Menon beharrte dagegen auf dem Standpunkt, die Resolutionen enthielten unverbindliche Empfehlungen. In der Resolution vom 13. August 1948 sei lediglich die Rede vom „Wunsch" der Regierungen, ein Plebiszit abzuhalten. Aus der Bekundung eines Wunsches könne keine völkerrechtliche Verpflichtung abgeleitet werden. 105 Menon verkennt jedoch, daß die Resolution vom 13. August 1948 im Verbund mit der vom 5. Januar 1949 zu sehen ist. In letzterer heißt es aber nicht, daß die Frage des Beitrittes des Staates Jammu und Kaschmir zu Indien oder Pakistan durch ein freies und gleiches Plebiszit entschieden werden solle, sondern entschieden werde. 106 102 United Nations Treaty Series, Vol. 81, No. 1076. 103 Präambel SC Res. 91 (1951), UN-Doc. S / 2017/ Rev. 1, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 1951, 6 t h Year, 539 th Meeting, 30 March 1951, S. 1, 2: „Observing that the Governments of India and Pakistan have accepted the provisions of the United Nations Commission for India and Pakistan resolutions of 13 August 1948 and 5 January 1949"; SC Res. 98 (1952), UN-Doc. S/2883, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 1952, 7 t h Year, 611 th Meeting, 23 December 1952, S. 1: „[Recalling the provisions of the United Nations Commission for India and Pakistan resolutions of 13 August 1948 and 5 January 1949 which were accepted by the Governments of India and Pakistan". 104 Letter dated 2 January 1957 from the Minister for Foreign Affairs of Pakistan F.K. Noon addressed to the President of the Security Council, SCOR, 12th Year, Supplement for January, February and March 1957, S. 1, 3 (§ 9). In einem Schreiben an den Präsidenten des Sicherheitsrates vom 14. Mai 1990 bekräftigt der pakistanische Außenminister, Indien und Pakistan seien durch die Resolutionen „gebunden", vgl.: UN-Doc. S/21297, 16 May 1990, S. 3 (§ 9). Geiger, Die Kaschmirfrage im Lichte des Völkerrechts, S. 206 - 209, kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, Indien und Pakistan hätten mit der Annahme der beiden UNCIP-Resolutionen ein Abkommen über die Abhaltung eines Plebiszites zur Lösung des Kaschmirkonfliktes geschlossen. Chaudhry, Der Kaschmirkonflikt, Bd. 2, S. 204, vertritt die Ansicht, Indien und Pakistan seien eine Rechtspflicht des Inhaltes eingegangen, den Kaschmirkonflikt durch die Abhaltung eines Plebiszites beizulegen. 105 V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 763 r d Meeting, 23 January 1957, S. 10 (§ 45), S. 46 (§ 176), 773 r d Meeting, 20 February, S. 20 (§ 91); so auch: Raina, Kashmir: Global Untruths Exploded, S. 40.
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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Der Sicherheitsrat hat sich in der Beurteilung der Frage, ob die UNCIP-Resolutionen Rechtspflichten Indiens und Pakistans begründen, große Zurückhaltung auferlegt. Die Präambel der Resolution vom 14. März 1950 ist folgendermaßen gefaßt: „Commending the Governments of India and Pakistan for their statesmanlike action in reaching the agreements [Hervorhebung des Verf.] embodied in the United Nations Commission's resolutions of 13 August 1948 and 5 January 1949 .. . " . 1 0 7 Der Begriff agreement kann sowohl eine unverbindliche Übereinkunft als auch ein rechtsverbindliches Abkommen bezeichnen.108 Einen zuverlässigen Anhaltspunkt für die Beurteilung der Rechtsnatur der UNCIP-Resolutionen durch den Sicherheitsrat gibt die Resolution daher nicht. In einem vom Sicherheitsrat ausdrücklich gebilligten Schreiben des Präsidenten des Sicherheitsrates an die Präsidenten Indiens und Pakistans wird an die „commitments [Hervorhebung des Verf.] of the parties to determine the future accession of the State by a fair and impartial plebiscite conducted under United Nations auspices" erinnert. 109 Auch die Bedeutung des Begriffes commitment ist ambivalent. Er wird als Synonym für pledge oder promise , also ein rechtlich unverbindliches Versprechen, aber auch für obligation, also eine Rechtspflicht, verwandt. 110 Syed Manzoor Gilani, Richter am Azad Jammu and Kashmir High Court in Muzzafarabad, streicht heraus, Indien und Pakistan hätten die UNCIP-Resolutionen nicht nur angenommen, sondern mit der Vereinbarung eines Waffenstillstandes, der Stationierung von VN-Militärbeobachtern und der Zustimmung zu den VN-Vermittlungsbemühungen unter McNaughton, Dixon, Graham und Jarring auch nach ihnen gehandelt.111 Für die Bejahung einer Rechtspflicht hat dies insofern indizielle Bedeutung, als nicht nur die sprachliche Fassung einer Vereinbarung und die Umstände ihres Zustandekommens, sondern auch die nachfolgenden Handlungen der Parteien einen Anhaltspunkt für das Vorliegen eines Rechtsbindungswillens bieten. 112 Der niederländische VN-Gesandte von Balluseck vertrat 106 i m Wortlaut: „The question of the accession of the State of Jammu and Kashmir to India or Pakistan will [Hervorhebung d. Verf.] be decided through the democratic method of a free and impartial plebiscite.", vgl. Anhang IV. V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 763 rd Meeting, 23 January 1957, S. 18 (§ 70), versuchte sich in folgender Interpretation: „As everybody will notice, it says ,will be decided4 - a simple futurity. It does not say ,shall be decided4.", worauf der pakistanische Außenminister F.K. Noon, SCOR, 12 th Year, 766 th Meeting, 30 January 1957, S. 10 (§ 34), entgegnete: „Of course, grammarians may remind us that ,1 will' corresponds to ,you shall', just as ,1 shall4 corresponds to ,you will 4 . 44 107 SC-Res. 80 (1950), UN-Doc. S/1469, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 1950, 5 t h Year, 470 th Meeting, 14 March 1950, S. 1 f. 108 Stein, The Random House Dictionary of the English Language, S. 29: „Agreement ranges in meaning from mutual understanding to binding obligation.44 109 Decision of 29 May 1951, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 6 t h Year, 1951, 548 th Meeting, S. 4, 5.
no Stein, The Random House Dictionary of the English Language, S. 296. m Justice M.H. Gilani, The United Nations on trial in Kashmir, in: The News International (Rawalpindi), April 27, 1992, S. 6.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
unter dem Beifall der amerikanischen und britischen Delegation im Sicherheitsrat den überzeugenden Standpunkt, Indien und Pakistan hätten mit der Annahme der UNCIP-Resolutionen nicht nur das Recht der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs anerkannt, den zukünftigen politischen Status des Fürstenstaates selbst zu bestimmen, sondern auch die ihnen obliegende Pflicht, die Bedingungen für die Ausübung dieses Rechtes zu schaffen. 113 Rechtlich gesehen ergibt sich daraus dreierlei. Erstens sind die UNCIP-Resolutionen als verbindliche Rahmenvereinbarung zwischen Indien und Pakistan über die Beilegung des Kaschmirkonfliktes durch Abhaltung eines Plebiszites zu qualifizieren. Sie erzeugen Rechte und Pflichten zwischen den Parteien. Zweitens erschöpfen sich die Rechtspflichten der Parteien nicht in der Aufnahme von Verhandlungen. Vielmehr sind diese gehalten, die Verhandlungen nach Treu und Glauben zu führen und zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen. Anders ausgedrückt, handelt es sich bei den UNCIP-Resolutionen um einen pactum de contrahendo. Drittens schließlich kann das kaschmirische Volk aus der Vereinbarung eigene, originäre Rechte geltend machen, ohne daß ihr daraus Pflichten entstehen. Insofern zeitigen die Resolutionen die Wirkung eines Vertrages zugunsten Dritter.
3. Verlust der Rechtswirksamkeit a) Treuwidrigkeit
Pakistans
Im Verlaufe des Kaschmirkonfliktes nahm Indien mehrfach Handlungen Pakistans zum Anlaß, um sich von etwaigen aus den UNCIP-Resolutionen folgenden Rechtspflichten loszusagen.114 Im Sicherheitsrat warf die indische Delegation Pa112
Chinkin, A Mirage in the Sand?, in: Leiden Journal of International Law, Vol. 10, No. 2, 1997, S. 223, 231. 113 D. von Balluseck (Niederlande), SCOR, 6 t h Year, 538 th Meeting, 29 March 1951, S. 18 (§ 62): , 3 ut once the right to self-determination for the people of the State of Jammu and Kashmir is - as it has been - recognized, once it is clearly accepted by the parties in dispute - as it has been - that they have no right to impose anything upon these people against their wishes and that therefore these wishes must prevail over the wishes and claims of the bordering States, it must be possible to find a procedure which will create the most favourable conditions for a fair expression of the will of the people, who want to make their choice free from any kind of fear or intimidation." Gross (USA), SCOR, 6 t h Year, 537 th Meeting, 21 March 1951, S. 10 (§ 29); Austin (USA), a. a. O., 543 r d Meeting, 30 April 1951, S. 7 (§ 32), wiesen darauf hin, das in den UNCIP-Resolutionen verkörperte Abkommen sei zwar als solches nicht umsetzbar, gebe aber einen verbindlichen Rahmen für die Konfliktlösung ab. Dagegen kommt R. Khan, Kashmir and the UN, S. 141, zu dem Ergebnis, da die Resolutionen nicht ausführbar (keine „executing treaties") seien, könnten sie auch keine Rechtspflichten begründen. 114 V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 763 r d Meeting, 23 January 1957, S. 46 (§ 175), 767 th Meeting, 8 February 1957, S. 29-38 (§§ 97-136), S. 54-59 (§§ 193-218); Vinod, Kashmir and India-Pakistan Relations, in: Strategic Analysis, Vol. 18, No. 8, November 1995, S. 1141, 1142; vgl. auch: F.K. Noon (Pakistan), SCOR, 12th Year, 761st Meeting, 16 January 1957, S. 13 (§67 f.).
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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kistan treuwidriges Verhalten vor, weil pakistanische Verbände bereits im Zeitpunkt der Verabschiedung der UNCIP-Resolutionen an Kampfhandlungen in Jammu und Kaschmir teilgenommen hätten, ohne daß die pakistanische Regierung dies der VN-Kommission oder Indien offenbart habe. Die pakistanischen Truppen hätten sich auch nicht, wie in den Resolutionen vorgesehen, aus Jammu und Kaschmir zurückgezogen. Stattdessen habe Pakistan die Aufrüstung der Azad Kaschmir Truppen und eine Hetzkampagne gegen Indien betrieben. Mit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1973 habe Pakistan das von ihm besetzte Gebiet Jammu und Kaschmirs in sein Staatsgebiet inkorporiert. Die Inanspruchnahme amerikanischer Militärhilfe und der Beitritt zu den Militärpakten South East Asia Treaty Organization (SEATO) und Central Treaty Organization (CENTO) stellten unfreundliche Akte gegenüber Indien dar und dienten offensichtlich der Vorbereitung eines Angriffskrieges. Stichhaltig ist keines der von Indien angeführten Argumente. Die Überzeugung der Vereinten Nationen von der Rechtswirksamkeit der UNCIP-Resolutionen wurde durch die Rauchkerzen, die Indien in Richtung Pakistan warf, nicht erschüttert. b) Wegfall der Geschäftsgrundlage Im Januar 1957 erklärte der indische VN-Gesandte Krishna Menon im Sicherheitsrat, weder die VN-Kommission noch Pakistan oder Indien hätten bei der Verabschiedung bzw. Annahme der UNCIP-Resolutionen im Sinn gehabt, ein Verfahren zur Lösung des Kaschmirkonfliktes zu entwickeln, das über Jahrzehnte Gültigkeit beanspruchen könne. 115 Angesichts der grundlegenden Veränderungen der Situation in Jammu und Kaschmir seien die Resolutionen der Kommission und des Sicherheitsrates hinfällig, worauf im übrigen schon die VN-Kommission für Indien und Pakistan in ihrem dritten Zwischenbericht vom Dezember 1949 hingewiesen habe." 6 Im Sicherheitsrat fanden die Anspielungen Menons zur Anwendbarkeit des Institutes der clausula rebus sie stantibus nur bei der sowjetischen VN-Delegation Anklang. Man müsse zur Kenntnis nehmen, so der sowjetische VN-Gesandte Sobolev, daß seit der Annahme der Resolutionen geraume Zeit verstrichen sei und auch der Bericht des Sicherheitsratspräsidenten Jarring über seine Kaschmir-Mission die Resolutionen als obsolet ausweise.117 Die übrigen Mit115 V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 764 th Meeting, 24 January 1957, S. 2 (§ 3), 767 th Meeting, 8 February 1957, S. 25 (§ 85), 61 (§ 227), 774 th Meeting, 21 February 1957, S. 13 (§72). 116 Die VN-Kommission für Indien und Pakistan gab in diesem Bericht die Einschätzung wieder, die Verhältnisse, von denen die Resolution vom 5. Januar 1949 ausgehe, hätten sich verändert, was aber nicht gleichbedeutend ist mit dem Urteil, die UNCIP-Resolutionen seien für eine Lösung des Konfliktes irrelevant geworden, vgl.: UNCIP, Third Interim Report, UNDoc. S/1430, SCOR, 4 t h Year, Special Supplement No. 7, S. 61 (§ 283). 117 Sobolev (UdSSR), SCOR, 12 th Year, 770 th Meeting, 18 February 1957, S. 38 (§ 138), 799 th Meeting, 5 November 1957, S. 2 f. (§§ 6 - 9 ) . Der Umstand, daß Jarring die Verhält-
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
glieder des Sicherheitsrates traten dieser Position allerdings mit Nachdruck entgegen. Der kubanische VN-Gesandte erklärte im Sicherheitsrat, das Institut des Wegfalles der Geschäftsgrundlage führe im Völkerrecht nur dann zur Nichtigkeit einer Vereinbarung, wenn seine Ausführung in Ansehung veränderter Umstände unmöglich geworden und die Unmöglichkeit nicht von der Partei, die sich auf das Fehlen der Geschäftsgrundlage berufe, herbeigeführt worden sei. Beide Voraussetzungen seien vorliegend nicht erfüllt. Nichts hindere Indien und Pakistan an der Abhaltung eines Plebiszites, und wenn die Schwierigkeiten im Laufe der Zeit zugenommen hätten, könne Indien dafür nicht allein Pakistan verantwortlich machen.118 Diesen Ausführungen ist weder in tatsächlicher noch rechtlicher Hinsicht etwas hinzuzufügen. Sie treffen auch auf die gegenwärtige Situation noch zu.
c) Kriegerische
Handlungen
Rahmatullah Khan verneint eine Rechtspflicht Indiens zur Abhaltung eines Plebiszites mit der Begründung, Pakistan habe mit seiner Offensive gegen indische Stellungen im Sommer 1965 den Aggressionstatbestand erfüllt und dadurch etwaige Rechte aus den UNCIP-Resolutionen verwirkt. 119 Ein Staat, der das Völkerrecht breche, könne sich nicht seinerseits auf den Grundsatz pacta sunt servanda berufen. Khan ist zuzugeben, daß ein Staat, der einer Aggression zum Opfer fällt, nicht an die Verträge mit dem Aggressor gebunden sein kann. Auch sprechen gute Gründe für die Annahme, daß der Krieg von 1965 auf eine Aggression Pakistans zurückzuführen ist. 1 2 0 Aber selbst wenn Pakistan seiner Rechte aus den UNCIP-Renisse noch 1957 im Lichte der UNCIP-Resolutionen betrachtete, stützt diese These allerdings nicht, vgl.: G. Jarring, Report to the Security Council, UN-Doc. S/3821, SCOR, 12 th Year, Supplement for April, May and June 1957, S. 12, 14 f. (§ 14): " [R]egardless of the merits of the present positon taken by the Government of India, it [can] not be overlooked that India [has] accepted the two resolutions adopted by the Commission for India and Pakistan." us Nufiez-Portuondo (Kuba), SCOR, 12 th Year, 768 th Meeting, 15 February 1957, S. 21 f. (§§ 92-94); i.Erg. ebenso: Urrutia (Kolumbien), a. a. O., S. 16 (§ 69); Rómulo (Philippinen), a. a. O., S. 25 f. (§§ 108- 110); A. Khan, The Kashmir Dispute, in: Columbia Journal of Transnational Law, Vol. 31, 1994, S. 495, 534; Wirsing, India, Pakistan, and the Kashmir Dispute, S. 58: „[The] arguments [of the Indian delegation] stand firm, however, only so long as one unrelentingly excludes from consideration evidence of their inconsistency, exiguity, and casuistry." Kimminich, Menschenrechte in der Friedensregelung, S. 108, führt zutreffend aus, daß Zeitablauf nicht allein, sondern nur im Zusammenspiel mit weiteren Real- oder Rechtsakten Rechtswirkungen erzeugen könne. 119 R. Khan, Kashmir and UN, S. 142. 120 Vgl. die Darstellungen bei: P. Billing, Der Kaschmir-Konflikt, in: Pfetsch, Konflikte seit 1945: Asien, Australien und Ozeanien, S. 78, 81; Day, Border and Territorial Disputes, S. 291; Karim, Kashmir: The Troubled Frontiers, S. 77-81; Lamb, Kashmir: A Disputed Legacy, S. 259-266. Danach entsandte Pakistan im August 1965 massive Guerilla-Verbände über die Kontrollinie. Indische Truppen antworteten mit der Besetzung einer Reihe von Stellungen auf dem Gebiet Azad Kaschmirs. Pakistanische Verbände eröffneten daraufhin einen
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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Solutionen verlustig gegangen ist, sind diese nicht gegenstandslos geworden. Die Rechtsbeziehungen zwischen Indien und Pakistan haben nämlich auf die Verpflichtungen Indiens gegenüber der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs keinen Einfluß. Nach überwiegender Auffassung begründeten die UNCIP-Resolutionen vom 13. August 1948 und 5. Januar 1949 aber einen Anspruch des kaschmirischen Volkes auf Abhaltung eines Plebiszites.121 Es bleibt daher festzuhalten, daß die UNCIPResolutionen jedenfalls im Verhältnis zur Bevölkerung Jammu und Kaschmirs nach wie vor Gültigkeit aufweisen.
I I I . Vermittlungsbemühungen der VN-Sondergesandten 1. McNaughton-Vorschläge In ihrem dritten Zwischenbericht an den Sicherheitsrat zog die VN Kommission für Indien und Pakistan eine nüchterne Bilanz ihrer Tätigkeit. Zu den Haupthindernissen einer Verhandlungslösung zählte sie die Modalitäten eines Rückzuges der regulären Truppenverbände Indiens und Pakistans, die Aushebung von Truppen durch die provisorische Regierung Azad Kaschmirs und die Kontrolle Pakistans über die Nordgebiete. 122 Die Kommission gab unumwunden zu, daß ihre Möglichkeiten erschöpft seien, und empfahl im Interesse größerer Flexibilität die Bestellung eines einzelnen VN-Unterhändlers. 123 Im Dezember 1949 erteilte der Sicherheitsrat auf Vorschlag des VN-Gesandten Norwegens dem Präsidenten des Sicherheitsrates, General McNaughton (Kanada), das Mandat, mit den Botschaftern Indiens und Pakistans die verbliebenen Fragen im Kaschmirkonflikt zu erörtern und Vorschläge zu ihrer Lösung auszuarbeiten. 124
Großangriff in der Region Jammu. Indien weitete die Kampfhandlungen auf Punjab und Sindh aus. 121 Von Balluseck (Niederlande), SCOR, 7 t h Year, 611 th Meeting, 23 December 1952, S. 7 (§ 28); Graham (UNRIP), SCOR, 7 t h Year, 570 th Meeting, 17 January 1952, S. 10 (§ 60); Muniz (Brasilien), SCOR, 6 t h Year, 538 th Meeting, 29 March 1951, S. 10 (§ 27): „The acceptance of the two resolutions of the United Nations Commission not only curtailed the discretion of the opposing sides, but also accrued a right to the people of Jammu and Kashmir, namely the right to decide by vote, under pre-established conditions, their choice of sovereignty."; F.K. Noon (Pakistan), SCOR, 12 th Year, 791 st Meeting, 24 September 1957, S. 12 (§ 44); A.G. Noorani, Article 370, Part 2: The basics should be settled, in: The Statesman (Calcutta), 3 March 1995, S. 2 122 UNCIP: Third Interim Report, S /1430, SCOR, 4 t h Year, Special Supplement No. 7, S. 36 (§ 197). 123 UNCIP: Third Interim Report, S /1430, SCOR, 4 t h Year, Special Supplement No. 7, S. 61 f. (§§ 283, 285); Kommissionsvorsitzender Sander (Belgien), SCOR, 4 t h Year, 457 th Meeting, 17 December 1949, S. 2 - 4 . 124 Decision of 17 December 1949, SCOR, 4 t h Year, Resolutions and Decisions of the Security Council, 457 th Meeting, S. 7.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
McNaughton sah seine Aufgabe darin, einen modus vivendi in der Kaschmirfrage zu finden und tendierte dazu, auf die langwierige Prozedur der Prüfung aller Anschuldigungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu verzichten. 125 In Anlehnung an den Plan der VN-Kommission für Indien und Pakistan präsentierte McNaughton zur Lösung des Konfliktes ein Zwei-Phasen-Modell.126 Danach sollten Pakistan und Indien zunächst in einer näher zu regelnden zeitlichen Abfolge ihre Truppen aus Jammu und Kaschmir zurückziehen, Pakistan vollständig, Indien lediglich weitgehend. Im zweiten Schritt war die Abhaltung eines Plebiszites über die Frage der Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs zu Indien oder Pakistan unter der Aufsicht eines VN-Administrators vorgesehen. Die pakistanische Regierung nahm die Vorschläge McNaughtons mit Interesse auf. 127 Der indische Gesandte im Sicherheitsrat erklärte sie für unannehmbar und machte McNaughton genau das zum Vorwurf, was dieser als den erfolgversprechendsten Weg zur Lösung der Krise angesehen hatte: Pragmatismus. 128
2. Die Dixon-Mission a) Umfassendes Plebiszit Nach dem Scheitern der Vermittlungsbemühungen McNaughtons faßte der Sicherheitsrat den Beschluß, die VN-Kommission aufzulösen und einen VN-Beauftragten für Indien und Pakistan (United Nations Representative for India and Pakistan = UNRIP) mit den Aufgaben der Kommission für Indien und Pakistan zu betrauen. 129 Im April 1950 wurde der Australier Sir Owen Dixon vom Sicherheitsrat zum VN-Beauftragten für Indien und Pakistan bestellt. Dixon hielt sich von Mai bis August 1950 auf dem indischen Subkontinent auf und beriet mit den Premierministern Indiens und Pakistans über die Möglichkeiten einer gütlichen Beilegung des Kaschmirkonfliktes. In seinem Bericht an den Sicherheitsrat 130 stellte er mit Befremden fest, daß zwar beide Seiten ihr Einverständnis zur Abhaltung eines Plebiszites erklärt, aber keinerlei Ideen zu seiner Umsetzung vorgetragen hätten. Daher habe er seine Vermittlungstätigkeit auf die Verwirklichung der Nahziele Demilitarisierung und Verwaltungsorganisation beschränkt.
125 McNaughton (Kanada), SCOR, 4 t h Year, 458 th Meeting, 29 December 1949, S. 5. 126 McNaughton (Kanada), Report to the Security Council, UN-Doc. S /1453, SCOR, 5 t h Year, Supplement for January through May 1950, S. 3, 14-16. 127 M.Z. Khan (Pakistan), SCOR, 5 t h Year, 465 th Meeting, 9 February 1950, S. 31. 128 B.N. Rau (Indien), SCOR, 5 t h Year, 46.3rd Meeting, 7 February 1950, S. 10: „[The McNaughton proposals] completely ignore the legal and moral aspects of the question." 129 SC Res. 80 (1950), S/1469, SCOR, 5 t h Year, Resolutions and Decisions of the Security Council, 470 th Meeting, 14 March 1950, S. 1 - 3 . 130 UN Representative Dixon, Report to the Security Council, UN-Doc. S /1791 and Add. 1, SCOR, 5 t h Year, Supplement for September through December 1950, S. 24-52.
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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Zum Abbau der militärischen Spannungen habe er in einem ersten Schritt den Rückzug der pakistanischen Truppen und in einer zweiten Phase den Abzug bzw. die Auflösung einerseits der Azad Kaschmir Truppen und der Gilgit Scouts , andererseits der indischen Verbände und der Armee des Staates Jammu und Kaschmir vorgeschlagen. Der pakistanische Premierminister sei mit einem solchen Vorgehen einverstanden gewesen. Die indische Regierung dagegen habe deutlich gemacht, daß im Interesse der äußeren Sicherheit Indiens größere indische Truppenkontingente an der Waffenstillstandslinie stationiert bleiben und in den Nordgebieten Garnisonen für die Unterbringung weiterer Verbände errichtet werden müßten. Darüber hinaus könne sie eine Entwaffnung der „Bürgerwehr" im indisch besetzten Teil keinesfalls zulassen. Pakistan habe sich nicht in der Lage gesehen, derart weitreichende Zugeständnisse zu machen. Mit Blick auf die Errichtung einheitlicher und demokratischer Verwaltungsstrukturen habe er die Überwachung der Verwaltung beiderseits der Kontrollinie durch VN-Personal angeregt. Dagegen habe Nehru eingewandt, die indische Regierung könne einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Fürstenstaates Jammu und Kaschmir ebensowenig zustimmen wie der Perpetuierung der Verhältnisse, welche die Regierung Azad Kaschmirs geschaffen habe. Ferner habe Nehru auf die Gefahr der Vereinnahmung des VN-Personals durch die angeblich von Pakistan unterwanderte Verwaltung in den Nordgebieten hingewiesen. Daraufhin habe er, Dixon, versucht, Alternativen aufzuzeigen. Er habe die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch eine Koalitionsregierung der führenden politischen Kräfte Jammu und Kaschmirs oder durch integere und renommierte Führungskräfte aus dem Verwaltungs- und Justizapparat des Fürstenstaates vorgeschlagen. Auch diese Idee habe Nehru verworfen. Schließlich gewann Dixon die Überzeugung, daß die indische Regierung sich für keinen Vorschlag werde erwärmen können, der die Gewähr für die Abhaltung eines freien und fairen Plebiszites biete. 131
b) Teil-Plebiszit In einem zweiten Anlauf rückte Dixon von seinem ursprünglichen Vorhaben der Durchführung eines Plebiszites auf dem gesamten Gebiet des Fürstenstaates ab und unterbreitete den Konfliktparteien den Vorschlag, ein Plebiszit nur im Kaschmirtal abzuhalten und die übrigen Teile des Fürstenstaates zwischen Indien und Pa131 UN Representative Dixon, Report to the Security Council, UN-Doc. S/1791 and Add. 1, SCOR, 5 t h Year, Supplement for September through December 1950, S. 24, 36 (§ 52): „In the end I became convinced that India's agreement would never be obtained to demilitarization in any such form, or to provisions governing the period of the plebiscite of any such character, as would in my opinion permit of the plebiscite being conducted in conditions sufficiently guarding against intimidation and other forms of influence and abuse by which the freedom and fairness of the plebiscite might be imperilled."
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
kistan aufzuteilen. 132 Für dieses Vorgehen warb er mit der angreifbaren Begründung, eine solche Lösung sei gerecht, diene der Vorbeugung eines weiteren Flüchtlingsproblems und liege letztlich im Interesse der Bevölkerung selbst. Seinem Bericht zufolge fand Indien an der Aufteilung des Gebietes Gefallen und äußerte hinsichtlich der Demarkation des aufzuteilenden Gebietes unverbindliche und, wie Dixon anmerkte, anmaßende Vorschläge. Der pakistanische Premierminister dagegen habe erklärt, er werde an einer weiteren Verhandlungsrunde auf der Grundlage des modifizierten Dixon-Planes nicht teilnehmen. Weder sei es akzeptabel, daß die Teilung entlang der Waffenstillstandslinie stattfinden solle, noch könne hingenommen werden, daß allein im Kaschmirtal ein Plebiszit abgehalten werde. 133 Um Pakistan vor einem Gesichtsverlust zu bewahren, erbot sich Dixon daraufhin, die Eckpunkte seines Konzeptes zu präzisieren, bevor die Konfliktparteien erneut zusammenkämen. Die pakistanische Regierung signalisierte dazu ihr Einverständnis, bestand aber darauf, daß Indien vorab die Kompetenz des VN-Plebiszit Administrators akzeptieren müsse, bei Bedarf sowohl Truppen Indiens als auch Pakistans in das Kaschmirtal abzuordnen. Die indische Regierung lehnte dies ab. Keinesfalls dürfe die Aggression Pakistans belohnt und die Souveränität Indiens über Jammu und Kaschmir kompromittiert werden. 134 Das Scheitern der DixonMission war damit besiegelt.
c) Resolution 91 (1951) Im März 1951 rief der Sicherheitsrat Indien und Pakistan dazu auf, der Einleitung eines Schlichtungsverfahrens in den verbliebenen offenen Fragen zur Lösung des Kaschmirkonfliktes zuzustimmen.135 Während Pakistan seine grundsätzliche Bereitschaft erklärte, sich einem Schiedsspruch zu unterwerfen, 136 lehnte Indien 132 UN Representative Dixon, Report to the Security Council, UN-Doc. S /1791 and Add. 1, SCOR, 5 t h Year, Supplement for September through December 1950, S. 24, 39 (§ 75). 133 Allerdings konstatierte Dixon, Report to the Security Council, UN-Doc. S /1791 and Add. 1, SCOR, 5 t h Year, Supplement for September through December 1950, S. 24, 39 (§ 72): „In the course of the discussion, however, I ascertained that if the basis of the suggested settlement had been simple partition, a solution having the advantages of being immediate in its operation and self-executing, Pakistan would consider the matter, provided that it took the Kashmir Valley." Das Gupta, Jammu and Kashmir, S. 161, teilt die Einschätzung, daß Pakistan eine Aufteilung des Fürstenstaates bei Erhalt des Kaschmirtales in Betracht gezogen hätte. 134 V.K. Menon (Indien), SCOR, 12th Year, 769 th Meeting, 15 February 1957, S. 19 (§ 81), erregte sich noch Jahre später über die „Vermessenheit" des Dixon Planes und erklärte unter Anspielung auf dessen Herkunft: „Sir Owen Dixon seems to have approached this problem as though Kashmir were the Australian bush of 200 years ago." 135 SC Res. 91 (1951), S/2017/Rev.l, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 6 t h Year, 539 th Meeting, 30 March 1951, S. 1 - 4 . 136 M.Z. Khan, SCOR, 6 t h Year, 534 th Meeting, 6 March 1951, S. 2 (§ 5), 540 th Meeting, 2 April 1951, S. 4 (§ 16).
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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den Resolutionsentwurf in Bausch und Bogen ab. Zum einen sei die Frage der Demilitarisierung in den UNCIP-Resolutionen geregelt und bedürfe daher keiner Schlichtung, zum anderen sei der Gedanke einer Schlichtung in Fragen der nationalen Sicherheit für Indien unerträglich. 137 Überdies erinnere der Umstand, daß die Resolution des Sicherheitsrates nicht nur die Kompetenz eines Schlichtungsorgans vorsehe, eine für die Parteien bindende Entscheidung zu treffen, sondern dem VN-Beauftragten darüber hinaus die Befugnis einräume, den Umfang der Schlichtung festzulegen, an ein inquisitorisches Verfahren, in dem Anklage und Gericht in einer Hand zusammengeführt würden. Für eine derartige „Travestie der Gerechtigkeit" sei Indien nicht zu haben. 138
d) Bewertung Eine Bewertung der Vermittlungsbemühungen Dixons läßt keinen der Beteiligten in vorteilhaftem Licht erscheinen. Dixon interpretierte das Mandat des Sicherheitsrates als Ermächtigung, den Kaschmirkonflikt seiner Selbstbestimmungsproblematik zu entkleiden, ohne daß der Sicherheitsrat dagegen Einwände zu haben schien. 139 Die pakistanische Regierung gab ihre Bereitschaft zu erkennen, den Konflikt unter der Voraussetzung territorialer Zugeständnisse Indiens beizulegen, und diskreditierte sich damit als Anwalt der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs. Die indische Regierung schließlich demonstrierte eindrucksvoll, daß sie nicht mehr bereit war, den Kaschmirkonflikt auf Grundlage der UNCIP-Resolutionen zu lösen. 140 Grund dafür mag sein, daß die in der Euphorie der Unabhängigkeit demonstrierte Zuversicht in die Anziehungskraft der säkularen Staatsidee der Indischen Union Schritt für Schritt der Erkenntnis gewichen war, daß Indien in einem offenen Plebiszit Jammu und Kaschmir an Pakistan verlieren werde. 141 Darauf aber war Indien psychologisch nicht vorbereitet. Kaschmir bot Indien wie kein anderer Fürstenstaat die Gelegenheit, den Schock der Teilung durch einen diplomatischen Sieg über Pakistan zu kompensieren. 142 Welche Ursachen die Verhandlungsblockade 137 B.N. Rau (Indien), SCOR, 6 TH Year, 533RD Meeting, 1 March 1951, S. 9 - 1 2 (§§ 3345), 538TH Meeting, 29 March 1951, S. 6 - 8 (§§ 16-21). 138 V.K. Menon (Indien), SCOR, 12th Year, 767 th Meeting, 8 February 1957, S. 7 (§ 23). 139 G. Jebb (Großbritannien), SCOR, 6 t h Year, 532 nd Meeting, 21 February 1951, S. 3 (§ 4), betonte ausdrücklich, das Vorgehen Dixons habe im Einklang mit dem Mandat gestanden, das der Sicherheitsrat ihm erteilt habe. 140 V.K. Menon (Indien), SCOR, 12th Year, 763 rd Meeting, 23 January 1957, S. 13 (§ 53), ließ keinen Zweifel daran, mit welcher Einstellung Indien in die Verhandlungen gegangen war: ,,[I]t was not as though there were two peas in a pod and two people with some equal jurisdiction over this." 141 Schreiben S. Saksenas, Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung Indiens, an Patel vom 27. Juli 1949 nach einem Besuch in Kaschmir: „It is midsummer madness to believe that we can win the plebiscite.", zitiert nach: Das, Patel's Correspondence, Vol. 1, No. 231, S. 286, 286.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
aber auch gehabt haben mag: Festzuhalten bleibt, daß die indische Regierung spätestens mit Vorlage des dritten UNCIP-Berichtes im Dezember 1949 ihre kompromißbereite Haltung aufgegeben hatte und auf einen unversöhnlichen Konfrontationskurs eingeschwenkt war. 143
3. Die Vermittlungstätigkeit Grahams Zum Nachfolger Dixons bestellte der Sicherheitsrat den Amerikaner Frank Graham. Im Oktober 1951 legte Graham dem Sicherheitsrat einen ersten Bericht über den Stand seiner Vermittlungsinitiative vor. 1 4 4 Dabei wies er darauf hin, daß die Gespräche von atmosphärischen Störungen getrübt worden seien. An der Waffenstillstandslinie sei es wiederholt zu Scharmützeln gekommen. Im indisch kontrollierten Teil Jammu und Kaschmirs mehrten sich die Anzeichen für die Konstituierung einer Verfassunggebenden Versammlung, die einen Keil zwischen die beiden Teile Jammu und Kaschmirs zu treiben drohe. Die Flüchtlingsfrage sei weiterhin ungelöst, und die indische Kontrolle über die Oberläufe der nach Pakistan fließenden Flüsse bereite der pakistanischen Regierung große Sorge. In der Sache seien die Verhandlungen dadurch erschwert worden, daß sich mit der Rekrutierung von Azad Kaschmir Truppen im pakistanisch gehaltenen Teil Kaschmirs und der Gründung einer Miliz auf der indischen Seite der Sachstand seit der UNCIP-Resolution vom 13. August 1948 entscheidend geändert habe. Auf der Suche nach einer konsensfähigen Demilitarisierungsformel präsentierte Graham den Parteien einen Zwölf-Punkte-Plan, welcher im Interesse Indiens die weitgehende Auflösung bzw. Entwaffnung der Azad Kaschmir Truppen vorsah, während dem Sicherheitsbedürfnis Pakistans durch eine auf neunzig Tage geraffte Abrüstung Rechnung getragen werden sollte. 145 Vor Ablauf dieser Frist solle auch der VN-Plebiszit-Verwalter sein Amt antreten. Die pakistanische Regierung begrüßte die Vorschläge. Indien dagegen wandte ein, es könne nicht an142
Vgl. die Ansprache Nehrus in der Verfassunggebenden Versammlung am 5. März 1948: „The sweep of History", in: Nehru, Independence and After, S. 73, 75: „We saw unfortunately six months back the partition of India, the splitting up of India, a part of India going out of India. Immediately after that process of cutting off, another process started ... - the process of integrating India. We have seen this process of integrating India going on in regard to the States ... and in the balance it is difficult to say how far we have gained and how far we have lost." ι 4 3 Bailey, The UN Security Council and Human Rights, S. 21; Kulke/Rothermund, Geschichte Indiens, S. 338. 144 UN Representative Graham, First Report to the Security Council, UN-Doc. S / 2375 and Corr. 1, SCOR, 6 t h Year, Special Supplement No. 2; Graham (UNRIP), SCOR, 6 t h Year, 564 th Meeting, 18 October 1951, S. 1 - 1 5 (§§ 3-52). 145 Schreiben Grahams an die Premierminister Indiens und Pakistans vom 7. September 1951, in: UN Representative Graham, First Report to the Security Council, UN-Doc. S/2375 and Corr. 1, SCOR, 6 t h Year, Special Supplement No. 2, Annex 2, S. 26-28.
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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gehen, daß mit der stillschweigenden Aufgabe des Prinzips einer Vorab-Abrüstung Pakistans, wie sie in der UNCIP-Resolution vom 13. August 1948 festgeschrieben sei, die seither von Pakistan betriebene Militarisierung belohnt werde. 1 4 6 Obwohl diese Kritik ins Mark seiner Vorschläge traf, konstatierte Graham „mit Genugtuung und Hoffnung", daß über vier Punkte, nämlich Gewaltverzicht, Verhinderung von Kriegspropaganda, Beachtung der Waffenstillstandsvereinbarung und die Abhaltung eines Plebiszites, zwischen den Konfliktparteien Konsens bestehe.147 In seinem zweiten Bericht wartete Graham mit der Erfolgsmeldung auf, die Konfliktparteien hätten über vier weitere Punkte Einigkeit erzielt. 148 Erwähnenswert erscheint aber nur die Verständigung Indiens und Pakistans darüber, in ungelösten Detailfragen über die Demilitarisierung eine Entscheidung des VN-Beauftragten als bindend zu akzeptieren. Dieses Zugeständnis konnten die Konfliktparteien indes umso leichteren Herzens machen, als eine Einigung über die Kernpunkte des Graham-Planes noch ausstand und jede Seite die Verhandlungen ohne große Mühe zum Scheitern bringen konnte. In seinem dritten Bericht hob Graham hervor, Pakistan habe mit gewissen Vorbehalten auch die letzten vier Punkte akzeptiert, während Indien Verhandlungsbedarf nur noch hinsichtlich Art und Umfang der nach Abschluß der Demilitarisierung verbleibenden Truppen sehe. 149 Diese wohlklingende Analyse verkehrt sich allerdings in ihr Gegenteil, wenn man sich die nackten Zahlen vor Augen hält. Während Pakistan bereit war, äußerstenfalls ein Truppen Verhältnis von 4:5 zugunsten Indiens zu akzeptieren, bestand Indien auf einer Relation von 1:5 (und dies unter der Prämisse, daß die sogenannte Bürgerwehr mit 6.000 Angehörigen nicht in die Rechnung einbezogen werde). 150
146 Schreiben des indischen Premierministers Nehru an Graham vom 11. September 1951, in: UN Representative Graham, First Report to the Security Council, UN-Doc. S/2375 and Corr. 1, SCOR, 6 t h Year, Special Supplement No. 2, Annex 3, S. 28, 29. 147 UN Representative Graham, First Report to the Security Council, UN-Doc. S / 2375 and Corr. 1, SCOR, 6 t h Year, Special Supplement No. 2, S. 23 (§ 64).
148 UN Representative Graham, Second Report to the Security Council, UN-Doc. S / 2448, SCOR, 7 t h Year, Special Supplement No. 1; Graham (UNRIP), SCOR, 7 t h Year, 570 th Meeting, 17 January 1952, S. 3 - 1 2 (§§ 18-70). 149 UN Representative Graham, Third Report to the Security Council, UN-Doc. S / 2611 and Corr. 1, SCOR, 7 t h Year, Special Supplement No. 2, S. 1-18. V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 795 th Meeting, 9 October 1957, S. 37 (§ 145); 801st Meeting, 13 November 1957, S. 20 (§ 66), sollte Graham Jahre später den Vorwurf machen, es sei nicht hilfreich gewesen, einen komplexen Sachverhalt in willkürliche Punkte zu zerteilen und zu jedem Punkt Konsens und Dissenz festzustellen, solange in den Kernfragen keine Einigung erzielt worden sei. 150 M.C. Setalvad (Indien), SCOR, 7 t h Year, 572 nd Meeting, 31 January 1952, S. 6 f. (§ 23), unterstrich die Wahrnehmung der ausschließlich polizeilichen Aufgaben durch die „Bürgerwehr". 5 Hönig
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1. Teil: Vlkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
Der vierte Bericht Grahams faßt den Verlauf zweier Gesprächsrunden zwischen hochrangigen Delegationen Indiens und Pakistans in New York und Genf zusammen, in denen über Art und Zahl der Friedenstruppen, den Zeitpunkt des Amtsantrittes des Plebiszitverwalters und seinen Kompetenzbereich verhandelt wurde. 151 Graham präsentierte den Konfliktparteien als Verhandlungsbasis eine revidierte Fassung der zwölf Punkte. 152 Danach sollten auf dem Gebiet Jammu und Kaschmirs nach der Demilitarisierung nicht mehr als 3.000 bis 6.000 Azad Kaschmir Soldaten und 12.000 bis 18.000 indische Soldaten verbleiben. 153 Indien blieb hart. Die Sicherheit Jammu und Kaschmirs, für die Indien nach dem Beitritt des Maharajas zuständig sei, erfordere die Stationierung von mindestens 28.000 Soldaten. Nur für den Fall, daß sich Pakistan mit der gänzlichen Auflösung der Azad Kaschmir Truppen einverstanden erkläre und auf der pakistanischen Seite lediglich eine zivile Schutztruppe mit nicht mehr als 4.000 Angehörigen zurückbleibe, von denen die Hälfte ortsfremd sein müßten, könnten die Truppen auf der indischen Seite unter Ausklammerung der Miliz - bis auf 21.000 Soldaten reduziert werden. 154 Die pakistanische Regierung, die sich ohnehin enttäuscht darüber gezeigt hatte, daß nach der Graham-Formel mehr Soldaten in Jammu und Kaschmir verblieben, als für die Sicherung des Friedens notwendig und für die Fairneß des Plebiszites zuträglich sei, fand sich zu derart weitgehenden Konzessionen nicht bereit. 155 Auf der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner legte Graham schließlich den Entwurf einer Vereinbarung vor, der einige Leitprinzipien für eine Lösung der offenen Fragen enthielt. Aber selbst darüber kam eine Verständigung nicht mehr zustande. Graham appellierte an die Konfliktparteien, ihre Positionen zu überdenken, und beendete seine Mission. Im Dezember 1952 verabschiedete der Sicherheitsrat eine Resolution, in der er Indien und Pakistan drängte, eine Lösung auf der Grundlage der Graham-Vorschlä151 UN Representative Graham, Fourth Report to the Security Council, UN-Doc. S/2783 and Corr. 1, SCOR, 7 t h Year, Special Supplement No. 2, S. 19-48; Graham, SCOR, 7 t h Year, 605 th Meeting, 10 October 1952, S. 2 - 2 5 (§§ 6-78). 152 Revised Draft Proposals of 16 July 1952, in: UN Representative Graham, Fourth Report to the Security Council, UN-Doc. S / 2783 and Corr.l, SCOR, 7 t h Year, Special Supplement No. 2, Annex 3, S. 36-38. 153 Im Verlauf der Gespräche schlug Graham schließlich eine Formel von 6.000 Soldaten auf pakistanischer und 18.000 auf indischer Seite vor, vgl.: Proposal of 2 September 1952, in: UN Representative Graham, Fourth Report to the Security Council, UN-Doc. S/2783 and Corr.l, SCOR, 7 t h Year, Special Supplement No. 2, Annex 7, S. 46-47. 154 Memorandum des VN-Vertreters Indiens vom 11. September 1952, in: UN Representative Graham, Fourth Report to the Security Council, UN-Doc. S/2783 and Corr.l, SCOR, 7 t h Year, Special Supplement No. 2, Annex 5, S. 39-42; Pandit (Indien), SCOR, 7 t h Year, 608 th Meeting, 8 December 1952, S. 5 (§§ 16, 17). 155 Die Delegation Pakistans strich heraus, unerträglich sei vor allem die Weigerung Indiens, dem VN-Plebiszit Verwalter die in der UNCIP-Resolution vom 5. Januar 1949 vorgesehene Befugnis einzuräumen, die Art und Weise der Stationierung und die Höhe der stationierten Truppen in Absprache mit den beteiligten Regierungen festzulegen, vgl.: M.Z. Khan (Pakistan), SCOR, 7 t h Year, 609 th Meeting, 16 December 1952, S. 37 (§§ 150, 151).
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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ge vom 16. Juli 1952 anzustreben. 156 Es war der letzte ernsthafte Versuch des Sicherheitsrates , Autorität in einem Streit zu demonstrieren, der ihm lange aus der Hand geglitten war. Die Regierungen Indiens und Pakistans erklärten zwar noch einmal ihre Bereitschaft, auf Grundlage der UNCIP-Resolutionen Verhandlungen zu führen. 157 Die im Februar 1953 in Genf unter der Leitung Grahams abgehaltene Konferenz geriet allerdings zu einer Farce. Graham faßte das Ergebnis der Verhandlungen in seinem Bericht an den Sicherheitsrat mit der Bemerkung zusammen, zwischen den Konfliktparteien bestünden in der Frage der Anzahl und des Charakters der Truppen nach Abschluß der Demilitarisierung weiterhin wesentliche Meinungsunterschiede. 158 Der Sicherheitsrat befaßte sich mit dem Bericht nicht mehr.
4. Die Jarring-Mission Die Zuspitzung des Kaschmirkonfliktes im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Anbindung des „Bundesstaates" Jammu und Kaschmir an Indien veranlaßte den Sicherheitsrat im Februar 1957 dazu, dem schwedischen Präsidenten des Sicherheitsrates, Gunnar Jarring, das Mandat für einen letzten Vermittlungsversuch zu erteilen. 159 Ein zuvor von Australien, Kuba, Großbritannien und den USA eingebrachter Resolutionsentwurf 160, der ausdrücklich auf die Möglichkeit der Stationierung von VN-Truppen in Jammu und Kaschmir hingewiesen hatte, war am Veto der Sowjetunion gescheitert. 161 156 SC Res. 98 (1952), S / 2883, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 7 t h Year, 611 th Meeting, 23 December 1952, S. 1 - 2 . 157 Schreiben Grahams an den Präsidenten des Sicherheitsrates vom 23. Januar 1953, S/ 2910, SCOR, 8 t h Year, Supplement for January, February and March 1953, S. 26. 158 UN Representative Graham, Fifth Report to the Security Council, UN-Doc. S / 2967, SCOR, 8 t h Year, Special Supplement No. 1, S. 6 (§ 16). 159 SC Res. 123 (1957), S / 3793, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 12th Year, 774 th Meeting, 21 February 1957, S. 2 - 3 . 160 UN-Doc. S / 3787, SCOR, 12 th Year, Supplement for January, February and March 1957, S. 7 - 8 . ι 6 · Pakistan hatte Zustimmung zu dem Resolutionsentwurf signalisiert und sogar der vollständigen Auflösung der Azad Kaschmir Truppen im Zeitpunkt der Durchführung des Plebiszites zugestimmt, vgl. F.K. Noon (Pakistan), SCOR, 12 th Year, 770 th Meeting, 18 February 1957, S. 3 f. (§ 11), 34 (§ 118). Indien hatte den Vorschlag der Stationierung einer VN-Truppe in Kaschmir entschieden abgelehnt, vgl. V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 δ Year, 769 th Meeting, 15 February 1957, S. 23 (§ 99): „[The proposai] is unethical, inequitable and, what is more, it would not lead to a settlement." Die Sowjetunion und Kolumbien schlugen jeweils weitgehende Änderungen des Resolutionsentwurfes vor, vgl.: Union of Soviet Socialist Republics: Amendments to Document S / 3787, UN-Doc. S / 3789, SCOR, 12 th Year, Supplement for January, February and March 1957, S. 8; Erläuterungen dazu: Sobolov (UdSSR), SCOR, 12 th Year, 770 th Meeting, 18 February 1957, S. 38-40 (§§ 134-147); Colombia: Amendments to Document S/3787, UN-Doc. S/3791 /Rev.l, a. a. O., S. 8 f.; Erläuterungen: Umida (Kolumbien), SCOR, 12 th Year, 771 st Meeting, 18 February 1957, S. 1 - 5 (§§ 1 -12). 51
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
Jarring unterbreitete den Regierungen Indiens und Pakistans den Vorschlag, zur Lösung der kontrovers diskutierten Frage der Demilitarisierung Jammu und Kaschmirs eine Schlichtungskommission einzusetzen. 162 Die Kommission solle prüfen, ob die Konfliktparteien den Anforderungen der UNCIP-Resolution vom 13. August 1948 genügt hätten. 1 6 3 Darüber hinaus solle die Kommission das Mandat erhalten, den Regierungen Indiens und Pakistans etwaige Maßnahmen zur Umsetzung der Resolution zu empfehlen. Pakistan nahm den Vorschlag nach anfänglichem Zögern a n . 1 6 4 Die indische Delegation erklärte im Sicherheitsrat, für Schlichtung sei schon deshalb kein Raum, weil Indien die volle Souveränität über Jammu und Kaschmir und daher alleinige Entscheidungsbefugnis über Abrüstungsfragen habe. 1 6 5 Der Sicherheitsrat äußerte Besorgnis über den Mangel an Fortschritt zur Lösung des Problems, den der Bericht Jarrings bezeuge. 1 6 6 M i t dieser kryptischen Stellungnahme endeten die Bemühungen des Sicherheitsrates um Im Kern ging es um die Frage, ob die Resolution Bezug nehmen solle auf die Abhaltung eines Plebiszites und die Stationierung einer VN-Truppe. Als die Sponsoren der Resolution ihren Entwurf in unveränderter Form zur Abstimmung stellten, brachte die Sowjetunion ihn mit einem Veto zu Fall - bei neun Ja-Stimmen und einer Enthaltung (Schweden), vgl. SCOR, 12 th Year, 773 r d Meeting, 20 February 1957, S. 29 (§ 126). Sobolev (UdSSR), SCOR, 12 th Year, 773 rd Meeting, 20 February 1957, S. 32 (§ 138 f.), 774 th Meeting, 21 February 1957, S. 8 f. (§§ 41 -48), begründete das Abstimmungsverhalten seines Landes damit, die Entsendung einer VN-Truppe verstoße gegen die Bestimmungen der VN-Charta, die VN-Truppen nur vorsehe für die Zurückschlagung einer Aggression und die Wiederherstellung des internationalen Friedens und verletze den Stolz des kaschmirischen Volkes. Es sei zudem kontraproduktiv, eine Resolution gegen den erklärten Widerstand einer Konfliktpartei zu verabschieden. Es war das erste Mal in der Geschichte des Kaschmirkonfliktes, daß eines der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates von seinem Vetorecht Gebrauch machte. 162 Jarring, Report to the Security Council, UN-Doc. S/3821, SCOR, 12th Year, Supplement for April, May and June 1957, S. 12, 15 f. (§§ 17-19). 163 Die indische Delegation vertrat die Auffassung, die Resolution vom 13. August 1948 (Part II, Β 2) sehe die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung durch indische Truppen im Vorbereitungsstadium des Plebiszites auf dem gesamten Gebiet des Staates Jammu und Kaschmir vor, während die Resolution vom 5. Januar 1949 der VN-Kommission und dem Plebiszitverwalter ein Mitspracherecht lediglich über die Art und Weise der Stationierung, nicht aber über die Truppenstärke einräume, vgl.: V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 767 th Meeting, 8 February 1957, S. 35 (§ 124), 40 (§ 147). F.K. Noon (Pakistan), SCOR, 12th Year, 770 th Meeting, 18 February 1957, S. 10 f. (§ 38-40), stand demgegenüber auf dem Standpunkt, daß unter „disposal" nicht die Verteilung, sondern die Demobilisierung der Truppen zu verstehen sei. «64 F.K. Noon (Pakistan), SCOR, 12 th Year, 791st Meeting, 24 September 1957, S. 18 (§ 79).
165 ν.κ. Menon (Indien), SCOR, 12th Year, 801st Meeting, 13 November 1957, S. 17 (§ 57): „One hundred percent of the demilitarization is in the territory of India. Whether it be on this side of the cease-fire line or on that side, the demilitarization is in India and the militarization is in Pakistan." 166 SC Res. 126 (1957), S / 3922, , SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 12 th Year, 808 th Meeting, 2 December 1957, S. 3 - 4 . Bailey, The Procedure of the UN Security Council, S. 106, lobt trotz des Scheiterns der Mission Jarrings dessen außerordentliches Verhandlungsgeschick.
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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eine Verhandlungslösung im Kaschmirkonflikt. Die Vereinten Nationen überließen die Konfliktparteien fortan sich selbst.
IV. Versuche einer militärischen „Lösung" des Kaschmirkonfliktes 1. Der Krieg von 1965 und das Abkommen von Taschkent Der Krieg zwischen Indien und Pakistan 1947/48 ließ auf beiden Seiten tiefe Ressentiments, starkes Mißtrauen und, zumindest im Falle Pakistans, schiere Existenzangst zurück. Nachdem sich im Verlaufe der fünfziger Jahre gezeigt hatte, daß das Kaschmirproblem durch Vermittlung der Vereinten Nationen nicht zu lösen sein würde, staute sich in Pakistan geballter Unmut über die offensichtliche Verhandlungsblockade Neu Delhis an. Die pakistanische Führung stand in der Kaschmirfrage innenpolitisch unter Erfolgsdruck, aber außenpolitisch auf verlorenem Posten. Der Grenzkonflikt zwischen China und Indien hatte eindrucksvoll die mangelnde Verteidigungsfähigkeit Indiens demonstriert, und in Pakistan beobachtete man mit Sorge, daß Indien im Gefolge seiner Niederlage ein Rüstungsprogramm ins Werk setzte, welches das ohnehin bestehende militärische Ungleichgewicht noch weiter zu seinen Ungunsten zu verschieben begann. Die schweren Unruhen im Kaschmirtal im Dezember 1964, hervorgerufen durch eine Entscheidung des indischen Parlamentes, die Autonomie Kaschmirs ein weiteres Mal zu beschneiden, die Inhaftierung prominenter Politiker und den Diebstahl einer von den Moslems verehrten Reliquie aus der Hazratbal-Moschee, offenbarten eine tiefsitzende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der indischen Zentralregierung und gaben den Anstoß für die Planung der Militär-Operation Gibraltar. Im Sommer 1965 stießen pakistanische Verbände in Kaschmir auf indisch besetztes Gebiet vor und lösten den zweiten Krieg zwischen Indien und Pakistan aus. 167 Pakistan war allerdings zwei folgenschweren Fehleinschätzungen unterlegen: Die erhoffte Unterstützung der militärischen Offensive durch die Zivilbevölkerung blieb aus, und Indien ging wider Erwarten das Risiko einer Eskalation des Konfliktes ein und stieß in der Punjab-Ebene bis zu den Befestigungslinien Lahores durch. 168 Der Sicherheitsrat rief Indien und Pakistan mehrfach dazu auf, die Kampfhandlungen einzustellen und die Truppen bis zur Waffenstillstandslinie von 1949 zu167 A. Siehr, Conflicts, Indian Subcontinent, in: Wolfrum/Philipp, UN: Law, Policies and Practice, Vol. 1, S. 243, 249; zu Vorbereitung und Verlauf des Krieges von 1965: Kumar, Kashmir: Pakistan's Proxy War, S. 57-80. 168 Das Gupta, Jammu and Kashmir, S. 372; Ganguly, Avoiding War in Kashmir, in: Foreign Affairs, Vol. 69, No. 5, Winter 1990/91, S. 57, 61; Rizvi, South Asia in a Changing International Order, S. 72.
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1. Teil: Vlkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
rückzuziehen. 169 Unter starkem internationalen Druck, auch seitens der USA und der Sowjetunion, vereinbarten Indien und Pakistan im September 1965 einen Waffenstillstand. Sowjetische Vermittlungsbemühungen führten im Januar 1966 zum Abschluß des Abkommens von Taschkent, das im wesentlichen den status quo ante wiederherstellte. 170 In bezug auf das Kaschmirproblem erschöpfte sich das Abkommen in der Feststellung, beide Seiten hätten ihre Standpunkte dargelegt und stimmten darin überein, daß etwaige ungelöste Fragen in Verhandlungen zwischen Vertretern beider Staaten, vorzugsweise auf Premierminister-Ebene, aufgegriffen werden sollten. Swaran Singh und Zulfiqar Ali Bhutto nahmen sich der Kaschmirfrage bei einem Treffen im März 1966 an, erzielten in der Sache aber keine Fortschritte. Im geschichtlichen Rückblick drängt sich der Eindruck auf, daß das Abkommen von Taschkent dazu diente, den Kaschmirkonflikt auf Eis zu legen. 171 Das Verstreichenlassen der Gelegenheit, die Kaschmirfrage im Anschluß an den Krieg von 1965 mit Entschiedenheit anzupacken, leistete aber einer Entwicklung Vorschub, die Jammu und Kaschmir nur wenige Jahre später erneut zum Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen zwischen Indien und Pakistan machen sollte.
2. Der Krieg von 1971 und das Abkommen von Simla Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen West- und Ost-Pakistan über ein größeres Maß an Autonomie für Bengalen kam es im März 1971 zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen der Mukti Bahini (Befreiungsarmee) und den Truppen der Punjabi-Armee Westpakistans.172 Im April 1971 erklärte Ost-Pakistan die Sezession von West-Pakistan. Ein eigener Staat, Bangladesch, wurde proklamiert. Die bewaffneten Auseinandersetzungen intensivierten sich. Bis zum Jahresende flohen zehn Millionen Menschen aus Bangladesch in den Nordosten Indiens. Die 169 SC Res. 209 (1965), 1237th Meeting, 4 September 1965, SC Res. 210 (1965), 1238th Meeting, 6 September 1965, SC Res. 211 (1965), 1242nd Meeting, 20 September 1965, SC Res. 214 (1965), 1245th Meeting, 27 September 1965, SC Res. 215 (1965), 1251st Meeting, 5 November 1965, in: SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 1965, 20 th Year, S. 13-17. 1 70 United Nations Treaty Series, Vol. 560, No. 8166. Moskau versprach sich von einer Annäherung Indiens und Pakistans eine Verringerung des Einflusses Chinas und der USA auf die Region und damit einen wirksamen Schutz seiner Südflanke, vgl.: Ray, How Moscow Sees Kashmir, S. 100. 171 Schofield, Kashmir in the Crossfire, S. 206. Wenn man die Auffassung teilt, daß Indien sich mit der de facto Teilung angefreundet hatte und Pakistan eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse anstrebte, wird man der Einschätzung von Vanaik, The Painful Transition: Bourgeois Democracy in India, S. 239, nicht widersprechen können, daß das Abkommen von Taschkent als diplomatischer Sieg Indiens zu werten ist. 172 Vgl. dazu: D. Banerjee, Verteidigung, in: Rothermund, Indien, S. 427, 441 f.; C. Hobday, India-Pakistan, in: Day, Border and Territorial Disputes, S. 283, 291 f.; Rabl, Selbstbestimmungsrecht der Völker, S. 450-454 m. w. N.
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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indische Regierung nahm den Flüchtlingsstrom und die sich verschlechternde humanitäre Lage zum Anlaß, um im Dezember 1971 militärisch in den Konflikt einzugreifen. Der Funke des Krieges sprang rasch auf Kaschmir über. Während kleinere Kampfhandlungen in Kaschmir nur zu geringen Gebietsgewinnen Indiens führten, erlitt die Armee Westpakistans in Bangladesch eine empfindliche Niederlage. Pakistan kapitulierte am 17. Dezember 1971. Im Juli 1972 schlossen Indira Gandhi und Zulfikar Ali Bhutto das Abkommen von Simla, 173 das im Gegensatz zum Karachi-Abkommen von 1949 die Vereinten Nationen nicht erwähnte und eine Lösung des Kaschmirkonfliktes auf der Basis bilateraler Verhandlungen vorsah. Die politische Opposition in Pakistan warf Bhutto vor, er habe mit der Unterzeichnung des Simla Abkommens der faktischen Teilung Kaschmirs zugestimmt. 174 Richtig ist, daß die indischen Regierungen seither jeden Versuch Pakistans, den Kaschmirkonflikt auf internationaler Ebene zu thematisieren, als Verstoß gegen das Abkommen von Simla gebrandmarkt haben, während in bilateralen Verhandlungen kaum Fortschritte erzielt wurden.
3. Kaschmir: Ein autonomer Regionalkonflikt Die Einbindung Pakistans in westliche Militärbündnisse und der sozialistische Bruderkuß zwischen Neu Delhi und Moskau färbten den Kaschmirkonflikt seit Mitte der fünfziger Jahre zunehmend ideologisch ein, was sich schon für die Mission Jarrings 1957 als unüberwindliches Handicap darstellte. Es bildete sich ein „strategisches Viereck" mit der Achse Islamabad/Washington auf der einen und Delhi/Moskau auf der anderen Seite. 175 Chinas Außenpolitik verstärkte diese Frontstellung. Während die guten sino-pakistanischen Beziehungen Islamabad im Annäherungsprozeß der USA an China aufwerteten, trieb der sozialistische Sonderweg Maos Moskau in eine Allianz mit Delhi. Mit der Dismembration der Sowjetunion lösten sich die Fronten des Kalten Krieges auf. Das strategische Viereck zerfiel. Die USA suspendierten im Oktober 1990 ihre Wirtschafts- und Militärhilfe für Pakistan. 176 Neu Delhi löste sich von Moskau und öffnete den indischen Markt für Investitionen aus dem Westen. Während sich aber die internationalen Rahmenbedingungen für eine Lösung des Kaschmirkonfliktes günstig entwickelten wie lange nicht mehr, verschlechterte sich die Sicherheitslage im Kaschmirtal von Tag zu Tag. Erst mit dem Ausbruch des Bürgerkrieges 1989/90 bemerkten die Verantwortlichen in den Hauptstädten des We173 Vgl. Anhang VII. 174 Schofield, Kashmir in the Crossfire, S. 212. 175 Näher: C. Maaß, Außenpolitik, in: Rothermund, Indien, S. 450, 458-462; Wagner, Indiens weltpolitische Rolle, in: Internationale Politik, März 1997, Nr. 3, S. 1, 3. 176 F. Babar, Possible Pulls on Pakistan's Foreign Policy, in: Jan, Pakistan: Foreign Policy Debate, S. 309, 321 f.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
stens, daß die Kaschmirfrage nicht in die Kategorie der Ost-West-Stellvertreterkriege einzuordnen war, sondern den Charakter eines „autonomen Regionalkonfliktes" aufwies. 177 Für eine Strategie der Deeskalation, geschweige denn präventive Diplomatie, war es zu spät. Die Chance der Vereinten Nationen, den Konflikt friedlich beizulegen, war wieder einmal vertan.
V. Bewertung Für das Scheitern der Vereinten Nationen im Bemühen um eine Vermittlung zwischen Indien und Pakistan im Kaschmirkonflikt gibt es ein Bündel von Gründen. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung dürfte der Umstand sein, daß das Verhältnis zwischen Indien und Pakistan durch die Geburtswehen der Teilung mit den Pogromen in Bengalen und Punjab auf das schwerste belastet war, der Sicherheitsrat in seinen Bemühungen um eine friedliche Streitbeilegung im Rahmen des VI. Kapitels der VN-Charta aber auf die Gesprächs- und Kompromißbereitschaft der Konfliktparteien angewiesen blieb. 178 Als weitere wesentliche Ursache sind die strukturellen Probleme der Vereinten Nationen zu nennen. Der Kalte Krieg zeigte in den Beratungen des Sicherheitsrates über den Kaschmirkonflikt zunehmend Wirkung. 179 Unter dem Eindruck der teils scharfen Wortgefechte im Sicherheitsrat äußerten die Delegationen der blockfreien Staaten zuweilen die Bitte, den Kaschmirkonflikt nicht zum Vehikel der Streitigkeiten zwischen Ost und West zu machen. 180 Spätestens seit der Einlegung des Vetos der Sowjetunion im Jahre 1957 181 war der politische Handlungsspielraum zur 177
C. Maaß, Außenpolitik, in: Rothermund, Indien, S. 450, 452; ebenso: Ganguly, Indian Security Policy Approaches the Millenium, in: Columbia Journal of International Affairs, Vol. 51, No. 1, Summer 1997, S. 221, 222. "8 Tsiang (China), SCOR, 12 th Year, 765 th Meeting, 24 January 1957, S. 14 (§ 72 f.): „What the Council and the Commission and the representatives tried to do was this. If we could secure agreement between the two parties with regard to some particular condition, we were happy, and we put that down on paper immediately as a condition to which both parties agreed. But when we met with some point on which the two parties fell apart we were all patient to listen to the viewpoints of both and in all fairness we tried to draw a middle line and reach a compromise which we knew that neither party would entirely like but which we thought might be fair enough so that both parties would, after all, accept it. That has not occurred." "9 Vgl. Zarin (UdSSR), SCOR, 7 t h Year, 611 th Meeting, 23 December 1952, S. 21 (§ 90): „The policy of the US and the UK on Jammu and Kashmir bears a clearly imperialistic character/ 4; P. Dixon (Großbritannien), SCOR, 12 th Year, 772 nd Meeting, 20 February 1957, S. 37 (§ 141): ,,[T]he speech of the representative of the Soviet Union suggests either that the Soviet Union delegation is ignorant of the facts about Kashmir or that it is making an attempt to create mistrust and exacerbate existing misunderstanding in the sub-continent." 180 Rómulo (Philippinen), SCOR, 12 th Year, 773 r d Meeting, 20 February 1957, S. 11 (§ 52). 181 Es wird spekuliert, daß Indien sich das Veto der Sowjetunion im Sicherheitsrat in der Kaschmirfrage im Jahre 1957 mit auffallender Zurückhaltung in der Bewertung des Einmar-
2. Kap.: Der Kaschmirkonflikt vor den Vereinten Nationen
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Lösung des Kaschmirkonfliktes wegen der Frontstellung der Militärpakte im Sicherheitsrat derart zusammengeschmolzen, daß man sich gerade mal auf die Bewahrung des territorialen Status quo zu verständigen vermochte. 182 Das UNO-spezifische Problem des Postenschachers wurde auch im Kaschmirkonflikt virulent. Der kolumbianische VN-Gesandte Urrutia enthüllte im Februar 1957, daß die USA die Ernennung ihres Kandidaten, General Nimitz, zum VN-Plebiszit-Verwalter gegen den Willen der indischen Regierung durchgesetzt hatten, die den Präsidenten des Roten Kreuzes für dieses Amt ins Gespräch gebracht hatte. 183 Es darf unterstellt werden, daß die Führungselite Indiens die Vorstellung, ausgerechnet einem U.S. Flottenadmiral militärische Entscheidungsgewalt in Jammu und Kaschmir zu übertragen, als Zumutung empfand. Nicht zuletzt geriet auch das Vorgehen des Sicherheitsrates im Kaschmirkonflikt in die Kritik. Der chinesische VN-Gesandte Tsiang warf dem Sicherheitsrat vor, er habe in der Frühphase des Konfliktes die Möglichkeiten einer Einigung zwischen Indien und Pakistan mit überspannten Forderungen nach Bildung einer „neutralen" Übergangsregierung und vollständiger Entmilitarisierung des Fürstenstaates zunichte gemacht. 184 Die sowjetische Delegation resümierte, der Sicherheitsrat habe sich zu sehr auf die Abhaltung eines Plebiszites fixiert und darüber das Ziel eines Abkommens zwischen Indien und Pakistan aus den Augen verloren. 185 Dieser Vorwurf geht allerdings ins Leere. Die Vereinten Nationen verstanden sich von Beginn an mehr als Schlichtungsinstanz denn als Gralshüter moralischer Werte. Schon sehr früh, nämlich bei der Mandatierung des VN-Sondergesandten Dixon im März 1950, hatte der Sicherheitsrat Bereitschaft signalisiert, das Prinzip der Selbstbestimmung zugunsten einer Lösung im Schnellverfahren über Bord zu werfen. Der britische VN-Gesandte Shone erklärte bereits im Rahmen der Beratungen über den Resolutionsentwurf zur Dixon-Mission im Namen der Resolutions-Sponsoren, der Sicherheitsrat erwarte von Dixon, daß er sich für eine Lösung des Konfliktes auf der Grundlage der Prinzipien einsetze, über die Indien und Pakistan bereits Einigkeit erzielt hätten. Sollte sich aber herausstellen, daß dieser Weg nicht gangbar sei, erstrecke sich sein Mandat, so Shone, auch darauf, andere Formen der Konfliktbewältigung auszuloten.186 Wenn es in SR-Resolution 80 (1950) daher heißt, Dixon sches der Truppen des Warschauer Paktes in Ungarn 1956 erkauft hat. Die Annäherung Neu Delhis an Moskau kompromittierte insbesondere Indiens Führungsanspruch in der Bewegung der blockfreien Staaten. Näher: Vanaik, The Painful Transition: Bourgeois Democracy in India, S. 237. 182 A. Siehr, Conflicts, Indian Subcontinent, in: Wolfrum / Philipp, UN: Law, Policies and Practice, Vol. 1, S. 243, 252. 183
Urrutia (Kolumbien), SCOR, 12 th Year, 768 th Meeting, 15 February 1957, S. 17 (§ 73). ι*" Tsiang (China), SCOR, 7 t h Year, 611 th Meeting, 23 December 1952, S. 19 (§ 81-83). 185 Sobolev (UdSSR), SCOR, 12 th Year, 765 th Meeting, 24 January 1957, S. 16 (§ 82). Auch Bailey, The UN Security Council and Human Rights, S. 22, urteilt, der Sicherheitsrat sei von seiner ursprünglichen Linie, auf eine Lösung des Kaschmirkonfliktes durch Abhaltung eines Plebiszites hinzuwirken, zu keinem Zeitpunkt abgewichen, wertet dies aber - anders als Sobolev - positiv.
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1. Teil: Vlkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
sei ermächtigt, den Regierungen Indiens und Pakistans Vorschläge jedweder Art zu unterbreiten, die seiner Einschätzung nach geeignet seien, zu einer schnellen und dauerhaften Lösung des Kaschmirkonfliktes beizutragen, 187 kann dies als Hinweis darauf verstanden werden, daß der Sicherheitsrat im Interesse einer Lösung der Kaschmirfrage bereit war, von den Vorgaben des Selbstbestimmungsrechtes abzurücken. Bezeichnenderweise begründete der VN-Delegierte Jugoslawiens die Enthaltung seines Landes bei der Abstimmung über den Resolutionsentwurf denn auch damit, der Sicherheitsrat scheine im Bestreben um Vermittlung zwischen Indien und Pakistan das Selbstbestimmungsrecht vergessen zu haben. 188 Für die Definition der zukünftigen Rolle, welche die Vereinten Nationen im Kaschmirkonflikt spielen können, ist eine gründliche Fehleranalyse von zentraler Bedeutung. Darüber soll aber das historische Verdienst nicht geschmälert werden, das sich die Vereinten Nationen durch die Verabschiedung der UNCIP-Resolutionen und ihre Mitwirkung bei der Annahme durch Indien und Pakistan erworben haben. Der Lösung des Kaschmirkonfliktes auf der Grundlage eines Plebiszites haben sie damit ein tragfähiges rechtliches Fundament verliehen.
3. Kapitel
Entwicklungen im indisch, pakistanisch und chinesisch besetzten Teil Jammu und Kaschmirs I. Gründung und Aufbau des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir 1. Ein- und Absetzung der Regierung unter Sheikh Abdullah und wachsender Einfluß Neu Delhis Premierminister Jawaharlal Nehru sorgte im Herbst 1947 persönlich für die Freilassung Sheikh Abdullahs aus der Haft des Maharajas, lud ihn zu Gesprächen nach 186 χ Shone (Großbritannien), SCOR, 5 t h Year, 469 th Meeting, 8 March 1950, S. 3 f. 187 SC Res. 80 (1950), S /1469, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 5 t h Year, 470 th Meeting, 14 March 1950, S. 2: „The Security Council ... [d]ecides to appoint a United Nations Representative for the following purposes who shall have authority to perform his functions in such place or places as he may deem appropriate: ... [t]o place himself at the disposal of the Governments of India and Pakistan and to place before those Governments or the Security Council any suggestions [Hervorhebung des Verf.] which, in his opinion, are likely to contribute to the expeditious and enduring solution of the dispute which has arisen between the two Governments in regard to the State of Jammu and Kashmir." 188 Nincic (Jugoslawien), SCOR, 5 t h Year, 470 th Meeting, 14 March 1950, S. 4: ,,[T]he question of Kashmir should not, in our opinion, be viewed solely or even essentially as a dis-
3. Kap.: Entwicklungen im besetzten Teil Jammu und Kaschmirs
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Neu Delhi ein und verhalf ihm alsbald zum Amt des Premierministers Jammu und Kaschmirs. Auf diesem Hintergrund kann die Behauptung nicht erstaunen, Sheikh Abdullah sei nur einer von vielen Kollaborateuren gewesen, der mittels einer Marionettenregierung den Einfluß Neu Delhis auf Jammu und Kaschmir gesichert habe. 1 8 9 Sheikh Abdullah mag von seinem engen persönlichen Verhältnis mit Nehru profitiert haben. Drei Dinge sprechen ihm aber auch die meisten seiner Gegner nicht ab: Charisma, persönliche Integrität und Popularität. 190 Sheikh Abdullah verfolgte eine eigene politische Linie. Sein autokratischer Regierungsstil, seine offene Sympathie für ein Einparteiensystem nach sowjetischem Muster und sein Widerwillen gegen eine Trennung von Partei und Staat machten ihn zu einer streitbaren und umstrittenen, aber markanten politischen Führungsfigur. 191 Im August 1953 nahm Staatsoberhaupt Yuvaraj Karan Singh eine Kabinettskrise zum Anlaß, Sheikh Abdullah, das religiöse Oberhaupt der Moslemgemeinde Kaschmirs, Mirza Afzal Beg, sowie den gesamten Führungskader der National Conference verhaften zu lassen. Die Gründe für die Verhaftung waren fadenscheinig. 1 9 2 Die eigentliche Ursache für die Absetzung, Verhaftung und Internierung Sheikh Abdullahs wird je nach politischer Couleur in der Gefährdung der nationalen Sicherheit 193 oder in seiner mangelnden Willfährigkeit gegenüber dem Expansionsdrang Neu Delhis gesehen.194 Maßgeblichen Anteil an dem Coup gegen die Abdullah-Regierung hatte Abdullahs rechte Hand, Bakshi Ghulam Mohammed, der ihm als Premierminister nachfolgte und schon in seiner Antrittsrede die „untrennbaren Bande" zwischen Indien und Kaschmir beschwor. Die National Conference verkam unter der Führung Bakshis zusehends zu einem Instrument Neu Delhis und konnte sich als Mehrheitspartei nur noch durch Verbote rivalisierender politischer Gruppierungen - wie der 1958 von Sheikh Abdullah gegründeten Plebiscite Front - und Wahlfälschung behaupten.195 Bakshi leitete den Niepute between two neighbouring States, India and Pakistan, but should, above all, be considered in the light of the rights and interests of the populations of the State of Jammu and Kashmir itself." Auch im Palästina-Konflikt ließ das Eintreten der Vereinten Nationen für das Selbstbestimmungsrecht lange zu wünschen übrig, vgl.: De Waart, Dynamics of Self-Determination in Palestine, S. 54: „The inadequate protection of the Palestinian right of self-determination by the UN weakened the moral and legal authority of the organization to cope with the issue of self-determination at large in the post-cold war era." 189 Al Mujahid, Jinnah and the Making of Pakistan, in: Journal of South Asian and Middle Eastern Studies, Vol. 21, No. 1, Fall 1997, S. 1, 13. 190 Jha, Kashmir 1947, S. 125 f.; L.K. Kaul, Sheikh Abdullah: Ambition and Politics, in: Grover, The Story of Kashmir, Vol. 2, S. 286, 288.
191 Puri, Righting the Wrong, in: India 1994, Seminar 425, January 1995, S. 61,63. 1 92 Yuvaraj Karan Singh stützte die Entlassung Sheikh Abdullahs auf folgende Gründe: „(i) cabinet disunity; (ii) losing the confidence of the majority of the Cabinet; (iii) failure to overcome the differences by a bold display of leadership; (iv) causing economic distress to the people", zitiert nach: Das Gupta, Jammu and Kashmir, S. 208. 193 Om, Debacle in Kashmir, S. 61. 194 Mahmood, The Kashmir Dispute, in: Current Affairs, September 1994, S. 1, 12.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
dergang der politischen Kultur Jammu und Kaschmirs ein, der sich unter seinen Nachfolgern Sham-ud-Din, Sadiq und Mir Qasim stetig fortsetzte. 196 Immerhin wurde die Aushöhlung des Autonomiestatus Jammu und Kaschmirs und die de facto Machtübernahme Neu Delhis mit großzügiger Wirtschaftshilfe versüßt, von der ein guter Teil allerdings ihren Verwendungszweck verfehlte und in dunkle Kanäle abfloß. 197
2. Verabschiedung einer Verfassung des Bundesstaates Jammu und Kaschmir Im Dezember 1950 machte der pakistanische Außenminister den Sicherheitsrat auf Entwicklungen im indisch kontrollierten Teil Jammu und Kaschmirs aufmerksam, die Anlaß zu der Befürchtung gäben, Indien beabsichtige die Verhinderung eines Plebiszites.198 Hintergrund war die Verabschiedung einer Resolution der All Jammu and Kashmir National Conference, welche die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung zur Klärung der Regierungsform und der politischen Zugehörigkeit des Staates Jammu und Kaschmir empfohlen hatte. Nehru hatte diese Initiative begrüßt und erklärt, die Verfassunggebende Versammlung werde den Beitritt Jammu und Kaschmirs zu Indien ratifizieren. Im Mai 1951 teilte der pakistanische Außenminister dem Sicherheitsrat mit, der Yuvaraja Jammu und Kaschmirs habe eine Proklamation erlassen, die ein detailliertes Verfahren für die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung vor-
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Committee for Initiative on Kashmir, Kashmir War - Proxy War, S. 39; Wani/Naqash, Reflections on Kashmir Politics, S. 57: „In a letter, which acquired some fame, Jawaharlal Nehru wrote to Bakshi Ghulam Mohammad after his National Conference won almost all the seats in the 1962 elections: ,In fact, it would strengthen your position much more if you lost a few seats to bona fide opponents.'" 196 L.K. Kaul, Sheikh Abdullah: Ambition and Politics, in: Grover, The Story of Kashmir, Vol. 2, S. 286, 289: „Within the system of governance, one parameter that rose unchecked was corruption in public life, though educational and other professional institutions, including the Judiciary, were left untouched." Nach einer Erhebung des Indian Council of Social Science aus dem Jahre 1972 unter 300 Bewohnern der Distrikte Baramulla, Srinagar und Anantnag äußerten 10,3% der Befragten Zufriedenheit über das bestehende Maß an Autonomie, während 76% sich für größere Autonomie aussprachen. Vgl.: Quraishi, Elections and State Politics of India, Table 36, S. 114, der davon ausgeht, daß der Prozentsatz der Unzufriedenen in Wirklichkeit weit höher lag. 1 97 Brass, The Politics of India Since Independence, S. 219. 198 Schreiben des pakistanischen Außenministers M.Z. Khan an den Präsidenten des Sicherheitsrates vom 14. Dezember 1950, UN-Doc. S /1942, SCOR, 5 t h Year, Supplement for September through December 1950, S. 126 f. Der VN-Beauftragte Dixon merkte bereits in seinem Bericht im September 1950 an, daß die indische Regierung Möglichkeiten der Feststellung des Volkswillens in Erwägung ziehe, denen er sich nicht anschließen könne, vgl.: UN Representative Dixon, Report to the Security Council, SCOR, 5 t h Year, Supplement for September through December 1950, S. 44 (§ 97), 45 (§ 100).
3. Kap.: Entwicklungen im besetzten Teil Jammu und Kaschmirs
77
sehe. 199 Wenig später berichtete der VN-Gesandte Pakistans dem Sicherheitsrat, Sheikh Abdullah habe in einer Rede die Entschlossenheit der Regierung Jammu und Kaschmirs bekräftigt, die Beitrittsfrage durch eine Verfassunggebende Versammlung klären zu lassen. 200 Die indische Regierung bemühte sich, den Eindruck zu vermeiden, sie wolle in der Kaschmirfrage die Resolutionen des Sicherheitsrates unterlaufen und den Status quo perpetuieren. Der VN-Botschafter Indiens betonte in den Beratungen des Sicherheitsrates, die Aufgabe der Verfassunggebenden Versammlung werde darin bestehen, den Weg für die Wahl eines provisorischen Parlamentes zu bahnen. Dieser Schritt sei notwendig, um die demokratische Kontrolle der provisorischen Verwaltung zu gewährleisten. 201 Die Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrates mißbilligte das Vorgehen der indischen Regierung in ungewöhnlich scharfer Form und warf ihr einen Verstoß gegen Buchstaben und Geist der UNCIP-Resolutionen vor. 2 0 2 Im März 1951 verabschiedete der Sicherheitsrat Resolution 91. Darin wurde der Verfassunggebenden Versammlung die Kompetenz abgesprochen, Entscheidungen von Tragweite zu treffen. Die Klärung der Beitrittsfrage bleibe einem Plebiszit unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, wie es in den Resolutionen des Sicherheitsrates und der VN-Kommission für Indien und Pakistan vorgesehen sei, vorbehalten. 203 Die indische Regierung zeigte sich davon unbeeindruckt und trieb die verfassungsrechtliche Integration des „Bundesstaates" Jammu und Kaschmir planmäßig voran. Im April 1951 fanden im indisch besetzten Gebiet Jammu und Kaschmirs Wahlen zur Konstituierung einer Verfassunggebenden Versammlung statt. Diese Wahlen waren aber keineswegs frei und fair. Sheikh Abdullah hatte im Vorfeld die 199 Schreiben des pakistanischen Außenministers M.Z. Khan an den Präsidenten des Sicherheitsrates vom 4. Mai 1951, UN-Doc. S / 2119, SCOR, 6 t h Year, Supplement for April through June 1951, S. 98 f. 200 Schreiben des VN-Vertreters Pakistans A.S. Bokhari an den Präsidenten des Sicherheitsrates vom 10. Mai 1951, UN-Doc. S / 2145, SCOR, 6 t h Year, Supplement for April through June 1951, S. 121 f. 201 B.N. Rau (Indien), SCOR, 6 t h Year, 533 r d Meeting, 1 March 1951, S. 6 (§ 19), 536 th Meeting, 9 March 1951, S. 8 (§ 23). Wenn Indien beabsichtige, das in den UNCIP Resolutionen verkörperte Abkommen zu erfüllen, fragte daraufhin A.S. Bokhari (Pakistan), SCOR, 6 t h Year, 548 th Meeting, 29 May 1951, S. 8 (§ 28), gebiete dann nicht der gesunde Menschenverstand, zuerst eine Entscheidung über die politische Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs herbeizuführen und dann den verfassungsrechtlichen Rahmen abzustecken? Wenige Wochen später betonte B.N. Rau, SCOR, 6 t h Year, 538 th Meeting, 29 March 1951, S. 3 (§ 5), im Sicherheitsrat, die indische Regierung sehe keine Möglichkeit, die Verfassunggebende Versammlung davon abzuhalten, ihre Meinung in der Beitrittsfrage kundzutun.
202 G. Jebb (Großbritannien), 548 th Meeting, 29 May 1951, SCOR, 6 t h Year, S. 15 (§ 59); Hsia (China), a. a. O., S. 21 (§ 85); bündig: Quevedo (Ecuador), a. a. O., S. 19 (§ 79): „The determination of the future political affiliation or allegiance of Jammu and Kashmir by the constituent assembly which is to be convened would be a violation of the international agreement between India and Pakistan whereby the question is to be settled by means of a plebiscite." 203 SC Res. 91 (1951), UN-Doc. S / 2392, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 6 t h Year, 539 th Meeting, 30 March 1951, S. 1 - 2 .
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
Nominierung mißliebiger Kandidaten der politischen Opposition unterbinden lassen. Daraufhin hatten die Muslim Conference, die bedeutendste politische Kraft im Parteienspektrum neben der National Conference, und die Praja Parishad, eine Partei mit zahlreichen Anhängern unter den Hindus der Region Jammu, die Wahlen boykottiert. 204 Im November 1951 nahm die Verfassunggebende Versammlung ihre Beratungen auf. Sheikh Abdullah mahnte die Delegierten bereits in der Eröffnungsansprache, sie hätten alle Freiheiten, eine Verfassung nach ihren Vorstellungen zu entwerfen, müßten aber die durch den Beitritt gezogenen Grenzen beachten. 205 Politische Ränkespiele und handfeste Interventionen aus Neu Delhi brachten die Beratungen der Versammlung immer wieder ins Stocken. Im November 1956 nahm die Versammlung schließlich eine Verfassung für den „Bundesstaat Jammu und Kaschmir" an, die in Art. 3 die Unwiderruflichkeit des Anschlusses Jammu und Kaschmirs an die Indische Union bestätigte.206 Der indische VN-Gesandte Krishna Menon vertrat in den Beratungen des Sicherheitsrates den Standpunkt, im Hinblick auf die Beitrittsfrage komme der Verfassung Jammu und Kaschmirs lediglich deklaratorische Bedeutung zu, da der Anschluß an die Indische Union bereits durch die Beitrittserklärung des Maharajas vollzogen worden sei. 207 Mit dieser Sicht der Dinge setzte er sich allerdings nicht durch. In Resolution 122 bekräftigte der Sicherheitsrat seine Auffassung, daß Versuche der Verfassunggebenden Versammlung, die Kaschmirfrage dauerhaft zu regeln, nicht der Erfüllung der Resolutionen des Sicherheitsrates und der Kommission für Indien und Pakistan dienten, wonach eine Entscheidung über den zukünftigen Status Jammu und Kaschmirs im Einklang mit dem Willen der Bevölkerung durch die Abhaltung eines Plebiszites zu treffen sei. 208 Die Delegation der Sowjet204
The International Commission of Jurists, Human Rights in Kashmir, S. 16 und Appendix 1, S. 84, 92; A. Khan, The Kashmir Dispute, in: Columbia Journal of Transnational Law, Vol. 31, 1994, S. 495, 517 f., FN 89: „On election day, however, no voting took place. The National Conference ,won* all seventy-five seats: seventy three candidates were declared »winners4 because they ran unopposed; the opposition candidates for the remaining two seats dropped out before the polling began. Thus, the Constituent Assembly of Jammu and Kashmir came into existence without balloting." Gegen diesen Vorwurf verteidigte die indische Regierung sich mit dem - wenig überzeugenden - Hinweis, bei den Kandidaten, die zur Wahl nicht angetreten seien, habe es sich um Vertreter marginaler orthodoxer Rajput Hindu Gruppierungen gehandelt, die erkannt hätten, daß ihre Vorstellungen von einem Anschluß an Indien nicht durchsetzbar gewesen seien, vgl.: V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 763 rd Meeting, 23 January 1957, S. 39 (§ 158). 205 Sheikh Abdullah, Inaugural Address to the J&K Constituent Assembly, November 5, 1951, abgedruckt bei: Permanent Mission of India to the UN, SCOR, 12th Year, 762 nd Meeting, 23 January 1957, Annex 6, S. 1: „With the exception of the items grouped under Defence, Foreign Affairs and Communication in the Instrument of Accession, we have complete freedom to frame our Constitution in the manner we like." 206 Ein Abdruck der Verfassung findet sich bei: Justice Anand, The Constitution of Jammu and Kashmir, Appendix 4. 2 07 V.K. Menon (Indien), SCOR, 12 th Year, 765 th Meeting, 24 January 1957, S. 26 (§ 138): ,,[T]he constituent Assembly Act is what in law is called a declaratory act. It does not create anything; it simply affirms the existing state of affairs."
3. Kap.: Entwicklungen im besetzten Teil Jammu und Kaschmirs
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union war mit ihrer Ansicht, daß sich in der Annahme der Verfassung der Wunsch der Bevölkerung nach einem Beitritt Jammu und Kaschmirs zur Indischen Union manifestiert habe und dem Selbstbestimmungsrecht daher Genüge getan sei, 209 isoliert. Diese Haltung dürfte auch weniger durch rechtliche als politische Erwägungen motiviert gewesen sein. Die Argumentation des sowjetischen VN-Gesandten Sobolev trug nämlich nicht einmal den Anforderungen der sowjetischen Völkerrechtsdoktrin an die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes Rechnung. Danach realisiert sich nicht nur das äußere, sondern auch das innere Selbstbestimmungsrecht in der Abhaltung eines Plebiszites.210
3. Der „Kashmir Accord" und die zweite Amtszeit Sheikh Abdullahs Korruption, Mißwirtschaft und ein politisches Vakuum in Jammu und Kaschmir veranlaßten Indira Gandhi 1974 zur Aufnahme von Verhandlungen mit Sheikh Abdullah über dessen Rückkehr an die Macht. Abdullah war sich im klaren darüber, daß Neu Delhi nach der Niederlage Pakistans von 1971 und dem Abschluß des Simla Abkommens von einer Position der Stärke verhandelte und selbst bescheidene Ziele wie eine Rückkehr zu den Verhältnissen von 1953 politisch nicht mehr durchsetzbar waren. Der Kashmir Accord von 1975, 211 mit dem Sheikh Abdullah seine Wiedereinsetzung als Chief Minister erkaufte, sah im Kern die Bestätigung des Beitrittes im Gegenzug für die Gewährleistung eines im Umfang bescheidenen Sonderstatus Jammu und Kaschmirs nach Maßgabe des dehnbaren Art. 370 Ind. Verf. vor. 2 1 2 Das geschichtliche Urteil über die Entscheidung Sheikh Abdullahs für Kooperation und gegen Konfrontation fällt sehr unterschiedlich aus. Die offizielle indische Geschichtsschreibung feiert den nach langen Jahren an die Macht zurückgekehrten 208 SC Res. 122 (1957), UN-Doc. S / 3779, SCOR, Resolutions and Decisions of the Security Council, 12 th Year, 765 th Meeting, 24 January 1957, S. 1 f.: „The Security Council ... reaffirms the affirmation in its resolution 91 (1951) and declares that the convening of a constituent assembly as recommended by the General Council of the ,A11 Jammu and Kashmir National Conference* and any action that assembly may have taken or might attempt to take to determine the future shape and affiliation of the entire State or any part thereof, or action by the parties concerned in support of any such action by the assembly, would not constitute a disposition of the State in accordance with the above principle [that the final disposition of the State of Jammu and Kashmir will be made in accordance with the will of the people expressed through the democratic method of a free and impartial plebiscite conducted under the auspices of the United Nations]." 209 Sobolev (UdSSR), SCOR, 12 th Year, 770 th Meeting, 18 February 1957, S. 38 (§ 135). Zarin (UdSSR), SCOR, 7 t h Year, 611 th Meeting, 23 December 1952, S. 23 (§ 100), hatte die indische Argumentation schon 1952 vorweggenommen, indem er erklärte, die Verfassunggebende Versammlung könne eine verbindliche Entscheidung in der Kaschmirfrage treffen. 210 Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 67. 2Π Vgl. Anhang VIII. 212 Ram, Special Status in Indian Federalism, S. 104-107.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
Sheikh Abdullah als gereiften „Staatsmann".213 In den Augen vieler MoslemKaschmiris besiegelte er mit seiner Zustimmung zum „Diktat von Delhi" den Ausverkauf der Interessen seines Volkes. 214 Dagegen ging den Pandits die Integration nicht weit genug. In Jammu kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen der Polizei und Anhängern der Hindu-Partei Jana Sangh, die eine vollständige Eingliederung Jammu und Kaschmirs in die Indische Union forderte. 215 Die Niederlage Indira Gandhis in den Lok Sabha Wahlen 1977 nahm Abdullah zum Anlaß, sich von den Fesseln der ihm aufgezwungenen Koalition mit der Congress Party zu befreien. Er löste die State Assembly auf, ordnete Neuwahlen an und landete mit der National Conference einen Erdrutschsieg, der ihm eine Alleinregierung ermöglichte. Indische Politiker haben versucht, aus dieser Ohrfeige für die Politik des Zentrums Kapital zu schlagen, indem sie argumentieren, im Wahlerfolg der von Sheikh Abdullah geführten National Conference habe sich in eindrucksvoller Weise die Zustimmung der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs zum Abkommen von Delhi und damit zum Beitritt manifestiert. 216 Sie übersehen geflissentlich, daß Sheikh Abdullah im Wahlkampf nicht als Bürge für Buchstaben und Geist des Kashmir Accord auftrat, sondern als gewiefter Taktiker, der Seitenhiebe gegen Delhi austeilte und Parolen ausgab (wie die Forderung nach Wiedervereinigung mit Azad Kaschmir), die das Abkommen eher in Frage stellten denn bestätigten. 217 Für diese Haltung, nicht für seine Anbiederung an Delhi erhielt er ein überzeugendes Mandat der Bevölkerung. 213 Lok Sabha Secretariat, Eminent Parlamentarians Monograph Series, Vol. 8: Sheikh Abdullah, S. 10. 214 In einer Stellungnahme vom Februar 1975 vermittelte die indische Premierministerin Indira Gandhi den Eindruck, die Funktion des Art. 370 Ind. Verf. erschöpfe sich in der Regelung des Verfahrens der Übertragung materiellen indischen Verfassungsrechtes auf den Geltungsbereich der Verfassung Jammu und Kaschmirs, vgl. Jain, Indian Constitutional Law, S. 438: „On February 24, 1975, Prime Minister Indira Gandhi made a statement on the future relationship between the State and the Indian Union. The highlight of the statement is that this constitutional relationship will continue as has been and the extension of further provisions of the Constitution to the State will continue to be governed by the procedure prescribed in Art. 370." 21 5 Human Rights Watch/Asia, Kashmir Under Siege, S. 11. 216 Die Wahlen zur State Assembly 1977 wurden überwiegend als frei und fair bezeichnet, statt vieler: Jaisingh, Kashmir: A Tale of Shame, S. 90. A.A.: Ganai, Kashmir: National Conference and Politics, S. 77: „During the months of May and June 1977, most of the local dailies were filled with incidents and accidents of terrorism in the State. ... Attacks and counter attacks both verbal and physical were initiated in Kashmir politics, each [party] blaming the other." Die Internationale Juristenkommission konstatiert in ihrem Bericht über die Menschenrechtslage in Jammu und Kaschmir trocken, daß selbst die Wahl von 1977, die als frei und fair gelten könne, unter dem Vorbehalt zu sehen sei, daß die indische Regierung es nicht geduldet hätte, wenn eine Partei den Anschluß Jammu und Kaschmirs an Indien in Frage zu stellen gewagt hätte, vgl.: The International Commission of Jurists, Human Rights in Kashmir, S. 26, Appendix 1, S. 84, 92: „It is, however, very difficult to regard the 1977 election as a positive exercise of the right of self-determination. Accession to India was accepted, but as a fait accompli rather than a positive choice."
3. Kap.: Entwicklungen im besetzten Teil Jammu und Kaschmirs
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In ihrem Bericht über die Menschenrechtslage in Jammu und Kaschmir führt die Internationale Juristenkommission das Funktionieren der Kohabitation Delhis und Srinagars in Jammu und Kaschmir maßgeblich auf das politische Geschick und die Integrationsfähigkeit Sheikh Abdullahs zurück, dem es gelungen sei, die Bevölkerung von den Vorteilen einer Zusammenarbeit mit Indien zu überzeugen. 218 Allerdings ist es heute ein offenes Geheimnis, daß der Sheikh nach seiner Rückkehr an die Macht die staatlichen Institutionen zunehmend für die Zwecke der National Conference instrumentalisierte und die politische Opposition rücksichtslos unterdrückte. 219 Ob der Sher-e-Kashmir, der Löwe von Kaschmir, in seinen letzten Jahren der Sache der Kaschmiris, der er sein Leben verschrieben hatte, eher nützte oder schadete, ist schwer zu sagen. Daß man sich diese Frage stellen muß, ist indes bedauerlich genug.
4. Die Auflösung indigener politischer Strukturen und der Ausbruch des Militantismus Nach dem Tode Sheikh Abdullahs im September 1982 übernahm sein Sohn Farooq die Regierungsgeschäfte. Farooq Abdullah hatte von Beginn an einen schweren politischen Stand. Die orthodoxen Moslems nahmen ihm seinen westlichen Lebenswandel übel, und Neu Delhi schrieb ihn frühzeitig als politisches Leichtgewicht ab. 2 2 0 Im Juli 1984 wurde er von Gouverneur Jagmohan entlassen und durch den Schwiegersohn Sheikh Abdullahs, G.M. Shah, ersetzt. Die Regierung unter Shah erwies sich als unfähig und korrupt. 221 Im März 1986 verfügte Gouverneur Jagmohan ihre Absetzung und verhängte nach Art. 92 der Verfassung Jammu und Kaschmirs den Ausnahmezustand. 217
Lamb, Kashmir - A Disputed Legacy, S. 309. Wani/Naqash, Kashmir Politics, S. 32 f., zitieren aus einer Rede Sheikh Abdullahs vom Mai 1977: „We shall not hesitate to secede from India if we are not assured a place of honour and dignity in terms of the safeguards provided for the people of the state under Article 370 of the Constitution." Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrechte, S. 47, führt (mit Blick auf Süd-Tirol) darüber hinaus den Gedanken ins Feld, die Wahl zwischen Teilautonomie und untragbaren Zuständen ersetze nicht die dem Volk i.R. des Selbstbestimmungsrechtes zustehende Entscheidung zwischen Integration und Sezession. 21 8 International Commission of Jurists, Human Rights in Kashmir, S. 33. 219 Tremblay, Nation, Identity and the Intervening Role of the State, in: Pacific Affairs, Vol. 69, No. 4, Winter 1996-1997, S. 471,477. 220 Schofield, Kashmir in the Crossfire, S. 223: „Farooq Abdullah [was known as] ,disco' chief minister, who enjoyed riding around Srinagar on his motor bicycle."; Brass, The Politics of India Since Independence, S. 220: „Dr. Farooq Abdullah also soon lost credibility with the central leadership who considered him an erratic, politically immature, and unreliable person whose inconsistency and lack of leadership qualities were threatening the peace and stability of the state." 221 T. Singh, Kashmir: A Tragedy of Errors, S. 93: „G.M. Shah, despite the fact that he ran what is perceived as the most corrupt government Kashmir has ever known, managed to stay in power, with the able assistance of Delhi, for nearly two years."
6 Hönig
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
Farooq Abdullah kehrte im November 1986 um den Preis einer Koalition der National Conference mit der in Jammu und Kaschmir diskreditierten Congress Party an die Macht zurück. Die Koalition gewann zwar die State Assembly Wahlen im März 1987, ging aber nicht gestärkt daraus hervor. Die massive Benachteiligung der oppositionellen Muslim United Front im Wahlkampf und der Vorwurf der Wahlfälschung belasteten sie schwer. Eine Serie von Korruptionsskandalen stürzte die Regierung in eine Krise und brachte Farooq Abdullah endgültig um seine politische Glaubwürdigkeit. 222 Ohne Rückhalt in der Bevölkerung und bar jeder politischen Vision vermochte die Regierung Farooq Abdullahs dem Abdriften weiter Bevölkerungskreise in eine außerparlamentarische Opposition nicht mehr wirksam entgegenzusteuern. Aktivisten der Jammu and Kashmir Liberation Front (JKLF) gingen in der zweiten Jahreshälfte 1988 dazu über, ihren politischen Forderungen durch Anschläge auf öffentliche Verkehrsmittel und Gebäude Nachdruck zu verleihen. Die Entführung der Tochter des indischen Innenministers, Rubaiya Sayeed, durch die JKLF im Dezember 1989 markierte einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Neu Delhi und Srinagar. Die indische Koalitionsregierung der National Front unter V.P. Singh gab den Forderungen der Geiselnehmer nach und geriet dafür unter scharfes Feuer ihrer politischen Gegner. 223 Anstatt nach dem unblutigen Ende der Geiselaffäre in dem versöhnlichen Kurs fortzufahren und den politischen Dialog mit der außerparlamentarischen Opposition in Jammu und Kaschmir zu suchen, holte Singh im Januar 1990 den als Hardliner bekannten Jagmohan als Gouverneur zurück. Die Folgen waren fatal. Farooq Abdullah reichte unverzüglich seinen Rücktritt ein, Jagmohan verhängte Governor's Rule, und die Unruhen eskalierten zu offenen bewaffneten Zusammenstößen zwischen der kriminalisierten Freiheitsbewegung und der indischen Armee. 224 Das öffentliche Leben kam zum Erliegen, die Wirtschaft kollabierte, und der Bundesstaat Jammu und Kaschmir verfiel in einen Zustand politischer Agonie. Unter massiver Aufbietung indischer Sicherheitskräfte wurden im September 1996 in Jammu und Kaschmir State Assembly Wahlen abgehalten, aus denen die 222 Akhtar, Uprising in Indian-Held Jammu and Kashmir, S. 27; Ganguly, Avoiding War in Kashmir, in: Foreign Affairs, Vol. 69, No. 5, Winter 1990/91, S. 57, 63; Puri, Righting the Wrong, in: India 1994, Seminar 425, January 1995, S. 61, 62. 223 Khurshid, Beyond Terrorism: New Hope for Kashmir, S. 56 f.: „Despite signals that the militants would have eventually released [the hostage], the then government caved in and acceded to [the demands of the JKLF] for the release of five of their associates. This led to an increase in kidnapping, not just in Kashmir, but all over India." 224 Nach seiner Entlassung im Mai 1990 rechtfertigte Jagmohan in einem Interview mit dem Sunday Observer seinen politischen Kurs folgendermaßen: „What is this political process they are talking about? What could have been a more political step than the dissolution of the state assembly? But they say the dissolution was not properly effected. They get up and shout .alienation! alienation!' What alienation! When not more than one per cent could be motivated to come out and vote [in 1989], was that not alienation? What more alienation was left to be achieved?"
3. Kap.: Entwicklungen im besetzten Teil Jammu und Kaschmirs
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National Conference unter Farooq Abdullah als Sieger hervorging. 225 Der scheinbar deutliche Wahlausgang kann nicht verschleiern, daß die Regierung Abdullah an einem ernsten Legitimationsdefizit leidet. 226 Unabhängige Wahlbeobachter haben schwerwiegende Manipulationen bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahlen aufgedeckt. 227 In der Bevölkerung ist unvergessen, wie Abdullah 1986 mit weitreichenden Zugeständnissen an Neu Delhi die Wiedereinsetzung als Chief Minister erkaufte und im März 1994 auf dem Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen im Kaschmirtal die indische Kampagne gegen die Einbringung eines pakistanischen Resolutionsentwurfes zur Menschenrechtslage in Jammu und Kaschmir bei der VN-Menschenrechtskommission in Genf mit Plaudereien über Golf unterstützte. 228 Die Zwischenbilanz der dritten Regierungszeit Farooq Abdullahs fällt ernüchternd aus. 229 Die Volksvertreter gehen auf Distanz zur leicht reizbaren Wählerschaft, residieren im geschützten Srinagar oder halten sich, wie auch Farooq Abdullah selbst, überwiegend außerhalb des Bundesstaates auf. In Regierung und Verwaltung grassieren Ineffizienz, Korruption und Nepotismus. Offene Stellen im öffentlichen Dienst werden erst nach Zahlung eines Handgeldes besetzt, und groß angekündigte Projekte wie der Wiederaufbau der Infrastruktur und die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit 230 bleiben im bürokratischen Filz stecken. Darüber hinaus hält der Militantismus an. Im Verlaufe der Kampfhandlungen zwischen indischen Sicherheitskräften und Militanten sind bis Juni 1999 schätzungsweise 30.000 Menschen ums Leben gekommen.231 Ein Ende der Todesspirale ist nicht in Sicht. Zwar brüstete sich die Regierung in Srinagar noch im Mai 1999 damit, sie habe die Azadi-Bewegung in Kaschmir endlich unter Kontrolle, und verwies stolz auf eine monatliche Rekordzahl von 30.000 Touristen im Bundesstaat Jammu und Kaschmir. 232 Doch schon wenige Tage spä22
5 Die National Conference erhielt 34% der Stimmen (57 von 87 Sitzen), die Congress Party 21 %, BJP und Janata Dal zusammen 11 %; nach offiziellen Angaben lag die Wahlbeteiligung bei 55%, vgl.: Emmer, Kaschmir nach den Assembly-Wahlen, in: Südasien, 17. Jahrgang, Heft 1, 1997, S. 26, 26. 226 A.A.: Betz, Indien, in: Ostasiatischer Verein e.V., Asien-Pazifik: Wirtschaftshandbuch 1997/98, S. 165, 171. 227 Vgl. Kapitel 7.II.2. 228 s. Gupta, Triumph of Diplomacy, in: India Today, March 31, 1994, S. 66, 67, zitiert Abdullah im Werben um Unterstützung für die indische Position mit den Worten: „We will sort out [the] problem [of the human rights situation in Jammu and Kashmir] soon. Then you come down to Srinagar for a round of golf. The view is beautiful." 229 H. Baweja, Jammu and Kashmir: Grand Designs, in: India Today (New Delhi), July 6, 1998, S. 32, 37 f.; Jaffrelot, Mouvements d'autodétermination et intervention des Etats en Asie du Sud, S. 32 f. 230 Geschätzt wird die Zahl der Arbeitslosen in J&K auf ca. 200.000. 231 M. Fathers, On the Brink, in: Time Magazine, June 7, 1999, S. 36, 37; G. Venzky, Kaschmir und die Bombe, in: Die Zeit, 4. Juni 1998, Nr. 24, S. 5, 6. 232 Meldung der Agence France Presse, in: International Herald Tribüne, May 25,1999, S. 2. 6*
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
ter erwies sich diese Erfolgsmeldung als Makulatur. Nach massiven Kampfeinsätzen der indischen Luftwaffe gegen Rebellenstellungen im Norden Kaschmirs verschlechterte sich die Sicherheitslage im gesamten Kaschmirtal derart dramatisch, daß Touristen in Scharen nach Jammu zurückkehrten und die Buchungen für die Reisesaison 1999 fast sämtlich storniert wurden. 233
II. Die Verhältnisse in den Gebieten unter pakistanischer Kontrolle 1. Azad Kaschmir Unter pakistanischer Schutzherrschaft erhielt Azad Kaschmir 1974 eine eigene Verfassung, die einen Rat, ein Parlament, einen Obersten Gerichtshof sowie die Ämter eines Präsidenten und eines Premierministers vorsieht. 234 Nominell steht der pakistanischen Regierung im Hinblick auf Azad Kaschmir vorbehaltlich einer Klärung der Beitrittsfrage die Oberhoheit nur über die Ressorts Verteidigung, auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel und Währungspolitik zu, während die Regierung Azad Kaschmirs auf allen übrigen Feldern vollständige Autonomie genießt. In der Bestimmung des Artikel 56 der Übergangsverfassung Azad Kaschmirs wird der pakistanischen Regierung aber Ermessen hinsichtlich der Frage eingeräumt, welche Aufgaben in den Kompetenzbereich der Zentralgewalt fallen. Über dieses Einfallstor ist der maßgebliche Einfluß Islamabads auf alle Kernfelder der Regierungstätigkeit Azad Kaschmirs, insbesondere die Steuer- und Finanzpolitik, 2 3 5 verfassungsrechtlich abgesichert. Der Azad Jammu and Kashmir Council, zugleich oberstes Exekutiv- und Legislativorgan, besteht aus Vertretern Azad Kaschmirs und Pakistans. Eine Stimmenmehrheit zugunsten Pakistans sichert die Kontrolle der Zentralregierung über alle wesentlichen politischen Entscheidun-
233
Agence France Presse, Tourists flee from disputed valley, in: The Times, May 27, 1999, S. 17. 234 Ein kommentierter Abdruck des Azad Jammu and Kashmir Interim Constitution Act, 1974 findet sich bei: Gilani, Constitutional Development in Azad Jammu & Kashmir, S. 30298. Zu Politik, Verwaltung und Verfassungslage Azad Kaschmirs: M. Afzal, Local Government in Pakistan, in: J.R. Khan, Government and Administration in Pakistan, S. 632, 658; International Commission of Jurists, Human Rights in Kashmir, S. 75-77; Justice Mallick, Judge of the East, S. 172-174; Wirsing, India, Pakistan, and the Kashmir Dispute, S. 63 f. 235 Korbel, Danger in Kashmir, S. 322; K. Natorp, Von Kaschmir besessen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. März 1995, S. 3; Newberg, Double Betrayal: Repression and Insurgency in Kashmir, S. 62. 236
Der Council setzt sich gemäß Art. 21 AJK Verf. aus dem pakistanischen Premierminister, dem Präsidenten Pakistans, fünf Mitgliedern des pakistanischen Parlamentes oder Kabinetts, dem Premierminister Azad Kaschmirs, sechs vom Landesparlament gewälten Delegierten und dem Minister für Kaschmirangelegenheiten zusammen.
3. Kap.: Entwicklungen im besetzten Teil Jammu und Kaschmirs
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Der ungeklärte völkerrechtliche Status, das Verbot des Landerwerbs für pakistanische Staatsbürger und die für Handel und Personenverkehr undurchlässige Kontrollinie haben sich als unüberwindbare Hindernisse für die stagnierende Wirtschaft Azad Kaschmirs erwiesen. Die Prognosen sind angesichts einer schwach ausgebildeten Infrastruktur und geringer Investitionstätigkeit düster. 237 Die Lebensbedingungen sind selbst im Vergleich zu Pakistan hart und werden durch einen ununterbrochenen Flüchtlingsstrom aus dem indisch besetzten Teil noch weiter erschwert.
2. Die Nordgebiete Nach der Festnahme des Gouverneurs der Nordgebiete durch die Gilgit Scouts im November 1947 sprach sich eine provisorische Regierung für den Anschluß an Pakistan aus und übertrug die Regierungsgeschäfte einem Gesandten der pakistanischen Regierung. 238 Im April 1949 vereinbarten der pakistanische Premierminister Ahmed Khan Gurmani und der Präsident Azad Kaschmirs, Chaudhry Ghulam Abbas, im Abkommen von Karachi die vorübergehende Verwaltung der Nordgebiete durch Pakistan. Die Verwaltung der Nordgebiete oblag zunächst dem Gouverneur der Nordwest-Grenzprovinzen und ging 1950 auf das pakistanische Ministerium für Kaschmirangelegenheiten über. 239 Die Nordgebiete verfügen bis heute weder über eine eigene Verfassung, noch können sich ihre Bewohner auf Rechte der pakistanischen Verfassung berufen. Die Kashmir and Northern Areas Division des Ministeriums für Kaschmirangelegenheiten ernennt die Regierungsspitze, führt die Fach- und Rechtsaufsicht über die Verwaltung, erklärt nach billigem Ermessen pakistanische Gesetze und Verordnungen für anwendbar und ist für die Ernennung und Versetzung von Richtern der erstinstanzlichen Gerichte zuständig. Für Aufbau und Zusammensetzung des Gerichtswesens gelten die Bestimmungen der pakistanischen Straf- und Zivilprozeßordnung mit dem Unterschied, daß an die Stelle eines mit drei Richtern besetzten Berufungsgerichtes ein Judicial Commissioner tritt. Eine Revision zum Supreme Court ist ausgeschlossen. Im Oktober 1994 wurden erstmals Wahlen zum Northern Areas Executive Council 240 abgehalten, an denen sich die Parteien Pakistans, nicht aber Azad Kaschmirs beteiligen durften. Der Council tritt nach Einberufung durch den Vorsitzenden, 237
Committee for Initiative on Kashmir, Kashmir War - Proxy War, S. 47. 238 UN Representative Dixon, Report to the Security Council, UN-Doc. S /1791 and Add. 1, SCOR, 5 t h Year, Supplement for September through December 1950, S. 26 (§ 11); Wirsing, India, Pakistan, and the Kashmir Dispute, S 66 f. 239 Ein Abriß der Verwaltungsstrukturen in den Nordgebieten findet sich bei: Arif, What is Wrong in the Northern Areas, in: Pakistan Outlook, Vol. 4, No. 4, 1994, S. 63-70. 240 Näher dazu: Raman, The Northern Areas, in: Strategie Analysis, Vol. 19, No. 6, September 1996, S. 931, 933.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
dem Minister für Kaschmirangelegenheiten, in unregelmäßigen Abständen zusammen und kann unverbindliche Empfehlungen aussprechen. Es ist das einzige gewählte Selbstverwaltungsorgan der Nordgebiete.
I I I . Die Lage in den von China besetzten Gebieten 1. Aksai Chin Die gutnachbarlichen Beziehungen zwischen Indien und China erlitten 1959 einen empfindlichen Rückschlag, als Neu Delhi dem Dalai Lama politisches Asyl gewährte und chinesische Truppen einen Grenzzwischenfall im umstrittenen Gebiet von Aksai Chin provozierten. 241 Im Oktober 1962 eskalierten die Grenzstreitigkeiten zwischen China und Indien zu einem kurzen, aber heftigen militärischen Konflikt. Chinesische Truppen drängten die indischen Verbände an allen Grenzabschnitten von Ladakh im Westen bis Arunachal Pradesh im Osten zurück und fügten ihnen insbesondere östlich von Bhutan schwere Verluste zu. 2 4 2 Ende November 1962 zogen sich die chinesischen Truppen hinter den Kamm des Himalaya zurück, hielten aber in Ladakh ca. 33.000 Quadratkilometer umstrittenen Gebietes besetzt. 243 Indien brach die diplomatischen Beziehungen mit China daraufhin ab. Erst 1976 hatte sich das sino-indische Verhältnis wieder soweit normalisiert, daß Delhi dem Austausch von Botschaftern zustimmte. 244 Im Rahmen des China-Besuches Rajiv Gandhis im Dezember 1988 wurde die Einrichtung eines gemeinsamen Arbeitskomitees zur Lösung der noch immer virulenten Grenzstreitigkeiten vereinbart. Im September 1993 schlossen China und Indien ein Abkommen, das die Einrichtung einer Experten-Gruppe, regelmäßige Konsultationen und weitere konkrete Schritte zur Beilegung der offenen Grenzfrage vorsah. 245 Im November 1996 folgte ein Abkommen über Truppenreduzierungen entlang der Kontrollinie. Die Abkommen können als wichtige Pfeiler auf dem Weg zur Normalisierung der Beziehungen zwischen China und Indien und zur Beilegung des Grenzkonfliktes gewertet werden 2 4 6 Während eine Einigung über die verbindliche Festschreibung 241
Sidhva, Trading Positions, in: Far Eastern Economic Review, August 21, 1997, S. 45. Zu Einzelheiten: D. Banerjee, Verteidigung, in: Rothermund, Indien, S. 427,440. 243 Reuters, India-China War Games, in: The International Herald Tribune, December 17-18, 1994, S. 7. 242
244 Zur Entwicklung der sino-indischen Beziehungen seit 1976: Ahmed, India-China Relations, in: Journal of Contemporary Asia, Vol. 26, No. 1, 1996, S. 100, 105-113. 245 Agreement on the Maintenance of Peace and Tranquility Along the Line of Actual Control in the India-China Border Areas, September 7, 1993 (Beijing), abgedruckt bei: Krepon/Sevak, Crisis Prevention, Confidence Building, and Reconciliation in South Asia, S. 265-267.
Wagner, Indiens weltpolitische Rolle, in: Internationale Politik, Bd. 52, Nr. 3, März 1997, S. 1,5.
3. Kap.: Entwicklungen im besetzten Teil Jammu und Kaschmirs
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der MacMahon Linie im Osten des umstrittenen Gebietes möglich erscheint, sind die Positionen Chinas und Indiens zur Grenzfrage in Aksai Chin weiterhin verhärtet. 2 4 7 Was einer Annäherung der beiden Großmächte mehr im Wege steht als die Kontrolle über das unwirtliche Gebiet Aksai Chins, ist das tiefe Mißtrauen, das Indien seit der Niederlage im Grenzkrieg von 1962 gegen China hegt. 248 Hinzu kommt, daß China das von ihm beanspruchte Gebiet bereits kontrolliert und für Zugeständnisse daher keinen Anlaß sehen dürfte. 249 Andererseits muß Beijing den Aufschwung des Fundamentalismus und die Verbreitung der ^e/uzd-Propaganda in der Region wegen der Ansteckungsgefahr für die eigene Moslembevölkerung in der Provinz Xinjiang mit Sorge betrachten. 250 Eine gütliche Einigung im Streit um Aksai Chin könnte sich für China im übrigen insofern lohnen, als es in Indien einen natürlichen Verbündeten gegen Druck aus dem Westen in Fragen der Menschenrechte, Rüstungskontrolle und Öffnung des Binnenmarktes hat. 251
2. Karakorum-Gebiet Im März 1963 schlossen China und Pakistan ein Abkommen, in dem Pakistan seine Kontrolle über einen ca. 300 km langen Gebietsstreifen im Dreieck von Afghanistan, den Nordgebieten und Chinas Xinjiang Provinz mit einer Gesamtfläche von 6.000 Quadratmeilen für die Dauer von 99 Jahren an China abtrat. 252 Das Abkommen zahlte sich für Pakistan insofern aus, als es den Weg für das chinesischpakistanische Gemeinschaftsprojekt der Karakorum-Autobahn, der höchstgelegenen Verkehrsverbindung der Welt, ebnete, deren Bau Ende der sechziger Jahre begann und über die heute Lieferungen sensibler Waffentechnik und die Nachschubversorgung für die pakistanischen Außenposten an der Kontrollinie zu Indien abge247 Goldstein, Wars and Peace Treaties, S. 88; H. König, Indien-China: Auf dem Weg zur Brüderschaft?, in: Neues Deutschland, 29. Juni 1999, S. 7. 248 Ahmed, Indo-China Relations, in: Journal of Contemporary Asia, Vol. 26, No. 1, 1996, S. 100, 111; S. Sidhva, Trading Positions, in: Far Eastern Economic Review, August 21, 1997, S. 45, 46. 249 250
Wirsing, India, Pakistan, and the Kashmir Dispute, S. 108.
Moskalenko/Shaumian, Conflict Over Kashmir, in: Pakistan Horizon, Vol. 48, No. 3, July 1995, S. 17, 22. Im Grenzstreit um den Siachen Gletscher hat China mehrfach - und wohl nicht ganz uneigennützig - die Empfehlung geäußert, Neu Delhi und Islamabad sollten den Streit friedlich und in bilateralen Verhandlungen beilegen, vgl.: Ahmed, India-China Relations, in: Journal of Contemporary Asia, Vol. 26, No. 1, 1996, S. 100, 110. 251 K.P. Bajpai/B.L. Coe, Confidence Building between India and China, in: Krepon/Sevak, Crisis Prevention, Confidence Building, and Reconciliation in South Asia, S. 199, 206; Hoffmann, International Politics of Southern Asia, in: Journal of Asian and African Studies, Vol. 33, No. 1, February 1998, S. 43, 51 f. 2 2 * Raman, The Northern Areas, in: Strategic Analysis, Vol. 19, No. 6, September 1996, S. 931,934.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
wickelt werden. Eine Regelung des völkerrechtlichen Status des Gebietes steht aber weiter aus.
4. Kapitel
Der Mythos einer bilateralen Konfliktlösung I. Hegemonialpolitik Indiens 1. Abkehr von den Prinzipien der UNCIP-Resolutionen Nach dem Scheitern der Dixon-Mission vertrat die indische Delegation im Sicherheitsrat die Auffassung, bilaterale Verhandlungen zwischen Indien und Pakistan stellten die aussichtsreichste Perspektive zur Lösung des Kaschmirkonfliktes dar. 253 Die geänderte Haltung Indiens bekam der VN-Sonderbeauftragte Graham bei seinen Vermittlungsbemühungen deutlich zu spüren. Das Scheitern seiner Mission ist zu einem guten Teil auf die Weigerung der indischen Seite zurückzuführen, von den guten Diensten des VN-Beauftragten Gebrauch zu machen. Im Jahre 1962 blockte Neu Delhi auch das Angebot des U.S. Präsidenten John F. Kennedy ab, den Präsidenten der Weltbank, Eugene Black, zum Vermittler im Kaschmirkonfikt zu bestellen. Stattdessen fanden zwischen Dezember 1962 und Mai 1963 mehrere bilaterale Verhandlungsrunden zwischen indischen und pakistanischen Regierungsvertretern statt, in denen bekannte Standpunkte ausgetauscht, aber keine Fortschritte erzielt wurden. Traditionell gab man sich hinterher gegenseitig die Schuld am Scheitern der Gespräche. Nehru warf der pakistanischen Regierung vor, sie habe wertvolle Zeit mit dem Aufwärmen der Plebiszit-Idee vergeudet, während der pakistanische Präsident Ayub Khan den Verdacht äußerte, Indien habe die Gespräche allein mit dem Ziel geführt, sich mit der Bekundung friedvoller Absichten bei den USA für die Gewährung dringend benötigter Militärhilfe zu empfehlen. 254 Es liegt auf der Hand, daß Indien hoffte, in zweiseitigen Gesprächen seine Vormachtstellung in Südasien in diplomatische Erfolge ummünzen zu können. Weiterhin erkannte die indische Regierung frühzeitig das Potential bilateraler Verhandlungen zur Marginalisierung der Interessen der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs. Bezeichnend ist insofern eine Äußerung des VN-Gesandten der mit Indien befreundeten Sowjetunion vom Februar 1957. In den Beratungen des Sicherheitsrates begründete Sobolev den Vorschlag seiner Delegation, die Lösung des Konfliktes durch Plebiszit aus dem Mandat Jarrings zu streichen, mit dem Hinweis, die 253 B.N. Rau (Indien), SCOR, 6 t h Year, 533 r d Meeting, 1 March 1951, S. 9 (§ 32). 254 Chaudhry, Der Kaschmirkonflikt, Bd. 3, S. 41 -56.
4. Kap.: Der Mythos einer bilateralen Konfliktlösung
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Möglichkeiten bilateraler Gespräche zwischen Indien und Pakistan zur friedlichen Beilegung der Kaschmirfrage seien noch längst nicht ausgeschöpft. 255
2. Das Simla Abkommen Nach der demütigenden Niederlage Pakistans im Krieg von 1971 nutzte die indische Regierung ihre überlegene Verhandlungsposition dazu, das Prinzip bilateraler Verhandlungen als Modus der Konfliktbeilegung vertraglich festzuschreiben. Im Simla Abkommen, 256 das Indira Gandhi und Zulfiqar Ali Bhutto im Juli 1972 unterzeichneten, brachten Indien und Pakistan ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, die Streitpunkte, die in der Vergangenheit einem gutnachbarlichen Verhältnis im Wege gestanden hätten, beizulegen, und in Zukunft freundschaftliche, auf den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen beruhende Beziehungen zueinander aufzubauen. Die Parteien kamen überein, dieses Ziel in bilateralen Verhandlungen anzustreben. Andere Lösungswege sollten nur beschritten werden, wenn darüber zwischen den Parteien Einvernehmen herrsche. Ferner verpflichteten sich Indien und Pakistan, die im Waffenstillstand vom 17. Dezember 1971 vereinbarte Kontrollinie in Jammu und Kaschmir zu respektieren. Das Abkommen stellte klar, daß die jeweilige Haltung der Parteien in der Kaschmirfrage davon nicht berührt werde. Eine endgültige Lösung des Kaschmirproblems werde Gegenstand von Gesprächen zwischen den Staatsoberhäuptern Indiens und Pakistans sein, die zu einem von beiden Seiten als günstig empfundenen Zeitpunkt zusammentreffen sollten. Nach offizieller indischer Lesart verpflichtete sich Pakistan im Simla Abkommen dazu, die Hilfe dritter Staaten, der Vereinten Nationen oder anderer Organisationen zur Lösung des Kaschmirkonfliktes nur mit ausdrücklichem Einverständnis Indiens in Anspruch zu nehmen. 257 Neu Delhi lehnte aber seit dem Abschluß des Simla Abkommens jegliche internationale Vermittlung im Kaschmirkonflikt, darunter auch mögliche Initiativen der USA und Großbritanniens, kategorisch ab. 2 5 8 255 Sobolev (UdSSR), SCOR, 12 th Year, 770 th Meeting, 18 February 1957, S. 38 f. (§§ 138, 142). 256 United Nations Treaty Series, Vol. 858, No. 12308, vgl. Anhang VII. 257 Auszüge einer Rede des indischen Premierministers P.V. Narasimha Rao, abgedruckt in einer Presseerklärung der Ständigen Vertretung Indiens bei den VN, 31. Oktober 1994, NY/PM/1210 / 1 /94; E. Haubold, Der Geist von Lahore stirbt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Juni 1999, Nr. 139, S. 3. 258 All-India Radio, New Delhi, in: BBC Monitoring, Summary of World Broadcasts, Part 3: Asia-Pacific, FE/3009 A / 3 , 28 August 1997; All-India Radio, in: BBC Monitoring, Summary of World Broadcasts, Part 3: Asia-Pacific, FE/3049 A / 2 , 14 October 1997; AP/dpaMeldung, Indien lehnt Vermittlung im Kaschmir-Konflikt ab, in: Süddeutsche Zeitung, 21. Juni 1999, Nr. 139, S. 8; B. Bearak, Where disagreement is a sure bet, in: International Herald Tribune, June 29, 1999, S. 6; B. Imhasly, Diplomatische Isolierung Pakistans, in: Neue Zürcher Zeitung, 18. Juni 1999, Nr. 138, S. 5.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
Bemühungen Pakistans, den Kaschmirkonflikt auf die Tagesordnung der Vereinten Nationen, der Organization of Islamic Conference (OIC) oder der Bewegung blockfreier Staaten zu setzen, wurden von der indischen Zentralregierung folgerichtig als Vertragsbruch gebrandmarkt. 259 Islamabad dagegen vertritt den Standpunkt, es habe sich im Simla Abkommen keineswegs seiner außenpolitischen Handlungsfreiheiten begeben und weist die Interpretation Indiens als Verunglimpfung seiner nationalen Souveränität zurück. Das Abkommen müsse vielmehr im Lichte der VN-Resolutionen ausgelegt werden, welche der internationalen Gemeinschaft ausdrücklich eine aktive Rolle bei der Lösung des Kaschmirkonfliktes zugewiesen hätten. 260 Die pakistanische Regierung hat mehrfach erklärt, sie werde jede Initiative des VN-Generalsekretärs, der USA oder eines anderen Drittstaates zur Vermittlung im Kaschmirkonflikt unterstützen. 261 Eine größere Interpretations-Divergenz, als sie bei der Auslegung des Simla Abkommens zutage tritt, kann man sich schwerlich vorstellen.
3. Perspektive bilateraler Verhandlungen a) Der Siachen Konflikt Auf dem Siachen Gletscher liefern sich indische und pakistanische Gebirgsjäger in einer Höhe von bis zu 5.000 Metern Höhe in einem ca. 1.000 Quadratmeilen großen Gebiet seit 1984 verlustarme, aber materialintensive Artilleriegefechte. 262 259 Vgl. Ministry of External Affairs Government of India, Foreign Affairs Record, Vol. 44, No. 3, March 1998, S. 21; Moskalenko/ Shaumian, Conflict over Kashmir, in: Pakistan Horizon, Vol. 48, No. 3, July 1995, S. 17, 20. 260 Letter dated 14 May 1990 from the Minister for Foreign Affairs of Pakistan addressed to the President of the Security Council, UN-Doc. S/21297, 16 May 1990, S. 4 (§ 17): „ I would like to reiterate Pakistan's steadfast commitment to seeking a peaceful settlement of the dispute over Jammu and Kashmir in accordance with the relevant United Nations resolutions. Our position is in harmony with the spirit of the Simla Agreement."; vgl. auch: Ganguly, Avoiding War in Kashmir, in: Foreign Affairs, Vol. 69, No. 5, Winter 1990/91, S. 57,62. 261 Rede des pakistanischen Premierministers Nawaz Sharif vor der VN-Generalversammlung am 23. September 1997, in: Radio Pakistan, Islamabad, zitiert nach: BBC Monitoring, Summary of World Broadcasts, Part 3: Asia-Pacific, FE/3032 A/3,4, 24 September 1997. Der pakistanische Informationsminister Mushahid Hussain Syed nannte im Februar 1998 als Eckpunkte der Kaschmirpolitik seiner Regierung: 1. Suche nach einem nationalen Konsens, 2. Dialog mit Indien, 3. Internationalisierung, vgl.: A.H. Akbar, Government has revived Kashmir issue, in: The Muslim (Islamabad), February 23, 1998, S. 1, 4. Die Gefechte in Kaschmir im Mai 1999 nannte Hussain „a threat to peace and regional stability" und rief die Vereinten Nationen zur Intervention auf, vgl.: P. Constable, Indian attacks in Kashmir, in: International Herald Tribüne, May 28, 1999, S. 1. 262 Zum „low intensity conflict" zwischen Indien und Pakistan auf dem Siachen-Gletscher: M.A. Beg, Balance of Power Paradigm and Pakistan's Security Problems, in: Jan, Pakistan: Foreign Policy Debate, S. 123, 137; Karim, Kashmir: The Troubled Frontiers, S. 22 f.; D. Filkins, War in the wasteland, in: International Herald Tribune, March 11, 1999, S. 2, beziffert die Kosten des Siachen-Konfliktes auf US $ 1 Million pro Tag.
4. Kap.: Der Mythos einer bilateralen Konfliktlösung
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In insgesamt sechs Verhandlungsrunden zwischen Januar 1986 und November 1992 vermochten die Delegationen auf Ministerebene keine Einigung über die Beendigung des kostspieligen Kleinkrieges in der öden, strategisch und wirtschaftlich wertlosen Hochgebirgsregion zu erzielen. 263 Das Ausmaß der ideologischen Altlasten des Kaschmirkonfliktes läßt sich erahnen, wenn die fruchtlosen Verhandlungsbemühungen im Konflikt um den Siachen Gletscher dem Ausgang der Affäre um den Rann of Kutch gegenübergestellt werden. Der Grenzstreit um die Zugehörigkeit eines ausgedehnten Flußbettes im Süden des Subkontinents zum indischen Kutch oder zum pakistanischen Sindh eskalierte im Frühjahr 1965 zu einem ernsten militärischen Konflikt, der unter britischer Vermittlung im Juni 1965 durch eine Einigung Indiens und Pakistans über die Einleitung eines internationalen Schlichtungsverfahrens zügig und dauerhaft beigelegt werden konnte. 264 Auf diesem Hintergrund wirft das Scheitern der Verhandlungen zwischen Indien und Pakistan über eine Beendigung der Kämpfe auf dem Siachen Gletscher im Norden Jammu und Kaschmirs ein Schlaglicht auf die engen Grenzen, die dem Prinzip des Bilateralismus auf der Suche nach einer Lösung des Kaschmirkonfliktes gesetzt zu sein scheinen. b) Diplomatische Initiativen seit Ausbruch des Militantismus Die Gewalteskalation im Kaschmirtal in den späten achtziger Jahren führte zu erheblichen Spannungen zwischen Indien und Pakistan, die nach Auffassung nicht weniger Beobachter 1990 am Rande eines Krieges standen. Wenn das Schlimmste auch abgewendet werden konnte, nahmen die bilateralen Beziehungen doch erheblichen Schaden. Im Jahre 1993 brachen die Verhandlungen über die Kaschmirfrage vollends zusammen. Nach der Regierungsübernahme des als progressiv geltenden Inder Kumal Gujral in Neu Delhi und des in der Kaschmirfrage für seine moderate Haltung bekannten Nawaz Sharif in Islamabad nahmen die Hauptstädte im März 1997 den politischen Dialog über Kaschmir wieder auf. Im Juni 1997 trafen der pakistanische Außenminister Shamshad Ahmed und sein indischer Amtskollege Salman Haider in Islamabad zu Gesprächen über eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern zusammen, in denen auch die Kaschmirfrage angesprochen wurde. 265 Im pakistanischen Außenministerium hieß es im August 1997, Sharif knüpfe an die Wiederaufnahme des Dialoges mit Indien insbesondere die Hoffnung 263 Wirsing, India, Pakistan, and the Kashmir Dispute, S. 195-207, 214-216. 264 Zu Einzelheiten: C. Hobday, India-Pakistan, in: Day, Border and Territorial Disputes, S. 283, 291; Lamb, Kashmir: A Disputed Legacy, S. 256. Im Juli 1969 schlossen Indien und Pakistan ein Abkommen, das den Verlauf der Grenze nach Maßgabe des Vorschlages einer dreiköpfigen Schlichtungskommission unter iranischer, jugoslawischer und schwedischer Beteiligung festlegte. 265 Report by Radio Pakistan, Islamabad, zitiert nach: BBC Monitoring, Summary of World Broadcasts, Part 3: Asia-Pacific, FE/2952 A / 5 , 23 June 1997.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
auf einen Durchbruch in den Bemühungen um eine friedliche Lösung des Kaschmirproblems. 266 Wenige Wochen später schloß Gujral, der mit Vorschußlorbeeren wegen seiner pragmatischen Haltung zu Kaschmir bedacht worden war, Kaschmir-Verhandlungen nach dem Modell der multilateralen Nahostgespräche aus und erklärte kategorisch, Jammu und Kaschmir sei integraler Bestandteil der Indischen Union. 267 Sharif machte daraufhin seinerseits einen Rückzieher. Im September 1997 erklärte er vor der VN-Generalversammlung, der Kaschmirkonflikt könne nur durch ein einheitliches Plebiszit über die Frage eines Beitrittes zu Indien oder Pakistan gelöst werden. 268 Im September 1998 vereinbarten Atal Behari Vajpayee und Nawaz Sharif am Rande der VN-Vollversammlung in New York eine Neuauflage der Gespräche über eine friedliche Einigung in der Kaschmirfrage. 269 Im Oktober 1998 fanden in Islamabad Sondierungsgespräche über Reiseerleichterungen, bilateralen Handel und grenzüberschreitende Infrastruktur statt. 270 Die Bemühungen um eine Entkrampfung des bilateralen Verhältnisses wurden durch die Einrichtung einer Buslinie von Delhi nach Lahore fortgesetzt. Einen greifbaren Erfolg ihrer „Bus-Diplomatie" konnten Sharif und Vajpayee auf der Lahore-Konferenz im Februar 1999 verbuchen. In einem gemeinsamen Communiqué bekundeten beide Staatsführer ihre Absicht, Kommunikation, Transparenz und das Netz vertrauensbildender Maßnahmen auszubauen, zu diesem Zweck ein diplomatisches Frühwarnsystem in Form gegenseitiger Vorausinformationen einzurichten und die Bemühungen zur Beilegung des Kaschmirkonfliktes zu intensivieren. 271 Im April 1999 erlitten die indo-pakistanischen Beziehungen einen empfindlichen Rückschlag. Indien testete die Mittelstreckenrakete „Agni II"; Pakistan antwortete mit dem Test der „Ghauri I I " . 2 7 2 Militärische Zwischenfälle an der Kon266 Deutsche Welle, Monitor-Dienst, Asien, 8. August 1997, S. 1. Zum Auftakt der 52. Session der VN-Generalversammlung in New York bot Nawaz Sharif Indien in einem weiteren Schritt Verhandlungen über den Abschluß eines Nicht-Angriffspaktes an, vgl.: B. Crossette, Pakistan asks India to open no-war talks, in: The New York Times, September 23, 1997, Section A, S. 8. 267 Interview mit dem indischen Premierminister Inder Κ. Gujral, in: Far Eastern Economic Review, August 21, 1997, S. 40,42. 268 Radio Pakistan, Islamabad, zitiert nach: BBC Monitoring, Summary of World Broadcasts, Part 3: Asia-Pacific, FE/3032 A / 3 , 24 September 1997. 269 Meldung der Agence France Presse, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 24. September 1998, Nr. 222, S. 5. 270 Agence France Presse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Oktober 1998, Nr. 241 / 42, S. 6. 271 Κ. Frank/Α. Schaper, Das Nichtverbreitungssystem in der Krise?, in: Schoch/Ratsch/ Mutz, Friedensgutachten 1999, S. 228, 236; B. Imhasly, Nukleare Feiertage in Indien und Pakistan, Neue Zürcher Zeitung, 11. Mai 1999, Nr. 107, S. 5; H. König, Rakete um Rakete, in: Die Welt, 15. April 1999, S. 6. 272 R. Galpin, Pakistan tests new missile, in: The Guardian, April 15, 1999; W. Germund, Raketentest, in: Berliner Zeitung, 14. April 1999, Nr. 86, S. 8.
4. Kap.: Der Mythos einer bilateralen Konfliktlösung
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trollinie im Norden Kaschmirs im Mai 1999 machten die Erfolge von Lahore vollends obsolet. Vajpayee machte Islamabad für die Entstehung einer „kriegsähnlichen Situation" in Kaschmir verantwortlich und bezichtigte die pakistanische Staatsführung indirekt der Hinterlist. 273 Im Gegenzug sicherte Sharif den „Freiheitskämpfern" in Kaschmir die volle Solidarität Pakistans zu und ließ - angeblich zur Sicherung der Kontrollinie - weitere pakistanische Verbände in die Krisenregion verlegen. 274 Die Gespräche zwischen dem indischen Außenminister Jaswant Singh und seinem pakistanischen Amtskollegen Sartaj Aziz über ein Ende der Kämpfe in Kaschmir im Juni 1999 verliefen erwartungsgemäß ergebnislos. Schon im Vorfeld hatte der indische Ministerpräsident Vajpayee klargestellt, die indische Regierung werde die Entscheidung in den Bergen Kaschmirs suchen, nicht am Verhandlungstisch.275
c) Bewertung Die Analyse der indischen Außenpolitik seit 1972 zeigt, daß Neu Delhi sich des Simla Abkommens bedient, um einerseits Vermittlungsangebote von Drittstaaten abzuwehren und Pakistans Versuche, die Kaschmirfrage auf internationalen Foren anzuschneiden, als Vertragsbruch zu verurteilen, andererseits auf bilateraler Ebene Gesprächsrunde nach Gesprächsrunde mit formal-juristischen Argumenten zum Scheitern zu bringen. 276 Die indische Regierungspolitik ist seit Jahren durch pragmatisches Krisenmanagement gekennzeichnet und läßt eine Vision in der Gestaltung der außenpolitischen Beziehungen fast gänzlich vermissen. 277 273
C.W. Dugger, Mistrust poisons Kashmir conflict, in: International Herald Tribune, June 1, 1999, S. 1 und 4, zitiert Vajpayee: „When we started the bus service to Lahore, it was to improve relations. I went as an emissary of peace. I have told the Pakistani leadership that it seems that while I talked peace with you, you were preparing to attack our borders. We still believe in peace, but you cannot clap with one hand." 274 z. Hussain/C. Kapoor, Kashmir attack, in: The Times, May 28, 1999, S. 17. 275 s. Goldenberg, India's balancing act on Kashmir, in: The Guardian, June 1, 1999, S. 2. S. Kinzer, India and Pakistan to talk, in: International Herald Tribune, June 9, 1999, S. 2, zitiert eine Äußerung Vajpayees im indischen Fernsehen: „[If Pakistan seeks to discuss the Kashmir issue as a whole, then] the proposed talks will be over before they even begin." 276 Schofield, Kashmir in the Crossfire, S. 289; Korbel, Danger in Kashmir, S. 352, zog den Nutzen bilateraler Verhandlungen schon nach der Unterzeichnung der Taschkent-Erklärung in Zweifel: „No high hope should be entertained that bilateral negotiations will lead to a settlement." Der pakistanische Botschafter S.M. Koreshi, Contemporary Power Politics and Pakistan, S. 91, beklagt sich bitter über die „Arroganz der Macht", die Indien seit dem Abschluß des Simla Abkommens gegenüber Pakistan an den Tag gelegt habe. K.M. Arif, stellvertretender Oberbefehlshaber der pakistanischen Streitkräfte a.D., wirft Indien vor, Kaschmir zum Gegenstand von „Frühstücksgesprächen" zu degradieren, vgl.: Call for Internal Unity and Quiet Diplomacy, in: Valie, Kashmir Today, S. 89,97. 277 Der indische Präsident K.R. Narayanan, in: All-India Doordarshan Television, zitiert nach: BBC Monitoring, Summary of World Broadcasts, Part 3: Asia-Pacific, FE/2999 A / 3 , 16 August 1997, kritisierte die politische Kultur Indiens in seiner Ansprache an die Nation
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
Die pakistanische Regierung hält die Beziehungen zu Indien auf allen Gebieten als Geisel für einen Durchbruch in der Kaschmirfrage. Innenpolitisch steht ihr aber nur ein sehr begrenzter Verhandlungsspielraum zur Verfügung. Die Armeeführung, die in Fragen der äußeren Sicherheit einen maßgeblichen politischen Einfluß ausübt, läßt Abstriche vom Status quo nicht zu. 2 7 8 Die gegenwärtige Regierung des indischen Premierministers Atal Behari Vajpayee gilt ebenso wie die seines pakistanischen Amtskollegen Nawaz Sharif als wankelmütig und unberechenbar. 279 Die politischen Verhältnisse in Indien und Pakistan geben daher keinen Anlaß zu der Hoffnung, daß zweiseitige Gespräche in absehbarer Zukunft zu einer Entspannung in der Kaschmirfrage führen werden, von einer interessengerechten Lösung für die Bevölkerung ganz zu schweigen.280
II. Die Haltung des Westens zur Lösung des Kaschmirkonfliktes durch bilaterale Verhandlungen 1. Positionen einzelner Staaten Im Zuge der amerikanisch-indischen Annäherung seit dem Ende der achtziger Jahre schwenkte Washington in der Kaschmirfrage auf den Kurs Neu Delhis ein und favorisierte bilaterale Verhandlungen als Methode der Streitbeilegung. 281 Präsident Clinton bekräftigte bei einem Zusammentreffen mit dem pakistanischen Premierminister Sharif am Rande der VN-Generalversammlung in New York im September 1997, daß die Vereinigten Staaten zur Vermittlung im Kaschmirkonflikt nicht bereitstünden. 282 U.S.-Außenministerin Madeleine Albright zeigte sich bei anläßlich des 50. Jahrestages der Unabhängigkeit Indiens in scharfen Worten: „Sheer opportunism and valueless power politics have taken over the place of principles and idealism that had been the hallmark of our social and political life." 27 8 The Kashmir Study Group, Report on the Visit of an Independent Study Team to India and Pakistan, S. 40 f. 279 B. Crossette, India, Pakistan, and the Atom Pact, in: International Herald Tribune, September 25, 1998, S. 1. 280 Mallick, Judge of the East, S. 176; G. Segal, India and Pakistan won't go to war, in: International Herald Tribune, June 19-20, 1999, S. 4; R. Chengappa, The No-Win Situation, in: India Today, July 6, 1998, S. 36, zitiert den ehemaligen indischen Außenminister J.N. Dixit in bezug auf die indo-pakistanischen Gespräche über Kaschmir folgendermaßen: „Where talks are concerned, it is a no-win situation. So just don't expect any major breakthroughs." B. Knowlton, Beyond ,Bus Diplomacy4, in: International Herald Tribune, March 4, 1999, S. 4, zitiert Hasan-Askari Rizvi, Dozent am renommierten Südasien Institut der Columbia Universität in New York: „ I don't think there will be any meaningful dialogue on Kashmir in the near future." 281 Maaß, Umorientierung der indischen Außenpolitik nach dem kalten Krieg, in: Außenpolitik, 44. Jahrgang, 1. Quartal, 1993, S. 34, 37. 282 s. Sirohi, U.S. Concerned over Firing, in: The Telegraph (Calcutta), 5 October 1997, S. 6.
4. Kap.: Der Mythos einer bilateralen Konfliktlösung
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einem Staatsbesuch in Islamabad im November 1997 besorgt über die Sicherheitslage in der Region, machte aber gleichzeitig deutlich, daß eine Lösung nur im Dialog zwischen Neu Delhi und Islamabad gefunden werden könne. Washingtons Rolle könne lediglich darin bestehen, die Verhandlungen zwischen Indien und Pakistan anzustoßen.283 Ähnlich äußerte sich Präsident Clinton bei einem Besuch des pakistanischen Premierministers Nawaz Sharif im Weißen Haus im Dezember 1998. 284 Die Zuspitzung der Krise im Zusammenhang mit den anhaltenden Kämpfen im Norden Kaschmirs im Frühjahr 1999 änderte an der Zurückhaltung der amerikanischen Regierung zunächst nichts. Nach dem Scheitern der indisch-pakistanischen Gespräche über eine Beendigung der beiderseitigen Verletzung der Kontrollinie im Juni 1999 beschränkte sich U.S.-Verteidigungsminister William Cohen auf die Äußerung, die USA seien über die Verschärfung des Kaschmirkonfliktes „natürlich besorgt". 285 Ob die Reise des U.S.-Generals Anthony Zinni nach Islamabad Ende Juni als Auftakt einer Vermittlungsinitiative der USA zu werten ist, wie pakistanische Experten glauben machen wollen, 286 bleibt abzuwarten. Skepsis ist angebracht. Von den Staaten der Europäischen Union gehen in der Kaschmirfrage traditionell kaum Impulse aus. Die Sondierungsgespräche der Organisation Islamischer Staaten (OIC) über die Aussichten westlicher Unterstützung für einen Resolutionsentwurf zu „Frieden und Sicherheit in Südasien",287 der im Herbst 1994 im ersten Ausschuß der Generalversammlung eingebracht werden sollte, verliefen über die Maßen ernüchternd. Die Mitgliedsstaaten der EU nahmen den in Form und Inhalt ausgewogenen Resolutionsentwurf mit auffallender Zurückhaltung auf und erklärten, sie wollten dazu erst Stellung beziehen, wenn er dem Ausschuß vorliege. Die Ko-Sponsoren in spe (Türkei, Saudi-Arabien und Niger) ersparten sich die drohende „Nichtbehandlung" des Entwurfes und sahen davon ab, ihn im Ausschuß einzubringen. Von Frankreich ist bekannt, daß es der Internationalisierung des Kaschmirkonfliktes traditionell skeptisch gegenübersteht. 288 Von der Haltung der Bundesrepu283
H. Akhtar, Albright for Kashmir solution through talks, in: The Dawn (Karachi), November 19, 1997, S. 1: „Albright said ... the US believed India and Pakistan could resolve the Kashmir dispute through dialogue, while Washington's role would be ,to nudge the process4." 284 T. Lippman, Clinton lays down conditions to Pakistan, in: International Herald Tribune, December 4, 1998, S. 4, zitiert den amerikanischen Präsidenten mit folgenden Worten: „I've enjoyed my opportunities to work with the parties in the Middle East and Northern Ireland b u t . . . [mediation] only works when both parties wish the United States to be involved. Otherwise we can't be effective." 28 5 Dpa/ Reuters-Meldungen, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 14. Juni 1999, Nr. 136, S. 7. Ähnlich äußerte sich der Botschafter der USA in Indien, Richard Celeste, in einem Gespräch mit dem indischen Verteidigungsminister George Femandes, vgl.: B. Bearak, Raids in Kashmir, in: International Herald Tribune, May 27, 1999, S. 1, 11. 286 287
F. Bokhari, Pakistan seeks backing in China, in: Financial Times, June 29, 1999, S. 8. Vgl. Anhang IX.
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1. Teil: Völkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
blik darf man auf dem Hintergrund ihrer eigenen jüngeren Geschichte enttäuscht sein. In einer Grundsatzrede zur deutschen Außenpolitik in der asiatisch-pazifischen Region fand Außenminister Kinkel im Dezember 1993 zum Kaschmirkonflikt nur wenige dürre Worte, die Vertrauen in einen bilateralen Dialog bekunden, der in Wirklichkeit nicht stattfindet. 289 Die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechtes für die Lösung des Kaschmirkonfliktes streifte er nicht einmal. Der Leiter des Südasien-Referates des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik, Dr. Norbert Holl, vertrat in einem Gespräch mit dem Verfasser am 2. Mai 1996 in New York die Auffassung, der Umstand, daß bundesdeutsche Politiker wie Gerhard Baum (FDP), Klaus Kübler (SPD) oder Willi Wimmer (CDU) bei Reisen nach Kaschmir ihr Augenmerk zwar auf die bedenkliche Menschenrechtslage, nicht aber die Statusfrage Kaschmirs gerichtet hätten, lasse auf einen parteienübergreifenden Konsens schließen, daß Deutschland hinsichtlich der angebotenen Lösungen der Kaschmirfrage keine Präferenz habe und auch keine eigene Initiative ergreifen werde. Nach einem beherzten Eintreten für die Ideale einer „Neuen Weltordnung" klingt dies nicht. Die Position der britischen Labour-Regierung unter Tony Blair hebt sich von der deutschen Haltung wohltuend ab, wenn auch nur in Nuancen. Im Juni 1997 erklärte Derek Fatchett im Namen der britischen Regierung, bilaterale Gespräche zwischen Indien und Pakistan seien der „beste Weg zu einer Lösung der Kaschmir Krise". 2 9 0 Im Oktober 1997 fügte der britische Außenminister Robin Cook aber ein interessantes Detail hinzu. Er bot die Vermittlung Großbritanniens in der Kaschmirfrage an, wenn dies von den Konfliktparteien gewünscht werde. 291 Daß dieser Vorstoß den Unmut der indischen Regierung hervorrief und auf den IndienBesuch der Queen einen langen Schatten warf, nahm er in Kauf.
2. Reflexion und Ausblick Das Mißfallen des Westens, den Kaschmirkonflikt auf internationaler Ebene zu thematisieren, mag zum Teil auf die zuweilen schrillen Töne und plumpen Annäherungsversuche pakistanischer Verantwortungsträger in der Kaschmirfrage zurück288 p x i News Agency, New Delhi, France Respects India's Stand on Kashmir, in: The Afternoon on Sunday (New Delhi), 13 February 1994, S. 40. 289 K. Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen, Rede in der Asien-Pazifik-Debatte im Deutschen Bundestag am 1. Dezember 1993: „Mit großer Sorge sehen wir vor allem den Konflikt in Kaschmir und die Auswirkungen, die er auf die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan hat. Die Bundesregierung begrüßt, daß die Regierungen beider Länder jetzt die Wiederaufnahme des Dialogs vereinbart haben.", zitiert nach: Auswärtiges Amt, Das AsienKonzept der Bundesregierung, S. 43, 47. 290 Report by PTI News Agency, New Delhi, zitiert nach: BBC Monitoring, Summary of World Broadcasts, Part 3: Asia-Pacific, FE/2951 A / 2 , 21 June 1997. 291 Report by PTI News Agency, New Delhi, zitiert nach: BBC Monitoring, Summary of World Broadcasts, Part 3: Asia-Pacific, FE/3065 A / 2 , 1 November 1997.
4. Kap.: Der Mythos einer bilateralen Konfliktlösung
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zuführen sein. 292 An der Erkenntnis, daß, unbeschadet der kontraproduktiven Rolle, die Pakistan nur zu gerne übernimmt, eine Vermittlung im Kaschmirkonflikt „dringend vonnöten" ist, geht aber kein Weg vorbei. 293 Auch läßt sich der Umstand, daß das Leiden der Zivilbevölkerung in Jammu und Kaschmir bislang keinen Staat der westlichen Hemisphäre zum Nachdenken über eine konzertierte internationale Aktion veranlaßt hat, mit der diplomatischen Unbedarftheit Pakistans allein nicht erklären. Es drängt sich der Verdacht auf, daß die westliche Zurückhaltung gegenüber den schwärenden Problemen des Kaschmirkonfliktes weniger im Vertrauen auf den Erfolg bilateraler Verhandlungsmethoden als in der Sorge um die Vergrätzung des erwachenden Marktriesen Indien wurzelt. Mit einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 5 - 6 % (nach Schätzungen der Central Statistical Organisation waren es im Haushaltsjahr 1998/99 5,8 % 2 9 4 ) gilt Indien in internationalen Wirtschaftskreisen als schwieriger, aber attraktiver Investitionsstandort. 295 Im Jahre 1995 erzielte die Bundesrepublik in den deutsch-indischen Handelsbeziehungen, die mit einem Gesamtvolumen in Höhe von DM 8,17 Milliarden zu Buche schlugen, mit einer Steigerung deutscher Exporte um 36,8% gegenüber dem Vorjahr einen Export-Überschuß in Höhe von fast DM 1 Milliarde. 2 9 6 Im Jahre 1998 lag der bilaterale Außenhandelsumsatz bereits bei DM 8,5 Milliarden. 297 Die ausländischen Direktinvestitionen sind von weniger als jährlich US $ 200 Millionen zu Beginn der Wirtschaftsreformen in Indien 1991 / 92 auf fast US $ 5 Milliarden im Jahre 1995 angestiegen.298 In den ersten elf Monaten des Jahres 1997 stiegen sie im Vergleich zum Vorjahreszeitraum noch einmal um 52%. 2 9 9 292
Die diplomatischen Fehlschläge beim Werben um internationale Unterstützung für Pakistans Position zu Kaschmir werden in der pakistanischen Presse schonungslos aufgedeckt, vgl.: S.T. Hussain, Farce of Kashmir delegations, in: The News International (Rawalpindi), 24 September 1994, S. 6: „The official propaganda aside, it appears that this projection drive has become an endless joyride for people who know as much about foreign affairs as Eskimos about Zulus in the 17 th century." 293 W. Adam, Gratwanderung am Himalaya, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Juni 1999, Nr. 147, S. 1. 294 Κ. Guha, Political upheaval is hindering reforms, in: Financial Times, Indian Banking and Finance Survey, April 28, 1999, S. 11. Das unabhängige Centre for Monitoring the Indian Economy, in: Far Eastern Economic Review, India, in: Asia 1998 Yearbook, S. 120, 124, hatte im Zeitraum 1997/98 ein Wachstum von 6,5% prognostiziert. 29 5 Bfai., Vom „Elefanten" zum „Tiger", in: Nachrichten für Außenhandel, 12. Mai 1999, Nr. 91, S. 3; M. Kripalani, Investing in India, in: Business Week, August 11, 1997, S. 25-28; A. Virmani, India: Crisis, Reform and Growth, in: Economic and Political Weekjy, Vol. 32, No. 32, August 9 - 1 5 , 1997, S. 2064-2067. 296 Indische Botschaft, Bonn: Indien Wirtschaftsnachrichten, 5. Jahrgang, Ausgabe 5, Mai 1996, S. 1. 297 Vwd-Meldung, Lieber ein gesunder Elefant als ein lahmer Tiger, in: Nachrichten für Außenhandel, 9. März 1999, Nr. 47, S. 3. 298 Gosalia, Indiens Aufstieg, in: Asien, Nr. 64, Juli 1997, S. 60,63. 299 Bouton, India's Problem is not Politics, in: Foreign Affairs, Vol. 77, No. 3, May/June 1998, S. 80, 88.
7 Honig
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1. Teil: Vlkerrechtliche Dimension des Kaschmirkonfliktes
Das Schweigen des Westens zu den Vorgängen in Jammu und Kaschmir mag völlig natürlich erscheinen, wenn schwunghafter Handel als wirksame Form demokratischer Entwicklungshilfe 3 0 0 oder umgekehrt die demokratische Regierungsform als Substrat für die Verwirklichung einer freien Marktwirtschaft und internationalen Handelsoffenheit wahrgenommen w i r d . 3 0 1 Sofern man aber die friedenssichernde Dimension von Demokratie und Rechtsstaat als Voraussetzung und Stütze langfristiger wirtschaftlicher Ertragsfähigkeit begreift, 3 0 2 wird man sich schwertun, die Unterdrückung der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs schlichtweg zu ignorieren. Die geschundene Bevölkerung Jammu und Kaschmirs zieht derweil ihre Hoffnungen von den Staaten des Westens ab und setzt auf gesellschaftliche Kräfte in Indien und Pakistan, die im Interesse wirtschaftlichen und sozialen Aufschwungs an ihre demokratisch gewählten Regierungen appellieren, in der Kaschmirfrage endlich zur Vernunft und an einen Tisch zu k o m m e n . 3 0 3
300 De Jonge, Democracy and Economic Development in the Asia-Pacific Region, in: Human Rights Law Journal, Vol. 14, No. 9 - 1 0 , 30 November 1993, S. 301, 302: „Empirically it could be noted that as nations move up the ladder of economic growth, even if they are not democracies at the outset, the pressures within them for political liberalisation increase." 301 Deutlich: Safire, The Biggest Election, in: The New York Times, May 2, 1996, Section A, S. 23: „Without political freedom, capitalism cannot long thrive." K. Grobe, Ein ChinaSyndrom, in: Frankfurter Rundschau, 14. Juli 1995, S. 3, schließt seinen Kommentar zu den blühenden deutsch-chinesischen Handelsbeziehungen mit den Worten: ,,[F]reilich gibt es ökonomische Interessen, die sich politisch auswirken. Freilich verändert die Wirtschaft, ganz allgemein gesprochen, die Politik. Nur: Das geschieht nicht allein bei den anderen draußen in der Welt." 302
Der Beauftragte für Menschenrechte im Auswärtigen Amt, Gerd Poppe, äußerte sich zu dieser Thematik in einem Interview mit dem Tagesspiegel wie folgt: „Zwischen wirtschaftlichen Interessen und Menschenrechten besteht kein Grundwiderspruch. ... Gerade für dauerhafte Wirtschaftsbeziehungen und langfristige Investitionen sind rechtsstaatliche Verhältnisse wichtig.", zitiert nach: Der Tagesspiegel, Nr. 16.532, 29. November 1998, S. 4. 303 B. Imhasly, Cricket-Diplomatie zwischen Indien und Pakistan, in: Neue Zürcher Zeitung, 6./7. Februar 1999, S. 3; S.H. Khan (ehemaliger Premierminister der Regierung Azad Kaschmirs), Indian and U.N. Commitments on Plebiscite in Kashmir, S. 5: „Why should not the peoples ... in both the countries, India and Pakistan, ... prevail upon their Governments to end the Indo-Pakistan conflict over Kashmir[?]".
Teil 2
Die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechtes auf den Kaschmirkonflikt 5. Kapitel
Rechtsträger des Selbstbestimmungsrechtes im Kaschmirkonflikt I. Charakteristika der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs 1. Geographie und Demographie Jammu und Kaschmirs Jammu und Kaschmir liegt im geographischen Dreieck zwischen China, Indien und Pakistan. Im Westen grenzt es an die pakistanische Provinz Punjab und die Nordwest-Grenzprovinz, im Norden an einen schmalen afghanischen Gebietskorridor, der es von Tadschikistan trennt, im Osten an die chinesische Provinz Xinjiang und Tibet, im Süden an die indischen Bundesstaaten Himachal Pradesh und Punjab. Mit einer Fläche von ca. 85.000 Quadratmeilen hat das Gebiet Jammu und Kaschmirs in etwa die Ausdehnung Großbritanniens. 1 Der flächenmäßig größere und bevölkerungsreichere Teil im Süden und Osten mit den Regionen Jammu, Kaschmir und Ladakh steht unter indischer Oberhoheit. Das nordwestliche Drittel mit Mirpur, Muzzafarabad und den Nordgebieten wird von Pakistan kontrolliert. China hält den Karakorum Paß im Norden und Aksai Chin im Osten besetzt. In der geographischen Mitte des ehemaligen Fürstenstaates, eingerahmt vom Himalaya im Norden und Osten, vom Papanjal-Gebirge im Süden und dem MurreeHöhenzug im Westen, liegt das fruchtbare Kaschmirtal. Nördlich davon befinden sich die Nordgebiete, bestehend aus der Gilgit Agency, Hunza und Baltistan. Sie werden vom Hindukusch im Norden und dem Karakorum Gebirge im Nordosten begrenzt. Im Osten schließt sich an das Kaschmirtal Ladakh an, das in nordwestlicher Richtung von drei parallel laufenden Bergketten durchzogen wird, dem Himalaya-, Zanskar- und Ladakh-Gebirge. Die Region Jammu erstreckt sich vom Papanjal-Gebirge in südlicher Richtung bis hinter die Siwal-Kette im Südwesten und in die indische Tiefebene im Südosten. Im Westen dehnt sich Kaschmir bis zu den ι Hyman, Kashmir: Paths to Peace?, in: The World Today, July 1994, S. 123, 125; Wirsing, The Kashmir Conflict, in: Current History, Vol. 95, No. 600, April 1996, S. 171, 171. 7*
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2. Teil: Die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechtes
Ausläufern des Murree-Höhenzuges, unweit der pakistanischen Hauptstadt, aus. Im Gegensatz zu weiten Teilen der indischen Tiefebene ist Jammu und Kaschmir reich an guten Böden, Wäldern und Wasser. Die Flüsse Indus, Neelam, Jhelum und Chenab durchqueren das Gebiet in südwestlicher Richtung. Das Kaschmirtal ist berühmt wegen seines angenehmen Klimas, besonders im Sommer. In der Ebene um Jammu dagegen fallen die Temperaturen während der Sommermonate oft nur am frühen Morgen unter 40 Grad Celsius. In den Bergregionen wechseln kurze Sommer mit langen, harten Wintern ab. Den Angaben einer Volkszählung im indisch kontrollierten Gebiet zufolge lebten im Jahre 1981 im Kaschmirtal 3,1 Millionen Menschen, davon 95% Moslems, 4,5% Hindus und 0,5% Angehörige einer anderen Religion, während sich die Bevölkerung des Distriktes Jammu auf 2,7 Millionen Menschen belief, davon 66% Hindus, 30% Moslems und 4% andere.2 Die Einwohnerzahl in Ladakh lag deutlich über 100.000, in der Mehrzahl Buddhisten. Nach Schätzungen aus dem Jahre 1991 leben im indisch verwalteten Teil Jammu und Kaschmirs ca. 7,7 Millionen Menschen, davon 66% Moslems, 30% Hindus, 4% Buddhisten und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften. 3 Nach Angaben aus dem Jahre 1995 beträgt die Einwohnerzahl im pakistanisch kontrollierten Teil 2,5 Millionen. 4 Zum ganz überwiegenden Teil handelt es sich um Moslems sunnitischer Glaubensrichtung. Über die Bevölkerungsdichte der chinesisch besetzten Gebiete liegen keine offiziellen Angaben vor. Nach übereinstimmender Einschätzung erfahrener Himalaya-Reisender dürfte die Einwohnerzahl wegen der unwirtlichen Lebensbedingungen und zum Teil extremen Höhenlagen nur bei wenigen Tausend liegen. Der erste VN-Beauftragte für die Indien-Pakistan Frage, Sir Owen Dixon, konstatierte in seinem Bericht an den Sicherheitsrat bereits im Jahre 1950, daß der Fürstenstaat Jammu und Kaschmir weder geographisch noch demographisch noch wirtschaftlich eine Einheit darstelle.5 Die Heterogenität ethnischer und religiöser Gruppen, aus denen sich die Bevölkerung Jammu und Kaschmirs zusammensetzt, reflektiert die Lage des ehemaligen Fürstenstaates am Schnittpunkt verschiedener Kulturkreise, nämlich dem indo-arianischen, zentral-asiatischen, chinesischen und arabisch-persischen. 6
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Rahman, Divided Kashmir, S. 33. 3 Quelle: B. Dörler, Tränen im glücklichen Tal, in: Der Spiegel, Nr. 22/1998, 25. Mai 1998, S. 156, 158. 4 Rahman, Divided Kashmir, S. 32 f. Die Angaben schließen die Nordgebiete inkl. Gilgit, Hunza und Baltistan ein. Darüber hinaus leben ca. 1,5 Mio. Kaschmiris in Pakistan und 300.000 in Großbritannien. 5 UN Representative Dixon, Report to the Security Council, UN-Doc. S /1791 and Add. 1, SCOR, 5 t h Year, Supplement for September through December 1950, S. 45 (§ 101). 6 Jha, Kashmir, 1947, S. 118.
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2. Ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle Besonderheiten a) Das Kaschmirtal Unter der vorwiegend indo-arianischen Bevölkerung des Kaschmirtales breitete sich im 2. Jahrhundert v. Chr. der Buddhismus aus, der später vom hinduistischen Brahmanismus verdrängt wurde, welcher wiederum im 13. Jahrhundert dem Einfluß des Islam wich. 7 Heute bekennen sich in der Provinz Kaschmir über 90% der Bevölkerung zum Islam.8 Vorherrschende Glaubensrichtung im Kaschmirtal ist der Sunnismus, mit starken Einflüssen einer selbständig weiterentwickelten Sufi-Mystik, die sich durch eine bemerkenswerte Nähe zum buddhistischen und hinduistischen Gedankengut auszeichnet. Die sprichwörtliche Toleranz des Sufismus kaschmirischer Prägung trug wesentlich dazu bei, daß Moslems und Hindus über Jahrhunderte in Frieden und Achtung voreinander zusammenlebten.9 Für neun von zehn Bewohner des Kaschmirtales ist die Muttersprache Kaschmiri, das dem dardischen Sprachenstamm angehört, der schon früh eine Sonderentwicklung gegenüber den Sprachen Nordindiens durchgemacht hat. 10 Obwohl Kaschmir enge geschichtliche Bezüge zu Indien und Pakistan aufweist, ist seine Nähe zu Zentralasien in allen Lebensbereichen deutlich spürbar. Der kulturellen Gemengelage hat es eine reiche Tradition eigener Ausdrucksformen in Kunst, Literatur, Theater und Tanz zu verdanken. 11
b) Die Provinz Jammu Die Bewohner der Provinz Jammu können in ethnischer Hinsicht mehrheitlich den Dogras zugerechnet werden. 12 Darüber hinaus verdient der Stamm der Pahari Erwähnung, der im bis zu 4.000 Meter hohen Papanjal-Gebirgszug zwischen Jammu und Srinagar lebt, sowie der Nomadenstamm der Gujars, die aus Rajasthan ein7
Zur Religionsgeschichte Kaschmirs: Akbar, Kashmir: Behind the Vale, S. 8-48, mit pro-islamistischem Akzent; Sehgal, Converted Kashmir, S. 27-177, mit pointiert hinduistischem Einschlag. s Nach Erhebungen der Jawaharlal Nehru Universität in Neu Delhi liegt der Anteil der Moslems an der Gesamtbevölkerung in der Provinz Kaschmir im Distrikt Anantnag bei 95,63%, in Badgam bei 95,94%, in Baramulla bei 96,50%, in Kupwara bei 97,53%, in Pulwana bei 95,87% und in Srinagar bei 90,65%, vgl.: Hasan, Legacy of a Divided Nation, 1997, Appendix A, S. 329, 332. 9 Salmon Rushdie, Atomgefahr für das Paradies, in: Die Welt, 10. Juni 1999, S. 11. 10
H. Berger, Die Vielfalt der indischen Sprachen, in: Rothermund, Indien, S. 101, 106. Bekannt ist Kaschmir für seine Tradition von Tänzen, von denen der Rouf besondere Erwähnung verdient, ein Tanz der Kaschmiri-Frauen, die sich in einer Doppelreihe „wiegend und schwingend vorwärts und rückwärts" bewegen, vgl.: K. Vatsyayan, Tanz und Theater, in: Rothermund, Indien, S. 316, 320. 12 Eine anschauliche Übersicht über die ethnische Zusammensetzung des Fürstenstaates bietet: Das Gupta, Jammu and Kashmir, S. 12-17. 11
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gewandert sind und sich zum Islam bekennen. Die Bevölkerung Jammus spricht mehrheitlich Dogra. In Kultur und Gebräuchen sind Einflüsse des nahen Punjabs unverkennbar. Wirtschaftlich und verkehrstechnisch ist Jammu vollständig in die Indische Union integriert. Ein Forschungsteam der Jawaharlal Nehru Universität in Neu Delhi hat in einer 1997 von Hasan veröffentlichten demographischen Studie eine markante Trennlinie zwischen den mehrheitlich von Moslems besiedelten unmittelbar an Kaschmir angrenzenden und den überwiegend von Hindus bewohnten südlichen Distrikten der Provinz Jammu festgestellt. Danach liegt der moslemische Bevölkerungsanteil in Poonch bei 89,06%, in Rajouri bei 58,28% und in Doda bei 57,29%, in den Distrikten Udhampur, Kathua und Jammu dagegen nur bei 26,22%, 6,96% bzw. 4,27%. 13 Die Hindu-Bevölkerung Jammus läßt sich in die Kasten der Brahmanen, Dogra Rajputs, Khatris, Mahajans und Harijans aufteilen.
c) Ladakh Die Bevölkerung Ladakhs setzt sich aus Einwohnern mongolischer und arianischer Abstammung zusammen und spricht überwiegend Ladakhi. Ladakh gliedert sich in die Tehsils Leh, Kargil, Zanskar und Skardu und ist wegen extremer geographischer und klimatischer Bedingungen nur außerordentlich dünn besiedelt. Nach Angaben einer Volkszählung aus dem Jahre 1981 beläuft sich die Bevölkerung Ladakhs auf lediglich 135.000 Personen, davon 52% Buddhisten.14 Die Gebiete um Leh und das Zanskar-Tal sind stark vom Buddhismus tibetischer Prägung beeinflußt, nicht zuletzt wegen des starken Flüchtlingsstroms aus dem von China unterdrückten Tibet. Im Distrikt Leh steht eine buddhistische Mehrheit einer moslemischen Minderheit gegenüber, die wiederum in eine schiitische und sunnitische Kongregation geteilt ist. 15 In der Gegend um Kargil leben dagegen vorwiegend Baiti sprechende Schiiten. Die Gruppe der Moslems beträgt dort 77,89%, während sie in Leh lediglich 15,31% der Gesamtbevölkerung ausmacht.16 Obwohl Buddhisten und Moslems in Ladakh (mit Ausnahme der Gegend um Kargil) dieselbe Sprache sprechen, demselben Kulturkreis angehören und inter-konfessionelle Ehen schließen, haben religiöse Unruhen das Zusammenleben seit den achtziger Jahren deutlich erschwert. 17 Im Juli 1989 kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Buddhisten und Moslems, gefolgt von einem Aufruf der Ladakh Buddhist Association an die buddhistische Gemeinde, Geschäfte und Dienstleistungen der 13 Vgl.: Hasan, Legacy of a Divided Nation, 1997, Appendix A, S. 329, 332. 14 Vgl. A.H. Suhrawardy, Demographic and Ethnic Changes in Occupied Kashmir, in: Yusuf, Perspectives on Kashmir, S. 167, 169, mit kritischer Kommentierung. 15 Emmer, Kashmir nach den Assembly-Wahlen, in: Südasien, 17. Jahrgang, 1/97, S. 26, 29; Pinault, Shiism in South Asia, in: The Muslim World, Vol. 87, Nos. 3 - 4 , July-October 1997, S. 235, 252-256. 16 Vgl.: Hasan, Legacy of a Divided Nation, 1997, Appendix A, S. 329, 332.
17 Committee for Initiative on Kashmir, Kashmir: A Land Ruled by the Gun, S. 15.
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Moslem-Minderheit zu boykottieren. Im Grunde wünscht sich die buddhistische Mehrheitsbevölkerung Ladakhs den Status eines Autonomen Gebietes innerhalb der Indischen Union. 18 Durch die Zuerkennung des Scheduled Tribe Status im Jahre 1989, der sie zu direkten Sonderleistungen aus Neu Delhi berechtigt, wurde ihren Forderungen wenigstens teilweise Rechnung getragen.
d) Die Nordgebiete Die Nordgebiete liegen in den schwer zugänglichen Hochgebirgsregionen des Karakorum im Norden des Fürstenstaates Jammu und Kaschmir und sind großenteils weder verkehrstechnisch noch zivilisatorisch erschlossen. Sie sind in sechs Distrikte aufgeteilt, nämlich Hunza-Nagar, Gilgit, Koh-e-Ghazar, Ghanchi, Diamir und Skardu. Die Bevölkerung setzt sich zur Hälfte aus Schiiten und zu jeweils einem Viertel aus Sunniten und ismaelitischen Anhängern des Aga Khan zusammen. 19 Die traditionell harmonischen Beziehungen zwischen diesen Bevölkerungsgruppen haben sich seit den sechziger Jahren zusehends verschlechtert. Während die Mehrheit der Schiiten den politischen Implikationen der Kaschmirfrage seit jeher gleichgültig gegenübersteht, den Anschluß der Nordgebiete an Pakistan und die Gründung einer Karakorum Provinz anstrebt, solidarisierte sich der sunnitische Bevölkerungsanteil anfangs mit der Azadi-Bewegung und befürwortete eine Reintegration mit Azad Kaschmir. 20 Allerdings gibt es Anzeichen dafür, daß mit zunehmender Dauer und Komplexität des Guerillakrieges auch das Interesse der Sunniten in den Nordgebieten an der Kaschmirfrage nachgelassen hat. 21
3. Geschichte und Gesellschaft a) „Quit Kashmir" -Bewegung In Anlehnung an die Quit India-Agitation des National Congress (India) rief Sheikh Abdullah im Mai 1946 die Quit Kashmir-Bewegung ins Leben. Quit Kash18
M.S. Khan, Focus on Kashmir, S. 8. Dagegen sehen die Schiiten im Bezirk Leh in einem vorwiegend buddhistisch geprägten Umfeld die indische Regierung als Garant ihrer Religionsfreiheit an, vgl.: Pinault, Shiism in South Asia, in: The Muslim World, Vol. 87, Nos. 3 - 4 , July-October 1997, S. 235, 257. 19 Raman, The Northern Areas, in: Strategic Analysis, Vol. 19, No. 6, September 1996, S. 931, 933. 20 Arif, What is Wrong in the Northern Areas, in: Pakistan Outlook, Vol. 4, No. 4, 1994, S. 63, 67-69. 21
The Kashmir Study Group, Report on the Visit of an Independent Study Team to India and Pakistan, S. 43: „In the Northern Areas ... the Team found few signs that its inhabitants identified to any significant degree with any portion of Kashmir proper or felt deep concern over the Kashmir dispute."
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mir hatte sich auf die Fahnen geschrieben, den autokratischen Maharaja mit friedlichen Mitteln zur Abdankung zu bewegen und den Fürstenstaat Jammu und Kaschmir in einen unabhängigen, säkularen und demokratischen Staat umzuwandeln. 22 Obwohl die Bewegung in erster Linie ein politisches Vehikel Sheikh Abdullahs und der von ihm gegründeten National Conference blieb, standen alle größeren Parteien Jammu und Kaschmirs den Zielen der Bewegung nahe, allen voran die Muslim Conference, die im Kampf gegen den Maharaja eine eigene „AktionsKampagne" betrieb. 23 In sowjetischen Stellungnahmen während des Teilungsprozesses Indiens wurde Jammu und Kaschmir als „eigenständige Nation" bezeichnet und die für die Unabhängigkeit eintretende National Conference als Partei, die den Volkswillen vertrete. 24 Von völkerrechtlicher Bedeutung ist dieser geschichtliche Befund insofern, als in der sowjetischen Völkerrechtslehre die Nation, nicht das Volk als Träger des Selbstbestimmungsrechtes angesehen wurde. Nach der Definition Stalins galt als Nation eine historisch gewachsene Gemeinschaft der Sprache, des Gebietes, des Wirtschaftslebens und der kulturellen Eigenart. 25 Militärisch mag der Fürstenstaat Jammu und Kaschmir für die Behauptung der Unabhängigkeit nicht gerüstet gewesen sein. Politisch aber hatte er, anders als indische und pakistanische Quellen heute glauben machen wollen, durchaus das Potential zu einem eigenen Staat. Allerdings sollte nicht übersehen werden, daß der Motor der Agitation gegen den Maharaja die Bevölkerung des Kaschmirtales war, während eine Solidarisierung mit der Quit Kashmir-lniûati\e in den Randgebieten des Fürstenstaates fast vollständig ausblieb. Die buddhistische Bevölkerungsgruppe in Ladakh zeigte der politischen Entwicklung in Srinagar die kalte Schulter und fühlte sich weniger vom Maharaja ausgebeutet als von der Moslembevölkerung in Kargil, die den Handel mit Paschina-Wolle kontrollierte. Bereits 1949 legte die Buddhist Association of Ladakh ein Memorandum vor, in dem sie die Konstituierung eines aus Jammu und Ladakh bestehenden eigenen Bundesstaates innerhalb der Indischen Union 22 M. C. Setalvad (Indien), SCOR, 3 r d Year, 234 th Meeting, 23 January 1948, S. 210. Für Chandra, India's Struggle for Independence, S. 359 f., scheint sich die Bewegung in J&K dagegen nahtlos in den indischen Freiheitskampf einzufügen: „The people of the [princely] States thus formally joined the struggle for Indian independence, and in addition to their demand for responsible government they asked the British to quit India and demanded that the States become integral parts of the Indian nation." 23 Cox / Wayne / Ayris, Pakistan: The Consolidation of a Nation, S. 60; Schofield, Kashmir in the Crossfire, S. 114 f. 24
Ray, How Moscow Sees Kashmir, S. 12, skizziert die Gründe für die anfänglichen Sympathien der Sowjetunion für ein unabhängiges Jammu und Kaschmir folgendermaßen: „The red flag of the National Conference generated great hopes in Moscow about the future of Kashmir. The Soviets also found that ,the main street in Srinagar is called Red Square.4 With so many similarities between Moscow and Srinagar, the Soviets hoped and even expected Kashmir to follow the Soviet example.44 25 Brunner, Minderheitenschutz in Osteuropa, in: Jahrbuch für Ostrecht, 1984, S. 9, 19; Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, S. 47.
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forderte. 26 Auch die Bewohner der Nordgebiete nahmen an den Ereignissen in Kaschmir kaum Anteil. Ab November 1947 wurden sie, unter Vorenthaltung aller demokratischen Rechte, zentral aus Karachi regiert. Die in der Literatur vertretene These, daß die Quit Kashmir- Bewegung der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre in der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs ein gemeinsames Identitätsbewußtsein gestiftet habe,27 ist daher mit der Einschränkung zu versehen, daß die buddhistische Bevölkerung in Ladakh und die Bewohner der Nordgebiete sich weder an den Kampagnen gegen den Maharaja beteiligten, noch mit der Idee eines politisch vereinten Jammu und Kaschmir identifizierten.
b) Regionale Ungleichbehandlung Der politische Zusammenhalt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir war von Beginn an auf eine Zerreißprobe gestellt durch die Verschiedenheit der Bevölkerungsgruppen und die politische Bevormundung der Provinzen Jammu und Ladakh durch die Regierung in Srinagar, die sich im wesentlichen auf das bevölkerungsreiche und wirtschaftlich potente Kaschmirtal stützte.28 Die Hindus in Jammu und die Buddhisten in Ladakh fühlten sich von der moslemisch dominierten Regierung in Srinagar nicht ausreichend repräsentiert und erhoben frühzeitig Forderungen nach größerer Autonomie, bis hin zur Gründung eines eigenen Bundesstaates oder einer Föderation mit dem Bundesstaat Punjab.29 Im Frühjahr 1953 nahm das Problem der regionalen Ungleichbehandlung („regional imbalances") das Format einer Staatskrise an, als der Präsident der indischen Hindu-Partei Jana Sangh, Dr. S.P. Mookerjee, in Jammu und Kaschmir festgenommen wurde und in Polizeigewahrsam verstarb. 30 Spätestens mit dem Ausbruch einer Serie gewaltsamer Proteste gegen die Vorherrschaft des Kaschmirtales in der Provinz Jammu zwischen Dezember 1978 und März 1979, gefolgt von Ausschreitungen in Ladakh im Januar 1981, wurde auch den eingefleischtesten Patrioten Jammu und Kaschmirs klar, daß die regionalen Reibungen nicht in gelegentlichen Interessengegensätzen wurzelten, sondern Ausdruck eines Strukturproblems des Bundesstaates waren. 26 Vgl.: Schofield, Kashmir in the Crossfire, S. 173 f. 27
Bhatt, Political and Constitutional Development of the Jammu and Kashmir State, S. 266; Chaudhry, Der Kaschmirkonflikt, Bd. 1, S. 48. 28 Lamb, Kashmir -A Disputed Legacy, S. 196-199,316-318. 29 Zu den Autonomiebestrebungen Jammus und Ladakhs: Korbel, Danger in Kashmir, S. 226-232. 30 Das Manifest der Jana Sangh vom Oktober 1951 sah die vollständige Integration des Bundesstaates Jammu und Kaschmir in die Indische Union ohne Abhaltung eines Plebiszites vor, vgl.: C. Baxter, The Jana Sangh, in: Smith, South Asian Politics and Religion, S. 74, 82; zu Einzelheiten über das Spektrum der rechten Parteien in der Provinz Jammu, vgl.: Singh, Political Awakening in Kashmir, S. 186.
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2. Teil: Die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechtes
Die politischen Friktionen zwischen Kaschmir, Jammu und Ladakh spiegeln sich deutlich auch in den Wahlergebnissen der Provinzen wider. In Kaschmir dominiert die programmatisch säkulare, aber von Moslems geführte National Conference das politische Spektrum, in Jammu setzt sich mit auffallender Regelmäßigkeit der National Congress als stärkste Partei durch, während die Wählerschaft in Ladakh traditionell unabhängige buddhistische Kandidaten in die State Assembly entsendet.31 c) Kaschmiriyat Trotz geographischer Barrieren, ethnischer Unterschiede, religiöser Spaltung, sprachlicher Vielfalt und multikultureller Einflüsse hat sich in der Bevölkerung Jammu und Kaschmirs über die Jahrhunderte ein Identitätsbewußtsein herausgebildet, das im Streben nach Kashmiriyat, Selbstregierung, sichtbaren Ausdruck findet. 32 Der Begriff Kashmiriyat bezeichnet die besondere historisch gewachsene kulturelle und religiöse Identität der Bewohner Jammu und Kaschmirs. 33 Es ist ein offenes weltanschauliches Konzept, das sich einer klaren Definition verschließt. Im Laufe der Azadi-Bewegung haben säkulare und fundamentalistische Gruppen gleichermaßen versucht, Kashmiriyat zum Vehikel ihrer Ziele zu machen. Für die Jammu and Kashmir Liberation Front drückt sich in Kashmiriyat die Utopie einer unabhängigen, klassenlosen, polykonfessionellen, multikulturellen, in einem säkularen Staat verfaßten Willensnation auf dem Gebiet Jammu und Kaschmirs aus, während die Hizbul-Mujahideen darunter einen Aufruf zur Islamisierung Jammu und Kaschmirs und zum Anschluß an Pakistan versteht. 34 Mangels Begriffsver31
Lamb, Kashmir - A Disputed Legacy, S. 328. Ganguly/Bajpai, India and the Crisis in Kashmir, in: Current Affairs (Lahore), September 1994, S. 26, 27; International Commission of Jurists, Human Rights in Kashmir, S. 6; Ram, Jammu and Kashmir: Special Status in Indian Federalism, S. 165: „Kashmiris, especially in the Valley, have developed a pride of place, race and language and have grown up as a compact community aspiring to be a nation."; Wirsing, India, Pakistan, and the Kashmir Dispute, S. 118. 33 Akbar, Kashmir: Behind the Vale, S. 30: „Kashmiriyat [is] a culture of synthesis, understanding and humanism."; Akhtar, Uprising in Indian-Held Jammu & Kashmir, S. 64: „Kashmiriyat is a sense of community of a people who have lived together for ages and developed and preserved [their] own distinctive identity."; Buchan, Kashmir, in: Granta, No. 57, Spring 1997, S. 59, 73: ,,[K]ashmiriyat [is] a common Kashmiri identity that arose in the place and its history and transcended allegiances of religion." 32
34 Akhtar, Uprising in Indian-Held Jammu and Kashmir, S. 74-79; G.M. Wani, Kashmir: Waiting for a Sub-Continental Initiative, in: Wani, Kashmir: Need for Sub-Continental Initiative, S. 1,4: „Kashmiriyat, as pronounced mainly by Jammu and Kashmir Liberation Front premises on a supra-religious ethnic identity, independent of both India and Pakistan. On the contrary, Hizbul-Mujahideen, while banking on territorial sub-nationalism, stress the religious component of the Kashmiri identity, which to them is to join Pakistan in the true tradition of Millat." Vgl. auch: Yasin Malik (Chairman of JKLF), Our Real Crime, S. 90: „Jammu Kashmir Liberation Front is a political party. As the name suggests, it believes in .Libera-
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ständigung kann die Idee des Kashmiriyat kaum als Kompaß für die Bestimmung einer gemeinsamen nationalen Agenda dienen. Befreit vom ideologischen Blendwerk ist Kashmiriyat aber mehr als jemals zuvor Fokus eines Selbstfindungsprozesses, der als Nukleus einer eigenen Identität angesprochen werden könnte.
II. Der Begriff des Volkes im Völkerrecht 1. Problemaufriß Trotz zahlreicher gedankenvoller wissenschaftlicher Beiträge hat die völkerrechtliche Praxis bis heute keinen Konsens über eine Definition des Volksbegriffes zu erzielen vermocht. Die Gründe dafür sind dreifach. Erstens ist das Selbstbestimmungsrecht kein geschlossenes rechtliches Konzept, sondern fächert sich in verschiedene Rechtsfiguren auf, deren Gehalt sich im jeweiligen Faktenkontext ändern kann. 35 Zweitens sorgt der Umstand, daß das Volk als Rechtsträger des Selbstbestimmungsrechtes durchaus nicht immer mit dem Volk im ethnischen Sinne zusammenfällt, im Bemühen um begriffliche Klarheit für Verwirrung. 36 Drittens schließlich weckt das Veränderungspotential des Selbstbestimmungsrechtes Argwohn und Mißtrauen. Multi-ethnische Staaten fürchten eine Einengung des politischen Handlungsspielraumes durch begriffliche Festlegung. Daraus resultiert die Neigung der Staaten, die rechtlichen Konturen des Institutes weich zu zeichnen und das konkrete Anwendungsfeld möglichst im unklaren zu lassen. Unter umgekehrten Vorzeichen hat eine von der VN-Unterkommission zur Verhütung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten eingesetzte Arbeitsgruppe in ihrem Deklarations-Entwurf über die Rechte indigener Völker von einer Definition des Ureinwohner-Begriffes Abstand genommen. Sie wollte den Staaten keinen Vorwand zur Versagung der in der Deklaration genannten Rechte liefern. 37
2. Staatsvolk Die Anknüpfung der Rechtsträgerschaft des Selbstbestimmungsrechtes an den Begriff des Staatsvolkes ist völkerrechtlich unbedenklich. Es ist weitgehend un-
tion', it represents those people who believe that Kashmir state should be liberated from its occupational forces. It does not only stand for »liberation4, but also believes in ,re-unification' of the two territories of the state of Jammu and Kashmir. Its abbreviation stands for,Jammu, Kashmir, Ladakh and Frontier'." 35 36
Cassese, Self-Determination of Peoples, S. 319.
Ermacora, Grundriß der Menschenrechte, S. 49, Rdnr. 194; C. Tomuschat, International Law, in: Tomuschat, The UN at Age Fifty, S. 281, 291. 37 Coulter, The Draft UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, The Netherlands Quarterly of Human Rights, Vol. 13, No. 2, 1995, S. 123, 129 f.
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streitig, daß das Selbstbestimmungsrecht von einem Staatsvolk ausgeübt werden kann, auch wenn die Bevölkerung sich aus verschiedenen ethnischen, sprachlichen oder religiösen Gruppen zusammensetzt.38 In seiner Dissertation Tibet und das Selbstbestimmungsrecht der Völker kommt Schmitz zu dem sorgfältig untermauerten Ergebnis, daß die Annexion Chinas den Anspruch des tibetischen Volkes auf Wiederherstellung seiner Staatlichkeit auslöst, während die schwere Verletzung der Menschenrechte ein Recht der tibetischen Bevölkerung auf Sezession (nur) in solchen Gebieten begründet, in denen sie die Bevölkerungsmehrheit stellt. 39 Eine solche Differenzierung ist geboten, denn „Restitutionsanspruch" und „Notwehrrecht" als Ausformungen des Selbstbestimmungsrechtes mögen sich zwar inhaltlich überschneiden, haben aber nicht nur einen jeweils eigenen Tatbestand mit Rechtsfolgen, die in Art und Umfang voneinander abweichen können, sondern auch unterschiedliche Rechtsträger. Die These, Jammu und Kaschmir habe mit der Unabhängigkeit Britisch-Indiens Völkerrechtssubjektivität erlangt, wurde bereits im ersten Teil dieser Untersuchung verworfen. 40 Das Merkmal effektiver Staatsgewalt dürfte angesichts des Umstandes, daß dem Maharaja nach der Unabhängigkeit kaum zehn Wochen zum Regieren blieben, nicht erfüllt sein. Wenn man dennoch der Auffassung zuneigt, daß der Fürstenstaat Jammu und Kaschmir mit der Unabhängigkeit 1947 den Status eines souveränen Staates erlangt habe, stellt sich in der Tat die Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht dem Staatsvolk Jammu und Kaschmirs in den Grenzen von 1947 zusteht.41 In der Literatur besteht Einigkeit darüber, daß das Selbstbestimmungsrecht den Fortbestand eines Staates nur so lange bewirkt, wie eine Identifikation des Volkes mit dem Staat gegeben ist. 42 Die Identität eines Volkes kann durch einschneidende politische Ereignisse oder komplexe gesellschaftliche Prozesse verlorengehen. Kurz vor dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes der DDR mehrten sich die Anzeichen dafür, daß die deutsche Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl bereit war, ihren Alleinvertretungsanspruch für das deutsche Volk aufzugeben. Dieser Gesinnungswandel wurzelte in der Erkenntnis, daß „die DDR und damit auch ihre Bevölkerung durch eine fast vierzigjährige Existenz eine besonde38 Ipsen, Vertraglicher Individualschutz, in: Ipsen, Völkerrecht, S. 644 (§ 44 IV. 2. Rdnr. 41); Tyranowski, Souveräne Gleichheit der Staaten und Selbstbestimmungsrecht der Völker, S.4. 39 Schmitz, Tibet und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, S. 320-323. 40 Vgl. Teil I, 1. Kapitel, 1.3. 41 Franck, The Power of Legitimacy Among Nations, S. 162 f., bejaht ein Selbstbestimmungsrecht des „Staates Kaschmir". 42
Baer, Der Zerfall Jugoslawiens im Lichte des Völkerrechts, S. 83; Seiffert, Selbstbestimmungsrecht und deutsche Vereinigung, S. 107, mit Blick auf die Lage in Deutschland vor der Wiedervereinigung; C. Tomuschat, Staatsvolk ohne Staat?, in: Hailbronner/Ress/Stein, Festschrift für K. Doehring, S. 985, 1000; Tyranowski, Souveräne Gleichheit der Staaten und Selbstbestimmungsrecht der Volker, S. 17.
5. Kap.: Rechtsträger des Selbstbestimmungsrechtes
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re Identität gewonnen hat, die gerade auch unter dem Aspekt der Selbstbestimmung nicht einfach negiert werden kann." 43 Im Falle Jammu und Kaschmirs darf schon bezweifelt werden, ob sich der Nachweis eines die gesamte Bevölkerung erfassenden Nationalbewußtseins in der knapp hundertjährigen gemeinsamen Geschichte überhaupt führen läßt. Die fünfzig Jahre währende Teilung eines ohnehin in religiöser, kultureller und sprachlicher Hinsicht heterogenen Siedlungsraumes gibt der Behauptung, die Bevölkerung Jammu und Kaschmirs sei ein Staatsvolk, eine vollends spekulative Note. Die Konstruktion eines kaschmirischen Staatsvolkes soll daher hier nicht weiter verfolgt werden.
3. Das Prinzip uti possidetis iuris Die völkerrechtliche Diskussion um den Inhaber des Selbstbestimmungsrechtes im Kontext der Dekolonialisation war entscheidend geprägt durch das Institut uti possidetis iuris. Danach ist Träger des Selbstbestimmungsrechtes die Bevölkerung, die innerhalb der von den Kolonialmächten gezogenen Demarkationslinien lebt. Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes erfolgt durch Umwandlung dieser Linien in internationale Grenzen. 44 Auf den Kaschmirkonflikt angewendet, hätte dies zur Folge, daß das Selbstbestimmungsrecht allen Bewohnern des Fürstenstaates Jammu und Kaschmir in den Grenzen vom 15. August 1947 sowie allen seit diesem Zeitpunkt Vertriebenen, sofern sie einen Rückkehrwillen haben, einheitlich zustünde. Eine Aufteilung des Gebietes oder die Abhaltung eines regionalen Plebiszits würde dagegen den Anforderungen des vom uti possidetis- Prinzip beherrschten Selbstbestimmungsrechtes nicht gerecht. Ob es sich beim Prinzip uti possidetis iuris um eine politische Maxime handelt, mit der risikoscheue Kolonialmächte ihren Abgang von der Bühne in Übersee erleichterten, oder um einen positiven Rechtssatz der völkerrechtlichen Ordnung, den die internationale Gemeinschaft zum Schutze der territorialen Integrität neugeborener Staaten entwickelte, ist Gegenstand einer hitzigen völkerrechtlichen Kontroverse. In der Entscheidung Burkina Faso versus Mali stellte der IGH obiter dictum fest, daß es sich beim Prinzip uti possidetis um eine völkergewohnheitsrechtlich etablierte Rechtsnorm mit universeller Geltung handele.45 Dieser Auffassung haben sich weite Teile der Literatur angeschlossen 4 6 In der Praxis der Vereinten Natio43 C. Tomuschat, Staatsvolk ohne Staat?, in: Hailbronner/Ress/Stein, Festschrift für K. Doehring, S. 985, 998. 44 IGH, Affaire du Différend Frontalier (Burkina Faso c. Republique du Mali), Arrêt du 22 Décembre 1986, C.I.J. Recueil 1986, S. 554, 566 (§ 23). 45 IGH, Affaire du Différend Frontalier (Burkina Faso c. Republique du Mali), Arrêt du 22 Décembre 1986, C.I.J. Recueil 1986, S. 554, 565 (§ 21). Baer, Der Zerfall Jugoslawiens im Lichte des Volkerrechts, S. 194 f., unter Hinweis auf die Staatenneugründungen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und Ex-Jugo-
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2. Teil: Die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechtes
nen läßt sich der Nachweis der Rechtssatzqualität des Institutes uti possidetis iuris indes nicht führen. In einer Kette von Beispielen gaben die Vereinten Nationen dem Willen der Bevölkerung durch die Wiederherstellung prä-kolonialer staatlicher Einheit, den Zusammenschluß mehrerer Kolonien zu einem Staat oder die Aufteilung einer Kolonie in mehrere Staatsgebilde Vorrang vor der Perpetuierung des meist völlig willkürlichen kolonialen Gebietszuschnittes.47 Bemerkenswerterweise finden sich auch in der völkerrechtlichen Literatur Indiens Stimmen, die darauf hinweisen, daß das Selbstbestimmungsrecht in der Staatenpraxis oftmals abweichend vom uti possidetis-Grundsatz ausgeübt worden sei, so bei der Erlangung der Unabhängigkeit Bangladeschs von Pakistan, Singapurs von Malaysia und Belizes von Guatemala.48 Folgerichtig vertrat Richter Luchaire in einem Sondervotum zur Burkina Faso Entscheidung die Position, die Grenzen eines aus dem Prozeß der Dekolonisierung hervorgegangenen Staates könnten sehr wohl von denen der Kolonie, die er ersetze, abweichen, wenn das Volk in Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes ein entsprechendes Votum abgebe 4 9 Es scheint, als habe sich der IGH diese Haltung in der Entscheidung zum Grenzkonflikt zwischen El Salvador und Honduras zu eigen gemacht. Deutlich ging er darin zum uti possidetis-Pünzip auf Distanz, indem er die Zufälligkeiten kolonialer Grenzziehungen betonte und die Notwendigkeit einer zukunftsgerichteten, am Friedensinteresse orientierten Gebietsaufteilung unterstrich. 50 Der Trend einer Abkehr vom uti possidetis- Konzept setzt sich in der jüngeren Staatenpraxis fort. Das Rahmenabkommen von Dayton faßt zwar die Föderation Bosnien-Herzegowina und die Republika Srpska unter dem Dach des Staates Bosnien-Herzegowina zusammen. Die Übertragung aller wesentlichen Kompetenzen auf die Regierungen und Behörden der Teileinheiten läßt aber den Schluß zu, daß der Erhalt des Gesamtstaates auch vom Westen nicht mit letzter Konsequenz gewollt war. 51 slawiens; Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, S. 56 f., mit Blick auf die VN-Praxis in den Sezessionsversuchen Katangas, Biafras und Eritreas; Cassese, Self-Determination of Peoples, S. 192. 47 Quane, The UN and the Evolving Right to Self-Determination, in: International and Comparative Law Quarterly, Vol. 47, Part 3, July 1998, S. 537, 552, mit umfassender Kasuistik. 48 Guruswamy/Nigam/Raghavan, The Principle of Self-Determination, in: Indian Journal of International Law, Vol. 37, No. 1, January - March 1997, S. 105, 106. 49 F. Luchaire, Opinion Individuelle, IGH, Affaire du Différend Frontalier (Burkina Faso c. Republique du Mali), Arrêt du 22 Décembre 1986, C.I.J. Recueil 1986, S. 652, 653. Zweifel an der Gültigkeit des uti possidetis Prinzips im modernen Völkerrecht äußern auch: Henkin/Pugh/Schachter/Smit, International Law, S. 326, Rdnr. 25; Orentlicher, International Responses to Ethno-Separatist Claims, in: Yale Journal of International Law, Vol. 23, No. 1, Winter 1998, S. 1, 43: „If anything, uti possidetis reinforced the ultra-statist view of nineteenth-century law, which regarded the state as a virtually impenetrable fortress." 50 IGH, Case Concerning the Land, Island and Maritime Frontier Dispute (El Salvador v. Honduras), Judgment of 11 September 1992, I.C.J. Reports 1992, S. 351, 388: ,,[U]ti possidetis juris is essentially a retrospective principle, investing as international boundaries administrative limits intended originally for quite other purposes."
5. Kap.: Rechtsträger des Selbstbestimmungsrechtes
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Ob man aus dem facettenreichen Meinungsbild den Schluß zieht, die uti possidetis-VovmeX sei aufgrund mangelnder Übung gar nicht Bestandteil des Völkergewohnheitsrechtes geworden, oder der Annahme zuneigt, sie habe ihre Rechtssatzqualität im Wege der desuetudo eingebüßt, macht in der Sache keinen Unterschied. Beide Argumentationsmuster führen zum gleichen Ergebnis. Für die Lösung der Kaschmirfrage liefert das Prinzip uti possidetis keinen Anhaltspunkt. Der Charakter des Kaschmirkonfliktes als koloniale Altlast modifiziert daher nicht die Kriterien für die Beantwortung der Frage nach der Rechtsträgerschaft.
4. Diskussion um den Volksbegriff a) Objektive und subjektive Elemente Abseits des Getriebes der Staatenpraxis hat sich in der Völkerrechtswissenschaft zwischen den Polen eines objektiven und subjektiven Ansatzes zum Volksbegriff ein breites Meinungsspektrum entwickelt. Die Befürworter der objektiven Theorien verstehen unter einem Volk die sich aus ethnischen oder nationalen Gruppen zusammensetzende Gesamtheit von Personen, die auf einem zusammenhängenden Territorium siedeln und sich durch Kultur, Sprache, Abstammung oder Geschichte von anderen Völkern unterscheiden.52 Die Anlehnung an objektive Kriterien soll dazu dienen, die Nachprüfbarkeit der gefundenen Resultate zu erhöhen und die Möglichkeiten mißbräuchlicher Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht einzudämmen. Indem der objektive Ansatz aber das Volksempfinden völlig außer Betracht läßt, läuft er Gefahr, Ergebnisse zu zeitigen, die am Willen der Bevölkerung vorbeilaufen. Henkin fügt dem Volksbegriff eine territoriale Komponente bei, wenn er das Volk mit den Bewohnern des Teilgebietes eines Staates gleichsetzt.53 Allerdings bleibt unklar, was durch den Rückgriff auf den nicht minder problematischen Begriff des Territoriums gewonnen ist. Derlei Problemen geht Rouiller aus dem Weg, wenn er vorschlägt, nur diejenigen ethnischen Gruppen mit einer gewissen Größe als Völker anzusprechen, die von der Verfassung der jeweiligen Staaten als solche anerkannt seien.54 Diese Idee ist indes impraktikabel. Wenn die Definition des Volkes ins staatliche Ermessen gestellt wird, bleibt vom Emanzipationsgehalt des Selbstbestimmungsrechtes nichts mehr übrig. 51 Zumach, Dayton - kein Synonym für Frieden, Vereinte Nationen, 45. Jahrgang, Nr. 1, Februar 1997, S. 9, 11 f. 52 S. Eide, In Search of Constructive Alternatives to Secession, in: Tomuschat, Modern Law of Self-Determination, S. 139, 155: „The right to self-determination has been understood to belong to the collectivity of persons, composed of the several ethnic or national groups, living within the territory concerned - the colony, or the occupied territory. 44; Murswiek, Die Problematik eines Rechts auf Sezession, in: Archiv des Völkerrechts, Bd. 31, Heft 4, 1993, S. 307, 328. 53 Henkin, International Law: Politics and Values, S. 198. 54 Rouiller, Le Pacte International Relatif aux Droits Civils et Politiques, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Bd. I l l , 1992, S. 107, 129.
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2. Teil: Die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechtes
Am anderen Ende der Skala läßt sich Dinstein mit seinem radikal-subjektivistischen Ansatz ansiedeln. Aus Sorge vor einem staatspolitisch eingefärbten Verständnis des Volksbegriffes will er den Volksstatus jeder ethnischen Gruppe zusprechen, die eine gemeinsame Geschichte aufweist und sich selbst als Volk versteht.55 Auf weitere Erfordernisse wie zusammenhängendes Territorium, gemeinsame Religion oder Sprache verzichtet er. Es liege im Lauf der Geschichte, so Dinstein, daß eine ethnische Gruppe versprengt werde, sich in mehrere Religionen aufspalte und in verschiedenen Sprachen aufwachse. Wenn sie sich trotz aller Unterschiede noch als Einheit verstehe, sei gerade dies ein Grund, sie als Volk anzuerkennen. Dinsteins Argumentation findet Rückhalt in einer Studie des VNSonderberichterstatters Capotorti, der er zu dem Befund kommt, daß in einer Vielzahl von Staaten die Zuerkennung von Minderheitenrechten weitgehend vom Bekenntnis des Einzelnen zur Gruppe abhängig gemacht werde. 56 Machthungrigen, gewaltbereiten Separatisten bietet der subjektive Volksbegriff aber ein ideales Vehikel, um jede noch so fixe Sezessionsidee in das rechtliche Gewand der Selbstbestimmung zu kleiden und damit in der internationalen Gemeinschaft hausieren zu gehen. Die überwiegende Meinung im völkerrechtlichen Schrifttum reichert das zentrale Kriterium der Identität daher zu Recht mit objektiven Elementen an. VN-Sonderberichterstatter Cristescu bietet eine Definition des Volksbegriffes an, die objektive gruppenspezifische Charakteristika, einen Territorialbezug und eine eigene Identität miteinander verbindet. 57 Doehring charakterisiert als Träger des Selbstbestimmungsrechtes „eine Gruppe von Menschen . . . , die auf einem bestimmten, abgrenzbaren Territorium leben, eigene rassische, religiöse, sprachliche oder andere kulturelle Merkmale aufweisen und den Willen zur Bewahrung der Eigenart haben". 58 Die Kombination objektiver und subjektiver Merkmale zur Feststellung der Volkseigenschaft befriedigt das Bedürfnis nach Rechtsklarheit, dient einer vernünftigen Begrenzung des Selbstbestimmungsrechtes und kommt dem berechtigten Interesse des Individuums entgegen, über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe selbst zu entscheiden.59 Ein subjektiv-objektives Verständnis des Volksbegriffes soll daher auch der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegt werden. 55 Dinstein, Collective Human Rights of Peoples and Minorities, in: International and Comparative Law Quarterly, Vol. 25, January 1976, S. 102, 104. 56 UN Special Rapporteur Capotorti, Study on the Rights of Persons Belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, S. 15. 57 UN Special Rapporteur Cristescu, The Right to Self-Determination, S. 40 f. (§§ 274, 279). 58 K. Doehring, Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Simma, Charta der VN, nach Art. 1, Rdnr. 29; ähnlich: I. Brownlie, The Rights of Peoples in Modern International Law, in: Crawford, The Rights of Peoples, S. 1,5; R. Me Corquodale, The Right of Self-Determination, in: Harris/Joseph: The International Covenant on Civil and Political Rights, S. 91, 97; Guruswamy/Nigam/Raghavan, The Principle of Self-Determination, in: Indian Journal of International Law, Vol. 37, No. 1, January - March 1997, S. 105, 106; Ipsen, Individualschutz im Völkerrecht, in: Ipsen, Völkerrecht, S. 644 (§ 44 IV. 2. Rdnr. 41).
5. Kap.: Rechtsträger des Selbstbestimmungsrechtes
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b) Funktionalität Unter dem Eindruck des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) haben sich die Begriffe Volk und Minderheit so stark angenähert, daß eine trennscharfe Unterscheidung kaum noch möglich ist. 60 Einer vollständigen Aufgabe der Trennlinie zwischen Volk und Minderheit soll an dieser Stelle trotz der Schwierigkeiten einer Abgrenzung im Einzelfall nicht das Wort geredet werden. Eine Unterscheidung ist sinnvoll und nicht nur von akademischem Interesse. In formeller Hinsicht unterscheiden sich Selbstbestimmungsrecht und Minderheitenschutz darin, daß ersteres als kollektives Menschenrecht dem Volk als ganzes zusteht, während letzterer als Bündel von Individualrechten mit kollektivem Bezug ausgestaltet ist. 61 Dieser Befund hat praktische Auswirkungen zum Beispiel im Individualbeschwerdeverfahren nach dem Fakultativprotokoll des IPbpR, in dem das Individuum, nicht aber die Gruppe parteifahig ist. 62 In materieller Hinsicht geht das Selbstbestimmungsrecht über den Minderheitenschutz insofern hinaus, als nur einem Volk, nicht aber einer Volksgruppe das Recht auf Sezession zustehen kann. 63 Im Einzelfall mag es schwierig sein, festzustellen, ob den schutzwürdigen Interessen der Bevölkerung durch Minderheitenrechte ausreichend Rechnung getragen wird oder ob ihnen das Selbstbestimmungsrecht unter Einschluß der Sezession zuzugestehen ist. Höhere Anforderungen sind an den Träger des Selbstbestimmungsrechtes insofern zu stellen, als die Gruppe ihre Befähigung zur Staatsgründung durch eine kompakte Siedlungsweise, eine staatsfähige Bevölkerungsdichte, eine überzeugende numerische Überlegenheit auf dem betreffenden Gebiet, einen festen inneren Zusammenhalt sowie wirtschaftliche und politische Selbständigkeit unter Beweis stellen muß. 64 59 N. Berman, Sovereignty in Abeyance, in: Koskenniemi, International Law, S. 389, 430; C. Kimber, Equality or Self-Determination?, in: Gearty/Tomkins, Understanding Human Rights, S. 266, 285. 60 C. Tomuschat, Protection of Minorities under Art. 27 of the International Covenant on Civil and Political Rights, in: Festschrift für H. Mosler, S. 949, 975. 61 G. Brunner, The Concept of Group Rights in the Field of Protection of Minorities, in: Sajó, Western Rights? Post-Communist Application, S. 291, 294; J. Crawford, The Rights of Peoples: »Peoples4 or »Governments4?, in: Crawford, The Rights of Peoples, S. 55,59 f.; R. Higgins, Minority Rights, in: Lawson/de Blois, The Dynamics of the Protection of Human Rights in Europe, Vol. 3, S. 195,197; Robertson / Merrills, Human Rights in the World, S. 33,139. 62 B. Graefrath, Reporting and Complaint Systems in Universal Human Rights Treaties, in: Rosas/Helgesen, Human Rights in a Changing East-West Perspective, S. 290, 318. Aus diesem Grund hat der VN-Ausschuß für Menschenrechte, in der Entscheidung vom 20. Juli 1984 betreffend Mitteilung Nr. R 19/78, in: Europäische Grundrechtszeitung, 1984, S. 388, 390, eine Individualbeschwerde der M/fcmfl