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German Pages 297 Year 1975
Schriften zum Strafrecht Band 22
Der Kampf gegen das liberale Strafrecht Eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre
Von
Klaus Marxen
Duncker & Humblot · Berlin
KLAUS
MARXEN
Der Kampf gegen das liberale Straf recht
Schriften zum Strafrecht Band 22
Der Kampf gegen das liberale Straf recht Eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre
Von Dr. Klaus Marxen
D U N C K E R
& H U M B L O T
/
B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten © 1975 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1975 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 03307 8
Vorwort Die folgende Untersuchung geht auf eine Anregung von Herrn Prof. Dr. Wolfgang Naucke zurück. Er hat die Arbeit durch zahlreiche Gespräche und schriftliche Stellungnahmen unterstützt und gefördert. I h m gilt mein besonderer Dank. Eine wertvolle Unterstützung bedeutete ferner das Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Zum Druck hat der Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt durch einen Zuschuß beigetragen. Schließlich habe ich mich beim Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme der Arbeit i n die Reihe „Schriften zum Straf recht" zu bedanken. Das Manuskript der Arbeit war i m Frühjahr 1973 abgeschlossen. Anschließend hat die Arbeit dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt als Inaugural-Dissertation vorgelegen. Für den Druck sind geringfügige Veränderungen vorgenommen worden. September 1974
K.
Marxen
Inhaltsverzeichnis Einleitung
17 1. Kapitel Der Liberalismus in der Strafrechtswissenschaft des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts aus der Sicht der Vertreter eines Antiliberalismus
I. Die liberale Staatstheorie Strafrechtswissenschaft
in
der
Darstellung
der
20
antiliberalen
21
1. Das I n d i v i d u u m i m M i t t e l p u n k t
21
2. Die liberale Gesellschaftstheorie
22
3. Die Beschränkung des Staates auf eine Ordnungs- u n d Sicherungsfunktion
22
4. Die Aufgabe der Rechtsordnung
23
5. Weltanschauliche Grundzüge der liberalen Staatstheorie
24
I I . Kritische liberalen
Würdigung: Die pauschale Strafrechtswissenschaft
Betrachtungsweise
der
anti-
I I I . Liberales Gedankengut in den Lehren der beiden Strafrechtsschulen aus der Sicht der antiliberalen Strafrechtswissenschaft
25
28
1. Die klassische Schule
29
a) Der Strafbegriff
29
b) Das Verbrechenssystem
33
c) Die Methode
37
d) Die Sonderstellung Bindings
37
2. Die moderne Schule
41
a) Der Strafbegriff
42
b) Das Verbrechenssystem
44
c) Die Methode
46
Inhaltsverzeichnis
8
2. Kapitel Der irrationale Zeitgeist als Voraussetzung des Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft
47
I. Die Lebensphilosophie
47
I I . Die Phänomenologie I I I . Der Popularisierungs-
49 und Politisierungsprozeß
51
3. Kapitel Das neue Staatsverständnis als Ausgangspunkt der strafrechtswissenschaftlichen Gegenbewegung zum Liberalismus I. Die Kritik mus
der antiliberalen
Strafrechtswissenschaft
am
Liberalis-
56 57
1. Entartung des Freiheitsgedankens
57
2. Entleerung des Staatsbegriffs
58
3. Wider die parlamentarische Demokratie
59
4. Der „undeutsche" Liberalismus
60
I I . Grundzüge
des antiliberalen
Staatsverständnisses
60
1. Das Menschenbild
60
2. Der Staat als Lebensform des Volkes
62
a) Die Neubestimmung des Freiheitsbegriffs
63
b) Der „konkrete" Gleichheitsbegriff
64
3. Die Staatsform
64
a) Das Führerprinzip b) Der Regierungsstaat
65 66
4. Der staatliche Wirkungsbereich (Totaler oder autoritärer Staat?) I I I . Die aus dem antiliberalen Staatsverständnis hervorgegangene fassung vom Wesen des Rechts und von seinen Aufgaben
Auf-
66 67
1. Der antiliberale „Rechtsstaat"
67
2. Die Quelle des Rechts
69
3. Recht u n d Wert
71
4. Recht u n d Sitte
74
5. Recht u n d Gesetz
75
Inhaltsverzeichnis 4. Kapitel Der Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft bis zur Konsolidierung des nationalsozialistischen Machtapparates I. Der Widerstand
gegen die „liberale"
Strafrechtsreform
76 76
1. Die Reformarbeiten bis 1930
76
a) Der E n t w u r f Radbruchs 1922
76
b) Der E n t w u r f
1925
78
c) Der E n t w u r f
1927
78
d) Der E n t w u r f
1930
79
2. Die unterschwellige Reformgegnerschaft gegen Ende der zwanziger Jahre
80
a) Die hochschulinterne Diskussion
80
b) Die R e f o r m k r i t i k
81
E, Wolfs
3. Antiliberale R e f o r m k r i t i k i m politischen Schrifttum
85
a) A . E . G ü n t h e r
87
b) Nicolai
90
4. Die Tagung der deutschen Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung i n F r a n k f u r t a. M . i m September 1932
91
a) Der Verlauf der Tagung
93
b) Das Ergebnis der Tagung
99
I I . Die Fortsetzung und Erweiterung der Auseinandersetzung „liberale" Strafrechtsreform in der Zeit des Umsturzes 1. Die antiliberale Kampfschrift von D a h m „Liberales oder autoritäres Strafrecht?"
und
2. Die Hauptangriffspunkte
um die
Schaff stein
101 103 105
a) Die liberalistische Bestimmung der Strafzwecke
106
b) Der Individualismus i n der Rechtsgüterordnung
108
c) Die Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips zugunsten des Rechtsbrechers 109 3. Einseitigkeiten u n d Widersprüche i n den Angriffen gegen das „liberale" Straf recht 111 a) Das Fehlen eines Nachweises f ü r einen Anstieg der K r i m i nalität 111 b) Die Unterschlagung der Verschärfungstendenzen i n Rechtsprechung und Gesetzgebung 112 c) Widersprüche i n der Argumentation
117
10
Inhaltsverzeichnis
I I I . Die
antiliberalen
Strafrechtsprogramme
118
1. Der Verlauf der antiliberalen Gegenreform
119
2. Die Thematik der antiliberalen Strafrechtsprogramme
122
3. Übereinstimmende Forderungen der antiliberalen Gegenreformer zum Besonderen T e i l 124 4. Die unterschiedlichen Vorstellungen zum Strafbegriff
128
a) Die Neuklassiker
128
b) Α . E. Günther
132
c) Die „jüngeren K r i m i n a l i s t e n "
135
d) Nicolai
147
5. Die politischen Standorte der antiliberalen Richtungen
150
a) Einordnungsversuche von dritter Seite
152
b) Eigener Einordnungsversuch
153
aa) Nicolai
153
bb) Α. E. Günther, die „jüngeren „Konservative Revolution"
Kriminalisten"
und
die
cc) Die Neuklassiker I V . Die Verteidiger
153 158
der Strafrechtsreform
159
1. Das antiliberale Verteidigungskonzept
160
2. Die Annäherung an das autoritäre Strafrecht
162
3. Die Verteidigung liberaler anhänger
Prinzipien durch einige
Reform-
165
5. Kapitel Antiliberales Denken in der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion während des Dritten Reiches I. Die Verlagerung der Diskussion matische Fragen
von kriminalpolitischen
1. Der Verlauf der straf rechtswissenschaftlichen zung nach 1933
auf dog-
Auseinanderset-
167 167 167
2. Die an den Angriffen gegen eine liberale Strafrechtsdogmatik beteiligten Wissenschaftler 169 3. Das neue Wissenschaftsverständnis: Die „politische" Strafrechtswissenschaft 169 4. Die allgemeine Anerkennung des „totalen" Staates als richtungweisendes Prinzip 171
Inhaltsverzeichnis I I . Der materielle Dogmatik
Verbrechensbegriff
1. Die Begründung für brechensbegriffs
als Ausgangspunkt
das Erfordernis
der
neuen
eines materiellen
Ver-
2. Die Verwerfung bisheriger materieller Verbrechensbegriffe a) Überblick begriffe
über
voraufgegangene
materielle
Verbrechens-
172 172 174 174
b) Allgemeine Einwände der Antiliberalen gegen die bisherigen materiellen Verbrechensbegriffe 175 c) Die antiliberale K r i t i k an der Rechtsgutslehre
177
3. Der materielle Verbrechensbegriff der antiliberalen Strafrechtswissenschaft 182 a) Das Verbrechen als Pflichtverletzung
185
b) Das Verbrechen als Verrat
186
c) Das Verbrechen als Ausdruck einer niedrigen Gesinnung
188
d) Die neue Täterlehre
1.89
I I I . Der Kampf
gegen das Analogieverbot
I V . Die Bestrebungen methode
zur Erneuerung
der strafrechtlichen
192 Auslegungs-
196
1. Die entschiedene Gegnerschaft zur teleologischen Methode
196
2. Bedenken gegen die Interessenjurisprudenz i m Strafrecht
199
3. Die F u n k t i o n des Strafgesetzes aus antiliberaler Sicht
202
4. Die ganzheitliche u n d wesenhafte Gesetzesauslegung
203
5. Die Lehre v o m Tätertyp
208
6. Die Einschränkung der Auslegungsfreiheit durch das Führerprinzip 212 V. Die Angriffe gegen die begriffliche und systematische Zergliederung des Verbrechens und die Forderung nach einer wesenhaften und ganzheitlichen Begriffsbildung und Verbrechenssystematik . . . 214 1. Der K a m p f gegen allgemeine abstrakte Begriffe u n d gegen das „Trennungsdenken" 214 2. Die Angriffe gegen die Untergliederung des Tatbestandes a) Die Bekämpfung des naturalistischen Handlungsbegriffs
216 217
b) Die Forderung nach Überwindung der Trennung v o n T a t bestandsmäßigkeit u n d Rechtswidrigkeit 219 c) Die ganzheitliche u n d wesenhafte Betrachtung des Unrechts 221
12
Inhaltsverzeichnis 3. Die Forderung nach Aufhebung der Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit u n d Schuld 222 4. Das antiliberale „Verbrechenssystem"
V I . Die Auswirkungen problemen
226
des neuen strafrechtlichen
Denkens
in
Einzel-
227
1. Die Forderung nach Ersetzung des Territorialitätsprinzips durch das Personalitätsprinzip 227 2. Die Gleichstellung von Versuch u n d Vollendung
228
3. Die Gleichstellung von Täterschaft u n d Teilnahme
229
4. Die Lösung der Problematik unechter Unterlassungsdelikte m i t Hilfe des Pflichtverletzungsgedankens u n d der Tätertyplehre . . . 229 VII.
Der Antiliberalismus Legalitätsprinzips
V I I I . Philosophische schaft
im
Hintergründe
Strafprozeßrecht:
Die
der antiliberalen
Auflösung
des
Strafrechtswissen-
1. Der Einfluß der Phänomenologie
234
236 236
2. Das konkrete Ordnungsdenken i n der damaligen Strafrechtswissenschaft 238 3. Der Einfluß des Neuhegelianismus IX.
239
Die geringe Bedeutung liberaler Argumente auf Seiten der Verteidiger der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik 240
6. Kapitel Schlußbetrachtung I. Grundsätzliche
Aspekte
der antiliberalen
247 Phase
247
1. Die antiliberale Straf rechtswissenschaft als T e i l der straf rechtswissenschaftlichen Gesamtentwicklung 247 2. V o m Positivismus zurück
zum
materiellen
Verbrechensbegriff
und
251
3. Gemeinschaftsdenken und autoritäres Denken — der W i d e r spruch i m Denken der antiliberalen Strafrechtswissenschaft 252 4. Die politische Bedeutung der antiliberalen schaft I I . Die Bedeutung des liberalen Strafrechts schaft der unmittelbaren Nachkriegszeit I I I . Die Bedeutung
des liberalen
Strafrechts
Strafrechtswissen-
in der Straf rechtswissenin der Gegenwart
253 254 259
Inhaltsverzeichnis I V . Überlegungen zu einer sion im Strafrecht
Wiederaufnahme
der
Liberalismusdiskus-
1. Der K e r n eines liberalen Straf rechts
263 264
a) Der Strafbegriff
266
b) Das Verbrechenssystem
267
c) Die Methode
268
2. Ansatzpunkte f ü r liberale u n d antiliberale Tendenzen a) Die (kriminal-)politische Zurückhaltung
269 269
b) Der formale Gleichheits- u n d Freiheitsbegriff
270
c) Das starre System, die abstrakte Begriffsbildung
272
d) Das begrenzte Betätigungsfeld des liberalen Strafrechts
273
Literaturverzeichnis
277
Abkürzungen AkDR ArchRSozPh ArchRWPh
Akademie f ü r Deutsches Recht Archiv für Rechts- u n d Sozialphilosophie Archiv für Rechts- u n d Wirtschaftsphilosophie
DJ DJZ DR DRiZ DRWis DStR
Deutsche Justiz Deutsche Juristenzeitung Deutsches Recht Deutsche Richterzeitung Deutsche Rechtswissenschaft Deutsches Strafrecht
GA GS
Goltdammers Archiv Der Gerichtssaal
IKV
Internationale Kriminalistische Vereinigung
Jb. der Gef.ges. für Sachsen u n d A n h a l t JR JW
Jahrbuch der Gefängnisgesellschaft Anhalt Juristische Rundschau Juristische Wochenschrift
KrimMon
Kriminalistische Monatshefte
MSchrKrimBio
Monatsschrift für Kriminalbiologie u n d Strafrechtsreform Monatsschrift f ü r Kriminalpsychologie u n d Strafrechtsreform
MSchrKrimPsych
für
Sachsen und
RuS RG
Recht u n d Staat Reichsgericht bzw. Reichsgerichtsentscheidung i n Strafsachen
SchwZStR SJZ StrRG
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Süddeutsche Juristenzeitung Strafrechtsreformgesetz
VO
Verordnung
WRV
Weimarer Reichsverfassung
ZAkDR ZfKulturph ZRPh ZRP ZStaatW ZStW
Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift Zeitschrift
der für für für für für
Akademie für Deutsches Recht deutsche Kulturphilosophie Rechtsphilosophie i n Lehre u n d Praxis Rechtspolitik die gesamte Staatswissenschaft die gesamte Strafrechtswissenschaft
Einleitung Gegenstand dieser Untersuchung ist die Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts. Beabsichtigt ist, die Geschichte der Strafrechtswissenschaft über den Streit der beiden Strafrechtsschulen hinaus fortzuschreiben. Dieses Gebiet ist bisher vernachlässigt worden; die Lücke kann erst allmählich geschlossen werden. Die folgende Darstellung beschränkt sich daher auf einen bestimmten Aspekt der damaligen Strafrechtswissenschaft, auf deren Kampf gegen ein liberales Strafrecht. Die Untersuchung ist zugleich gedacht als ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte unter dem Einfluß des Nationalsozialismus. Sie geht von der These aus, daß die nationalsozialistische Machteroberung i m Bereich der Strafrechtswissenschaft keinen Umbruch herbeiführte, sondern lediglich Entwicklungstendenzen stark forcierte, die i n der voraufgegangenen Periode schon angelegt waren. Als ein Bindeglied zwischen der vornationalsozialistischen und der nationalsozialistischen Strafrechtswissenschaft ist der Antiliberalismus anzusehen. Geplant ist, vor allem die Argumente gegen ein liberales Strafrecht und die Argumentationsweise darzulegen. Weniger Gewicht ist auf eine Untergliederung nach den beteiligten Personen gelegt. Zur Grundlage der Sachdarstellung wurden i n besonderem Maße die Arbeiten von zwei Strafrechtswissenschaftlern gemacht, von Dahm und Schaffstein. Sie bildeten schon vor dem politischen Umsturz des Jahres 1933 die treibende K r a f t i m Kampf gegen den Liberalismus. Danach konnten sie ihren Einfluß noch durch Mitarbeit i n der amtlichen Strafrechtskommission verstärken. I n ihrer gemeinsamen Tätigkeit an der Universität K i e l von 1935 bis 19391 gaben sie dem Kampf gegen ein liberales Straf recht wichtige Impulse. Den weitaus größten Raum i n der gesamten Untersuchung nehmen die antiliberalen strafrechtswissenschaftlichen Anschauungen ein, die von einer politisch rechtsgerichteten Haltung geprägt waren. Diese Seite bekämpfte das liberale Strafrecht am lautstärksten und versetzte i h m den entscheidenden Stoß. Darüber hinaus w i r d aber auch der Ver1 Dahm wechselte 1939 nach Leipzig; Schaff stein ging 1941 von K i e l nach Straßburg. Dort traf er wieder m i t Dahm zusammen, der ebenfalls 1941 i n Straßburg tätig wurde. 2 Marxen
18
Einleitung
such unternommen, Parallelitäten und Affinitäten auf der Seite der politischen Gegner herauszuarbeiten. Da der angesprochene Zeitraum bisher noch keine umfassende und gründliche historische Untersuchung i m Hinblick auf die Strafrechtswissenschaft erfahren hat, ist die folgende Darstellung vorwiegend als Vorarbeit gedacht, d. h. als Materialsammlung, -Sichtung und -Ordnung.
Die
Aufgabe
einer
historischen
Analyse
in
Form
einer
Einordnung i n größere Zusammenhänge konnte nur i n Ansätzen bewältigt werden. Dazu ist der Versuch zu rechnen, die antiliberale Strafrechtswissenschaft als Ergebnis und als Teil der irrationalen Zeitströmung verständlich zu machen 2 . Die Abhängigkeit eines liberalen und ebenso eines antiliberalen Strafrechts von bestimmten Staatsvorstellungen gab zudem Anlaß zu einer gesonderten Betrachtung der staatstheoretischen Zusammenhänge 3 . Die Arbeit orientiert sich entsprechend ihrer Zielsetzung am originären Schrifttum des Untersuchungszeitraums. Nicht aus Geringschätzung, sondern u m der methodischen Klarheit w i l l e n wurde Sekundärliteratur nur i n beschränktem Maße herangezogen 4 , und zwar i m wesentlichen dort, wo sie zur Rekonstruktion früherer strafrechtswissenschaftlicher Auffassungen notwendig erschien 5 . Da die Untersuchung i n erster Linie das Ziel einer Stoffsammlung und -aufbereitung verfolgt, wurde darauf verzichtet, von einem eigenen Standpunkt aus zu bestimmen, was ein liberales und was ein antiliberales Strafrecht ist. Ein einführendes Kapitel enthält, was die antiliberale Strafrechtswissenschaft als typisch liberales Strafrecht betrachtete, nämlich die Anschauungen der Strafrechtswissenschaft am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dieses liberale Strafrecht w i r d aus der Sicht des strafrechtlichen Antiliberalismus referiert. Bei dieser A r t des Vorgehens ist mit dem Einwand zu rechnen, daß ein historischer Standpunkt eingenommen werde, der ziel- und nutzlos 2 2. Kapitel. 3 3. Kapitel. 4 Wer sich m i t dem untersuchten Zeitraum beschäftigt hat, w i r d vielleicht einige neuere Analysen aus politischer u n d soziologischer Sicht gerade bei der Behandlung staatstheoretischer Fragen vermissen. A u f dieses Schrifttum wurde verzichtet, u m die Gedankenführung i n festen Bahnen zu halten. Untersucht werden lediglich die staatstheoretischen Anschaungen der damaligen antiliberalen Strafrechtswissenschaft. — Damit hat sich neuerings Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 216 ff. befaßt, allerdings i n sehr knapper Form, ohne die Breite der Quellenliteratur v o l l auszuschöpfen. 5 I m 5. K a p i t e l wurde dieser Rahmen ein wenig ausgedehnt. I m Gegensatz zu der i m allgemeinen wenig ergiebigen Sekundärliteratur haben sich einige neueren Arbeiten m i t dem dort abgehandelten Themenkreis intensiv befaßt, so vor allem die Arbeiten von Sina , Amelung u n d Hassemer zum Rechtsgutsbegriff.
Einleitung
19
sei. Die Thematik ermöglicht, dem Einwand zu begegnen, ohne i n aller Breite auf Probleme historischer Darstellung und Wertung einzugehen. Die antiliberale Strafrechtswissenschaft hat die nationalsozialistische Strafrechtspraxis vorbereitet und begleitet. Die Beschäftigung m i t dem historischen Prozeß des strafrechtlichen Antiliberalismus läßt daher ganz bestimmte Erwartungen hinsichtlich der Entwicklung des Strafrechts nach dem Abschluß der antiliberalen Phase entstehen, die jedenfalls nach außen mit dem Zusammenbruch des Dritten Reichs beendet wurde. Objekt dieser Erwartungen, die mit dem Stichwort zusammengefaßt werden können: Völlige Abkehr von antiliberalen nationalsozialistischen Strafrechtslehren, ist nicht nur die Strafrechtswissenschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit; denn sie hat die A n sätze für die Strafrechtswissenschaft der Gegenwart geliefert. Ein Bruch i n der Entwicklung läßt sich nicht feststellen. Die Frage, ob auf die Zeit des strafrechtlichen Antiliberalismus angemessen reagiert wurde, muß auch heute noch beantwortet werden. Eine genaue Kenntnis des historischen strafrechtlichen Antiliberalismus ist dafür unerläßlich. Dazu beizutragen, ist das hauptsächliche Anliegen dieser Untersuchung. Die Schwierigkeiten einer Verwertung der historischen Erfahrung i n der Gegenwart und mögliche Ansätze dafür werden i m abschließenden Kapitel angesprochen.
2*
1.
Kapitel
Der Liberalismus in der Strafrechtswissenschaft des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts aus der Sicht der Vertreter eines Antiliberalismus Die Gegner des liberalen Strafrechts verstanden sich primär als Gegner des liberalen Staates. Immer wieder betonten sie, daß das Straf recht nur eine Funktion der jeweils herrschenden Staatstheorie darstelle 1 . Soweit strafrechtliche Lehrmeinungen, Methoden, Begriffe auf das liberale Staatsbild zurückgeführt werden konnten, ordnete man sie dem liberalen Strafrecht zu. Ihre Ablehnungsbedürftigkeit folgte aus der Verwerfung der liberalen Staatsauffassung. Da bei dieser A r t des Vorgehens die liberale Staatstheorie stets den Ausgangspunkt bildete, schickten die Vertreter der antiliberalen Richtung ihrer Darstellung der verflossenen Epoche der Strafrechtswissenschaft häufig eine Erörterung des liberalen Staatsverständnisses voraus 2 . Auf Grund der Thematik ist ohne weiteres verständlich, daß Untersuchungen der Staatsrechtswissenschaft, i n der zur selben Zeit ebenfalls starke antiliberale Strömungen auftraten, als Grundlage dienten oder daß zumindest darauf Bezug genommen wurde 3 . Die Vertreter eines antiliberalen Strafrechts i n den zwanziger und dreißiger Jahren waren sich i n der Beurteilung der vergangenen strafrechtswissenschaftlichen Epoche i m wesentlichen einig. Daher werden sie i m folgenden auch noch ohne weitere Unterscheidung herangezogen. Die anschließenden Kapitel werden Auskunft über die Besonderheiten einzelner Personen und Richtungen innerhalb der antiliberalen Strafrechtswissenschaft geben 4 . ι Vgl. Dahm/ S chaff stein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 7; Henkel, Straf rieh ter u n d Gesetz, S. 38, 46 u n d 50; Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 6; Fr eisler, i n : Nat. soz. Strafrecht, S. 6; Siegert, Grundzüge, S. 2. 2 Vgl. z.B. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 11 ff. u n d 24 ff.; Rauch, Die klass. Strafrechtslehre, S. 25 f. 3 Der Zielsetzung der Untersuchung entsprechend wurde die i m folgenden zitierte staatsrechtliche L i t e r a t u r nicht selbständig herangezogen, sondern nur, soweit sie Eingang i n das strafrechswissenschaftliche Schrifttum gefungen hat. 4 Vgl. insbesondere 4. Kap. I I I .
I. Die liberale Staatstheorie
21
I. Die liberale Staatstheorie in der Darstellung der antiliberalen Strafrechtswissenschaft 1. Das Individuum im Mittelpunkt
Wesentliches trat nach antiliberaler Auffassung bereits i m Denkansatz hervor, dem das Phänomen „Staat" von der liberalen Staatstheorie unterworfen wurde, i n der Frage nach dem Sinn und Zweck des Staates und seiner Einrichtungen 5 : Weder verstehe sich die Existenz des Staates danach von selbst, noch bleibe er menschlicher K r i t i k entzogen, w e i l seine Macht überirdischen Ursprungs sei; der Mensch beanspruche ob seiner geistigen Kräfte und Fähigkeiten die letzte Entscheidung über die Daseinsberechtigung des Staates für sich. Dieses der Einzelperson eigene Selbstbewußtsein bilde die Grundlage für die liberale Auffassung, daß der Staat seine Existenz dem „freiwilligen Zusammenschluß" 6 der Menschen verdanke und daß der einzelne „Ausgangs- und Zielpunkt" 7 sei. „Die humanistische Tendenz des Liberalismus" 8 , „der Glaube an den guten Menschen" 9 , „die Verlegung aller bewegenden Kraft, aller schöpferischen Impulse i n den isolierten Menschen" 10 machten aus antiliberaler Sicht den individualistischen Kern des Liberalismus aus 11 . Der Staat solle allein dem Wohl des einzelnen dienen, indem er dem vernünftigen und zweckmäßig handelnden Menschen, der seine Interessen selbst am besten zu wahren wisse, ein möglichst weites Feld zu freier Betätigung belasse. Uber Gebühr egoistische Ziele zu verfolgen, werde dieser i m „wohlverstandenen Eigeninteresse" unterlassen, „ w e i l jeder einzelne auf die Rücksichtnahme und das Wohlwollen der übrigen angewiesen ist" 1 2 . Die Funktion des Staates bestehe i n diesem System somit nur i n der Absicherung der erforderlichen Grenzen; i h m obliege es, dafür zu sorgen, „daß sich die Persönlichkeit frei entfalten kann, lediglich beschränkt durch die Rücksichtnahme auf die gleiche Freiheit des Mitmenschen" 13 . 5 Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 23 ff.; vgl. näher zu Welzels damaliger antiliberaler H a l t u n g 1. Kap. I I I . 2. A n m . 135. 6 Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 9. 7 Freisler, D J 1935, S. 1248. 8 Finke, S. 7. 9 Forsthoff, Der totale Staat, S. 21. 10 Ebd., S. 10 f. 11 Vgl. Finke, S. 13; Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 10. 12 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 15; vgl. auch Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 57. 13 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 13; vgl. auch Freisler, D J 1935, S. 1249.
22
1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
Zur tieferen Begründung verweise der Liberalismus auf ursprüngliche Freiheitsrechte, die nicht auf staatlicher Verleihung beruhten und unabhängig von staatlicher Anerkennung bestünden 14 . Ihre schrankenlose Ausübung würde jedoch ein vernünftiges menschliches Miteinander verhindern und sie letzten Endes selbst zunichte machen. Die Menschen opfern daher einen Teil ihrer natürlichen Freiheit, indem sie sich zum Staat zusammenschließen, der „ i m Dienste der Wahrung größtmöglicher, m i t dem gesellschaftlichen Zusammenleben verträglicher Freiheit steht" 1 5 . 2. Die liberale Gesellschaftstheorie
Fremd steht die liberale Staatsauffassung nach Ansicht der antiliberalen Rechtswissenschaft dem Gemeinschaftsgedanken gegenüber 16 . Der weite Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen werde dem Gebiet des Gesellschaftlichen zugeordnet, das als eine „ i n sich ruhende, durch eigene spontane Gesetze i n geordnete Bewegung gehaltene soziale Realität" 1 7 betrachtet werde, i n der die gegensätzlichen individuellen Interessen zur Austragung gelangen. Die selbsttätige regulierende Funktion der Gesellschaft bestehe darin, „daß sich der Widerstreit der Interessen i n einem harmonischen Ausgleich auflöst" 1 8 , der letztlich wieder dem Individuum zugute kommt. Gegenüber dem autonomen Gesellschaftsbereich habe der Staat zurückzutreten und sich darauf zu beschränken, „die Gesellschaft i n der Gesetzmäßigkeit ihrer Fortentwicklung zu erhalten" 1 9 , indem er Verletzungen der natürlichen Gesetze durch „nichtangepaßte, die Grenzen gleicher Freiheit überschreitende Individuen" 2 0 entgegentritt 2 1 . 3. Die Beschränkung des Staates auf eine Ordnungs- und Sicherungsfunktion
I n diesem System, so sahen es die Vertreter des Antiliberalismus, w i r d der Staat auf eine Garantiefunktion für die persönlichen Freiheits14 Vgl. Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 10; vgl. auch Dannenberg, L i b . u n d Straf recht i m 19. Jahrh., S. 7. Dannenberg k a n n allerdings nicht der antiliberalen Strafrechtswissenschaft der zwanziger u n d dreißiger Jahre zugerechnet werden, w i e sie von Dahm u n d Schaffstein repräsentiert wurde. Anders als diese sah er nicht i m Positivismus, sondern i m Naturrecht die rechtliche Erscheiungsform des Liberalismus. is Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 47. 16 Vgl. Forsthoff, Der totale Staat, S. 10; H. Lange, RuS H. 102, S. 2. 17 Forsthoff, Der totale Staat, S. 21. is Ebd., S. 21. 19 Ebd., S. 22. 20 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 21. 21 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 50.
I. Die liberale Staatstheorie
23
rechte und die Betätigungsfreiheit des Individuums i m gesellschaftlichen Raum sowie auf eine Ordnungs- und Sicherungsfunktion für die gesellschaftlichen Abläufe verwiesen 22 . Seine Leistung bestehe i n der „Versicherung auf größtmögliche Ungestörtheit i n der privaten Existenz" 2 3 . Eine zutreffende Kennzeichnung enthalte die Lasallesche Wortschöpfung „NachtwächterStaat" 24 . Die staatliche Machtausübung unterliege einer immanenten Beschränkung: „Wo der Staat diese nur durch die Rücksichtnahme auf die Mitmenschen begrenzte Freiheit weiter einschränken w i l l , überschreitet er seine Machtbefugnisse und begeht selbst Unrecht 2 5 ." Die liberale Furcht vor Ubergriffen des „Leviathans Staat" 2 6 sei der Grund dafür, daß die Schranken der Staatsgewalt durch Institutionen abgesichert würden: Das Gewaltenteilungsprinzip sorge für eine Aufsplitterung und eine gegenseitige Hemmung und Überwachung der Teilbereiche 27 ; die Übernahme des parlamentarisch-demokratischen Systems, die „Herrschaft aller einzelnen m i t dem Hilfsmittel der Repräsentation" 28 ermögliche eine völlige Überwachung der Staatsgewalt durch den Staatsbürger. „Denn wie kann der einzelne sich des Staates besser erwehren, als indem er sich des Staates bemächtigt 29 ?" Indem sich der demokratische Gedanke Eingang i n das liberale Staatsbild verschafft habe, habe das Postulat der Gleichheit aller Bürger, mit dessen Hilfe als Regulativ bereits die Grenze der individuellen Freiheit bestimmt worden sei, noch größere Bedeutung gewonnen. 4. Die Aufgabe der Rechtsordnung
Nach antiliberaler Auffassung dient i m liberalen Staat vor allem die Rechtsordnung dazu, diesen Prinzipien i m politischen Leben zur Wirksamkeit zu verhelfen. Sie fuße auf der Ermächtigungsgrundlage des „Grundvertrages, des freiwilligen Zusammenschlusses der Indivi22 Vgl. Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 167; ZStaatW 95, S. 299; Freisler, D J 1935, S. 1248; C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 52. 23 Forsthoff, Der totale Staat, S. 11; vgl. auch Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 50. 24 Vgl. H. Lange, RuS H. 102, S. 2; Siegert, Grundzüge, S. 4. 25 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 13; vgl. auch Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 9 u n d 14. 26 Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 14; Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 11. 27 Vgl. Dahm, Deutsches Recht (1944), S. 181; Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Starfrecht?, S. 9; Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 10 u. 15; Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 17 f.; ders., Die Unabhängigkeit, S. 10. 28 Freisler, D J 1935, S. 1248. 29 Dahm, Deutsches Recht (1944), S. 183.
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1. Kap. : Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
duen zum Staat durch Begebung eines Teils ihrer Freiheitsrechte" 30 . Sie habe die doppelte Funktion zu erfüllen, „die individuelle Freiheit zu garantieren und die Grenzen der Tätigkeit des Staates derart festzusetzen, daß jeder einzelne nur so weit staatlichem Zwang sich zu unterwerfen hat, wie er geeignet und notwendig war, die Freiheit zu gewährleisten" 31 . Alles staatliche Leben steht somit i m Zeichen der Gesetzmäßigkeit; „ i m liberalen Gesetzgebungsstaat 32 . . . erhält jede Staatstätigkeit ihre Legitimität i n der Legalität" 3 3 . Die sich darin äußernde „Selbständigkeit des Rechts gegenüber dem Staat" 3 4 habe die Einreihung des Staates als juristische Person unter die Rechtssubjekte und damit seine Unterwerfung unter die Betrachtungsweise des bürgerlichen Rechts zur Folge 35 . U m die i n sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen, müsse die Rechtsordnung präzise Gesetzesformulierungen aufweisen, die die Grenzen der individuellen Betätigungsfreiheit klar erkennen lassen. I m Vordergrund stehe das Bedürfnis nach Rechtssicherheit, das nach der „äußerlichen Berechenbarkeit der Folgen eigenen Handelns" verlange 3 6 ; die dieser Forderung entsprechenden Rechtsregeln brauchten eine „innere Gerechtigkeit" nicht zu enthalten 3 7 . Die Führungsrolle übernehme so der Positivismus, der den „Dualismus von Recht und Sitte" i n sich berge 38 . 5. Weltanschauliche Grundzüge der liberalen Staatstheorie
Der liberalen Staatsauffassung, wie sie von den Gegnern des liberalen Strafrechts dargestellt wurde, haften i n unlösbarer Verbindung die Züge einer komplexen, weitgespannten weltanschaulichen Grundhaltung an 3 9 , deren Gehalt von den Verfechtern eines antiliberalen Strafrechts 30 Vgl. Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 9 f. 31 Vgl. Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 14. 32 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 40 f., bediente sich hier der von C. Schmitt eingeführten Dreiteilung i n der Staatstypenlehre, die den Gesetzgebungs-, den Justiz- oder Jurisdiktions- u n d den Regierungsstaat unterscheidet; vgl. C. Schmitt, Der H ü t e r der Verfassung, S. 75; ders., Legalität u n d Legitimität, S. 7 ff. 33 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 41. 34 Dannenberg, L i b . u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 51. 35 Vgl. Höhn, Wandlung, S. 13 ff., Hoffmann, Die Analogie i m Strafrecht, S. 16; H. Lange, RuS H. 114, S. 10 f.; Schaffstein, DJZ 1934, Sp. 1174 ff.; C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 52. 36 H. Lange, RuS H. 102, S. 5. 37 Ebd.; ausführlich dazu: Krüger ZStW 54, 595 ff.; vgl. auch Dannenberg, Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 9. 38 Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 15; vgl. auch Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 15 u n d 60; H. Lange, RuS H. 102, S. 6. 39 Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 20.
I I . Kritische Würdigung
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mit folgenden Attributen umrissen wurde 4 0 : Sie sei „individualistisch", w e i l der Mensch i m Mittelpunkt stehe und alles Streben der Sicherung eines möglichst großen Freiheitsraumes für das Individuum gelte, „rationalistisch" und „naturalistisch", w e i l der Mensch nur seinen Verstandeskräften vertraue, nur die Welt des Sichtbaren, Einsehbaren, Überprüfbaren anerkenne. Dem Prinzip größtmöglicher Freiheit des einzelnen liege der „utilaristische" Gedanke zugrunde, daß der „materialistisch" eingestellte, vernünftig denkende und maßvoll handelnde Mensch seine Ziele selbst am besten zu verfolgen wisse und auf diesem Wege zugleich das Wohl der anderen fördere. Der Vorstellung von einem Staat „ohne Gehalte" 4 1 , der lediglich die der individuellen Freiheit dienende Ordnung zu wahren habe, entspreche eine „relativistische" Einstellung. Schließlich komme „positivistisches" Gedankengut i m Vorrang der äußeren Rechtssicherheit zum Vorschein. I I . Kritische Würdigung: Die pauschale Betrachtungsweise der antiliberalen Strafrechtswissenschaft Bemerkenswert an diesem B i l d der liberalen Staatstheorie i n der antiliberalen Strafrechtswissenschaft ist vor allem seine „Ungeschichtlichkeit" 4 2 : Der Liberalismus w i r d als festgefügtes, starres System dargestellt. Die Vernachlässigung der geschichtlichen Entwicklung t r i t t deutlich hervor, wenn als Ausgangspunkt des Liberalismus gleichermaßen absolute Freiheitsrechte und das utilaristische Prinzip genannt werden. V ö l l i g unberücksichtigt bleibt der geschichtliche Entwicklungsprozeß, den das liberale Gedankengut von der anfänglichen naturrechtlichen Begründung liberaler Forderungen bis zur rein utilaristischen Konzeption J. St. Mills durchlaufen hat, der ausdrücklich darauf verzichtete, sein liberales System auf absoluten Freiheitsrechten aufzubauen 43 . Zwar wurden i m antiliberalen strafrechtlichen Schrifttum vereinzelt Versuche unternommen, die geschichtliche Entwicklung des Liberalis40 Insgesamt dazu Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 20 ff. ; Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 18 f., Finke, l i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 12 ff.; zum Zusammenhang zwischen Liberalismus, Rationalismus u n d Individualismus: Larenz, Z f K u l t u r p h 1936, S. 27. 4 1 Forsthoff, Der totale Staat, S. 13. 42 Der Ausdruck stammt von ff. Marcuse, Der K a m p f gegen den Liberalismus, S. 21, der der nationalsozialistischen Weltanschauung des „heroischvölkischen Realismus" diese Ungeschichtlichkeit bei der Bekämpfung des Liberalismus v o r w i r f t . 43 Mill , On Liberty, S. 132.
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1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
mus aufzuzeigen 44 I n der Regel boten sie jedoch nicht mehr als einen groben Uberblick i n der Form einer gerafften Darstellung, die letzten Endes doch wieder den Eindruck entstehen ließ, daß der Liberalismus mehr eine statische Erscheinung sei 45 . Noch schärfere Konturen erhielt dieses Bild, wo von Verbindungen die Rede war, die der Liberalismus i m Laufe der Geschichte mit verschiedenen Weltanschauungen und politischen Richtungen eingegangen sei, wie die m i t dem Nationalgedanken i m Bismarckreich und mit dem Sozialismus i n der Weimarer Republik 4 6 . Das gewandelte Erscheinungsbild des Liberalismus wurde allein den von außen an i h n herangetragenen Strömungen zugerechnet. Ungeprüft blieb, ob es nicht vielmehr einem m i t innerer Notwendigkeit ablaufenden Evolutionsprozeß entsprungen war, der ζ. B. i m wirtschaftlichen Bereich vom krassen Individualismus des Manchestertums, der die individuelle Freiheit nur einer kleinen Schicht wirtschaftlich Mächtiger, aber eine bedrückende Unfreiheit der Mehrheit zum Ergebnis hatte, zum Gedanken der Gemeinschaftsbindung des Eigentums zum Zwecke der Sicherung eines Freiheitsraumes für alle führte, den die Weimarer Reichsverfassung i n Art. 153 verankerte 4 7 . Auch nur vereinzelt wurde angezweifelt, daß die gegen den absoluten Staat gerichtete liberale Freiheitsbewegung für sich allein überhaupt eine positive Staatstheorie darstellt: So verneinte C. Schmitt die Frage, „ob aus einem reinen und folgerichtigen Begriff des individualistischen Liberalismus eine spezifische politische Idee gewonnen werden kann. . . . Denn die Verneinung des Politischen, die i n jedem konsequenten Individualismus enthalten ist, führt wohl zu einer Praxis des Mißtrauens gegen alle, niemals aber zu einer eigenen positiven Theorie von Staat und P o l i t i k " 4 8 . Die wenig differenzierende Betrachtungsweise erklärt sich aus der Methode, der sich die Vertreter des Antiliberalismus i n der Ausein44 Vgl. E. Wolf, RuS H. 103, S. 6 ff.; Siegert, Grundzüge, S. 4; vgl. auch Dannenberg, Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 3 ff., 7 ff., 55 ff. 45 Vgl. Finke, L i b . u n d Straf rechtsverfahren, S. 12; C.Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 56 f. 46 v g l . Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 7 f., 9 f.; Siegert, Grundzüge, S. 4 f. 47 Vgl. über den Wandel zum „sozialen" Liberalismus i n der Wirtschaftstheorie de Ruggiero , Geschichte des Liberalismus, S. 253 ff. 48 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 50; vgl. ferner: Nagler, GS. 103, S. X I f., Anm. 23 („Zersetzungsfunktion des Liberalismus"); Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 14 („Überwindung des Staates" als „ I d e a l des Liberalismus") u n d S. 19. Forsthoff, Der totale Staat, S. 13, nennt den liberalen Staat einen „Scheinstaat . . . (der) n u r als Wunschbild i n den Köpfen einiger Gelehrter entstand".
I I . Kritische Würdigung
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andersetzung m i t dem liberalen Straf recht bedienten: Aus der „historischen Analyse" gewannen sie die nach ihrer Ansicht typischen Züge eines vom liberalen Staatsgedanken durchdrungenen Strafrechts, die sie als Negativum ihren vom völlig entgegensetzten B i l d eines „autoritären" oder „totalen" Staates geprägten Auffassungen gegenüberstellten. Den beabsichtigten Zweck, das Positivum der eigenen Vorstellung u m so strahlender leuchten zu lassen, erfüllte eine geraffte, oberflächliche Darstellung weitaus besser als eine i n die Einzelheiten gehende, die Grauabstufungen nachzeichnende. Auch auf die antiliberale Strafrechtswissenschaft t r i f f t die von H. Lange i n der Einleitung zu seiner 1933 erschienenen Schrift „Liberalismus, Bürgerliches Recht und Nationalsozialismus" i n aller Offenheit vorgetragenen Äußerung zu: „Auch hier ist das Überlieferte mitunter schwärzer gezeichnet, als es bei kühler Abwägung verdient; nur auf diesem Unter gründe konnte das Neue klar und scharf herausgearbeitet werden 4 9 ." Ein tieferer Grund für die „Ungeschichtlichkeit", die i n den antiliberalen Darstellungen des Liberalismus vorherrschte, lag i n der revolutionären Gesinnung und i n der Freund-Feind-Ideologie des jungen Konservatismus, der, wie später zu zeigen sein wird, die antiliberale Strafrechtswissenschaft maßgeblich beeinflußt hat. Lückenlos fügte sich i n diese Denkschemata die Konstruktion eines statischen Liberalismus ein, der sich selbst überlebt hatte und damit zu einer „dekadent e n " 5 0 Erscheinung geworden war, die unnachsichtig ausgemerzt werden mußte. Die Forderung nach einem gewaltsamen Umsturz und die von C. Schmitt aus seinem Begriff des „Politischen" gewonnene Aufteilung der Welt i n Freund und Feind 5 1 ließen keinen Raum für einen Liberalismus, der sich i n einem ständigen Evolutionsprozeß selbst erneuert und damit gesellschaftlichen Notwendigkeiten Rechnung zu tragen vermag 5 2 . 49 H. Lange, RuS H. 192, S. I V ; sehr deutlich auch Forsthoff, Der totale Staat, S. 8, „Politische Geschichte w i r d erst anschaulich u n d f ü r die politische Gegenwart wichtig, w e n n sie i n zusammenfassender Kennzeichnung u n d i n der Entgegensetzung der w i r k e n d e n K r ä f t e dargeboten w i r d . . . . Diese Schrift steht nicht i m Dienste des historischen Erkennens, sondern der politischen Aktion. Sie bedient sich darum bewußt jenes summarischen, auf die Herausstellung der wesentlichen Kampfpositionen gerichteten Verfahrens; u n d die Frage, ob w i r k l i c h das Feld der W i l l k ü r betreten w i r d , soll hier bewußt unerörtert bleiben." Vgl. auch S. 16 f. so Dannenberg, Lib. u n d Straf recht i m 19. Jahrh., S. 10. si Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. 52 Die wechselvolle Geschichte der liberalen Parteien i n Deutschland beweist, daß ein solcher Liberalismus tatsächlich existierte. M a n vergleiche n u r den Wandel i n den Anschauungen von der P o l i t i k der 1867 gegründeten Nationalliberalen Partei bis zum Gründungsprogramm der Deutschen Demokratischen Partei aus dem Jahre 1918; vgl. Goetz, Die Deutsche Demokratische Partei, S. 88 ff.; Bussmann, Z u r Geschichte des deutschen Liberalismus i m 19. Jahrhundert; Bergsträsser, Geschichte der politischen Parteien i n
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1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
Die Kampfeshaltung der Antiliberalen kam weiterhin i n der reichlichen Verwendung von Begriffen m i t der Endung -ismus, wie Individualismus, Rationalismus, Naturalismus usw., zum Ausdruck. I n seiner Berliner Rektoratsrede 1932 warnte Kohlrausch: „Jene ismen sind ja zur Ordnung der Gedanken unentbehrlich; sie haben aber i n der Aufregung unserer Zeit die Tendenz, das Nachdenken vorzeitig abzuriegeln, selber zu versteinern und dann zu Waffen zu werden i n einem Kampf, der kaum mehr ein Kampf der Geister genannt werden kann 5 3 ." Tatsächlich muß jeder Versuch, eine exakte inhaltliche Klärung der Begriffe vorzunehmen, wie sie von der antiliberalen Richtung gebraucht wurden, an ihrem schlagwortartigen Charakter scheitern. Es machte sich hier der Einfluß der breiten antiliberalen Strömungen i m politischen Leben der Weimarer Zeit bemerkbar: Die häufige Verwendung dieser antiliberalen Vokabeln i n der täglichen politischen Auseinandersetzung nahm ihnen die begriffliche Klarheit und ließ den Bedeutungsgehalt verschwimmen. Daß die antiliberale Einstellung allmählich die Oberhand gewann und damit das Erfordernis einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem Liberalismus immer geringer wurde, verstärkte die Neigung, die Begriffe schlagwortmäßig, d. h. ohne eindeutige Definition und eingehende Begründung, zu verwenden. I m übrigen konnten gerade von den Vertretern des Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft keine Bemühungen um begriffliche Schärfe erwartet werden; denn sie warfen dem strafrechtlichen Liberalismus ein „zergliederndes" und „zersetzendes" abstraktes begriffliches Denken vor, das „den Keim der Zerstörung i n sich trägt" 5 4 . Als ein vorläufiges Ergebnis, das es in der weiteren Untersuchung zu erhärten gilt, kann festgehalten werden: Die antiliberalen Vokabeln waren i n ihrer Unbestimmtheit durch politische Einflüsse geprägt; sie waren ihrem Inhalt nach nahezu austauschbar; die Verwendung nur eines dieser Begriffe Schloß die Ablehnung aller Züge des Liberalismus zumeist mit ein. ΙΠ. Liberales Gedankengut in den Lehren der beiden Straf rechtsschulen aus der Sicht der antiliberalen Strafrechtswissenschaft Ihre Schablone des liberalen Staatsverständnisses legten die Vertreter der antiliberalen Richtung an das Strafrecht des ausgehenden Deutschland, S. 122 ff., 140 ff., 195 ff.; Grebing, Geschichte der deutschen Parteien, S. 22 ff.; vgl. auch zur D y n a m i k des Liberalismus Flach, Noch eine Chance f ü r die Liberalen, S. 15. 53 Kohlrausch, Die geistesgeschichtliche Krise, S. 9. 54 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 63; vgl. 5. Kap. V.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen
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19. und beginnenden 20. Jahrhunderts an, um die darin vorhandenen liberalen Einflüsse aufzudecken. I n den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellten sie die Lehrmeinungen der beiden Strafrechtsschulen, die diesen Zeitraum beherrschten. I n welchem Umfang sie liberales Gedankengut i n den beiden Strafrechtsschulen feststellten, soll i m folgenden Abschnitt wiedergegeben werden. I m Bemühen um eine zutreffende Würdigung sollte dabei stets das besondere Interesse der antiliberalen K r i t i k an der jüngeren Strafrechtsgeschichte i m Auge behalten werden: Gegen Ende der zwanziger Jahre, so berichtet E. Schmidt 55 , breitete sich unter dem straf rechtswissenschaftlichen Nachwuchs an den juristischen Fakultäten die Meinung aus, „daß die Strafrechtsreform ,individualistisch', jliberalistisch' und Rationalistisch' sei, m i t ihrem geistig-politischen Gehalt i n die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts gehöre und der Förderung durch wissenschaftliche Arbeit nicht mehr wert sei'\ Das läßt vermuten, daß die rechtshistorischen Betrachtungen der antiliberalen Richtung, zumindest soweit sie die jüngere Geschichte der Strafrechtswissenschaft betrafen 56 , am Unmut über die Strafrechtsreform teilhatten und i m Zeichen gegenwartsbezogener Auseinandersetzungen standen 57 . 1. Die klassische Schule
Die Lehren der klassischen Schule waren, wie die i m folgenden zusammengefaßt wiedergegebenen Äußerungen der Gegner des Liberalismus zeigen 58 , nach ihrer Ansicht nahezu vollständig von liberalen A n schauungen durchwirkt 5 9 . a) Der Straf
begriff
Nach antiliberaler Auffassung war es m i t einer liberalen Grundhaltung durchaus vereinbar, daß die klassische Schule die Vergeltung als 55 E. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 412. 56 Daß auch die Arbeit i m Bereich der älteren Rechtsgeschichte nicht immer sine ira et studio betrieben wurde, läßt die Aufforderung Schaff steins an den Rechtshistoriker vermuten, sorgfältig die Spuren des römischen Rechts zu verfolgen, damit es als „undeutsch ausgemerzt" werden könne (Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 16). 57 Vgl. Schaff stein, Pol. Straf rechtswissenschaft, S. 17, der eine „ a m Politischen orientierte Strafrechtsgeschichte" fordert; s. auch ders., Z A k D R 1935, S. 106. 58 Die Darstellung lehnt sich eng an die Arbeit von Rauch an, „Die klassische Strafrechtslehre i n ihrer politischen Bedeutung", die, 1936 erschienen, die antiliberalen Stellungnahmen zu diesem Thema zusammenfaßte. 59 Nach Krüger, Z S t W 55, 112 hat die klassische Schule den liberalen Rechtsstaatsgedanken lücken- u n d konzessionslos verwirklicht.
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1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
Grund der Strafe betrachtete. Zwar sei der Geltungsanspruch dieses Gedankens absolut, zwar gründe er sich auf eine sittliche Forderung und betone die Autorität des Staates 60 ; gleichzeitig befriedige aber die Vergeltungsstrafe das Genugtuungsbedürfnis des durch das Verbrechen Verletzten. Sie knüpfe also an den individualistischen Gedanken an, daß das Recht den Schutz des einzelnen zu gewährleisten habe* 1 . Dem Einwand, daß jedes Strafrecht den einzelnen um des Ganzen w i l l e n schützen müsse, stehe entgegen, daß hier i n der klassischen Lehre der Schutz des einzelnen „ u m seiner selbst willen" zum Ausdruck komme: „Anders kann die Berücksichtigung des Genugtuungsbedürfnisses des Verletzten i n der Frage des Strafgrundes gar nicht verstanden werden 6 2 ." Als A n t w o r t auf die zweckorientierte Straftheorie 63 der modernen Schule verwandte die klassische Schule den Vergeltungsgedanken ausdrücklich auch zur Bestimmung des Straf zwecks 64 . Die Vergeltung verlange den Ausgleich des dem Täter zugerechneten Übels, u m die „ideellen und materiellen Güter der Gesamtheit" zu erhalten 65 . Als dem liberalen Staatsbild entsprechend erweist sich nach antiliberaler A u f fassung das Verständnis der klassischen Schule vom Inhalt des Begriffs „ Ü b e l " 6 6 : Es bestehe i m Überschreiten der durch das Recht klar und eindeutig gezogenen Grenzen zwischen den Freiheitsräumen der so Nach Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 26 f., befindet sich selbst dieses autoritäre Element der klassischen Schule i n „Gedankennähe zur A u f k l ä r u n g " : Der Strafanspruch beziehe nach klassischer Lehre seine Autorität v o m Gesetz. Wenn jedoch die Gesetzesbewährung oberstes Rechtsprinzip sei, so liege darin auch eine Garantie der v o m Gesetz umgrenzten bürgerlichen Freiheitsraumes beschlossen. ei So Rauch, Die klass. Strafrechtslehre, S. 23; vgl. auch Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 8; Schaff stein, Z A k D R 1935, S. 108. 62 Rauch, S. 23. Die antiliberale K r i t i k stützte sich u. a. auf Oetker, ZStW 17, S. 532; Birkmeyer, ZStW 16, S. 97; Köhler, Deutsches Strafrecht, A T , S. 31. Sie erwähnte nicht, daß diese Autoren das Genugtuungsbedürfnis des V e r letzten n u r als neben- oder untergeordneten Gesichtspunkt anführten. Daneben stellten sie auf die „Gesamtheit der Rechtsschutzgenossen" (Oetker, S. 533), auf das „ethische Bedürfnis" der Bevölkerung (Birkmeyer, S. 97) u n d auf das „Bedürfnis der staatlich organisierten Gesellschaft nach Einschränkung der Selbsthilfe" (Köhler, S. 32) ab. 63 i n Anlehnung an E. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 161 w i r d dem Begriff „Straftheorie" der Vorzug vor dem häufiger verwandten Ausdruck „Strafrechtstheorie" gegeben, der einen umfassenderen, aber nicht immer beabsichtigten Geltungsanspruch beinhaltet u n d daher mißverständlich ist; vgl. Naucke, Kieler rechtsw. Abh. Heft 3, S. 3 A n m . 9 m i t Hinweis auf die V e r wendung des Begriffs „Straftheorie" schon durch Binding, Grundriß A T , 7. Aufl., S. 203; wie hier auch Henrici, Die Begründung des Strafrechts, S. 39 u n d neuerdings Calliess, Theorie der Strafe, S. 27 ff. 64 Vgl. Birkmeyer, ZStW 16, S. 97; R. Schmidt, Die Aufgaben der Strafrechtspflege, S. 51 ff., 131 ff. 65 Oetker, ZStW 17, S. 329; vgl. auch R. Schmidt, Die Aufgaben der Strafrechtspflege, S. 131 ff. 66 Vgl. Rauch, Die klass. Strafrechtslehre, S. 25.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen
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Individuen sowie derjenigen zwischen den Wirkungsbereichen des einzelnen und des Staates. Diese „Grenzwertbetontheit" 6 7 habe zur Folge, daß bei der Feststellung des Übels der äußere Taterfolg als maßgebend zugrunde gelegt werde, da er allein einen sicheren und überprüfbaren Anhaltspunkt biete. Die subjektive Gedanken- und Willenssphäre werde dem nach liberaler Uberzeugung nicht anzutastenden persönlichen Bereich zugerechnet, der grundsätzlich einer Bewertung entzogen sei. Lediglich i m Rahmen der Schuld finde der verbrecherische Wille zur Regulierung der Erfolgshaftung Berücksichtigung 68 . Die Orientierung am äußeren Erfolg war nach Ansicht der antiliberalen Strafrechtswissenschaftler m i t dem Ziel verbunden, klare und verläßliche Richtlinien zur Ermittlung der Tat und der Strafe zu gewinnen. A u f diesem Wege habe die klassische Schule einer zu weitgehenden staatlichen Machtentfaltung entgegenzuwirken versucht 69 . Die Angriffe der modernen Schule, die dem absoluten und abstrakten Charakter der Vergeltungsstrafe eine soziologisch fundierte Straftheorie gegenüberstellte, veranlaßten die klassische Lehre, vom metaphysischen Überbau der Vergeltungsstrafe abzurücken und dem Gegner mit gleichen Waffen entgegenzutreten 70 : Da die Vergeltungsstrafe einer nachweisbaren inneren Erwartung der Menschen entspreche, befinde sie sich allein mit der empirisch überprüfbaren Wirklichkeit i n voller Ubereinstimmung. Die Gegner eines liberalen Strafrechts sahen i n der Ausschaltung jeglicher Metaphysik und der Hinwendung zum „soziologischen Positivismus" Auswirkungen der liberalen Weltanschauung 7 1 . Auf derselben Linie lag nach ihrer Auffassung die von der klassischen Schule vorgenommene Verschmelzung der Vergeltungsidee m i t dem Gedanken der Generalprävention: Der Zweckstrafe der modernen Schule hielten die Klassiker entgegen, daß die Vergeltungsstrafe eine zugleich stabilisierende und abschreckende W i r k u n g auf die Rechtsgemeinschaft ausübe, da sie einer allgemeinen Erwartung der Bürger entspreche 72 . Um diesen Zweck nicht zu verfehlen, werde der äußere, 67 Gelbert, DR 1934, S. 56. es Vgl. 1. Kap. I I I . 1. b). es Vgl. Rauch, S. 26 m i t H i n w . auf Nagler, Die Strafe, S. 577 u n d Köhler, Vergeltungsgedanke, S. 32. 70 Vgl. R. Schmidt, Die Aufgaben der Strafrechtspflege, S. 51 ff.; Strafrechtsreform, S. 24, Nagler, Verbrechensprophylaxe, S. 144 f. 71 Rauch, S. 8 und 28 f.; Krüger, ZStW 54, S. 601, spricht von einem „ n a t u ralistischen Empirismus" der klassischen Schule; vgl. auch ders., ZStW 55, S. 101 ff. u n d Welzel, DRWis 1938, S. 118. 72 Vgl. R.Schmidt, Die Aufgaben der Strafrechtspflege, S. 79; Birkmeyer, ZStW 16, S. 97; Oetker, GS 70, S. 335 f.
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1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
von jedermann sinnlich wahrnehmbare und verstandesmäßig überprüfbare Taterfolg zum Bezugspunkt der Strafandrohung genommen, i n der Erwartung, daß sich der nach liberaler Anschauung von seiner Vernunft geleitete Bürger diesem Appel] nicht verschließe. A u f diesem Wege sei auch für eine Gleichbehandlung gesorgt, da jeder für denselben Taterfolg dieselbe Strafe zu gewärtigen habe. Liberales Gedankengut werde darüber hinaus auch dadurch verwirklicht, daß die Orientierung des Gesetzes am äußeren Erfolg dem Staat eine klare, feste Grenze für seine Machtausübung ziehe. Der Gegenseite, dem Bürger, erwachse daraus eine Freiheitsgarantie, die i h m dazu verhelfe, die Folgen seiner Handlungen i m Voraus berechnen zu können 7 3 . I n ihrer weiteren Entwicklung verband die klassische Schule den Vergeltungsgedanken m i t dem Prinzip der „Gerechtigkeit" zur Forderung nach „gerechter Vergeltung" 7 4 . Die antiliberale Strafrechtswissenschaft bewertete diesen Vorgang folgendermaßen: „Das Prinzip der ,Gerechtigkeit', von dem damit das reine Vergeltungsprinzip durchkreuzt wird, ist jedoch i n seinem politischen Gehalt eindeutiger Ausdruck einer liberal-rechtsstaatlichen Haltung. Seine Verknüpfung mit den Prinzipien bürgerlicher Freiheit und Gleichheit macht das ohne weiteres deutlich. Die Gerechtigkeit der Vergeltungsstrafe bestimmt sich damit von der Erwartung des einzelnen her 7 5 ." Während die reine Vergeltungsstrafe i n ihrer Ausrichtung am äußeren Taterfolg zumindest i n der Theorie stets nur zu einer objektiv richtigen Strafe führe, werde durch das Gerechtigkeitsprinzip ein Strafrahmen geschaffen, der der Verfolgung einer m i t der Vergeltungsstrafe verquickten Generalprävention Grenzen nach unten und oben ziehe. „Damit aber verliert die Vergeltungsidee . . . endgültig den Charakter einer dem einzelnen gegenüber erhobenen sittlichen Forderung, sie w i r d i m Gegenteil zu einer dem Staate gegenüber erhobenen Forderung des einzelnen und t r i t t so ausschließlich i n den Dienst der Garantierung individueller Freiheit und Rechtssicherheit 76 ." Den nächsten bedeutsamen Schritt zur Verwirklichung liberaler A n schauungen vollzog die klassische Schule nach antiliberaler Auffassung m i t der Überführung der Vergeltungsstrafe i n eine „Rechts- oder Gesetzesstrafe" 77 . Um die Unwägbarkeiten richterlichen Urteilens bei 73
Vgl. insgesamt dazu Rauch, S. 29 f. 74 Vgl. Birkmeyer, G A 48, S. 75 f.; Köhler, Der Vergeltungsgedanke, S. 73; R. Schmidt, Strafrechtsreform, S. 107. 75 Rauch, S. 30. 76 Ebd., S. 31; vgl. Krüger, ZStW 55, S. 106 f.: Der Gerechtigkeitsgedanke der kl. Schule werde von dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit u n d des Rechtsstaates bestimmt 77 Vgl. das Programm der Deutschen Strafrechtlichen Gesellschaft, D J Z 1925, Sp. 1300; R. Schmidt, D J Z 1925, Sp. 1291 ff.
I I I . Die Lehren der beiden Straf rechtsschulen
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der Bewertung des Taterfolges auszuschalten, fordere sie eine strikte Bindung des Richters an das Gesetz, das den alleinigen Bezugspunkt für die Frage nach der Strafbarkeit und nach der Bemessung der Strafe bilden solle. Der mit der Generalprävention i n das Vergeltungsstrafrecht eingezogene Grundsatz „nulla poena sine lege" solle dafür sorgen, daß die i m Gesetz fixierte Grenze zwischen Staats- und Einzelsphäre bei seiner Anwendung nicht wieder zugunsten des Individuums verschoben werde. Dahinter stehe das „ganze Mißtrauen des Liberalismus gegen den Machtstaat" 78 . Eine weitere Ausdrucksform des Satzes „nulla poena sine lege" erblickten die Gegner eines liberalen Strafrechts i n der Konstruktion eines „Straf rechts Verhältnisses", i n dem der Staat und der einzelne Staatsbürger einander gegenüberstehen 79 . Der „Strafanspruch" des Staates und der Wirkungsbereich des einzelnen würden i n diesem Verhältnis entscheidend vom Gesetz bestimmt. Eine „individualistische H a l t u n g " 8 0 offenbare sich in der Betrachtung des Staates als eine durch klare Grenzziehung gesonderte juristische Person und i n der Vorstellung eines zugunsten der Freiheitssphäre des einzelnen gesetzlich begrenzten subjektiven öffentlichen Rechtes des Staates zu strafen 81 . b) Das
Verbrechenssystem
Auch in der systematischen Erfassung des Verbrechens kam die klassische Schule den Forderungen des Liberalismus nach Auffassung der antiliberalen Strafrechtswissenschaft i n fast allen Punkten nach 82 : Dem Übergang von der Vergeltungs- zur Rechtsstrafe entspreche i m Verbrechensbegriff der klassischen Schule die unbedingte Ausrichtung am Gesetz. Liberales Rechtssicherheitsdenken manifestiere sich vor allem i m Begriff der „Tatbestandsmäßigkeit", der unmittelbar m i t dem Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege" verknüpft sei. Indem die klassische Lehre die Forderung nach absoluter Priorität des gesetz78 Rauch, S. 32; vgl. auch Henkel, Strafrichter und Gesetz, S. 27. 79 Vgl. Binding , Handbuch des Strafrechts, 1. Bd., 2. Buch: „Das subjektive Strafrecht u n d das S traf rechts Verhältnis" (S. 475 ff.); Beling, Grundzüge des Strafrechts, S. 11; Köhler, Deutsches Strafrecht, A T , S. 24 f.; H. Mayer, GS 104, S. 308 f. — Kritisch dazu vor allem Schaffstein, D J Z 1934, Sp. 1174 ff., insbesondere 1177. 80 Rauch, S. 33. 81 Vgl. Höhn, DR 1935, S. 266 f.; Rauch, S. 12 f. u n d 33, Schaff stein, DJZ 1934, Sp. 1176 f. 82 Ihre Zielsetzung (vgl. oben 1. Kap. II.) veranlaßte die Gegner des L i b e ralismus, n u r Grundzüge des formellen klassischen Verbrechensbegriffs zu erörtern. Wichtige Teilbereiche, ζ. B. die Teilnahmelehre oder die Lehre vom Versuch, blieben zumeist unberücksichtigt. 3 Marxen
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liehen Tatbestandes zu einem Glaubenssatz, zum „Allgesetzlichkeitsdogma" 8 3 erhebe, verstelle sie jeder K r i t i k daran den Weg. Die Rechtssicherheit erhalte damit als unantastbares Rechtsprinzip den Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit 84 . Der Lisztsche „Magna-Charta"Gedanke finde i n der Form Eingang i n die klassische Schule, daß das Strafgesetz als „Magna Charta des Nicht Verbrechers" verstanden werde, als allgemeingültige und verbindliche Garantie der bürgerlichen Freiheit 8 5 . Der Tatbestandsbegriff der klassischen Schule lege daher i n Übereinstimmung mit der Zielrichtung der Generalprävention Wert auf „beschreibende Genauigkeit" 8 6 und verlange den Ausschluß wertausfüllungsbedürftiger Begriffe. Dem Richter verbleibe die Aufgabe, streng logisch zu subsumieren 87 . Ein solchermaßen positivistisches Denken war nach antiliberaler A n sicht auch die Ursache für die Aufsplitterung des klassischen Tatbestandsbegriffs i n Handlung, Tatbestand und Rechtswidrigkeit. Dem Tatbestand werde ein „kausalmechanischer" 88 Handlungsbegriff vorgelagert, der nur auf die Frage zugeschnitten sei, ob überhaupt eine willensgetragene menschliche Körperbewegung vorliege. Die Prüfung des Willensinhalts erfolge erst im Rahmen der Schuld. Diese „Entwesung" 8 9 des Handlungsbegriffs sei eine Station auf dem Wege zur Beschränkung der Rechtswidrigkeit auf die fernab subjektiver, sittlicher Erwägungen getroffene Feststellung, daß die Tat einen Eingriff i n die äußere Ordnung staatlich überwachten zwischenmenschlichen Zusammenlebens darstelle 90 . Dieselbe Denkweise offenbarte sich aus antiliberaler Sicht i n der Trennung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit 9 1 : Durch Ausschaltung jeglicher Wertung aus dem Tatbestand werde die Unrechtsbewertung allein dem Rechtswidrigkeitsbegriff überantwortet. Die Trennung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit entspreche der Unterscheidung von Objekt und Wert, von Sein und Sollen. Die Subsumtion unter den Tatbestand bedeute somit „an sich" noch kein rechtliches Unwerturteil. 83 Vgl. Henkel, Strafrichter und Gesetz, S. 19. 84 v g l . Rauch, S. 35; Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 78; Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 20. 85 Vgl. Hoegel, Die Einteilung der Verbrecher, S. 39; R.Schmidt, Grundriß, S. 79; dazu Rauch, S. 38; vgl. auch Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 29. 86 Rauch, S. 38. 87 Vgl. insgesamt dazu Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 27 f. 88 Rauch, S. 40; Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie, S. 65. 89 Berges, DStR 1934, S. 240. 9 Vgl. Ebd., S. 241; Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 91; Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 64 ff. 91 Vgl. dazu Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 62 ff. Dahm berief sich insbesondere auf Belings „Lehre v o m Verbrechen".
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen
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Seine Rechtfertigung beziehe dieses „An-Sich-Denken" 9 2 aus der vom liberalen Rechtssicherheitsgedanken getragenen Forderung, den Tatbestand frei von Wertungen zu halten, und somit letzten Endes aus dem Satz „nulla poena sine lege" 9 3 . Das „Allgesetzlichkeitsdogma" des Liberalismus fanden die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler i m Rechtswidrigkeitsbegriff derjenigen Vertreter der klassischen Lehre wieder, die einer rein fomellen Formulierung gegenüber jeder „materiellen" Rechtswidrigkeitsauffassung den Vorzug gaben 94 : Die Rechtswidrigkeit eines Tuns steht danach fest, wenn es einem gesetzlichen Tatbestand unterfällt und kein positivrechtlicher Rechtfertigungsgrund eingreift. Wer außer- und übergesetzliche Wertungsmaßstäbe anwendet, entzieht dem Recht die feste, verläßliche Grundlage 95 . Soweit der Gedanke der „materiellen" Rechtswidrigkeit von der klassischen Schule aufgenommen wurde, stellten die Vertreter der antiliberalen Strafrechtswissenschaft einen Zusammenhang m i t dem individualistischen Gehalt der Vergeltungsstrafe fest 9 6 : Aus der Begründung der Vergeltungsstrafe m i t der Notwendigkeit, das Genugtuungsbedürfnis des Verletzten zu befriedigen, gehe die Auffassung von der Rechtswidrigkeit als der Gefährdung oder Verletzung eines Rechtsgutes hervor 9 7 . Auch an dieser Stelle werde wiederum die „Grenzwertbetontheit" klassischen Rechtsdenkens 98 deutlich; indem die Rechtsgüter des einzelnen i n den Mittelpunkt der Betrachtung rückten, werde der zu schützende individuelle Interessenbereich der staatlichen Machtsphäre gegenübergestellt 99 . Wenn die klassische Lehre darüber hinaus auch Rechtsgütern des Staates strafrechtlichen Schutz zukommen lassen wolle, so offenbare sie ebenfalls darin „ein Denken liberalen und rationalistischen Ursprungs" 1 0 0 : Hinter der Vorstellung staatlicher Rechtsgüter verberge sich die Konstruktion einer juristischen Staats92 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 78. 93 Vgl. ebd., S. 78 f. 94 Vgl. Beling, Die Lehre v o m Verbrechen, S. 32; Grundzüge des Strafrechts, S. 13 f.; Nagler, Festschrift f ü r Binding 1911, Bd. 2, S. 273 ff.; Festgabe für Frank 1930, Bd. 1, S. 339 ff. Gegen die häufig hervorgebrachte Behauptung, die kl. Schule habe insgesamt einer formellen Rechtswidrigkeit das Wort geredet, wandte sich H.Mayer, DStR 1938, S. 73 f.; er betonte, daß vielmehr der Gedanke des Rechtsgüterschutzes vorgeherrscht habe. 95 Vgl. Rauch, S. 42. 96 Vgl. ebd., S. 43. 97 Vgl. Binding, Handbuch des Strafrechts, 1. Bd., S. 169 f.; Mezger, Strafrecht, S. 198. 98 Gelbert, DR 1934, S. 56. 99 Vgl. Schaff stein, DStR 1935, S. 98 f.; Höhn, DR 1935, S. 266. 100 Rauch, S. 44; vgl. auch Schaff stein, DStR 1935, S. 103. 3*
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person mit fest umgrenzten Wirkungsbereich. Da die Gefährdung oder Verletzung von Rechtsgütern nur an Vorgängen festzustellen sei, die i n der Außenwelt i n Erscheinung treten, stelle der Rechtsgüterschutzgedanke auch i n dieser Hinsicht das Streben nach Rechtssicherheit i n der klassischen Schule zufrieden 1 0 1 . Eine Prüfung des Willens habe somit i m Rahmen der Rechtswidrigkeit keinen Platz; sie gehöre ganz i n den Bereich der Schuld. Der scharfe Schnitt zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld ermögliche es, das Unrechtsurteil auf eine rein rechtliche Bewertung der äußeren Tatseite zu beschränken. I n einem solchen Rechtswidrigkeitsbegriff erfülle sich die liberale Forderung nach Trennung von Recht und Sitte 1 0 2 . Der erbitterte Kampf gegen die Forderung der modernen Schule, daß nicht die Tat, sondern der Täter zu bestrafen sei, ließ die klassische Lehre nach Ansicht der antiliberalen Strafrechtswissenschaft i n ihrer Auffassung von der Schuld gleichfalls i n eine extreme Position geraten 1 0 3 : Anknüpfend an ihren auf den äußeren Taterfolg ausgerichteten Strafbegriff messe sie selbst i m Rahmen der Schuld dem Willen nur insoweit Bedeutung bei, als er das auf den Erfolg bezogene Wissen und Wollen umfasse 104 . Vorrangig bleibe also die Proportionalität von Taterfolg und Strafe; der Schuld komme nur eine gegenüber der reinen Erfolgshaftung regulierende und schützende Funktion zu, „d. h., daß sie i n erster Linie Grenze und nicht selbständiger Grund der Strafe i s t " 1 0 5 . Dieser Schuldauffassung liege eine ethische Bewertung der Tätergesinnung fern. Sie trage zur Verwirklichung der liberalen Forderung nach Gleichheit aller vor dem Gesetz bei, indem sie die zu individueller Beurteilung herausfordernde psychische Seite der Tat hintanstelle. „Rein rationalistisches Gleichheitsdenken" 106 bestimme die klassische Lehre, ihren Täterbegriff nicht über das anonyme „Wer" des Strafgesetzbuches auszudehnen 107 . Der gleiche Taterfolg solle stets die gleiche Strafe nach sich ziehen.
ιοί So Rauch, S. 47. 102 Vgl. Rauch, S. 48, m i t H i n w . auf van Calker, Ethische Werte i m Strafrecht, S. 19. 10 3 Vgl. insgesamt dazu Rauch, S. 48 ff. 104 Vgl. Berner, Lehrbuch, S. 119 ff., R.Schmidt, Strafrechtsreform, S. 167 f.; Beling, Vergeltungsidee, S. 62 ff.; nach Beling sollte sich die Schuld nach der Stärke der „HemmungsVorstellung" bemessen; diese wiederum sollte sich aus der Stärke des strafrechtlichen Schutzes ergeben. los Rauch, S. 50. 106 Ebd., S. 51. 107 Vgl. E. Wolf, RuS H. 87, S. 19 ff.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen c) Die
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Methode
Die antiliberale Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre betrachtete auch die Methode der klassischen Schule als das Ergebnis einer liberalen Grundhaltung: Sie stehe unter dem A x i o m „rein juristischer" Arbeitsweise der Strafrechtswissenschaft 108 . Klarsten Ausdruck habe die Verwerfung metajuristischer Gesichtspunkte bei der Bildung strafrechtlicher Begriffe i n der Konstruktion einer formellen Rechtswidrigkeit gefunden 109 . Individualistisches Rechtssicherheitsdenken äußere sich in der absoluten Priorität des positiven Rechts, das nach klassischer Anschauung mittels formaler Logik auszuwerten, auszulegen und zu systematisieren sei. Probleme würden i m Wege wertfreier, streng logischer Arbeit an den Begriffen gelöst 110 . Die Ergebnisse sollten ein hohes Maß an Sicherheit und Verläßlichkeit aufweisen, weil sie anhand einer objektiv überprüfbaren Methode gewonnen wurden. Den Bemühungen der klassischen Schule u m den Ausbau und die Systematisierung des Allgemeinen Teils standen die Gegner des Liberalismus ablehnend gegenüber: Durch Rückführung des geltenden Rechts mittels immer weiter vorangetriebener Abstraktion auf wenige, allgemeingültige Grundsätze verfolge die klassische Schule allein das Ziel, „die Gleichheit der Rechtsanwendung, die Eindeutigkeit und Berechenbarkeit des Rechts und damit eben die Rechtssicherheit des einzelnen zu gewährleisten" 1 1 1 . d) Die Sonderstellung
Bindings
Das Gesamturteil der Vertreter des Antiliberalismus über die klassische Schule faßte Rauch zusammen: Sie sei stark vom liberalen Rechtsstaatsgedanken geprägt gewesen und habe jedenfalls i n ihrer späteren Phase nur noch schwache Anzeichen der i n einem reinen Vergeltungsstrafrechts verkörperten autoritären Staatsauffassung aufgewiesen 112 . I n dieses Urteil schlossen einige Autoren auch die Lehre Bindings m i t los insgesamt dazu Rauch, S. 53 ff. i° 9 Vgl. oben 1. Kap. I I I . 1. b). no Die Gleichsetzung von klassischer Schule u n d Begriffsjurisprudenz konnte Rauch (S. 54) n u r auf zwei wenig überzeugende Beispiele stützen: 1. Ν agier, Die Strafe, S. 556: „Das begriffliche Wesen der Strafe besteht i n . . . " ; 2. Oetker, ZStW 17, S. 496: „Rechtsgut ist ein Zustand, der den Menschen gut erscheint." Der zitierte Satz von Ν agier beinhaltete eine Z u sammenfassung; der Begriff der Strafe diente also nicht als Ausgangspunkt für Problemlösungen. Das Oetker-Zitat w a r falsch. Bei Oetker heißt es: „ E i n solcher Zustand erscheint dem Rechte ,gut', er ist ein Rechts,gut 4 ." Aus der Ä q u i v o k a t i o n wurde keine Schlußfolgerung abgeleitet. m Rauch, S. 54; vgl. auch Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 62 ff. 112 Ebd., S. 3 ff., 57 f.
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ein, wie sich u. a. aus der Verwendung seines Namens als Symbol für die klassische Schule ergibt 1 1 3 . Vorherrschend war jedoch die Meinung, daß Binding zwar auch dem allgemeinen liberalen Zug seiner Zeit verhaftet gewesen sei, daß er aber viele liberalistische Elemente der klassischen Strafrechtsschule abgelehnt habe und somit eine Sonderstellung einnehme 114 . So häufig tauchte sein Name i m Zusammenhang m i t den Angriffen gegen das liberale Strafrecht auf, und so oft wurde von den Gegnern des Liberalismus auf ihn i n Einzelfragen Bezug genommen, daß der Eindruck entsteht, Binding wurde hier als Ahnherr und Vorkämpfer der neuen Richtung i n Anspruch genommen. Daher erscheint es angebracht, als Exkurs und als Vorgriff auf die Darstellung des Strafrechts der antiliberalen Richtung die Behandlung Bindingscher Lehren und ihre Beurteilung i m antiliberalen Schrifttum zusammengefaßt wiederzugeben, soweit sie nach Ansicht der Autoren i m Gegensatz zum liberalen Ideengut der klassischen Schule standen und die Gedanken der antiliberalen Richtung vorwegnahmen: Die Strafauffassung Bindings spiegelte nach Auffassung von Rauch und Welzel seine „konservativ-autoritäre H a l t u n g " 1 1 5 wider: Da er das Verbrechen als eine Normwidrigkeit, als eine Gehorsamsverweigerung gegenüber der bindenden Anordnung der Obrigkeit ansehe 116 , erschöpfe sich für ihn das Wesen der Strafe nicht i n einer Reaktion auf die Störung der äußeren Ordnung des Zusammenlebens, sondern sie kehre den absolut verpflichtenden, gehorsamsfordernden Charakter der Rechtsordnung heraus 117 . Sie diene der Bewährung des Rechts und gelte dem Feind des Staates. I n ihr vereinigten sich rechtliche und ethische Bewertung der verbrecherischen Tat. Da Binding an dem metaphysischen Gehalt der Vergeltungsstrafe festhalte, räume er der materiellen Gerechtigkeit den Vorrang vor der Rechtssicherheit ein. Lobend erwähnten die antiliberalen Strafrechtler, daß Binding sich gegen den Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege", das daraus resultierende Analogieverbot sowie die damit zusammenhängende
H3 Gelbert, DR 1934, S. 56; Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 22, Anm. 5; Dannenberg, Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrhundert, S. 45, bezeichnete Binding als „ F ü h r e r der modernen liberalen Strafrechtler"; vgl. auch ebd., S. 24, 41. 114 So stellte Rauch i n seiner Untersuchung über den politischen Gehalt der klassischen Schule durchgehend der klassischen Lehre die Bindingschen Auffassungen gegenüber u n d betonte i m m e r wieder deren Eigenständigkeit; vgl. S. 3, 15 f., 37, 40 f., 42 — „ D a m i t steht aber Binding ganz außerhalbt der klassischen Schule" — 44 ff., 50 f., 56 f.; vgl. auch Dahm, ZStaatW 95, S. 299 f.; ders., Verbrechen u n d Tatbestand, S. 80 f.; Schaff stein, DStR 1935, S. 100. us Rauch, S. 14; Welzel, DRWis 1938, S. 116. ne Vgl. etwa Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 186. 117 Vgl. Rauch, S. 14 ff. m. H i n w . auf Binding, Grundriß A T , S. 228.
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Garantie bürgerlicher Freiheit wandte 1 1 8 . Zwar habe er maßgeblich an der Begründung der „zivilistischen" Lehre vom „Strafrechtsverhältnis" mitgewirkt; i m Unterschied zur klassischen Schule lege er jedoch das größere Gewicht auf die übergeordnete Position des Staates gegenüber dem Verbrecher, dessen Freiheitsgarantie erst an zweiter Stelle interessiere 119 . Diese Ausgangsposition hatte aus antiliberaler Sicht i m Verbrechensbegriff bedeutende Abweichungen von der klassischen Lehre zur Folge: Den Trennungen innerhalb des klassischen Tatbestandsbegriffs sei Binding entgegengetreten. Rauch verwies auf die ablehnende Haltung Bindings gegenüber dem naturalistischen Handlungsbegriff und sein Eintreten für einen inhaltlich erfüllten Handlungsbegriff 1 2 0 . Noch entschiedener habe er sich gegen die Auseinanderreißung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit zur Wehr gesetzt 121 . Seinem Verständnis von der Norm als einem absolut bindenden Befehl habe die Vorstellung widerstrebt, daß der Tatbestand einer Norm erfüllt sein könne, ohne daß die Handlung zugleich rechtswidrig sei. Diesem „zergliedernden" Tatbestandsbegriff habe er eine „wesenhafte und ganzheitliche Betrachtung der Dinge" 1 2 2 gegenübergestellt, die davon ausgehe, daß der Tatbestand neben objektiven auch stets subjektive und wertende Elemente enthalte, wie es Bindings Auffassung zur Strafbarkeit des ärztlichen Eingriffs verdeutliche 1 2 3 : Die Strafbarkeit wegen Körperverletzung sollte nicht erst deswegen ausscheiden, weil die angeblich tatbestandsmäßige Handlung durch das Eingreifen eines Unrechtsausschließungsgrundes gerechtfertigt werde; bereits der Tatbestand der Körperverletzung sei nicht erfüllt. Der Eingriff in den Körper des Patienten stelle als Ganzes gesehen seinem Zweck nach gerade keine Gesundheitsschädigung dar, sondern diene vielmehr der Gesundheitsmehrung. Schon gar nicht könne das ärztliche Tun mit dem abwertenden Begriff „mißhandeln" erfaßt werden 1 2 4 . Binding gewann seine Lösung nach antiliberaler Ausfassung aus einer natürlichen Betrachtung „der Wirklichkeit des Lebens nach ihrer inneren Ordnung", aus einem „konkreten Ordnungsdenken" heraus 125 . ne Vgl. Binding , Handbuch des Strafrechts, S. 28; Strafr. Abhandlungen I, S. 37 f.; dazu Rauch, S. 31, 36 f. 119 Vgl. Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 191 u n d Rauch, S. 33 f. 120 v g l . Binding, Normen I I 1, S. 89 ff., 390 u n d Rauch, S. 40. 121 Vgl. Rauch, S. 40 f.; Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 80 f. 122 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 80 f. 123 Dieses Beispiel stellt Rauch, S. 41, heraus. 124 vgl. Binding, Lehrbuch I, S. 55 ff. 125 M i t dieser Bezeichnung knüpfte Rauch, S. 41, an das Vokabular C. Schmitts an, dessen sich die antiliberale Strafrechtswissenschaft, wie noch zu zeigen sein w i r d , i n großem Umfang bediente.
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Auch i n der Rechtswidrigkeitslehre stand Binding nach der Einschätzung der antiliberalen Strafrechtswissenschaft über der individualistischen Zeitströmung. Wenngleich selbst er von der zu seiner Zeit allgemeinen Lehre vom Rechtsgüterschutz nicht unbeeinflußt geblieben sei, so sei es i h m dennoch immer wieder i n Fragen des Besonderen Teils gelungen, sich davon zu lösen, indem er neben die Deutung der Rechtswidrigkeit als Rechtsgutsverletzung das Moment der Pflichtverletzung gestellt habe. Das zeige sich i n der Betonung des Treuegedankens für die Delikte des Hoch- und Landesverrats 126 , deren Wesen sich bei ihm nicht i m ruhe- und ordnungsstörenden Charakter der Tat erschöpfe. I m K e r n stehe die Verletzung der Treuepflicht gegenüber dem Staat, der Verrat. Als praktische Konsequenz ergebe sich u. a. eine andersgeartete Behandlung des Ausländers. Von demselben Grundgedanken sei die Bindingsche Lösung der Frage bestimmt, ob eine subjektiv falsche, aber objektiv richtige eidliche Aussage den Meineidstatbestand erfüllt. Entgegen der dem Rechtsgutsdenken folgenden herrschenden Lehre seiner Zeit, für die der Unrechtsgehalt des Meineides i n der Verletzung der Sicherheit der Rechtspflege gelegen habe, sei Binding zur Strafbarkeit gelangt, weil für ihn die Verletzung der Wahrheitspflicht i m Vordergrund stehe 127 . Wer der verbrecherischen Gesinnung ein derartiges Gewicht beimesse, müsse auch i n Widerspruch zur klassischen Schuldauffassung geraten, nach der die Schuld lediglich regulierende Bedeutung habe. Aus antiliberaler Sicht war es vorbildlich, daß Binding den Schuldvorwurf nicht nur auf die Tat bezog, sondern i h n m i t aller Schärfe auch gegen die Person des Täters, gegen den „Feind" der Rechtsordnung richtete 1 2 8 . Daraus folge die Bindingsche Lehre von der Zugehörigkeit des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit zum Vorsatz, weil von einem „Ungehorsam gegen die Norm", der i m Mittelpunkt seiner Verbrechensauffassung und somit auch seiner Schuldlehre stand, nur die Rede sein könne, wenn der Täter das übertretene Verbot auch gekannt habe 1 2 9 . Dieser personale Schuldbegriff als Ausgangsposition habe ihm den Weg für wichtige Erkenntnisse i m Besonderen Teil geöffnet, die vor allem die Bedeutung der Gesinnungsmerkmale beträfen und die an vielen Stellen das „Wesen des Täters" hervorleuchten ließen 1 3 0 . 126 v g l . Binding , Lehrbuch I I 2, S. 425 ff., 439 ff.; dazu Dahm, ZStaatW 95, S. 299, 301, 303; Rauch, S.44ff. 127 v g l . Binding , Lehrbuch I I 1, S. 133. Nach Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 17, dringt Binding so bis zum „Wesen" des Delikts vor; vgl. auch Rauch, S. 46 f.; Schaff stein, J W 1938, S. 146. 128 v g l . GS 76, S. 9 u n d Rauch, S. 50. 129 Vgl. Binding, Normen I I 1, S. 144 f.; dazu Rauch, S. 50. 130 So Rauch, S. 51.
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2. Die moderne Schule
Es mag verwundern, wenn jetzt, um die Darstellung des liberalen Strafrechts durch seine Gegner wieder aufzunehmen, auch von der modernen Schule die Rede sein soll. Sind schon die Lehren der klassischen Schule zum größten Teil als „liberalistisch", „individualistisch" und „positivistisch" eingestuft worden, so sollte man erwarten, daß sich die von ihr so erbittert bekämpfte moderne Richtung einer gleichen Einordnung entzog. I m antiliberalistischen Schrifttum fehlte auch nicht der Hinweis, daß eine konsequente Verwirklichung der Sicherungs- und Besserungsstrafe der modernen Schule Ergebnisse zeitige, die mit liberalem Ideengut unverträglich seien 131 . I n dem ihrem Strafgedanken zugrundeliegenden B i l d vom Menschen und von der staatlichen Ordnung sowie i n der konkreten Ausgestaltung des Strafbegriffs und des Verbrechenssystems, so urteilten die antiliberalen Autoren aber übereinstimmend, verrate die moderne Schule dieselbe weltanschaulichen Bindungen, die auch die klassische Schule prägten. „Zwei verschiedene Schößlinge derselben W u r z e l " 1 3 2 seien die beiden Schulen, „Brüder gleicher Stammesart" 1 3 3 , deren nur geringe Unterschiede die klassische Schule „zu einem Gegensatz aufgebauscht" habe 1 3 4 , indem sie rechtssicherheitsgefährdende Konsequenzen einer Sicherungs- und Besserungsstrafe angegriffen habe, die von der modernen Schule tatsächlich nie gezogen worden seien. I n welcher Form liberales Gedankengut die Lehren der modernen Schule nach Ansicht der Vertreter des Antiliberalismus durchzog, legt die folgende zusammenfassende Wiedergabe der antiliberalen Stellungnahmen dar 1 3 5 . Die herangezogenen Äußerungen beziehen sich über131 Vgl. Krüger, ZStW 55, S. 107 f. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 30. 132 Schaff stein, DStR 1935, S. 99. 133 E. Wolf, RuS H. 103, S. 23; vgl. auch Krüger, ZStW 55, S. 113, Anm. 118; Schaff stein, Z A k D R 1935, S. 108; Rauch, S. 9; Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 19. 134 Krüger, ZStW 55, S. 112. 135 Die Darstellung stützt sich zu einem großen T e i l auf die Studie von Welzel aus dem Jahre 1935 über „Naturalismus u n d Wertphilosophie i m Straf recht", i n der sich der A u t o r eingehend m i t den Lehren v. Liszts beschäftigte. Dabei galt sein kritisches Interesse nicht so sehr dem unmittelbar politischen Gehalt, sondern mehr der „geistigen Grundhaltung, die sich keineswegs auf das rechtlich — staatliche Leben beschränkt" (S. 20). A u f G r u n d dieser Zurückhaltung i n politischen Fragen wurde die Schrift nicht i n allen Besprechungen wohlwollend kommentiert (vgl. Adami, J W 1935,, S. 2348). Es sollte aber nicht übersehen werden, daß die Arbeit trotz ihrer philosophie-geschichtlichen Zielsetzung auch eine politische Stellungnahme enthielt (vgl. Berges, DJZ 1936, S. 60 f.; Mezger, D J 1935, S. 1395). Die harte K r i t i k am Naturalismus u n d an der Wertphilosophie sowie an ihren strafrechtlichen Erscheinungsformen führte zu einer Öffnung gegenüber dem Nationalsozialismus. Das ging zwar nicht bis zu einem offenen, rückhalt-
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w i e g e n d auf das A n f a n g s s t a d i u m der m o d e r n e n Schule, also z u r H a u p t sache a u f die L e h r e n v o n Liszts. Das e r k l ä r t sich aus der Z i e l s e t z u n g der a n t i l i b e r a l e n A u t o r e n , e i n e n V e r g l e i c h m i t der Strafrechtswissenschaft des b ü r g e r l i c h e n Rechtsstaates des späten 19. u n d f r ü h e n 20. J a h r h u n d e r t s v o r z u n e h m e n . D e n i n dieser Phase ausgetragenen Schulens t r e i t b e t r a c h t e t e n die Gegner des L i b e r a l i s m u s als historisch b e w ä l t i g t 1 3 6 . U n m i t t e l b a r e G e g e n w a r t w a r i h n e n h i n g e g e n die A u s e i n a n d e r setzung m i t d e m G e d a n k e n g u t der m o d e r n e n Schule i n d e n E n t w ü r f e n z u r R e f o r m des Strafgesetzbuches, w i e noch zu zeigen sein wird137. a) Der Straf
begriff
D i e m o d e r n e Schule s t ü t z t e i h r e n S t r a f b e g r i f f a u f e m p i r i s c h e U n t e r suchungen der K r i m i n a l i t ä t , d i e i h r e Ursachen m i t M i t t e l n der Soziologie u n d der Psychologie zu e r k l ä r e n s u c h t e n 1 3 8 . N a c h A u f f a s s u n g der Gegner eines l i b e r a l e n Strafrechts k a m i n der k r i t i k l o s e n Ü b e r n a h m e n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e r D e n k m e t h o d e n , i n der p o s i t i v i s t i s c h e n B e g r ü n d u n g u n d A u s g e s t a l t u n g der S t r a f e eine l i b e r a l e A n s c h a u u n g v o n S t a a t u n d Gesellschaft z u m V o r s c h e i n : D e r G e d a n k e h e i l e n d e r Besserung u n d sichernder V e r w a h r u n g , der k a u m noch m i t d e m B e g r i f f losen Bekenntnis; die theoretischen Gedankengänge Welzeis bedurften jedoch keiner weiteren Umformung; sie konnten unmittelbar m i t nationalsozialistischem Gedankengut ausgefüllt werden, w i e folgende Zitate zeigen: S. 57: „ . . . die Werte sind nicht lebens- u n d daseinstranszendent i n dem Sinne eines irrealen, dem Streit der Zeit entzogenen Ideenhimmels; ihre Absolutheit besteht nicht i n ihrer ,Abgelöstheit' v o m Sein, sondern i n ihrer Verwurzelung m i t dem metaphysischen Wesensgefüge des menschlichen Seins, das den leiblichen w i e seelisch-geistigen Lebensäußerungen identisch zugrunde liegt. I n der Metaphysik des Menschen finden auch die Werte ihre Absolutheit wieder. Aber dieses Mensch-Sein ist keine abstrakte Begriffsallgemeinheit, sondern — wie schon seine leibliche Seite i n ihren rassischen Konkretionen zeigt — ein konkretes Mensch-Sein, d. h. ein Deutscher-Sein, Spanier-Sein usw. Die inhaltliche Fülle der Werte differenziert sich nach dem konkreten menschlichen Sein, das nach seiner leiblichen Seite h i n durch V e r wandtschaft des Blutes gekennzeichnet ist. So ist die konkrete K u l t u r stets die gestaltgewordene Weise, i n der sich die Werthaltung des einzelnen b l u t - u n d schicksalmäßig zusammenhängenden Volkstums ausspricht." S. 76: „ . . . müssen die konkreten Lebensordnungen i n der großen Einheit gesehen werden, i n der sie ihre W i r k l i c h k e i t haben u n d die ihnen i h r begrenztes Recht u n d i h r gegenseitiges Verhältnis zuweist, nämlich i n der Volksgemeinschaft m i t den Notwendigkeiten der konkreten historischen Situation, die auf rechtlichem Felde vor allem i n dem geäußerten Führerwillen, d. h. i m Gesetz ihren sichtbaren Niederschlag findet." 136 v g l . Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 24. 137 Vgl. unten 4. Kap. 138 Vgl. n u r v. Liszt , Aufsätze u n d Vorträge I I , S. 75 ff., 170 ff., 230 ff., 433 ff.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen
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„Strafe" i n Zusammenhang gebracht werden könne, beziehe seine Rechtfertigung aus der Uberzeugung, daß der menschliche Wille determiniert sei, so daß „der Entschluß als blindnotwendige Folge der gerade bestehenden kausalen Konstellation erscheint" 139 . Der fehlorientierten Motivation des Täters solle die Strafe als neues, i n Richtung auf ein gesellschaftlich angepaßtes, rechtmäßiges Verhalten weisendes Moment entgegentreten. Ein sittlich belastendes Werturteil über die Persönlichkeit des Täters verbiete sich, da von echter Verantwortlichkeit nicht gesprochen werden könne und das Ziel der Strafe nur i n einer äußerlichen Anpassung an die gesetzlich fixierte gesellschaftliche Ordnung bestehe 140 . Der Strafgedanke der modernen Schule entspringe dem „liberal-bürgerlichen Denken über Recht und Staat" 1 4 1 , das alle Lebensbereiche als berechenbare Größen auszudrücken bestrebt sei, um sie seiner „Machtideologie" unterwerfen zu können, und ethische Maßstäbe beiseiteschiebe 142 . Der Widerspruch zwischen der m i t der Sicherungs- und Besserungsstrafe verbundenen Überantwortung größerer Macht über den einzelnen an den Staat und dem liberalen Mißtrauen gegenüber staatlicher Machtfülle löste sich aus antiliberaler Sicht i n der Straftheorie der modernen Schule in der Weise auf, daß sie die Strafe nur als eine von vornherein engen Grenzen unterliegende staatlichen Machtausübung begriff. Das erkläre sich aus der Theorie von Liszts zur geschichtlichen Entwicklung der Strafe 1 4 3 : Die ursprüngliche Form, eine vom Rachebedürfnis angestachelte Triebhandlung, sei i m Laufe der Zeit durch eine sinn- und zweckhafte Gestaltung verdrängt worden, indem ein unbefangener, zu objektiver Beobachtung fähiger Dritter, der Staat, eingeschaltet worden sei. Diese Rationalisierung und Objektivierung der Strafe, der Ubergang von einer Trieb- zu einer Zweckhandlung nötige dem Staat Selbstbeschränkung bei der Ausübung der Strafgewalt auf, die der staatlichen Reaktion erst wahren Rechtscharakter verleihe. — Da die evolutionistische Geschichtsauffassung von Liszts den Anspruch erhob, auch künftige Entwicklungstendenzen auszuweisen 144 , sollte das Maßprinzip uneingeschränkt für die von der modernen Schule angestrebte Ausformung staatlicher Strafen gelten. 139 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 28. 140 Vgl. ebd., S. 28. 141 Ebd., S. 20. 142 Vgl. ebd., S. 20 f.; E.Wolf bezeichnete als Quellen des naturalistischen Positivismus den politischen Liberalismus, den ethischen Individualismus u n d den relativistischen Naturalismus (RuS H. 87, S. 11). 143 Vgl. v. Liszt, Aufsätze und Vorträge I, S. 145 ff.; dazu Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 34 f.; Krüger, ZStW 55, S. 109. 144 Vgl. V. Liszt, ZStW 26, S. 556.
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1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
I n der Konsequenz des Gedankens der Selbstbindung des Staates lag es nach Ansicht antiliberaler Strafrechtswissenschaftler, daß die moderne Schule die individualistische Lehre vom „Strafanspruch" des Staates und vom „Strafrechtsverhältnis" zwischen Staat und Individuum guthieß 1 4 5 . Die zurückhaltende Handhabung der Strafe durch die moderne Schule hatte aus antiliberaler Sicht den Grund, daß sie sich wegen der Schwere des Eingriffs nicht m i t dem Verdacht begnügen mochte, daß eine verbrecherische Gesinnung gegeben sei 1 4 6 . Um der Gefahr einer zu weit reichenden staatlichen Strafgewalt zu begegnen, habe es sich angeboten, die Verwirklichung eines äußeren, gesetzlich fixierten Tatbestandes zur Voraussetzung für staatliche Maßnahmen zu machen. Damit sei der Weg für eine nahezu vollständige Übereinstimmung m i t der klassischen Schule i n Fragen der Strafrechtsdogmatik bereitet worden 1 4 7 . b) Das
Verbrechenssystem
Die Orientierung am Gesetz sollte nach Meinung antiliberaler Strafrechtswissenschaftler i n der modernen Schule den Ausgleich für die freiheitsbeschränkenden Auswirkungen einer spezialpräventiven K r i minalpolitik schaffen 148 . Das Wort vom Gesetz als der „Magna Charta des Verbrechers" 149 bringe zum Ausdruck, daß eine der wichtigsten Aufgaben des Strafrechts i m Schutz der individuellen Freiheit bestehe 150 . U m aus diesem Grunde die Alleinherrschaft des Gesetzes zu sichern, bediene sich die moderne Schule des Grundsatzes „nulla poena sine lege", der gewährleisten solle, daß die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen tatsächlich erfüllt seien, wenn durch die Strafe ein Eingriff i n die Freiheit des einzelnen vorgenommen werde 1 5 1 . Auch seinen weiteren Auswirkungen stimme die moderne Lehre zu; so befürworte sie eine strikte Bindung des richterlichen Ermessens und erkenne als Notwendigkeit an, die Garantiefunktion bei der Ausgestaltung des Tatbestandes zu wahren. Dem widerspreche nicht ihre Forderung, der ver145 v g l . ν . Liszt, Lehrbuch 21./22. Aufl., S. 1 Anm. 1 u n d Schaff stein, DJZ 1934, Sp. 1176 f.; Höhn, DR 1935, S. 267, zitiert bei der Behandlung der Lehre v o m „Strafrechtsverhältnis" n u r v. Liszt- Schmidt, ohne ein Wort über die Rolle Bindings bei der Begründung der Lehre zu verlieren. 146 Vgl. Krüger, ZStW 55, S. 108 m. H i n w . auf v. Liszt, Aufsätze u n d V o r träge I I , S. 16. 147 Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 36; Krüger, ZStW 55, S. 110. 148 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 30 ff. 149 Vgl. v. Liszt, Aufsätze u n d Vorträge I I , S. 60, 80. 150 v g l . neben Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 30 ff., auch Dannenberg, L i b . u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 60. 151 Vgl. dazu u n d zum folgenden Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 30 ff.
I I I . Die Lehren der beiden Strafrechtsschulen
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brecherischen Gesinnung bei der Bildung gesetzlicher Tatbestände größere Beachtung zu schenken 152 . Zwar bedeute dieses Vorhaben einen Ausbau der subjektiv gefärbten Tatbestandselemente; die Rechtssicherheit wolle die moderne Schule damit jedoch nicht gefährden; denn sie hege die Hoffnung, allgemeinverbindliche typische Kriterien für Verbrechergruppen unter Zuhilfenahme objektiver Merkmale herausarbeiten zu können, und glaube, durch Fortschritte i n den Naturwissenschaften, vor allem i n dem jungen Zweig der Psychologie, optimistisch gestimmt, auch die subjektive Seite der Tat m i t rationalen Erkenntnismitteln erfassen und genau bestimmen zu können. Naturalistisch-positivistisches und damit liberalistisches Denken hatte nach antiliberaler Auffassung auch den Handlungsbegriff der modernen Schule geformt. U m aus Gründen der individuellen Rechtssicherheit die Prüfung der Strafbarkeit mit möglichst sinnfälligen Kriterien zu beginnen, habe die moderne Schule einen Handlungsbegriff vertreten, der nur die Ursächlichkeit des Willens i m Hinblick auf eine die Außenwelt verändernde Körperbewegung erfasse 153 . Eine völlige Übereinstimmung der modernen Schule mit der klassischen stellte die antiliberale Strafrechtswissenschaft der dreißiger Jahre bei der Ausdeutung des Unrechts als eine Gefährdung oder Verletzung von Rechtsgütern fest: „Gerade Liszt (hat) durch die Einführung des Zweckgedankens i n das Strafrecht der materiellen Auffassung des Verbrechens als Rechtsgutverletzung ihre durchschlagende Begründung gegeben 154 ." Individualistischem Denken entspringe die Dreiteilung der Rechtsgüter i n solche des einzelnen, des Staates und der Gesellschaft 155 . Besonderer Beachtung sei dabei die Trennung von Staat und Gesellschaft wert, die der liberalen Auffassung entstamme, daß der Gesellschaft ein gegenüber dem Staat autonomer Bereich zustehe 156 . I n der Ausschaltung ethischer Werturteile aus dem Schuldbegriff sahen die Antiliberalen einen weiteren Beweis für die liberale Grundhaltung der modernen Schule: Die kausalmechanische Betrachtungsweise führe notwendigerweise zu einem nur aus deskriptiven Merkmalen bestehenden, rein psychologischen Schuldbegriff, der durch die 152 Vgl. v. Liszt, Aufsätze u n d Vorträge I I , S. 391; dazu Krüger, ZStW 55, S. 111 f. 153 vgl. v. Liszt, Lehrbuch, 5. Aufl., S. 128; 21./22. Aufl., S. 116; dazu Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 38; Schwarzschild, Franz v. Liszt, S. 16 ff.; auch Dannenberg, Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 61. 154 Schaff stein, DStR 1935, S. 102; vgl. auch Höhn, DR 1935, S. 266. iss Vgl. v. Liszt, ZStW 8, S. 140 ff. u n d Schaff stein, DStR 1935, S. 102. 156 Vgl. Schaff stein, DStR 1935, S. 102; Welzel, Naturalismus u n d W e r t philosophie, S. 35 f.
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1. Kap.: Strafrechtlicher Liberalismus Ende 19./Anfang 20. Jahrh.
Vermeidung einer ethischen Bewertung und durch die leichte Feststellbarkeit seiner Merkmale liberales Gedankengut verwirkliche 1 5 7 . c) Die
Methode
Auch in Fragen der Methode bestanden nach antiliberaler Auffassung kaum Diskrepanzen zwischen der modernen und der klassischen Schule 158 : Das Bestreben, i m Wege naturalistisch-positivistischer Betrachtung zu festen, berechenbaren Größen zu gelangen, finde auf dem rein juristischen Feld seine Parallele i n der Verwendung der formalen Logik als Mittel zur Auslegung, Abgrenzung und Systematisierung von Begriffen. M i t der Übernahme der begriff s juristischen Arbeitsweise bezwecke die moderne Schule, zur Sicherung der individuellen Freiheit beizutragen. „ I m ganzen erweist sich so sein (v. Liszts, d. Verf.) System — wohl i n den Voraussetzungen wie i n den Ergebnissen — als eine vollkommensten Anwendungen positivistischen Gedankenguts auf Bereich einer Einzelwissenschaft überhaupt", stellte Welzel i n einer schließenden Bewertung der modernen Schule fest 1 5 9 .
soder den ab-
157 Vgl. v. Liszt Stellungnahme gegen die Auffassung der Schuld als sittliches Werturteil, Aufsätze u n d Vorträge I I , S. 45 f., 228 f. ; dazu Krüger, ZStW 55, S. 110; Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 28 f.; vgl. auch Schwarzschild, Franz v. Liszt, S. 24. 158 Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 36 f.; Rauch, Die klassische Strafrechtslehre, S. 54 f. 159 Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 39 f.
2. Kapitel
Der irrationale Zeitgeist als Voraussetzung des Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft Die geistigen Voraussetzungen des Antiliberalismus i n der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre vollständig benennen zu wollen, würde einen Aufwand erfordern, der den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde. Die Darstellung beschränkt sich daher auf eine geistige Zeitströmung, die als wesentliche Bedingung für die Entstehung des Antiliberalismus erkannt wurde: das Vordringen des Irrationalismus. I. Die Lebensphilosophie Die Wurzeln des Irrationalismus der zwanziger und dreißiger Jahre reichen weit zurück i n das 19. Jahrhundert. Philosophen wie Bergson, Nietzsche und Dilthey legten das Fundament 1 . Ihre Lehren werden häufig m i t dem schlagwortartigen Begriff „Lebensphilosophie" zusammengefaßt 2 . Diese Kennzeichnung und die damit verbundene Gleichsetzung so unterschiedlicher Philosophen stößt auf manche Bedenken. Hier soll jedoch nicht auf den Inhalt ihrer Lehren i m einzelnen eingegangen werden; i m Mittelpunkt der Betrachtung stehen die erkenntnistheoretischen Aussagen, denn sie überspringen am leichtesten die Grenzen des Bezirks philosophischer Fachwissenschaft und bieten sich den anderen Wissenschaften zur Verwendung an. I n erkenntnistheoretischen Fragen weisen diese Philosophen allerdings so viele Ubereinstimmungen auf, daß eine Gemeinsamkeit nicht geleugnet werden kann. Sie besteht zur Hauptsache in der Absicht, den rationalistischen Optimismus als Folgeerscheinung der französischen Revolution i n seine Schranken zu weisen: Das Erkenntnismittel der reinen Verstandestätigkeit habe sich als unfähig erwiesen, das Leben vollständig zu durchdringen. Der Rationalismus, der i n den Naturwissenschaften seine Domäne habe und von dort aus einen absoluten Herrschaftsanspruch geltend mache, sei bestrebt, m i t Hilfe abstrakter Be1 Die Aufzählung ist i n keiner Weise vollständig. Es sollten n u r prägnante Beispiele hervorgehoben werden. 2 Vgl. Heinemann, Schicksal u n d Aufgabe, S. 268 f.; Diemer, Metaphysik, S. 180.
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2. Kap.: Der irrationale Zeitgeist
griffe ein System allgemeingültiger Gesetze zu errichten. Auf diesem Wege sei es jedoch unmöglich, das Wesen der vielfältigen Erscheinungen des Lebens zu erfassen. Abstrakte Begriffe zerteilten und zergliederten nur, ließen die organische Einheit außer acht und führten am Kern der Dinge vorbei. „ I I suffirait d'en considérer les résultats (du travail intellectuel; d. Verf.)", meint Bergson. „On verrait, que l'intelligence, si habile à manipuler l'inerte, étale sa maladresse dès qu'elle touche au vivant. Qu'il s'agisse de traiter la vie du corps ou celle de l'esprit, elle procède avec la rigueur, la raideur et la brutalité d'un instrument, qui n'était pas destiné à un pareil usage 3 ." Daher sei die Intuition, das einfühlende Nacherleben dem Verstand überlegen. Nach Bergson „brauchen w i r unsere Erlebnisse nur unbefangen und vorurteilslos, d. h. ohne das Begriffschema, das w i r gewöhnlich über sie breiten, i n ihrer Unmittelbarkeit zu betrachten, so blicken w i r den Dingen bis auf den Grund, so schauen w i r sie i n ihrer wahren Wirklichkeit an" 4 . Die Erwähnung Nietzsches i n diesem Zusammenhang erscheint selbstverständlich angesichts der Wertschätzung seiner Schriften durch die Nationalsozialisten, die ihre Weltanschauung i n den Mythen Nietzsches bestätigt sahen5. Nun lassen sich aber nicht wenige Äußerungen Nietzsches anführen, die nachzuweisen scheinen, daß er der begrifflichen Verstandesarbeit einen höheren Rang einräumte als der Intuition. Schwinge warnte daher davor, i h n vorbehaltlos der Lebensphilosophie zuzurechnen 6 . Richtig daran ist, daß eine eindeutige Zuordnung Nietzsches zu jedweder Geistesrichtung stets schwerfallen wird. Dagegen sperrt sich schon seine aphoristische Ausdrucksweise. Auch hat er sich nie um ein festgefügtes System bemüht: denn i m Willen zum System erblickte er einen Mangel an Rechtschaffenheit 7 . Das Fehlen eines Systems aber verleitet die Interpreten dazu, die philosophischen Lehren einseitig auszudeuten und Gedanken zu unterschlagen. Was Nietzsche angeht, so kann sich eine Interpretation, die sein hier und dort aufzufindendes Eintreten für eine rationale Logik vernachlässigt, darauf berufen, daß seine Schriften insgesamt ein geistiges K l i m a verbreiten. 3 L'Evolution créatrice, S. 179. 4 So Kroner, Logos Bd. I, S. 128 über Bergson. 5 Auch von den noch darzustellenden strafrechtlichen Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus wurde behauptet, daß sie sich m i t dem Gedankengut Nietzsches deckten (vgl. Heinze, Verbrechen u n d Strafe bei Friedrich Nietzsche). Die Zusammenhänge zwischen Nietzsches Philosophie u n d dem Nationalsozialismus hat Löwith eindringlich dargelegt (Einleitung zu Nietzsche, Zeitgemäßes u n d Unzeitgemäßes, F r a n k f u r t 1956). Vgl. auch Lukàcs, Von Nietzsche zu Hitler, u n d Sandvoss, H i t l e r u n d Nietzsche. 6 Irrationalismus u n d Ganzheitsbetrachtung, S. 6 m. Nachw. ? Werke, Bd. V I I I , S. 64.
i t . Die Phänomenologie
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das von einem vitalistischen Egoismus, von einer Verherrlichung der Gewalt und der gesunden Instinkte geprägt ist 8 . Dem entsprechen die erkenntnistheoretischen Äußerungen, i n denen er jede Objektivität der Wirklichkeit leugnet und die Intuition als das entscheidende M i t t e l bezeichnet, die Wahrheit zu erfahren 9 . Ein wichtiger Vorläufer der breiten irrationalistischen Geistesströmungen der Zeit nach dem 1. Weltkrieg war Dilthey. Seine erkenntnistheoretischen Aussagen gingen von der grundlegenden Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aus, einer Unterscheidung, die der südwestdeutsche Neukantianismus aufnahm und weiter ausbaute. Der erklärenden Verstandestätigkeit erkannte Dilthey i m Rahmen der Naturwissenschaften eine gewisse Bedeutung zu 1 0 . Die Grundlage der Geisteswissenschaften bestand für ihn i m „Leben": „Die fundamentalen Voraussetzungen der Erkenntnis sind i m Leben gegeben, und das Denken kann nicht hinter sie greifen 11 ." Anders als die Vertreter des südwestdeutschen Neukantianismus gelangte Dilthey nicht zu einer festen, rational durchgegliederten geisteswissenschaftlichen Erkenntnismethode. Das Leben sei nur durch verstehendes Nacherleben faßbar, das i m Gegensatz zum verallgemeinernden rationalen Denken stehe und ohne begriffliche Logik auskomme. Die Erkenntnis des Lebens vollziehe sich „durch das Zusammenwirken aller Gemütskräfte i n der Auffassung" 12 . Einen Anspruch auf objektiven Erkenntniswert konnte dieses Verfahren nur erheben, weil es nach außen zwischen „Leben" und „Erleben" unterschied. Er mußte jedoch an der Subjektivität und Irrationalität des Erkenntnisweges scheitern: Inhaltlich waren „Leben" und „Erleben" deckungsgleich 13 . I I . Die Phänomenologie Eine Verfeinerung der lebensphilosophischen Methode brachte die Phänomenologie, die E. Husserl i n den wesentlichen Zügen noch vor dem 1. Weltkrieg konzipierte 14 . Die Grundregel der Phänomenlogie be8 Vgl. Löwith, Einleitung zu Nietzsche, Zeitgemäßes u n d Unzeitgemäßes; ferner Lukàcs, V o n Nietzsche zu H i t l e r , S. 27 ff.; Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 68. 9 Vgl. Lukàcs, V o n Nietzsche zu Hitler, S. 93 ff. m. Nachw. i° Gesammelte Schriften Bd. V , S. 144: „ D i e N a t u r erklären w i r , das Seelenleben verstehen w i r . " u Ebd., S. 136; vgl. auch Bd. V I I , S. 359: Das Leben sei „dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann. Leben k a n n nicht vor den Richterstuhl der V e r n u n f t gezogen werden". ι 2 Ebd., Bd. V, S. 172; vgl. dazu Linke, Niedergangserscheinungen, S. 47 sowie S. 68 ff. 13 Vgl. Lukàcs, Von Nietzsche zu Hitler, S. 125.
4 Marxen
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2. Kap.: Der irrationale Zeitgeist
steht i n der Forderung: „ Z u den Sachen selbst!" Jede Erkenntnis müsse am ursprünglich Gegebenen ansetzen, der Voraussetzung für weitere Erkenntnisse i m Wege des Schließens. Da aber auf das Gegebene kein Schluß möglich sei, könne es nur durch eine „Schau" intuitiv erfaßt werden. E. Husserl formulierte: „Das unmittelbare ,Sehen', nicht bloß das sinnliche, erfahrende, sondern das Sehen überhaupt als originär gebendes Bewußtsein, welcher A r t immer, ist die letzte Quelle aller vernünftigen Behauptungen 15 ." Zur Ausschaltung der Einflüsse, die ein Vordringen zu den Sachen selbst verhindern könnten, ist nach den Grundsätzen der Phänomenologie eine mehrfache Reduktion erforderlich; d. h. eine Lösung des geschauten Gegenstandes aus Seinsbezügen, die eine reine Erkenntnis hemmen (historische, existenziale, eidetische, transzendentale Reduktion) 1 6 . Der Zusammenhang der phänomenologischen Methode m i t der Lebensphilosophie ist nicht zu übersehen 17 : Die Übertragung der entscheidenden Aufgaben i m Erkenntnisprozeß auf die Intuition charakterisieren sowohl das einfühlende Nacherleben als auch die phänomenologische Wesensschau i n ihrer letzten Konsequenz als irrationalistische Erkenntnismethoden. Weit über die Lebensphilosophie erhob sich die phänomenologische Methode jedoch durch das Bemühen u m Objektivität. Dieser „rationale" Zug in der Phänomenologie war in besonders starkem Maße noch bei E. Husserl vorhanden, der seine Methode zur Hauptsache auf formallogische Probleme der Mathematik und der Naturwissenschaften anwandte. Die Gefahr des Abgleitens seiner philosophischen Lehre war jedoch bereits i n ihr selbst angelegt: Die starke Betonung der Evidenz des letztendlich Gegebenen minderte die Möglichkeiten intersubjektiver Vermittlung und Kontrolle und war geeignet, den Gedanken wissenschaftlicher Objektivität zu verdrängen 18 . Eine vollständige Wendung i n das Irrationalistische nahm die Phänomenologie mit der Fortführung und dem Ausbau durch Schüler und 14 Die erkenntnistheoretischen Aspekte hat E. Husserl vor allem i n den „Logischen Untersuchungen" (1901) u n d i n den „Ideen zu einer reinen Phänomenologie u n d phänomenologischen Philosophie" (1913) erörtert. 15 Ideen zu einer reinen Phänomenologie, S. 36. 16 Vgl. die zusammenfassenden Darstellungen bei Stegmüller, Gegenwartsphilosophie, S. 70 ff. u n d Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, S. 23 ff. 17 Diesen Zusammenhang stellt Stegmüller i n der Person Schelers fest (vgl. Gegenwartsphilosophie, S. 97). Vgl. Linke, Niedergangserscheinungen, S. 66 f.; vgl. auch zur K r i t i k an der Phänomenologie: Kraft, V o n Husserl zu Heidegger.
I I I . Der Popularisierungs- u n d Politisierungsprozeß
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Anhänger E. Husserls. Vor allem Scheler „führte die Husserlsche Phänomenologie . . . i n den großen Strom des lebensphilosophischen Irrationalismus hinein" 1 9 . Er betonte den erlebnishaften Charakter der Wesensschau von „Sachen, wie sich ganz unmittelbar i m Er-leben, i m A k t des Erlebens geben, und i n ihm und nur i n i h m ,selber da' sind" 2 0 . Ihm folgte Hartmann nach, der den Gegenstand seiner erkenntnistheoretischen Bemühungen als „Metaphysik der Erkenntnis" bezeichnete 21 . Seine Behandlung des Erkenntnisproblems maß dem Irrationalen entscheidende Bedeutung bei 2 2 , die noch durch die Betonung erkenntnistheoretischer Aporien verstärkt wurde 2 3 . „Letzter Sinn philosophischer Erkenntnis" war für ihn „nicht so sehr ein Lösen von Rätseln, als ein Aufdecken von Wundern 2 4 ." I I I . Der Popularisierungs- und Politisierungsprozeß Die Lebensphilosophie der Nachkriegszeit war von einer noch heftigeren Ablehnung des Rationalismus, der „Ideen des 19. Jahrhunderts" gekennzeichnet. Sie wandte sich m i t aller Schärfe gegen die Vernunft als einziges Organ der Erkenntnis und ersetzte das zergliedernde und abstrakte Denken i n Begriffen durch ein ganzheitliches, intuitives Verstehen. I n vielen Wissenschaften fand sie ein breites Echo. Vor allem die Geisteswissenschaften wandten sich ihr zu; aber selbst i n den Naturwissenschaften ließ die intuitive Ganzheitsbetrachtung die exakte begriffliche Analyse in den Hintergrund treten 2 5 . Bedenkenlos wurden überkommene gesicherte Erkenntniswege verlassen. Zu verstehen ist dieser Vorgang nur, wenn man sich den Popularisierungsprozeß vor Augen führt, den die Lebensphilosophie, begünstigt durch die damaligen politischen und sozialen Verhältnisse, i n den zwanziger Jahren durchmachte und der auf die Wissenschaften zurückwirkte. Nach dem 1. Weltkrieg mehrten sich die Anzeichen dafür, daß der Irrationalismus die Höhen philosophischer Fachdiskussionen hinter sich gelassen und breitere Schichten erfaßt hatte. Weite Beachtung fand das 19 Lukàcs, Von Nietzsche zu Hitler, S. 163; vgl. auch v.Krockow, Die E n t scheidung, S. 29 ff. 20 Schriften aus dem Nachlaß, S. 380. 21 Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 3. Aufl. 1941. 22 Vgl. Stegmüller, Gegenwartsphilosophie, S. 248 f. Anm. 1; Kraft, Von Husserl zu Heidegger, S. 60 Anm. 27, S. 125. 23 Vgl. Linke, Niedergangserscheinungen, S. 18 ff.; Kraft, V o n Husserl zu Heidegger, S. 58 Anm. 36. 24 Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, S. 255; vgl. auch S. 248. 25 Vgl. Schwinge, Irrationalismus u n d Ganzheitsbetrachtung, S. 44 ff. 4*
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2. Kap.: Der irrationale Zeitgeist
Werk Oswald Sprenglers, „des großen Dilettanten" 2 6 , i n dessen Mittelpunkt der eine Gedanke stand: Die rationale Verstandestätigkeit ist unfähig, das Leben zu begreifen. „Der Verstand, das System, der Begriff töten, indem sie ,erkennen' .. , 2 7 ." I n seinem bekanntesten Buch, „Der Untergang des Abendlandes", setzte er an ihre Stelle die Analogie, die nach seiner Auffassung das geeignete Mittel ist, „lebendige Formen zu verstehen" 28 . M i t ihrer Hilfe entwickelte er eine weitschweifige, schillernde Geschichtstheorie, die die Entstehung, das Wachsen und den Untergang der großen Kulturen als einen immer wiederkehrenden Prozeß des Alterns interpretierte. Von einer Wissenschaftlichkeit i m herkömmlichen Sinne war diese organisch-biologische Konstruktion weit entfernt, wie Sprengler selbst wiederholt betonte. Seine Einsichten gründeten sich auf ein intuitives Schauen und Fühlen, das aber auch mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit i m Sinne von Wahrheit versehen wurde, weil es, viel mehr als die Kategorien von Ursache und Wirkung, der lebendigen Geschichte angepaßt sei 29 . Die lebensphilosophischen Gedankengänge Spenglers waren gegenüber denen seiner Vorgänger von einem deutlichen Niveauverlust gekennzeichnet, was zur weiten Verbreitung seines Werkes beigetragen haben dürfte 3 0 . Sie förderten die Feindschaft gegen den „Intellektualismus", ließen die rationale Auseinandersetzung zurücktreten und schmälerten den Wert wissenschaftlicher Redlichkeit. Einen tiefen Eindruck bei den Zeitgenossen hinterließen auch die Lehren L u d w i g Klages', die eine noch entschiedenere, radikale Verwerfung der Vernunft beinhalteten: Der „Geist", die bohrende, zersetzende Tätigkeit des Verstandes zerstörte die ursprüngliche Einheit von Leib und Seele und trenne so das menschliche Dasein ab „vom Rhythmus des kosmischen Lebens" 31 . Vergebens mühe sich der Verstand ab, die Wirklichkeit zu erfassen; seine Begriffe und Urteile bildeten eine Scheinwelt abseits des wahren Lebens. Klages nannte den Drang nach Wissen die Wurzel des Übels und machte dabei keinen Unterschied zwischen primitiver Neugierde und wissenschaftlichem Forschergeist. Nur eine vom Geist ungestörte Seele könne die Erscheinungen des Lebens „schauen", die Klages als Mythen und Ursymbole beschrieb 32 . 26 Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 49; vgl. zu Spengler auch Lübbe, Politische Philosophie, S. 209 f. 27 Der Untergang des Abendlandes, 1. Bd., S. 136. 28 Ebd., S. 4. 2 ö Vgl. ebd., S. V I I I . 30 Vgl. Lukacs, Von Nietzsche zu Hitler, S. 151. 31 V o m kosmogonischen Eros, S. 63. A m eindringlichsten i n seinem H a u p t w e r k „Der Geist als Widersacher der Seele" (3 Bde., 1929 - 32).
I I I . Der Popularisierungs- u n d Politisierungsprozeß
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Die Lebensphilosophie Klages' bediente sich einer schärferen Tonart gegenüber dem rationalistischen Geist des 19. Jahrhunderts, war aber noch frei von unmittelbar politischen, aktivistischen Elementen. Die Wendung ins Politische 33 vollzogen seine Nochfolger, unter denen sich i n dieser Hinsicht Ernst Jünger hervortat. Ausgangspunkt und ständig wiederkehrender Bezugspunkt seiner lebensphilosophisch untergründeten Anschauungen war das Erlebnis des 1. Weltkrieges. I n zahlreichen Schilderungen glorifizierte er die Schrecken des Krieges 34 . Der Krieg habe das Elementare sichtbar werden lassen und einen neuen, stahlharten Menschenschlag geboren, das Geschlecht der Frontsoldaten, das der toten Welt des u m „Sekurität" besorgten Bürgers m i t unerbittlicher Feindschaft gegenüberstehe 35 . Jünger führte damit Gedanken aus, die i n Ansätzen bereits i n der Kriegspropaganda auf deutscher Seite vorhanden gewesen waren: Der Krieg w a r als ein Kampf deutschen Heldentums gegen angelsächsischen Krämergeist bezeichnet worden. Für die ideologische Untermauerung hatten zahlreiche deutsche Professoren m i t den „Ideen von 1914" gesorgt 36 . Darin war das gegnerische Eintreten für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte als Betrug dargestellt. A l l e i n deutscher Geist verbürge die wahre Freiheit, die nur durch Uberwindung der formalen und abstrakten Ideen der französischen Revolution zu erlangen sei. I n der freiwilligen Unterordnung, i m Dienst am Volk finde der Mensch zu sich selbst und werde so wahrhaft frei. Die Gegnerschaft des Krieges übertrug Jünger auf das liberale bürgerliche System von Weimar, das nach seiner Ansicht nur einen letzten Ausläufer der Geisteswelt des 19. Jahrhunderts bildete. Das Gegenbild zum Bürger, den Typ des Frontsoldaten, formte Jünger später zur „Gestalt" des Arbeiters um. I n dieser Gestalt verwirkliche sich das Leben, von dem das Bürgertum abgeschlossen sei. Sie entspricht nach Jüngers Darstellung einer elementaren Kategorie, die dem Werdegang der Geschichte entzogen ist. „Eine Gestalt ist, und keine Entwicklung vermehrt oder vermindert sie 37 ." Das Sehen von Gestalten beschrieb Jünger als einen „revolutionären A k t " , in dem „ein Sein in der ganzen und einheitlichen Fülle seines Lebens" erkennbar werde; „es ist die große Überlegenheit dieses Vorgangs, daß er sich jenseits sowohl 33 Vgl. dazu Marcuse , Der K a m p f gegen den Liberalismus, S. 18 f. 34 A m meisten w u r d e n gelesen: „ I n Stahlgewittern" u n d „Das Wäldchen 125". 35 Vgl. Der Arbeiter, V o r w o r t u n d S. 53 ff. 36 Vgl. dazu Bleuel, Deutschlands Bekenner, S. 77 ff.; Lübbe, Politische Philosophie, S. 173 ff.; v.Krockow, Die Entscheidung, S. 38 ff. 37 Der Arbeiter, S. 79.
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2. Kap.: Der irrationale Zeitgeist
der moralischen und ästhetischen, als auch der wissenschaftlichen Geltung vollzieht" 3 8 . Inhaltlich beschrieb Jünger die Gestalt des Arbeiters als eine Seinsweise, i n der der Mensch sich i n soldatischem Einsatz für die Ziele der nationalen Gemeinschaft aufopfert 39 . Darin wirkte ein Gemeinschaftsdenken fort, das seinen Ursprung ebenfalls i m Kriegserlebnis hatte. Die nationalistische lebensphilosophische Literatur verstand darunter einmal die allgemeine Kriegsbegeisterung des deutschen Volkes im Jahre 1914, aber mehr noch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Frontsoldaten im Stellungskrieg, das auch den militärischen Vorgesetzten mit einschloß, dem man i m Dienste der Sache aller unbedingten Gehorsam zu leisten hatte. Dieses Gemeinschaftserlebnis der Front, i n dem die Klassengegensätze angeblich überwunden waren, war die Keimzelle für einen neuen Nationalismus, der die Kriegskameradschaft als Modellfall für eine zu schaffende „Volksgemeinschaft" nahm 4 0 . Der Weg dahin sollte über den revolutionären Umsturz des Weimarer Systems und die Bildung eines „autoritären" Staates führen. Den ideengeschichtlichen Hintergrund faßt Sontheimer i n den Worten zusammen: „Indem man nun dieses Kriegserlebnis zum Ausgangspunkt einer neuen Welt- und Lebensanschauung erhob, verband man die von der vulgärphilosophischen irrationalistischen Strömung zu Ehren gebrachte Kategorie des Erlebens mit einem politischen Willen 4 1 ." Die fortschreitende Vulgarisierung der Lebensphilosophie i n den zwanziger Jahren zeigte sich i m Verfall der herkömmlichen Wissenschaftstheorie. Das positivistische Wissenschaftsideal sah sich heftigen Angriffen ausgesetzt, die von der Seite des jungen Nationalismus m i t besonderer Schärfe geführt wurden. Die Voraussetzungslosigkeit der positivistischen Wissenschaft wurde als Täuschung „entlarvt". Dahinter verberge sich das Sicherheitsstreben der bürgerlich-liberalen Epoche des 19. Jahrhunderts, das sich an sichtbaren und berechenbaren Größen orientierte 4 2 . 38 Ebd., S. 39. 39 Vgl. E.Jünger, a.a.O., S.71: „Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, daß er geopfert w i r d , u n d die höchste Befehlskunst, Ziele zu zeigen, die des Opfers w ü r d i g sind." Vgl. zur Gestalt des Arbeiters auch Spengler, Preußentum u n d Sozialismus, S. 10. 40 Einem Hinweis von Prof. Naucke entnehme ich, daß aus dem Gemeinschaftserlebnis der Front die Garantenstellung aus enger Lebensgemeinschaft i m Bereich der unechten Unterlassungsdelikte entwickelt w u r d e (vgl. R G 69, 323). Diese Tatsache illustriert die Bedeutung des Gemeinschaftsgedankens i m politischen u n d rechtlichen Leben der zwanziger u n d dreißiger Jahre. 41 Antidemokratisches Denken, S. 115; vgl. auch zum politischen Gehalt der Lebensphilosophie: Kolnai, ZStaatW 94, S. 1 ff. 42 Vgl. z. B. Krieck, Wissenschaft Weltanschauung Hochschulreform; Nationalpolitische Erziehung, S. 1 ff. („Politische Wissenschaft") ; Rein, Die Idee der politischen Universität, S. 21 ff.
I I I . Der Popularisierungs- und Politisierungsprozeß
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Ablehnend standen die Vertreter der „politischen Wissenschaft" aber i n gleichem Maße dem Neukantianismus gegenüber, der, insbesondere i n der Ausgestaltung durch die südwestdeutsche Schule (Windelband, Rikkert), dem Positivismus seinen Herrschaftsanspruch streitig gemacht hatte. Gerügt wurde am wertbeziehenden Verfahren des Neukantianismus, daß es über einen schwächlichen Relativismus nicht hinausgelange und daß es sich einer „ausschließlich analytisch verfahrenden Methodik" bediene 43 . A n die Stelle rationaler Begrifflichkeit wurde eine lebensphilosophische, ganzheitliche Betrachtungsweise gesetzt, die sich nicht scheute, i m Gewand der Wissenschaftlichkeit aufzutreten. So berief sich ζ. B. der politische Publizist Stapel ausdrücklich auf die Phänomenologie, die „WesensWissenschaft", bei seinen Betrachtungen über den Zentralbegriff seiner politischen Lehren, das Volk: „Der notwendige Volkswille w i r d von innen bestimmt: durch die Wesensart des Volkes. Dieser Volkswille offenbart sich nicht durch Wahlen, sondern durch Prophetie, d. h. durch Erfüllung und Erkenntnis des schicksalhaft Notwendigen, die genialen Persönlichkeiten zuteil w i r d 4 4 . " Auf eine Weise, die i m übrigen den phänomenologischen Grundsätzen E. Husserls Hohn sprach, verschaffte er seiner persönlichen Stellungnahme für das Führertum den Glanz wissenschaftlicher Autorität. Daß die durch intuitive Wesensschau gewonnenen Erkenntnisse weltanschaulich bedingt waren, tat dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit keinen Abbruch; denn das A x i o m der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft war ja verworfen worden. Das weltanschauliche Bekenntnis wurde m i t dem Anspruch auf absolute Gültigkeit zum Fundament wissenschaftlicher Aussagen. Das Vordringen des Irrationalismus und diese Öffnung gegenüber der Weltanschauung waren entscheidende Voraussetzungen dafür, daß sich die Wissenschaft dem Primat des Politischen unterordnete, daß es zu einer „Politischen Strafrechtswissenschaft" 45 kommen konnte.
43 Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 17 A n m . 12 a; vgl. dazu ausführlich unten 3. Kap. I I I . 3., 5. Kap. I 3., 5. Kap. V. 1. 44 V o l k u n d Volkstum, S. 82. 45 So das Thema von S chaff steins Antrittsvorlesung i n Leipzig 1934; näheres zum Wissenschaftsverständnis der antiliberalen Strafrechtswissenschaft unten 5. Kap. I. 3.
3. Kapitel
Das neue Staatsverständnis als Ausgangspunkt der strafrechtswissenschaftlichen Gegenbewegung zum Liberalismus Nachdem das Angriffsziel und die geistige Basis der antiliberalen Bewegung i n der Strafrechtswissenschaft umrissen sind, kann der eigentliche Untersuchungsgegenstand i n Augenschein genommen werden. Die folgende Betrachtung der Staatstheorie der antiliberalen Strafrechtswissenschaft nimmt bereits eine Kernfrage i n Angriff, nämlich die nach den Ansatzpunkten der antiliberalen K r i t i k . M i t ihrer Auffassung vom Staat glaubten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler den festen Punkt gefunden zu haben, von dem aus sie die herrschenden strafrechtlichen Lehren aus den Angeln heben könnten und der dem künftigen Strafrecht als Richtpunkt dienen könnte. Man erwartet daher, daß sie ihre K r i t i k und ihre Vorschläge durch intensive kritische Analysen der liberalen Staatstheorie und ebenso sorgfältige und umfassende Begründungen für die eigene Staatsauffassung absicherten. Diese Erwartung w i r d jedoch enttäuscht. Die Einwände gegen den liberalen Staat liefen auf eine pauschale Verurteilung hinaus. Das hatte folgende Gründe: I n der Strafrechtswissenschaft entfaltete sich der Antiliberalismus relativ spät. Vorkämpferin war die Staatsrechtswissenschaft gewesen. Schon zu Beginn der zwanziger Jahre war i n ihr antiliberales Gedankengut zum Durchbruch gelangt und hatte i n der Folgezeit stark u m sich gegriffen 1 . Erst gegen Ende der zwanziger Jahre folgte die Strafrechtswissenschaft nach 2 . Sie konnte vom Stand der Meinungen i n der Staatsrechtslehre ausgehen. Sie beschäftigte sich daher nicht so ausführlich m i t der liberalen Staatstheorie, sondern widmete sich mehr der kritichen Betrachtung der herrschenden strafrechtlichen Lehren und der Umsetzung antiliberaler Auffassungen i n das Strafrecht 3 . Die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler erstrebten eine revolutionäre Erneuerung des Strafrechts 4 . Wer aber entschlossen ist, Uber1 Vgl. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 79 ff. 2 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht? (1933), S. 4, zählten das Strafrecht zu den Bereichen, i n denen die Auseinandersetzung u m Rationalismus u n d Individualismus „eben erst" begonnen habe. 3 Vgl. Krüger, ZStW 54, S. 591.
I. Die K r i t i k am Liberalismus
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kommenes umzustoßen, zurückzulassen und an neue Ufer zu gelangen, dem genügt es, daß er eine Erscheinung als historisch bedingt zu erkennen glaubt, u m sie abzulehnen. Die Gegner des Liberalismus kritisierten an i h m die Verknüpfung m i t dem Rationalismus. Sie selbst ließen das Pendel weit zur Gegenseite ausschwingen: Nicht die wissenschaftliche Erkenntnis, sondern das weltanschauliche Bekenntnis machten sie zur Grundlage ihrer Angriffe 5 . I n einer mit rationalen Argumenten geführten Auseinandersetzung hätten sie ihren Standpunkt nicht genügend zur Geltung bringen können. Die zerrütteten politischen Verhältnisse i n der Weimarer Republik am Ende der zwanziger Jahre und zu Beginn der dreißiger Jahre schienen eine gründliche wissenschaftliche Auseinandersetzung m i t dem Liberalismus überflüssig zu machen. Wegen der offenkundigen Schwäche des „liberalen Systems" und dem ständigen Zuwachs der nationalistischen Bewegungen durfte derjenige schon m i t Zustimmung rechnen, der bei der Ablehnung einer konträren Meinung allein auf deren Abhängigkeit von einer liberalen Grundhaltung hinwies. Dem Versuch, die Einwände der Gegner des Liberalismus i n der Strafrechtswissenschaft darzustellen, kann also nur ein bescheidenes Ziel gesetzt werden. Ein Katalog rationaler Argumente darf nicht erwartet werden, bestenfalls eine Sammlung einiger Topoi antiliberalen Denkens 6 . I. Die Kritik der antiliberalen Strafrechtswissenschaft am Liberalismus 1. Entartung des Freiheitsgedankens
„Der Liberalismus ist eine Entartung des Freiheitsgedankens 7 ." Dieser einleitende Satz i n H. Langes Schrift „Liberalismus, Nationalsozialismus und Bürgerliches Recht" gibt auch den Grundtenor der K r i t i k am Liberalismus i n der Strafrechtswissenschaft wieder. Die antiliberalen Strafrechtler wandten gegen die liberale Staatsauffassung ein, daß 4 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 54 f.; s. auch Mittermaier, SchwZStR 1934, S. 321. 5 I m „ K a m p f zwischen V e r n u n f t u n d Glauben" mußte nach Ansicht von Dahm u n d Schaffstein der Glaube den Sieg davontragen (Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 3). 6 Eine Zusammenfassung der „Argumente" gegen den Liberalismus gibt Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18 ff. Umfang u n d I n h a l t sind bezeichnend f ü r die antiliberale Argumentationsweise: A u f n u r 2 V2 Seiter w i r d der Liberalismus i n Bausch u n d Bogen verdammt. 7 RuS H. 102, S. 1.
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3. Kap.: Das neue Staatsverständnis
sie ihr wesentliches Ziel darin erblicke, „eine staatsfreie Sphäre zu schaffen", die der „völligen Willkürherrschaft des Einzelindividuums" 8 vorbehalten bleibe. Die Freiheit werde zum Selbstzweck 9 . Sie warnten vor dem Chaos als letzter Konsequenz dieser Anschauung 10 . Der Liberalismus kenne „keine Grenzen der maßlosen Individualisierung" 1 1 . Sie bekämpften die liberale Ansicht, daß alle bewegende, schöpferische K r a f t vom Menschen als Einzelwesen ihren Ausgang nehme. Der Liberalismus verkenne, daß die menschliche Lebensenergie aus überindividuellen Quellen gespeist werde, aus Ordnungen, denen der Mensch von Natur aus angehöre. Auf Grund seiner rationalistischen Denkweise sei der Liberale unfähig, derartige „Samtschaften" 12 zu erkennen; er sehe nur die Elemente, die Individuen. Er habe kein Verständnis für die innere Bindung des Menschen an die „gewachsenen Lebenseinheiten" 12 wie Familie, Sippe, Volk, für die gegenseitige Treue, die die Glieder einer solchen Einheit miteinander verbinde, und für die Verantwortung, die der einzelne der übergeordneten Ganzheit schulde. Das Werk des Liberalismus sei es gewesen, daß sich das einheitliche Volksbewußtsein i n eine „relativistische Vielheit sittlicher Anschauungen" aufgelöst habe 13 . 2. Entleerung des Staatsbegriffs
Die Unfähigkeit liberalen Denkens, irrationale Gegebenheiten zu verstehen, habe dazu geführt, daß an die Stelle der Gemeinschaft eine Gesellschaft getreten sei, i n der die einzelnen Glieder unverbunden nebeneinander stünden 14 . Zugleich sei dem Staat die Funktion, Ausdruck der Gemeinschaft zu sein, genommen und die Aufgabe zugewiesen worden, die gesellschaftlichen Vorgänge zu überwachen. Der liberale Staat sei ein Gebilde „ohne Ehre und Würde" 1 5 . I h m fehle die lenkende Kraft übergeordneter, allgemeingültiger Werte 1 6 . Der Liberalismus verweise den Menschen auf sich selbst und seine persönlichen Vorteile. Er bevorzuge das „berechnend kluge Individuum, das sich i n seinem eigensüchtigen Streben keiner inneren Bindung an die Gemeinschaft u n t e r w i r f t " 1 7 . 8 Berges, DStR 1934, S. 240. 9 Vgl. Finke, L i b . und Strafverfahrensrecht, S. 18; Siegert, Grundzüge, S. 4. 10 Vgl. Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 37; Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18. n Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18. 12 Ebd., S. 18. 13 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 60. 14 Vgl. Freisler, D J 1935, S. 1248 f.; Dahm, Deutsches Recht (1944), S. 180. is Forsthoff, Der totale Staat, S. 13. 16 Henkel, Strafrichter und Gesetz, S. 60.
I. Die K r i t i k am Liberalismus
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Der Liberalismus fördere das Gewinnstreben der bürgerlichen Klasse. Da sein System dem wirtschaftlich Mächtigen erlaube, von seiner Macht ungehindert Gebrauch zu machen, sei es nicht i n der Lage, die Spaltung des Volkes durch Klassengegensätze zu überwinden. Uberhaupt sei i n den sozialen Problemen vom liberalen Standpunkt der Interessengegensätzlichkeit aus kein Fortschritt zu erzielen 18 . Aus der Trennung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft sowie von Staat und Individuum resultiere die liberale Lehre vom Staat als juristischer Person 19 . Sie gehe davon aus, daß eine ursprüngliche, autonome Individualsphäre bestehe, die der Staat wie eine rechtlich gebundene Person zu respektieren habe. Zum Schutz des Individuums werde für staatliche Eingriffe eine ausdrückliche Rechtfertigung durch ein Gesetz verlangt. 3. Wider die parlamentarische Demokratie
Als vollendete Ausdrucksform des Liberalismus i m Bereich der politischen Willensbildung betrachteten die Vertreter des stafrechtlichen Antiliberalismus die parlamentarische Demokratie. Bei der Bewertung dieser Staatskonstruktion ließen sie sich von der gegenteiligen Vorstellung eines autoritären Machtstaates leiten. Sie behaupteten, daß i n einem pluralistischen Parteienstaat eine „einheitliche Willensbildung" nicht möglich sei 20 . Es war ihnen zuwider, daß „der blasse, relativistische und neutrale Staat unter dem Einfluß wechselnder Massenstimmungen und Parteiverbindungen immer wieder Gestalt und Farbe wechselt" 21 . Die Abhängigkeit vom schwankenden Wählerwillen bewirke „Verantwortungslosigkeit und Autoritätslosigkeit" 2 2 . Da das Prinzip der Demokratie — Regierung der Regierten — nicht vollständig durchzuführen sei, übernehme die unpersönliche Gesetzesnorm die Herrschaft 23 . Darin vollende sich die „Entwesung" 2 4 des i? Ebd., S. 57; Henkel kennzeichnet das Menschenbild des Liberalismus als „personifizierten Egoismus". ι» Vgl. Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18 f. ι» Vgl. Schaff stein, D J Z 1934, Sp. 1176 f. I n der Staatsrechtswissenschaft wurde der Begriff der juristischen Staatsperson vor allem von Höhn bekämpft, vgl. D R 1934, S. 322 ff.; D R 1935, S. 266; Rechtsgemeinschaft u n d Volksgemeinschaft, S. 11 ff., 53 ff. 20 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 36 f. Dahm/ S chaff st ein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 38. 22 Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 19, 48; vgl. auch Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 36 f. 23 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 48 f.; Koellreutter, RuS H. 101, S. 15 f. 24 Berges, DStR 1934, S. 240.
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3. Kap.: Das neue Staatsverständnis
Staates zum „bürokratischen Apparaturstaat" 2 5 , der das persönliche Moment vollständig ausschließe. Die Herrschaft der Norm gewährleiste ein hohes Maß an Berechenbarkeit, das der geschickte und skrupellose egoistische Mensch benötige, um seine Freiheit ohne Rücksich auf die Belange anderer oder auf übergeordnete Belange zum eigenen Vorteil auszunutzen. Beweis dafür seien die zahlreichen Skandale der Weimarer Zeit 2 6 . Jener Staat von Weimar verkörpere die „Verfallsform des bürgerlichen Rechtsstaats" 27 . Unter Anknüpfung an die politischen Grundgedanken des 19. Jahrhunderts lege er lediglich das Verfahren zur Gewinnung und Ausübung der politischen Macht fest. Deren Rechtmäßigkeit hänge allein von der Einhaltung formaler Vorschriften ab. Da diesem Staat die richtungsweisende Mitte fehle, habe er auch keine materiellen Rechtswerte aufzuweisen 28 . 4. Der „undeutsche" Liberalismus
Neben der K r i t i k an den theoretischen Voraussetzungen und an den praktischen Konsequenzen des Liberalismus führten seine Gegner an, daß er „undeutsch" sei 29 : „Er ist unserer eigenen deutschen A r t , die Welt anzuschauen, entgegengesetzt und widerwärtig 3 0 ." Dem deutschen Menschen sei die innere Bindung an Gemeinschaften, insbesondere an die des Volkes, selbstverständlich. Das westliche System der liberalen parlamentarischen Demokratie werde daher i n Deutschland nie vollständig und endgültig Fuß fassen können. II. Grundzüge des antiliberalen Staatsverständnisses31 1. Das Menschenbild
Wie sollte der Liberalismus überwunden werden? Da er nach antiliberaler Ansicht deutschem Geist fremd war, sollte eine Besinnung auf 25 Forsthoff, Der totale Staat, S. 11; vgl. auch Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 174. 26 Forsthoff, Der totale Staat, S. 26. 27 Ebd., S. 20. 28 Vgl. ebd., S. 26 ff.; v.Weber, D J Z 1933, Sp. 864; insgesamt dazu: C. Schmitt, Legalität u n d Legitimität. 29 Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18; vgl. Forsthoff, Der totale Staat, S. 24; Nicolai, Grundlagen, S. 14. 30 Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18. 31 Es werden hier nur die Grundzüge dargestellt, w e ü die Verquickung strafrechtlicher u n d staatstheoretischer Auffassungen i m Laufe der weiteren Untersuchimg i m m e r wieder zur Erörterung der antiliberalen Staatstheorie
I I . Grundzüge des antiliberalen Staatsverständnisses
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das Wesen des deutschen Menschen zum Ziel führen. Als den „realen deutschen Menschentypus der Gegenwart" stellten die antiliberalen Strafrechtler den „gemeinschaftsgebundenen, durch Dienst am Volksganzen innerlich verpflichteten Menschen" heraus 32 . Egoistisches Streben nach persönlichen Vorteilen und das Verlangen nach Berechenbarkeit staatlicher Eingriffe lägen i h m fern. Dieser „politische Soldat" 3 3 gebe sich ganz dem Dienst an der Gemeinschaft hin 3 4 . Er existiere somit nicht als Individualität für sich, sondern als gebundenes Glied übergeordneter Gemeinschaften, unter denen die höchste das Volk sei 35 . Die Bindungen seien nicht ein Ergebnis individueller Einsicht; sie beruhten auf natürlichen Gegebenheiten 36 . Vor dem einzelnen ist also das Volk da; der einzelne ist lediglich „Material" 3 7 . Das antiliberale Denken i n Ganzheiten sah i m Volk mehr als die Summe der Individuen: Das Individuum sei von vornherein Volksgenosse; das Wesen des Volkes liege i n der Gemeinschaft 38 . Es zeige sich i n einer Gleichartigkeit des Fühlens und des Denkens. Dem einzelnen eröffne sich das Gemeinschaftserlebnis als eine existenzielle Erfahrung. Das Vorhandensein einer echten Volksgemeinschaft habe sich „schlaglichtartig" i m Erlebnis des ersten Weltkrieges gezeigt 39 . Zur Untermauerung ihres Standpunktes verwiesen die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler auf die gemeinsame geschichtliche Vergangenheit, auf die Verbindung durch einen gemeinsamen Lebensraum und auf die blutsmäßige Gleichartigkeit der Volksglieder („Blut und Boden") 40 . Unter der Herrschaft der nationalsozialistischen Rassendoktrin rückte später der letztgenannte Gesichtspunkt i n den Vorder-
nötigt. Vgl. zum folgenden Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 101 ff., dessen Darstellung jedoch vorwiegend auf das Staats- u n d Rechts Verständnis der nationalsozialistischen Machthaber abstellt. 32 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 65. 33 Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 130. 34 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 67. 35 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 109. 36 Vgl. Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 18; Röhrborn, Der autoritäre Staat, S. 18, spricht von „Ursprungskollektivität" ; Specht, Der Strafzweck, S. 27: „Das V o l k ist die natürliche überindividuelle Gemeinschaft." 37 Finke, L i b . und Strafverfahrensrecht, S. 20; Gerland, D J Z 1933, Sp. 860: „ V o r der Gemeinschaft bedeutet der einzelne n u r soviel, als er für sie bedeutet." 38 Vgl. Dahm, DR 1934, S.417; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 109. 39 Specht, Der Strafzweck, S. 26; vgl. auch Höhn, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung 1937, S. 152. 40 Vgl. Siegert, Grundzüge, S. 8 f.; Forsthoff, Der totale Staat, S. 38.
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3. Kap.: Das neue Staatsverständnis
grund: „Volk und Volkstum bezeichnen . . . eine Einheit der Rasse und eben deshalb auch eine Gemeinschaft des Geistes 41 ." Der „heroisch-völkische Realismus" 42 erhob den Anspruch, von der tatsächlichen Geisteslage i m deutschen Volk auszugehen. I n der historischen Wirklichkeit hatte nun aber die „geistige Überfremdung" 4 3 deutlich sichtbar Einfluß genommen. Der „reale deutsche Menschentypus" 4 4 war gerade nicht stets real gewesen. Die antiliberalen Strafrechtlicher befreiten sich aus dem Dilemma, indem sie „Wirklichkeit" nicht als empirische Wirklichkeit auffaßten 45 . Das zeigt auch der häufige Gebrauch der Attribute „wahr", „echt" oder „gesund" i m Zusammenhang mit Begriffen wie „Volksgemeinschaft" oder „Volksanschauung". So wurde eine bestimmte Organisationsform des Volkes oder eine bestimmte Geisteshaltung als dem deutschen Wesen gemäß herausgehoben und für maßgeblich erklärt. Sie müßten i m politischen Leben durchgesetzt werden. Wo die Bereitschaft zur Unterordnung unter die Gemeinschaftsbelange fehle, müsse mit Härte durchgegriffen werden 4 6 Der darin liegende Widerspruch zur angeblich wirklichkeitsbezogenen Denkweise trat i n einer Formulierung Henkels offen zutage: „Die nationalsozialistische Bewegung hat den volksverbundenen, aus freien Stücken zu Hingabe und Opfer bereiten Menschen als deutschen Menschentypus geschaffen 46 ." Dieser Widerspruch w i r d uns i m folgenden noch häufig beschäftigen. 2. Der Staat als Lebensform des Volkes
Die Gemeinschaft des Volkes beruht nach Auffassung der A n t i liberalen auf dem inneren Gefühl der Zusammengehörigkeit. Zur Wirksamkeit nach außen bedürfe es einer bestimmten politischen Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf recht, S. 7 ; vgl. auch Höhn, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung 1937, S. 169. 42 Marcuse, Der K a m p f gegen den Liberalismus, S. 17. 43 Larenz, RuS H. 109, S. 3. 44 Henkel Strafrichter u n d Gesetz, S. 65. 45 Vgl. z.B. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S.85, der „empirische" u n d „sinnvolle" W i r k l i c h k e i t unterscheidet. Hier besteht ein Zusammenhang m i t Hegelschem Denken. Auch Hegel versteht „ W i r k l i c h k e i t " nicht als empirische Wirklichkeit. E r unterscheidet mehrere Stufen des Seins, unter denen die W i r k l i c h k e i t eine der höchsten ist. E r definiert sie als „Einheit des Wesens u n d der Existenz; i n i h r hat das gestaltlose Wesen u n d die haltlose Erscheinung; — oder das bestimmungslose Bestehen u n d die bestandslose Mannigfaltigkeit ihre Wahrheit" (Wissenschaft der Logik, T e i l 1, S. 662). Vgl. dazu Bloch, Naturrecht, S. 150 f. Über den Einfluß Hegelscher Philosophie auf die antiliberale Strafrechtswissenschaft vgl. unten 5. Kap. V I I . 3. 46 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz,, S. 65. Vgl. zu diesem „tendenziösen Wirklichkeitsbegriff" Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 296.
I I . Grundzüge des antiliberalen Staatsverständnisses
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Gestalt, der des Staates. Damit wurde auch der Staat als natürliche Gegebenheit oder zumindest als Konsequenz natürlicher Voraussetzungen erklärt 4 7 . I m Staat verwirkliche sich die Gemeinschaft des Volkes. Staat und Volk bildeten eine Einheit: „Der deutsche Staat ist nicht nur äußerliche Zutat zum lebendigen Volkstum, sondern die der Lebenswirklichkeit unseres völkischen Daseins entsprechende Gestalt 48 ." Klare Angaben über die politischen Ziele eines derartigen „Volksstaates" 49 ließen sich dem nicht entnehmen. Die Antiliberalen bedienten sich hier verschwommener Wendungen: Der Zweck des Staates liege i n der „Zusammenfassung und Förderung der Volkskräfte" 5 0 ; der neue Staat ziele auf die Verwirklichung seines „totalen Lebensgesetzes" 51 . Die Ausfüllung dieser Leerformeln 5 2 blieb den politischen Instanzen, d. h. der nationalsozialistischen Führungsschicht überlassen, deren rassistische Doktrin sich dabei voll entfalten konnte. a) Die Neubestimmung des Freiheitsbegriffs Die Vertreter des Antiliberalismus bezeichneten ihre Staatsauffassung als „universalistisch und idealistisch" 53 . Nicht der freiwillige Zusammenschluß einzelner zur Förderung des individuellen Wohls bilde die Grundlage des Staates. Maßgebend sei die „Einsicht, . . . daß das gesamte Sein des einzelnen nur gegeben ist mit dem Sein des Staates und der Rechtsordnung" 54 . Der Staat schaffe die Ordnung, die es dem einzelnen erst ermögliche zu leben 55 . Es könne daher keine Freiheit vom Staat geben; Freiheit — rechtverstanden — bedeute zugleich Gebundenheit 56 . Da sich das Wesen der menschlichen Persön47 Vgl. Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 21; Kriech, Der Staat des deutschen Menschen, S. 60. 48 Dahm, ZStaatW 95, S. 304; ähnliche Formulierungen bei Schaff stein, DStR 1934, S. 280; E.Wolf, RuS H. 103, S. 33; Siegert, Grundzüge, S. 9; Koellreutter, Der deutsche Führerstaat, S. 11; Thalheimer, Der F ü h r e r gedanke, S. 5. 4» Binder, RuS H. 110, „Der deutsche Volksstaat". so Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 47. 51 Forsthoff, Der totale Staat, S. 43; vgl. auch Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 52. 52 Vgl. Larenz, RuS H. 109, S. 7: Es gehe i n erster L i n i e u m den „Bestand der Gemeinschaft u m ihrer selbst w i l l e n " . 53 Finke, Lib. und Strafverfahrensrecht, S. 21; vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 46 („transpersonalistisch"). 54 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 47. 55 Vgl. ebd., S. 47 u n d Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 21. 56 Vgl. Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 22; Gerland, D J Z 1933, Sp. 860 („Korrelatidee zu der Leistung des einzelnen gegenüber dem Ganzen"); Koellreutter, Staatslehre, S. 101; ders., RuS H. 101, S.31.
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3. Kap.: Das neue Staatsverständnis
lichkeit erst i n der Hingabe an die Gemeinschaft entfalte, könne der individualistische Freiheitsbegriff keine Gültigkeit mehr haben. Henkel definierte „Freiheit" neu als „persönlicher Handlungsspielraum innerhalb der Bindung an das Volksganze" 57 . b) Der „konkrete"
Gleichheitsbegriff
Zugleich mit dem liberalen Postulat der Freiheit wurde i n der neuen Staatstheorie auch das der Gleichheit modifiziert und i m Ergebnis pervertiert. Wie den Freiheitsbegriff unterwarf man auch den liberalen Gleichheitsbegriff einer Fragestellung, die seiner Tradition völlig konträr war: Geprüft wurde, inwieweit er mit den Prinzipien und Anforderungen des völkischen Staates vereinbar sei. Gegen die liberale Gleichheitsidee wurde i m einzelnen vorgebracht 58 : Das Volk bestehe nicht aus einer gleichförmigen Masse unabhängig voneinander existierender Individuen. Es setze sich aus vielen natürlich gewachsenen Gemeinschaften wie Familie, berufliche Gruppe, militärischer Verband zusammen und bilde selbst wiederum eine Gemeinschaft. Dem Charakter der Gemeinschaft widerspreche es, wenn sich der einzelne unter Berufung auf das Postulat absoluter Gleichheit seiner besonderen Verantwortung entziehen könne, die aus seiner konkreten Stellung innerhalb der Gemeinschaft resultiere. Die ständische Gliederung des Staates 59 müsse sich auch i n der Rechtsordnung niederschlagen; das Recht habe auf die Besonderheiten der vielen Gemeinschaften innerhalb des Volksganzen Rücksicht zu nehmen und müsse ihnen durch eine konkrete Erfassung gerecht werden. — Nach Höhn sollte der abstrakte liberale Gleichheitsbegriff durch das „Prinzip der konkreten Gleichheit der Volksgenossen" ersetzt werden 5 8 . Diese Umschreibung der Gleichheit hielt nur noch am Wort fest. I n ihr verflüchtigte sich das liberale Postulat zu dem romantischen B i l d einer organischen Eingliederung des einzelnen i n den Volkskörper, das die geeignete Form für handfeste politische Inhalte abgab; denn es ermöglichte die Beseitigung aller formalen Schranken, die ein Mindestmaß an Gleichheit jedenfalls i m Rahmen des Rechts gewährleisten. 3. Die Staatsform Die Form des neuen Staates sollte den „Grundlagen des Volkslebens" entsprechen 60 ; i n einem kraftvollen Staat sollte der Gedanke der Einheit 57 Strafrichter u n d Gesetz, S. 66. Vgl. zum folgenden Höhn, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung 1937, S. 158; Larenz, RuS H. 109, S. 39. 59 Vgl. E. Wolf, RuS H. 103, S. 33. 58
I I . Grundzüge des antiliberalen Staatsverständnisses
65
und Gemeinschaft sichtbar zum Ausdruck kommen. Damit wurde der Gemeinschaftsgedanke zugleich i n Grenzen verwiesen. Eine unmittelbare Beteiligung des Volkes an den politischen Entscheidungsprozessen wie i n der liberalen parlamentarischen Demokratie kam nicht i n Betracht. „Unser Volk ist von jeher kraftvoll gewesen, solange es geführt wurde 6 0 ." a) Das Führerprinzip Die Herrschaft der unpersönlichen Norm i m liberalen Gesetzgebungsstaat sollte durch die „persönliche Entscheidung der staatlichen Verantwortungsträger" 6 1 ersetzt werden. Es wurde eine klare Trennung von Regierung und Regierten, von „Herrschaft und V o l k " 6 2 angestrebt 63 . Die Gliederung des Volksstaates ergebe sich aus den Gesichtspunkten von Befehl und Gehorsam 64 . Die Führerschicht bedürfe keiner Bestätigung durch das V o l k 6 5 . Die Zugehörigkeit zur Herrschaftsschicht beruhe auf einem „wirklichen Anderssein" 66 . Zwischen dem Gedanken der allumfassenden Volksgemeinschaft und dem autoritären Führerprinzip bestand ein klarer Widerspruch. Die antiliberalen Sträfrechtlicher überbrückten ihn durch die Behauptung, Führer und Gefolgschaft seien innerlich miteinander verbunden 67 . Der Verantwortung, die der Führer für die Gemeinschaft trage, entspreche die Treue des Volkes. Die innere Bindung folge aus der Artgleichheit von Führer und Gefolgschaft 68 . Durch sie sei der Führer i m Volk verwurzelt. Auf Grund der inneren Verbundenheit sei sicher, daß der Führer den Interessen des Volkes nicht zuwider handeln werde 6 9 . Eine Reglementierung der staatlichen Führung durch eine äußere gesetzliche Bindung lehnten die Vertreter des Antiliberalismus ab 7 0 .
60 Siegert, Grundzüge, S. 10. 61 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 45. 62 Forsthoff, Der totale Staat, S. 30. 63 Vgl. ebd., S. 33; Horstmann, D R 1933, S. 102. 64 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 45, 49; Α. E. Günther, Widerstand 1930, S. 263 f.; Forsthoff, Der totale Staat, S.34; Horstmann, D R 1933, S. 102. 65 Vgl. Forsthoff, Der totale Staat, S. 30; Thalheimer, Der Führergedanke, S. 7. 66 Forsthoff, Der totale Staat, S. 33. 67 Vgl. Finke, Lib. u n d Strafverfahrensrecht, S. 22; Krüger, ZStW 55, S. 117. 68 Vgl. Siegert, Grundzüge, S. 10; C.Schmitt, Staat, Bewegung, V o l k , S. 32 ff.; Thalheimer, Der Führergedanke, S. 6. 69 Vgl. Larenz, RuS H. 109, S. 34. 70 Forsthoff, Der totale Staat, S. 33, vertrat die Auffassung, daß die Führungsschicht nach eigenen Gesetzen lebe. Vgl. auch Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 2; Larenz, RuS H. 109, S. 44: „ E r (der Führer) ge5 Marxen
66
3. Kap. : Das neue Staatsverständnis
b) Der Regierungsstaat Für die liberale Gewaltenteilungslehre, die bestimmt war, eine Begrenzung und Kontrolle der Staatsgewalt zu ermöglichen, war kein Platz i m „völkischen Führerstaat" 7 1 . Die Trennung von Legislative und Exekutive war m i t dem Prinzip der persönlichen Entscheidung des politischen Führers unvereinbar 7 2 . Die notwendige Konsequenz war die Vereinigung beider Gewalten i n einer Hand. C. Schmitt hatte i n seiner Staatstypenlehre den Weg des neuen Staates vorgezeichnet 73 : I m „Regierungsstaat" herrscht allein die ungebundene Entscheidung des Führers. I m Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 sah man den Ubergang zum „Regierungsstaat" vollzogen74. 4. Der staatliche Wirkungsbereich (Totaler oder autoritärer Staat?)
Die antiliberale Staatstheorie zielte auf eine Auflösung der Gegensätze von Staat und Individuum, von Staat und Gesellschaft und auf eine vollständige gegenseitige Durchdringung von Staat und Volksgemeinschaft 75 . Der staatlichen Einwirkung auf Individuum und Gesellschaft wurden keine Grenzen gesetzt 76 . Dieser „Totalisierung des staatlichen Wirkungsbereiches" 77 entsprach die vollständige Aufhebung der Privatsphäre 78 . Der Begriff eines dermaßen „totalen Staates" war jedoch i m konservativen Lager nicht unumschritten. I h m wurde der des „autoritären Staates" gegenübergestellt 79 . I m autoritären Staat sollte der Machthorcht nicht einer an i h n gerichteten Norm, sondern dem Lebensgesetz der Gemeinschaft, das i n i h m Fleisch u n d B l u t gewonnen hat." Siegert, Grundzüge, S. 9; Thalheimer, Der Führergedanke, S.5; Begriff entwickelt bei Walz, D J Z 1933, Sp. 1339 f. 72 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 45. 73 Vgl. C.Schmitt, Der H ü t e r der Verfassung, S.75f.; Legalität u n d L e g i t i m i t ä t , S. 7 ff. 74 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 54; C. Schmitt, D J Z 1933, Sp. 455; Walz, D J Z 1933, Sp. 1334 f. 7δ Vgl. Gallas, Z S t W 53, S. 26. 76 Vgl. Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S.21; C.Schmitt, Der H ü t e r der Verfassung, S. 78 f. 77 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 54. 78 Vgl. ebd., S. 52; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 113; Forsthoff, Der totale Staat, S. 42. 79 Vgl. zu der Kontroverse: Ziegler, RuS H. 90; Röhrborn, Der autoritäre Staat, S. 83 ff.; Förster, Der Einfluß der universalistischen Redits- u n d Staatsauffassung, S. 13 ff.; Koellreutter, Staatslehre, S. 64; Walz, D J Z 1933, Sp. 1338 sowie unten 4. Kap. I I I . 4. c).
I I I . Die Auffassung v o m Wesen des Rechts u n d von seinen Aufgaben
67
Zuwachs des Staates nicht zu einem unbeschränkten Wirkungsbereich führen. Der Staat sollte sich einer vollständigen Reglementierung der gesellschaftlichen Abläufe enthalten, u m die gesellschaftlichen Kräfte nicht zum Erliegen zu bringen 8 0 . Befürwortet wurde ein begrenzter Bereich einer „ständischen Selbstverwaltung i m Staat" 8 1 . Der Streit erlangte keine große praktische Bedeutung. Ein echter Gegensatz bestand nicht. Auch der totale Staat war i n seinem Aufbau autoritär 8 2 . I m übrigen erstrebten auch die Verfechter eines totalen Staates keine völlige Bürokratisierung aller Lebensbereiche 83 . Total sollte die Verantwortung des einzelnen sein: „Nicht daß der Staat bis i n die kleinsten Zellen des Volkslebens hinein Gesetze und Befehle ergehen läßt, ist wesentlich, sondern, daß er auch hier eine Verantwortung geltend machen kann, daß er den einzelnen zur Rechenschaft ziehen kann, der sein persönliches Geschick nicht dem der Nation völlig unterordnet 8 4 ." Dieser Gedanke war total und autoritär zugleich. Die Verbindung beider Elemente machte das Wesen des neuen Staates aus. I I I . Die aus dem antiliberalen Staatsverständnis hervorgegangene Auffassung vom Wesen des Rechts und von seinen Aufgaben 1. Der antiliberale „Rechtsstaat"
I m totalen und autoritären Staat ist kein Platz für Rechtsgarantien zugunsten des einzelnen Staatsbürgers. Das Verlangen nach Rechtssicherheit bedeutet dort Auflehnung gegen den „Gemeinschaftswillen". I n keiner Beziehung deckt sich dieser Staat m i t dem herkömmlichen B i l d des „Rechtsstaates", dessen Begriff i m allgemeinen Sprachgebrauch und i n der Rechtstheorie einen festen Platz hat und der schon seinem Wortsinn nach eine positive Bedeutung aufweist. Erfüllt ein Staat seine Anforderungen nicht, läuft er Gefahr, zum „Unrechtsstaat" abgestempelt zu werden. Aus diesem Grunde war die antiliberale Rechtswissenschaft genötigt, sich m i t dem Begriff des Rechtsstaates auseinanderzusetzen. Eine völlige so Vgl. Ν agier, GS 103, S . X X A n m . 39; Röhrborn, Der autoritäre Staat, S. 84 f.; H. J. Wolff, RuS H. 104, S. 43 f. 81 Förster, Der Einfluß der universalistischen Rechts- u n d Staatsauffassung, S. 16. 82 Vgl. oben 3. Kap. I I . 3. a). 83 vgl. Forsthoff, Der totale Staat, S. 34; Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 9 f. 84 Forsthoff, Der totale Staat, S. 42; vgl. auch Henkel, Sraftrichter u n d Gesetz, S. 52. 5*
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3. Kap.: Das neue Staatsverständnis
Tilgung aus dem Rechtsbewußtsein des Volkes erschien jedoch unmöglich; eine lange Tradition hatte i h n zu einem unauslöschlichen Bestandteil gemacht. Dem Begriff glaubte sich auch die antiliberale Strafrechtswissenschaft beugen zu müssen, nicht aber seinem Inhalt. Sie war bestrebt, den liberalen Rechtsstaat zu diffamieren und i h m den „nationalen Rechtsstaat" 85 als „wirklichen Rechtsstaat" 86 entgegenzusetzen. Sie wollte sich von der Herrschaft eines vorgegebenen Rechtsstaatsbegriffs befreien, den i n i h m enthaltenen Maßstab neu bestimmen, u m i h n für den neuen Staat anwendbar zu machen 87 . Aus der Staatsrechtswissenschaft diente vor allem C. Schmitt als Vorbild 8 8 . Daneben fanden noch die Arbeiten der jüngeren Staatsrechtswissenschaftler Forsthoff und Höhn starke Beachtung 89 . I n der Strafrechtswissenschaft bemühte sich Henkel besonders intensiv und m i t nachhaltiger Wirkung u m eine Neuformulierung des Rechtsstaatsbegriffs 90 . Daß der liberale Staat die Bezeichnung „Rechtsstaat" für sich beanspruchte, war nach antiliberaler Ansicht eine „Anmaßung" 9 1 . I n i h m herrsche eine einseitige Auffassung vom Recht, die unmittelbar m i t den besonderen Prinzipien des liberal-bürgerlichen Staates zusammenhänge: „ I n der Opferung der Idee materieller Gerechtigkeit zugunsten der formalen Garantien der Freiheit und Gleichheit zeigt sich die Verbindung des individualistischen Rechtssicherheitsbegriffs m i t dem Gedankengut und Staatszweck des bürgerlichen Rechtsstaates 92 ." Gesetzesbestimmtheit und Berechenbarkeit der staatlichen Tätigkeit seien zum alleinigen Maßstab der Rechtsstaatlichkeit erhoben und überindividualistische Rechtswerte aus der Betrachtung ausgeschlossen worden. Das i m liberalen Staat herrschende Prinzip des Relativismus verhindere die Aufstellung materieller Rechtswerte. Daher 83 Diesen Begriff prägte Koellreutter; vgl. RuS H. 89; vgl. auch ders., RuS H. 101, S. 9 ff.; D J Z 1933, Sp. 517 ff. 86 Krüger, ZStW 55, S. 199. 87 Ganz deutlich der Satz bei C.Schmitt, J W 1934, S. 716; „ W i r bestimmen . . . nicht den Nationalsozialismus von einem i h m vorgehenden Begriff des Rechtsstaates, sondern umgekehrt den Rechtsstaat v o m Nationalsozialismus her." 88 Vgl. Die drei Arten, S.35; J W 1934, S. 713 ff.; ZStaatW 95, S. 189 ff. 89 Vgl. die folgenden Anmerkungen. Den Meinungsstand zum Rechtsstaatsbegriff i n der Staatsrechtswissenschaft referierte 1936 Groß-Fengels, Der Streit u m den Rechtsstaat. 90 Vgl. Strafrichter u n d Gesetz, S. 53 ff.; u n d die Besprechungen von Dahm, DStR 1934, S. 248 ff., Schaff stein, ZStW 54, S. 261 ff. sowie Bung, J W 1934, S. 1107. 91 Forsthoff, Der totale Staat, S. 14; vgl. auch Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 53. 92 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 64.
I I I . Die Auffassung v o m Wesen des Rechts u n d von seinen Aufgaben
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sei dieser Staat unfähig, Recht und Unrecht sinnvoll zu unterscheiden 93 . Es müsse i h m daher die Berechtigung bestritten werden, sich ein Staat des Rechts zu nennen. Nicht die Bezeichnung „Rechtsstaat", sondern „Rechtssicherheitsstaat" treffe auf ihn zu 9 4 . Von der Befolgung rein formaler Rechtsprinzipien könne es nicht abhängen, ob ein Staat für sich das Ethos der Rechtsstaatlichkeit i n Anspruch nehmen dürfe. Jeder Staat, der sich zur Aufgabe setze, „Recht zu schaffen und es innerhalb seines Wirkungsbereiches zur Geltung zu bringen", war nach Henkels Auffassung ein Rechtsstaat 95 . M i t dieser Formulierung wurde der Anwendungsbereich des Begriffs ganz erheblich erweitert. Objektive Kriterien waren i n ihr nicht mehr enthalten; sie stellte allein auf die Intention der staatlichen Machthaber ab. Es sollte die erklärte Absicht genügen, Recht verwirklichen zu wollen. Erfahrungsgemäß geht aber den Machthabern eines Unrechtsstaates diese Absichtserklärung besonders leicht von den Lippen. Den Gefahren ihres Rechtsstaatsbegriffes gegenüber waren die Antiliberalen jedoch blind. Erst der neue Staat bot nach ihrer Ansicht die Gewähr für die Durchsetzung des Rechts. I n i h m sei der Gedanke der Gesetzesbestimmtheit abgelöst worden durch den „tiefergreifenden Gedanken der Rechtmäßigkeit" 96 . Rechtssicherheit bedeute nicht mehr: Sicherung eines individuellen Freiheitsraumes durch ein starres, formales Recht, sondern „Gewißheit der Durchsetzung des Rechtes i m Sinne des Rechtsgedankens der Volksgesamtheit J 7 " Der neue Staat habe sich zum Ziel gesetzt, das über dem Gesetz stehende Recht des deutschen Volkes ohne Rücksicht auf formale Schranken zur Geltung zu bringen. I n diesem „nationalen Rechtsstaat" sei erst die eigentliche Rechtsstaatlichkeit hergestellt, indem dort das „artgemäße" 9 8 Recht des Volkes verwirklicht werde. Wie sah nun dieses Recht aus? Woher wurde es genommen? 2. Die Quelle des
Rechts98a
Die Gegner des liberalen Strafrechts wandten sich gegen die Auffassung, daß das Recht i n einem rational aufgebauten, zweckorientierten 93 94 95 96 97 98
Vgl. Forsthoff, Der totale Staat, S. 14. Krüger, ZStW 55, S. 119; vgl. auch C. Schmitt, J W 1934, S. 714. Strafrichter und Gesetz, S. 53. Ebd., S. 68. Ebd., S. 66; vgl. auch Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 25. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 65.
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3. Kap.: Das neue Staatsverständnis
System gesetzlicher Vorschriften bestehe. Verfehlt sei zudem die Vorstellung, der Gesetzgeber habe es frei von irrationalen Erwägungen und historischen Bindungen aus seiner eigenen Gedankenwelt heraus geschaffen". Das Gesetz sei nur die äußere Erscheinung eines tieferen Rechts, das sich i n einem ständigen Entwicklungsprozeß befinde 1 0 0 . Die gesetzliche Positivierung erfolge lediglich aus Gründen der Praktikabilität, nämlich „ u m der Rechtseinheit und der Rechtskontinuität w i l l e n " 1 0 1 . A u f Grund ihrer Formgebundenheit halte die gesetzliche Vorschrift immer nur einen Punkt der Rechtsentwicklung fest und beschwöre die Gefahr herauf, daß das Recht erstarre. U m ihr zu begegnen, sei es erforderlich, die statische Betrachtungsweise des Positivismus durch eine „dynamische" zu ersetzen 102 . Man müsse sich stets vor Augen halten, daß das Recht i n einem langen geschichtlichen Prozeß geformt worden sei und sich fortwährend erneuere. Als sekundäre Erscheinung könne das Gesetz nicht die Bedeutung einer Rechtsquelle haben; lediglich als „Rechtserkenntnisquelle" 1 0 3 könne es Aufschluß über das „lebende Recht" 1 0 4 geben, das unabhängig vom Gesetz bestehe. I m betonten Gegensatz zu einer rationalen Begründung leiteten die antiliberalen Strafrechtler dieses Recht „organisch" 1 0 5 aus dem Gemeinschaftsgedanken ab: Zum Wesen der Gemeinschaft gehöre eine Gemeinschaftsordnung. Recht und Gemeinschaft stünden i m Verhältnis wechselseitiger Einwirkung. Das Recht gehe aus der Gemeinschaft hervor und die Gemeinschaft bilde sich i m Recht fort 1 0 6 . Gemeinschaft und Recht seien daher gleichermaßen „ursprünglich" 1 0 7 . Aus der Verbindung des Rechts m i t der Gemeinschaft beziehe die Rechtsordnung ihre verpflichtende K r a f t und ihre Würde 1 0 8 . Die Quelle des Rechts lag 08a v g l . zur nationalsozialistischen Rechtsquellenlehre Rüthers, grenzte Auslegung, S. 121 ff.
Die unbe-
»9 Vgl. Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 23; Gallas, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 64; Larenz, RuS H. 109, S. 5; Dahm, Z S t W 57, S.252. 190 Schaff stein, Pol. Straf rechtswissenschaft, S. 14; Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 75; Mezger, Leitfaden, S. 25; Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 28 f. ιοί Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 28; vgl. auch Latenz, RuS H . 109, S. 25 f. 102 Schaff stein, Pol. Straf rechtswissenschaft, S. 14; vgl. auch Finke, L i b . u n d Strafverfahrensrecht, S. 23. 103 Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 28. 104 Ebd., S. 29. los Schaff stein, ZStW 55, S. 607, sprach von einer „organischen Rechtsauffassung des Nationalsozialismus". loe Vgl. Larenz, RuS H. 109, S. 6 f., 19. 107 Larenz, Z f K u l t u r p h 1936, S. 31. io« Vgl. ebd., S. 32.
I I I . Die Auffassung v o m Wesen des
echts u n d von seinen Aufgaben
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nach dieser Auffassung i n der gemeinschaftsbewußten, gemeinschaftsbildenden Volksanschauung. Diese Rechtsquellenlehre knüpfte an die Lehren der historischen Rechtsschule wieder an 1 0 9 . Auch der Begriff des „Volksgeistes" wurde wieder aufgenommen 110 . I m Unterschied zu den Vertretern der historischen Rechtsschule beschränkten sich die antiliberalen Strafrechtler aber nicht auf eine kontemplative und rezeptive Betrachtung des Volksbewußtseins, die die historische Rechtsschule letzten Endes zu einer völligen Akzeptierung des bestehenden positiven Rechts als angeblicher Ausdrucksform des Volksgeistes führte 1 1 1 . Ihre politischen Intentionen waren zu stark, als daß sie sich m i t der Hinnahme der tatsächlich vorhandenen Volksanschauungen zufrieden geben konnten. Für maßgeblich erklärten sie die „gesunde" Volksanschauung. Weder der Begriff, noch seine Definitionen enthielten eine klare Beschreibung des Gegenstandes. Dahm sprach von der „geschichtlich gewordenen Sittenordnung" des Volkes, von seinem „inneren Lebensgesetz" 112 . Zu einer Präzisierung fühlten sich die Gegner des Liberalismus nicht verpflichtet. Aufgabe der neuen Rechtsordnung könne nicht sein, Recht und Unrecht i m Interesse einer individualistisch verstandenen Rechtssicherheit scharf voneinander zu unterscheiden 113 . Das i m Volksbewußtsein verankerte Recht könne nur ganzheitlich und wesenhaft erfühlt und erlebt werden 1 1 4 . So blieben die Kriterien für die Bestimmung der „gesunden" Volksanschauung unerörtert. Das Unterlassen einer Klärung des Begriffs i n der Rechtswissenschaft erleichterte es den nationalsozialistischen Machthabern, ihn für ihre Zwecke nach Belieben einzusetzen. 3. Recht und Wert
Auf Grund ihrer „organischen Rechtsauffassung" 115 widersprachen die Antiliberalen der Ansicht, das Recht stelle ein Normengefüge dar, io» Vgl. Schaff stein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 24; Larenz, RuS H. 109, S. 17; Nicolai, Rassengesetzliche Rechtslehre, S. 22 u n d 26. no vgl. H.Mayer, Straf recht des Deutschen Volkes, S. 8; Nicolai, Rassengesetzliche Rechtslehre, S. 22. m Vgl. Dahm, DStR 1934, S. 252: „Die Volksanschauung als der letzte Geltungsgrund des Rechts ist nicht der ,still waltende Volksgeist 4 der Romantik u n d der historischen Rechtsschule, den es zu belauschen gilt, sondern völkisches Recht ist ein bewußt u n d a k t i v gestaltendes Recht." Vgl. zum Positivismus der historischen Rechtsschule Bloch, Naturrecht, S. 102 ff. ι " ZStW 57, S. 255; vgl. auch Referat zum Kongreß f ü r Rechtsvergleichung 1937, S. 520. us Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 68. 114 Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 75; E. Wolf, Z S t W 53, S.573.
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3. Kap.: Das neue Staatserständnis
m i t dessen Hilfe tatsächliche Geschehnisse bewertet würden. Vor allem Dahm 1 1 6 und Welzel 1 1 7 wandten sich gegen die strikte Trennung von Wirklichkeit und Wert, wie sie insbesondere der südwestdeutsche Neukantianismus durchgeführt hatte. Von diesem Standpunkt aus sei die Wirklichkeit ein Chaos, das erst durch von außen herangetragene Werte geordnet werde. Diese Auffassung sei widerlegt durch die Erkenntnis, daß biologische Grundlagen das geistige Leben entscheidend beeinflußten, Wirklichkeit und Wert also nicht nebeneinander existierten 1 1 8 . So sei die Volksgemeinschaft ein Ergebnis der rassischen Gleichartigkeit ihrer Glieder 1 1 9 . Sie enthalte i n sich sinnvolle Ordnungsstrukturen; die Gemeinschaft sei eine „wirkliche, lebendige, innere Ordnung" 1 2 0 . Sie werde nicht von außen geordnet, sondern trage „ i h r inneres Gesetz, ihr Recht" 1 2 1 i n sich. Recht und Leben könnten daher nicht als Gegensätze betrachtet werden. Bei gemeinschaftsbezogener Sicht zeige sich, daß das Recht nicht das menschliche Handeln zum Objekt seiner Bewertung mache, daß vielmehr dieses Handeln „seinen Sinn oder Widersinn i n sich t r ä g t " 1 2 2 , d. h., daß sein Bedeutungsgehalt für die Gemeinschaft nicht erst durch Wertung ermittelt werden müsse, sondern, daß er ihn i n sich berge. Er offenbare sich, wenn man sich um eine Erfassung des „Sinnes und des Wesens der Dinge" 1 2 3 bemühe. Der Weg für die Gesetzgebung und die juristische Begriffsbildung ist nach dieser Ansicht i n der Wirklichkeit vorgezeichnet. Es könne nur darum gehen, das „gestaltete ontische Sein" nachzubilden 124 . Alle juristischen Begriffe seien daher letztlich deskriptive Begriffe 1 2 5 . Nicht alle antiliberalen Strafrechtswissenschaftler schlossen sich der monistischen Auffassung von Dahm und Welzel an. Gallas und andere us Schaff stein, ZStW 55, S. 607. lie v g l . Verbrechen u n d Tatbestand, S. 85 ff.; ZStW 57, S. 251 ff.; Z f K u l t u r p h 1936, S. 215. 117 Vgl. Naturalismus u n d Wertphilosophie; D RWis 1938, S. 119. lis v g l . Welzel, DRWis 1938, S. 119. Ii® Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 7. 120 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 85. 121 Dahm, ZStW 57, S. 251; vgl. auch Welzel, Naturalismus u n d W e r t philosophie, S. 74 f. I m Prinzip dieselbe Auffassung vertrat Larenz (vgl. RuS H. 109, S. 17, 19, 29). Er bemühte zur Begründung den Hegeischen Begriff des „objektiven Geistes". 122 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 87. 123 Ebd., S. 86. 124 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 74; vgl. auch Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 87. 125 vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 74 f.; Dahm, ZStW 57, S. 251 f.
I I I . Die Auffassung v o m Wesen des Rechts u n d von seinen Aufgaben
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gingen davon aus, daß i n dem „konkreten Dasein des Volkes" ein Dualismus von Sein und Sollen bestehe 126 ; die „Harmonie von Wert und Wirklichkeit" müsse als Ziel angestrebt werden 1 2 7 . Der Wert behalte als Maßstab seine Bedeutung 1 2 8 . I m Ergebnis unterschied sich diese Ansicht aber nicht von der Dahms und Welzels. Auch bei diesen blieb der Dualismus von Wirklichkeit und Wert i n verschleierter Form erhalten; denn nicht die empirische, sondern nur die „sinnvolle" Wirklichkeit 1 2 9 sollte deskriptiv erfaßt werden; nicht i n der allgemeinen, sondern nur i n der „gesunden" Volksanschauung sollte das materielle Recht i n Erscheinung treten. Notwendigerweise bedurfte es eines Maßstabes, um diesen Gegenstand zu bestimmen. Zu behaupten, er liege i m Gegenstand selbst, war ein Zirkelschluß, der nur deswegen nicht offen zutage trat, weil die Antiliberalen ihren Erkenntnisweg nicht präzise beschrieben. Sie sprachen nebulös von einer irrationalen, ganzheitlichen, wesenhaften Methode, von einer „emotional-wertfühlenden Erkenntniseinstellung" 1 3 0 . Die Rechtsidee des Nationalsozialismus könne nur „erlebt" werden 1 3 1 . Die Ablehnung rationaler Erkenntnismethoden ließ wissenschaftliche Genauigkeit und Redlichkeit i n ihrer Bedeutung absinken. Es ging die Bereitschaft verloren, den eigenen Erkenntnisweg selbstkritisch zu überprüfen. Unerörtert blieb die Frage, ob nicht das, was der Wirklichkeit als „sinnvoll" entnommen wurde, vorher hineingedacht worden war. Unbestimmt blieb aber auch die Beschreibung der obersten Werte bei den antiliberalen Strafrechtlern, die an der Trennung von Wert und Wirklichkeit festhielten. Als höchste Werte wurden die „Gemeinschaftswerte" 132 genannt, das „Wohl der Gesamtheit" 1 3 3 . Henkel forderte, daß der Wertgehalt der gesunden Volksanschauung „unter dem Leitgedanken der völkischen Rechtsidee" 134 bestimmt werden sollte. 126 Festschrift f ü r Gleispach, 1936, S. 66. 127 Ebd., S. 67. 128 Vgl. auch Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 33; Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 136 f. 129 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 85; vgl. auch ders., ZStW 57, S. 251 A n m . 63 a, S. 255; Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 57: „ N u r Werte, die dem neuen Lebensstrom entsprechen, sind w i r k l i c h e Werte, andernfalls sind es n u r Reste eines versunkenen Lebens, die bestenfalls noch »Dasein4, aber keine lebendige W i r k l i c h k e i t mehr haben." 130 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 75. 131 E. Wolf, ZStW 53, S. 573; vgl. auch Larenz, RuS H. 109, S. 5. 132 Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 66. 133 Stock, Die Strafe, S. 1. 134 Die Unabhängigkeit, S. 33.
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3. Kap. : Das neue Staatsverständnis 4. Redit und Sitte
Einen weiteren Angriffspunkt gegen das liberale Rechtsdenken bildete dessen Trennung von Recht und Sitte. Die antiliberale Strafrechtswissenschaft wandte sich gegen die Auffassung, daß ethische Entscheidungen ganz der individuellen Sphäre zuzurechnen seien, i n die der Staat nicht eingreifen dürfe. Es werde i h m verwehrt, allgemeingültige ethische Maßstäbe zu setzen. Die daraus resultierende Ohnmacht des Staates habe sich am Beispiel der Privilegierung des Überzeugungsverbrechers erwiesen 135 . Die scharfe Sonderung von Recht und Sitte bringe zudem die Rechtsordnung i n einen Gegensatz zum Volksbewußtsein, das vorwiegend nach sittlichen Gesichtspunkten urteile. Einen Widerspruch zwischen Recht und Sittlichkeit hielten die antiliberalen Strafrechtler für unerträglich. Es könne nicht etwas rechtens sein, was unsittlich sei. Eine solche Lösung sei nur möglich gewesen unter der absoluten Herrschaft des starren positiven Rechts. Das neue Recht strebe nach Auflösung des Gegensatzes; i m Gemeinschaftswillen als der maßgeblichen Rechtsquelle begegneten sich Recht und Sitte wieder auf einer Ebene 136 . Die Sittlichkeit könne jedoch nicht mehr als Individualethik aufgefaßt werden. „Das sittliche Empfinden des Volkes" enthalte die Richtschnur für die individuelle Verantwortlichkeit137. Wie diese völkische Sittlichkeit aufzufinden sei, erklärten die A n t i liberalen nicht genau. Sie quantitativ durch Ermittlung der herrschenden Kulturanschauungen zu bestimmen, lehnten sie als „positivistisch" ab 1 3 8 . Auch hier sollte wieder das dem Volk Wesensgemäße, das seinem Wohl Entsprechende entscheiden. Diese verschwommenen Leerformeln, die sich für die Verwendung zu politischen Zwecken geradezu anboten, erlaubten eine „glatte" Lösung der zahlreichen Probleme aus dem Verhältnis von Recht und Sittlichkeit, wie sie paradigmatisch in der Frage der Privilegierung des Uberzeugungsverbrechers zutage treten: I n einem Staat, der entschieden politisch sei und i n dem die Volksgemeinschaft den höchsten Wert darstelle, könne der Überzeugungstäter keine Besserstellung erwarten; denn sein individueller Standpunkt sei der völkischen Sittlichkeit unterlegen 1 3 9 .
iss v g l . Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 26 f.; Dahm, D J Z 1934, Sp. 824; D R 1934, S. 419. 136 v g l . Siegert, Grundzüge, S. 10. 137 Ebd., S. 11; vgl. auch Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S.139. 138 v g l . Dahm, Z S t W 57, S. 255 u n d DStR 1934, S. 88. 139 v g l . Dahm, D R 1934, S.419; S chaff stein, D RWis 1936, S. 47.
I I I . Die Auffassung v o m Wesen des Rechts u n d v o n seinen Aufgaben
75
5. Recht und Gesetz
Daß Recht und Gesetz nach antiliberaler Auffassung nicht gleichzusetzen sind, daß vielmehr nach dieser Ansicht das „Volksrecht" das positive Recht überformt, wurde bereits ausgeführt. Hier soll die antiliberale Haltung zum Gesetz noch ein wenig differenzierter betrachtet werden. I n der Durchführung dieses materiellen Prinzips wurden nämlich deutliche Unterschiede gemacht: I n vollem Umfang wurde es auf die Gesetze angewandt, die vor der „nationalen Revolution" entstanden waren. Dem Richter wurde i m Hinblick auf diese Gesetze ein volles Nachprüfungsrecht zugestanden 140 . Zurückhaltung übte man jedoch gegenüber den nationalsozialistischen Gesetzen. Bei ihnen könne davon ausgegangen werden, daß sie i n Einklang mit der gesunden Rechtsüberzeugung des Volkes stünden; denn die innige Verbindung des Führers mit dem Volk und seine Funktion, die richtungsweisenden Werte aus dem Volksbewußtsein hervorzuheben, sprächen für die Vermutung, daß ein Gegensatz zwischen Führergesetz und dem materiellen Recht nicht bestehe 141 . Ein Bindung an das nationalsozialistische Gesetz sei auch zur Wahrung der staatlichen Autorität erforderlich 1 4 2 . Die Antiliberalen scheuten sich nicht, eine Rückkehr zum Formalismus zu fordern, den sie „materiell" zu verbrämen suchten 143 . Sie leisteten damit einen wichtigen Beitrag zur Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft.
140 v g l . Larenz, RuS H. 109, S . 3 4 f . 141 Vgl. ebd., S. 34; Dahm, DStR 1934, S. 253 („Einheit v o n Staatsgewalt u n d Rechtsidee"). Nach Mezger, Leitfaden, S. 25, ist der „Führerbefehl" die Erscheinungsform des Rechts als „konkrete Lebensform". 142 Höhn, Referat zum Kongreß f ü r Rechtsvergleichung 1937, S. 174: „ I n der Volksgemeinschaft ist das Gesetz ein A k t der Führung.". 143 Vgl. unten 5. Kap. I V . 3. u n d 6.
4.
Kapitel
Der Antiliberalismus in der Straf rechts wissensch aft bis zur Konsolidierung des nationalsozialistischen Machtapparates I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform Die i n Deutschland nach dem 1. Weltkrieg u m sich greifende antiliberale Stimmung gelangte i n der Strafrechtswissenschaft zunächst nicht über das Stadium diffuser Äußerungen und einer untergründigen Strömung hinaus. Damit sich eine klar erkennbare, i n der öffentlichen Diskussion beachtete Richtung herausbilden konnte, war ein konkretes, gemeinsames Angriffsziel erforderlich. Gegen Ende der zwanziger Jahre wurden die Vorarbeiten zur Strafrechtsreform zu einem solchen Kristallisationspunkt. Sie bildeten ein zentrales Thema i n der damaligen straf rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung; ihre zahlreichen politischen Aspekte boten der vorwiegend politischen Zielsetzung des strafrechtlichen Antiliberalismus geeignete Ansatzpunkte. 1. Die Reformarbeiten bis 1930*
Zunächst soll ein Überblick über die Entwicklung des Reformvorhabens nach dem 1. Weltkrieg die damalige Situation verdeutlichen. a) Der Entwurf
Radbruch
1922
Die erste offizielle Maßnahme zur Fortsetzung der Bemühungen um eine Gesamtreform des Strafrechts nach dem Ersten Weltkrieg bestand i n einer Vorlage an die Reichsregierung, die Reichs justizminister Radbruch 1922 einbrachte 2 . Bemerkenswert an diesem sog. Entwurf Radbrach war, daß er die Übertretungen als „Polizeiunrecht" 3 gesondert ι Vgl. dazu E. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 405 ff. ; ders., Einleitung zum E n t w u r f Radbruch; Stammberger, Geschichte der Strafrechtsreform; Maurach, A l l g . Teil, S. 51; Materialien zur Strafrechtsreform, 3 . - 5 . Bd. 2 Der voraufgegangene E n t w u r f 1919 erschien nicht als „Regierungsentw u r f " , sondern wurde als persönliche Stellungnahme seiner Verfasser herausgegeben. Der E n t w u r f Radbruch knüpfte aber an diesen Reformvorschlag sowie an dessen Vorgänger aus der Vorkriegszeit an, wie Radbruch i n den Bemerkungen zu seinem E n t w u r f (S. 49) u n d i n ZStW 45, S. 417
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform
77
behandelte und sie nicht durch einen gemeinsamen allgemeinen Teil mit den Verbrechen und Vergehen verband; weiterhin, daß er die Todesstrafe als „Fremdkörper" 4 aus dem Strafensystem ausschied und auch die Zuchthausstrafe wegen ihres Makels, der allen Resozialisierungsversuchen entgegenwirkt, beseitigte. Übrig blieb eine einheitliche Freiheitsstrafe i n der Form des Gefängnisses 5. Aus demselben Grund, der für die Abschaffung der Zuchthausstrafe maßgebend gewesen war, erfolgte eine weitgehende Zurückdrängung der Ehrenstrafen. Eine erhebliche Ausdehnung erfuhr die Geldstrafe. Bei Vergehen sollte, soweit mildernde Umstände vorlagen, eine Freiheitsstrafe durch eine Geldstrafe ersetzt werden können. I n großzügiger Form fand der Gedanke des bedingten Straferlasses Aufnahme i n den Entwurf: Die Anwendung dieses Instituts —, wie i m übrigen auch die Umwandlung der Freiheitsstrafe i n eine Geldstrafe, — wurde nicht von einer bestimmten Höhe der verwirkten Strafe abhängig gemacht, sondern richtete sich ausschließlich nach der Täterpersönlichkeit. Für alle Delikte war vorgesehen, daß die Strafe gemildert werden konnte, wenn es nach den Umständen des Einzelfalles angebracht war. Weiterhin ermöglichte der Entwurf eine Herabsetzung der Strafe nach freiem Ermessen des Richters i n „besonders leichten Fällen". Die Verringerung des Strafmaßes sollte bis an die untere Strafgrenze, u. U. sogar zu einer bloßen Verwarnung führen können. Eine Privilegierung des Uberzeugungstäters kam i n der für i h n vorgesehenen Einschließung anstatt der Gefängnisstrafe zum Ausdruck. I m Bereich der Sicherungsmaßnahmen gegenüber dem gefährlichen Gewohnheitsverbrecher ging der Entwurf von einer Zweispurigkeit von Strafen und Maßnahmen aus. Durch die Zulassung des sog. „Vikariierens", der Möglichkeit, die Strafe durch eine Maßregel zu ersetzen, näherte er sich aber i n diesem Bereich einer unbestimmten Sicherungsstrafe an. Insgesamt war dieser Reformvorschlag von dem Willen getragen, dem staatlichen Strafensystem humanere Züge zu verleihen und der betonte. Daher ergibt die Formulierung Maurachs, A l l g . Teil, S. 51, der E n t w u r f „baute auf neuen Grundlagen auf", ein schiefes Bild. Derselbe E i n w a n d muß Baumann, Allg. Teil, S. 51, entgegengehalten werden, der davon spricht, daß der E n t w u r f 1919 „alsbald i n einem österreichischen Gegenentwurf von 1919 . . . u n d i m E n t w u r f Radbruch 1922 seine E n t gegnungen (!) fand". Der E n t w u r f 1922 wurde als Ganzes i m übrigen erst nach 30 Jahren publiziert („Gustav Radbruchs E n t w u r f eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches, Tübingen 1952"); erste Hinweise auf den I n h a l t aber schon bei Radbruch, Z S t W 45, S. 417 ff. s Radbruch, E n t w u r f 1922, Bemerkungen, S. 51. 4 Ebd., S. 52. 5 Die i m E n t w u r f vorgenommene Unterscheidung zwischen „Gefängnis" u n d „strengem Gefängnis" hatte lediglich gesetzestechnische Bedeutung. M i t i h r w a r keine tiefgreifende Differenzierung nach der A r t des Vollzuges beabsichtigt; vgl. Radbruch, E n t w u r f 1922, S. 54.
78
4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
Resozialisierung den höchsten Rang einzuräumen. I n i h m hatte sich aber auch die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Gesellschaft vor gefährlichen Gewohnheitsverbrechern geschützt werden muß. b) Der Entwurf
1925
Nach einigen gewichtigen Änderungen des Radbruchschen Entwurfes verabschiedete die Reichsregierung i m Herbst 1924 einen ersten „amtlichen Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches" und leitete ihn an den Reichsrat weiter. I m strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum w i r d er als „Entwurf 1925" behandelt 6 . I m Unterschied zum Entwurf Radbruch hielt er an der Todesstrafe fest. Auch die Zuchthausstrafe und die damit verbundenen Ehrenstrafen wurden i n i h m wiederhergestellt. I n einigen Vorschriften mußte die Geldstrafe als Nebenstrafe weichen. I m großen und ganzen war der Entwurf jedoch so gestaltet, daß der Schöpfer des Entwurfs 1922 schreiben konnte: „Es ist m i r ein Bedürfnis zu betonen, daß sie (die am Entwurf 1922 vorgenommenen Veränderungen; d. Verf.), wie wichtig immer, doöh nur Einzelfragen betreffen und die freudige Genugtuung über die endlich erreichte erste Situation des großen Gesetzgebungswerks nicht zu mindern vermögen 7 ." c) Der Entwurf
1927
Der Reichsrat unterzog den Entwurf einer zweijährigen Beratung, die zu einschneidenden Änderungen führte. So entstand ein neuer Entwurf, der 1927 an den Reichstag ging. I n i h m fehlte die Möglichkeit einer Strafmilderung i n „besonders leichten Fällen". Die Ersetzung der Freiheitsstrafe durch eine Geldstrafe wurde an die Voraussetzung gebunden, daß die verwirkte Gefängnis- oder Einschließungsstrafe drei Monate nicht überschritt. Desgleichen beschränkte der Entwurf den bedingten Straferlaß auf Gefängnis- oder Einschließungsstrafen bis zu sechs Monaten und versagte diese Möglichkeit ganz, wenn das öffentliche Interesse oder die Rücksicht auf den Verletzten die alsbaldige Vollstreckung der Strafe forderten. Die Vorschrift über die privilegierende Behandlung des Überzeugungstäters war gestrichen worden. Auch die Möglichkeit einer Ersetzung der Strafe durch sichernde Maß6 Daß diese Bezeichnung unzutreffend ist, hob L. Schäfer bereits 1927 i n seiner Zusammenstellung der Strafgesetzentwürfe S. I X hervor. Sowohl die Verabschiedung durch die Reichsregierung als auch die Vorlage an den Reichsrat erfolgten noch i m November 1924. So spricht auch Radbruch i n ZStW 45, S. 417 von der „Reichsratsvorlage 1924". Die Bezeichnung „ E n t w u r f 1925", die sich i m Schrifttum eingebürgert hat, ist darauf zurückzuführen, daß die Veröffentlichung erst i m Jahre 1925 vorgenommen wurde. 7 Radbruch, Z S t W 45, S. 420.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform
79
nahmen i m Sinne des „Vikariierens" war nicht mehr vorgesehen. Bei sichernden Maßnahmen m i t Ausnahme der Sicherungsverwahrung sollte dem Richter nur noch die Entscheidungsbefugnis über ihre Zulässigkeit verbleiben; ob sie tatsächlich durchgeführt wurden, war den Verwaltungsbehörden anheimgestellt. Trotz bedeutender Änderungen blieb aber auch dieser Entwurf den Grundlinien der Reform treu, als deren Hauptziele K a h l 1927 i n seiner Rede zur Eröffnung der parlamentarischen Arbeit an der Strafrechtsreform nannte: 1. Die psychologische Differenzierung des Verbrechertums, 2. Die Verbindung der Sicherung m i t der Strafe und 3. Die Erweiterung der Freiheit des richterlichen Ermessens®. d) Der Entwurf
1930
Ein Strafrechtsausschuß des Reichstages überprüfte den Entwurf i n eingehender Beratung. Ein vorzeitiges Scheitern des Reformvorhabens auf Grund der Reichstagsauflösung 1928 verhinderte ein i m Wege der Verfassungsänderung beschlossenes Uberleitungsgesetz, das die Fortführung der Ausschußarbeit ohne Zeitverlust erlaubte, der durch eine erneute Einbringung der Vorlage einzutreten drohte. I n insgesamt 205 Sitzungen konnten eine erste Lesung des Entwurfs vollständig und eine zweite über große Teile durchgeführt werden. U m eine Rechtsangleichung m i t Österreich zu ermöglichen, fanden gleichzeitig deutschösterreichische parlamentarische Strafrechtskonferenzen statt, die ebenfalls den Entwurf 1927 zum Gegenstand hatten. Das gesamte Reformwerk war jedoch i n Frage gestellt, als der Reichstag i m J u l i 1930 erneut aufgelöst wurde. Da ein Uberleitungsgesetz nicht wieder zustande kam, mußte der parlamentarische Instanzenzug erneut durchschritten werden, wollte man den Reformgedanken nicht aufgeben. Ein entsprechender Antrag der Abgeordneten K a h l und Genossen fußte auf dem Entwurf 1927, berücksichtigte aber die i n den Strafrechtskonferenzen und i m Strafrechtsausschuß i n der ersten Lesung erarbeiteten Änderungen. Gegen den lautstark vorgetragenen Widerspruch der Flügelparteien verwies der Reichstag die Vorlage an den Strafrechtsausschuß, der wie der voraufgegangene unter der Leitung von K a h l tagte. Die Abweichungen des dem Ausschuß vorgelegten Entwurfs 19309 von dem Entwurf 1927 hielten sich i n Grenzen: Aus dem Strafensystem β Vgl. Kahl, D J Z 1927, Sp. 1000 f. Der E n t w u r f w i r d auch häufig als „ E n t w u r f Kahl" bezeichnet. Das stimmt zwar m i t der offiziellen Kennzeichnung der Reichstagsvorlage überein (vgl. Materialien zur Strafrechtsreform, 5. Bd., S. 1), gibt aber auch zu dem M i ß verständnis Anlaß, daß die Vorlage allein auf Kahls I n i t i a t i v e zurückging 9
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
war wieder die Todesstrafe entfernt worden. Allerdings behielt man sich eine endgültige Klärung vor 1 0 . Der Rahmen für einen bedingten Straferlaß war auf Gefängnis oder Einschließungsstrafen bis zu einem Jahr ausgedehnt worden. Der Tätigkeit des Ausschusses stellten sich i n zunehmendem Maße Hindernisse i n den Weg. Das Desinteresse der radikalen Parteien äußerte sich darin, daß sie entweder i m Ausschuß eine Obstruktionspolitik betrieben 11 oder nach nur kurzer Tätigkeit ihre Mitarbeit einstellten 12 . 2. Die unterschwellige Reformgegnerschaft gegen Ende der zwanziger Jahre
Eine ablehnende Haltung gegenüber der Strafrechtsreform auf der Grundlage einer antiliberalen Einstellung trat i m Bereich der Strafrechtswissenschaft mit aller Deutlichkeit erstmals auf der 25. Sitzung der Deutschen Landesgruppe der von v. Liszt gegründeten Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) am 12. und 13. September 1932 i n Frankfurt a. M. hervor. a) Die hochschulinterne Diskussion Vorher hatte sich jedoch bereits eine „Mißstimmung gegenüber Geist und Tendenz der Strafrechtsreform" an den Hochschulen breitgemacht, wie E. Schmidt berichtet 13 . Ihr lag die Ansicht zugrunde, „daß die Strafrechtsreform ,individualistisch, liberalistisch und rationalistisch' sei, m i t ihrem geistig politischen Gehalt i n die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts gehöre und der Förderung durch wissenschaftliche Arbeit nicht mehr wert sei" 1 3 . Diese Auffassung trug insbesondere der wissenschaftliche Nachwuchs vor. Die Auseinandersetzungen darüber spielten sich zunächst nur i m internen Hochschulbereich ab. Selten gelangte diese neue Form einer antiliberalen K r i t i k an der Strafrechtsreform an das Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Zwar bemühten sich Befürworter der Reform wie Kohlrausch und E. Schmidt (vgl. ζ. B. Bornhak, Beruf zur Strafgesetzgebung, S. 65). Kahl selbst wies jedoch darauf hin, daß sein Schritt m i t dem Reichsjustizministerium abgesprochen w a r (JW 1931, S. 914). io Daß endgültige K l a r h e i t nicht bestand, beweist die Uneinheitlichkeit der Vorlage: Z w a r fehlt die Todesstrafe bei der Aufzählung der Strafen (§§ 33, 34), an anderer Stelle w i r d sie dennoch genannt (z. B. §§ 46, 49 — Verlust der Amtsfähigkeit bzw. des W a h l - u n d Stimmrechtes bei Verurteilung zum Tode). n So die K P D ; vgl. Ebermayer, D R i Z 1932, S. 108. 12 Die 8 Ausschußmitglieder der D N V P u n d der N S D A P blieben den Beratungen seit dem 9. 2. 31 fern. 13 Strafrechtspflege, S. 412.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform
81
um eine Aufklärung der i n den Schlagworten „liberalistisch", „individualistisch" und „rationalistisch" enthaltenen Vorwürfe. Eine klare Antwort wurde ihnen jedoch nicht zuteil. Noch i n seinem Eingangsreferat auf der IKV-Sitzung 1932 zum Thema „Die Fortführung der Straf rechtsreform" beklagte Kohlrausch, daß i h m jüngere Juristen auf seine Fragen, was der Begriff „liberalistisch" bedeute und welches die liberalen Eigenschaften des Entwurfs seien, keine klare A n t w o r t gegeben hätten 1 4 . Was an antiliberaler Reformkritik aus den Reihen der Straf rechtswissenschaftler vorgebracht wurde, glaubte E. Schmidt 1931 i n einem Aufsatz „Zur Theorie des unbestimmten Strafurteils" so wiedergeben zu können 1 5 : Die Reformentwürfe gehen zu sehr auf die Täterpersönlichkeit ein und beinhalten ein Zurückweichen des Staates vor dem einzelnen. Der Verbrecher w i r d als Individuum gegen und über den Staat gestellt. Der Gedanke kriminalpolitischer Zweckmäßigkeit w i r d i n rationalistischer Weise überbetont. — Bezeichnend ist, daß E. Schmidt diese Gesichtspunkte dem „privaten Schreiben eines Fachkollegen" entnahm und auf wissenschaftliche Belege verzichten mußte 1 6 . b) Die Reformkritik
E. Wolfs
Ein kaum faßbareres Zeugnis antiliberaler Reformpolitik hatte E. Wolf 1927 mit einem Aufsatz i n der Zeitschrift „Die Justiz" unter dem Titel „Die Wertung der Rechtsgüter i m Reichsstrafgesetzbuch und ihre Umwertung durch die Reform" abgelegt 17 . Daß hierin ansatzweise die Gedanken der rechtsgerichteten antiliberalen Reformgegnerschaft enthalten waren, drang aus zwei Gründen nicht ins allgemeine Bewußtsein der damaligen Strafrechtswissenschaft: Einmal war der Ort dieser Veröffentlichung, die Zeitschrift des Republikanischen Richterbundes, unverdächtig; denn sie bekannte sich ausdrücklich zur Weimarer Republik. Zum anderen betrafen die Ausführungen E. Wolfs einen Aspekt, der die Reformdiskussion, die von der Auseinandersetzung u m die Rechtfertigung und die Inhaltsbestimmung der Strafe beherrscht war, jedenfalls zunächst nur am Rande beschäftigte: Die Frage nach der Wertordnung der Rechtsgüter 18 . 14 Kohlrausch, M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 155; vgl. auch ders., Die geistesgeschichtliche Krise, S. 18. is E. Schmidt, SchwZStR 1931, S. 213 ff. 16 Ebd., S. 213, A n m . 1. 17 Die Justiz, Bd. I I I , S. 110 ff. is E. Wolf verwandte i n dieser Untersuchung den Begriff des Rechtsguts unkritisch für die Beurteilung eines Strafgesetzes. D a m i t scheint er sich von der antiliberalen Richtung zu entfernen, bei der der Rechtsgutsbegriff i n erheblichem M i ß k r e d i t stand, w e i l er angeblich eine individualistische Sichtweise verkörperte (vgl. oben 1. Kap. I I I . 1. b) u n d 2. b) u n d unten 5. Kap. 6 Marxen
82
4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
I n seinem Aufsatz verglich er den Entwurf 1927 mit dem geltenden Recht. Eine Untersuchung der gesetzlichen Tatbestände nach A r t und Höhe der angedrohten Strafen zeigte ihm, daß das geltende Strafgesetzbuch dem physischen Leben, den staatlichen Garantien (Verfassung, gesetzgebende Körperschaften, öffentlicher Glaube, Geld- und Verkehrssicherheit) und der Eigentumssphäre den stärksten Schutz zubilligte. Diesem Ergebnis gewann er eine spezifisch politische Bedeutung ab: I n der Höchstbewertung des Einzellebens und der natürlichen Handlungsfreiheit sei individualistisches Gedankengut zum Zug gekommen; die Betonung des Schutzes des einzelnen gegen willkürliche staatliche Ubergriffe beweise eine liberalistische Tendenz; die Berücksichtigung des Genugtuungsbedürfnisses des Verletzten, des natürlichen Rachetriebes, im geltenden Recht zeuge von einer naturalistischen Denkweise 19 . Demgegenüber vermerkte E.Wolf anerkennend gewisse Verbesserungen i m Entwurf 1927: Das Institut der Sicherungsverwahrung, das Aufrücken einiger Übertretungstatbestände i n den Katalog der Vergehen und die Erhöhung des Strafmaßes für Straftaten wider die Staatsgewalt drängten die liberalistische Tendenz zurück. Auch die naturalistische Tendenz sei zurückgetreten, wie u. a. die Abschaffung der reinen Erfolgshaftung und die Berücksichtigung der Wahrung öffentlicher Interessen bei der üblen Nachrede zeige. Seine K r i t i k kam i n der noch sehr zurückhaltenden Formulierung zum Ausdruck: „Von einer völligen Umwertung der Rechtsgüter kann aber i m E 1927 noch keine Rede sein 20 ." Einen entscheidenden Mangel erblickte er i m I I . 2. c) u n d I V . 1.). Dagegen spricht aber, daß seine Veröffentlichung aus dem Jahre 1927 stammt, während eine intensive Beschäftigung der a n t i liberalen Richtung m i t dem Rechtsgutsbegriff erst i m Anschluß an Schwinges 1930 erschienene Schrift „Teleologische Begriff sbüdung i m Straf recht" einsetzte (vgl. Dahm, MschrKrimPsych 1931, S. 764 ff.; Schaff stein, Teleologische Begriffsbildung, 1934). Auch plädierten n u r wenige, radikale Antiliberale für eine völlige Aufgabe des Rechtsgutsbegriffs (so Höhn, DR 1935, S. 266; dagegen erheblich differenzierter i n der Stellungnahme Dahm, ZStW 57, S. 234). Besonders bemerkenswert ist schließlich, daß die spätere K r i t i k am Rechtsgutsbegriff bereits andeutungsweise bei E. Wolf zur Geltung k a m : I n einer A n m e r k u n g (ebd., S. 110 f. A n m . 1) meldete er Zweifel daran an, ob das Rechtsgut w i e bisher als bloßes Lebens- oder K u l t u r g u t verstanden werden könne. Der Problematik des Rechtsgutsbegriffs müsse i n Z u k u n f t mehr durch eine spezifisch juristische Betrachtungsweise Rechnung getragen werden. Die Gültigkeit seiner Ausführungen relativierte er ausdrücklich durch eine clausula rebus sie stantibus. 19 Die oben 1. Kap. I I . am Ende behauptete Austauschbarkeit der von der antiliberalen Richtung benutzten Schlagworte zeigt sich an der unterschiedlichen Deutung der Berücksichtigung des Genugtuungsbedürfnisses des Verletzten: Während E. Wolf hier von naturalistischer Denkweise sprach, erblickten Dahm/ S chaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 8 u n d Schaff stein, Z A k D R 1935, S. 108 darin eine Erscheinung des I n d i v i d u a l i s mus (vgl. oben 1. Kap. I I I . 1. a)). so Ebd., S. 119.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform
83
unzureichenden Schutz des sozialen Gemeinschaftslebens, besonders des Arbeitslebens und vor allem der Arbeitskraft 2 1 . Deutlichere Akzente setzte E. Wolf mit seiner Freiburger Antrittsvorlesung „Vom Wesen des Täters" i m November 193122. Zunächst würdigte er die Bedeutung des Lisztschen Täterbegriffs für die Strafrechtsreform, machte dann aber einschränkend geltend, daß jetzt „eine jüngere Generation die Zeitbedingtheit jenes Ringens (um Reformen i m Sinne von Liszts; d. Verf.) schärfer sieht und seine gegenwärtige Unzeitgemäßheit lebhaft empfindet" 2 3 . Verfehlt seien die Bemühungen von Liszts gewesen, das Individuelle am Täter mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden zu erfassen. Dieser wissenschaftliche Positivismus sei aus einem „politischen Liberalismus, einem ethischen Individualismus und einem religiösen Naturalismus" 2 4 hervorgegangen. Dem Liberalismus entstamme die Vorstellung eines „natürlichen" Menschen, dem sittliche Bindungen nicht notwendigerweise zugeordnet seien, dem Individualismus „die These vom körperlich-seelischen Können als Maßstab des geistig-leiblichen Sollens" 2 4 ; naturalistischer Herkunft sei „die Lehre von der zwingenden biologisch-sozialen Determiniertheit des Menschen" 24 . Gegen eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Besserungs- und Sicherungsstrafe und deren Alleingültigkeitsanspruch führte E. Wolf ins Feld, daß die kausaldeterministische Auffassung dem Sinn des Begriffs „Erziehung" nicht gerecht werde und i m Extrem zu einer bloßen Dressur führe und daß der Vergeltungsgedanke nicht aus dem Strafrecht hinwegzudenken sei. Er sei das „Eidos des Strafbegriffs, der ohne es in seiner Eigenart verschwinden würde" 2 5 . Seine Täterlehre entwickelte E.Wolf aus dem Umschwung i n der geistigen Zeitströmung vom „ethisch indifferenten positivistischen Individualismus" zum „phänomenologischen Personalismus", vom „Naturalismus" zum „Normativismus" 2 6 . Überholt sei die Annahme eines „natürlichen" Täters. Es gelte, den Täter als menschliche Person i m Raum der rechtlichen K u l t u r zu erfassen. Nur so könne die Loslösung vom naturwissenschaftlichen Abstraktum „Mensch" und der Schritt zum Verständnis der Besonderheit der Täterpersönlichkeit gelingen. Die Stellung der Rechtsperson „Mensch" werde entscheidend von ihrer Gesinnung bestimmt, die alle noch so unterschiedlichen Willens21 Vgl. ebd., S. 118. 22 Veröffentlicht i n RuS H. 87. 23 Ebd., S. 8. 24 Ebd., S. 11. as Ebd., S. 33. 26 Ebd., S. 12. 6*
4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
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akte umspanne. „Der Täter", so E.Wolfs Definition, „ist seinem Wesen nach ein personales Glied der Rechtsgemeinschaft m i t verfallender Rechtsgesinnung" 27 . Das Täterschaftsmäßige erschließe sich aus der jeweiligen Qualität der Rechtspersönlichkeit, d. h. aus der rechtlichen Daseinsform, i n der sie tätig geworden sei, (nach E. Wolfs Nomenklatur ist Rechts genösse jedermann; die Zuordnung bürgerlicher Rechte verleiht dem Rechtsgenossen Rechtssubjefctivität; die Fähigkeit, rechtlich gestaltend zu wirken, macht die Rechts person im engeren Sinne aus) sowie aus der Quantität des Gesinnungsverfalls. Aus seiner Täterlehre gewann E. Wolf fünf Grundtypen der Täterschaftsmäßigkeit: Das gemeingefährliche, das gemeinwidrige, das gemeinfeindliche, das gemeinlässige und das gemeinschädliche Verhalten 2 8 . A n kriminalpolitischen Konsequenzen leitete er aus seiner spezifisch juristischen Betrachtungsweise ab, daß der Sinn der Vergeltung nur i n einer capitis deminutio, i n einer spürbaren Minderung der Rechtspersönlichkeit bestehen könne, die das „Mißtrauen der Rechtsgemeinschaft" 29 zum Ausdruck bringe. Eine Betonung dieser Seite der Strafe sei auch zum Zwecke der Abschreckung erforderlich. Daneben sei Platz für spezialpräventive Maßnahmen, die aber dem normativen Wesensbegriff des Täters Rechnung tragen müßten: Eine sinnvolle Erziehung diene der Kräftigung der Rechtsgesinnung zum Zwecke eines Wiederaufbaus der Rechtspersönlichkeit. Die Sicherungsstrafe ziele auf die „Reinerhaltung der Rechtsgemeinschaft" ab, aus der „der grundsätzliche Normfeind und der schlechthin triebunterworfene Normfremde" 3 0 auszuscheiden seien. Ein unmittelbarer, energischer Angriff gegen die Strafrechtsreform lag i n den Ausführungen E. Wolfs noch nicht. Es klangen aber bereits wegweisende Motive der antiliberalen K r i t i k an: Das Straf recht dürfe die sittlichen Bindungen des Menschen an die Gemeinschaft nicht außer acht lassen; die aus überindividuellen Quellen fließenden strafrechtlichen Gebote dürften nicht durch einen „Psychologismus und Soziologismus" 3 1 bei der Täterbetrachtung verwässert werden; das Wesen des Täters zeige sich bei juristischer und somit geisteswissenschaftlicher Sicht i n seiner gerneinschaftswidrigen Gesinnung.
27 Ebd., 28 Ebd., 29 Ebd., 30 Ebd., 31 Ebd.,
S. 16. S. 27 ff. S. 33. S. 35. S. 36.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform
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3. Antiliberale Reformkritik i m politischen Schrifttum
Zu diesen Andeutungen und Ansätzen gesellten sich anfangs der dreißiger Jahre Äußerungen i m politischen Schrifttum, die die Strafrechtsreform mit antiliberalen Argumenten bekämpften. Die größte Beachtung fanden die Autoren Α. E. Günther, Mitherausgeber der jungkonservativen Zeitschrift „Deutsches Volkstum" 3 2 und enger Mitarbeiter des konservativen Publizisten Stapel, der dem Juniklub um Moeller van den Bruck angehört hatte, sowie Nicolai, Leiter der innenpolitischen Abteilung der Reichsleitung der NSDAP. Dem Thema „Strafrechtsreform" widmete Günther 1930 eine Aufsatzreihe i n der Zeitschrift „Widerstand" 3 3 , die den Untertitel „Zeitschrift für nationalrevolutionäre Politik" trug 3 4 . Eine Zusammenfassung seiner strafrechtlichen Anschauungen veröffentlichte er 1932 i n einem Beitrag zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Was w i r vom Nationalsozialismus erwarten" unter dem Titel „Liberale und autoritäre Strafrechtsreform" 35 . Nicolai legte seine Vorstellungen über die künftige R'chtung des Strafrechts i n seiner Schrift „Die rassengesetzliche Rechtslehre" nieder, die 1932 i n der „Nationalsozialistischen Bibliothek" erschien 36 . Die Beiträge der beiden Autoren zielten unmittelbar auf die Verwirklichung ihrer politischen Vorstellungen i m Bereich des Straf rechts ab. Sie beschränkten sich auf grundsätzliche Aussagen und ließen die weiteren strafrechtlichen Konsequenzen außer Betracht. Es fehlte auch eine Auseinandersetzung m i t dem straf rechts wissenschaftlichen Schrifttum. 32 Vgl. zur Einordnung der Zeitschrift: Möhler, Die konservative Revolution, S. 293. 33 Reform oder Auflösung des Straf rechts, Jahresband 1930, S. 244 ff.; Der Ursprung des Strafrechts i m Imperium, Jb. 1930, S. 262 ff.; Recht u n d Gnade, Jb. 1930, S. 336 ff. 34 Herausgeber der Zeitschrift u n d zugleich Leiter der „Widerstandsbewegung" w a r Ernst Niekisch, der i m allgemeinen zu den „Nationalbolschewisten" gezählt w i r d . Dieser Nationalbolschewismus muß — wie auch der U n t e r t i t e l der Zeitschrift zeigt — als Bestandteil der nationalrevolutionären Bewegung betrachtet werden u n d ist von den nationalistischen Bestrebungen i n der K P D u n d den sozialistischen i n der N S D A P abzugrenzen; vgl. Möhler, Die konservative Revolution, S. 47 ff.; Schüddekopf, L i n k e Leute von rechts, insbesondere S. 287 ff. 35 Was w i r v o m Nationalsozialismus erwarten, Zwanzig Antworten, S. 100 ff. ; über die politische Stellung der Antwortenden führte der Herausgeber i n seinem V o r w o r t S. 9 aus: „Die Mitarbeiter sind nicht gefragt worden, ob sie der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei angehören; es dürfte nur für wenige zutreffen." I n diesem Sammelband kamen führende Vertreter der Konservativen Revolution zu W o r t (u. a. Winnig, Mirgeler, Bogner, Steinbömer, Stapel). 36 Die rassengesetzliche Rechtslehre, Grundzüge einer nationalsozialistischen Rechtsphilosophie; Nationalsozialistische Bibliothek, Heft 39.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
Aus zwei Gründen verdienen diese Stellungnahmen aus dem politischen Schrifttum dennoch i m Rahmen einer Untersuchung der Strafrechtswissenschaft Beachtung: Der Blick ins politische Schrifttum ist gerade an dieser Stelle angebracht. Die Entwicklung des Antiliberalismus am Ende der zwanziger Jahre wurde hier als ein der Öffentlichkeit größtenteils entzogener Prozeß beschrieben, der zunächst nur zu vereinzelten Ansätzen führte. Große Aufmerksamkeit verdient daher der Übergang zu einer von einheitlichen Überzeugungen getragenen, auf breiter Basis ruhenden „Richtung", die sich durch Elan und Unbedingtheit des Wollens Beachtung i n Wissenschaft und Politik zu verschaffen weiß. Wesentliche Impulse für diesen Vorgang könnte eine Erweiterung des Blickwinkels über die Grenzen der an den Hochschulen betriebenen Straf rechtswissenschaft hinaus deutlich werden lassen. Zudem erscheint sehr fraglich, ob die genannten Kriterien (streng juristische, unpolitische Argumentation, Untersuchung der einzelnen strafrechtlichen Konsequenzen, Auseinandersetzung m i t dem strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum) eine zutreffende Unterscheidung erlauben zwischen strafrechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen und Äußerungen, die nicht dem Bereich der Strafrechtswissenschaft zuzurechnen sind, insbesondere für eine Zeit, i n der die Auseinandersetzung um die Strafrechtsreform die wissenschaftliche Diskussion wieder an die Grundfragen des Strafrechts heranführte, die auch stets politischer Natur sind. ,,Strafrechtsreform ist keine Sache der Rechtstheorie, sondern der Kriminalpolitik und damit der Rechtspolitik", erklärte E. Wolf 1933. „Rechtspolitik wiederum ist keine fachmännische Sonderauf gäbe 37 . " Der starke Widerhall der Schriften Α. E. Günthers und Nicolais beweist ein übriges: Auf der IKV-Tagung 1932 i n Frankfurt a. M. stellte E. Schmidt, der i n einem ausführlichen Diskussionsbeitrag versuchte, die von antiliberaler Seite gegen die Reform erhobenen Vorwürfe zu entkräften, die beiden Autoren als antiliberale Reformgegner heraus und machte verschiedene ihrer Ansichten zum Untersuchungsgegenstand 38 . Wiederholt nahmen nachfolgende strafrechtswissenschaftliche Veröffentlichungen ζ. T. eingehend auf Günther und Nicolai Bezug 39 .
37 RuS H. 103, S. 5. 38 E. Schmidt, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 177 ff. 39 So Schwinge, 49. Jb. der Gef.ges. f ü r Sachsen u n d Anhalt, S. 24 ff.; Specht, Der Strafzweck, S. 31 ff.; Gallas, ZStW 53, S. 12; Nagler, GS Bd. 103, S . X I V f . A n m . 30, S . X X I ; Sauer, GS Bd. 103, S. 19; Radbruch, Die Gesellschaft 1933, .223 ff.; vgl. auch die Besprechungen von Nicolais „rassengesetzlicher Rechtslehre" i n ArchRWPh Bd. 26, S. 84 ff. (Sauer); M S c h r K r i m Psych 1933, S. 633 (v.Hentig); ZStW 53, S. 572 ff. (E.Wolf); Z R P h 1933, S. 189 ff. (Jung).
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform
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α) Α. E. Günther Für Α. E. Günther bedeutete die Strafrechtsreform die „Auflösung des Strafrechts" 40 und damit die „Auflösung jeder autoritären Ordnung" 4 1 . Diesem Zweck diene das von den Reformern eingesetzte Kampfmittel des Liberalismus, die Humanisierung. M i t seinen Forderungen i m Namen der Menschlichkeit gehe es dem Liberalismus jedoch nicht nur um eine Milderung der Gesetze, sondern u m die Durchsetzung der ihm eigentümlichen Auffassung vom Verbrechen und von der Strafe, die „jeder Staatsautorität feindlich ist" 4 2 . Die Ausdeutung der Strafe durch die Reformer als Mittel zum Schutz der Gesellschaft gibt nach Günthers Meinung die Absicht zu erkennen, die „Majestät" 4 3 des Staates durch eine „fortschreitende Privatisierung der Staatsauffassung" zu untergraben 44 . Je mehr nämlich die Gesellschaft i n den Vordergrund rücke, desto weiter trete der Staat zurück, und der liberale Begriff der Gesellschaft, „die ja keine Gemeinschaft ist" 4 5 , beruhe auf dem Prinzip des freien Lebenskampfes, i n dem jeder seine privaten, egoistischen Interessen ungehindert verfolgen könne. Wenn das Strafrecht aber nur dem möglichst zweckmäßigen Schutz der gesellschaftlichen Sicherheit diene, gerate es i n Konflikt mit dem sittlichen Empfinden: „Denn es widerspricht dem sittlichen Empfinden, daß die Gesellschaft . . . ihre Mitglieder sollte aufhängen dürfen, um sich die ungestörte Nachtruhe zu sichern 46 ." — Günther gestand der liberalen Reformbewegung ein gewisses Gefühl für die von der Sittlichkeit gesteckten Grenzen zu: „Das schlechte Gewissen, das die Gesellschaft empfindet, wenn sie sich über die Störer ihrer Wohlfahrt zum Richter erhebt, ist der zwingende Grund ihrer ,Humanität 4 gegenüber dem Verbrecher 47 ." Die Auffassung von der Gesellschaft als einem Mechanismus zum Ausgleich einander widerstreitender Triebe und Interessen müsse auch dem Verbrecher zugute halten, daß er durch seine Triebe und Interessen zur Tat komme. Dem setze die Gesellschaft ihr Interesse am Schutz der gesellschaftlichen Abläufe entgegen. Der Richter rücke i n die Rolle des „Syndikus gesellschaftlicher Interessen" 48 . Damit gerate der „Rechtsgrund zur Strafe" 4 9 ins Wanken, und so sei zu erklären, daß 40 Widerstand 1930, S. 244. 41 Liberale und autoritäre Straf rechtsreform, S. 101. 42 Ebd., S. 101. 43 Ebd., S. 104. 44 Widerstand 1930, S. 341. 45 Liberale u n d autoritäre Straf rechtsreform, S. 103. 46 Ebd., S. 101. 47 Ebd., S. 103. 48 Ebd., S. 103. 49 Widerstand 1930, S. 250.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
das liberale „Strafrecht" auf die Mitglieder der Gesellschaft Rücksicht nehme, „die i n der zivilisatorischen Domestikation schlecht ausgerüstet geboren und i n ihrem undurchsichtigen Getriebe zu Fall gekommen sind" 5 0 . Die Blickwendung von der Tat auf den Täter sei somit nicht so sehr auf das Bestreben nach größerer Humanität, sondern auf den „Mangel einer objektiven Rechtsordnung", auf das „Vordringen der subjektiven Interessen der Gesellschaft" zurückzuführen 51 . Die Erfassung der Verbrecherpersönlichkeit mit Hilfe naturwissenschaftlicher Kategorien, wie sie von der Reformbewegung gefordert werde, könne nur bis zu einer „Diagnose" 52 gedeihen, nie aber zu einem bewertenden Urteil führen, weil keine Naturwissenschaft „aus sich selbst heraus" ethische Maßstäbe hervorbringen könne 5 3 . Somit werde die „Auflösung des Rechtschärakters der Strafjustiz" 5 4 angestrebt. Dem richterlichen Spruch, der auf die Individualität des Täters Rücksicht nehme, fehle es an einer Allgemeinverbindlichkeit, er habe „keine Bedeutung für die Sphäre des öffentlichen Lebens" 55 . Viele Argumente Α. E. Günthers gegen die Straf rechtsreform waren der Strafrechtswissenschaft seit langem bekannt aus dem Streit der beiden Strafrechtsschulen als Argumente der klassischen Schule gegen die Vorstellungen der modernen 56 . So w a r der V o r w u r f einer „Auflösung des Straf rechts" schon lange Zeit vorher zum ersten Mal erhoben 57 und seitdem ständig wiederholt worden, und zwar von einer Basis aus, die i n krassem Widerspruch zu der antiliberalen politischen Grundhaltung Α. E. Günthers stand: Den Gegnern der modernen Richtung ging es gerade u m die Sicherung des liberalen Rechtsstaates, den sie durch eine Erweiterung der staatlichen Machtbefugnisse mittels der Besserungs- und Sicherungsstrafe gefährdet glaubten 5 8 . so Ebd., S. 247. si Ebd., S. 250. 62 Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 105. 53 Widerstand 1930, S. 248. 54 Ebd., S. 262. 55 Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 105. 56 Eine Bestandsaufnahme des umfangreichen Materials würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Es sei daher n u r auf die Darstellungen u n d Schrifttumsangaben bei Maurach, A l l g . Teil, S. 64 ff. u n d 470 f.; Wegner, A l l g . Teil, S. 23 ff. verwiesen. 57 Genau diese Formulierung findet sich schon bei Birkmeyer, Was läßt von Liszt v o m Strafrecht übrig?, S. 97. 58 Vgl. dazu die i n A n m . 56 genannten Darstellungen sowie die A u s führungen oben l . K a p . I I I . 1. Zeugnis von der Grundhaltung der Reformgegner legen insbesondere die „Kritischen Beiträge zur Strafrechtsreform", herausgegeben von Birkmeyer u n d Ν agier seit 1908, ab; vgl. vor allem die Abhandlung von R. Schmidt, Die Strafrechtsreform i n ihrer staatsrechtlichen u n d politischen Bedeutung (H. 15).
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform
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I m Vergleich mit deren Argumentationsweise bieten die von Α. E. Günther verwandten Begriffe ein verwirrendes Bild: Den „Verfechtern der liberalen Strafrechtsreform" 59 hält er entgegen, daß „ihnen wohl kaum bewußt ist, daß die Gedanken, die sie vertreten, von der Inquisition herrühren" 5 9 , und er beklagt von seinem antiliberalen Standpunkt aus das „Eindringen subjektivistischer, niemals an Tatsachen zu erhärtender Erwägungen i n Urteilsbegründung und Strafvollzug" als eine Verletzung der „Menschenwürde des Straffälligen" 6 0 . Die Paradoxie dieses liberalen Antiliberalismus liegt auf der Hand. Wie ist es zu erklären, daß die Ansichten Günthers trotz dieser Widersprüche und Ungereimtheiten überhaupt und insbesondere i n der Strafrechtswissenschaft Beachtung fanden? I m K e r n der antiliberalen Reformkritik Günthers stand das Gesellschaftsmodell, das er als Hintergrund der Reform zeichnete. Der hervorstechende Zug der „liberalen" Strafrechtsreform lag danach i n der Verdrängung der staatlichen Autorität durch eine auf die Erfüllung privater Interessen ausgerichtete, autonome Gesellschaft. Die dahinterstehende Liberalismustheorie wich von dem historischen Begriff des Liberalismus insofern ab, als unerwähnt blieb, daß die liberalen Ideen i n ihrem Ursprung und auch später auf den Ausbau und die Sicherung der individuellen Rechtsstellung gegenüber dem Staat ohne die Zwischenschaltung der Gesellschaft abzielten. I n der Deutung des Liberalismus durch Α. E. Günther trat die Einschätzung der Weimarer Republik durch den revolutionären Konservatismus zutage: Die verächtliche Bezeichnung „liberales System" stand für die Uberzeugung, daß an die Stelle eines Staates, der eine Einheit verkörpert, eigenständigen Wert auf weist und integrierende Funktion besitzt, ein gesellschaftlicher Apparat getreten sei, dessen Mechanismus bestimmten gesellschaftlichen Gruppen eine nahezu unbeschränkte Entfaltungsmöglichkeit ihrer Interessen biete. Sich selbst betrachtete man als aus diesem System ausgeschlossen und jeder Möglichkeit beraubt, Einfluß zu nehmen. Die gegenwartsbezogene Interpretation führte zu einer uferlosen Ausdehnung des Begriffs „Liberalismus". Er wurde zum Sammelbegriff für die verschiedensten -ismen aufgebauscht: Individualismus (das liberale Gesellschaftsmodell dient letzten Endes individuellen Interessen), Rationalismus (in i h m sind nur Zweckgesichtspunkte maßgebend), Materialismus (höchste überpersönliche Werte treten i n i h m hinter materiellen Werten zurück). I n dieser Form gestattete die gegen Ende 59
Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 102. 60 Widerstand 1930, S. 339.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
der Weimarer Republik i n der politischen Auseinandersetzung immer mehr zum Schimpfwort degradierte Vokabel „liberal" eine abwertende Kennzeichnung der verschiedenartigsten Gegenstände. Deutlich w i r d die gegenwartsorientierte, unmittelbar tagespolitisch ausgerichtete Verwendung des Begriffs „liberal" daran, daß Α. E. Günther in seinen ersten Veröffentlichungen zur S traf rechtsreform i m Jahre 1930 noch zurückhaltend m i t dem Begriff umging, daß er aber in seiner Abhandlung „Liberale und autoritäre Straf rechtsreform", die 1932 erschien, zu einem Zeitpunkt also, i n dem die politischen Machtkämpfe zu viel heftigeren und härteren Auseinandersetzungen führten, reichlich und bedenkenlos von dem Wort i n dem oben aufgezeigten Sinne Gebrauch machte 61 . Das große Echo, das Α. E. Günthers Äußerungen auch i n der Strafrechtswissenschaft hervorriefen, erklärt sich einmal daraus, daß i n ihnen eine weitverbreitete Haltung gegenüber dem Staat von Weimar zum Ausdruck kam. Die zahlreichen Skandale und die schließlich immer deutlicher werdende Brüchigkeit des Systems schienen die Richtigkeit seiner Auffassung zu bestätigen. Der Siegeszug der rechtsradikalen Parteien tat ein übriges zu ihrer Verbreitung. Zum anderen bot die Liberalismustheorie Günthers das geeignete Mittel, um die Strafrechtsreform politisch wirkungsvoll abzuqualifizieren: Obwohl die Reform sich i n einigen wesentlichen Punkten den Ideen des Liberalismus gegenüber geradezu konträr verhielt, konnte sie auf diese Weise, dem politischen Trend der Zeit entsprechend, pauschal m i t antiliberalen Argumenten bekämpft werden. b) Nicolai
Die Überlegungen Nicolais zur Strafrechtsreform waren eingebaut i n die Darstellung und Begründung seiner „rassengesetzlichen Rechtslehre" 6 2 . Zum hauptsächlichen Gegenstand seiner Bewertung machte er die These, „daß der einzelne i n dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung steht, daß auch die einzelne Straftat auf bestimmte Ursachen zurückgeht, die der einzelne zu ändern nicht i n der Lage ist" 6 3 . Dazu führte er aus: „Geht man . . . auf die Rechts- und Gesellschaftsordnung zurück, so erscheint die einzelne Straftat nicht durch den Verbrecher verursacht, sondern durch die äußeren sozialen Umstände, durch die 61 A u f den 7 V2 Seiten dieser Abhandlung taucht das W o r t „Liberalismus" bzw. „ l i b e r a l " oder „liber alistisch" 19mal auf, während es i n der 18seitigen Aufsatzreihe aus dem Jahr 1930 n u r 8mal Verwendung findet. 62 Das Wesentliche ist i m Abschnitt „Rassengesetzliche Straftheorie", S. 41 ff., enthalten. 63 Rassengesetzliche Rechtslehre, S. 42.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform
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Rechtsordnung selbst 63 ." Aus dieser Sicht sei der Verbrecher „das schuldlose und bemitleidenswerte Opfer der Umwelt, der Rechtsordnung, des Staates, des Volkes" und die Strafe „ein Unrecht, das man dem Verbrecher zufügt" 6 3 . Nach dieser Auffassung müsse man zu dem Schluß kommen, daß „nicht die Gesamtheit vor dem Verbrecher, sondern dieser vor der Justiz zu schützen ist" 6 3 . Die Ansicht, daß ein humanes Strafrecht ein Zeichen für einen hohen Kulturstand sei, nannte Nicolai „nicht nur falsch, sondern auch sittlich bedenklich. Denn sie läßt erkennen, daß der Urteilende gefühlsmäßig mehr für den Verbrecher als für dessen Opfer Partei ergreift und das Volkswohl und den Schutz des Rechtsgedankens hintansetzt" 6 4 . Sein Urteil fiel kurz und bündig aus: „Dies ist die Lehre des Marxismus und die Auffassung unseres demokratischen Judentums 63 ." Noch weniger als die Äußerungen Α. E. Günthers fußten die Ausführungen Nicolais auf strafrechtswissenschaftlichen Grundlagen. Der gewählte Ausschnitt aus der Gedankenwelt der Reformer war zu schmal, die Bewertung stand i m Zeichen einer voreingenommenen, entschieden parteipolitischen Stellungnahme. Zu diesen Mängeln stand das Echo dieser Schrift auch i n der Strafrechtswissenschaft 66 i n keinem Verhältnis. Erklären läßt es sich nur damit, daß das Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung eine Auseinandersetzung auch mit deren strafrechtlichen Zielen erforderlich machte. Die Schrift Nicolais mußte dafür als geeigneter Ausgangspunkt erscheinen; ein von der Partei verabschiedetes strafrechtliches Programm existierte nicht, und die Position des Autors i n der Reichsleitung der Partei bürgte für einen zumindest halbwegs offiziellen Charakter seiner Äußerungen. Daß eine sorgfältige, kritische Uberprüfung m i t fachspezifischen M i t t e l n unterblieb, ist ein Beweis für die wachsende Politisierung der strafrechtlichen Auseinandersetzung. Nachhaltigen Eindruck hinterließ i n der weiteren Diskussion der Vorwurf Nicolais, die von den Reformern geplante Humanisierung des Strafrechts bezwecke den Schutz des Verbrechers. 4. Die Tagung der deutschen Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung in Frankfurt a. M. i m September 1932
Die von einer rechtsgerichteten antiliberalen Basis aus geführten A n griffe gegen die Strafrechtsreform konnten auf um so größere Aufmerksamkeit rechnen, je mehr sich die politischen Macht Verhältnisse zu64 Ebd., S. 44. 65 Ebd., S. 42. 66 Vgl. oben 4. Kap. I. 3. a) A n m . 39.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
gunsten der rechtsradikalen Parteien verschoben. Bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 mußten die liberalen Parteien und die SPD ζ. T. starke Stimmenverluste hinnehmen, während die NSDAP einen enormen Stimmengewinn für sich verbuchen konnte. Ihre 1930 erzielte Stimmenanzahl vergrößerte sich um mehr als das Doppelte; m i t 230 Abgeordneten (37,3 °/o) stellte sie die stärkste Fraktion i m neuen Reichstag. So kann es nicht verwundern, daß die i n der Strafrechtswissenschaft zunächst nur unterschwellig vorhandene antiliberale Reformgegnerschaft gegen Ende des Jahres 1932 an das Licht der Öffentlichkeit drang. Zum Anlaß wurde die Tagung der deutschen Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung i n Frankfurt a. M. am 12. und 13. September 1932. Für eine klare Stellungnahme bestand allerdings auch ein gewisser äußerer Zwang: Die Befürworter der Strafrechtsreformbestrebungen hatten dafür gesorgt, daß das Problem der Straf rechtsreform als Ganzes wieder i n den Mittelpunkt der Arbeit i n der deutschen Landesgruppe der I K V rückte. Bereits 1931 hatte E. Schmidt, der dem Vorstand angehörte, angesichts der Gefahren, die der Reform von den extremen politischen Kräften drohten, dazu aufgefordert 67 . Den Reformanhängern war daran gelegen, die gegnerischen Argumente i n Erfahrung zu bringen, die attackierten weltanschaulichen Grundlagen der Strafrechtsreform noch einmal klar herauszustellen und etwaige Mißverständnisse zu beseitigen 68 . Nur so ist zu erklären, daß auf der Tagesordnung der Frankfurter Sitzung der I K V , der die Fortsetzung ihrer Bemühungen um die Straf rechtsreform auf Grund der ihr von ihren Gründern mitgegebenen Zielsetzung 69 sowie des bisher stets unbeirrbar eingehaltenen Weges eigentlich selbstverständlich sein mußte, die Frage nach der „Fortführung der Straf rechtsreform" gestellt war. Wie wenig dennoch die Fachwelt damit rechnete, daß eine mit antiliberalen Argumenten kämpfende Reformgegnerschaft zum Durchbruch gelangen könnte, zeigen Tagungsberichte : „Geradezu ,sensationell/ gestaltete sich am zweiten Tage die Verhandlung über den Gegenstand
67 E. Schmidt, RuS H. 79, S. 22. 68 Das geht deutlich aus dem Referat Kohlrauschs u n d den Diskussionsbeiträgen von Radbruch u n d E. Schmidt hervor. Vgl. M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 145 ff., 173 ff., 175 ff. 69 v. Liszt, ZStW 9, S. 367: „Ohne sich u m rein theoretische Schulstreitigkeiten zu kümmern, verfolgt die Vereinigung ein durchaus praktisches Ziel: die allmähliche U m w a n d l u n g des geltenden Rechts, damit die Strafe mehr als bisher ihrer Aufgabe entsprechend gestaltet werde." — Diesem Gedanken verlieh die erste Satzung der I K V klaren Ausdruck (vgl. A r t . I u n d I I ; M i t t . I K V , l . J g . 1889).
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform
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Fortführung der Strafrechtsreform' " 7 0 , führte Reichsgerichtsrat Härtung aus. Dieselbe Überraschung spiegelt ein anderer Bericht: „Die . . . Aussprache über die Fortführung der Strafrechtsreform gestaltete sich wider allgemeines Erwarten zum Höhepunkt der Tagung 7 1 ." Diese Äußerungen beweisen noch einmal, daß der Prozeß der Entstehung und Formierung der neuen Richtung der Öffentlichkeit größtenteils entzogen war. a) Der Verlauf
der
Tagung
Schon i m Rahmen der einleitenden Referate erhielt ein Gegner der bisherigen Reformvorschläge, der damals i n Wien, später i n Berlin tätige Hochschullehrer Graf Gleispach, als zweiter Berichterstatter das Wort 7 2 . Zwar trat er in Übereinstimmung m i t dem ersten Referenten Kohlrausch für eine Fortsetzung der Bemühungen um die Strafrechtsreform ein; ob sie jedoch die bisherige Richtung beibehalten könne, zog er angesichts der jüngsten politischen Ereignisse, die „ja schließlich doch nur Auswirkungen neuer Geistesströmungen sind" 7 3 , i n Zweifel. Man dürfe nicht achtlos an dem Ergebnis der letzten Reichstagswahl vorübergehen. Hinter der dadurch hervorgerufenen Verschiebung i m Kräfteverhältnis der politischen Parteien erblickte Gleispach das Wirken einer „machtvollen Volksbewegung, . . . das Emporkommen neuer Geistesrichtungen, die mit ganz bestimmten Zielpunkten alles, W i r t schaft, geistige Kultur, Staat und Recht ziu durchdringen suchen" 74 . I n seinen weiteren Ausführungen legte er ein deutliches Bekenntnis zur nationalsozialistischen Bewegung ab 75 . Zwar versuchte er i n einem späteren Diskussionsbeitrag, diesen Eindruck zu verwischen: Er habe, um die neuen Bestrebungen deutlich zu machen, absichtlich den Standpunkt der radikalsten Partei gewählt. Sein Referat ließ jedoch erkennen, daß er sich mit der nationalsozialistischen Bewegung identifizierte: Nachdem er zunächst vom Standort eines objektiven Beobachters aus sprach („Nach der Grundeinstellung der jungen Bewegung .. .") 7 6 , wurde er später zum Beteiligten („Die Annahme irgendeines der rechtlichen Regelung entzogenen Kreises des Beliebens des einzelnen a priori ist uns77 70 Härtung, JR 1933, S. 161. 71 Brenner, D R i Z 1932, S. 307. 72 Vgl. zum folgenden M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 160 ff. 73 Ebd., S. 163. 74 Ebd., S. 163 f. 75 Nationalsozialistische Äußerungen Gleispachs führten i m übrigen 1933 zu seiner Maßregelung durch die österreichische Regierung u n d zum Wechsel nach Berlin, wo er eine Honorarprofessur erhielt (vgl. Bracher /Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, S. 566). 76 Ebd., S. 165. 77 Hervorhebung v. Verf.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
fremd") 7 6 . Nachdrücklich verteidigte er den von der NSDAP i n den Reichstag eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Nation 7 8 . I n Ermangelung eines strafrechtlichen Programms der NSDAP unternahm Gleispach es i n seinem Vortrag, von ihren Grundideen ausgehend die nationalsozialistischen Vorstellungen von einer Gesamtreform des Strafrechts zu entwickeln. So sehr stand er unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Erfolge, daß er es nicht für notwendig erachtete, die bisherigen Reformvorschläge eingehender K r i t i k zu unterziehen. Vielmehr begnügte er sich damit, i n einer kurzen Bemerkung E. Schmidt zu unterstellen, die Reform „eine schöne Blüte des Liberalismus" genannt zu haben 79 , und sie wegen dieser Kennzeichnung durch einen ihrer Anhänger zu verwerfen. Diese Weltanschauung besitze heute i m Volk keine Wurzeln mehr und verfüge fast nur noch i n den Reihen der deutschen Professoren über Anhänger. Die ablehnende Haltung Gleispachs gegenüber dem bisherigen Weg der Strafrechtsreform kam somit zur Hauptsache als Spiegelbild i n dem von ihm entworfenen Programm zum Ausdruck: Das Straf recht habe der „Förderung und Hochzüchtung der deutschen Volksgemeinschaft" 80 zu dienen. Artfremde Rechtsgedanken seien aus dem Strafrecht zu verbannen; an altes deutsches Rechtsdenken sei wieder anzuknüpfen. Angelpunkt jeder rechtlichen Regelung sei das Wohl des Ganzen, nicht hingegen die Freiheit des einzelnen. Ein Widerspruch zwischen Recht und Sitte könne nicht hingenommen werden 8 1 . Die Strafe solle zur
78 Ebd., S. 168; vgl. Verh. des Reichstags I V . Wahlperiode 1928, Bd. 440, Drucksache 1741: Der E n t w u r f sah die Todesstrafe f ü r Landesverrat i n weitester F o r m vor („Wer es unternimmt, . . . eine Handlung zu begehen, die die Sicherheit oder Unabhängigkeit der deutschen Nation i m Verhältnis zum Ausland zu gefährden geeignet ist . . . " ; Werbung f ü r Abrüstung; A u f forderung zur Kriegsdienstverweigerung; Dienstpflichtentziehung) sowie f ü r „Volksverrat" (Behauptung der „Kriegsschuldlüge"; weitere Aufnahme von Kriegsfolgelasten; Mißbrauch von Freiheitsrechten zur Schädigung der Lebensinteressen des deutschen Volkes). M i t Zuchthaus waren „Wirtschaftsverrat", „Rassenverrat" u n d die Verächtlichmachung nationaler Symbole bedroht. I n schweren Fällen sollte auch hier die Todesstrafe verhängt werden können. 79 Die Bemerkung bezog sich auf E.Schmidts Schrift „Strafrechtsreform u n d K u l t u r k r i s e " , RuS H. 79, i n der die Äußerung i n Wahrheit nicht enthalten ist. Sie würde auch i m Gegensatz zum ganzen I n h a l t des Buches stehen, i n dem sich E. Schmidt u m den Nachweis bemühte, daß die E n t w ü r f e gerade nicht liberalistisch seien. Vgl. auch E. Schmidts Widerspruch i n der nachfolgenden Diskussion, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 176. so Ebd., S. 165. 8i Die Möglichkeit einer Wesensverschiedenheit negierte Gleispach, ebd., S. 165, kurzerhand. Seine apodiktische Tonart entsprach dem aktivistischen Element i n der nationalsozialistischen Ideologie.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform
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Durchsetzung sittlicher Grundsätze beitragen, die, aus der Volksgemeinschaft hervorgegangen, absolute Gültigkeit beanspruchen könnten. Den Bezugspunkt strafrechtlicher Haftung bilde die Schuld, „die Schuld des einzelnen zurechnungsfähigen Individuums, als ein Zurückbleiben hinter den Forderungen, die ein Volk an das Individuum stellen darf" 8 2 . Zwingend folgte nach Gleispachs Ansicht aus diesen Prämissen, daß die Strafe an der Vergeltungsidee auszurichten sei. Darüber hinaus müsse die Forderung durchgesetzt werden, „daß der entartete Verbrecher aus der Volksgemeinschaft ausgeschaltet werde" 8 2 . Dazu seien die Sicherungsmittel einzusetzen, die aber, von den Strafen scharf getrennt, nur untergeordnete Bedeutung hätten. Die Todesstrafe sei selbstverständlicher Bestandteil des Strafensystems. Die Strafe solle sich nach der Bedeutung der verletzten Richtsgüter richten; die Verletzung höchster Gemeinschaftsgüter bedürfe der Ahndung durch schwerste, m i t Ehrverlust verbundene Strafen. Verstärkter Schutz solle den ideellen Gütern zukommen, wie „Ehre und Würde des deutschen Volkes und seiner Helden, die Fruchtbarkeit der deutschen Rasse und das deutsche Volkstum schlechthin" 83 . Verschärfte Bestimmungen i m Wirtschaftsstrafrecht sollten der Ausbeutung i n jeder Form begegnen. Hätten diese Grundgedanken einmal Eingang i n ein neues Strafgesetz gefunden, so dürfe die Durchsetzung nicht durch eine zu großzügige Gestaltung des richterlichen Ermessens behindert werden. Abschließend faßte Gleispach sein Strafrechtsprogramm zusammen, indem er es als Konsequenz des durch die neue geistige Strömung bewirkten Vordringens von Idealismus, Universalismus und Nationalismus gegenüber Materialismus, Individualismus und Liberalismus bezeichnete, daß die Anlagetheorie gegenüber den Umwelttheorie größere Bedeutung gewinnen und daß sich die Generalprävention gegenüber der Spezialprävention i n den Vordergrund schieben werde. Erst die nachfolgende Diskussion war von dem eigentlichen Streitpunkt beherrscht, von der Frage, inwiefern der Vorwurf des „Liberalismus" und des „Individualismus" auf die bisherigen Reformbestrebungen zutreffe. Ein ausführlicher Beitrag E. Schmidts gleich zu Beginn, der i m wesentlichen mit dem Referat von Kohlrausch übereinstimmte, wies der Aussprache die Richtung. Er engte zugleich den Raum der antiliberalen Argumentation ein und verwehrte den Reformgegnern, sich m i t allgemein gehaltenen Angriffen zu begnügen. E. Schmidt nahm Gedanken82 Ebd., S. 166. 83 Ebd., S. 168; hier n a h m Gleispach wieder auf den nationalsozialistischen E n t w u r f eines Gesetzes zum Schutze der Nation Bezug (Reichstag I V 1928, Drucksache 1741).
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gänge wieder auf, die er bereits früher geäußert hatte 8 4 : Als Charakteristikum der Strafrechtsreform bezeichnete er, „was i n den Strafbegriff hineingedacht w i r d " 8 5 . Der Gedanke einer spezialpräventiven, „individualisierenden" Strafe habe nichts mit einem „Individualismus" i m Sinne einer Freiheitsgarantie für den einzelnen gemein. Der Zweck der Resozialisierung mache aus Gründen des Gemeinwohls sogar einschneidende Eingriffe i n die individuelle Freiheitssphäre durch Erziehungsmaßnahmen erforderlich, die ein liberalistisches Strafrecht nie gestatten würde. Sichtbarstes Zeichen des Illiberalismus in der Strafrechtsreform sei die angestrebte Sicherungsstrafe. Nach eindringlichen Appellen von Radbruch und E. Schmidt an die Reformgegner, endlich ihre Bedenken klar zu äußern, ergriff der Göttinger Privatdozent Schaffstein als Sprecher der „Jüngeren" das Wort 8 6 . Den Kern seiner Ausführungen bildete die Feststellung, daß die in den Entwürfen angelegte Tendenz zur Milde dazu berechtige, die Reform „liberalistisch" zu nennen; denn dem Liberalismus wohne ein individualistisches Element inne, das i n der Bewahrung des einzelnen Rechtsbrechers vor einschneidenden staatlichen Maßnahmen zum Zuge komme. Zum Beweis führte Schaffstein das „weitgehende und vielgestaltige Milderungssystem" 87 der Entwürfe an. Die Auswirkungen der Reformgedanken waren jedoch nach seiner Ansicht i n der Vergangenheit nicht auf die Gesetzesvorschläge allein beschränkt geblieben; auch i n der Gesetzgebungspraxis und i n der Strafrechtspflege habe sich der Individualismus durchgesetzt. I m Verein m i t dem Sozialismus, der gleichfalls eine individualistische Bewegung sei, habe der Liberalismus dazu beigetragen, daß nach dem Weltkrieg nur solche Reformvorstellungen i n die Gesetzgebungspraxis umgesetzt worden seien, die dem Rechtsbrecher Vergünstigungen gebracht hätten, so ζ. B. die Strafvollzugsreform und die Ausdehnung der bedingten Begnadigung. Schaffstein beließ es bei diesen Andeutungen. Er sprach damit einmal auf die Veränderungen i m Strafvollzug an, die durch die Reichsratsgrundsätze aus dem Jahre 1923 und die sich daran anschließenden Dienst- und Vollzugsordnungen der Länder herbeigeführt worden waren. Die Reichsratsgrundsätze stellten den Erziehungs- und Besserungsgedanken i n den Mittelpunkt des Freiheitsstrafvollzugs und nahmen den Stufenvollzug i n das Strafvollzugssystem auf. Zum anderen wies 84 Vgl. E. Schmidt, M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 175 ff., sowie RuS H. 79, SchwZStR 1931, S. 200 ff. u n d MschrKrimPsych 1931, S. 193 ff. 85 M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 176. 86 Vgl. zum folgenden M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 181 ff. 87 Ebd., S. 183.
I . Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform
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er mit der Erwähnung der bedingten Begnadigung auf die Bestrebungen hin, den Gedanken des „bedingten Straferlasses" 88 auf dem Weg über das Gnadenrecht zum Durchbruch zu verhelfen. Sie hatten bereits vor dem ersten Weltkrieg Erfolge verzeichnen können, als von 1895 bis 1903 i n fast allen deutschen Ländern das Gnadenrecht der Landesherren durch Verordnung an die Justizminister delegiert wurde, die ihre Entscheidung von der Stellungnahme des Gerichts und der Strafvollzugsbehörde abhängig machten. Schaff steins Bedenken richteten sich offensichtlich gegen die i n vielen Ländern nach 1919 vorgenommene weitere Verfestigung der bedingten Begnadigung durch die Delegation des Gnadenrechts an die Gerichte und gegen deren Begnadigungspraxis 8 9 . Seine Befürchtung, daß auch die Strafrechtspflege auf Grund liberalistischer Einflüsse verweichliche, sah Schaffstein durch die Untersuchung Exners über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte bestätigt 90 , die aufzeige, „daß die Strafzumessungskurve sich immer mehr der gesetzlichen Mindeststrafe nähert, und daß, wenn man sich die Kurve über 30 bis 40 Jahre fortgesetzt denkt, w i r dann überhaupt keine Strafe mehr haben würden" 9 1 . Schaffstein verzichtete darauf, die Alternative zum bisherigen Weg der Strafrechtsreform, ein konservatives Strafrechtsprogramm, selbst zu entwerfen, sondern verwies auf die Ausführungen Gleispachs. Ergänzend bemerkte er zum Strafbegriff, daß die Spezialprävention als die für den Verbrecher vorteilhafteste staatliche Reaktion der Vergeltung und Abschreckung zu weichen habe, weil nur i n ihnen die Staatsautorität in rechter Weise wiederhergestellt und betont werde. I n diesem Sinne empfehle sich ein Umbau der Strafrechtsreformentwürfe. Ein Gelingen dieses neuartigen Gesetzeswerkes sei aber erst nach zwei oder drei Jahren zu erwarten, wenn der autoritär-konservative, organische Staatsgedanke allgemein anerkannt sei. I m weiteren Verlauf der Aussprache erfuhr Schaffsteins Beitrag nachdrückliche Unterstützung durch die Äußerungen des Freiburger Professors Erik Wolf 9 2 . Bemerkenswert war vor allem, was dieser zur politischen Standortbestimmung der von ihm und Schaff stein repräsentierten Gruppe der „jüngeren Kriminalisten" ausführte: Ihre Auffassungen seien von der Ideenwelt des jungen Nationalismus oder Konservativismus geprägt. Entschieden verwahrte er sich gegen eine 88
So die Bezeichnung i n den Reformentwürfen; vgl. oben 4. Kap. I . 1. » Vgl. dazu unten 4. Kap. I I . 2. a). so Kriminalistische Abhandlungen, H. 16, Leipzig 1931. 91 S chaff st ein, M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 183. 92 Vgl. zum folgenden M i t t . I K V , N.F. 6. Bd., S. 190 ff. 8
7 Marxen
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
pauschale Gleichsetzung der jungkonservativen Richtung mit dem Nationalsozialismus. Die neue Richtung i n der Strafrechtswissenschaft wolle „vorläufig nur Zurückhaltung üben, um die i m Entstehen begriffenen Umformungen des Staats- und Rechtsdenkens i n Deutschland nicht aus der Entwicklung des Strafrechts auszuschalten" 93 . Die von Schaffstein an den Entwürfen vorgetragene K r i t i k ergänzte E. Wolf durch Angriffe gegen einige besondere Aspekte der Reformbestrebungen, denen er bereits vorher i n seinen Schriften kritische, aber zurückhaltend formulierte Äußerungen gewidmet hatte. Die Wertung der Rechtsgüter i n den Entwürfen stehe noch weitgehend unter dem Einfluß des individualistischen Liberalismus, wie es sich am Fehlen des Schutzes der Arbeitskraft sowie an der wesentlich niedrigeren Strafe erweise, mit der die Verletzung der öffentlichen Ordnung gegenüber der Verletzung von Individualgütern bedroht sei. Auch bedauerte E. Wolf, daß die Entwürfe die „so nützlichen" Bestimmungen über den Sozialwucher aus dem Kriegsstrafrecht nicht übernommen hätten 9 4 . Dem sich darin manifestierenden individualistischen Liberalismus, insbesondere dem Wirtschaftsliberalismus, gelte der Kampf der neuen Richtung; keineswegs solle der Satz „nulla poena sine lege" und damit der Besondere Teil abgeschafft werden. Liberalistisch fundiert sei auch der Täterbegriff des Entwurfs 9 5 . E . W o l f hatte an ihm auszusetzen, daß er dem dringenden Ruf nach gesetzlicher Täterpsychologie nicht nachkomme und m i t der formalen Definition der Schuldelemente dem „farblosen individualistischen Gesetzesliberalismus des 19. Jahrhunderts" 9 6 verhaftet geblieben sei. Das zugrundeliegende Menschenbild sei von einer naturalistischen Weltbetrachtung geformt: „Der Mensch als abstrakte Ursache i m naturwissenschaftlichen Sinn 9 6 ." Seinen Platz müsse ein geisteswissenschaftlich fundierter, normativer Täterbegriff einnehmen. Sein letztes Bedenken galt dem „Internationalismus" des Entwurfs. Er beklagte, daß dieser i n fehlgeleitetem Bestreben nach Internationalisa Ebd., S. 192. 94 „Sozialwucher" meint die Schädigung der Allgemeinheit durch die Forderung überhöhter Preise für unentbehrliche Gegenstände u n d Leistungen. A n die Stelle des Tatbestandsmerkmales der individuellen Notlage beim Individualwucher (§§ 302 a ff. StGB) t r i t t das der allgemeinen Notlage. E. Wolf sprach hier die während u n d nach dem 1. Weltkrieg erlassenen Gesetze u n d Verordnungen zur Bekämpfung des Preiswuchers, des Leistungswuchers, der Warenzurückhaltung, des Schleichhandels usw. an, die bis 1926 nach u n d nach außer K r a f t gesetzt w u r d e n (vgl. Frank, Strafgesetzbuch, 18. Aufl., S. 707 f.). 95 Soweit i n der Aussprache „der E n t w u r f " angesprochen wurde, w a r der E n t w u r f 1930 gemeint. 96 Ebd., S. 193.
I. Der Widerstand gegen die „liberale" Strafrechtsreform
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tät Begriffe und Kategorien verwende, die auch i n vielen „modern" eingestellten ausländischen Reformvorschlägen und Gesetzen zu finden seien. Das Augenmerk müsse mehr auf das nationale Rechtsgut gerichtet werden, dessen Begriffsbildung dann international zur Geltung zu bringen sei. Auf Grund der Zeitumstände hielt E. Wolf ein Gelingen der Reform, soweit sie die bisherige Richtung beibehalten sollte, für i n höchstem Maße unwahrscheinlich. Erst müsse sich i m Volk eine einheitliche Rechts- und Staatsgesinnung durchgesetzt haben. Keinen Zweifel ließ er daran, daß nach seiner Ansicht den Ideen des jungen Konservativismus die Zukunft gehörte. b) Das Ergebnis
der
Tagung
Die Frankfurter Tagung hatte deutlich gemacht, daß die deutsche Landesgruppe der I K V i n der Frage der Strafrechtsreform i n zwei, wenn nicht drei Gruppen gespalten w a r 9 7 . Zahlenmäßig trat dieses Ergebnis bei der abschließenden Abstimmung über die von den beiden Berichterstattern vorgelegten Thesen i n Erscheinung: Zwar enthielten sie auch ein Votum für die Fortführung der Strafrechtsreform (These 1); These 4 schwächte jedoch ab: „Unbeschadet der Anerkennung des Einflusses neuer Geistesströmungen und bedeutender Veränderungen i m Verhältnis der politischen Kräfte 9 8 ." Sie enthielt i n versteckter Form — nur auf den ersten Blick stellte die Aussage eine Selbstverständlichkeit dar — den Hebel, mit dessen Hilfe die Strafrechtsreform i m bisherigen Sinne abgebrochen und eine neue Reform mit veränderten Vorzeichen an ihre Stelle gesetzt werden konnte. Daher verlangte Radbruch eine gesonderte Abstimmung über diese These. M i t 25 gegen 23 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen wurde sie angenommen. Sicherlich wäre es verfehlt, hinter den 25 Ja-Stimmen die gleiche Anzahl entschiedener Gegner der bisherigen Richtung der Reform zu vermuten. Dafür fehlte es i n der vorausgegangenen Diskussion an entsprechend vielen, klaren Stellungnahmen. Zumindest aber läßt sich der Abstimmung entnehmen, daß viele Teilnehmer i n ihrer Haltung schwankend geworden waren und daß sie sich bemühten, für neue Entwicklungen offen zu bleiben, um den Anschluß nicht zu versäumen. Nicht leicht zu erklären ist, daß eine derartige Spaltung innerhalb der Vereinigung i n Anbetracht ihrer programmatischen Zielaussage und der zuvor stets verfolgten Richtung überhaupt möglich war, zumal sich 97 Vgl. dazu u n d zum folgenden den Tagungsbericht von Grünhut, 52, S. 763 ff. (773 f.). 98 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 171. *
ZStW
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
den Reformgegnern i n der „Deutschen strafrechtlichen Gesellschaft" eine Organisation anbot, die dem kriminalpolitischen Reformprogramm der I K V entschieden Widerstand entgegensetzte". Für die antiliberalen Reformgegner kam jedoch ein Anschluß nicht i n Betracht, da die „Deutsche strafrechtliche Gesellschaft" eine Organisationsform der klassischen Schule darstellte, die sie gleichfalls als „liberalistisch" einstuften. I h r Verbleib i n der I K V dürfte auch darauf zurückzuführen sein, daß die I K V i m Laufe der Zeit eine allseits anerkannte führende Position i m Kampf um die Straf rechtsreform errungen hatte. Wer über die Richtung der Reform mitbestimmen wollte, dem mußte die I K V als das geeignetste Arbeitsfeld erscheinen. Schließlich könnte die Mitgliedschaft der antiliberalen Strafrechtswissenschaftler i n der I K V auch auf einer gewissen Übereinstimmung m i t den illiberalen Elementen i n den Reformvorschlägen der Vereinigung beruht haben. I m übrigen war auch die Gegensätzlichkeit zwischen der Deutschen strafrechtlichen Gesellschaft und der I K V i n personeller Hinsicht nicht so scharf, wie die Unterschiedlichkeit der Programme erwarten läßt: So gehörten mehrere Gründungsmitglieder der Gesellschaft der I K V an und verblieben auch weiterhin in ihr (Allfeld, Gerland, Honig, Kern, Lobe, Mezger, Sauer) 100 . Die dadurch bedingte Spannweite der I K V trug m i t zu einer Flügelbildung bei, die sich nach der Beobachtung Sauers bereits 1927 i n der Ausbildung eines führenden linksliberalen und eines schwächeren nationalliberalen oder konservativen Flügels äußerte 101 . Bis 1932 gelang es dem rechtsgerichteten Flügel aber nicht, der Reformarbeit entscheidende Akzente zu verleihen. Weithin sichtbare Zeichen konnte er erst auf der Frankfurter Tagung vor dem Hintergrund umwälzender politischer Ereignisse setzen. Aber die antiliberalen Reformgegner bewegten sich, wie die Tagung gezeigt hatte, nicht auf einer Linie. Als Repräsentanten der i n ihren Reihen vorhandenen beiden Gruppen können Gleispach einerseits sowie Schaffstein und E. Wolf andererseits genommen werden 1 0 2 . Während Gleispach ein nationalsozialistisches Strafrecht vertrat, vermied die andere Seite eine parteipolitische Festlegung. Erstmals hatte die Frankfurter Sitzung näheren Aufschluß über die Argumente gegen ein liberales Strafrecht gegeben, das einige Strafrechtswissenschaftler i n den Reformentwürfen verkörpert sahen: Als 99 Vgl. Oetker, D J Z 1925, Sp. 1300 f. 100 s. D J Z 1925, Sp. 1302 u n d M i t t . I K V N.F. 1. Bd., S. 3 ff. u n d 6. Bd., S. 209 ff. ιοί Sauer, ArchRWPh Bd. 26, S. 274; auch ders., GS 103, S. 15. 102 Vgl. dazu Grünhut, ZStW 52, S.773f.; Radbruch, Die Gesellschaft 1933, S. 223 ff.; Brenner, D R i Z 1932, S. 307 f.
I I . Die Auseinandersetzung u m die Reform i n der Zeit des Umsturzes
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liberalistisch glaubten sie einmal die Rechtsgüterordnung und den Täterbegriff erkannt zu haben. Zum hauptsächlichen Streitgegenstand, zur Frage der Straf auf fassung, verwiesen sie auf die i n den Entwürfen, i n der Gesetzgebung und i n der Strafrechtspflege zu verzeichnenden Tendenzen zur Milde. Ihre Vorwürfe richteten sich nicht immer unmittelbar gegen die Strafrechtsreform. Die Feststellung, daß bisher nur die für den Rechtsbrecher günstigen Teile der Reform Vorschläge i n die Praxis umgesetzt worden seien, enthielt zugleich unausgesprochen das Zugeständnis, daß der Reform in diesem Sinne auch illiberale Elemente eigen waren, indem sie harte, durchgreifende Maßnahmen des Staates gegen den Verbrecher vorsah. II. Die Fortsetzung und Erweiterung der Auseinandersetzung um die „liberale" Strafrechtsreform in der Zeit des Umsturzes Die antiliberalen Argumente der Reformgegner bezogen sich — das hatte die Frankfurter Tagung ganz deutlich gemacht — nur noch zum Teil auf die Strafrechtsreformentwürfe selbst; i m übrigen richteten sich die Angriffe, die sich auch jetzt noch vielfach auf Andeutungen beschränkten, gegen die gesamte, angeblich durch die Reformtendenzen bestimmte Strafrechtsentwicklung i n Gesetzgebung und Rechtspflege. I m weiteren Verlauf der Auseinandersetzung ging die antiliberale Seite immer mehr dazu über, eine kritische Würdigung des Zustandes der gesamten Strafrechtspflege zur Grundlage ihrer Erneuerungsbewegung zu machen, was nicht zuletzt eine Folge des Scheiterns der Strafrechtsreform war. Die Ausschußberatungen i m Reichstag der V. Wahlperiode waren von Beginn an (Dezember 1930) nur schleppend vorangegangen, da die radikalen Parteien ihre Mitarbeit verweigerten 1 0 3 . Trotz wiederholter längerer Sitzungspausen, die zu Sondierungsgesprächen genutzt wurden, konnten die weltanschaulichen Gegensätze nicht zugunsten pragmatischer Lösungen überwunden werden. I m Frühjahr 1932 kam die Ausschußarbeit vollends zum Stillstand. Zu diesem Zeitpunkt wurde offenkundig, daß sich die Strafrechtsreform in einem „Zustand der Agonie" 1 0 4 befand. I m Mai desselben Jahres verlor sie ihren wichtigsten Fürsprecher, den langjährigen Ausschußvorsitzenden Wilhelm Kahl, der nach unermüdlichem, beispielgebendem Einsatz für eine Reform des Strafrechts i m Alter von 82 Jahren verstarb. I h m blieb erspart, miterleben zu müssen, wie die Reichstagsauflösung vom 4. Juni 1932 dem Vorhaben einer Gesamtreform des Strafrechts ein Ende bereitete. Die 103 v g l . oben 4. Kap. I . 1. d). 104 Ebermayer, D R i Z 1932, S. 108.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
Turbulenz der politischen Ereignisse, von denen hier nur die gewaltigen Stimmengewinne der radikalen Parteien und die abermalige Reichstagsauflösung vom 12. September 1932 erwähnt seien, ließ i n der Folgezeit dem Gedanken an eine Wiederaufnahme der parlamentarischen Arbeit an der Strafrechtsreform keinen Raum, schon gar nicht unter A n knüpfung an die vor auf gegangenen Bestrebungen 105 . Das heißt jedoch nicht, daß die Auseinandersetzung um den künftigen Weg des Straf rechts verstummt war; i m Gegenteil, durch das vorzeitige Scheitern der Reform fühlten sich ihre Gegner aufgerufen, m i t Nachdruck einen Umschwung i n der Strafrechtsentwicklung i m Sinne der weltanschaulichen Grundlagen der neuen politischen Kräfte zu fordern. I n zahlreichen Veröffentlichungen, die sich m i t den Grundfragen des Strafrechts, insbesondere mit der Frage seiner Abhängigkeit von der Staats auf fassung befaßten, versuchten „national" gesinnte Strafrechtswissenschaftler, dem Strafrecht den Weg zu weisen. Auch die nationalsozialistische Machtergreifung ließ die allgemein zu beobachtende Neigung zu übergreifender Erörterung strafrechtlicher Probleme zunächst unberührt, da kein fertiges nationalsozialistisches Strafrechtsprogramm vorlag. I n der Zeit kurz vor und nach der Machtübernahme herrschte daher i n der Strafrechtswissenschaft das Bemühen vor, die wesentlichen Züge des künftigen Straf rechts zu entwerfen, und das bedeutete vor allem, die Fragen der Rechtfertigung und Ausgestaltung der Strafe unter Berücksichtigung des neuen Staatsverständnisses zu beantworten. Wenn auch die Konzeptionen eines neuen Strafrechts manche Unterschiede auf wiesen, so bestand doch weitgehende Übereinstimmung i n der Beurteilung der „vorrevolutionären" Verhältnisse als „liberalistisch" ; die Forderung nach einer Überwindung eines solchen „liberalen" Strafrechts bildete den Hintergrund dieser erweiterten Reformdiskussion. Die Vermehrung der Angriffsziele um Gegenstände der praktischen Strafrechtspflege mußte eigentlich zu der Schwierigkeit führen, daß die gegnerische Position nicht mehr ohne weiteres als „liberalistisch" abqualifiziert werden konnte; denn nun bildete das Angriffsobjekt nicht mehr eine idealtypische Konstruktion, sondern es setzte sich aus Erscheinungen i n der Strafrechtspraxis zusammen, die sich bei näherem Hinsehen stets als außerordentlich komplex erweisen. Wie i m folgenden zu zeigen sein wird, begegneten die Vertreter der antiliberalen Richtung der Schwierigkeit, indem sie eine eingehende Würdigung aller Umstände vermieden und sich darauf beschränkten, die Aspekte heraus105 Unverständlich ist daher Wegners Behauptung: „ Z u r Zeit des Umsturzes von 1933 w a r die Strafrechtsreform i n vollem Gange" (Strafrecht, A l l g . Teil, S. 59).
I I . Die Auseinandersetzung u m die Reform i n der Zeit des Umsturzes
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zustellen, die geeignet waren, ihre Thesen auszufüllen. Auf diese Weise blieben Elan und Schärfe ihrer Angriffe gewahrt. 1. Die antiliberale Kampfschrift von Dahm und Schaffstein „Liberales oder autoritäres Strafrecht?"
I m Januar 1933, kurz nach der Frankfurter IKV-Tagung, erschien die von den Privatdozenten Dahm (Heidelberg) und Schaffstein (Göttingen) gemeinsam verfaßte Streitschrift „Liberales oder autoritäres Strafrecht?", die zur meistbeachteten Veröffentlichung der antiliberalen strafrechtlichen Erneuerungsbewegung wurde. I n der Einleitung erklärten die Autoren ausdrücklich, daß ihre Abhandlung keinen wissenschaftlichen Beitrag darstelle; vielmehr beabsichtigten sie, m i t ihren Ausführungen die gesamte Staats- und kulturpolitisch interessierte Öffentlichkeit zu erreichen 106 . Zur Verwirklichung dieses Anspruchs trug bei, daß das Buch knapp und übersichtlich gehalten war, sich durch prägnante, allgemeinverständliche Formulierungen auszeichnete und auf wissenschaftliche Belege verzichtete. Obwohl sich die Autoren vor allem an die breite Öffentlichkeit wandten, stieß ihre Abhandlung auf ein vielfältiges Echo auch i n der Strafrechtswissenschaft, das sich i n zahlreichen Besprechungen 107 , zustimmenden Stellungnahmen 1 0 8 und Entgegnungen niederschlug 109 . Es wurde deutlich, daß die Schrift erstmalig i n nahezu programmatischer Form Auffassungen i n die öffentliche Diskussion einbrachte, die sich i n der internen strafrechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung schon seit langem angestaut hatten. Die politischen Machtverschiebungen erhöhten die Bedeutung der von Dahm und Schaffstein vertretenen Richtung, so daß auch Strafrechtswissenschaftler m i t entgegengesetzten Anschauungen nicht umhin konnten, ihre Linie als ein wesentliches Moment i n der Reformdiskussion anzuerkennen. So wurde der alljährlich stattfindenden Zusammenkunft von Strafrechtslehrern in Frankfurt a. M. am 8. Januar 1933 als Thema die Frage 106 Dahm/ S chaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 4. 107 Drost, ArchRSozPh Bd. 27, S. 113 ff.; Härtung, JR 1933, S. 175; v. Hentig, MSchrKrimPsych 1933, S.235; Kern, D J Z 1933, Sp. 1442; H.Mayer, J W 1933, S. 944 f. los u.a. Stock, Die Strafe, S.7; Nagler, GS 103, S . X X I V A n m . 4 9 ; Sauer, GS 103, S. 3 Anm. 1; Aschaffenburg, MSchrKrimPsych 1933, S. 158 ff. (Der Beitrag ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, daß Verfechter einer sozial-liberalen Reform versuchten, den Anschluß an den konservativen Zeitgeist zu gewinnen; vgl. dazu unten 4. Kap. I V . 2.); zurückhaltend: Gallas, ZStW 53, S. 1 ff. 109 u.a. Drost i n : Recht u n d Leben — Wochenbeilage der Vossischen Zeitung v o m 26.1.1933; Grünhut, ZStW 53, S. 1 ff.; Radbruch, Die Gesellschaft 1933, S. 217 ff.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
„Liberales oder autoritäres Strafrecht?" vor angestellt 110 . A u f i h r erhielt Dahm Gelegenheit, die Vorstellungen der jüngeren Kriminalistengeneration über ein „autoritäres" Straf recht darzulegen 111 . Man konnte den Eindruck gewinnen, die neue Antithese habe den alten Schulenstreit verdrängt 1 1 2 . Nach der „nationalen Revolution" vom 30. Januar 1933 verlagerte sich das Schwergewicht i n den strafrechtswissenschaftlichen Abhandlungen, die eine Erneuerung des gesamten Strafrechts zum Gegenstand hatten, von den Angriffen gegen das „liberale" Strafrecht auf programmatische Aussagen über das kommende Strafrecht. Zwar wurde auch i n ihnen immer wieder die Frontstellung zum „liberalen" Strafrecht hervorgehoben; die Beseitigung des „liberalen Systems" von Weimar ließ jedoch i n den politisch unmittelbar relevanten Fragen der Rechtfertigung und Ausgestaltung der Strafe eine Rückkehr zu liberalen Lösungen nicht mehr erwarten, so daß man sich darauf konzentrierte, i n der Auseinandersetzung um das künftige Strafrecht die eigenen Ansichten als konsequente Umsetzung des Nationalsozialismus i n das Strafrecht herauszustellen und so die Entwicklung zu beeinflussen. Der Kampf gegen den Liberalismus war damit keineswegs abgeschlossen: I n einer späteren Phase 113 bemühten sich die Vertreter des A n t i liberalismus, wie noch zu zeigen sein wird, i n speziellen Problemkreisen der Strafrechtswissenschaft, vor allem i m Bereich der Dogmatik, liberales Gedankengut auszumerzen 114 . Der erste Abschnitt der Angriffe gegen den Liberalismus i m Strafrecht erreichte m i t der Schrift von Dahm und Schaffstein zweifellos einen Höhepunkt. Als die Abhandlung konzipiert wurde, hatte sich der autoritäre Staatsgedanke i n der politischen Wirklichkeit noch nicht 110 Vgl. dazu den Tagungsbericht von v. Gemmingen, ArchRWPh Bd. 26, S. 497 ff. m Der Vortrag ist abgedruckt i n MSchrKrimPsych 1933, S. 162 ff. " 2 so v. Gemmmgen, ArchRWPh Bd. 26, S. 497. us w i e jede historische Phasentheorie, so muß auch diese Einteilung i n Phasen m i t der Einschränkung versehen werden, daß damit n u r eine Schwerpunktbildung gekennzeichnet sein soll. Daß als maßgebender Zeitp u n k t für den Einschnitt — Konsolidierung des nationalsozialistischen Machtapparates — k e i n genaues D a t u m genannt w i r d , macht deutlich, daß der Übergang fließend war. 114 A n diesen Bestrebungen waren Dahm u n d Schaffstein ebenfalls maßgeblich beteiligt. Auch aus diesem Grunde verdient i h r Beitrag zur a n t i liberalen R e f o r m k r i t i k besonderes Interesse. Daher erscheint die folgende ausführliche Darstellung gerechtfertigt; denn auf diese Weise w i r d der Zusammenhang zwischen den späteren dogmatischen Arbeiten u n d den früheren kriminalpolitischen Vorstellungen deutlich u n d so eine rein theoretische Betrachtung der dogmatischen Arbeiten vermieden. Gleichzeitig könnten grundsätzliche Aspekte über die gegenseitige Abhängigkeit von Straf- u n d Verbrechensbegriff erkennbar werden.
I I . Die Auseinandersetzung u m die Reform i n der Zeit des Umsturzes
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durchgesetzt; das Engagement der Autoren schlug sich daher i n der Breite ihrer Angriffsfront und i n der Unbedingtheit ihrer ablehnenden Haltung nieder. Sie leisteten damit einen grundlegenden Beitrag für alle späteren autoritären Strafrechtsprogramme. I m übrigen bekräftigten und untermauerten sie ihren Standpunkt i n der Folgezeit durch einige weitere Schriften 1 1 5 , die ζ. T. auch schon die spätere dogmatische Diskussion unmittelbar berührten. 2. Die Hauptangriffspunkte
Ihre Auffassung, daß die Strafrechtspflege liberalistischem Einfluß unterworfen sei, sahen die Vertreter des Antiliberalismus i n einer Fülle von Einzelerscheinungen bestätigt, „die zwar für sich betrachtet vielfach hingenommen, zum Teil sogar begrüßt werden können, i n ihrer Gesamtheit aber Anzeichen des Zerfalls und für ein Zurückweichen der Staatsgewalt sind" 1 1 6 . Diesen „Schrumpfungsprozeß" 117 führten sie auf die i n der Staatsform der Weimarer Republik vollzogene Verbindung von Liberalismus und Sozialismus zurück. Beide Weltanschauungen verfolgen nach ihrer Auffassung das Ziel, dem Individuum das größtmögliche Maß an Freiheit zukommen zu lassen; der Unterschied bestehe lediglich darin, „daß der Liberalismus glaubte, sein Freiheitsideal sofort und ohne Übergangsformen verwirklichen zu müssen" 116 , während der Sozialismus sein „individualistisches Endziel" 1 1 9 nur unter der Voraussetzung als erreichbar betrachte, daß i n einer Übergangsstufe der Staat das Prinzip der Gleichheit „oder besser noch: der gleichen Freiheit 4 " 1 2 ° durchsetze. Das Zusammenwirken der beiden Kräfte i n einem soizal-liberalen Kompromiß müsse zwangsläufig dem Individuum zu größten Freiheiten und Vorteilen verhelfen und die staatliche Macht auf ein M i n i m u m reduzieren. Die Konsequenz der Beschneidung der staatlichen Machtbefugnisse war nach der Ansicht von Dahm und Schaffstein „eine allmähliche A u f 115 Dahm, Autoritäres Strafrecht, MSchrKrimPsych 1933, S. 162 ff.; Die Ehre i m Straf recht, D R 1934, S. 417 ff.; Die Erneuerung der Ehrenstrafen, DJZ 1934, Sp. 821 ff.; Gemeinschaft u n d Strafrecht, 1935; Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, 1935; Schaff stein: Nationalsozialistisches Strafrecht, Gedanken zur Denkschrift des Preußischen Justizministers, ZStW 53, S. 603; Die Bedeutung des Erziehungsgedankens i m neuen deutschen Strafvollzug, ZStW 55, S. 276 ff.; Der Begriff „Strafanspruch" u n d sein rechtspolitischer Gehalt, D J Z 1934, Sp. 1174 ff.; Ehrenstrafe u n d Freiheitsstrafe i n ihrer Bedeutung f ü r das neue Strafrecht, DStR 1934, S. 273 ff. " β Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 169. i n Ebd., S. 171. us Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 11. us Ebd., S. 10. 120 Ebd., S. 11.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
lösung des Strafrechts" 120 , die sich in drei Punkten äußere: a) I m Individualismus bei der Bestimmung der Strafzwecke, b) i m Rationalismus und Individualismus bei der Bewertung der geschützten Rechtsgüter und c) i n der teilweisen Erweiterung und teilweisen Einschränkung des richterlichen Ermessens, jeweils zugunsten des Individuums. a) Die liberalistische
Bestimmung
der Straf
zwecke 121
Das Vordringen des Individualismus bei der Festsetzung der Strafzwecke sahen Dahm und Schaffenstein als ein Ergebnis der Reformbestrebungen an, die zwar nicht ihr Gesamtkonzept, wohl aber ihr Gedankengut durchgesetzt hätten. I m Bemühen, das Täterverhalten naturalistisch und rationalistisch zu begreifen, sei die Strafe zu einem möglichst rationellen Verbrechensbekämpfungsmittel umgestaltet worden, das jeder „überpersönlichen W ü r d e " 1 2 2 entbehre. Der Staat sei auf diese Weise zu einer nach dem Prinzip der Funktionstüchtigkeit und Zweckmäßigkeit ausgerichteten Organisation degradiert worden. Auf den Gedanken der Zweckmäßigkeit gehe ζ. B. die Forderung nach A b schaffung der Zuchthausstrafe und somit nach Beseitigung der durch diese Straf art herbeigeführten Entehrung zurück 1 2 3 . Der liberalistische Einschlag i m sozialliberalen Kompromiß habe aber nur eine begrenzte Rationalisierung der Strafe zugelassen. I n einem vollständig zweckhaft ausgestalteten Strafensystem würde neben dem Besserungsgedanken auch der Gesichtspunkt der sichernden Verwahrung des Unverbesserlichen seinen Platz beanspruchen. Die Anhänger eines liberalen Strafrechts hätten es aber verstanden, die Einführung der Sicherungsverwahrung zu verhindern und ihrem Freiheitsideal i m Strafvollzug durch die Maxime der prinzipiellen Besserungsfähigkeit Anerkennung zu verschaffen. Überhaupt sei i n der Gesetzgebungspraxis mit erstaunlicher Einseitigkeit von den Reformvorschlägen nur das verwirklicht worden, was dem Individuum Vorteile biete und eine Erweiterung seines Freiheitsraumes bedeute. Dahm und Schaffstein verwiesen i n diesem Zusammenhang auf den Straferlaß i n der Form der Begnadigung, i n der der Gedanke der unbestimmten Verurteilung, der entsprechend dem damit verbundenen Erziehungszweck eine Verkürzung oder Verlängerung der Strafe vorsehe, nur einseitig durchgesetzt worden sei. Den Abbau der Strafen sahen sie weiterhin i m Geldstrafengesetz sowie i m Jugend-
121 Vgl. insgesamt dazu ebd., S. 13 ff. 122 Ebd., S. 15; vgl. auch Dahm, DR 1934, S. 419. 123 vgl. Dahm, D R 1934, S. 419.
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gerichtsgesetz dokumentiert, das dem Richter i n zu weitem Umfang erlaube, an die Stelle der Strafe Erziehungsmaßnahmen zu setzen. Auch i n die praktische Strafrechtspflege war nach Auffassung der beiden Autoren die individualistische Zeitströmung eingedrungen. Als symptomatisch bezeichneten sie die Einschränkung der Todesstrafe i m Wege der Gnadenpraxis nach dem Krieg, „obwohl i n i h r nicht nur die Idee der absoluten Priorität des Staates gegenüber dem einzelnen, sondern auch der rationalistische Gedanke der Sicherung am sinnfälligsten i n Erscheinung t r i t t " 1 2 4 . Als eine Ursache nannten sie die „ i n ihrer Übertreibung typisch liberale Furcht vor dem Justizirrtum" 1 2 4 . Zur Hauptsache diente Dahm und Schaffstein aber die Studie Exners über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte als Beleg für die Auflösungstendenzen i n der Strafrechtspraxis. Aus seinem Material hoben sie besonders die Nachweise für den Rückgang der Zuchthausstrafe und damit der Ehrenstrafe und der langen Gefängnisstrafe sowie die Belege für die Neigung der Gerichte hervor, von der normalen gesetzlichen Strafe abzuweichen und die Annahme mildernder Umstände zum Regelfall zu machen. Daß diese Entwicklung allein den rationalistischen Reformbestrebungen anzukreiden war, mußte jedoch zweifelhaft erscheinen, angesichts der Feststellung Exners, die Strafzumessung entspringe mehr „traditionalem" als rationalem Handeln 1 2 5 und sei von einer „moralisierenden Ethik des täglichen Lebens" 1 2 6 durchzogen. Dahm und Schaff stein werteten dieses Untersuchungsergebnis als Beweis dafür, „daß der Vergeltungsgedanke viel zu tief i m Rechtsgefühl des Volkes verwurzelt ist, als daß er i n absehbarer Zeit durch rationalistische Theorien ausgerottet werden könnte" 1 2 7 . Der verderbliche Einfluß der naturalistischen Verbrechenslehre habe zwar nicht den tragenden Grund der Strafzumessung beseitigt; er habe aber zu einer erheblichen quantitativen Minderung der Strafen geführt. „Die liberale Auffassung der Strafe als Preis für die Verletzung fremder Güter bleibt bestehen, der soziale Gedanke aber kommt in einer Senkung des Preises zum Ausdruck. Das Ergebnis ist . . . ein Höchstmaß von Vorteilen für das Individuum zum Nachteil der Staatsinteressen 128 ." Auch i m Vollzug der Strafen stellten die beiden Autoren Erscheinungsformen des Liberalismus fest, wenngleich Dahm in seinem Aufsatz 124 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 19. 125 v g l . Exner, Strafzumessungspraxis, S. 10. 126 Ebd., S. 94. 127 Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 22. 128 Ebd., S. 23.
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„Autoritäres Strafrecht" nicht umhin konnte, die energischen Proteste E. Schmidts gegen die Kennzeichnung der individualisierenden Täterbehandlung als „individualistisch" 1 2 9 als berechtigt anzuerkennen und die darin enthaltenen sozialen Intentionen zuzugestehen 130 . I n der praktischen Anwendung jedoch habe sich der Individualismus des Erziehungsgedankens bemächtigt: Da dem sozial-liberalen Staat jedes positive richtungsweisende Element fehle, habe sich i m Strafvollzug als Erziehungsmaxime die Forderung durchsetzen können, daß der einzelne i n die Lage versetzt werden solle, sich möglichst frei und ungehemmt zu entfalten. b) Der Individualismus
in der
Rechtsgüterordnung
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Dem von Exner nachgewiesenen Abbau der Strafen gewannen Dahm und Schaff stein eine über den Rahmen der Straftheorie hinausreichende Bedeutung ab: Hierin zeige sich eine Erschütterung und ein Zerfall der durch das Recht zu schützenden Werte, was nur als Ergebnis rationalistischen und individualistischen Denkens gewertet werden könne. I m Zuge dieser Entwicklung beginne die Schutzwürdigkeit vieler Rechtsgüter zweifelhaft zu werden: Der Kampf gegen die Strafbarkeit der Abtreibung werde i m Namen eines aufklärerischen Individualismus geführt, der dem „religiösethischen Moment und den Bedürfnissen einer nationalen Bevölkerungspolitik" 1 3 2 verständnislos gegenüberstehe. M i t der Gesetzesnovelle von 1926 133 und einem Beschluß der I K V von 1932, der die Straflosigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung sowohl i m Falle medizinischer und eugenischer als auch sozialer Indikation vorsah 1 3 4 , zeigten sich erste praktische Auswirkungen. Ähnliche Bestrebungen i m Bereich des Sexualstraf rechts (§ 175 StGB) 1 3 5 , der Religionsdelikte 1 3 6 und des strafrechtlichen Eidesrechts 137 dienten nach Ansicht von Dahm und Schaff stein dazu, die Kompetenzen des Staates zu be129 v g l . e. Schmidt, SchwZStR 1931, S. 216 f. u n d M i t t . I K V N.F. Bd. 6, S. 176 f. 130 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 173 A n m . 2; vgl. auch ders., Der Richter i m modernen Strafrecht, S. 32. 131 Vgl. insgesamt dazu Dahm/ S chaff stein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 24 ff. ι * 2 Ebd., S. 25. 133 U m w a n d l u n g des Tatbestandes der Abtreibung durch die Schwangere selbst oder durch einen anderen m i t ihrer E i n w i l l i g u n g v o n einem V e r brechen i n ein Vergehen. 134 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 126. 135 Vgl. z. B. Liszt! Schmidt, Lehrbuch, S. 562. 136 Vgl. ζ. B. Thümmel, Der Religionsschutz durch das Strafrecht; Strafgesetzbuch u n d Religions vergehen (RuS H. 53). 137 v g l . Hegler, Die Eidesreform, S. 23 ff. m. w. Nachw.
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schneiden und den Freiheitsraum des einzelnen noch weiter auszudehnen. Unter den vielen Beispielen für die strafrechtlichen Konsequenzen der skeptischen liberalen Staatsidee stach aber nach ihrer Meinung die Privilegierung des Uberzeugungstäters hervor, wie sie i n den verschiedenen Strafgesetzentwürfen vorgeschlagen und i n die Reichsratsgrundsätze über den Vollzug von Freiheitsstrafen aus dem Jahre 1923 aufgenommen worden w a r 1 3 8 . Daß der Staat sich hier eines ethischen Werturteils enthalte, beruhe einmal auf dem Fehlen eines Eigenwertes; zum anderen bedeute es einen wichtigen Schritt auf dem Wege zur Loslösung des Rechts von der Ethik, wenn sich der Staat auf Grund einer angeblich fehlenden sittlichen Überlegenheit ein Unwerturteil über den Täter versage. Dieses Beispiel verdeutliche zugleich die Grenze, die eine liberale und individualistische Strafrechtsauffassung zum Schutze der individuellen Freiheit dem rationalistischen Prinzip des Gesellschaftsschutzes setze. Die Forderung nach Unantastbarkeit des per. sönlichen Bereichs politischer Uberzeugungen verhelfe dem Uberzeugungsverbrecher zu einer Besserstellung, die an sich m i t einem rationalistischen System nicht i n Einklang zu bringen sei 1 3 9 . c) Die Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips zugunsten des Rechtsbrechers 140 Die zahlreichen Veränderungen i n der Strafrechtspraxis konnten nach Dahm und Schaffstein nur auf Grund erheblicher Verschiebungen i m System der Gewaltenteilung eintreten, die i n der Mehrzahl zu einer Erweiterung der Richtermacht, i n wenigen Fällen auch zu einer Einschränkung geführt hätten, stets aber dem einzelnen ein hohes Maß 138 §52 der Grundsätze f ü r den Vollzug der Freiheitsstrafen bestimmte: „Bestand bei einem Gefangenen nach der ausdrücklichen Feststellung des Urteils der ausschlaggebende Beweggrund zur Tat darin, daß er sich zu der Tat auf G r u n d seiner sittlichen, religiösen oder politischen Uberzeugung f ü r verpflichtet hielt, so sind i h m die für die Strafart zulässigen Vergünstigungen ohne weiteres zu gewähren. V o n der Einhaltung v o n Fristen, die für die Gewährung von Vergünstigungen vorgeschrieben sind, k a n n bei einem solchen Gefangenen abgesehen werden." 139 Vgl. Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 27; Dahm, D R 1934, S.419; ders., D J Z 1934, Sp. 824. 140 Vgl. insgesamt dazu Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 28 ff. Der Stellungnahme zu Fragen der Gewaltenteilung i n „Liberales oder autoritäres Straf recht?" w a r e n zwei Veröffentlichungen Dahms voraufgegangen (Die Zunahme der Richtermacht i m modernen Strafrecht, 1931; Der Richter i m modernen Strafrecht, 1932), die sich zur H a u p t sache auf eine Darstellung der Verschiebungen i m System der Gewaltenteilung beschränkten u n d noch keine Bewertung v o n einem entschieden antiliberalen Standpunkt aus enthielten.
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an Vorteilen gewährten. Den i m Grunde illiberalen Prozeß einer A u f lösung des Gewaltenteilungsprinzips bezogen die beiden Strafrechtswissenschaftler i n ihre antiliberale Konzeption m i t ein, indem sie den individualistischen Aspekt hervorhoben u n d den Vorgang als Folgeerscheinung des sozial-liberalen Kompromisses erklärten: „ I n d i v i dualistischem Denken aber entspricht die einseitige Lockerung dieser Teilung. Die Gewaltenteilung bleibt erhalten, soweit sie dazu dient, den einzelnen vor Eingriffen der Staatsgewalt zu schützen. Sie w i r d preisgegeben, u m die Lage des einzelnen zu verbessern 1 4 1 ." Eine Ausdehnung der Richtermacht sei insbesondere durch den Wandel i n der Auslegungsmethode b e w i r k t worden: Der Ubergang von der Begriffsjurisprudenz zur teleologischen Auslegung habe die Bindung des Richters an das Gesetz entscheidend gelockert. Jetzt sei dem Richter ein M i t t e l an die Hand gegeben, m i t dessen Hilfe er Gesetzeslücken ausfüllen und eine Bewertung der Interessenlage vornehmen könne. Sein Tätigkeitskreis habe sich damit u m Aufgaben erweitert, die nach dem Gewaltenteilungsprinzip dem Gesetzgeber vorbehalten seien. I n welchem Sinne die Rechtsprechung g e w i l l t sei, von dieser Kompetenzerweiterung Gebrauch zu machen, habe das Reichsgericht durch die Schaffung eines neuen Unrechtsausschließungsgrundes, nämlich des „übergesetzlichen Notstandes", klargestellt. Ferner sei damit zu rechnen, daß der Gedanke der „ Z u m u t b a r k e i t " als „übergesetzliche Straf barkeitsvoraussetzung" 1 4 2 i n der Rechtsprechung Anerkennung finde. Die Gesetzgebung selbst hatte nach Auffassung von Dahm u n d Schaff stein diese Entwicklung gefördert: Das Jugendgerichtsgesetz und die Geldstrafengesetze hätten den Umfang des richterlichen Ermessens i m Rahmen der Strafzumessung erheblich ausgedehnt. D a m i t seien sie den Strafgesetzentwürfen gefolgt, die über den Bereich der Strafzumessung hinaus dem Richter noch größere Machtbefugnisse anvertrauen wollten, indem sie i h m durch absichtlich unklar formulierte Tatbestände zu weitreichenden Werturteilen u n d Interessenabwägungen anhielten. Auch durch eine Gegenbewegung zur Einschränkung der Richtermacht sahen sich die beiden antiliberalen Autoren i n ihren Ansichten bestätigt; i m Ergebnis habe sie ebenfalls zu einer Verweichlichung der Strafjustiz geführt. Der Druck der öffentlichen Meinung, insbesondere der liberalen Presse, enge den Richter i n seiner A r b e i t ein. Die Lockerung der gesetzlichen Bindung habe zur Folge gehabt, daß die Straf justiz den Wünschen u n d Forderungen der verschiedenen gesellschaftlichen Grupp i Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 173 Anm. 1. 142 Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 30; vgl. dazu die voraufgegangene Schrift Schaffsteins, Die Nichtzumutbarkeit, S. 60 ff.
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pen ungeschützt gegenüberstehe. Der Richter w i r d nach Meinung der beiden Verfasser „die K r i t i k am wenigsten dann herausfordern oder herauszufordern glauben, wenn er milde bestraft" 1 4 3 . Dazu komme ein weitreichender Einfluß des Parlaments und der Exekutive auf die Gestaltung der Rechtspflege, der sich in der Personalpolitik bei der Besetzung der Richterstellen, i n der Einforderung von Akten und Berichten durch das Justizministerium und i n Begnadigungen sowie „autoritätszersetzenden" 144 Amnestien äußere. Das Resultat sei — und damit griffen die Autoren auf den Titel eines weithin beachteten Pamphletes zurück — eine „gefesselte Justiz" 1 4 5 . 3. Einseitigkeiten und Widersprüche in den Angriffen gegen das „liberale" Strafrecht
Die große Bedeutung, die Radbruch der Exnerschen Schrift über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte i n einer Besprechung m i t den einleitenden Worten zuerkannte: „Seit langem ist kein wichtigeres Buch kriminalistischen Inhalts erschienen als dieses" 146 , konnte auch die Abhandlung von Dahm und Schaff stein für sich i n Anspruch nehmen. Die Verfasser verstanden es, ihrer Interpretation des Zahlenmaterials die stärkste Resonanz zu verschaffen: Die Verweichlichung und Auflösung der Strafrechtspflege als ein Ergebnis liberalistischen Denkens. Für ein positives Echo sorgte schon der weitverbreitete politische Antiliberalismus ihrer Zeit. Die bewußte politische Stellungnahme der Autoren und ihre Absicht, ein möglichst breites Publikum zu erreichen, verführte sie aber zu mancher Einseitigkeit und Vereinfachung i n der Darstellung und den Deutungsversuchen. a) Das Fehlen eines für einen Anstieg der
Nachweises Kriminalität
Ihrem Plädoyer für ein „autoritäres" Strafrecht fügten sich die A n gaben Exners über die Abnahme der Strafen nach A r t und Umfang scheinbar lückenlos ein: Das schwächliche Zurückweichen des demokratischen Staatsgebildes vor dem Verbrechen müsse von der scharf durchgreifenden Verbrechensbekämpfung eines autoritären Staates abgelöst werden. Lückenlos wäre die Gedankenkette jedoch nur dann gewesen, wenn auch der Beweis dafür vorgelegen hätte, daß die Milderung der Strafen zu einem Anstieg der Kriminalität geführt hätte. i « Ebd., S. 33. 144 Ebd., S. 36. 145 Ebd., S. 36; sie spielten damit auf die gleichnamige Schrift von Zarnow an. 146 J W 1932, S. 925.
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Weder findet sich bei Exner dafür ein Beleg, noch erbrachten Dahm und Schaffstein den statistischen Nachweis. So mußte Dahm i n seinem späteren Aufsatz über „Autoritäres Straf recht" einräumen: „Ein sicheres Urteil über die praktischen Auswirkungen der Milderungstendenz i m Strafrecht läßt sich auf Grund des vorliegenden statistischen Materials noch nicht fällen 1 4 7 ." Von anderer Seite 1 4 8 wurde eingewandt, daß nachgewiesenermaßen der Gesamtumfang der Kriminalität nicht bedeutsam zugenommen habe, wie ein Blick i n die Kriminalstatistik beweise: Von 100 000 Personen der strafmündigen Bevölkerung wurden 1886 1 020, 1913 1 169 und 1929 1 191 verurteilt 1 4 9 . Auch unter Berücksichtigung der Unsicherheitsfaktoren, die sich aus einer bloßen Urteilsstatistik ergeben, muß man zu der Feststellung kommen, daß die Kriminalitätsentwicklung den Befürchtungen von Dahm und Schaffstein nicht entsprach. Lediglich durch eine Verschiebung i n den Deliktsgruppen konnten sie sich bestätigt fühlen: Die Delikte gegen den Staat und die öffentliche Ordnung waren stark angewachsen 150 . Dahm und Schaffstein waren jedoch nicht bereit, kriminologischen Argumenten entscheidende Bedeutung beizumessen. Die irrationale Grundhaltung 1 5 1 trat deutlich i n der Äußerung Dahms zutage: „Keine Kriminalstatistik, keine kriminologischen Einzelerfahrungen, selbst wenn sie gegen uns sprächen, würden die Bedenken gegen die einseitige Milderungstendenz und gegen den Eindruck der Schwäche beseitigen, den die Strafrechtspflege heute hervorruft 1 5 2 ." b) Die Unterschlagung der Verschärfungstendenzen in Rechtsprechung und Gesetzgebung
Grober Vereinfachung machten sich die antiliberalen Autoren schuldig, als sie neben die Milderungstendenzen i n der Strafzumessungspraxis „Auflösungserscheinungen" i n Rechtsprechung und Gesetzgebung 147 MSchrKrimPsych 1933, S. 175 A n m . 2. 148 v.Hentig, MSchrKrimPsych 1933, S. 235 f.; Mittermaier, SchwZStR 1934, S. 328; 1939 schrieb Exner selbst: „Die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte ist i n den ersten fünfzig Jahren unserer statistischen Beobachtungen, d. h. bis zur nationalsozialistischen Revolution i m m e r milder geworden, trotzdem ist die K r i m i n a l i t ä t i m großen u n d ganzen zurückgegangen'· (Kriminalbiologie, S. 139 f.). 149 Vgl. Gallas, ZStW 53, S. 14 u n d K r i m i n a l s t a t i s t i k 1927, S. 58 ff., 1928, S. 6 ff., 63; vgl. auch H. Mayer, Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 54 f. 150 Vgl. Gallas, ZStW 53, S. 14; Schwinge, 49. Jb. der Gef.ges. f ü r Sachsen u n d Anhalt, S. 19 f. 151 Vgl. v. Gemmingen, ArchRWPh Bd. 26, S. 507 f. 152 MSchrKrimPsych 1933, S. 175.
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stellten. Bereits auf der IKV-Sitzung i n Frankfurt hatte E. Schmidt den Verfechtern eines „autoritären" Strafrechts vorgehalten, daß sie i n ihren Angriffen gegen die angeblich liberalistische Strafrechtspraxis die i n ihr ebenfalls feststellbaren Verschärfungstendenzen einfach übergingen 153 . Als Beispiele für Verschärfungstendenzen i n der Rechtsprechung, die zwar nicht i n der Strafzumessung, wohl aber i n einer Ausdehnung des Bereiches des Strafbaren zum Durchbruch gelangt seien, nannte E. Schmidt: Die Einengung des § 193 StGB, die Übernahme des extensiven Täterbegriffs durch das RG, die Erweiterung des Untreuetatbestandes, der Beamtendelikte und des Wuchers. Diese Andeutungen betrafen i m einzelnen folgende Entwicklungen in der Rechtsprechung: I n seiner Entscheidung vom 11. März 1927 zur ärztlichen Schwangerschaftsunterbrechung hatte das RG für den Fall einer Interessenkollision die Möglichkeit einer Rechtfertigung i m Wege eines „übergesetzlichen Notstandes" anerkannt. I m Anschluß daran stellte es zu § 193 StGB fest, daß „die Anerkennung der Wahrnehmung berechtigter Interessen als Rechtfertigungsgrund lediglich eine Anwendung des für Fälle des Notstandes — der ,Interessenkollision 4 — geltenden Grundsatzes der Güterabwägung i s t " 1 5 4 . Die Abwägung müsse wie bei der Schwangerschaftsunterbrechung unter Beachtung einer bestimmten Rangordnung der Rechtsgüter erfolgen. Von daher kam das RG zu dem Ergebnis, daß nur solche Interessen, die den Beleidiger unmittelbar beträfen, ehrwidrige Äußerungen rechtfertigen könnten, nicht hingegen „allgemeine Interessen, die jeden Staatsbürger oder doch größere, durch Religion, Politik oder dgl. allgemeine Gesichtspunkte verbundene Gruppen von Staatsbürgern berühren" 1 5 5 . Das RG schränkte damit den Anwendungsbereich des §193 StGB erheblich ein und beschnitt so vor allem den Tätigkeitsbereich der Presse. M i t der Übernahme des von E. Schmidt begründeten extensiven Täterbegriffs 1 5 6 bekannte sich das RG zu der Ansicht, daß die gesetzlichen Teilnahmeformen nur Straf einschränkungs gründe für denjenigen bilden, der am Zustandekommen des tatbestandsmäßigen Erfolges m i t gewirkt hat und damit nach dieser Auffassung i m weitesten Sinne als Täter anzusehen ist, dem aber die Privilegierung für bestimmte, gesetzlich fixierte Beteiligungsformen zugute kommt. Es entschied sich somit gegen den vorher eindeutig herrschenden restriktiven Täterbegriff, demzufolge die Teilnahmevorschriften als Strafausdehnungsgründe zu betrachten sind, die den Bereich des strafbaren Verhaltens über die i n 153 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 189. 154 R G 62, S. 92 f.
1 5 5 R G 62, S. 93. 156 v g l . Festgabe für F r a n k 1930, Bd. I I , S. 106 ff. 8 Marxen
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den gesetzlichen Tatbeständen festgelegten typischen Ausführungshandlungen hinaus ausdehnen. I m Hintergrund der reichsgerichtlichen Entscheidung stand das Problem, daß sich der restriktive Täterbegriff als ungeeignet zur befriedigenden Lösung zweier Kreise von Fällen erwiesen hatte, die man als strafwürdig erachtete: Die Fälle der mittelbaren Täterschaft und der fahrlässigen Veranlassung und Förderung fremder Taten. Ausschlaggebend war die zweite Fallgruppe; denn die Strafbarkeit der mittelbaren Täterschaft war durch eine dauerhafte Judikatur gesichert, wenngleich es an einer erschöpfenden dogmatischen Begründung fehlte. M i t Hilfe eines erweiterten Täterbegriffs konnte das RG jetzt auch die fahrlässige Veranlassung, Förderung und Nichthinderung einer fremden vorsätzlichen Tat bestrafen 157 . Die Rechtsprechung zum Tatbestand der Untreue war ein besonders plastisches Beispiel für die Ausdehnung der Strafbarkeitsgrenze. Das RG sorgte für einen außerordentlich weiten Anwendungsbereich des § 266 StGB, indem es die Mißbrauchstheorie verwarf und sich der Treubruchstheorie anschloß. I n diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß bis zum 26. 5.1933 eine alte Fassung i n Kraft war, die i n kasuistischer Form bestimmte, durch Rechtspflicht gebundene Personen in einer Vertreterstellung m i t Strafe bedrohte, sofern sie ihrer Verfügung unterworfenes fremdes Vermögen schädigten. Den weitaus häufigsten Anwendungsfall machte Ziff. 2 aus, die durch Verwendung der Begriffe „Beauftragter" und „Auftraggeber" deutlich auf das rein rechtliche Vertretungsverhältnis abstellte. Eine gewichtige Ansicht i n der Lehre (Binding, Frank) Schloß daraus, daß für den Untreuetatbestand der Mißbrauch einer rechtlichen Vertretungsmacht entscheidend sei. Die Mißbrauchstheorie bestimmte den Kreis der von § 266 StGB erfaßten Fälle eindeutig. Ihr wurde entgegengehalten, daß sie eine Reihe von Fällen ausschließe, die strafwürdig seien; so reichten tatsächliche Handlungen, Unterlassungen und Rechtsgeschäfte, die wegen Überschreitens oder Fehlens der Vertretungsmacht oder aus sonstigen Gründen u n w i r k sam seien, nicht als Anknüpfungspunkt für eine Bestrafung aus 1 5 8 . Diese Schwierigkeiten beseitigte die Treubruchstheorie, die vor allem H. Mayer 1926 eingehend begründete 159 . Ihre Vertreter erblickten das konstitutive Element der Untreue i m Bruch eines Vertrauensverhältnisses. Später wurde zur Begründung der Treubruchstheorie der „weltanschauliche Gegensatz" 160 zwischen den beiden Meinungen herangezogen: „Die Mißbrauchstheorie war . . . eine typisch liberalistische AusR G 61, 318; 64, 316; 64, 370. 158 v g l . Zoller, Ausdehnung u n d Einschränkung des Untreuebegriffs, S.7. «β H. Mayer, Die Untreue, S. 79 ff. 160 Zoller y Ausdehnung u n d Einschränkung des Untreuebegriffs, S. 10.
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legungsmethode 160 ." Sie entspreche der liberalen Forderung nach „möglichst enger Auslegung der Strafgesetze zugunsten der Freiheit des einzelnen" 1 6 0 . Die Treubruchstheorie verwirkliche dagegen die „völkische Weltanschauung, die das Allgemeinwohl über das Einzelinteresse stellt und nach der deshalb nicht die Freiheit des Staatsbürgers . . . zu schützen ist, vielmehr das Interesse der Gemeinschaft unter allen Umständen vorgeht" 1 6 1 . Die reichsgerichtliche Rechtsprechung entschied sich für die Treubruchstheorie und eröffnete so der Vorschrift des § 266 StGB einen weiten, nicht klar abgrenzbaren Anwendungsbereich 162 . Dahinter stand die Absicht, eine angebliche Straflücke zwischen der Untreue und der Unterschlagung zu beseitigen. Die Beamtendelikte erfuhren eine Ausdehnung durch die Rechtsprechung zum Beamtenbegriff: § 359 StGB bestimmt, daß als Beamte i m strafrechtlichen Sinne außer den Beamten i m engeren Sinne auch andere, mit der Verwaltung von Amtsgeschäften betraute Personen anzusehen sind, die i n einem Dienstverhältnis „angestellt" sind. Bei der Anwendung dieser Vorschrift legte das RG entscheidendes Gewicht auf die Frage, ob der Täter hoheitsrechtliche Funktionen ausgeübt habe. Das Merkmal der „Anstellung", das das Gesetz offenbar als „Anstellung i m Staatsdienst" versteht, trat demgegenüber zurück, so daß die Rechtsprechung auch privatrechtliche Funktionen ausgeübt habe. Das Merkmal der „Anstellung", das das Gesetz offenbar als „Anstellung i m Staatsdienst" versteht, trat demgegenüber zurück, so daß die Rechtsprechung auch privatrechtlich angestellte Personen mit öffentlichrechtlichen Funktionen darunter rechnete 163 und schließlich aus der Tatsache, daß jemand hoheitliche Funktionen ausübte, grundsätzlich die Beamteneigenschaft Schloß, indem sie i n zweifelhaften Fällen eine stillschweigende staatliche Anstellung unterstellte 1 6 4 . Eine Erweiterung der Strafgewalt i m Bereich der Tatbestände des Wuchers erreicht das RG durch seine Auslegung der Worte „oder auf ein anderes zweiseitiges Rechtsgeschäft" i n § 302 a StGB. Eine Lehrmeinung knüpfte ihre Auslegung an den nachfolgenden Relativsatz an, „welches denselben wirtschaftlichen Zwecken dienen soll", und sah darin eine Bezugnahme auf das vorher genannte Darlehen 1 6 5 . Ein „anderes" Rechtsgeschäft lag nach dieser Ansicht daher nur vor, wenn iei Ebd., S. 11. 162 v g l . ζ. β . R G 17, 242; 38, 363; 58, 391. Die Gesetzesnovelle v o m 26. 5.1933 sanktionierte diese Rechtsprechung. § 266 StGB erhielt die heute noch gültige Tatbestandsfassung, die sowohl das Mißbrauchs- als auch das Treubruchselement enthält. 163 Vgl. R G 30, 29; 62, 188. 164 Vgl. R G 51, 65; 52, 309; 56, 366. 165 v. Liszt/ Schmidt, Lehrbuch, S. 685 A n m . 5 m. w . H i n w . 8*
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eine spätere Rückzahlung vereinbart worden war. Dagegen faßte das RG unter diesen Begriff alle auf Befriedigung eines augenblicklichen Geldbedürfnisse des Empfängers gerichteten Rechtsgeschäfte 166 , also auch Bargeschäfte, die andernfalls nur m i t dem Tatbestand des Sachwuchers (§ 302 e StGB) erfaßt werden konnten. Dieser enthält aber das zusätzliche Tatbestandselement des Gewerbs- und Gewohnheitsmäßigen. Durch seine Auslegung vermied es das RG, diese die Strafbarkeit einschränkende Voraussetzung auf einen großen Komplex wucherischer Geschäfte anwenden zu müssen. Diese Beispiele E. Schmidts, die das Bestreben der Rechtsprechung deutlich hervortreten lassen, den Bereich des Strafbaren auszudehnen, stellten keineswegs eine vollständige Zusammenstellung dar; von anderer Seite 1 6 7 wurde u. a. noch auf „die Verwischung der Grenzen von Vorbereitung und Versuch beim Diebstahl" 1 6 8 , auf die Rechtsprechung zum Erfordernis der Freiwilligkeit beim Rücktritt vom Versuch 169 und auf die Auslegung des Begriffs „unzüchtige Handlung" i n § 174 StGB durch das R G 1 7 0 aufmerksam gemacht. Das antiliberale Schrifttum verschwieg diese Erscheinungen i n der Rechtsprechung, deren Aufzählung bei weitem nicht vollständig ist; denn sie fügten sich nicht i n das weltanschaulich aasgerichtete Gedankenschema, mit dem die antiliberale Richtung der Rechtspraxis i n der Weimarer Republik begegnete. Unterschlagen wurden auch die Verschärfungstendenzen i n der Gesetzgebung: Die Kriminalstatistik des Jahres 1927 verzeichnete z.B. eine Zunahme von 240 Strafbestimmungen gegenüber den 550 Strafvorschriften des Jahres 1913. Zu einem großen Teil hatte sich diese Entwicklung außerhalb des Strafgesetzbuches vollzogen und war wohl auch deswegen nicht i n das Blickfeld der Strafrechtswissenschaft geraten. Sie hatte sich nach 1927 fortgesetzt und sogar noch zu einer Steigerung geführt, so z. B. i n dem Gesetz zum Schutze der Republik vom 25. März 1930 und in dem Gesetz gegen den Waffenmißbrauch vom 28. März 1931. Eine nochmalige Verschärfung brachte schließlich das Strafrecht der
166 Vgl. R G 35, 111; 39, 126. 167 ν . Heutig, MSchrKrimPsych 1932, S. 686 f. 168 B e i m Diebstahl bediente sich das R G der subjektiven Unterscheidung von Vorbereitung u n d Versuch u n d bestrafte auch bloße Vorkehrungen, die m i t der Absicht getroffen wurden, daß sie den Diebstahl ermöglichen sollten. Vgl. R G 53, 217; 55, 191; 59, 275. 169 Das RG dehnte das Erfordernis der F r e i w i l l i g k e i t aus § 46 Ziff. 1 StGB auf Ziff. 2 aus, obwohl dort der Ausschluß der Straflosigkeit beim Rücktritt v o m beendeten Versuch n u r davon abhängig gemacht ist, daß die Tat nicht entdeckt war. Vgl. R G G A 69, 396 u n d H R R 1, 241. 170 Das R G ließ die früher geforderte Voraussetzung, daß die Verletzung des Sittlichkeitsgefühls „gröblich" sein müsse, später fallen. Vgl. R G 32, 419.
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Notverordnungen 1 7 1 . Aber auch Veränderungen i m Strafgesetzbuch selbst machten die Entwicklung deutlich, so ζ. B. die Einfügung der §§ 181 a. 184 a, 184 b, die Erweiterung des § 243 durch die beiden Gesetze vom 29. 6.1926 und 23. 7.1926 und die Ausdehnung der Strafbestimmungen über das Glücksspiel §§ 284 a ff. Diese der Milderung entgegengesetzte Tendenz reichte i n ihren Auswirkungen vielleicht nicht so weit wie jene; auch Anhänger der Strafrechtsreform beklagen, daß viele ihrer Vorschläge nur einseitig durch die Gesetzgebung i n die Praxis umgesetzt worden seien 172 . Sie war jedoch unübersehbar. Daß Dahm oind Schaff stein sie außer acht ließen, macht deutlich, m i t welcher Unbedingtheit sie ihr politisches Anliegen vertraten. c) Widersprüche
in der
Argumentation
Sie führten diesen Kampf i m Zeichen des Antiliberalismus; doch nicht immer stimmte ihre Argumentation m i t der Ausgangsposition überein: Sie wandten sich gegen die Auflösung des liberalen Gewaltenteilungsprinzips, die durch den Ubergang von der Begriffs- zur Interessenjurisprudenz eingetreten sei 1 7 3 . Ihr Verlangen nach Sicherheiten dafür, „daß der Richter das Straf recht i m Sinne der autoritären Staatsführung auch wirklich anwendet" 1 7 4 , lag auf der gleichen Linie wie die liberale Forderung nach Rechtssicherheit durch unbedingte Herrschaft des Gesetzes. Ähnliches gilt für die Ablehnung einer Privilegierung des UberzeugungsVerbrechers 175 . I n Anbetracht ihres sonstigen Eintretens gegen den Rationalismus als ein Element des Liberalismus hätten sie dieser irrationalen Forderung der Reformbewegung eigentlich nicht so fern stehen dürfen 1 7 6 . A n diesen Beispielen erweist sich, daß Dahm und Schaffstem als Maßstab ihrer K r i t i k nicht stets alle Merkmale des Liberalismus verwandten, sondern ihr Augenmerk vor allem darauf richteten, inwieweit 171
Vgl. ζ. B. die 4. V O des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens v o m 8.12.1931 (RGBl. I 699, 742, 743) oder die V O des Reichspräsidenten zur Erhaltung des inneren Friedens v o m 19.12.1932 (RGBl. I 548). 172 Vgl. Mittermaier, Die Justiz 1932/33, S. 61 f.; Gallas, Z S t W 53, S. 13 ff. Grünhut, ZStW 53, S. 3 ff.; sie beklagten vor allem, daß die Sicherungsverwahrung für Berufs- u n d Gewohnheitsverbrecher nicht eingeführt worden sei. 173 v g l . oben 4. Kap. I I . c). 174 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 51. 175 Vgl. oben 4. Kap. I I . 2. b). 176 Als irrational k a n n diese Forderung bezeichnet werden, w e i l sie i m Gegensatz zu dem rationalen Prinzip des Gesellschaftsschutzes steht. Vgl. Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 171.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
die Autorität des Staates gegenüber den Interessen des Individuums gestärkt bzw. ausgehöhlt wird. Ihre Angriffe galten zur Hauptsache dem Individualismus i m Liberalismus 1 7 7 . Daher entsprach die Alternative „Liberales oder autoritäres Strafrecht?" nicht i n vollem Umfang ihren Ansichten. Soweit sich liberale Prinzipien m i t autoritärem Gedankengut vereinbaren ließen, hatten sie nichts gegen sie einzuwenden. Gleichwohl stellten sie den Liberalismus und nicht etwa den Individualismus als Angriffsziel heraus. Ein Grund dafür dürfte gewesen sein, daß sie die individualistische Seite für die bei weitem überwiegende i m Liberalismus hielten. I n ihren Ausführungen sind die Begriffe „liberalistisch" und „individualistisch" nahezu immer austauschbar, ohne daß sich ein anderer Bedeutungszusammenhang ergäbe. Z u m anderen w i r k t e sich hier aus, daß Dahm und Schaffstein sich mit ihrer Schrift an die breite Öffentlichkeit wandten und somit unmittelbar i n die politische Auseinandersetzung eingriffen. Der Begriff „liberal" rief weitaus mehr und klarere Assoziationen hervor, als es etwa das Schlagwort „individualistisch" vermocht hätte. Hinzu kam, daß i n dieser Phase der Diskussion der Begriff „Liberalismus" bereits so sehr abgewertet war, daß man darunter puren Egoismus und Staatsfeindlichkeit verstand. Vorwiegend i n diesem Sinne bedienten Dahm und Schaffstein sich seiner. I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme Die erste Phase des Antiliberalismus i n der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre war von dem Kampf gegen die Strafrechtsreform beherrscht. Wiederholt mußten sich die antiliberalen Reformgegner die Frage stellen lassen, womit sie das „liberale" Strafrecht ersetzen wollten 1 7 8 . Die Antwort blieben sie nicht schuldig. Ihre Vorstellungen von einem neuen Strafrecht enthielten i n spiegelbildlicher Form ihre antiliberale Grundhaltung. Ihre programmatischen Aussagen sollen i m folgenden zusammengefaßt wiedergegeben werden, soweit sie deutlich von einem antiliberalen Akzent geprägt waren und daher nur eine Fortsetzung der antiliberalen Angriffe bedeuteten 179 . 177 v g l . Schwinge, 49. Jb. der Gef.ges. f ü r Sachsen u n d Anhalt, S. 28; er h ä l t Dahm u n d Schaff stein entgegen daß ihre Angriffe „nicht den Gedanken des Liberalismus i m S traf recht schlechthin" träfen, „sondern n u r eine orthodoxe Spielart des Liberalismus, w i e er geschichtlich bei W. v o n H u m b o l d t u n d Rottek am reinsten auf getreten ist". 178 So von Grünhut, ZStW 52, S. 773; Kohlrausch, Die geistesgeschichtliche Krise, S. 4.
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme
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1. Der Verlauf der antiliberalen Gegenreform
„Liberale und autoritäre Straf rechtsreform" 1 8 0 ; m i t dieser Gegenüberstellung bot zuerst Α. E. Günther eine Alternative an. I n seiner Aufsatzreihe i n der Zeitschrift „Widerstand" sowie i n seinem Beitrag zu dem Sammelband „Was w i r vom Nationalsozialismus erwarten" (1932) deutete er die Grundzüge eines „autoritären" Strafrechts an. Dahm und Schaff stein übernahmen das Schlagwort: „Liberales oder autoritäres Straf recht?" Ein vollständiges „autoritäres" Straf rechtskonzept wollten sie jedoch nicht vorlegen: „Gerade von dem . . . konservativ-autoritären Standpunkt aus ist das Heil weniger von Programmen oder Reformen irgendwelcher A r t als von der praktischen Handhabung des Gesetzes und von der Erfüllung der praktischen Rechtspflege mit einem neuen Geist zu erwarten 1 8 1 ." Da „die Dinge so sehr i n Fluß sind", erklärten sie sich lediglich imstande, „die Richtung zu zeigen, i n der ein lebensfähiges Strafrecht sich fortbilden könnte" 1 8 2 . I n diesem Sinne nannten die beiden Autoren auf den letzten Seiten ihrer gemeinsamen Schrift einige Leitgedanken eines „autoritären" Strafrechts. Diese Andeutungen versuchte Dahm i n seinem Referat über „Autoritäres Strafrecht" 1 8 3 auf der Zusammenkunft der Strafrechtslehrer i n Frankftur a. M. am 8. Januar 1933 durch etwas konkretere Angaben auszufüllen. Eine Verlagerung des Schwergewichts i n den antiliberalen Äußerungen auf programmatische Aussagen führte die Umwälzung i n den politischen Machtverhältnissen herbei. Die neuen Machthaber verkündeten, daß sie den liberalen Rechtsstaat m i t allen seinen Konsequenzen ausmerzen wollten 1 8 4 . So konnten sich die antiliberalen Reformgegner i™ Diese Absicht begegnet einer hermeneutischen Schwierigkeit: Während der Antiliberalismus an den Angriffen gegen das liberale Strafrecht k l a r ablesbar ist, bereitet es Mühe, i h n aus den programmatischen Aussagen herauszulösen. I m strengen Wortsinn k a n n hier nicht einmal v o n „ A n t i liberalismus" die Rede sein, w e i l die Reformvorschläge nicht der B e kämpfung, sondern dem Neuaufbau dienen sollten, so daß lediglich der Begriff „Illiberalismus" Verwendung finden dürfte. Auch w a r i n diesen Programmen zumeist mehr als n u r eine L e i t l i n i e enthalten. Die Darstellung soll daher auf die programmatischen Äußerungen beschränkt bleiben, i n denen eine antiliberale Grundauffassung gesondert hervorgehoben w a r oder die i n unmittelbarer Verknüpfung m i t A n g r i f f e n gegen das „liberale" Strafrecht standen. 180 Uberschrift seines Beitrages i n „Was w i r v o m Nationalsozialismus erwarten". 181 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 164. iss Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 40. 183 Abgedruckt i n MSchrKrimPsych 1933, S. 162 ff. 184 Schaff stein, Politische Strafrechtswissenschaft, S. 16, zitierte den A u s spruch Goebbels, daß es die Aufgabe des Nationalsozialismus sei, das Jahr 1789 aus der deutschen Geschichte auszulöschen.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
ermutigt fühlen, auf ihrem Weg weiter voranzuschreiten und eigene Vorschläge zu unterbreiten, zumal die NSDAP keine fertige strafrechtliche Konzeption besaß. Zwar lagen einzelne Stellungnahmen seitens der Reichstagsfraktion vor. Sie vermittelten den Eindruck, daß die Partei ein „autoritäres" Strafrecht wünschte 185 . I n diese Richtung wiesen die Vorschläge, durch drastisch erhöhte Strafen den Staatsschutz zu verstärken 1 8 6 . Die Bruchstücke waren jedoch nie zusammengefügt und zu einem von der Partei gebilligten nationalsozialistischen Strafrecht ausgebaut worden. Auch die i m September 1933 unter dem Titel „Nationalsozialistisches Strafrecht" erschienene Denkschrift des preußischen Justizministers Kerrl, ausgearbeitet von Angehörigen des preußischen Justizministeriums unter maßgeblicher Beteiligung des Staatssekretärs Freisler, kann nicht als ein offizielles strafrechtliches Programm des Nationalsozialismus angesehen werden. Hinter ihr stand nicht die Autorität der Parteispitze 187 ; außerdem war sie nur als eine „ A n regung" gedacht 188 . So bot sich der Strafrechtswissenschaft die Gelegenheit, bei der Neuorientierung des Strafrechts ein entscheidendes Wort mitzureden. A n gesichts der politischen Machtverhältnisse setzte eine Einflußnahme jedoch voraus, daß i n überzeugender Weise der Nachweis gelang, daß die Reformvorstellungen eine adäquate Umsetzung des Nationalsozialismus i n das Strafrecht bedeuteten. Damit lagen gewisse Grundpositionen fest: Die i n der Weimarer Republik herrschende strafrechtliche Linie mußte verlassen werden; die liberale Abgrenzung des Individuums gegen den Staat mußte fallengelassen werden; die Priorität des Staates und der Volksgemeinschaft war als richtungsweisend anzuerkennen. Sehr bald stellte sich aber 185 v g l . die Protokolle des Strafrechtsausschusses der V. Wahlperiode 1930. Allgemeine Ausführungen machte der Abgeordnete Frank II i n der 7. Sitzung a m 29.1.1931. Er sagte u . a . laut Protokoll S. 5: „ M a n treibe hier auf der L i n k e n geradezu einen K u l t m i t dem Verbrecher, der m i t den Erfordernissen der nationalen Gemeinschaft unvereinbar sei. . . . Das W e r t volle an der Zuchthausstrafe sei gerade ihre diffamierende W i r k u n g i m Volksbewußtsein. . . . V o m Standpunkt der nationalen Volksgemeinschaft u n d der Rasse aus fordere die N S D A P die Diffamierung, die Herausholung des Verbrechers aus der Volksgemeinschaft. . . . liege die Unfruchtbarmachung des geborenen Verbrechers i m Dienste der Gemeinschaft." 186 v g l . Gesetz zum Schutz der Nation. Verh. des Reichstags der I V . W a h l periode 1928, Bd. 440, Drucksache 1741 ; s. oben 4. Kap. I. 4. a) A n m . 78. 187 Ausdrücklich heißt es auf S. 12 : „So w i e Gliederung u n d Leitsätze dieser Denkschrift die Meinung des Justizministers wiedergeben, stellt die Begründung der Gliederung u n d der einzelnen Leitsätze die Ansicht des jeweils kenntlich gemachten Sachbearbeiters dar." 188 Kerrl, Nationalsozialistisches Strafrecht, S. 5.
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heraus, daß eine antiliberale Grundhaltung und die nationalsozialistische „Weltanschauung" keine Gewähr dafür boten, daß volle Übereinstimmung über ein nationalsozialistisches S traf recht erzielt werden konnte. Die Unbestimmtheit der antiliberalen Staatsbilder, die nur i m Negativen einen gemeinsamen Nenner besaßen, und die Verschwommenheit der nationalsozialistischen Ideologie, die sich aus Bruchstücken vielerlei geistiger und politischer Strömungen zusammensetzte 189 , waren die Ursachen für eine Auseinandersetzung um das „richtige" nationalsozialistische Strafrecht 190 . Auf Anerkennung ihres Rechtes als Erstgeborene pochten diejenigen, die bereits vor der Machtübernahme ein nationalsozialistisches Strafrecht propagiert hatten. Dazu zählte einmal Gleispach 191 und vor allem aber Nicolai 1 9 2 . Auch einige Vertreter der früheren klassischen Schule (u. a. Nagler, Gerland, Sauer) griffen i n die Diskussion um das nationalsozialistische Strafrecht ein. Sie waren i n der vorausgegangenen Phase des A n t i liberalismus nicht hervorgetreten; zählten ihre Anschauungen doch sogar zu den Objekten der antiliberalen Angriffe. Um die Uberwindung früherer Auffassungen anzuzeigen, verwandten sie die Bezeichnung „Neuklassiker" für sich 193 . Wesentlichen Anteil an der Auseinandersetzung hatte die von Dahm und Schaffstein repräsentierte Richtung. Vor der Machtübernahme hatten sich diese Vertreter eines „autoritären" Straf rechts zwar noch dagegen gewehrt, als nationalsozialistisch eingeordnet zu werden 1 9 4 , eine gewisse weltanschauliche Ubereinstimmung hatten sie jedoch bereits damals hervorgehoben 195 . Daher konnten sie der Auffassung sein,
189 v g l . Bracher! Sauerl Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, S. 261 ff.; Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 169 ff.; Broszat, D e u t scheRundschau 1958, S. 53 ff. 190 vgl. Schaff stein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 23 f. ιοί Vgl. oben 4. Kap. I . 4. a). 192 Vgl. oben 4. Kap. I . 3. b). lös Vgl. Gerland, D J Z 1933, Sp.860; Nagler, GS 103, S. X X I I I . Sauer, GS 103, S. 20 u n d 23, verband m i t dem Begriff „Neuklassik" eine etwas abweichende Vorstellung, nämlich eine Vereinigung der „Tendenzen der früheren Klassik u n d der Einst-Moderne" (S. 23). 194 Vgl. Dahm! Schaff stein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 4; Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 164; auch E.Wolf, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 191 f. io» Dahm!Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 4: „ D i e politischen Parteien u n d Gruppen der Rechten, so vor allem auch der Nationalsozialismus (sind) heute n u r der tagespolitische u n d deshalb offenkundigste Ausdruck einer w e i t breiteren u n d tieferen geistigen Bewegung, welche besonders die Jugend ergriffen hat."
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
daß sich ihre Überzeugungen ohne deutsame Veränderungen i n den Rahmen einer nationalsozialistischen Reform einfügen würden. Zahlreiche Beiträge zum neuen Strafrecht zeigen, daß diese Richtung aus ihrer führenden Rolle i m Kampf gegen die „liberalistische" Strafrechtsreform den Anspruch herleitete, ein entscheidendes Wort bei der Festlegung des neuen Kurses zu sprechen 196 . M i t der Verfestigung der Machtverhältnisse ließ allmählich die Neigung i n der Strafrechtswissenschaft nach, auf grundlegende und umfassende Weise zu strafrechtlichen Fragen Stellung zu nehmen 1 9 7 . Einmal verschaffte die Konsolidierung des nationalsozialistischen Machtapparates i n den Jahren 1934/35, die sich insbesondere i n der Beseitigung der SA-Führung und i m Abschluß des Gleichschaltungsprozesses äußerte, die Gewißheit, daß vorerst eine Rückkehr zu den Verhältnissen der Weimarer Republik unmöglich geworden war. Damit trat das Erfordernis, eine Auseinandersetzung m i t dem liberalen Staatsgedanken i n aller Breite durchzuführen, i n den Hintergrund. Zu dieser Entwicklung i n der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion trug auch bei, daß die neuen Reformbestrebungen sehr bald i n amtliche Bahnen gelenkt wurden und zusehends Fortschritte machten: A m 3. November 1933 nahm eine amtliche Strafrechtskommission die Arbeit auf. I h r gehörten neben den Justizministern von Preußen und Bayern als Vorsitzende, neben zwei Staatssekretären und fünf Vertretern der Praxis auch fünf Hochschullehrer an (Kohlrausch, Dahm, Gleispach, Mezger, Nagler). Bis zum Herbst 1936 behandelten sie i n zwei Lesungen auf insgesamt 13 Tagungen den Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches. Nachdem die antiliberale Grundtendenz gesichert war, rückten Einzelfragen i n den Vordergrund, und die Strafrechtswissenschaft konnte dazu übergehen, „auch die juristische Systematik und die systemtragenden Abstraktionsbegriffe" daraufhin zu überprüfen, „ob ihr substantieller Gehalt und die Denkvorstellungen, auf denen sie beruhen, m i t dem Geist der neuen Rechtsordnung noch übereinstimmen" 1 9 8 . 2. Die Thematik der antiliberalen Strafrechtsprogramme
Die antiliberalen Strafrechtsprogramme i m Anfang der dreißiger Jahre bedeuteten inhaltlich eine Fortsetzung der Auseinandersetzung mit der Strafrechtsreform der Weimarer Republik. Diese hatte wesent196 Vgl. oben 4. Kap. I I . 1. A n m . 115. 1 9 7 I m Laufe des Jahres 1934 ging die Anzahl der Stellungnahmen i m strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum zum Thema „Strafrechtsreform" deutlich zurück; vgl. die Übersichten i m Jahrbuch des Deutschen Recht, N.F. 1. Bd., 1934, S. 88 f., 508 u n d 757. 198 Schaff stein, D J Z 1934, Sp. 1174.
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liehe Impulse aus den straftheoretischen Gedankengängen der modernen Schule bezogen. U m ihre alternativen Ansichten deutlich werden zu lassen, rückten die antiliberalen Gegenreformer ebenfalls den Strafbegriff i n das Zentrum ihrer Vorschläge. Damit reagierten sie zugleich auf das Verteidigungskonzept der Reformanhänger gegen die antiliberalen Angriffe. Diese betonten, „daß für ein Strafrecht charakteristisch das ist, was i n den Strafbegriff hineingedacht wird, und daß das maßgebend ist, was sich aus dem Straf recht für das Verhältnis des Staates zum Verbrecher ergibt", und forderten dazu auf, „die allgemeine Charakterisierung für den Sinn und den Geist der Strafrechtsreform . . . allein aus der A r t und Weise zu entnehmen, wie dieser Punkt i n den Entwürfen behandelt worden ist" 1 * 9 . Von daher erschienen den Verteidigern der „liberalen" Reform die antiliberalen Angriffe als ein einziges Mißverständnis, weil die spezialpräventive Verbrecherbehandlung ein illiberaler, wenn nicht gar ein antiliberaler Vorgang sei, so daß die Vorwürfe der Reformgegner fehlgingen 200 . Die Gegner der „liberalen" Reform folgten auf dieses Feld, blieben aber i m Großen und Ganzen bei ihrer Einschätzung der Reform; die straf theoretische Grundlage der Entwürfe sei wegen des rationalistisch-naturalistischen Denkansatzes und der individualistischen Tendenz zur Milde der liberalen Gedankenwelt zuzurechnen 201 . I n den Mittelpunkt ihrer eigenen strafrechtlichen Reformvorschläge stellten sie einen als antiliberal verstandenen Strafbegriff, i n dem das Individuum die gebührende Zurücksetzung gegenüber Staat und Gemeinschaft erfahre. Neben dieser zentralen Frage führte der Besondere Teil des Strafrechts i n den programmatischen Aussagen der antiliberalen Strafrechtswissenschaft ein Schattendasein. I n die allgemein gehaltene, weitgespannte Argumentationsweise fügte sich die Sachlichkeit und Nüchternheit des Besonderen Teils nur schwer ein; zu groß war der Maßstab, m i t dem das Strafrecht gemessen wurde 2 0 2 . Man beließ es, soweit man sich 199 E. Schmidt, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 176. zoo vgl. Kohlrausch, M i t t . I K V N.F. 6.Bd., S. 156f.; E.Schmidt, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 176 f.; dazu ausführlich unten 4. Kap. I V . 1. 201 Vgl. oben 4. Kap. I . 4. a) u n d I I . 2. 202 Teilweise eine Ausnahme machte hier n u r Dahms Beitrag „Autoritäres Strafrecht" i n MSchKrimPsych 1933, S. 162 ff., der einen Vortrag v o r der Frankfurter Zusammenkunft deutscher Straf rech tslehrer v o m 8. Januar 1933 wiedergab. Das hatte vorwiegend taktische Gründe: Gegenstand der Tagung w a r die durch „Liberales oder autoritäres Strafrecht?" i n die Öffentlichkeit getragene Kontroverse. Als Gegenreferent zu Dahm w a r Mittermaier geladen, der seine Skepsis gegenüber dem „autoritären" Strafrecht deutlich zu erkennen gegeben hatte (vgl. Die Justiz 1932/33, S. 60 ff.). Dahm mußte damit rechnen, daß Mittermaier v o r allem die starke Betonung des w e l t anschaulichen Bekenntnisses u n d den Mangel an juristischer Kleinarbeit
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überhaupt mit dem Besonderen Teil beschäftigte 203 , bei der „Aufrichtung einer neuen Werttafel der Lebensgüter" 2 0 4 , und über die Rangfolge bestand i m wesentlichen Einigkeit. 3. Übereinstimmende Forderungen der antiliberalen Gegenreformer zum Besonderen Teil
Da eine inténsive, i n die Einzelheiten gehende Behandlung des Besonderen Teils nicht erfolgte, konnten sich die Unterschiede zwischen den verschiedenen Richtungen i n der antiliberalen Strafrechtswissenschaft in diesem Punkt nicht weiter auswirken. Daher ist es möglich, vorweg die Forderungen zum Besonderen Teil aus den verschiedenen antiliberalen Strafrechtsprogrammen zusammengefaßt wiederzugeben. Beachtung verdient neben den Inhalten, wie sich die antiliberale Grundhaltung i n der Formulierung von Straftatsbeständen niederschlug. A n der Spitze der Reformwünsche der Antiliberalen für den Besonderen Teil stand die Forderung nach einer „Verstärkung der strafrechtlichen Bestimmungen zum Schutze des Staates und staatlicher Einrichtungen" 2 0 5 . Die Vorschläge zielten u. a. auf eine scharfe strafrechtliche Ahndung von „Angriffen gegen die Würde der Staatsorgane, Mißachtung der nationalen Symbole, Verwendung staatsfeindlicher Zeichen der Auflehnung und der Widersetzlichkeit, Amtserschleichung und K o r r u p t i o n " 2 0 6 ab. Besonders eindringlich wurde das Verlangen nach einer Erweiterung der Bestimmungen gegen Hoch- und Landesverrat geäußert. Als Orientierungspunkte dienten hier der nationalsozialistische Entwurf eines Gesetzes zum Schutze der Nation vom 12. März 1930 und die entsprechenden strafrechtlichen Bestimmungen i m faschistischen Italien 2 0 7 . Kennzeichnend für die dort vorgenommene Regelung der Delikte gegen den Staat war die weite, unscharfe Fassung der Tatbestände und eine brutale Härte i n der Strafandrohung, die sich u. a. i n kritisieren würde. I n d e m er sich jetzt bemühte, „wenigstens die Richtung zu zeigen, i n der das Strafrecht sich i n der Z u k u n f t fortentwickeln könnte" (S. 164), u n d dabei den Besonderen T e i l i n sein „autoritäres" Strafrechtsprogramm einbezog, verdarb er Mittermaier i m wahrsten Sinne des Wortes das Konzept. Dieser w a r gezwungen, aus dem Stegreif zu antworten.. Vgl. die Tagungsberichte v o n v. Gemmingen, ArchRWPh, Bd. 26, S. 497 ff. u n d Grünhut, ZStW 53, S. 8 f. 203 Die politischen A u t o r e n A. E. Günther u n d Nicolai ließen den Besonderen T e i l v ö l l i g außer Betracht. 204 Nagler, D R 1934, S. 54. 205 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 168; vgl. auch Nagler, GS 103, S. X X X I I I ; v. Weber, D J Z 1933, Sp. 864. 206 Nagler, GS 103, S. X X X I I I . 207 v g l . zum Gesetz zum Schutze der Nation oben 4. Kap. I. 4. a) A n m . 78 ; ausführlich zum faschistischen Straf recht: Dahm, Nationalsozialistisches und faschistisches Strafrecht.
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der häufigen Verwendung der Todesstrafe als absoluter Strafe äußerte. Dahm lobte den „mutigen Verzicht auf tatbestandliche Begrenzungen" 2 0 8 i n der faschistischen Landesverratsbestimmung, und Naglers Formulierungen standen dem nationalsozialistischen Gesetzes Vorschlag in nichts nach: Den „Defaitismus aller A r t " , die „Beeinträchtigung der Wehrkraft und des Wehrwillens der N a t i o n " 2 0 9 wollte er bestraft wissen. „Auch die Störung der Kriegspolitik der Regierung, die Unterhaltung illegaler internationaler Verbindungen, die Entfaltung antinationaler Tätigkeit i m Ausland, der unzulässige Handel m i t dem Feind erfordern volle Berücksichtigung. Auch der fahrlässige Landesverrat muß unter Strafe gestellt werden, vielleicht sogar die fahrlässige Beihilfe zum Landesverrat 2 1 0 ." Der Gedanke der Rechtssicherheit, der sich i n vorsichtigen, zurückhaltenden Formulierungen, i n präzisen Gesetzesvorschlägen geäußert hätte, war i n diesen Aussagen bedenkenlos beiseite geschoben. Die Delikte des Hoch- und Landesverrats sollten über den Bereich Angriffe auf das äußere Staatsgefüge hinaus ausgedehnt werden: Strafe sollte auch die „geistige Zersetzung" bedroht werden, „literarische und intellektuelle Hochverrat und Landesverrat" 2 1 1 . suche, nicht strafbare kritische Äußerungen über den Staat davon zugrenzen, wurden nicht unternommen.
der Mit der Verab-
Als neue Rechtsgüter wurden „die Ehre, das Ansehen und die Würde des Staates und der N a t i o n " 2 1 2 proklamiert. Ehrenschutz sollte auch dem Volk als Gesamtheit und den Verbänden und Personengemeinschaften zukommen, aus denen es sich aufbaut 2 1 3 . Die kulturellen Werte des Volkes und damit die „kulturellen und religiösen Werte der abendländischen K u l t u r " gelte es gegen „Zersetzungserscheinungen" 214 zu verteidigen. Zur Umsetzung dieser Forderung i n das Strafgesetz wollten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler vor allem die Religions-, Sittlichkeits-, Familien- und Eidesstraftatbestände heranziehen, die wieder m i t „überpersonalen Wertvorstellungen" 2 1 5 zu erfüllen seien. 208 Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 24. 209 GS 103, S. X X X I V . 210 Ebd., S. X X X V , A n m . 78. 211 Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 14. 212 Nagler, GS 103, S . X X X V ; vgl. auch Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 50. 213 vgl. Dahm, D R 1934, S. 418. 214 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 50. 215 Nagler, GS 103, S. X X X I I I ; vgl. auch Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 167; Dahm!Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 50.
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Auch der Volkskörper wurde zum Gegenstand der strafrechtlichen Reformprojekte: M i t der Machtübernahme der Nationalsozialisten rückte die Forderung nach „Gesund- und Reinerhaltung der Rasse" 216 in den Vordergrund. Während Nicolai, wie unten zu zeigen sein w i r d 2 1 7 , seine gesamte Straftheorie nach diesem Ziel ausrichtete, gaben i h m die übrigen antiliberalen Reformer vorwiegend i m Besonderen Teil Raum. So setzte Nagler sich für ein „Verbot der Rassenschändung i n Form des Rassenverrats, der Rassengefährdung oder Rassenverunehrung" 218 ein und schreckte selbst vor dem Verbot von Lehrmeinungen nicht zurück, indem er die „Bekämpfung des Malthusianismus" verlangte 2 1 8 . I n den Zusammenhang des Volksschutzes und der Rassenfrage wurde auch das Problem der Abtreibung eingeordnet 219 , dessen Lösung „unter dem universalistischen Blickpunkt der Erhaltung des Volksbestandes" 220 , der eine unnachsichtige Bekämpfung verlange, erfolgen sollte. Die vorher als höchstpersönlich eingestuften Rechtsgüter waren nach Ansicht der Gegenreformer i n die allumfassende Gemeinschaftsbindung einzubeziehen, so daß die „liberalistische" Trennung zwischen Rechtsgütern des Staates und denen des einzelnen wegfalle: „Der Schutz des Eigentums, der individuellen Privatsphäre, der Ehre bedarf eines Umbaus i n der Richtung, daß staatliche Kräfte zur Verfolgung und Sühne staatlich belangloser Eingriffe nicht eingesetzt werden 2 2 1 ." Unter diesem Blickwinkel und ausgehend von einem ständisch gestuften Staatsaufbau erweise sich gerade die Ehre als „eine wesentliche Voraussetzung für den Bestand und die Erhaltung einer wirklichen Gemeinschaft überhaupt und insofern als unmittelbar völkisches Rechtsg u t " 2 2 2 . „Eine vorsichtige Einschränkung des Wahrheitsbeweises, i n Verbindung damit eine Erneuerung und Umbildung des Begriffs der Wahrnehmung berechtigter Interessen" sowie eine Verschärfung der Strafdrohung wurden als Mittel für einen besseren Schutz vorgeschlagen 223 . Nicht neu war der Ruf nach strafrechtlicher Absicherung der Arbeitskraft, die über den Tatbestand der Körperverletzung hinausgehen und zu einer Anerkennung als selbständiges Rechtsgut führen sollte 2 2 4 . 216 Nagler, GS 103, S. X X X V ; vgl. auch v. Weber, D J Z 1933, Sp. 865. 217 s. unten 4. Kap. I I I . 4. d). 218 Nagler, DR 1934, S. 54. V o n „Rasseverrat" sprach auch Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 14. 219 Dahm! Schaff stein, Liberales oder autortäres Strafrecht?, S. 25. 220 Nagler, GS 103, S. X X X V . 221 E. Wolf, RuS H. 103, S. 34. 222 Dahm, D R 1934, S.417; vgl. Schaff stein, DStR 1934, S.273. 223 Dahm, D R 1934, S. 418. 224 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S.166; Nagler, GS 103, S. X X X V I I I f.; vgl. oben 4. Kap. I . 2. b).
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M i t Nachdruck forderten die antiliberalen Reformer eine „Umgestaltung des Wirtschaftsrechts" i m Wege einer „stärkeren Betonung volkswirtschaftlicher gegenüber privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten" 225 . Die Skandalfälle der Weimarer Zeit noch vor Augen, drangen sie auf eine „wirkungsvollere Bekämpfung und Diffamierung einer individualistischen Gaunermoral" 2 2 5 . Die Vorschläge Dahms umfaßten eine Ausdehnung der Tatbestände, die strafrechtliche Erfassung „der fahrlässigen Untreue gegen gemeinnützige Verbände und ihre Bestrafung nach A r t anderer gemeingefährlicher D e l i k t e " 2 2 5 und die Aufnahme von schweren Steuerdelikten und Wirtschaftsstraftaten in das Strafgesetzbuch. Außerdem verlangte er eine Erhöhung der Mindeststrafen für die Wirtschaftsstraftaten, die sich „gegen die Gesamtheit oder größere Volksteile richten" 2 2 5 , i n schweren Fällen Beschlagnahme des Vermögens sowie Zuchthausstrafe. Ein Gesetzesvorschlag Naglers suchte die Lösung der Probleme des Wirtschaftsstrafrechts bei einer generalklauselartigen Formulierung des Tatbestandes, die den Bruch m i t liberalem Rechtssicherheitsdenken deutlich hervorkehrte: „Das Finanzverbrechen wäre etwa die vorsätzlich rechtswidrige Verletzung oder Gefährdung des Vermögens eines nicht geschlossenen Personenkreises mittels gewinnsüchtigen, durch vernünftige Wirtschaftszwecke nicht gerechtfertigten Mißbrauchs der Wirtschaftsmacht zu frivolen Spekulationen oder zur Ausbeutung des Publikums 2 2 6 ." Ubereinstimmend traten die Verfechter eines „autoritären" Strafrechts für einen Ausbau der Sonderdelikte ein, i n denen die Standespflichten des einzelnen, die sich aus dem „berufsständischen Aufbau des Volkskörpers" 2 2 7 ergäben, ihren Niederschlag finden sollten 2 2 8 . Neben diesen Veränderungen i m Katalog der strafrechtlichen Verbotsnormen entnahm die neue strafrechtliche Richtung dem „autoritären" Staatsgedanken auch Neuerungen für die Gebotsnormen des Besonderen Teils: Die Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft verpflichte den einzelnen auch zu positiven Leistungen. Daher forderte E. Wolf die Verschärfung der Bestimmungen über die Bestrafung unterlassener Verbrechensanzeige und ihren Ausbau „ i n Richtung auf strafrechtlich geschützte Pflichten zur Verbrechensverhütung und -Verhinder u n g " 2 2 9 sowie die Erweiterung der Strafdrohung für unterlassene 225 226 227 228 1934, 229
Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 166. GS 103, S. X X V I I . Ebd., S. X X X I X . vgl. E.Wolf, ZStW 54, S.553; Schaff stein, ZStW 53, S.621; ders., DStR S. 281 A n m . 25. RuS H. 103, S. 34.
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Hilfeleistung i n Notfällen. A u f derselben Linie lag seine Forderung, daß eine Verurteilung wegen Fahrlässigkeit bei jedem Delikt möglich sein müsse. 4. Die unterschiedlichen Vorstellungen zum Strafbegriff
Differenzen traten unter den Befürwortern eines autoritären Strafrechts i n den Fragen der Inhalts- und Zweckbestimmung der Strafe auf. Auch hier standen unterschiedliche staatstheoretische Auffassungen im Hintergrund. Diesen Unterschieden, die zur Bildung verschiedener Gruppierungen innerhalb der antiliberalen Strafrechtswissenschaft führten, soll i m einzelnen nachgegangen werden. a) Die Neuklassiker Zwischen der klassischen Schule und den „jüngeren Kriminalisten" bestanden einige Berührungspunkte: Sie waren sich darin einig, daß die Reformideen der modernen Schule mit Entschiedenheit zu bekämpfen seien. Auch stimmten sie i n der Forderung nach einem starken Staat überein, der sich seiner Strafmittel ohne Rücksichtnahme auf die Individualität des Täters bedient. Aus diesen Ubereinstimmungen folgerten einige Vertreter der klassischen Schule, daß die junge antiliberale Strafrechtswissenschaft nur die Tradition der Klassiker fortführe und daß somit die klassische Schule den neuen Reformtendenzen den Weg bereitet habe 2 3 0 . Bedauernd vermerkten sie, daß die „jüngeren Kriminalisten" die Vorarbeit der klassischen Schule nicht würdigten 2 3 1 . Aber auch die Strafrechtswissenschaftler der klassischen Schule konnten auf die Dauer den Gegensatz zur jungen autoritären Richtung nicht übersehen: Waren sie doch selbst deren Angriffen ausgesetzt, die auf das liberale Gedankengut i n der klassischen Lehre abzielten 232 . Wenn man den Anschluß an die Entwicklung halten wollte, war eine Revision überkommener Auffassungen erforderlich. Diesen Schritt vollzog die Gruppe der „Neuklassiker", zu der vor allem Nagler, Gerland, von Weber und m i t Abstrichen auch Sauer zu rechnen sind. M i t Stock ist ein jüngerer Verfechter neuklassischer Anschauungen hinzuzuzählen, der nicht in der Tradition der klassischen Lehre stand. Ein Wandel machte sich einmal i n der K r i t i k an den Reformideen der modernen Schule bemerkbar 2 3 3 . Von den früher erhobenen Vor230 v g l . Nagler, GS 103, S. X I V Anm. 28. 231 Vgl. ebd., S . X X I V A n m . 49; Gerland, D J Z 1933, Sp. 861. 232 v g l . oben 1. Kap. I I I . 1. 233 vgl. zum folgenden: Nagler, Sp. 859 f.; Sauer, GS 103, S. 15 ff.
GS 103, S . X f f . ;
Gerland,
DJZ
1933,
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würfen fanden diejenigen keine Verwendung mehr, die die Beseitigung der liberalen Rechtsstaatlichkeit beklagten. Der Naturalismus, Rationalismus und Individualismus i n der Betrachtung und angestrebten Behandlung des Täters, die Beseitigung der Ethik aus dem Recht sowie die Minderung und Aushöhlung der Staatsautorität durch ein utilaristisches Gesellschaftssystem bildeten jetzt zur Hauptsache die Ziele der Angriffe gegen die moderne Richtung. Die Neuklassiker schwenkten damit auf die Angriffslinie der jungen antiliberalen Strafrechtswissenschaftler ein 2 3 4 . Sie wiederholten lediglich bekannte Argumente; neue fügten sie nicht hinzu. Eine Besonderheit bestand allerdings darin, daß der Vorwurf des „Liberalismus", der von den anderen Vertretern des Antiliberalismus zahlreich und den oben genannten Gesichtspunkten übergeordnet verwandt wurde, verhältnismäßig selten bei ihnen auftauchte. Ein völliges Umschwenken auf den antiliberalen Kurs hätte den vollständigen Bruch m i t der eigenen Vergangenheit bedeutet. Das Traditionsbewußtsein der Neuklassiker war jedoch ungebrochen: Nagler verlangte, daß „an die gesunde Rechtsentwicklung bis 1918 wieder anzuknüpfen" sei 2 3 5 . Daß damit die Wiederaufnahme einiger klassischer Grundsätze gemeint war, wurde deutlich, wenn es hieß: „Straf recht muß wieder Straf recht werden 2 3 6 ." Die Neuklassiker gingen unverändert von dem Gegensatz „Vergeltungs- oder Sicherungsstrafe" aus 237 . Sie waren fest davon überzeugt, daß für den autoritären Staat die Strafe „nur den Sinn der rechtlichen Sühne . . . aufweisen k a n n " 2 3 8 . Eine Modifizierung früherer Positionen brachte aber bereits die Begründung des Vergeltungsgedankens. Das Argument, er gewährleiste das erforderliche Maß an Rechtssicherheit durch das Prinzip des rechtlichen Ausgleichs, wurde ersetzt durch die mystische Deutung als „unentbehrliches, lebensfrisches, aus den elementaren Tiefen des unverfälschten Volksbewußtseins aufsteigendes Gerechtigkeitsprinzip" 239 . Stock erklärte das Prinzip der gerechten Vergeltung als ein „dem Rechtsempfinden des deutschen Volkes entsprechendes", als „das eigentlich deutsche Strafrechtsprinzip" 2 4 0 . 234 Gerland, D J Z 1933, Sp. 861, u n d Nagler, GS 103, S. X X I V A n m . 49 betonten die Ubereinstimmung m i t Dahm/ Schaff stein „ i n allem G r u n d sätzlichen" (Nagler). 235 Nagler, GS 103, S. X X I I I . 236 Gerland, D J Z 1933, Sp. 860. 237 Nagler, DR 1934, S. 55 f. 238 Ebd., S. 56. 239 Ders., GS 103, S. X X I I I ; s. auch D R 1934, S.55. 240 stock, Die Strafe, S. 2; dem entsprach Sauers Bezeichnung der modernen Schule als „undeutsch" (GS 103, S. 12). 9 Marxen
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Trotz dieser „organischen" Herleitung hätten sich die Neuklassiker wegen des unveränderten Inhalts der Vergeltungsstrafe dem Vorwurf des Liberalismus ausgesetzt. Das Prinzip der Vergeltung lieferte ihnen jedoch nur den Unterbau für ein neu errichtetes Gebäude: Der autoritäre Staatsgedanke mache es erforderlich, m i t allem Nachdruck den Charakter der Strafe als ein Übel zu betonen 241 , das durch „rückhaltlose Energie der Strafaktion" 2 4 2 zum Ausdruck zu bringen sei. I n dieselbe Kerbe schlug die Forderung: „Das Wort ,Abschreckung' muß wieder salonfähig werden 2 4 3 ." Damit rückten die Strafzwecke der simplen Bewährung der Staatsautorität und der generalpräventiven Abschreckung i m Sinne einer „steten Erneuerung und Stärkung der Volksdisziplin" 2 4 4 in den Vordergrund und überlagerten das Prinzip der Vergeltung. Den Maßstab für die Strafe sollten die Anforderungen bilden, die Staat und Volk an den einzelnen stellen könnten, die „sozial generelle Verantwortung des einzelnen vor dem Staat" 2 4 5 . Der „objektiven Staatsauffassung" 246 entsprach so ein objektivierter Strafbegriff. I n einer Erweiterung der staatlichen Macht sahen die Neuklassiker keine Gefahr, die bekämpft werden müßte. Sie zeigten damit an, wie weit sie von der Position der früheren klassischen Schule abgerückt waren. I n einer Formulierung Gerlands trat dieser Wandel über deutlich hervor: „Es geht i m Straf recht eben nicht um den Rechtsschutz des einzelnen vor dem Staat, sondern um den Schutz des Staates vor dem einzelnen 247 ." Aus ihren straftheoretischen Überlegungen zogen die Neuklassiker i m einzelnen folgende Konsequenzen: Da sie i m Grundsatz an der Vergeltungsstrafe festhielten, traten sie für eine strikte Trennung von Strafen und Maßnahmen ein, die dem Unterschied zwischen „Justizund Verwaltungsprinzip" 2 4 8 entspreche. Die Strafen der Zukunft sollten „bitter ernst und eindrucksvoll" 2 4 9 sein. Die Todesstrafe müsse aus Gründen der Abschreckung „mit aller Entschiedenheit zum Einsatz ge-
241 vgl. Nagler, DR 1934, S. 56; Stock, Die Strafe, S.8; v. Weber, DJZ 1933, Sp. 864. 242 Nagler, GS 103, S. X X V . 243 Gerland, D J Z 1933, Sp. 861. 244 Stock, Die Strafe, S. 7. 245 Gerland, D J Z 1933, Sp. 860; vgl. auch Stock, Die Strafe, S.2; v.Weber, D J Z 1933, Sp. 862. 246 Nagler, GS 103, S. X X I I . 247 D J Z 1933, Sp. 860. 248 Nagler, GS 103, S. X X V I I I . 249 Ders., DR 1934, S. 56.
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bracht werden" 2 5 0 . Man sprach sich für eine Verschärfung der Freiheitsstrafe durch erhöhten Arbeitszwang 2 5 1 , sparsamen Einsatz der Vergünstigungen 252 und strenge Disziplinierung aus. Der Geldstrafe standen die Neuklassiker ablehnend gegenüber: Sie sei „primitiv, unsozial, ohne Erziehungswert" 2 5 3 . Die Spezialprävention komme nur „sekundär" 2 5 4 i n Betracht, „nur soweit es mit der kollektiv prävenierenden Funktion des Strafrechts vereinbar i s t " 2 5 4 . Aus der Priorität der Gemeinschaft sollten der Spezialprävention neue Aufgaben erwachsen: Zur „Verhütung der Rassenentartung" 255 schlugen die Neuklassiker Maßnahmen vor wie „Zwangssterilisation zur Ausräumung bestehender krimineller Anlagen oder zur Verhinderung ihrer Vererbung" 2 5 6 , „nötigenfalls" zwangsweise Kastration der „rückfälligen, psychopathischen Sittlichkeitsverbrecher oder der ihren Instinkten haltlos preisgegebenen Schwachsinnigen oder Triebmenschen" 256 , „Internierung des kriminellen Geisteskranken" 2 5 7 . Außerdem befürworteten sie ein schärferes Vorgehen gegen Berufsverbrecher i m Wege der Sicherungsverwahrung 258 . Wie der Strafbegriff der Neuklassiker, so trug auch ihre darin verarbeitete Interpretation der autoritären Staatsidee trotz der A n näherung an jungkonservative Auffassungen unverkennbar die Züge ihres traditions verhafteten Denkens. I n seinen Grundzügen präsentierte sich der autoritäre Staat der Neuklassiker als der Obrigkeitsstaat des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts: Er trat i n der Devise „Autorität, Ordnung und Gerechtigkeit" 2 5 9 zutage, er kam i n dem 250 Ders., GS 103, S. X X V ; vgl. auch Stock, Die Strafe, S. 110. Deutlich zeigt sich hier die Uberlagerung des Vergeltungsgedankens durch Zweckerwägungen: I n der Begründung der Todesstrafe w a r von den ansonsten häufig gegen die liberale Reform ins Feld geführten ethischen Grundsätzen keine Rede mehr. Nach Nagler, GS 103, S. X X V , ist die Todesstrafe „lediglich eine Frage der Zweckmäßigkeit" u n d hängt nicht von „irgendwelchen außerrechtlichen Grundsätzen" ab. 251 Vgl. Stock, Die Strafe, S. 106 ff. Seine besondere Gedankenführung veranlaßte Stock jedoch, daneben die Forderung nach einer Arbeitsstrafe ohne gleichzeitigen Freiheitsentzug zu stellen. I n der A r b e i t als „Dienst am V o l k " erblickte er die konsequente Umsetzung des i n der Vergeltungsstrafe angelegten Ausgleichsprinzips. 252 Dazu gehörte auch der A b b a u von Privilegien f ü r Uberzeugungstäter; vgl. Nagler, GS 103, S. X X V I . 253 Ebd., S. X X V . 254 Stock, Die Strafe, S. 7; vgl. auch Nagler, GS 103, S . X X I V . 255 Nagler, GS 103, S. X X X . 256 Ebd., S. X X I X ; i n A n m . 67 hob Nagler i n Entgegnung zu Nicolai, Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 43, hervor, daß Maßnahmen wie die Sterilisation nicht als Strafen angesehen werden dürften. 257 ν, Weber, D J Z 1933, Sp. 862. 258 vgl. Nagler, GS 103, S. X X V I I I ; v. Weber, DJZ 1933, Sp. 863. 259 Stock, Die Strafe, S. 1. *
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
Verlangen nach Stärkung der staatlichen Autorität zur Disziplinierung des Volkes 2 6 0 zum Vorschein, er wurde i m Fehlen einer sozialen Komponente deutlich. Die Worte „Dienst" und „Gehorsam", „Leistung" und „Opfer" gehörten zu den meistverwandten bei der Charakterisierung des „autoritären Nationalstaates" 261 . Nachdrücklich verteidigte Nagler die Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaft 262 . Die Neuklassiker hielten am Gegensatz zwischen „Obrigkeit" und „ V o l k " fest. Dieser Denkkategorie entsprach das Eintreten für einen, wenn auch geschrumpften Freiheitsraum des einzelnen. Daher wandten sie sich gegen eine völlige „Etatisierung aller Lebensbereiche", gegen einen „totalen" Staat 2 6 3 . Die Stelle einer Begründung m i t dem Argument der Rechtssicherheit nahm aber auch hier die Berufung auf das Volksempfinden ein. „Dem germanischen Empfinden scheint . . . der Staatsabsolutismus zu widersprechen 263 ." Nach Ansicht Naglers würde das „Gesetz des Gegensatzes" die weitere Entwicklung beherrschen, nach dem „Enkelgenerationen grundsätzlich m i t den Großvätergenerationen zusammenzustimmen pflegen" 264 . b) Α. E.
Günther
Der rechtsgerichtete politische Schriftsteller Α. E. Günther gewann seine Vorstellungen über das künftige autoritäre Strafrecht aus einem Staatsbild, das i n den wesentlichen Punkten m i t dem der Neuklassiker übereinstimmte; nur zeichnete er seine Konturen ungleich schärfer und stellte es ausdrücklich als wegweisend voran. Als das „Wesen des Staates" definierte er „Befehl und Gehorsam" 2 6 5 ; seine Entstehung sei durch die Ausbildung von „Uber- u n d Unterordnungsverhältnissen" 266 gekennzeichnet. Er verstand den Staat als die Etablierung einer besonderen Hoheitsgewalt, die ihren historischen Ursprung i n der Verkörperung der Macht durch das Heer habe. I n i h m habe die „Technizität der Leitung" i n der Form „planmäßiger Organisation, die durch eindeutig und ausdrücklich verkündete Befehle gelenkt w i r d " , den „Organismus der Sippe m i t seinen aus den Tiefen 260 Vgl. ebd., S. 7; auf S. 110 heißt es, die Nation müsse erst wieder „zur Staats- und Rechtsgesinnung erzogen" werden. Nagler, D R 1934, S. 52, sprach von „Volksführung". 261 Nagler, GS 103, S. X V I I I . 262 Ebd., S. V I I I f., A n m . 13. 263 Ebd., S. X X A n m . 39. 264 GS 102, S. 485. 265 Widerstand 1930, S. 263; Liberale u n d autoritäre S.104. 266 Widerstand 1930, S. 264; Liberale u n d autoritäre S. 104.
Strafrechtsreform, Straf rechtsreform,
I I I . Die antiliberalen Strafrechtsprogramme
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quellenden seelenhaften Impulsen" 2 6 7 zurückgedrängt. Trotz dieser rational-zweckhaften Funktionsweise erkannte Α. E. Günther dem Staat eine „besondere Würde, die Majestät" 2 6 8 zu, die daraus fließe, daß seine Ordnung nur „sekundär" 2 6 9 sei, „eine geistige Schöpfung, die ihre Wucht und metaphysische Würde daraus zieht, daß sie eine zwar tiefgreifende, rationalisierende Umformung der urtümlichen Gemeinschaftskräfte, aber eben doch nur eine Ausformung darstellt" 2 6 9 . Der autoritäre Staat Güntherscher Prägung hatte allein den Zweck, eine äußere Ordnung zu gewährleisten. Der befehlsmäßig durchgegliederte Staatsaufbau beinhaltete eine Verstärkung der staatlichen Hoheitsgewalt, beließ es aber bei der Entgegensetzung von staatlicher und individueller Sphäre. So begründete Α. E. Günther den Rechtscharakter des autoritären Staates damit, „daß er bei typischen Vorfällen einen i m voraus verkündeten Ablauf mit zulänglicher Sicherheit verbürgen kann" 2 7 0 . Damit war zugleich gesagt, daß dem einzelnen, soweit er dem staatlichen Befehl durch sein äußeres Verhalten nachkommt, ein gesicherter, wenn auch stark eingeengter Lebensraum zu freier Betätigung bleibt. Die Beschränkung der Staatsgewalt auf die Reglementierung der äußeren Vorgänge, die Forderung nach Berechenbarkeit der staatlichen Maßnahmen sowie die Anerkennung einer privaten Sphäre bedeuteten zumindest i n formeller Hinsicht die Erfüllung einiger liberaler Forderungen. Α. E. Günther war sich offenbar dieses Widerspruchs in seinem antiliberalen autoritären Staatskonzept nicht bewußt. Er setzte sich i n seinem autoritären Strafrechtsprogramm fort: Das Verbrechen erklärte Α. E. Günther als „Ungehorsam" 2 7 1 gegen den staatlichen Befehl, der sich i n der „gesatzten Ordnung" 2 7 2 niedergeschlagen habe. M i t der Strafe verfolge der Staat das Ziel, „am Beispiele des Rechtsbrechers — daher i m öffentlichen Strafvollzuge — den Normunterworfenen die Erzwingbarkeit seiner Ordnung vor Augen zu stellen: er statuiert ein Exempel" 2 7 3 . Weder sei es die Aufgabe des Strafrechts, „durch .Abschreckung' den Normunterworfenen einzuschüchtern", noch solle es „ i n A r t einer monopolisierten Rache ,ver-
267 Widerstand 1930, S. 265. 268 Liberale und autoritäre Strafrechtsreform, S. 104. 269 Widerstand 1930, S. 265. 269 Ebd., S. 265. 270 Ebd., S. 263. 271 Ebd., S. 265, 267, 337; Liberale u n d autoritäre Straf rechtsreform, S. 104. 272 Widerstand 1930, S. 265. 273 Ebd., S. 265.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
gelten' " 2 7 4 . Vielmehr wirke das autoritäre Strafrecht „orientierend auf das Verhalten der Staatsbürger", es schaffe „durch die Verurteilung des Verbrechers öffentliche Klarheit darüber, was der Staat i n seinem Bereiche mit seiner Würde und seinem Bestände für vereinbar hält und was nicht" 2 7 4 . Wie schon i m Bereich der Staatstheorie versuchte Α. E. Günther auch seinen straftheoretischen Vorstellungen eine tiefere Rechtfertigung zu geben, indem er sie irrational untergründete: Die Strafe stelle „die durch den Ungehorsam beleidigte Würde des ,Imperiums'" 2 7 5 wieder her; sie diene also „der Wiederherstellung der beleidigten Rechtsordnung" 2 7 6 . A n die Tat und nicht an den Täter müsse die rechtliche Bewertung anknüpfen, „damit allen Staatsbürgern durch die Verurteilung der Tat ohne Ansehen der Person die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung sichtbar werde" 2 7 7 , folgerte Α. E. Günther aus seinem Strafbegriff. Für die Aufrechterhaltung der Ordnung sei nicht erforderlich, daß die Bürger bestimmten ethischen Leitbildern genügten; vielmehr sei ausreichend, „daß sie sich i m Gemeinschaftsleben so verhalten, wie es die Rechtsordnung vorschreibt" 2 7 8 . Die beherrschende Stellung i n diesem System nahm daher das „ordnungsgemäß zustande gekommene und verkündete Gesetz" 279 ein. Α. E. Günther verlangte, daß es „erzwingbar und i n seiner Durchführung an äußerlichen Merkmalen kontrollierbar" 2 8 0 sein müsse: „Der objektive Tatbestand entscheidet 281 ." Die Rücksichtnahme auf die Täterpersönlichkeit sei nicht Sache des rechtsprechenden Urteils; hier sei allein die caritative Gnade zuständig 282 . Indem sich Günther für die unbedingte Herrschaft des staatlichen Befehls aussprach, befand er sich i n gedanklicher Nähe zu Bindings Auffassungen 283 . I n Ubereinstimmung mit ihnen erfüllte sein Konzept trotz der autoritären Zielsetzung viele liberale Forderungen, die die Abfassung und Anwendung des Strafgesetzes betreffen. Wie wenig jedoch 274 Ebd., S. 340; vgl. auch S. 265. 275 Ebd., S. 265, 267. 276 Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 105. 277 Ebd., S. 106 f. 278 w i d e r s t a n d 1930, S. 340. 279 Ebd., S. 265. 280 Ebd., S. 339; vgl. auch Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 105. 281 Widerstand 1930, S. 339; auch Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S.103. 282 Vgl. Widerstand 1930, S. 341; Liberale u n d autoritäre Strafrechtsreform, S. 107. 283 Denselben Zusammenhang stellte Nagler, GS 103, S. X X I f. her; vgl. auch Gallas, Z S t W 53, S. 22 A n m . 33.
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damit allein ein liberales Strafrecht gesichert war, erweist sich — und das ist nur ein Beispiel — an seiner Stellungnahme zur Frage der Unabhängigkeit der Justiz. Er betrachtete sie als „dem Rechte nicht eigentümlich" 2 8 4 und als „Benefiz" 2 8 4 des Staates. Sie könne niemals so weit gehen, „daß das Imperium . . . i n seinen vitalen Interessen dadurch gefährdet wird: Die Autonomie der Justiz findet ihre Grenze i n der Souveränität des Imperiums, das die Autonomie des Rechts allein zu verbürgen vermag" 2 8 5 . M i t dem Begriff „vitale Interessen" lieferte Α. E. Günther dem autoritären Staat einen festen Punkt, von dem aus er die Rechtsordnung aus den Angeln heben konnte. c) Die „ jüngeren
Kriminalisten"
Die ersten Äußerungen der „jüngeren Kriminalisten" zu einem autoritären Strafrecht erweckten den Eindruck, daß sich ihre Staatskonzeption mit den Vorstellungen der anderen Vertreter eines strafrechtlichen Antiliberalismus deckte: Schaff stein erkannte dem Staat „unmittelbaren und obersten Wert" zu; „er ist nicht zur Förderung der Wohlfahrt seiner Bürger da, sondern umgekehrt hat die Wohlfahrt seiner Bürger für i h n nur ein mittelbares Interesse, weil und soweit sie seiner eigenen Wesensentfaltung dient" 2 8 6 . Deutliche Spuren dieser Auffassung sind auch in der gemeinsam m i t Dahm verfaßten Schrift „Liberales oder autoritäres Straf recht?" vorhanden. Dort ist von der „höheren Würde des Staates" 2 8 7 die Rede, und das Straf recht w i r d „zunächst und i n erster Linie als Mittel zur Erhaltung und Bewährung der Staatsgewalt schlechthin" 288 betrachtet. Daraus darf jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß eine völlige Ubereinstimmung mit der Staatstheorie bestand, die die Neuklassiker und Α. E. Günther vertraten. Daß die Unterschiede zunächst m cht deutlich wurden, erklärt sich aus der Einschätzung der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Lage durch die beiden Autoren und aus ihrer Zielsetzung: Dahm und Schaffstein glaubten, daß Liberalismus, Rationalismus und Individualismus noch große Teile des geistigen Lebens beherrschten. Vor allem das Strafrecht stand nach ihrer Auffassung noch weitgehend unter diesem verhängnisvollen Einfluß 2 8 9 . M i t aller Kraft müsse daher für die Beseitigung dieser Anschauungen gekämpft werden. Um i n möglichst breiter Front vorgehen zu können, 284 285 286 287 288 289
Widerstand 1930, S. 266. Ebd., S. 267. Die Nichtzumutbarkeit, S. 69. s. 44; vgl. auch S. 41. s. 4 0 . V g l . ebd., S. 4.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
betonten sie die Gemeinsamkeiten i m konservativen Lager. Die Kampfschrift „Liberales oder autoritäres Straf recht?" enthielt sich ausdrücklich einer Stellungnahme zu der auf konservativer Seite damals heftig diskutierten Frage, ob der neue Staat lediglich eine Verstärkung der autonomen Staatsgewalt oder eine totale Erfassung aller Lebensverhältnisse herbeiführen sollte 2 9 0 . Auch die gemeinsame Gegnerschaft zum Liberalismus konnte aber auf die Dauer Unterschiede in den staatstheoretischen Auffassungen der antiliberalen Strafrechtswissenschaftler nicht verdecken. Sie waren bereits in der Anfangsphase des Kampfes gegen das liberale Strafrecht latent vorhanden und wurden von den „jüngeren Kriminalisten" klar herausgestellt, nachdem das Schicksal der liberalen Demokratie besiegelt w a r 2 9 1 . Gerade i n der Gegenüberstellung m i t dem Konservativismus obrigkeitsstaatlicher Prägung schälen sich die Eigentümlichkeiten der jungen antiliberalen Strafrechtswissenschaft heraus; i m übrigen erweist sich an diesem Gegensatz, daß unter einem autoritären Staat und damit auch unter einem autoritären Strafrecht etwas durchaus Verschiedenes verstanden werden kann, wenn „autoritär" zunächst nur die Betonung der staatlichen Suprematie bedeutet 292 . A m klarsten hat diesen Unterschied Dahm i n seiner Abhandlung „Nationalsozialistisches und faschistisches Strafrecht" herausgestellt. Der faschistische Staat Italiens erscheint dort als der Prototyp des autoritären Obrigkeitsstaates. Der faschistische Staat knüpfe an die Nation an, „eine geistige und geschichtliche Einheit, geschaffen durch den Willen und durch geschichtliche Taten" 2 9 3 . Nach faschistischer Auffassung sei „das Sein der Nation nur i m Staate und durch den Staat denkbar" 2 9 4 . Die Würde der Nation spiegele sich i n der „unbegrenzten 290 v g l . s. 3; Dahm/ S chaff st ein verwandten dort das Begriffspaar „konserv a t i v - t o t a l i t ä r " . Es gibt aber keinen Anlaß zu zweifeln, daß damit der Gegensatz zwischen den Theorien des „autoritären" u n d des „totalen" Staates gemeint war, w i e i h n ζ. B. Ziegler unter Verwendung der gebräuchlicheren A d j e k t i v e herausstellte (RuS H. 90). Vgl. dazu oben 3. Kap. I I . 4. Daß der anfängliche autoritäre Stndpunkt von Dahm/Schaffstein noch undifferenziert war, bestätigte Dahm i n DStR 1934, S. 249. 291 Drost, ArchRSozPh Bd. 27, S. 116 A n m . 2, übersah diese E n t w i c k l u n g noch nicht u n d glaubte daher, einen Gegensatz zwischen Dahm u n d Schaffstein feststellen zu können, indem er die unter A n m . 286 belegte Äußerung Schaffstevns m i t einem Z i t a t v o n Dahm konfrontierte, daß „der Staatszwang, die äußere A u t o r i t ä t als solche k e i n oberster W e r t " sei (MSchrKrimPsych 1933, S. 177 A n m . 2). 292 v g l . Gallas, ZStW 53, S. 22; Gallas hielt daher Dahm u n d Schaff stein zu Recht vor, daß die A l t e r n a t i v e „Liberales oder autoritäres Strafrecht" nicht eindeutig sei. 293 s . 7 .
294 S.9.
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Autorität des Staates" 295 . Die Autorität des Staates komme i n der unbedingten Herrschaft des Gesetzes zum Ausdruck. Für die Diskussion u m das autoritäre Strafrecht in Deutschland zog Dahm den Vergleich: „Binding und die klassische Schule sind gerade i m faschistischen Strafrecht lebendig 2 9 6 ." Die Trennung von Volk und Staat, wie sie i m faschistischen Staat und i n jedem anderen Staat aufzufinden sei, der der staatlichen Autorität unmittelbar den höchsten Wert zuerkenne und so die Staatssouveränität der Volkssouveränität entgegensetze, lehnten die jungen antiliberalen Strafrechtswissenschaftler ab. Nicht der Staat, verstanden als ein eigenständiges Gebilde, sondern das Volk nahm i n ihrem System die beherrschende Stellung ein. Der Staat stelle lediglich einen „Teil des Volkes als seine Gestalt und Lebensform" 2 9 7 dar; er werde „von der Urkraft des völkischen Seins mit erfaßt und so i n den Strom des völkischen Lebens als ,die Kraft, die den Staat erzeugt, bewegt und trägt' hineingezogen " 2 9 8 . Die Zugehörigkeit zum Volke ergebe sich nach rassischen Gesichtspunkten: „Volk und Volkstum bezeichnen . . . eine Einheit der Rasse und des Blutes und eben deshalb auch eine Gemeinschaft des Geistes 299 ." Unter Abwendung vom alten Obrigkeitsstaat hoben die jüngeren Vertreter des Antiliberalismus die Bedeutung des „Sozialen" hervor 3 0 0 . Ihre Aufgeschlossenheit gegenüber dieser Frage bedeutete jedoch nicht, daß sie zur Lösung der m i t diesem Schlagwort angesprochenen Probleme einschneidende Veränderungen i n den äußeren Bedingungen menschlichen Zusammenlebens für notwendig hielten. Eine Auflösung der sozialen Gegensätze erwarteten sie von der Abkehr vom individualistischen Denken und der Hinwendung zum Gemeinschaftsdenken. Die Idee der Volksgemeinschaft sollte i n einem rein geistigen Prozeß der Neuorientierung Wirklichkeit werden, der i n der Besinnung auf das Wesen des deutschen Menschen, auf den „realen 3 0 1 deutschen Menschens. 15. 296 s. 15. Dieselbe Verbindung hatte bereits 1928 v. Heutig hergestellt (MSchrKrimPsych 1928, S. 1). 297 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf recht, S. 7; vgl. auch Schaff stein, DStR 1934, S. 280; E.Wolf, RuS H. 103, S. 33. 298 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 9; i m letzten T e i l des Satzes hatte Dahm ein Zitat von Huber, ZStaatW 95, S. 35, eingefügt. 299 Ebd., S. 7. 300 So E. Wolf, RuS H. 103, S. 30 u n d 32. 301 Vgl. zur Widersprüchlichkeit dieser „realitätsbezogenen" Denkweise der antiliberalen Strafrechtswissenschaft, hinter der sich ein bestimmter politischer Gestaltungswille verbarg, oben 3. Kap. I I . 1. u n d I I I . 3.
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typus" 3 0 2 des gemeinschaftsverbundenen Menschen bestehen sollte. Der Gemeinschaftsgedanke sei i m Volk auf Grund seiner rassischen Einheit verwurzelt 3 0 3 . Der Entschärfung der sozialen Problematik diente neben ihrer Vergeistigung die Idee des Ständestaates 304 : Die Probleme unterschiedlicher ökonomischer Bedingungen und daraus resultierender sozialer Ungerechtigkeiten lösten sich i m Modell eines ständisch strukturierten völkischen Staates auf. Der Forderung nach Beseitigung ökonomischer Ungleichheiten fehlte der Boden in einem Staat, i n dem die „reale Vielfalt . . . ständisch gestufter Glieder" 3 0 5 ein natürliches Ordnungsprinzip bildete 3 0 6 . Die Idee des Klassenkampfes wurde daher, und weil ein entschiedener Gegensatz zum Gemeinschaftsdenken bestand, scharf bekämpft 3 0 7 . Die Definition des Staates als „Ganzheit der völkischen Lebensordnung" 3 0 8 meinte eine vollständige gegenseitige Durchdringung von Staat und Volk. Zu prüfen bleibt, ob in der Staatstheorie der „jüngeren Kriminalisten" damit nicht der Ubergang zum „totalen Staat" vollzogen worden war. Tatsächlich trat i n Schriften dieser Gruppe nach 1933 der Terminus „autoritär" hinter dem Ausdruck „total" zurück. Auch inhaltlich ließen einige Formulierungen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig: „ I m totalen Staat erscheint nicht nur der Beamte, sondern letztlich jeder irgendwie als Treuhänder und ,Amtsträger 4 der Volksgesamtheit" 3 0 9 ; oder: „Der Staat darf verlangen, daß jeder Volksgenosse ihn um seiner Idee w i l l e n innerlich auch da anerkennt, wo er i h m i m einzelnen die Gefolgschaft versagen zu müssen glaubt 3 1 0 ." Damit scheint die Definition gedeckt, die Ziegler, der die Kontroverse zwischen der autoritären und totalen Staatsauffassung ausführlich abhandelte 3 1 1 , vom totalen Staat gab: „ A n Stelle des Gegensatzes oder eines Nebeneinander von ,Staat' und ,Gesellschaft' träte deren Gleichsetzung und diese Gleichsetzung führte notwendigerweise zu einer 302 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 65. 303 v g l . oben A n m . 299. 304 vgl. oben 3. Kap. I I . 2. b). 305 E. Wolf, RuS H. 103, S. 33. 306 Specht, Der Strafzweck, S. 27: „ I n der Standwerdung des Arbeiters lag die E r f ü l l u n g seiner Sehnsucht." 307 v g l . Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 48. 308 Schaff stein, Politische Strafrechtswissenschaft, S. 15. 309 Schaff stein, ZStW 53, S. 621. 310 E. Wolf, ZStW 54, S. 548 f. 311 Autoritärer u n d totaler Staat, RuS H. 90, 1932.
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immer weitergehenden, prinzipiell eigentlich unbeschränkbaren Kompetenz- und Machtausweitung des Staates, die gleichzeitig eine totale Politisierung aller sozialen Lebensbereiche und -bezüge bedeutet. Für den totalen Staat gibt es keine Grenze seiner Herrschaftszuständigkeit wie seiner Herrschaftsmacht 312 ." I n einigen Punkten bedarf dieses B i l d des totalen Staates, angewandt auf die Staatsvorstellung der „jüngeren Kriminalisten", jedoch einer Korrektur: Verfehlt wäre es, den totalen Staat als eine vollständige „Etatisierung" und Bürokratisierung des staatlichen Lebens zu interpretieren 3 1 3 . So wollten die „jüngeren Kriminalisten" ihren Staat nicht verstanden wissen. Dahm wandte sich i n diesem Sinne gegen eine „Allgewalt und Totalität des Staates" 314 . Auch die Verfechter des totalen Staates in der Staatsrechtswissenschaft dachten nicht so sehr an eine bürokratische Totalisierung: „Nicht daß der Staat bis i n die kleinsten Zellen des Volkslebens hinein Gesetze und Befehle ergehen läßt, ist wesentlich, sondern, daß er auch hier eine Verantwortung geltend machen kann, daß er den einzelnen zur Rechenschaft ziehen kann, der sein persönliches Geschick nicht dem der Nation völlig unterordnet. Dieser Anspruch des Staates, der ein totaler ist und an jeden Volksgenossen gestellt ist, macht das neue Wesen des Staates aus 3 1 5 ." Eine solche „totale Inpflichtnahme" 3 1 5 entsprach der Ansicht der jungen antiliberalen Strafrechtswissenschaftler, daß der individuelle, gegen den Staat gerichtete Freiheitsanspruch zu beseitigen sei und der einzelne einer totalen Verantwortlichkeit vor Volk und Staat zu unterwerfen sei. Der totale Staat ist gegenüber dem autoritären Staat kein aliud, sondern ein plus. Das wurde i n der anfänglichen, rein theoretischen Diskussion nicht recht deutlich. Nach Ziegler erstrebt der totale Staat vor allem „die quantitative Ausdehnung der Herrschaftsbefugnis", nicht so sehr eine Stärkung seiner Autorität 3 1 6 . Eine solche Sonderung von quantitativer und qualitativer Machtsteigerung ist jedoch nur theoretisch möglich; i n der Praxis fußt eine laterale Ausdehnung der Macht stets auf einer Veränderung der Qualität der Macht i m Zentrum oder hat diese zur Folge. Spätere, am nationalsozialistischen Staat orientierte Abhandlungen über den totalen Staat bestätigten dies. 312 Ebd., S. 6. 313 So Nagler, GS 103, S. X X A n m . 39. 314 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 9 f. 315 Forsthoff, Der totale Staat, S. 42. 316 RuS H. 90, S. 7.
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Sie strichen das autoritäre Element als einen Wesenszug des totalen Staates heraus und machten gleichzeitig die Grenzen des Gemeinschaftsdenkens erkennbar: „Voraussetzung des autoritären totalen Staates ist die Aufrichtung und praktische Durchführung der Unterscheidung zwischen Regierenden und Regierten, und zwar eine Unterscheidung, die nicht nur eine äußerliche ist, sondern auf ein wirkliches Anderssein zurückgeht. . . . Damit w i r d eine nach eigenen Gesetzen lebende, besonderen geschichtlichen Verantwortlichkeiten unterworfene Schicht aus dem Volke herausgehoben, ohne vom Volk getrennt zu werden 3 1 7 ." Bei den „jüngeren Kriminalisten" trat der autoritäre Charakter des totalen Staates nicht immer so deutlich hervor. Sie rückten stärker die Volksgemeinschaft als höchsten Wert i n den Vordergrund. Den Gedanken der Führung suchten sie aus dem Gemeinschafts denken abzuleiten. Auf Grund einer inneren Bindung bringe die Volksgemeinschaft dem Führer Gehorsam und Treue entgegen 318 . Zahlreiche Forderungen, die eine Ausdehnung und Verschärfung von Strafbestimmungen betrafen 3 1 9 , lassen aber auch erkennen, daß man eine autoritäre Durchsetzung und Sicherung des totalen Staates für erforderlich hielt. Treffend kennzeichnete Schaffstein die Staatsauffassung der jungen antiliberalen Richtung, indem er die beiden A t t r i bute „autoritär" und „total" nebeneinander verwandte 3 2 0 . Die straftheoretischen Äußerungen der „jüngeren Kriminalisten" weisen dieselbe Entwicklung auf, wie sie schon bei der Erörterung ihres Staatsbegriffs festzustellen war: I h r Bekenntnis zu einem autoritären Strafrecht erweckte zunächst den Eindruck, als bestünde eine Übereinstimmung mit den Neuklassikern und Α. E. Günther. Dem Typus eines autoritären Staates, wie er bei diesen aufzufinden war, entsprach die Auffassung Dahms und Schaff steins : „ I n der Strafe offenbart sich symbolisch die Würde des Staates 321 ." Wichtiger, als das Verbrechen mit rein rationalen M i t t e l n zu bekämpfen, sei es, die „Fernwirkungen der Strafe, ihren Eindruck auf die Gesamtheit der Bürger, ihre Bedeutung für das Ansehen des Staates zu beachten" 321 . Auch dort, wo auf den einzelnen eingewirkt werde, müsse der Staat bestrebt sein, „nicht nur i n dem unmittelbar Erzogenen, sondern i n der Gesamtheit ein Höchstmaß von Staatsgesinnung zu erzielen, seine Autorität soweit als möglich zu steigern" 3 2 1 . Indem sie der Strafe die Ausgabe zuordneten, für die 317 Forsthoff, Der totale Staat, S. 33; vgl. auch Thalheimer, Der F ü h r e r gedanke, S. 6: „ F ü h r u n g u n d V o l k stehen sich gegenüber w i e der Kompagniechef seiner Kompagnie." 318 vgl. Dahm, D J Z 1934, Sp. 826 u n d oben 3. Kap. I I . 3. a). 319 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 3. 320 ZStW 53, S. 622. 321 Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 41.
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„Erhaltung und Bewährung der Staatsgewalt schlechthin" 322 zu sorgen, bewegten sich Dahm und Schaffstein i n den Gedankenbahnen der Neuklassiker und Α. E. Günthers 3 2 3 . Der Prozeß der Abklärung und Differenzierung innerhalb des konservativen Lagers führte aber auch i n straftheoretischen Fragen zu einer klaren Abgrenzung der jüngeren antiliberalen Strafrechtswissenschaftler von den Vertretern eines rein autoritären, obrigkeitsstaatlichen Strafrechts. Der entscheidende Gegensatz bildete sich hier wie schon i n der Staatstheorie am Begriff der Volksgemeinschaft heraus. Wie die „jüngeren Kriminalisten" ihr Staatsleitbild am Gemeinschaftsgedanken orientierten, so räumten sie ihm auch Priorität i n ihren straftheoretischen Überlegungen ein 3 2 4 . Bereits i n ihren Bemühungen um eine begriffliche Erfassung des Täters, die ganz unter dem Einfluß der personalen, normativen Täterlehre E. Wolfs 3 2 5 standen, trat der Unterschied deutlich hervor: Schaffstein nannte als Ziel, „den Täter nicht als isoliertes, natürliches ,Individuum 4 , wie ihn die Lisztschule sah, sondern als Glied der Volksgemeinschaft (als ,Person') zum Gegenstand strafrechtlicher Wertungen zu machen" 326 . Da eine echte Gemeinschaft i m Gegensatz zur bloßen Gesellschaft nach Auffassung der Antiliberalen auf einer inneren Bindung ihrer Glieder, auf einem Zusammengehörigkeitsgefühl und einem Verhältnis von Treue und Ehre beruht, sollte der sichtbar gewordene Mangel einer Gemeinschaftsgesinnung den Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Sanktionen bilden. Das nationalsozialistische Strafrecht müsse daher notwendigerweise Gesinnungsstrafrecht sein 3 2 7 . Das Straf urteil enthalte „ein sittliches Werturteil über die Gesinnung des Täters als Volksgenossen" 328 . Es solle zugleich feststellen, wie sich nach der Tat das Verhältnis des Täters zur Gemeinschaft gestalte, nämlich „ob der Täter noch zur Gemeinschaft gehört oder nicht" 3 2 9 .
322 Ebd., S. 40. 323 Daher erfolgte teilweise i m zeitgenössischen Schrifttum eine Gleichsetzung: H.Marx, Die Justiz 1932/33, S. 239, vertrat die Ansicht: „Die jüngste Generation von Strafrechtlern übernimmt wieder das Programm jener überwunden geglaubten, bereits zu den M u m i e n gestellten Klassiker"; vgl. auch Frick, Der Besserungsgedanke, S. 64; Specht, Der Strafzweck, S. 31, rechnete Α. E. Günther u n d Dahm/ S chaff stein zu einer Richtung. 324 Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 18. 325 v g l . oben 4. Kap. I. 2. b). 326 DStR 1934, S. 273. 327 Vgl. Schaff stein, DStR 1934, S. 280; Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 18. 328 Schaff stein, DStR 1934, S.280; so auch Larenz, Z f K u l t u r p h 1936, S.36f. 329 Dahm, D J Z 1934, Sp. 826.
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Dem Urteil kommt nach Ansicht der „jüngeren Kriminalisten" nur delatorische Bedeutung zu; der Täter habe die Verbindung zur Gemeinschaft bereits durch die Tat abgebrochen und damit seine Ehre, die sein Verhältnis zur Gemeinschaft kennzeichne, aufs Spiel gesetzt. „Nicht die Strafe, sondern das Verbrechen vernichtet oder mindert die Ehre. Die Strafe macht nur kund, was unabhängig vom Ausspruch des Richters geschehen ist 3 3 0 ." Der tiefere Grund der Strafe liege i n einem „Mißtrauensvotum seitens der Rechtsgemeinschaft" 331 , das darüber entscheide, inwieweit der Täter einen Ehrverlust und damit zugleich eine Minderung seiner Rechtsstellung innerhalb der Gemeinschaft erlitten habe. Die Strafe erhalte so die Funktion einer „wertbetonten Typensonderung" 332 . Das Maß der Ehrminderung richte sich nach dem Grad des Gesinnungs ver falls. Die Hauptaufgabe der Strafe liegt nach Ansicht der „jüngeren Kriminalisten" jedoch nicht i n der Ausrichtung auf den einzelnen Täter, sondern in der Wirkung auf die Gemeinschaft. Die Strafe diene deren „Reinigung und Wiederherstellung" 3 3 3 . Diese „Fernwirkungen" 3 3 4 resultierten aus den „Integrationseffekten des Strafrechts" 3 3 5 und der „Demonstrationskraft der Strafdrohung wie der Strafvollstreckung" 3 3 5 . Erst i n zweiter Linie ziele die Strafe auf den einzelnen Verbrecher ab; sie bewirke als ein echtes Übel seine „Entsühnung" und ermögliche so eine spätere Wiedereingliederung in die Gemeinschaft 336 . Die inhaltliche Ausgestaltung der Strafe leitete die Gruppe um Dahm und Schaff stein ganz aus ihrer Auffassung vom Wesen der Strafe ab: Sie müsse den Abstand des Rechtsbrechers von der Gemeinschaft, die Verminderung seiner Geltung i n der Gemeinschaft wiedergeben. Dahm folgerte, daß „jede wirkliche Strafe Ehrenstrafe" 3 3 7 sei. Der Begriff der Ehrenstrafe beherrschte das gesamte Strafensystem der jungen A n t i liberalen, die glaubten, daß er dem Geist der neuen Zeit entspreche, so wie die Freiheitsstrafe den Geist der Aufklärung und des bürgerlichen Liberalismus und die Geldstrafe den materialistischen Geist der Nach330 Ebd., u n d Schaff stein, DStR 1934, S. 282; vgl. auch Dahm, Gemeinschaft und Strafrecht, S. 9. 331 E. Wolf, RuS H. 87, S. 33; auch Dahm, D J Z 1934, Sp. 828. 332 Dahm, D J Z 1934, Sp. 831 u n d E. Wolf, ZStW 54, S. 561, griffen hier eine Formulierung von A. Rosenberg auf; vgl. Der Mythos des 20. J a h r h u n derts, S.580. 333 Schaff stein, ZStW 55, S. 286. 334 Dahm, D J Z 1934, Sp. 827. 335 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 175; vgl. auch Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 17 sowie D J Z 1934, Sp. 827. 336 v g l . Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf recht, S. 17; Schaffstein, DStR 1934, S. 282. 337 D J Z 1934, Sp. 827.
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kriegsepoche verkörpert habe 3 3 8 . Zwar solle die Freiheitsstrafe nicht beseitigt werden, doch habe sie sich ganz dem Primat der Ehrenstrafe unterzuordnen 339 . Die Zuchthausstrafe müsse stets m i t dem Verlust der Ehre verbunden sein. Das Ziel einer Resozialisierung müsse außer Betracht bleiben. Dahm berief sich dabei auf die Volksanschauung: „Das Zuchthaus ist für das Volk gerade kein ,strenges Gefängnis', sondern die schwerste Form der Entehrung 3 4 0 ." Die Gefängnisstrafe bedeute dagegen nicht stets den völligen Verlust der Ehre, sie könne aber den „Verlust bestimmter Rechte und Ehren nach Lage des Einzelfalles" 3 4 1 nach sich ziehen. Diesem Unterschied habe der Vollzug durch deutliche Unterschiede i n der Härte, i n der Behandlung der Gefangenen und i n ihrer Kenntlichmachung Rechnung zu tragen. Darüber hinaus traten die „jüngeren Kriminalisten" für den Ausbau „selbständiger Ehrenstrafen" ein, und griffen dabei gelegentlich auf mittelalterliche Strafformen zurück 3 4 2 . Die härteste Strafe i n diesem Bereich sollte die Ächtung 3 4 3 sein, die zum vollständigen Ausschluß aus der Volksgemeinschaft führen sollte. Nach Dahm fordert der Gedanke der Ächtung, daß der Verbrecher aufhört, „ein ,Rechtssubjekt' zu sein. Er darf auch nicht mehr i m bürgerlichen' Rechtsverkehr auftreten, und es erscheint unvermeidlich, daß auch seine familienrechtlichen Beziehungen erlöschen" 344 . Mildere Formen der Ehrenstrafe stellten die öffentliche Verkündung des Urteils und der Verlust einzelner Ehrenrechte, wie ζ. B. „Aberkennung der Bauernfähigkeit und anderer ständischer Würden, Verbot der Teilnahme an festlichen Kundgebungen der Volksgemeinschaft" 345 dar. 338 Dahm, D J Z 1934, Sp. 827. u n d Gemeinschaft u n d Straf recht, S. 8; Schaff stein, DStR 1934, S. 282. 339 Z u r Verbindung der Freiheitsstrafe m i t der Ehrenstrafe: Dahm, D J Z 1934, Sp. 831 f. u n d DR 1934, S.419; Schaffstein, DStR 1934, S.282; E.Wolf, ZStW 54, S. 549. 340 Dahm, D J Z 1934, Sp.832; ähnlich Schaff stein, DStR 1934, S.282. 341 Dahm, DJZ 1934, Sp. 831 f. 342 v g l . ebd., Sp.832; Schaff stein, DStR 1934, S.281f.; E.Wolf, ZStW 54, S. 561 ff. Sie warnten jedoch vor einer unbedachten Übernahme mittelalterlicher Strafen, etwa Pranger u n d Prügel, wie sie i n der Reformdiskussion teilweise verlangt wurde (Kerrl, Nationalsozialistisches Strafrecht, S. 140; Denkschrift der A k D R , S. 113 f.), da diese nicht mehr der gesunden Volksanschauung u n d modernem kriminalpolitischen Denken entsprächen. 343 Später nahm Dahm i n ZStaatW 95 (1935), S. 286, die Ächtung aus dem allgemeinen Strafensystem heraus u n d verknüpfte sie allein m i t den t y p i schen Verratsdelikten wie Hoch- u n d Landesverrat, durch die der Täter zum Ausdruck bringe, daß er „außerhalb der Ordnung steht". Gleichwohl blieb der Gedanke der Ächtung i n abgeschwächter Form bei den übrigen Delikten durch das Prinzip der Ehrenstrafe erhalten. 344 Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 9. 345 E. Wolf, ZStW 54, S. 561; vgl. auch Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht,
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A n der Todesstrafe hielten die jungen antiliberalen Strafrechtler „aus dem Grundsatz autoritärer Notwendigkeit" 3 4 6 fest und befürworteten eine „Erweiterung ihres Anwendungsgebietes" 346 . Für spezialpräventive Maßnahmen traten sie nur bedingt ein. Daß sie ihnen aber überhaupt als strafrechtliche Sanktionen Bedeutung beimaßen, unterschied sie bereits von den Neuklassikern und Α. E. Günther. Zur Voraussetzung machten sie, daß die Maßnahmen den Gemeinschaftsinteressen angepaßt würden. Daher gebühre dem Gedanken der Sicherung der Vorrang vor dem Erziehungsgedanken 347 . Die Sicherungsverwahrung der Berufs- und Gewohnheitsverbrecher sei ohne weiteren Verzug in die Tat umzusetzen 348 . Auch der Gedanke der Tötung „geisteskranker Verbrecher, die todeswürdige Verbrechen begehen" 349 , wurde propagiert. Diese Maßnahmen waren jedoch nicht als eine Übernahme der Spezialprävention i m bisherigen Sinne gedacht. Sie bedeuteten nicht „Sicherung der Gesellschaft gegen Sozialgefährliche, sondern Ausstoßung des Volksfeindes, vorübergehende Fernhaltung von der Gemeinschaft oder doch ein ,Mißtrauensvotum' der Gemeinschaft" 350 . Auch i n diesem Bereich habe die normative Betrachtung Gültigkeit; sie komme in einer „wertbetonten Auslese und ,Typensonderung'" zum Ausdruck 3 5 0 . Wie man auf diesem Wege den Zwiespalt zwischen Strafen und Maßnahmen überwinden könnte, deutete Dahm i n einer „theoretischen Perspektive" 3 5 1 an: „Während früher starke Neigung bestand, das Strafensystem in ein System bessernder und sichernder Maßnahmen aufzulösen, könnte einmal das Umgekehrte eintreten und die Reaktion gegen Untauglichkeit und Volksschädlichkeit schlechthin i n den k r i m i nellen Bereich hineinfallen." Das Ergebnis wäre eine „neue, wertbetonte Einspurigkeit". S. 10; Dahm wünschte eine „Bereicherung unseres armseligen Strafensystems" (DStR 1934, S. 94). 346 E.Wolf, ZStW 54, S. 547; vgl. auch Dahm/ S chaff st ein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 49. 347 v g l . Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 45; E.Wolf, Rus H. 103, S.42; Schaff stein, ZStW 55, S. 287. 348 Dise Forderung erübrigte sich nach dem 24.11.1933, an dem das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher u n d über Maßregeln der Sicherung und Besserung (RGBl I, S. 995) i n K r a f t trat. 349 Dahm, D J Z 1934, Sp. 829, griff hier einen Gedanken aus Kerrl, Nationalsozialistisches Strafrecht (S. 136) auf. 350 Dahm, D J Z 1934, Sp. 828; vgl. auch ders., DStR 1934, S. 96 sowie E. Wolf, RuS H. 87, S. 33. 351 DJZ 1934, Sp. 829; i m folgenden schwächte er jedoch seine Erwägung ab: Dies sei ein Weg, „der schließlich Rechtsdenken u n d Volksanschauung voneinander entfernen müßte".
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Dem Erziehungsgedanken waren i m System der „jüngeren K r i m i nalisten" einmal schon dadurch Grenzen gezogen, daß die Strafe zur Hauptsache der Aufgabe nachkommen sollte, das „entmindernde oder entehrende Unwerturteil der Gemeinschaft zum sichtbaren Ausdruck zu bringen" 3 5 2 ; eine weitere Einschränkung erfuhr er durch die Auffassung, daß nur derjenige Täter eine Erziehung verdiene, dessen „erbbiologische Veranlagung für Volkstum und Rasse" erkennen lasse, daß seine Wiedereingliederung von Wert für die Gemeinschaft sein werde 3 5 3 . I m Gegensatz zum individualistischen Grundsatz allgemeiner Besserungsfähigkeit seien die Erziehungsbemühungen auf einen begrenzten Kreis vor allem jugendlicher und erstmalig bestrafter Deliquenten zu konzentrieren 354 . Auch dürfe die Ausgestaltung des Erziehungsstrafvollzuges die sonstigen Wirkungen der Strafe nicht beeinträchtigen. Für Vergünstigungen und Milderungen des Strafzwanges bestünden daher nur beschränkte Möglichkeiten. Die Verfechter eines autoritären Strafrechts maßen militärischer Straffheit und Disziplin „außerordentliche pädagogische Bedeutung" bei 3 5 5 . Nach ihrer Ansicht war bisher verabsäumt worden, dem Erziehungsstrafvollzug eindeutige und feste Ziele voranzustellen. I m Gefangenen müsse eine „staatsbewußte, soziale Einstellung" 3 5 6 hervorgerufen werden; „erzogen werden soll der Gefangene nicht zum formal rechtstreuen Staatsbürger, sondern zum bewußt und freudig mitschaffenden Glied der Volksgemeinschaft" 357 . Diese Forderung beinhaltete den Totalitätsanspruch eines Staates, der von seinen Bürgern über ein äußerlich gesetzmäßiges Verhalten hinaus eine opferbereite, staatstreue Gesinnung verlangt. Sie stand i n deutlichem Gegensatz zu den Vorstellungen der Neuklassiker und Α. E. Günthers, die eine Einflußnahme auf die Gesinnung des einzelnen ablehnten und sich m i t seinem äußerlichen Wohlverhalten begnügten. Mit ihrem Strafbegriff versuchten die „jüngeren Kriminalisten" einen Standpunkt außerhalb und oberhalb des Schulenstreites zu gewinnen. Sie erstreben eine „Ethisierung des Rechts", wandten sich jedoch gegen eine „moralisierende Bewertung der T a t " 3 5 8 ; sie vollzogen 352 Schaff stein, ZStW 55, S. 286. Ebd., S. 287; Anklänge dieses Gedankens bei Dahm/Schaff stein, rales oder autoritäres Straf recht?, S. 45. 354 S chaff stein, ZStW 55, S. 288. 355 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 49. 356 E. Wolf, RuS H. 103, S. 42. 357 Ders., ZStW 54, S. 546. 358 Dahm, DJZ 1934, Sp. 828. 353
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die Wendung zum Täterstrafrecht, das bedeutete jedoch „kein Bekenntnis zur Spezialprävention" 358 . Den gesunden Kern beider Richtungen glaubten sie i n ihrer normativen Täterbetrachtung vom Standpunkt der Gemeinschaft aus enthalten 3 5 9 . Nicht die mit der Einzeltat verknüpfte Schuld und nicht die Sozialgefährlichkeit des Täters, sondern seine sittliche Verantwortlichkeit für sein gemeinschaftswidriges Verhalten bilde den Grund der Strafe 3 6 0 . M i t Hilfe neuer Wendungen wie „Integrationseffekt des Strafrechts" 3 6 1 oder „Sozialprävention" 3 6 2 versuchten sie, den Abstand zu den überkommenen Straftheorien, zur „individualistischen Spezialprävention" 3 6 3 und zur „liberalistischen Generalprävention" 3 6 3 zu demonstrieren. Die praktische Bedeutung ihres Gemeinschaftsstrafrechts trat nicht deutlich hervor. Die nationalsozialistische Strafrechtspraxis kann nicht zur Beurteilung herangezogen werden; denn sie entwickelte sich nicht nach einem wissenschaftlichen Programm, sondern war, wie jede Strafrechtspraxis, das Produkt vielfältiger Faktoren. Zudem läßt sich nicht der Beweis führen, daß eine solche Entwicklung von den Verfechtern des autoritären Strafrechts vorhergesehen oder gar geplant worden war. Es ist allerdings nicht zu übersehen, daß der Denkansatz der „jüngeren Kriminalisten" den Keim zu einer solchen Entwicklung i n sich barg. Zur Verdeutlichung sei auf die doppelte Funktion hingewiesen, die das Gemeinschaftsdenken i n ihrem System erfüllte: Einmal diente die Berufung auf die Volksanschauung zur Begründung strafrechtlicher Postulate, so z. B. bei der Interpretation der Strafe als Ehrenstrafe 364 oder bei dem Festhalten an der Todesstrafe 365 . Entsprechend den Prinzipien völkischen Denkens wurde hier die Volksanschauung als Quelle des Rechts herangezogen und somit die rechtsphilosophische Auffassung i n das Strafrecht umgesetzt, daß das Recht „lebendiger Wille der Rechtsgemeinschaft" 366 sei, i n dem der Gegensatz von Norm und Wirklichkeit, von Sein und Sollen überwunden sei. Stärker zur Geltung kam aber die andere Seite des Gemeinschaftsgedankens, seine Bedeutung als ein mit den Mitteln des Strafrechts zu erreichendes Ziel. 3 6 7 . 359 v g l . zur Vereinigung u n d Überwindung der gegensätzlichen straftheoretischen Standpunkte: Schaff stein, ZStW 53, S. 611 u n d 615; E.Wolf, Rus H. 103, S. 37 f. u n d Z S t W 54, S. 556. 360 Dahm, DStR 1934, S. 96 sprach von „Tätervergeltung". 361 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 175. 362 E. Wolf, RuS H. 103, S. 41. 363 Ders., ZStW 54, S. 569. 364 vgl. Dahm, D J Z 1934, Sp. 827 u n d DR 1934, S. 419; Schaff stein, ZStW 55, S. 286. 365 v g l . Dahm/Schaffstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 49. 366 Larenz, RuS H. 109, S. 26.
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Die Blickrichtung zeigt, daß die jungen antiliberalen Strafrechtswissenschaftler trotz anderslautender Beteuerungen einen bereits ausgetretenen Pfad beschritten: I m Prinzip verfochten sie ein generalpräventives Strafrecht. Nur sprengte es den Rahmen der Generalprävention, wie Feuerbach ihn abgesteckt hatte und wie er seither anerkannt worden war. Eine Äußerung Dahms macht das ganz deutlich: „Der Staat kann nicht darauf verzichten, durch eine beweiskräftige Reaktion auf das Verbrechen i n der Gesamtheit Staatsgesinnung und Rechtsgefühl zu erzeugen, und somit eine Gesamtwirkung zu erzielen, die über jede generalpräventive Wirkung weit hinausreicht 368 ." Dieses Strafrecht zielte darauf ab, einmal bei dem einzelnen Staatsbürger eine staatsergebene, opferbereite Gesinnung hervorzurufen und zum andern die Gemeinschaft der Rechtstreuen enger zusammenzuführen. Das war mit dem geforderten rigorosen Einsatz der Strafmittel, m i t der Ausstoßung des Verbrechers aus der Gemeinschaft oder seiner Ehrminderung innerhalb dieser Gemeinschaft bezweckt 369 . d) Nicolai Die Reformvorstellungen Nicolais hatten alle Aussicht, beträchtlichen Einfluß auf die Rechtspraxis zu gewinnen. Der Autor der „Rassengesetzlichen Rechtslehre" übte als Leiter der Innenpolitischen Abteilung der Reichsleitung der NSDAP eine bedeutende Funktion innerhalb der Partei aus. Von der Reichsleitung wurden unter maßgeblicher Beteiligung Nicolais in den Jahren 1931 und 1932 zahlreiche Pläne und Gesetzesvorhaben entworfen, die der späteren nationalsozialistischen Gesetzgebungspraxis als Grundlage dienten 3 7 0 . Dazu gehörte auch ein Vorschlag zur „Strafrechtsreform vom rassenhygienischen Standpunkte aus" 3 7 1 , der zwar nicht i n dieser Form i n die Gesetzgebungspraxis um367 v g l . z.B. E.Wolf, RuS H. 103, S. 33; Schaff stein, DStR 1934, S.281; ZStW 53, S. 609; ZStW 55, S. 287. 368 MSchrKrimPsych 1933, S. 175; vgl. auch Schaffstein, D J Z 1934, Sp. 1179: Entscheidendes Gewicht sei auf die „ A u ß e n w i r k u n g der Strafe gegenüber der Volksgemeinschaft" zu legen. 3 69 Das M i t t e l zur Integration der Gemeinschaft w a r die Betonung der Andersartigkeit des Verbrechers u n d seine Ausstoßung aus der Gemeinschaft. Damit paßte sich diese Straftheorie an die „Sündenbockphilosophie" des Nationalsozialismus an. Vgl. dazu Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, S. 93 ff.; vgl. zur Rolle des „Sündenbocks" i m Strafrecht: Naegeli, Das Böse und das Straf recht; Bauer, Das Verbrechen u n d die Gesellschaft, S. 8, 140; Methler, ZRP 1971, S. 2; Mergen, Kriminologie, S. 70; Ostermeyer, Strafunrecht, S. 17 f.; ders., ZRP 1970, S. 241 ff. 370 vgl. Bracher/Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, S. 411 ff. 371 Daran w a r neben Nicolai v o r allem von Heydebrink und der Lasa beteiligt; vgl. Bracher/Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, S. 412. 10*
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gesetzt und nicht einmal i n die öffentliche Diskussion eingebracht wurde; das darin enthaltene rassistische Gedankengut hat aber doch i n der Strafrechts- und Polizeipraxis des Dritten Reiches deutliche Spuren hinterlassen. Der Einfluß Nicolais erhöhte sich noch durch seine Ernennung zum Leiter der innenpolitischen Abteilung i m Reichsinnenministerium i m Oktober 1933. A u f Grund der bedeutenden Positionen, die Nicolai innehatte, nahmen seine Reformvorstellungen, selbst wenn ihnen die öffentliche Billigung der Partei fehlte, zumindest den Rang halboffizieller Äußerungen ein. Seine Vorschläge zur Erneuerung des Strafrechts leitete Nicolai aus seiner vom völkischen Gedanken beherrschten Rechtslehre ab. Sie hatte zum Ausgangspunkt, daß sich das Recht i n seiner wahren Bedeutung allein dem Menschen von reiner nordischer Rasse erschließe. Der nordischen Rasse sei die Fähigkeit, zwischen richtig und falsch, gut und böse zu unterscheiden und zu wissen, „wie man sich richtig verhalten soll, damit der Frieden, die Ordnung i n der Gemeinschaft erhalten bleibt" 3 7 2 , von den Ahnen blutsmäßig vererbt, „von dem Rechtsgotte selbst überliefert" 3 7 3 . Nach dieser deutschen Anschauung habe das Recht seinen Ursprung i n einer „ewigen Rechtsidee" 374 und werde offenkundig „durch das Rechtsgefühl des Volkes, dem dieses Recht angeboren erscheint" 375 . Dieses Gefühl verwerfe jede Trennung von Recht und Sittlichkeit. Das eigentlich deutsche Recht, das vor der Verfälschung durch die Rezeption bereits einmal existiert habe, sei von der Bindung des einzelnen an die Gemeinschaft der Rassegenossen beherrscht gewesen: „So wurde das Recht von dem Gedanken der Sittlichkeit durchdrungen, i n deren Mittelpunkt Treue und Ehre als Grundsteine deutscher Wesensart standen 3 7 6 ." I n dem System Nicolais fiel dem Staat die Aufgabe zu, das Rechtsgefühl des Volkes für die praktischen Fragen des Zusammenlebens nutzbar zu machen, indem er es i n Gesetzen ausformuliert und das so gesetzt e Recht verwaltet 3 7 6 . Theoretisch war möglich, daß der Staat gegen die Rechtsidee verstößt. Nicolai schwächte jedoch ab: Nur wenn verneint werden müsse, „daß die Staatsgewalt, die diese Gesetzes erlassen hat, aus ihrer ganzen Anschauung heraus rechtmäßig handeln wollte", sei anzunehmen, daß tatsächlich ein Verstoß vorliege 3 7 7 . Das 372
373 374 375 376 377
Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 13. Ebd., S. 13; vgl. auch S. 14, 27. Ebd., S. 25; vgl. auch S. 27 sowie Grundlagen, S. 12. Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 18; Grundlagen, S. 10. v g l . Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 32. Ebd., S. 38.
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korrigierende Element einer materiellen Rechtsidee wurde damit wieder getilgt. Die überragende Bedeutung des Rassegedankens auch i m Strafrecht ergab sich für Nicolai aus seiner Auffassung, daß der Hang zur Kriminalität auf vererbter Anlage beruhe. Er glaubte, den Nachweis für unterschiedliche Grade der Kriminalität i n den verschiedenen Rassen erbringen zu können 3 7 8 . Je nordischer die Bevölkerung sei, desto weniger neige sie zu kriminellen Handlungen. Die Frage nach der Willensfreiheit beantworte Nicolai m i t dem Satz: „Die menschliche Veranlagung ist die Ursache des Handelns des Menschen 379 ." Er unterließ es jedoch, die letzte Konsequenz zu ziehen, nämlich die Abschaffung des Schuldstrafrechts zu fordern. Vielmehr versuchte er, das ethische Pathos des Schuldgedankens i n das deterministische Rassen„straf"recht einzubauen: „Er (der Verbrecher, d. Verf.) ist aber doch nicht schuldlos, sondern er ist Träger derjenigen Eigenschaften die zu der Straftat geführt haben. Niemand kann i n die Seele eines anderen hineinsehen — wer wollte entscheiden, was i n dieser wohl vor sich ging, als die Straftat begangen wurde? Wohl aber kann man sagen, daß eine bestimmte Straftat von einer Gesinnung, von einer Anlage zeugt, die unsozial ist, die nicht rechtmäßig ist, die ihren Träger als untauglich erscheinen läßt, i n der menschlichen Gesellschaft, i m Volke als Volksgenosse zu leben 3 8 0 ." M i t allen Konsequenzen kam die deterministische Grundeinstellung Nicolais i n seinem rein zweckgerichteten Straf begriff zur Geltung: „Ziel des Strafrechts . . . ist der Schutz des Volkes vor lebensfeindlichen, rechtsschädigenden Entartungen, die sich i n einer ungesunden Veranlagung offenbaren 381 ." Der Volks- und Rassenschutz sollte nach seinen Vorstellungen vor allem durch spezialpräventive Maßnahmen gewährleistet werden 3 8 2 , wobei wegen der Dominanz der Erbmasse für
378 Vgl. D R 1933, S. 4; Nicolai berief sich dort auf eine statistische Erhebung der K r i m i n a l i t ä t aus den Jahren 1882 - 91, die nach den Ländern i m Deutschen Reich unterschied. Seine Folgerung zog er aus der geringeren Straffälligkeit i n den nördlichen Ländern gegenüber den östlich u n d südlich gelegenen, i n denen eine weitgehende Vermischung der nordischen Rasse m i t der slawischen bzw. dinarischen stattgefunden habe. 379 Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 42. 380 Ebd., S. 42 f. 381 Ebd., S. 43; vgl. auch D R 1933, S. 4. F ü r ein solches „Schutzrecht" t r a t auch v. Hey debrand und der Lasa, Mitarbeiter Nicolais i n der Reichsleitung der NSDAP, i n Deutsche Rechtserneuerung, S. 160 f., ein. 382 Dem wurde E. Schmidt nicht gerecht, als er das nationalsozialistische Strafrecht Nicolais als „terroristisches Abschreckungsstrafrecht" bezeichnete (Mitt. I K V N.F. 6. Bd., S. 178). Auch vernachlässigte er bei der an derselben Stelle vorgenommenen Gleichsetzung von A. E. Günther u n d Nicolai die
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Erziehung kein Raum bleiben sollte: „Wessen Veranlagung so ist, daß er auf den Weg des ehrlosen Verbrechers geführt wird, muß aus dieser Gemeinschaft entfernt werden, darf vor allem die überkommene Veranlagung nicht forterben, da andernfalls von den Nachkommen ähnliche Rechtsbrüche erwartet werden müssen 383 ." I n den Fällen erwiesener Ehrlosigkeit, „beispielsweise bei allen aus Habgier begangenen Vergehen oder Gewohnheitsverbrechen", empfahl Nicolai die Todesstrafe, lebenslängliche Sicherungsmaßnahmen oder die zwangsweise eugenische Sterilisation 3 8 4 . Von dieser Verbrechensgruppe wollte er die Delikte unterschieden wissen, die nicht m i t ehrloser Gesinnung verbunden seien, wie ζ. B. Fahrlässigkeitstaten oder Verstöße gegen Ordnungsvorschriften. Hier sei es zum Schutz der Gesamtheit erforderlich aber auch ausreichend, wenn eine Bestrafung zwecks Abschreckung erfolge, durch die deutlich gemacht werde, daß die Nachteile der Strafe gegenüber den Vorteilen aus der kriminellen Handlung überwiegen 3 8 5 . Die strafrechtlichen Forderungen Nicolais eröffneten dem Staat die Möglichkeit, seine Macht nahezu unbegrenzt auszuüben. Auch das Bekenntnis zum „Rechtsstaat" 386 änderte hieran nichts; denn es deckte sich nicht mit dem herkömmlichen B i l d des Rechtsstaates. Nicolai forderte „den auf der lebensgesetzlichen 387 Rechtslehre aufgebauten Rechtsstaat" 3 8 8 , d. h. den von jeder Bindung gegenüber seinen Bürgern befreiten, nur dem Rassegedanken verpflichteten Staat. 5. Die politischen Standorte der antiliberalen Richtungen
Die ordnenden Gesichtspunkte für die Einteilung der verschiedenen antiliberalen Richtungen waren i n der bisherigen Darstellung staatsund straftheoretischer A r t . Es dürfte aber auch angeklungen sein, daß Unterschiede i n den Ausgangspunkten. E r dürfte von dem Eindruck geleitet worden sein, den die Forderung nach unbarmherzigem Gebrauch der Strafm i t t e l hervorrief, die Α. E. Günther u n d Nicolai gleichermaßen erhoben. 383 Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 43. Bei konsequenter Durchführung müßte der Rassegedanke zu Maßnahmen auch gegen die Familie des Rechtsbrechers führen. Z w a r äußerte sich Nicolai dazu nicht eindeutig; die furchtbaren rassenpolitischen Exzesse des Dritten Reiches klangen aber i n seiner Drohung an: „ W i r haben auch andere M i t t e l (als strafrechtliche, d. Verf.), u m die Fortpflanzung moralisch (!) nicht gesunder Menschen zu verhindern" (DR 1933, S. 5). 384 Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 43; vgl. auch D R 1933, S . 4 f . ; ähnlich v. Heydebrand und der Lasa, Deutsche Rechtserneuerung, S. 161 f. 385 v g l . die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 43 f.; v. Heydebrand und der Lasa, Deutsche Rechtserneuerung, S. 162 f. see Ebd., S. 4. 387 Gleichbedeutend mit „rassengesetzlich"; vgl. ebd., S. 27. «88 Ebd., S. 4.
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die Meinungsunterschiede auf Unterschiede i n den politischen Anschauungen zurückgingen. War doch der Ausgangspunkt für die antiliberalen Strafrechtler eine politische Grundsatzentscheidung, ein weltanschauliches Bekenntnis 3 8 9 , und bildete zur Hauptsache der Bereich der Kriminalpolitik das Feld, auf dem die Auseinandersetzung m i t dem gemeinsamen Gegner, dem Liberalismus, ausgetragen wurde. Auch die Parallelität i m zeitlichen Ablauf m i t den politischen Ereignissen ist nicht zu übersehen: Der kräftigste Stoß wurde gegen die „liberale" Strafrechtsreform geführt, als die Grundmauern der Weimarer Republik zum Einsturz gebracht wurden. Der Versuch, den politischen Standort der verschiedenen „autoritären" Richtungen zu bestimmen, w i r d die politischen Implikationen des Strafrechts noch deutlicher hervortreten lassen, als es bisher geschehen konnte. Es mag verwundern, daß dieser Versuch bereits jetzt unternommen werden soll, bevor der zu untersuchende Zeitraum vollständig abgeschritten ist. Für dieses Vorgehen sprechen folgende Gründe: Bis zur Machtübernahme hatte der Nationalsozialismus sein endgültiges Gesicht noch nicht gefunden; auch vereinigte er zunächst noch nicht soviel Macht auf sich, daß er das Gesetz des Handelns vollständig an sich reißen konnte. Diese Situation verführte viele Politiker zu dem Irrglauben, die nationalsozialistische Bewegung bändigen und für ihre Zwecke einspannen zu können 3 9 0 . Auch i m Bereich der politischen Theorie war die Ansicht verbreitet, man könne die diffuse Weltanschauung des Nationalsozialismus i n eine bestimmte Richtung lenken 3 9 1 . So konnten sich i m Kampf der rechtsgerichteten Kräfte gegen den Staat von Weimar die Unterschiede i n den politischen Auffassungen noch v o l l entfalten. Spätestens nach 1934 war das Bekenntnis zum Nationalsozialismus allgemein. Auch wenn es sich bisweilen nur um Lippenbekenntnisse gehandelt haben mag, so bieten die vorhandenen Zeugnisse kaum noch Anhaltspunkte für eine differenzierende Betrachtung. Speziell für die Strafrechtswissenschaft gilt: Da sie nach der A n fangsphase des Dritten Reiches dazu überging, sich stärker dogmatischen Problemen zu widmen, stand das politische Bekenntnis nicht mehr so sehr i m Vordergrund, wenngleich es eine wesentliche Ausgangsbasis blieb. I m übrigen fußten diese Arbeiten auf den i n der Reformdiskus389 So ganz deutlich Dahm/S chaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 5. 39 0 Vgl. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S. 40 ff., 423 ff., 669 ff., 728 f. jeweils m. H i n w . 391 Vgl. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 357 ff.; Schneller, Zwischen Romantik u n d Faschismus, S. 138 ff.
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4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34
sion vertretenen kriminalpolitischen Grundsätzen, so daß auch aus diesem Grunde eine politische Einordnung der kriminalpolitischen Richtungen anfangs der dreißiger Jahre angebracht erscheint. a) Einordnungsversuche
von dritter
Seite
Von anderer Seite unternommene Versuche, die politischen Standorte zu bestimmen, bieten ein verwirrendes Bild. Schon bei einem Autor allein finden sich durchaus verschiedene Kennzeichnungen einer Richtung: I n einer Besprechung der IKV-Sitzung bezeichnete Radbruch die Anschauungen der „jüngeren Kriminalisten" als „jungkonservativ" 3 9 2 . A n anderer Stelle stufte er Dahm und Schaffstein als „deutschnational" 3 9 3 ein und nannte sie schließlich „Gesinnungverwandte" des Nationalsozialismus 394 , obwohl Dahm und Schaffstein energischen Widerspruch gegen jede parteimäßige Etikettierung eingelegt hatten 3 9 5 . I m Gegensatz zur Bezeichnung „jungkonservativ" stand die Behauptung von H. Marx, daß das autoritäre Strafrecht Dahms und Schaffsteins lediglich eine „Wiederkehr des Gleichen" 3 9 6 , eine Rückkehr zu bürgerlichen Denkschemata bedeute, und Grünhut wiederum hob die Unabhängigkeit der kriminalpolitischen Forderungen der „jüngeren Kriminalisten" vom Nationalsozialismus hervor 3 9 7 . Auch bei der Beurteilung anderer Autoren stellten sich i m damaligen Schrifttum Widersprüche und Fehleinschätzungen ein. So rechneten E. Schmidt und Schwinge die Veröffentlichungen A. E. Günthers zur nationalsozialistischen Literatur 3 9 8 . Zwar hatte der Autor einen Sammelband unter dem Titel „Was w i r vom Nationalsozialismus erwarten" herausgegeben und i n seinem Vorwort die großen Hoffnungen zum Ausdruck gebracht, die er auf den Nationalsozialismus setzte. Die Konzeption des Buches und Äußerungen Günthers lassen aber deutlich erkennen, daß hier zur Hauptsache Außenstehende den Nationalsozialismus beurteilten und Wünsche an ihn herantrugen 3 9 9 . Daß A. E. Günther nicht m i t der nationalsozialistischen Bewegung konform ging, S92 303 394 395 396
Die Justiz 1932/33, S. 59. Die Gesellschaft 1933, S. 224. Ebd., S. 227. v g l . Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 4. Die Justiz 1932/33, S. 239.
397 z t S W
52, S. 774.
398 v g l . E.Schmidt, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 177 f.; Schwinge, 49. Jb. der Gef.ges. für Sachsen und Anhalt, S. 24. 399 i m V o r w o r t heißt es auf S. 9: „Die Mitarbeiter sind nicht gefragt worden, ob sie der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei angehören; es dürfte f ü r wenig zutreffen." Vgl. auch Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 375 und oben 4. Kap. I. 3. A n m . 35.
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erwies sich nach 1933, als die Nationalsozialisten ihm und seinem M i t arbeiter Stapel die Verlage und Zeitschriften entzogen und sie damit jeder politischen Wirkungsmöglichkeit beraubten 4 0 0 . Die angeführten Widersprüche und Ungereimtheiten erklären sich daraus, daß diese politischen Wertungen von Zeitgenossen vorgenommen wurden. Die begrenzte Einsichtsmöglichkeit des unmittelbar Teilnehmenden verengte ihren Blickwinkel. Auch dürfte das jeweilige politische Engagement zum Urheber mancher Fehlbeurteilung geworden sein. b) Eigener Einordnungsversuch aa) Nicolai Um den politischen Standort Nicolais zu bestimmen, bedarf es keiner mühevollen Auslegungsarbeit: Er war aktiv an der nationalsozialistischen Machteroberung und i n der Anfangsphase auch an der Machtausübung beteiligt. Der Rassegedanke, den er besonders betonte, bildete ein wesentliches Element der nationalsozialistischen Weltanschauung, das die Nationalsozialisten von den „völkischen" Gruppen übernommen hatten 4 0 1 . Die Vielfalt des nationalsozialistischen Ideengutes erlaubte es Gegnern seines vorwiegend spezialpräventiv orientierten Strafrechts, i h m den Anspruch zu bestreiten, den Nationalsozialismus adäquat ins Strafrecht umgesetzt zu haben. Sie glaubten den Nationalsozialismus i n einem mehr an der Tat ausgerichteten „autoritären" Straf recht verw i r k l i c h t 4 0 2 . Die Straf rechts- und Polizeipraxis des Dritten Reiches beschritt jedoch i m wesentlichen den von Nicolai vorgezeichneten Weg. bb) Α. E. Günther, die „jüngeren Kriminalisten" und die „Konservative Revolution" Auch Α. E. Günther vertrat seine politischen Ansichten m i t aller Deutlichkeit. Sein Engagement galt einer nationalen Erneuerungsbewegung, die heute i m Anschluß an Rauschning und Möhler i m allgemeinen mit dem Begriff „Konservative Revolution" 4 0 3 umschrieben wird. Auch die „jüngeren Kriminalisten" standen ihr sehr nahe. Sie soll daher etwas ausführlicher dargestellt werden. 400 vgl. Möhler, Die konservative Revolution, S. 6. 401 Vgl. Broszat, Deutsche Rundschau 1958, S. 53 ff. 402 vgl. Nagler, GS 103, S. I ff. (insbesondere A n m . 67) sowie D R 1934, S. 52 ff.; Frick, Der Besserungsgedanke, S. 65. 403 I n den allgemeinen Sprachgebrauch hat Hofmannsthal diesen Begriff eingeführt, für den das Wesentliche der „Konservativen Revolution" i n der
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Die Bezeichnung „Konservative Revolution" erfaßt eine breite Strömung der Weimarer Zeit, die mehr auf eine geistige Erneuerung als auf bestimmte politische Aktionen gerichtet war. Die „Konservative Revolution" wurde verstanden als Gegenpol zum Gedankengut der Französischen Revolution, die man als den Beginn einer Auflösung der abendländischen K u l t u r ansah. M i t ihr habe sich der Individualismus i n allen Lebensbereichen durchgesetzt. Die Selbstherrlichkeit des Individuums habe die überlieferte Ordnung allgemeinverbindlicher Werte zum Einsturz gebracht; der einzelne sei aus jeglicher Gemeinschaftsbindung herausgelöst und von jeder Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit befreit worden. Als Konsequenz i m politischen Bereich betrachteten die Verfechter der „Konservativen Revolution" den Liberalismus, dessen Ziel eine möglichst weitreichende Dezimierung staatlicher Macht i m Interesse des Individuums sei. Dieses Ziel sahen sie im parlamentarischen System der Weimarer Republik verwirklicht, dem sie i n offener Feindschaft gegenüberstanden. Der Kristallisationspunkt i n den Ideen der konservativen Revolutionäre war die Volksgemeinschaft, i n der die Aufhebung der individuellen Isolierung und die Bindung des einzelnen an das Ganze vollzogen werden sollten. Ein konkretes politisches System, das geeignet gewesen wäre, diese Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen, hatten sie jedoch nicht vor Augen. Treffend gibt Sontheimer den politischen Irrationalismus des revolutionären Konservativismus wieder: „Er w i l l keine politische Vernunftordnung, kein zweckgerichtetes politisches System, sondern eine Herrschaft, i n der Ewigkeitswerte zur Geltung kommen 4 0 4 ." Seine idealistische Gesinnung und der Wunsch, etwas tatsächlich Neues zu schaffen, können jedoch nicht i n Abrede gestellt werden. Zumindest in der Theorie maßen die Anhänger der konservativen Erneuerung der „sozialen Frage" große Bedeutung bei. Entschieden setzten sie sich gegen eine Einordnung i n das bestehende Partei schema zur Uberwindung des Individualismus durch das Streben nach Einheit u n d Bindung an das Ganze bestand. Seine spezifische politische Wendung erhielt der Begriff durch Rauschning, der i h n als Sammelbegriff f ü r die konservative geistig-politische Bewegung der Weimarer Republik verwandte (Rauschning y Konservative Revolution, 1941). Weitere grundlegende L i t e r a t u r zur „Konservativen Revolution": Möhler, Die konservative Revolution; Klemperer, Konservative Bewegungen zwischen Kaiserreich u n d Nationalsozialismus; Sontheimer, Antidemdokratisches Denken; neuere Darstellungen: Gerstenberger, Der revolutionäre Konservativismus; dies., Konservativismus i n der Weimarer Republik; Schneller, Zwischen Romantik u n d Faschismus; Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservativismus i n Deutschland; Schüddekopf, L i n k e Leute von rechts. I m folgenden k a n n n u r ein stark geraffter Überblick gegeben werden. 404 Antidemokratisches Denken, S. 150.
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Wehr. M i t aller Deutlichkeit, die bisweilen sogar zu offener Feindschaft auswuchs, distanzierten sie sich vom reaktionären DeutschNationalismus, der eine Wiedererrichtung der obrigkeitsstaatlichen Ordnung erstrebte, wie sie vor dem ersten Weltkrieg Bestand gehabt hatte. Für sie hatte der Weltkrieg den entscheidenden Einschnitt gebracht, der eine Rückkehr unmöglich machte. Die Forderung nach Abkehr vom 19. Jahrhundert bezog sich nicht nur allgemein auf den Liberalismus, sondern auch konkret auf das wilhelminische Kaiserreich, das nationale, autoritäre und liberale Elemente i n sich vereinigt hatte. Neben dem Gegensatz zum Liberalismus gab der Anspruch der Jugendlichkeit, des Neuartigen und die gleichzeitige Abgrenzung von reaktionären Anschauungen der „Konservativen Revolution" das Gepräge. Auch gegenüber dem Nationalsozialismus bestanden auf Seiten der konservativen Revolutionäre Vorbehalte 4 0 5 : Wenngleich anerkannt wurde, daß die NSDAP die Beseitigung des liberalen Systems erstrebte, so wurde ihr doch verübelt, daß sie als Partei i m herkömmlichen Sinne innerhalb dieses Systems tätig war. Häufig bestand auch aus der geistigen Grundhaltung heraus eine gefühlsmäßige Abneigung gegen den radikalen politischen Aktivismus des Nationalsozialismus. Schließlich widerstrebte vielen Vertretern der „Konservativen Revolution" die starke Hervorhebung des Rassegedankens. I m übrigen war jedoch eine weitgehende politische Affinität gegeben, die zur Hauptsache darauf beruhte, daß der Nationalsozialismus wesentliches Gedankengut der „Konservativen Revolution" i n seine weitgespannte, unscharfe und vieldeutige Weltanschauung einbezog. Viele junge Nationalisten hofften, der nationalsozialistische Staat werde ihre Vorstellungen verwirklichen. Weder als geistiges Phänomen noch als politische Bewegung stellte die „Konservative Revolution" ein völlig homogenes Gebilde dar. Vielmehr setzte sie sich aus mehreren unterschiedlichen Richtungen und Gruppierungen zusammen. I n ihnen zeigte sich, daß die jungkonservative Ideenwelt aus mannigfachen Quellen gespeist wurde: Dazu sind die jugendliche Aufbruchsbewegung des Wandervogels und die völkische Konzeption der Alldeutschen zu rechnen. Ferner gehören der i m Weltkrieg geborene „soldatische Nationalismus" und der nach Osten orientierte „Nationalbolschewismus" hierher 4 0 6 . 405 Z u m Verhältnis von „Konservativer Revolution" u n d Nationalsozialismus vgl. Möhler, Die konservative Revolution, S. 53 ff.; Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 357 ff.; Schneller, Zwischen Romantik u n d F a schismus, S. 138 ff.; Ger st enb er g er, Der revolutionäre Konservativismus, S. 93 ff., 104 ff. 4 06 Möhler unterscheidet „Völkische", „Jungkonservative" u n d „ N a t i o n a l revolutionäre" (unter Einschluß der „Nationalbolschewisten"), sowie die
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Die strafrechtlichen Gedankengänge Α. E. Günthers und auch seine sonstigen Schriften lassen deutlich erkennen, daß das Kriegserlebnis nachhaltig auf ihn eingewirkt hatte 4 0 7 . Gemeinhin wurden i n der Kriegsliteratur zwei Aspekte dieses Erlebnisses besonders hervorgehoben: Die Gemeinschaftsbindung und die unbedingte Unterordnung unter den Führer. Beide sind auch bei Α. E. Günther aufzufinden. Seine strafrechtlichen Überlegungen gründete er jedoch fast ausschließlich auf das Prinzip von Befehl und Gehorsam: Der Gesetzgeber erteile in den Strafgesetzen bindende Befehle, denen gegenüber der Staatsbürger sich durch äußerlich korrektes Verhalten gehorsam zu erweisen habe. I m Falle eines Verstoßes habe der Richter unter strikter Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften eine der Tat entsprechende Strafe zu verhängen. Die Ubereinstimmung mit altkonservativen, obrigkeitsstaatlichen strafrechtlichen Theorien hat Α. E. Günther vermutlich nicht erkannt. Ansonsten wäre von ihm, einem Anhänger der konservativen Erneuerungsbewegung, eine deutliche Abgrenzung zumindest i n der ideologischen Grundlegung seines strafrechtlichen Programms zu erwarten gewesen. Gerade diese Abgrenzung betrieben aber die „jüngeren Kriminalisten" m i t Nachdruck. A m deutlichsten wurden diese Bemühungen i n der ständigen Hervorhebung des Generationsunterschiedes. Immer wieder pochten sie auf ihre Jugendlichkeit 4 0 8 . Dieser Hinweis schien die Bedeutung eines Arguments zu haben. Unüberhörbar klang darin der Anspruch an: Der Jugend gehört die Zukunft! Diese A r t der Argumentation entsprach einer weit verbreiteten Stimmung i n der Weimarer Republik: Den ersten Weltkrieg und den anschließenden Zusammenbruch wertete man als ein Zeichen für das Versagen der älteren Generation und glaubte, daß nur von der Jugend zukunftsweisende Ideen erwartet werden könnten. Auch außerhalb der Richtung der „jüngeren Kriminalisten" würde dieser Auffassung Rechnung getragen. Nur selten begegnet der Einwand, der Jugend fehle es an Erfahrung und Reife. Viel häufiger ist dagegen das Beweniger theoretisch u n d mehr praktisch ausgerichteten Gruppen der „Bündischen" u n d der „Landvolkbewegung"; vgl. Die konservative Revolution, S. 130 ff. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 148 ff., schließt sich i m wesentlichen dieser Aufgliederung an. 407 Vgl. seine Beiträge i n den Zeitschriften „Deutsches V o l k s t u m " u n d „Widerstand", sowie die Schrift „Geist der Jungmannschaft". Gemäß der Einteilung von Möhler u n d Sontheimer wäre er damit der Richtung des „revolutionären Nationalismus" zuzurechnen. 408 v g l . dazu die Diskussion über die Strafrechtsreform auf der F r a n k furter I K V - S i t z u n g 1932, M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 145 ff.; nahezu jeder Diskussionsteilnehmer sprach darauf an. Vgl. ferner als Beispiele Dahm/ Schaffstein, Liberales oder autoritäres Straf recht?, S. 4; E. Wolf, RuS H. 103, S. 31.
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mühen anzutreffen, Übereinstimmungen m i t der Jugend hervorzuheben oder, soweit die Zugehörigkeit zur älteren Generation nicht geleugnet werden konnte, zumindest seine Ideen als „jugendlich" auszugeben 409 . Den Gegensatz zum alten, reaktionären Konservativismus strichen die jungen Straf rechts wissenschaf tier auch i n ihren Staats- und straf theoretischen Überlegungen heraus: Zwar bestand zunächst noch eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen und den Neuklassikern i n der Forderung nach einem starken „autoritären" Staat; durch die Präzisierung und Weiterentwicklung ihres Staatsbildes zur Konzeption eines „totalen" Staates setzten sie sich jedoch sehr bald deutlich von der Vorstellung eines nur autoritären Obrigkeitsstaates ab. M i t dieser Distanzierung ging auch i n den strafrechtlichen Auffassungen eine klare Abgrenzung einher: „Die Antithese ,Liberales oder autoritäres Strafrecht', die für den Beginn der Auseinandersetzungen mit der liberal-sozialen Haltung der Moderne geeignet sein konnte, verdeckte jedoch zu einem erheblichen Teil den anderen Gegensatz, der auf die Dauer nicht verborgen bleiben durfte: Die Unverträglichkeit des neuen Strafrechtsgedankens mit der i n der klassischen Richtung vollzogenen Verschmelzung von liberalen und autoritären Strafrechtselementen. Entsprechend der Verschmelzung liberaler und autoritärer Elemente i m nationalliberalen Staat der Vorkriegszeit enthält auch der strafrechtliche Klassizismus eine Mischung von liberalem und autoritärem Gedankengut 410 ." Die „jüngeren Kriminalisten" wollten ihre Reformideen klar von den Vorstellungen „jener reaktionären Geister" geschieden wissen, „die nach 1918 i n Opposition gegen die Reformbestrebungen hervorgetreten sind" 4 1 1 . Wie i n dieser Hinsicht, so liegen auch i n anderen Punkten sichtbare Zeichen dafür vor, daß die junge antiliberale Strafrechtswissenschaft Gedankengut der „Konservativen Revolution" vertrat: Einen äußerlichen Anhaltspunkt gibt einmal die Tatsache, daß die grundlegende Schrift „Liberales oder autoritäres Straf recht?" i n der „Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg" erschien, i n einem Verlag, dessen Programm Autoren der „Konservativen Revolution" wie Moeller van den Bruck, G. Günther, Jünger und Stapel prägten 4 1 2 .
409 v g l . Gerland, D J Z 1933, Sp.861; Sauer, ArchRWPh Bd. 26, S.372; sowie v. Gemmingen, ArchRWPh Bd. 26, S. 505 f. u n d Grünhut, ZStW 53, S. 10 i n ihren Berichten über die Frankfurter Kriminalistische Zusammenk u n f t i m Januar 1933. 410 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 25; vgl. auch Dahm, DStR 1934, S. 249. 411 E. Wolf, RuS H. 103, S. 26. 412 Vgl. Möhler,
Die konservative Revolution, S. 63.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
Konservativ-revolutionäres Gedankengut äußerte sich i m Bekenntnis zur Volksgemeinschaft als dem höchsten Wert und dem damit verbundenen (zumindest verbalen) Engagement i n der „sozialen Frage". Weitere Belege liefern die nationalistische Grundhaltung, die Verwendung des Rassegedankens sowie der Abstand zu den Parteien, der jedenfalls i n der Anfangsphase auch zu einer gewissen Distanzierung von der NSDAP führte 4 1 3 . Das verbindende Element sahen die jungen Strafrechtswissenschaftler i n „mehr gefühlsmäßigen Regungen" 4 1 4 , i n einer gemeinsamen „Grundstimmung" 4 1 5 . I n diesen Formulierungen und i n dem Mangel an konkreten programmatischen Aussagen kehrte die Unschärfe der jungkonservativen Ideenwelt wieder 4 1 6 . cc) Die Neuklassiker Die Neuklassiker waren bemüht, Anschluß an die politische und geistige Entwicklung zu halten, indem sie die autoritären Züge der klassischen Strafrechtslehren i n den Vordergrund stellten. Uber dieses autoritäre Strafrecht, das unverkennbar die Merkmale des Obrigkeitsstaates enthielt, gelangten sie jedoch nicht hinaus. Trotz einiger A n näherungsversuche an die „jüngeren Kriminalisten" und an die nationalsozialistische Weltanschauung blieben sie der Position des Altnationalismus verhaftet, wie die Zurückhaltung gegenüber dem Gemeinschaftsgedanken und der totalen Erfassung des Individuums sowie i n der Behandlung sozialer Probleme beweist. Von den Parteien der Weimarer Republik repräsentierte weitgehend die Deutschnationale Volkspartei ihre Gedankenwelt.
413 Dahm/ S chaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S.4, bezeichneten es als falsch, ihre Zielsetzungen „ohne weiteres parteimäßig zu etikettieren, sie also etwa »nationalsozialistisch' oder ,deutsch-national* zu nennen". M a n solle nicht verkennen, „daß die politischen Parteien u n d Gruppen der Rechten, so vor allem auch der Nationalsozialismus, heute n u r der tagespolitische u n d deshalb offenkundigste Ausdruck einer w e i t breiteren u n d tieferen Bewegung sind, welche besonders die Jugend ergriffen hat". 414 E. Wolf, RuS H. 103, S. 26. 415 Dahm!Schaf stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 5. 416 Z u der hier vorgenommenen Klassifizierung scheint i n Widerspruch zu stehen, daß Dahm sich i n MSchrKrimPsych 1933, S. 164, gegen die B e zeichnung „jungkonservativ" verwahrte: „Es handelt sich nicht u m das nationalsozialistische, deutschnationale oder gar ,jungkonservative 4 Strafrecht, sondern u m den Reflex einer über das Tagespolitische hinausreichenden geistigen Bewegung." Aus diesem Z i t a t geht jedoch hervor, daß er den Begriff des jungen Konservativismus auf eine bestimmte, durch eine p o l i tische Gruppe repräsentierte Richtung bezog u n d nicht, w i e es heute üblich ist, auf eine breite geistige Strömung der Weimarer Zeit.
I V . Die Verteidiger der Strafrechtsreform
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IV. Die Verteidiger der Straf rechtsreform Zu Beginn des Jahres 1933 beschrieb Gallas die Situation i n der Auseinandersetzung u m die weitere Entwicklung des Strafrechts mit den Worten: „Die gegenwärtige Etappe i m Kampf um die Erneuerung unseres Strafrechts sieht die moderne Strafrechtsschule i n der Defensive 4 1 7 ." Theoretisch bestanden für die Verfechter der bisherigen Reformbestrebungen zwei Möglichkeiten, sich i n dieser Bedrängnis zur Wehr zu setzen: Die Forderung ihrer Gegner nach Verstärkung der staatlichen Macht hätte für sie Anlaß sein können, auf die Bedrohung der individuellen Freiheit hinzuweisen und für die Wahrung liberaler Prinzipien einzutreten. Damit wäre eine Tradition innerhalb der modernen Schule fortgesetzt worden, die Franz von Liszt durch seine dogmatischen Arbeiten begründet hatte; sie waren von der Sorge getragen, daß bis zur Verurteilung des Täters ein möglichst hohes Maß an Rechtssicherheit gewährleistet sei 4 1 8 . — Aber auch eine gegenteilige Stellungnahme hätte sich auf den Begründer der modernen Schule berufen können: Das entscheidend Neue seines Programms, der Strafbegriff, bedeutete einen Bruch m i t dem herkömmlichen Proportionalitätsdenken und enthielt einen Ansatzpunkt für eine Ausdehnung der staatlichen Macht zugunsten des Rechtsbrechers. Diese illiberale Seite des Marburger Programms, die je nach dem Grad der Verwirklichung auch zu einer antiliberalen werden konnte, bot den Verteidigern der Reform eine geeignete Grundlage, um die antiliberalen Angriffe m i t dem Argument abzuwehren, sie seien irreführend und beruhten auf einem Mißverständnis. I n den Veröffentlichungen, die auf eine Verteidigung der bisherigen Reformbemühungen abzielten, sind beide Positionen aufzufinden. Bei weitem überwogen jedoch die Stellungnahmen, die die Straf rechtsreform m i t illiberalen oder antiliberalen Argumenten zu verteidigen suchten. Auch die Vertreter der modernen Schule konnten sich dem antiliberalen Zeitgeist nicht entziehen. I n ihren Äußerungen wurden zudem die antiliberalen Züge der modernen Schule so deutlich hervorgehoben, wie sie i n der Auseinandersetzung m i t der klassischen Schule nie dargestellt worden waren. I h r Verteidigungskonzept bedeutete einen wesentlichen Beitrag zum Antiliberalismus i n der damaligen Strafrechtswissenschaft.
417 ZStW 53, S. 12. 418 Vgl. Schwarzschild, S. 381 ff.
Franz
v.
Liszt;
E.Schmidt,
Strafrechtspflege,
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4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34 1. Das antiliberale Verteidigungskonzept
Die Argumente, mit denen die Nachfolger v. Liszts die Strafrechtsreform der zwanziger Jahre gegen die antiliberalen Angriffe vorwiegend zu verteidigen gedachten, tauchten erstmals i n zwei Abhandlungen von E. Schmidt auf: „Strafrechtsreform und K u l t u r k r i s e " 4 1 9 und „Zur Theorie des unbestimmten Strafurteils" 4 2 0 . Sie wurden 1932 auf der Tagung der deutschen Landesgruppe der I K V i n Frankfurt von ihm und Kohlrausch wieder aufgenommen und noch schärfer umrissen 421 . Beide gingen davon aus, daß die programmatischen Aussagen v. Liszts über die zweckhafte Ausgestaltung der Strafe die Antriebsfeder der Reform gebildet hätten. Der auf die Verwirklichung einer sozialen Gerechtigkeit i m Gegensatz zu einer fiktiven liberalen Gleichbehandlung abzielende Strafbegriff habe die Reformentwürfe entscheidend geprägt. Der Gedanke der Besserung und Sicherung sei i n Weg und Ziel ein illiberaler, wenn nicht gar ein antiliberaler Gedanke. Er eröffne dem Staat die Möglichkeit, viel stärker als bisher Einfluß auf den verurteilten Verbrecher zu nehmen. Der Staat könne tief i n die Persönlichkeitssphäre eingreifende erzieherische bzw. sichernde Maßnahmen treffen, um den Zweck der Resozialisierung des Verbrechers und der Sicherung der Gesellschaft zu erreichen. Darin liege eine erhebliche Beschneidung des individuellen Freiheitsraumes zugunsten der staatlichen Machtsphäre. Überindividualistisch und daher illiberal sei das mit der Besserung und Sicherung angestrebte Gesamtziel, der Schutz der Gesellschaft vor Rechtsbrechern. Als wichtige Stationen auf dem Wege zur Erreichung dieses Zieles nannten die Reformanhänger die Maßregeln zur Sicherung und das unbestimmte Straf urteil. Sie bedauerten, daß die ersteren bisher nicht eingeführt, das zweite nur unvollkommen zugunsten des Straffälligen verwirklicht worden sei. M i t Entschiedenheit wiesen sie den V o r w u r f zurück, daß diese Unterlassungen und die Verweichlichung der Strafrechtspflege insgesamt den Reformbestrebungen anzulasten seien. Sie begegneten i h m mit dem Hinweis auf die wiederholten Appelle der I K V an den Gesetzgeber, einschneidende Maßnahmen gegen das Berufs- und Gewohnheitsverbrechertum zu ergreifen 422 . Als weiteren Beweis für die antiliberale Tendenz führten sie die i n den Entwürfen festzustellende Neigung an, die Tatbestände des Besonderen Teils „aufzulockern". „Hier könnte noch sehr viel weiter 419 RuS H. 79. 420 SchwZSt 1931, S. 200 ff. 421 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 145 ff. u n d 175 ff. 422 Vgl. ζ. B. M i t t . I K V N.F. 3. Bd., S. 125 u n d 5. Bd., S. 102.
I V . Die Verteidiger der Strafrechtsreform
161
gegangen werden", meinte Kohlrausch. „Aber auch hier ist die Tendenz unverkennbar, den Magna-Charta-Gedanken auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen 423 . " I m Prinzip wiederholten die Verteidiger der Reform lediglich Auffassungen, die bereits von Liszt vertreten hatte. Dennoch bestanden einige gewichtige Unterschiede: von Liszt entwickelte seine Gedankengänge i n einer Zeit, i n der dem Staat ein wirtschaftlich mächtiges Bürgertum gegenüberstand, dessen Position konstitutionell durch eine Begrenzung der Staatsgewalt abgesichert war. Die außen- und innenpolitische Situation gab keinen Anlaß, einen politischen Umsturz und eine Beseitigung des rechtlich garantierten Freiheitsraumes zu befürchten. Von daher mußte von Liszt nicht unbedingt m i t einem Mißbrauch seiner Ideen rechnen, wenngleich i h m die Gefahren seines Programms von seinen Gegnern immer wieder vor Augen geführt wurden. Außerdem zeigen seine Äußerungen über die Tragweite des Zweckgedankens i m Strafrecht, daß er die zweckhafte Strafe als eine zum Schutze der individuellen Freiheit gebundene Strafe betrachtete: „Wie die Rechtsstrafe als Selbstbeschränkung der Staatsgewalt durch Objektivierung entstanden ist, so erhält sie ihre höchste Vollkommenheit durch die Vervollkommnung der Objektivierung. Das völlige Gebundensein der Strafgewalt durch den Zweckgedanken ist das Ideal der strafenden Gerechtigkeit. Nur die notwendige Strafe ist gerecht. Die Strafe ist uns Mittel zum Zweck. Der Zweckgedanke aber verlangt Anpassung des Mittels an den Zweck und möglichste Sparsamkeit i n seiner Verwendung 4 2 4 ." Zwar hat sich i m Laufe der Zeit der Optimismus als verfehlt erwiesen, die Orientierung am Zweck der Strafe erlaube eine eindeutige und sichere Grenzziehung zwischen den zur Einwirkung auf den Strafgefangenen erforderlichen Maßnahmen und einer übermäßigen Beschneidung seines Freiheitsraumes 425 ; dennoch ist nicht zu übersehen, daß von Liszt die Einführung des Zweckgedankens i n das Strafrecht nicht als einen antiliberalen Vorgang betrachtete. I m übrigen schuf er mit seinen methodischen und systematischen Arbeiten ein Gegengewicht zur transpersonalistischen Zielsetzung der Besserungs- und Sicherungs423 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 157. 424 Aufsätze u n d Vorträge Bd. 1, S. 161. 425 i n diesem Zusammenhang sei an die Diskussion u m die Geltung von Grundrechten i m Strafvollzug erinnert. Die Lösung dieses Problems lediglich v o m Anstaltszweck her hat sich als unhaltbar erwiesen. Z u diesem Themenkreis: Schüler-Springorum, Strafvollzug i m Ubergang, S. 85 ff.; Würtenberger, Festschrift f ü r Germann, S. 309 ff.; Müller-Dietz, ZRP 1970, S. 181 ff.; Starch , ZRP 1969, S. 147 ff. 11 Marxen
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4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34
strafe. Er erreichte eine gewisse Ausgewogenheit i n seinem System, indem er i n dogmatischen Fragen den i n dem Satz „ n u l l u m crimen et nulla poena sine lege" enthaltenen Forderungen nachzukommen versuchte und den Richter bei der Prüfung der Verbrechensmerkmale auf strenge Begrifflichkeit und auf weitgehende Ausschaltung subjektiver Wertungen verpflichtete 426 . Diese Bemühungen gipfelten i n der bekannten „Magna-Charta" Formel 4 2 7 . Diese Einrahmung des Zweckgedankens trat bei den Verteidigern der Straf rechtsreform i n den Hintergrund; sie paßte nicht i n ihr antiliberales Verteidigungskonzept. Das Konzept w a r auf den Nachweis illiberaler und antiliberaler Elemente der Reform beschränkt. Es reichte nicht wesentlich über den Bereich juristischer Fragen hinaus. I m Unterschied zu den antiliberalen Reformgegnern erklärten die Vertreter der modernen Schule nicht ein bestimmtes weltanschauliches Bekenntnis zum allein maßgebenden Ausgangspunkt. Es fehlte auch an klaren Stellungnahmen zu Fragen der staatstheoretischen Grundlage. Die Äußerungen hierzu erschöpften sich i n der Forderung nach einem „kraftvollen" Staat 4 2 8 . 2. Die Annäherung an das autoritäre Strafrecht
I n der antiliberalen Verteidigungsstrategie kam die Ansicht der Reformbefürworter zum Ausdruck, daß zwischen den Reformvorstellungen der modernen Schule und dem autoritären Strafrecht kein unüberbrückbarer Gegensatz bestehe, daß vielmehr beide i n wesentlichen Punkten miteinander i n Einklang stünden 4 2 9 . Der wichtigste konkrete Punkt, i n dem eine Übereinstimmung vorlag, war die Forderung nach einer Sicherungsverwahrung für Gewohnheitsverbrecher, „das Kernstück der Straf rechtsreform" 430 . Weiterhin bestand Einigkeit mit den Anhängern eines autoritären Straf rechts über 426 Vgl. außer dem oben i m 1. Kap. I I I . 2. aufgeführten Schrifttum aus der neueren L i t e r a t u r : E.Schmidt, Strafrechtspflege, S. 381 ff.; Radbruch, Elegantiae Juris Criminalis, S. 208 ff.; Grünwald, ZStW 76, S . U . 427 v, Liszt , Aufsätze u n d Vorträge, Bd. 2, S. 60 u n d 80. 428 Aschaffenburg, MSchrKrimPsych 1933, S. 161; auch E.Schmidts Idee eines „Volksstaates" (RuS H. 79, S. 20 f.) w a r nicht konkreter. Lediglich Gallas nahm i n diesen Fragen eindeutig Stellung; vgl. ZStW 53, S. 26 ff. u n d den folgenden Abschnitt. 429 Die i m folgenden herangezogenen Fundstellen dienen Renneb erg als Belege für die Behauptung, daß das 3. Reich die Reformideen der modernen Schule v e r w i r k l i c h t habe (vgl. Schriftenreihe Strafrecht H. 5, S. 116 ff.). Die Gegnerschaft nationalsozialistischer Strafrechtswissenschaftler zur „liberalen" Reform der modernen Schule w i r d unterschlagen. 430 Aschaffenburg, MSchrKrimPsych 1933, S. 160.
I V . Die Verteidiger der Strafrechtsreform
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das Erfordernis einer Internierung geisteskranker Rechtsbrecher 431 . Schließlich konnten sich die Vertreter der Reformbewegung, die stets auf eine schärfere Differenzierung der Tätertypen gedrängt hatten, i m Prinzip m i t der Einordnung und Bewertung des Täters nach berufsständischen Gesichtspunkten einverstanden erklären 4 3 2 . Die Frage, inwieweit aus diesen Übereinstimmungen auf eine völlige Kongruenz zu schließen sei, wurde von den Reformverteidigern unterschiedlich beantwortet. Zu der Auffassung, daß das autoritäre Strafrecht auch bei einer Gesamtbetrachtung nicht wesentlich von den Reformgedanken der modernen Schule abweiche, bekannte sich Aschaffenburg: „Ich persönlich kann mich nicht davon überzeugen, daß ein autoritäres Strafrecht einen anderen Weg geht als die Lisztsche Schule und w i r Naturwissenschaftler 433 ." Zur Verdeutlichung führte er aus: „Ich habe schon mehrfach geäußert, daß unser Strafgesetzbuch nicht die Magna Charta des Verbrechers, sondern die des friedlichen und redlichen Staatsbürgers sein müsse. Die Sicherungsverwahrung, die richtig bemessene Strafverlängerung bei Rückfällen, die rücksichtslose Ausscheidung aller Schädlinge ist ein Verlangen, dem sich nur verknöcherte Anhänger des Satzes ,Fiat iustitia, pereat mundus' widersetzen werden 4 3 4 ." Aschaffenburg sah deshalb auch „keine Schwierigkeiten i n der Zusammenarbeit m i t der andrängenden Jugend" 4 3 5 . Bezeichnend ist, daß diese Äußerungen von einem führenden Vertreter des vorwiegend medizinisch und soziologisch, weniger juristisch orientierten Flügels innerhalb der modernen Schule stammen. Bereits früher waren von dieser Seite aus Forderungen nach einschneidenden Maßnahmen gegen den Straftäter erhoben worden, die zwar i n der Linie des Marburger Programms lagen, die aber die juristische Verankerung i n rechtsstaatlichen Prinzipien, wie von Liszt sie durch seine dogmatischen Arbeiten vorgenommen hatte, vermissen ließen 4 3 6 . Etwas zurückhaltender äußerten sich andere Befürworter der bisherigen Rôformbewegung. Sie sahen die K l u f t , die die beiden Richtungen trotz einiger Berührungspunkte trennte und deren Ursachen i n einer unterschiedlichen Strafauffassung und i n dem Maße begründet lagen, 431 Vgl. Gallas, ZStW 53, S. 20. 432 Vgl. Mittermaier, Die Justiz 1932/33, S. 61. Einschränkend machte er jedoch auf die Gefahr einer Klassenjustiz aufmerksam. 433 MSchrKrimPsych 1933, S. 161. 434 Ebd., S. 161 f. 435 Ebd., S. 162; ähnlich Wulff en, K r i m M o n 1934, S. 5 ff. 436 v g l . etwa Kraepelin, Die Abschaffung des Strafmaßes, u n d Aschaffenbürg, Das Verbrechen u n d seine Bekämpfung. Die L i n i e ließe sich nach beiden Seiten, i n die Vergangenheit bis Lombroso u n d i n die Gegenwart, verlängern. 11'
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4. Kap. : Der Antiliberalismus bis 1933/34
i n dem man bereit war, antiliberales Gedankengut i n die Tat umzusetzen. Von ihnen gingen Bemühungen aus, eine Annäherung herbeizuführen und die gegnerische Bewegung, die ζ. T. aus den eigenen Reihen hervorgegangen war, wieder einzufangen. So vertrat Mittermaier die Auffassung: „Wenn w i r bisher immer und immer wieder die Sicherung der Gesellschaft gegen Asoziale und Antisoziale fordern, so scheint das doch ziemlich der gleiche Gedanke zu sein, wie die Forderung der Neuen nach stärkerer Betonung des Staats gegenüber dem I n d i v i d u u m " 4 3 7 , und er rief dazu auf, „ m i t der Jugend ernsthaft zu arbeiten, um sie selbst und uns über ihre Stimmung und über das Erreichbare verstandesmäßig zu unterrichten" 4 3 8 . Gallas versuchte eine Synthese zwischen dem autoritären Strafrecht und den Lisztschen Reformgedanken herzustellen. Sein Konzept deutete i n einigen Punkten den Weg an, den das autoritäre Straf recht durch den Wandel des leitenden Staatsbildes vom autoritären zum totalen Staat tatsächlich beschritt. Gallas schlug eine „Verstaatlichung des Erziehungsgedankens" 439 vor. Grundlage eines solchen Straf rechts sollte ein von der Volksgemeinschaft vollkommen durchdrungener, also ein totaler Staat sein. „Erziehungsziel wäre nicht mehr das farblose Ideal eines Durchschnittsbürgers, der das friedliche Zusammenleben aller m i t allen nicht stört, . . . Erziehungsziel wäre vielmehr ein Gesinnungswandel, der die Wiederaufnahme i n die Volksgemeinschaft rechtfertigt. Die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft aber ist Existenzbedingung; ihrem einheitlichen Wertwillen gegenüber gibt es keine Gleichwertigkeit des ,eigenen' Standpunktes. Eine Erziehungsstrafe i n diesem Sinne würde keine Preisgabe der generalmotivierenden Funktion der Strafe bedeuten. . . . Sie würde zu einer harten Last, zu einem die Aufnahme i n die Gemeinschaft Sich-wieder-erringen-müssen, geeignet, auch der Gesamtheit die ethischen und physischen Konsequenzen einer Rechtsverletzung eindringlich vor Augen zu führen 4 4 0 ." Zu den Vorstellungen der „jüngeren Kriminalisten" merkte Gallas i n diesem Zusammenhang an: „Auch der Erziehungsstrafe wohnt somit eine »integrierende 4 K r a f t inne, wie sie für das »autoritäre 4 Strafrecht i n Anspruch genommen wird. I m übrigen sei daran erinnert, daß es hier u m den Geist geht, der die Strafrechtspflege i n ihrer Gesamtheit beherrschen soll. Daß i m konkreten Falle der gesamterzieherischen Aufgabe der Strafe der Vorrang vor der Arbeit am einzelnen gebühren kann, soll daher keineswegs i n Abrede gestellt werden 4 4 1 ." «7 «β 439 440 441
Die Justiz 1932/33, S. 61. Ebd., S. 63. ZStW 53, S. 26. s. 27. S. 27 A n m . 49.
I V . Die Verteidiger der Strafrechtsreform
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Die Annäherung der Reformanhänger an das autoritäre Strafrecht schlug sich i n einer Entschließung des Vorstandes der deutschen Landesgruppe der I K V vom 10. Juni 1933 nieder. Zwar könnte zu diesem Beschluß auch nationalsozialistischer Druck beigetragen haben 4 4 2 ; sein Inhalt unterschied sich jedoch nicht wesentlich von Äußerungen einiger Reformverteidiger vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. „Die Zusammenfassung des politischen Denkens und Wollens zu einer einheitlichen Staatsauffassung des nationalen Sozialismus hat die Möglichkeit einer planmäßigen und wirksamen Verbrechensbekämpfung, wie sie die Deutsche Landesgruppe der I K V seit Jahrzehnten vergeblich gefordert hat, in greifbare Nähe gerückt. Das Bekenntnis zum starken Staat ist geeignet, der Strafe i n der Hand des Richters und i m Volksbewußtsein den Nachdruck und die Achtung wiederzugeben, die ihr als Ausdruck staatlichen Willens i n rechtlicher Form gebühren. Nunmehr w i r d auch die Staatsgewalt Entschlossenheit zur rücksichtslosen Ausmerzung des berufs- und gewerbsmäßigen Verbrechertums bewähren können, die ihr bislang so wenig innewohnte — zum Schaden der Bemühungen auch der I K V u m eine wirksame Kriminalpolitik. Das m i t diesem Bekenntnis zum Staat verbundene Bekenntnis zur Volksgemeinschaft als zu der Grundlage und Rechtfertigung jedes staatlichen Wirkens gibt andererseits dem Erziehungsgedanken i m Strafvollzug einen neuen Sinn: Jetzt bietet sich die Möglichkeit, das Stadium wahlloser und erfolgloser ,Besserungs'-Versuche zu überwinden zugunsten einer verantwortungsbewußten, von dem Ziel der Wiedergewinnung für die Volksgemeinschaft beherrschten Arbeit an denen, die einer solchen Einwirkung fähig und zum Nutzen der Gesamtheit wert erscheinen. A n einer Neugestaltung unseres Strafrechts i n diesem Geiste mitzuarbeiten, betrachtet die Deutsche Landesgruppe der I K V als ihre vornehmste Aufgabe 4 4 3 ." 3. Die Verteidigung liberaler Prinzipien durch einige Reformanhänger
Trotz der weitverbreiteten antiliberalen Zeitstimmung und ihres Einflusses in der Straf rechts Wissenschaft fanden sich unter den Verteidigern 442 E i n solcher Druck zeigte sich z.B. i n dem an Kohlrausch gerichteten Verlangen, den Vorsitz niederzulegen (vgl. E. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 427). Nach ihrer Sitzung i m September 1932 t r a t die deutsche Landesgruppe der I K V nicht mehr zusammen. F ü r Gruppierungen w a r k e i n Platz i n der „Deutschen Rechtsfront". 443 ZStW 53, S. 348. V o r der Beschlußfassung hatten einige Mitglieder des Vorstandes ihre Ä m t e r niedergelegt, darunter Goldschmidt, Grünhut u n d Radbruch. Dazugewählt wurden: Engisch, Gallas, Sieverts, Lange. Vgl. D J Z 1933, Sp. 961.
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4. Kap.: Der Antiliberalismus bis 1933/34
der Strafrechtsreform Strafrechtswissenschaftler, die nicht bereit waren, den Liberalismus und seine Erscheinungsformen i m Strafrecht i n Bausch und Bogen zu verdammen. Radbruch und Grünhut seien hier als zwei herausragende Beispiele aufgeführt. Radbruch nannte die Reformentwürfe „eine gleichermaßen vom liberalen wie vom sozialen Gedanken beherrschte Strafrechtsreform" 444 . Freimütig bekannte er sich i n der Diskussion auf der IKV-Tagung 1932 zum liberalen Gedanken: „Ich empfinde den liberalen Gedanken als einen notwendigen Einschlag jeder möglichen Staatsauffassung", und sprach sich gegen eine „Geringschätzung der sogenannten liberalistischen Staatsauffassung" aus 445 . Auch Grünhut widersetzte sich der antiliberalen Zeittendenz: „So gewiß alle Strafgesetzgebung unter dem Vorrang des Gesamtinteresses steht, so führt doch die Technik unserer strafrechtlichen Verbotsgesetze dazu, daß sie nur die Grenzen der i m übrigen freien Willenssphäre des einzelnen bilden. Eine solche private Freiheitssphäre vermag selbst wieder einen sozialen Wert darzustellen 446 ." Ihren Nonkonformismus mußten beide teuer bezahlen. Als erster deutscher Professor wurde Radbruch i m Jahre 1933 aus politischen Gründen seines Amtes enthoben; Grünhut wurde i n den Ruhestand versetzt und emigrierte 1939 nach England 4 4 7 .
444 Die Justiz 1932/33, S. 59. 445 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 174. Einen Eindruck v o m unbeirrten Festhalten Radbruchs an unabdingbaren Freiheitsforderungen v e r m i t t e l t auch die 1932 veröffentlichte 3. Aufl. seiner „Rechtsphilosophie"; vgl. insbesondere das V o r w o r t ; vgl. ferner Cattaneo u n d Würtenberger i n Gedächtnisschrift für Radbruch, S. 182 ff. u n d 200 ff. 446 ZStW 52, S. 778. 447 Näheren Aufschluß über das Schicksal beider geben: Radbruch, Lebensbeschreibung, i n Gedächtnisschrift für Radbruch 1969, S. 21 ff.; ders., Der innere Weg; Göppinger, Die Verfolgung der Juristen jüdischer Abstammung durch den Nationalsozialismus, S. 102, u n d Friesenhahn, Erinnerungsgabe für Grünhut, S. 5 ff.
5. Kapitel
Antiliberales Denken in der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion während des Dritten Reiches I. Die Verlagerung der Diskussion von kriminalpolitischen auf dogmatische Fragen 1. Der Verlauf der strafrechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung nach 1933
Bis 1934 konzentrierte sich das Interesse der antiliberalen Strafrechtswissenschaft auf Fragen der Kriminalpolitik. Die Ablehnung eines liberalen Strafrechts bedeutete i m allgemeinen die Ablehnung einer liberalen Gesetzgebungspolitik und eines liberalen Strafvollzuges 1 . Die kämpferische Haltung der Verfechter eines strafrechtlichen A n t i liberalismus, die den „Auflösungserscheinungen" i n der Strafrechtspflege Einhalt gebieten und die Entwicklung i n eine andere Bahn lenken wollten, ließ eine eingehende und subtile Erörterung von Einzelfragen der strafrechtlichen Dogmatik nicht zu. Auch nach dem politischen Umsturz zu Anfang des Jahres 1933 waren die Voraussetzungen für eine solche Arbeit zunächst noch nicht gegeben. Die Grundsatzdiskussion ging weiter, weil über die Richtung eines nationalsozialistischen Strafrechts keine Klarheit bestand. Die zahlreichen Programmschriften, die i m Laufe des Jahres 1933 erschienen, sollten erst den Boden für eine Durchdringung des gesamten Strafrechts m i t dem neuen politischen Geist bereiten 2 . Zu den Programmsätzen gehörte auch die Forderung nach einer Revision der Methode und der Systematik 3 : Die Erneuerung des Strafrechts könne sich nicht i n einer Reform der Gesetze und der Auslegungsgrundsätze erschöpfen. Nach und nach wurde diese Forderung seit An1 Eine Ausnahme bildete E. Wolfs Untersuchung über das „Wesen des des Täters" (RuS H. 87), die auch die Konsequenzen des Antiliberalismus für die Strafrechtsdogmatik andeutete. Ansätze waren auch bei Dahm, MSchrKrimPsych 1931, S. 764 ff., u n d Schaff stein, Die Nichtzumutbarkeit, vorhanden. 2 Vgl. Mittermaier, SchwZStR 1934, S. 323 f.; zur E n t w i c k l u n g i m P r i v a t recht: Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 115. 3 Vgl. S chaff stein, D J Z 1934, Sp. 1174; ders., Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 110.
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
fang 1934 i n die Tat umgesetzt. Das Wiederaufleben der Diskussion um Fragen der Dogmatik zeigte i m Januar 1934 ein Aufsatz von Mezger an, der die theoretischen Grundlagen der Denkschrift des Preußischen Justizministers, „Nationalsozialistisches Straf recht", untersuchte 4 . Die Wiederaufnahme der dogmatischen Diskussion dürfte auf die Konsolidierung der nationalsozialistischen Macht zurückzuführen sein, die nach dem Erlaß des Ermächtigungsgesetzes vom 24.3. 1933, der Auflösung der Gewerkschaften (2. 5. 1933) und der Parteien (Juni/Juli 1933) sowie nach dem Erlaß des Gesetzes „über den Neuaufbau des Reiches" vom 30.1.1934 m i t der Beseitigung der Führungsspitze der SA am 30. 6.1934 einen vorläufigen Abschluß erreichte. Danach gab es keinen Zweifel mehr über die herrschende politische Macht i n Deutschland. Die politisch motivierte neue Richtung i n der Strafrechtswissenschaft konnte ihre Aufmerksamkeit den inneren Angelegenheiten ihres Fachbereichs zuwenden. A m intensivsten wurde die Diskussion über dogmatische Fragen i n den Jahren 1935 - 1938 geführt. I n diesem Zeitraum erschienen die wichtigsten Schriften der beiden gegensätzlichen Richtungen, der „Kieler" und der „Marburger Schule". Den Anfang i n dieser Auseinandersetzung machten die Kieler Professoren Dahm und Schaffstein m i t ihren Beiträgen zu dem Sammelband „Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft" (1935)5. Ihre Äußerungen wurden von den Marburger Wissenschaftlern Schwinge und Zimmerl i n ihrer gemeinsamen Schrift „Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken i m Straf recht" (1937) heftig kritisiert. 1938 antworteten die Angegriffenen mit zwei A u f sätzen i n der ZStW Bd. 576. I m selben Jahr noch erschien Schwinges Schrift „Irrationalismus und Ganzheitsbetrachtung i n der deutschen Rechtswissenschaft". Der Kriegsbeginn führte nicht sofort zu einem Abbruch der Diskussion. Er schränkte jedoch den Kreis der Fragen ein. Das Kriegsstrafrecht stellte der strafrechtlichen Dogmatik neue Aufgaben. Klärung verlangte vor allem die Figur des „Tätertyps", die bereits in der Mitte der dreißiger Jahre i n die dogmatische Diskussion eingeführt worden war und die die Tatbestandsbildung i m Kriegsstrafrecht beeinflußt hatte 6 3 . I n diesem Teilbereich wurde die Auseinandersetzung um Methode und
4 D J Z 1934, Sp. 97 ff. 5 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung. 6 Dahm, Der Methodenstreit i n der heutigen Strafrechtswissenschaft, ZStW 57, S. 225 ff. ; Schaff stein, Rechtswidrigkeit u n d Schuld i m A u f b a u des neuen Strafrechtssystems, ZStW 57, S. 71 ff. 6a Vgl. unten 5. Kap. I V . 5.
I. Verlagerung der Diskussion auf dogmatische Fragen
169
System des Straf rechts, wie sie 1934/35 aufgenommen worden war, auch noch i n den ersten Jahren des 2. Weltkrieges fortgeführt. 2. Die an den Angriffen gegen eine liberale Strafrechtsdogmatik beteiligten Wissenschaftler
Wie schon in der kriminalpolitischen Auseinandersetzung zu Anfang der dreißiger Jahre vertraten Dahm und Schaffstein auch i n der dogmatischen Diskussion am entschiedensten antiliberales Gedankengut. Dieselben oder ähnliche Vorstellungen wie sie entwickelte ein Kreis vornehmlich jüngerer Strafrechtswissenschaftler, dem Boldt. Gallas. Henkel, Krüger, Welzel und E. Wolf zuzurechnen sind. Sie können nicht durchweg als Anhänger der „Kieler Schule" eingestuft werden. Zumeist hatten sie ihre Lehren unabhängig von Dahm und Schaffstein erarbeitet; auch stimmten sie nicht in allen Fragen m i t ihnen überein. Neben den genannten Strafrechtswissenschaftlern nahm bei der Bekämpfung überkommener Lehren Freisler eine besondere Stellung ein. Zwar enthielten seine Beiträge weder neue Einsichten, noch vertieften sie die bereits vorgetragenen Thesen zur strafrechtlichen Neuorientierung. Dennoch fanden seine Äußerungen i n der Strafrechtswissenschaft starke Beachtung. Er formulierte die Gedanken der Erneuerungsbewegung radikaler als andere und verschaffte ihnen durch seine politische Machtposition verstärkte Geltung. Seine Funktionen als Staatssekretär i m preußischen, später i m Reichsjustizministerium, als Mitglied der amtlichen Strafrechtskommission und Vorsitzender des Zentralausschusses der Strafrechtsabteilung der Akademie für Deutsches Recht verhalfen ihm auch i n der S traf rechts Wissenschaft zu Ansehen. 3. Das neue Wissenschaftsverständnis: Die „politische" Strafrechtswissenschaft
Die antiliberale Strafrechtswissenschaft bekämpfte die Auffassung, daß Wissenschaft unpolitisch, wertfrei und autonom sein solle. Diese Forderungen seien selbst politisch motiviert; sie enthielten Postulate des Liberalismus und des Rationalismus 7 . Das zeige sich i n der Bevorzugung der naturgegebenen Lebensverhältnisse als eigentliches wissenchaftliches Arbeitsfeld, i m Bemühen um wertneutrale Ordnungsbegriffe sowie i n der Ausschaltung irrationaler Faktoren. Die reine Vernunft werde zur maßgeblichen Erkenntnisquelle erklärt. I m Mittelpunkt dieser Wissenschaftslehre stehe das Individuum, dem als Träger dieses Mittels, zu „wahrer" Erkenntnis zu gelangen, eine höhere Würde zuerkannt 7 Vgl. Schaff stein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 6, 12; Welzel, mus u n d Wertphilosophie, S. 52, 58; Krieck, D R 1934, S. 297 ff.
Naturalis-
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
werde. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Tätigkeit dieser A r t sollten das Individuum durch ein Höchstmaß an Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit zu freier und unabhängiger Lebensgestaltung befähigen. Diese angeblich unpolitische, wertneutrale wissenschaftliche Haltung diene den Interessen des liberalen Bürgertums. Ein entscheidender Wandel war nach Auffassung der jungen Strafrechtswissenschaftler auch durch die neukantianische Wertphilosophie der südwestdeutschen Richtung nicht eingetreten 8 . Wie der naturalistische Positivismus halte sie daran fest, daß primärer Betrachtungsgegenstand der Wissenschaft die natürliche Welt sei, die als chaotisch und amorph angesehen werde. Eine Ordnung werde nach dieser Auffassung erst durch die Ausrichtung an Werte geschaffen, die einer über dem natürlichen Leben schwebenden Sphäre angehörten. Die Verbindung stelle die neukantianische Wertphilosophie m i t Hilfe abstrakter, lebensfremder Begriffe her. I n doppelter Hinsicht, i n der naturalistischen Grundlage und i m begrifflichen Szientismus, erweise sie sich als „Komplementärtheorie des Positivismus" 9 . Zu einer klaren Entscheidung bei der Bestimmung der maßgebenden Werte könne sich diese Theorie nicht durchringen; sie enthalte sich ihr m i t dem Pathos der Wissenschaftlichkeit. Diese relativistische Einstellung entspreche vollkommen der Idee des liberalen und neutralen Staates. Dem setzte die neue Strafrechtswissenschaft ein bewußtes und entschiedenes Bekenntnis zu höchsten Werten entgegen. „Die Idee des Staates" erklärte sie zum Grundprinzip wissenschaftlicher Tätigkeit, das „Primat des Politischen" zum Richtpunkt ihrer „politischen Strafrechtswissenschaft" 10 . Wissenschaftliche Konstruktionen seien nicht um ihrer selbst willen da, sondern um eine bestimmte Auffassung vom Wesen und von den Aufgaben des Staates zu verwirklichen. Die antiliberalen Straf rechts wissenschaf tier beseitigten das Postulat der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft, das sie als eine Forderung des Liberalismus erkannten. Ihre m i t revolutionärem Pathos verkündete „Voraussetzung", das Bekenntnis zum völkischen Staat, verlangte eine gewisse Bedenkenlosigkeit, eine „ursprüngliche Unbefangen8
Eingehend kritisierte Welzel den Neukantianismus; vgl. Naturalismus und Wertphilosophie; DRWis 1938, S. 119; vgl. auch Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 85 ff.; ZStW 57, S. 251 ff.; Z f K u l t u r p h 1936, S. 215. 9 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 43. 10 Schaff stein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 6. Den Begriff „politische Wissenschaft" dürfte Kriech geprägt haben; vgl. Nationalpolitische Erziehung, S. 1 ; vgl. dazu auch Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 57 f. Dahm zog den Begriff „völkische Wissenschaft" v o r ( Z f K u l t u r p h 1936, S. 216). Praktische Unterschiede ergaben sich daraus nicht; denn V o l k u n d politische Führung w u r d e n als Einheit gesehen. Vgl. oben 3. Kap. I I . 3. a).
I. Verlagerung der Diskussion auf dogmatische Fragen
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heit" 1 1 . I n vollem Umfang war nach ihrer Auffassung eine solche „ N a i v i t ä t " 1 1 jedoch erst von der heranwachsenden Generation zu erwarten, die nicht um eine nationalsozialistische Rechtsidee habe ringen müssen, „die von Anfang an einen i n sich ausgereiften Nationalsozialismus als Selbstverständlichkeit empfunden hat" 1 1 . Die Berechtigung dieses Standpunktes war für sie keine Frage, die der Klärung mittels rationaler Argumentation bedurfte. Die Bezugnahme auf bestimmte oberste Strafrechtswerte könne nicht i m Wege rationaler Beweisführung erfolgen, denn diese Werte entstammten „einer letztlich nur erlebnis- und glaubensmäßig bestimmten Weltanschauung" 12 . Ihre Maßgeblichkeit folge i n der konkreten politischen Situation aus dem Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staates 13 . Zwar behaupteten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler, ihre „politische" Strafrechtswissenschaft bedeute keine Unterwerfung unter die Wünsche der politischen Machthaber 14 . Nach der Unterordnung unter das „Primat des Politischen" war eine solche Entwicklung, eine völlige Anpassung an die politischen Ideen des Nationalsozialismus, aber unausweichlich. 4. Die allgemeine Anerkennung des „totalen" Staates als richtungsweisendes Prinzip
M i t dem Beginn der dogmatischen Auseinandersetzung hatte sich i n der Praxis des politischen Lebens und auch i n der Staatstheorie der Straf rechts Wissenschaft der total-autoritäre Staat durchgesetzt. Gegenstand der neuen strafrechtswissenschaftlichen Arbeiten w a r der Mensch „ i n seiner notwendigen Gebundenheit als Gemeinschaftsmitglied" 15 . Eine Freiheit vom Staat kam nicht mehr i n Betracht; die Schranke zwischen privater und staatlicher Sphäre erklärte man für aufgehoben 16 . Die „totale Mobilmachung" 1 7 erfasse jeden i n seiner gesamten Existenz. Das Maß sollte der Menschentyp des „politischen Soldaten" geben 18 , der 11
Schaff stein, Pol. Strafwissenschaft, S. 25. 12 Ebd., S. 19. !3 Ebd., S. 23; Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 23, 37. 14 Vgl. Schaff stein, Pol. Straf rech tswissenschaft, S. 6 f.; Dahm Z f K u l t u r p h 1936, S. 215. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 109; vgl. auch Gallas, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 65; Finke, Lib. und Strafverfahrensrecht, S. 18: „ F ü r uns gibt es keine I n d i v i d u a l i t ä t an sich." 16 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 52; Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 113. 17 Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 130 f.; Dahm, ZStaatW 95, S. 304. Der Begriff stammte von E. Jünger. Er beschrieb die
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sein Schicksal dem „Lebensgesetz des Staates" 19 bedingungslos unterordnet. Das autoritäre Element des totalen Staates begründeten die Verfechter der „politischen" Strafrechtswissenschaft zusätzlich m i t Veränderungen i n der Verfassungswirklichkeit. Der Gesetzgebungsstaat der Weimarer Republik sei durch die „nationale Revolution" vom Regierungsstaat abgelöst worden, in dem gesetzgebende und ausführende Gewalt in einer Hand vereinigt seien 20 . A n die Stelle der Herrschaft der unpersönlichen Norm sei die persönliche Entscheidung der autoritären Führung getreten. Einen Widerspruch zum Gemeinschaftsgedanken erblickten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler darin nicht. Die Verbindung stellten sie mit der Behauptung her, daß das Volk i m Führer „seine wahre Vertretung" finde 21. II. Der materielle Verbrechensbegriff als Ausgangspunkt der neuen Dogmatik Die Bemühungen um eine Erneuerung der strafrechtlichen Auslegungs- und Begriffsbildungsmethode sowie des Verbrechenssystems nahmen vom politischen Bekenntnis zum totalen Staat ihren Ausgang. I n allen dogmatischen Einzelfragen stellte es einen immer wieder bemühten Bezugs- und Zielpunkt dar. Diese Funktion übte es i n der spezifisch strafrechtlichen Umschreibung als „materieller Verbrechensbegriff" aus. I h m wiesen die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler den beherrschenden Platz i n ihren dogmatischen Lehren zu. 1. Die Begründung für das Erfordernis eines materiellen Verbrechensbegriffs
Die Beschränkung der Strafrechtswissenschaft auf einen formellen Vebrechensbegriff, der Rechtswidrigkeit gleichsetzt mit Gesetzeswidrigkeit, lehnten die Anhänger einer „politischen" Strafrechtswissenschaft entschieden ab. Eine solche Verbrechensumschreibung stelle den Wert der Rechtssicherheit über den der Gerechtigkeit. Die Priorität eines „totale Mobilmachung" als einen „ A k t , durch den das weitverzweigte und vielfach geäderte Stromnetz des modernen Lebens durch einen einzigen G r i f f am Schaltbrett dem großen Strome der kriegerischen Energie zugeleitet w i r d " (Die totale Mobilmachung, S. 11). i8 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 130. is Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 52. 20 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 45 u n d 54; vgl. auch oben 3. Kap. I I . 3. b). 21 Dahm, DStR 1934, S. 90.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff
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materiellen Verbrechensbegriffs folge aus der Wendung von der „mechanistisch-formalen Staatsauffassung" 22 zur „inhaltlich vollständigen Erfassung des Staatsbegriffs" 23 i n Dritten Reich. Da die Aufgabe des Staates nicht mehr i n der Behütung eines individuellen Freiheitsraumes liege, sondern „ i n der Zusammenfassung und Förderung der Volkskräfte" 2 4 , müsse die Strafrechtsordnung der materiellen Gerechtigkeit, wie sie i m Rechtsgewissen des Volkes verankert sei, den Vorrang vor der formalistischen Gesetzesbestimmtheit einräumen 25 . I m liberalen Rechtssicherheitsstaat sei der „stillwaltende Volksgeist" 2 6 aus dem Prozeß der Rechtsbildung ausgeschlossen worden, indem man dem einmal festgelegten Gesetz die alleinige Herrschaft zuerkannt habe. I m totalen Staat, i n dem das Volk seine wahre Lebensform gefunden habe, sei es die wichtigste Aufgabe der Strafrechtsordnung, das „Volksrecht" wieder zur Geltung zu bringen und die i m liberalen Zeitalter eingetretene Entfremdung von Gesetz und Recht zu überwinden. Hinter diesen unklaren und pathetischen Aussagen standen praktische, handfeste Motive, die aber nur selten deutlich angesprochen wurden, weil sie sich nicht m i t dem Pathos des gerechten Volksrechtes vertrugen: Ein materieller Verbrechensbegriff lenkt den Blick von der Frage der Grenzziehung zwischen strafbarem und nicht strafbarem Verhalten auf die Frage der Strafwürdigkeit. Er eignet sich dazu, dogmatische Problemstellungen durch kriminalpolitische Zweckerwägungen zu überspielen 27 . Schaffstein führte i n diesem Sinne zur Begründung des materiellen Verbrechensbegriffs an, daß er „ein Maximum an Wirksamkeit der Verbrechensbekämpfung" ermögliche 28 . Damit war i n erster Linie gemeint, daß unter der Herrschaft einer materiellen Verbrechensbestimmung strafbegründende Analogieschlüsse erlaubt sein müßten 2 9 . Daß ein materieller Verbrechensbegriff die Grenze zwischen Recht und Unrecht durch das Gesetz verwischt, wurde von den antiliberalen Strafrechtlehrern begrüßt. Sie befürworteten eine „Gefahrenzone" 30 , die die gesetzlichen Tatbestände umgibt, damit ein schamloses Ausnutzen gesetzlicher Lücken verhindert und das Streben nach persönlichen Vor-
22 Schaffstein, ZStW 55, S. 19. 23 Berges, DStR 1934, S. 239; vgl. auch Schaff stein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 15 u n d ZStW 53, S. 606. 24 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 47. 25 Vgl. ebd., S. 47 ff. 26 Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 23. 27 Vgl. Naucke, Betrug, S. 36 ff. 28 ZStW 55, S. 19. 29 Vgl. ebd., S. 22; Schaff stein, DR 1934, S. 352; H.Mayer, DStR 1938, S. 74. so Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 68.
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teilen auf dem schlüpfrigen Gebiet zwischen dem nur Sittenwidrigen und dem Rechtswidrigen eingedämmt werde 3 1 . Ein materieller Verbrechensbegriff mußte jedoch i n Kollision m i t dem absoluten Führungsanspruch des nationalsozialistischen Gesetzgebers geraten, sobald dieser Strafgesetze erließ. Die weitere Untersuchung w i r d zeigen, wie die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler diesem Dilemma zu entgehen suchten. 2. Die Verwerfung bisheriger materieller Verbrechensbegriffe
M i t der Formulierung eines materiellen Verbrechensbegriffs betraten die antiliberalen Strafrechtler kein Neuland. Schon vor ihrer Zeit waren Versuche unternommen worden, das strafrechtliche Unrecht von einem Punkt außerhalb des Gesetzes zu bestimmen. Nach antiliberaler Auffassung waren sie jedoch alle von einer liberalen Grundhaltung geprägt. Die neue Strafrechtswissenschaft entwickelte ihren materiellen Verbrechensbegriff antithetisch zu ihnen. I n einer kurzen Zusammenfassung sollen zunächst die materiellen Verbrechensdefinitionen wiedergegeben werden, die die antiliberale Strafrechtswissenschaft zum Gegenstand ihrer K r i t i k machte 32 : a) Überblick über vorauf gegangene materielle Verbrechensbegriffe Die moderne Schule hatte ihre Straftheorie dem Gedanken der Gesellschaftssicherung unterstellt; auf der Seite der Verbrechensbetrachtung entsprach dem eine materielle Bestimmung des Verbrechens als „gesellschaftsschädliches" 34 oder „antisoziales" 35 Verhalten. Als notwendig für die Erhaltung der Gesellschaft wurde der Schutz von „Rechtsgütern" erachtet, so daß das Verbrechen auch als „Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung" erschien 36 .
31 Vgl. auch Dahm, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung 1937, S. 519. 3 2 Die kurze u n d fragmentarische Wiedergabe entspricht der Behandlung durch die antiliberale Strafrechtswissenschaft. Einen tieferen Einblick verschaft Heinitz, Das Problem der materiellen Rechtswidrigkeit. 33 Streng genommen könnte nur von Unrechtsbegriffen die Rede sein. Die Antiliberalen behandelten sie jedoch durchweg als umfassende V e r brechensdefinitionen. 34 v. Liszt/ Schmidt, Lehrbuch, S. 173. 35 Merkel/Liepmann, Die Lehre von Verbrechen u n d Strafe, S. 5. 36 Vgl. v. Liszt, Lehrbuch, 14. Aufl., S. 64 f., 2981; ZStW 8, S. 133 ff.; A u f sätze und Vorträge I, S. 212 ff. Naucke, Betrug, S. 39 ff., hat aufgezeigt, daß die inhaltliche Bestimmung des Rechtsgutsbegriffs bei v. Liszt entscheidend wiederum v o m Gedanken der Sozialgefährlichkeit beherrscht war.
33
I I . Der materielle Verbrechensbegriff
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Um eine Uberwindung einer rein formellen Verbrechensauffassung hatte sich auch Graf zu Dohna bemüht. Die Rechtswidrigkeit einer Handlung bestimmte er unter Zuhilfenahme der Formel, daß die Anwendung des angemessenen Mittels zum angemessenen Zweck rechtmäßig sei 37 . Ähnlich ging Sauer vor: „Rechtswidrig ist ein Verhalten, das nach seiner allgemeinen Tendenz dem Staat und seinen Gliedern gemäß dem Urteil der Rechtswissenschaft mehr schadet als nützt 3 8 ." Nach Mezger sollte sich die Inhaltsbestimmung des Verbrechens aus der allgemeinen Zielsetzung der Rechtsordnung ergeben, ein „kompossibles Maximum der Interessenbefriedigung" zu gewährleisten 39 . Inhaltlich bedeute das Verbrechen die „Verletzung menschlicher Lebensinteressen" 40 . b) Allgemeine Einwände der Antiliberalen gegen die bisherigen materiellen Verbrechensbegriffe Diese Versuche, den Gehalt des Verbrechens unabhängig vom Gesetz zu definieren, lehnte die junge Strafrechtswissenschaft insgesamt als Produkte liberalen Denkens ab. N u r das Bemühen, über einen formellen Verbrechensbegriff hinauszugelangen, erkannte sie an. Das Ziel sei jedoch nicht erreicht worden; die materiellen Verbrechensbegriffe seien i m Formalen steckengeblieben 41 . Deutlicher Beweis sei der hohe A b straktionsgrad der Definitionen. Sie enthielten zudem keinen inhaltlich präzise bestimmten Wertmesser und ließen somit die Frage offen, was i m einzelnen gesellschaftswidrig sei, woraus sich die Angemessenheit von M i t t e l und Zweck ergebe. Eine klare A n t w o r t hätte einen bestimmten weltanschaulichen Standpunkt vorausgesetzt. Ein solcher könne jedoch i m pluralistischen Staat des Liberalismus keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. I n i h m könne nur eine möglichst formale und abstrakte Verbrechensdefinition allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Diese wiederum erlaube aber nicht, ein Ergebnis für den einzelnen Rechtsfall abzuleiten 42 . Es sei daher nicht verwunderlich, daß die Praxis, soweit sie sich der materiellen Verbrechensbegriffe bedient habe, letzten Endes zu einem Gesetzespositivismus zurückgekehrt sei. Die A n t i 37 Vgl. Die Rechtswidrigkeit, S. 53 f. 38 Grundlagen des Strafrechts, S. 391. 39 GS 89, S. 249, 260. 4 « Ebd., S. 248; Strafrecht, S. 198. 41 Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 27 f.; Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 70; DStR 1934, S.213; Krüger, ZStW 54, S. 591 ff., 644 ff., 655 ff. 42 Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 29.
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liberalen erinnerten an die reichsgerichtliche Entscheidung zur Güterabwägung bei der medizinisch indizierten Schwangerschaftsunterbrechung, die zur Bewertung der Rechtsgüter die gesetzlichen Strafandrohungen für eine Verletzung des Lebens der Mutter bzw. des Embryos herangezogen hatte 4 3 . Einem „Rückzug in den Positivismus" 4 4 komme es aber auch gleich, wenn zur näheren Bestimmung des Wertmessers auf die Rechtsanschauungen der „kulturell führenden Schicht" oder ähnliche Maßstäbe verwiesen werde 4 5 . Hieran erweise sich die Unfähigkeit der Liberalen, über den Zustand einer bloßen Beobachtung des Lebens hinauszugelangen und politisch gestaltend zu wirken 4 6 . Der liberale und neutrale Staat könne sich nicht dazu durchringen, eine klare Rangfolge der verschiedenen Interessen aufzustellen. Ohne Rücksicht auf den sachlichen Gehalt gehe es ihm nur um einen Ausgleich der Interessen, um ein „kompossibles Maximum der Interessenbefriedigung" 47 . Nach antiliberaler Auffassung war den materiellen Verbrechensbegriffen Einseitigkeit vorzuwerfen. Sie richteten ihr Augenmerk vorwiegend auf äußere Merkmale. Sie beschränkten sich auf den Bereich des Unrechts; das Element der Schuld werde von ihnen nicht erfaßt. Ethische und sittliche Gesichtspunkte blieben unberücksichtigt. Auch hierin mache sich der Einfluß einer liberalistischen und rationalistischen Denkweise geltend. Das Recht werde als ein zweckbestimmtes Instrument zur Regelung des äußeren Zusammenlebens betrachtet 48 . Dieselbe Grundhaltung offenbare sich i n der praktischen Anwendung der materiellen Verbrechensbegriffe, die auf dem Boden der liberalen Gesetzestechnik erfolge 49 : Die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens bedeute i n der Regel auch dessen Rechtswidrigkeit. Erst i m Bereich der 43 Vgl. R G 61, 242; 62, 137; dazu Schaff stein, ZStW 55, S. 29 sowie Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 12 f. Ä h n l i c h kritisierten auch die Vertreter der „liberalen" Strafrechtsreform die Entscheidungen; vgl. E.Schmidt, ZStW 49, S. 3881; Günhut, ZStW 51, S. 461. 44 Schaff stein, ZStW 55, S. 29. 45 Vgl. Beling, Rechtswissenschaft u n d Rechtsphilosophie, S. 39; Heinitz, Die Rechtswidrigkeit, S. 99, 108; Grünhut, Festgabe für F r a n k 1930, Bd. 1, S. 8, 10; Mezger, RG-Festgabe, Bd. V, S. 20; Drost, Das Ermessen des Strafrichters, S. 28; dazu Krüger, ZStW 54, S. 657 ff.; Dahm, DStR 1934, S. 88. 46 Vgl. Dahm, Z f K u l t u r p h 1936, S. 213. 47 Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 30 f. Auch Mezger selbst unterzog seine Formel dieser K r i t i k und stimmte den Idealen des neuen Staates zu; vgl. ZStW 55, S. 7 f. Insgesamt blieb seine H a l t u n g aber schwankend. Nicht i n allen Fragen stimmte er m i t den jüngeren antiliberalen Strafrechtswissenschaftlern überein. Vgl. unten 5. Kap. I X . 48 Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S . 3 0 1 ; ZStW 57, S.299; Dahm, ZStaatW 95, S. 295. 49 Vgl. Krüger, ZStW 54, S. 657 f.
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I I . Der materielle Verbrechensbegriff
Ausnahmen sollten die materiellen Verbrechensdefinitionen zur A n wendung kommen. Beabsichtigt sei, den Bereich des Unrechtsausschlusses umfassend zu definieren und so die Lücken zwischen den gesetzlichen Rechtfertigungsgründen zu schließen. A n der Funktion des gesetzlichen Tatbestandes, das Feld des Strafbaren klar abzustecken, werde nicht gerüttelt. Den materiellen Verbrechensbegriffen sei zum Ziel gesetzt, i m Rahmen der Rechtswidrigkeit die Grenzen des Strafbaren noch enger zu ziehen und damit gleichzeitig die individuelle Freiheitssphäre zu erweitern 5 0 . c) Die antiliberale
Kritik
an der Rechtsgutslehre
50a
I m Mittelpunkt antiliberaler Angriffe gegen frühere materielle Verbrechensbegriffe stand die Lehre, die das Verbrechen als Verletzung eines Rechtsgutes erklärte. Sie hing nach Ansicht der antiliberalen Strafrechtswissenschaftler mit Verbrechensdefinitionen zusammen, die auf die Gesellschaftswidrigkeit oder Sozialschädlichkeit abstellten 51 . A m intensivsten setzte sich Schaffstein m i t der Rechtsgutslehre auseinander. Er war zugleich ihr schärfster Gegner. Nach seiner Auffassung zeigt sich die innige Verknüpfung m i t dem Staatsideal des Liberalismus bereits i m historischen Ursprung 5 2 : Die Rechtsgutslehre stamme unmittelbar von der Lehre Feuerbachs ab, daß das Verbrechen ein subjektives Recht verletze 53 . Das Augenmerk sei dabei auf den Kreis subjektiver Berechtigungen gerichtet, die der Staat vor Übergriffen zu schützen habe. Zur Pflicht werde dem Staatsbürger lediglich gemacht, fremde Individualsphären nicht anzutasten. Die Umformulierung durch Birnbaum habe keine Änderung dieses Standpunktes bedeutet; sie habe mehr äußere, technische Gründe ge50 Vgl. Dahm/Schaff stein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, S. 29 ff. zum übergesetzlichen Notstand. 50a vgl. die Darstellungen von Amelung, Rechtsgüterschutz u n d Schutz der Gesellschaft, S. 231 ff., Sina, Dogmengeschichte, S. 70 ff. u n d Hassemer, Theorie u n d Soziologie des Verbrechens, S. 50 ff. Amelung untergliedert nach „historisch-politischen" und „dogmatischen" Argumenten. W i r halten diese Unterscheidung f ü r verfehlt; die antiliberale Strafrechtswissenschaft ging gerade von der historisch-politischen Bedingtheit der Dogmatik aus. si Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 121. 52 Vgl. zum folgenden: Schaffstein, DStR 1935, S.98f.; DRWis 1936, S. 42. A n der historischen Beweisführung Schaff steins rügt Amelung, Rechtsgüterschutz u n d Schutz der Gesellschaft, S. 236 ff. die „Ungeschichtlichkeit" (vgl. oben 1. Kap. II.). Er w i r f t Schaffstein vor, daß er nicht zwischen der Sozialschadenstheorie des Frühliberalismus u n d dem spätliberalen Rechtsgüterschutzgedanken unterscheide. Die pauschale Kennzeichnung der Rechtsgutslehre als „ l i b e r a l " übergehe die konservativen u n d restaurativen Elemente des Spätliberalismus. 53 Schaff stein, DStR 1935, S. 99, verweist auf Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen peinlichen Rechts, 12. Ausgabe 1836, §§ 8 u n d 21. 12 Marxen
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habt. Ausgehend von der Erwägung, daß nicht das subjektive Recht selbst, sondern nur sein Gegenstand durch das Verbrechen verletzt werden könne, habe Birnbaum die verbrecherische Tat als Beeinträchtigung von Rechtsgütern erklärt 5 4 . Diese Auffassung habe die Strafrechtswissenschaft der vornationalsozialistischen Zeit beherrscht. Einen entscheidenden Wandel hatte die Rechtsgutslehre nach Ansicht der antiliberalen Strafrechtswissenschaft auch nicht durch die neueren Arbeiten von Honig und Schwinge erfahren 55 . Diese faßten den Rechtsgutsbegriff als methodisches Prinzip auf. „Rechtsgut" bedeutete bei ihnen „der vom Gesetzgeber i n den einzelnen Strafrechtssätzen anerkannte Zweck i n seiner kürzesten Formel" 5 6 . Dieser Zweck sollte den maßgebenden Gesichtpunkt für die Untersuchung, systematische Bearbeitung und Anwendung des Strafrechts bilden. Der jüngeren Rechtsgutslehre hielten die antiliberalen Strafrechtler entgegen, daß die Entwicklung „auf halbem Weg stehen geblieben" sei 57 . Trotz der Vergeistigung hielten die Vertreter des methodischen Rechtsgutsbegriffs an der Vorstellung fest, daß das Verbrechen sich gegen ein bestimmtes Angriffsobjekt richte, daß es allein i n einer Verletzung der äußeren Ordnung, i n einem Eindringen i n die individuelle Gütersphäre bestehe 58 . Das ergebe sich schon aus der Beibehaltung des Begriffs „Rechtsgut" 59 . Beherrschend bleibe der Geist des Liberalismus, des neutralistischen Positivismus und des individualistischen Materialismus. Die Rechtsgutslehre suche das Verbrechen gegenständlich zu erfassen. A l l e i n der materielle, äußere Schaden werde zum Anknüpfungspunkt einer gedanklichen Verarbeitung des Verbrechens genommen, die ausschließlich den kausalen Kategorien Ursache und Wirkung Bedeutung beimesse. Diese Sicht ermögliche es, überindividuelle Gehalte des Rechts als „metaphysisch" und damit unbeachtlich auszuschalten. Sie gestatte größtmögliche Exaktheit bei der gesetzlichen Umschreibung des Verbrechens und bei der Handhabung des Gesetzes. Ziel sei es, ein Höchstmaß an Berechenbarkeit herzustellen. Die Rechtsgutslehre münde i n die Auffassung ein, das Strafgesetz sei die Magna Charta des Verbrechers oder auch des gesetzestreuen Staatsbürgers 60 .
54 v g l . Archiv des Kriminalrechts, N.F. Jg. 1834, S. 149 ff. 55 Vgl. Schaff stein, DStR 1935, S. 99 ff. 56 Honig, Die Einwilligung, S. 94; Schwinge, Teleologische Begriffsbildung, S. 22 f. 57 Gallas, Festschrift f ü r Gleisbach 1936, S. 57 f. 58 Vgl. Schaff stein, DStR 1935, S. 101; Gallas, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 57 ff.; Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 137. 59 Vgl. Dahm, ZStW 57, S. 234. 60 Vgl. Boldt, DR 1937, S. 93.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff
179
Das Straf recht könne jedoch nicht mehr als Einrichtung zum Schutz individueller Interessen angesehen werden. Wichtiger als persönliche Freiheit und individuelle Glückseligkeit sei die Verwirklichung der übergeordneten Einheit, der Volksgemeinschaft, die ihre „geschichtliche Bestimmung" zu erfüllen habe 61 . Es gebe keine „Individualsphären" und keine „juristische Staatsperson" mehr 6 2 . Staat und Gemeinschaft seien die beherrschenden Werte i m Strafrecht geworden. Von dieser grundlegenden politischen Einstellung aus brachten die antiliberalen Strafrechtler i m einzelnen gegen die Rechtsgutslehre vor: Sie habe ersichtlich von einem Deliktskomplex ihren Ausgang genommen; Prototyp des deliktischen Handelns sei für das materialistische und individualistische Denken das Vermögensdelikt 63 . Ohne Berücksichtigung gewichtiger Unterschiede seien auch die übrigen Delikte i n die „begriffliche Zwangsjacke" des Rechtsguts gepreßt worden 6 4 . Die Schwierigkeiten, die dabei insbesondere die Verbrechen gegen die Gemeinschaft bereiteten, seien durch die Konstruktion des Staates als juristische Person beseitigt worden, die in besonderem Maße ein Produkt liberaler Denkweise sei 6 5 : Als juristischer Person werde dem Staat ein nur beschränkter Kreis von Rechten zudiktiert. Deren Grenzen dürfte er nicht überschreiten; sie bedeuteten gleichzeitig eine Sicherung der individuellen Freiheitssphäre. Individuum und Gemeinschaft seien strikt voneinander getrennt — eine für das antiliberale Denken unhaltbare Vorstellung, Sie führe zu wirklichkeitsfernen und inhaltsleeren Abstraktionen: Der innere Frieden des Staates und das individuelle Vermögen könnten nicht als zwei völlig verschiedene Gegenstände gemeinsam unter den Begriff „Rechtsgut" gezogen werden. Die Rechtsgutslehre sei der Ursprung vieler „Trennungen und Zerreißungen" 6 6 : Sie gehe i m politischen Bereich von der Spaltung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Staat und Individuum aus, auf dem Gebiet des Rechts von der Trennung zwischen Recht und Sittlichkeit, der die Auffassung zugrundeliege, daß das Recht lediglich die Aufgabe habe, durch den Schutz individueller Rechtsgüter das äußere Zusammenleben der Menschen zu regeln. I m Strafrecht habe sich das Trennungdenken fortgesetzt i n Unterscheidungen wie: Objektive-subjektive Ver-
H.Mayer, Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 9; Henkel, Strafrichter und Gesetz, S. 47: „Hingabe des Volkes an seine Aufgaben." 62 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 113; DRWis 1936, S. 43. 63 Vgl. Schaffstein, DStR 1935, S. 103. 64 Ders., Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 113. 65 Vgl. ebd., S. 113; DStR 1935, S. 103 f.; DRWis 1936, S. 42 f. 66 Schaff stein, DStR 1935, S. 101. 12'
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brechensvoraussetzungen, Rechtswidrigkeit-Schuld, Rechtsnorm-Pflichtnorm, Bewertungsfunktion-Bestimmungsfunktion des Rechts 67 . A m Endpunkt der wirklichkeitsfernen Trennungen und Abstraktionen stehe der methodische Rechtsgutsbegriff. Bei der Bearbeitung des Strafrechts nur nach Zweckgesichtspunkten, bei der strikten Unterscheidung zwischen rein tatsächlichem Tathergang und rechtlicher Bewertung würden die Wege des südwestdeutschen Neukantianismus begangen, der Wert und Wirklichkeit m i t aller Schärfe unterscheide, dabei aber die Werthaftigkeit des konkreten völkischen Seins verkenne 68 . I m Streben nach Gültigkeit für alle Delikte sei der ursprünglich konkrete Inhalt der Rechtsgutslehre verlorengegangen und nur ein formales Prinzip Übriggeblieben, das die Erkenntnis des Verbrechens u m keinen Schritt voranbringe 69 . Die Verallgemeinerung diene als „Deckmantel für politische Inhalte" 7 0 : Die angebliche Allgemeingültigkeit solle dem Rechtsgutsbegriff ewigen Bestand sichern, unabhängig von den politischen Strömungen der Zeit. Das i m Rechtsgutsbegriff verborgene liberalistische Denken solle auf diese Weise die Vorherrschaft erlangen und ausüben, ohne sich ausweisen zu müssen 71 . Die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler vertraten weiterhin die Auffassung, daß die Rechtsgutslehre den Unrechtsgehalt des Verbrechens nicht vollständig ausschöpfe 72. Sie lasse die A r t der Begehung, die verbrecherische Tätigkeit unbeachtet 73 . Diese könne aber nicht bedeutungslos sein. Ansonsten hätte sich der Gesetzgeber ζ. B. i m Rahmen der Eigentumsdelikte m i t einem Generaltatbestand der vorsätzlichen, dauernden Entziehung fremden Eigentums begnügt, der einen umfassen67
Vgl. ebd., S. 101 f. es Vgl. oben 3. Kap. I I I . 3. 69 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 117 f.; DStR 1935, S. 100 f.; Boldt, DR 1937, S.94; Engisch, M s c h r K r i m B i o 1938, S. 138; H. Mayer, DStR 1938, S. 82. 70 Schaff stein, DStR 1935, S. 97. 71 Vgl. ebd., S. 101: Der methodische Rechtsgutsbegriff ermögliche „dem Gift der Aufklärungsideologie ein Eindringen i n viele Ritzen u n d Spalten des Strafrechts, die es i n einer kompakteren Form nicht hätte erreichen können". 72 Insgesamt dazu: Schaff stein, DStR 1937, S. 337; Dahm, ZStW 57, S. 233; Boldt, DR 1937, S. 94; Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 130 ff. (unter ausdrücklicher K o r r e k t u r seines i n MschrKrimPsych 1934, S. 80 f. vertretenen Standpunktes; vgl. S. 139 A n m . 34). 73 Diesen kritischen Aspekt hat H. Mayer am gründlichsten herausgearbeitet; vgl. Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 71 ff., 95 f., 194 ff.; DStR 1938, S. 78; vgl. auch Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 58; Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 9, 16.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff
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den Schutz des Rechtsguts „Eigentum" gewährleistet hätte 7 4 . Die Rechtsgutslehre könne auch die Unterschiede zwischen den verschiedenen Delikten nicht erklären, die dasselbe Rechtsgut beträfen, weil sie von der Begehungsform, von personalen, irrationalen und ethischen Elementen absehe75 . A m schwersten wiege die Unterschlagung des verbrecherischen Willens „als der i n der Volksmoral wurzelnde tiefste Grund allen Strafens" 76 . Das i n vielen Delikten wie ζ. B. i m Landesverrat oder i n der Untreue enthaltene „Verrats- und Treubruchsmoment" komme überhaupt nicht zur Geltung 7 7 . Es werde nicht genügend klar gemacht, daß der Verbrecher eine Pflichtverletzung gegenüber der Gemeinschaft begehe 78 . Unvereinbar sei die Rechtsgutstheorie m i t den neueren straftheoretischen Überlegungen. Die Ziele der „Typensonderung", der Auslese und der „Integration" reichten weit über die „bloße Güterschutzfunktion" hinaus 79 . Die Rechtsgutslehre lasse sich auch angesichts des Wandels in der Auffassung von den subjektiven Rechten nicht mehr halten. Die antiliberalen Strafrechtler verwiesen dabei auf die Arbeiten zum bürgerlichen Recht von H. Lange, Larenz, Siebert, Eckhardt und Wieacker 80 , die eine neue Inhaltsbestimmung von privatrechtlichen Rechten und Rechtsverhältnissen erbracht hätten. Danach könne nicht mehr von einem subjektiven Recht i m Sinne einer dem individuellen Belieben völlig überantworteten Berechtigung die Rede sein. Es sei untrennbar mit einer Verpflichtung gegenüber der Gesamtheit verbunden, die zum Inhalt des Rechts gehöre. So sei die Vorstellung verlassen, daß das Eigentum seinem Inhaber grundsätzlich eine unumschränkte Herrschaft gewähre, die erst i m nachhinein durch öffentlich-rechtliche Beschränkungen eingeengt werde. Die angeblichen Schranken des Eigentums gehörten unmittelbar zu seinem Inhalt 8 1 . Aus dieser Sicht sei die Ent74 Vgl. Schaff stein, DStR 1937, S. 342. 75 Vgl. Engisch, M s c h r K r i m B i o 1938, S. 139. 76 ν . Gemmingen, J W 1933, S. 2372; Schaffstein, DStR 1935, S. 102; Freisler, Willensstraf recht; Versuch u n d Vollendung, S. 31; H.Mayer, Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 96: „Unzulässige Unterbewertung der Innenseite der T a t " ; vgl. auch Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 9. 77 Vgl. Schaff stein, DStR 1935, S. 104; Engisch, M s c h r K r i m B i o 1938, S. 139. 78 Vgl. Dahm, ZStW 57, S.233; Schaff stein, DStR 1937, S. 342 ff. 79 Vgl. Schaffstein, DStR 1935, S. 98; DStR 1937, S.340; vgl. zur Straftheorie der antiliberalen Strafrechtswissenschaft oben 4. Kap. I I I . 4. c). so Vgl. dazu Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 113 f.; Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 74 f. m. w. Nachw. 8i Vgl. Wieacker, Wandlungen der Eigentumsverfassung; Eigentum u n d Enteignung: DJZ 1934, Sp. 1446 ff. Die Frage des Rechtsschutzes hatte für das antiliberale Denken keine Bedeutung. Vgl. Dahm, Verbrechen u n d Tatbe-
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
gegensetzung von Individuum und Gemeinschaft aufgehoben. Damit werde i m Strafrecht der Rechtsgutslehre, die auf der Lehre von den unumschränkten subjektiven Rechten aufbaue, der Boden entzogen. I n der Anfangsphase der dogmatischen Diskussion wurde der Kampf gegen den Rechtsgutsbegriff m i t großer Heftigkeit und Bedingungslosigkeit geführt. Insbesondere Schaff steins Äußerungen ließen den Eindruck entstehen, daß der Begriff des Rechtsgutes vollständig beseitigt werden sollte 52 . Dagegen erhoben selbst solche Straf rechtswissenschaftler Einspruch, die ansonsten der Rechtsgutstheorie kritisch gegenüberstanden. So betonte H. Mayer, daß der Rechtsgutsbegriff nicht notwendigerweise individualistisch gedacht werden müsse 83 und Gallas warf Schaffstein Einseitigkeit i n der Denkweise vor 8 4 . Schließlich setzte sich eine etwas zurückhaltendere Auffassung durch 85 . Der Rechtsgutsgedanke wurde als ein möglicher Standpunkt bei der Betrachtung des Verbrechens akzeptiert. Bestritten wurde nur noch seine Brauchbarkeit als alleiniger Erklärungsgrund. Er könne auch nicht mehr die Stellung eines übergeordneten Gesichtspunktes innehaben. Erforderlich sei eine „Akzentverlagerung" 8 6 auf die personale Seite des Verbrechens. 3. Der materielle Verbrechensbegriff der antiliberalen Strafrechtswissenschaft
Die Darstellung des eigenen materiellen Verbrechensbegriffs begannen die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler zumeist m i t einer einschränkenden Vorbemerkung: Der materielle Gehalt des jeweiligen Delikts könne nicht in eine allgemeine Formel gefaßt werden 8 7 . Das materielle Rechtsprinzip abstrakt umschreiben zu wollen, sei „geradezu ein Widerspruch i n sich selbst" 88 . Das neue Rechtsgedenken zeichne sich gerade durch eine Abkehr von den Allgemeinbegriffen und durch eine stand, S. 75: „So verstanden ist die Enteignung kein Eingriff, sondern eine Durchsetzung von Bedürfnissen der Gemeinschaft, die das Recht des einzelnen gar nicht erst zu beseitigen braucht." 82 Vgl. H. Mayer, DStR 1938, S. 77; ebd., A n m . 19; Koch, Ist das Wesen des Verbrechens Rechtsguts- oder Pflichtverletzung?, S. 1 f. 83 DStR 1938, S. 81. 84 Festschrift für Gleispach 1936, S. 68. 85 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 111 f., 125; DStR 1935, S. 98; DStR 1937, S. 336 u n d 338; Dahm, ZStW 57, S. 235 (gegen eine „Überbetonung" des Rechtsgutsbegriffs) ; vgl. dazu Lüderssen, Zum Strafgrund der Teilnahme, S. 122; Amelung, Rechtsgüterschutz u n d Schutz der Gesellschaft, S. 251 f.; Sina, Dogmengeschichte, S. 82. 86 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 125. 87 Vgl. Schaffstein, ZStW 55, S. 29 f.; Dahm, ZStW 57, S. 281. 88 Dahm, DStR 1934, S. 213 f.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff
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Hinwendung zum Konkreten aus 89 . Der materielle Inhalt des Verbrechens lasse sich nur aus der Eigenart des einzelnen Delikts erschließen. Seine Bestimmung sei daher ein Problem des Besonderen Teils 9 0 . Dieser Gedanke hätte die antiliberalen Strafrechtler eigentlich veranlassen müssen, auf jede allgemeine Definition des Verbrechens zu verzichten. Sie hielten sich jedoch nicht daran; ihre antiliberale Haltung, ihr antithetisches Denken verführte sie dazu, den Liberalismus auf seinem Terrain m i t seinen Waffen entgegenzutreten. Den liberalen A l l gemeinbegriffen stellten sie eigene gegenüber, die zumeist noch unbestimmter waren, w e i l keine feste Verbindung zum Gesetz bestand. Zwar fehlte nie der Hinweis, daß eine Bewährung und Konkretisierung am einzelnen Delikt erfolgen müsse; dieser zweite Schritt wurde jedoch nur selten getan. Der Beschäftigung mit Einzelproblemen gingen allgemeine rechtstheoretische Arbeiten v o r 9 0 a , deren Ziel es war, einen grundsätzlichen Umschwung i m Rechtsdenken der Zeit herbeizuführen. Wie i m liberalen Strafrecht blieb das Schwergewicht i n allgemeinen Erörterungen, Die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler gelangten nicht stets zu übereinstimmenden Definitionen eines materiellen Verbrechensbegriffs. I n ihrem K e r n deckten sich aber die unterschiedlichen Fassungen: Gemeinsame Ausgangsbasis war die „Uberzeugung von der Geschichtlichkeit der strafrechtlichen Begriffe" 9 1 , die organisch aus dem Rechtsempfinden des Volkes hervorgegangen seien. Auch nach der Kodifizierung werde die weitere Entwicklung maßgeblich vom völkischen Rechtsgefühl bestimmt, dessen Anfangs- und Endpunkt die Gemeinschaft sei. Diese dürfe nicht als eine bloß äußere Ordnung verstanden werden. Sie beruhe auf dem „inneren Zusammenhalt ihrer Glieder", auf einer Gemeinschaftsgesinnung, „die alle erfaßt" 9 2 . Das Wesen des Verbrechens bestehe i n der „GemeinschaftsWidrigkeit" 93 . Der Verbrecher entziehe sich der Gemeinschaft; er lasse die Gemeinschaftsgesinnung vermissen: „Das Verbrechen ist von allem Anfang und i n seinem tiefsten Kern der
89 Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 29 f. sowie unten 5. Kap. V. 1. 90 Vgl. Schaffstein, ZStW 55, S.30f.; Dahm, DStR 1934, S. 213 f. 90a v g l . Schwinge/Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 11. 91 H.Mayer, DStR 1938, S. 92; vgl. auch ders., Straf recht des Deutschen Volkes, S. 161; Dahm, ZStW 57, S. 252 u n d Festschrift für Siber 1941, Bd. 1, S. 217. 92 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf recht, S. 17. 93 Larenz, Z f K u l t u r p h 1936, S.33; vgl. auch Boldt, DR 1937, S. 94; Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 109 f.; Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 67; Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 12.
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
innerliche Abfall von der inneren Bindung an die Gemeinschaft 94 ." Auch wenn es sich gegen einen einzelnen richte, treffe es letzten Endes doch die Gemeinschaft; der einzelne werde durch die Rechtsordnung nicht als solcher, sondern nur als Glied der Gemeinschaft geschützt 95 . Für die Antiliberalen war der Gegensatz von Recht und Sitte i n der Volksanschauung als Rechtsquelle überwunden. Die Gemeinschaftswidrigkeit wurde daher auch als „Verstoß gegen die völkische Sittenordnung" definiert 96 . Nicht eine individual-ethische Auffassung sollte den Maßstab liefern, sondern die allgemeinverbindliche völkische, nationalsozialistische Sittlichkeit 9 7 . I n jeder Hinsicht also richteten die antiliberalen Straf rechtswissenschaftler ihre Versuche, das Verbrechen materiell zu beschreiben, am „Volksbewußtsein" aus. Der Begriff war unbestimmt genug. Gleichwohl behauptete Mezger. daß das deutsche Volk einen „inhaltlich und konkret bestimmten Rechtswert" darstelle 98 . Zur Begründung trug der Hinweis auf die „Geschichte des Volkes, auf seine Verbundenheit durch Rasse und Landschaft" 9 9 wenig bei. Er sagte nicht, was tatsächlich für die Bestimmung der Gemeinschaftswidrigkeit maßgebend sein sollte. Bedeutsamer war die Bezugnahme auf den politischen Gestaltungswillen, der aus den Grundlagen des völkischen Lebens hervorgehe und an dem sich Recht vom Unrecht scheide 100 . Dieser Wille zur Gemeinschaft habe seinen Ausdruck i n der nationalsozialistischen Bewegung gefunden 101 . I h r totaler Geltungsanspruch enthalte einen klaren Wertmaßstab für das neue Recht 102 . Die Entscheidung darüber, was „die Grundlage des völkischen Lebens" 1 0 3 , „das innere Gesetz der Gemeinschaft" 104 , „die völkische Sittenordnung" 1 0 5 sei, sollte der „ganzen, lebensvoll erfaßten politischen Wirklichkeit der deutschen Gegenwart" zu entnehmen sein 1 0 6 . Sie wurde damit den Bedürfnissen der nationalsozialistischen 94 Boldt, DR 1937, S. 94; vgl. auch ders., ZStaatW 96, S. 504; Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 17. 95 Vgl. Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 62 f. 96 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 17. 97 Vgl. Schaffstein, Tel. Begriffsbildung, S. 27; Siegert, Grundzüge, S . l l . 98 Mezger, ZStW 55, S. 8. 99 Ebd., S. 9. Diese Worte ersetzten die vulgäre nationalsozialistische Form e l „ B l u t u n d Boden"; vgl. dazu auch Siegert, Grundzüge, S. 8 f. 100 v g l . Mezger, ZStW 55, S. 9. ιοί v g l . Boldt, DR 1937, S. 94. 102 vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 30. 103 Freisler, DStR 1935, S. 12. 104 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14; vgl. auch Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 12. los Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14. 106 Mezger, ZStW 55, S. 6.
I I . Der materielle Verbrechensbegriff
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Machthaber überantwortet. Die vielen weitschweifigen Versuche, den Gehalt des Verbrechens materiell zu bestimmen, endeten i n der lapidaren Formel: „Materiell rechtswidriges Handeln ist Handeln gegen die deutsche nationalsozialistische Weltanschauung 107 ." Dieser Gedanke wurde für strafrechtliche Belange unterschiedlich ausgeformt. Die verschiedenen Formulierungen des materiellen Verbrechensbegriffs widersprachen einander aber nicht 1 0 8 . Es handelte sich lediglich um unterschiedliche Ausprägungen desselben Grundgedankens. a) Das Verbrechen
als
Pflichtverletzung
Den Gedanken, daß das Verbrechen seinem Wesen nach Pflichtverletzung sei, vertrat unter den antiliberalen Straf rechtswissenschaftlern Schaffstein m i t besonderem Nachdruck. Zur Begründung berief er sich u. a. auf das geltende Strafgesetz: Die Sonderdelikte des Strafgesetzbuches könnten nicht m i t der Rechtsgutstheorie erklärt werden, weil das jeweilige Rechtsgut schon durch den Grundtatbestand geschützt sei. Strafschärfend wirke sich aus, daß der Täter seine besonderen Pflichten, ζ. B. die aus seiner Amtsstellung, verletzt habe 1 0 9 . Dasselbe gelte für das Militärstrafrecht, dessen Tatbestände ebenfalls durch die Rechtsgutslehre nicht ausreichend gedeutet würden. Auch dort liege der maßgebliche Grund für die Bestrafung i n der Verletzung der besonderen Pflichten des Soldaten 110 . I n einer Zeit der „totalen Mobilmachung" könne dieser Gedanke aber nicht auf einige Sonderbezirke des Strafrechts beschränkt bleiben. Das Strafrecht müsse insgesamt vom Menschenbild des Nationalsozialismus, vom „politischen Soldaten" 1 1 0 , durchdrungen sein. Schaff stein hielt es daher für „selbstverständlich, daß die Rechtsformen und Begriffe des Militärstraf rechts Eingang in das , Allgemeine', bürgerliche' Straf recht finden" 110. Der strafrechtlich relevante Pflichtenkreis des einzelnen sollte sich aus seiner Stellung innerhalb der Gemeinschaft ergeben. Zwei Ebenen wurden unterschieden 111 : Pflichten begründe einmal die Zugehörigkeit
107 Ebd., S. 9; ähnlich E.Wolf, DRWis 1939, S. 177: „ . . . die materiellen Inhalte der Gerechtigkeit i m Raum des deutschen Rechts der Gegenwart sind durch den Nationalsozialismus gegeben. Von seiner Idee her bestimmen sich alle einzelnen Rechtsideale, auch die des Straf rechts." i° 8 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 118, 122, zur Übereinstimmung zwischen dem Pflichtverletzungsgedanken u n d der Deutung des Verbrechens als Verrat oder als Gesinnungsverfall. i° 9 Vgl. Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 120 ff. no Vgl. ebd., S. 130 f. m Vgl. ebd., S. 123 u n d 126 ff.; Festschrift für Gleispach 1936, S. 101.
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
zu engeren konkreten Gemeinschaften wie Familie, Berufsstand, Wehrmacht usw. Z u m anderen bestimme die Volksgemeinschaft als übergreifender Gesichtspunkt das Maß der individuellen Pflichten. Inhalt und Umfang der jeweiligen Pflichten könnten nicht m i t Hilfe allgemeiner Regeln ermittelt werden. Das „innere Gesetz" der Gemeinschaft sei zur Konkretisierung heranzuziehen 112 . Nur scheinbar führte der Pflichtverletzungsgedanke zu einer Subjektivierung der Verbrechensauffassung, indem er die persönliche Stellung des einzelnen in der Gemeinschaft zugrunde legte. Nicht das individuelle Leistungsvermögen, sondern die strengen Anforderungen der völkischen Sittenordnung sollten für A r t und Umfang der Pflichten bestimmend sein. Der soldatische Geist kenne keine Rücksichtnahme auf persönliche Schwächen. Er fordere sogar oft mehr als nur ein durchschnittliches Verhalten, nämlich ein Standhalten auch i n großer Bedrängnis und die Bereitschaft, Opfer für die Gemeinschaft zu bringen 1 1 3 . Schaffstein konzedierte zwar, daß neben der Pflichtverletzung auch noch andere Gesichtspunkte, darunter auch die Bedeutung des Angriffsobjekts, das Unrecht näher bestimmen könnten. Sie hätten i m allgemeinen aber nur untergeordnete Bedeutung und stellten zumeist auch nur einen Ausfluß aus der Pflichtverletzung dar. So spiegele sich i n der Abstufung der Strafandrohungen nach dem Wert des verletzten Gutes lediglich die unterschiedliche Bewertung der i n der Tat zugleich liegenden Pflichtverletzung wider 1 1 4 . b) Das Verbrechen als Verrat Eine Zuspitzung erfuhr der Pflichtverletzungsgedanke durch die Lehre, daß das Verbrechen einen „Verrat" beinhalte. Ziel war es, die Vorstellung der Pflichtverletzung „kraftvoller und volkstümlicher" auszudrücken 115 . Begründer und Hauptvertreter dieser Auffassung war Dahm. Er entwickelte sie aus den Delikten des Hoch- und Landesverrats heraus 116 . I n ihnen sei der Grundtypus des Rechtsbruchs, der Verrat, noch erhalten, auch wenn i h n die Rechtsgutslehre durch ihre Auslegung us v g l . Schaff stein, Festschrift für Gleispach 1936, S. 96 f.; DR Wis S. 48. us Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 139; schrift für Gleispach 1936, S.96; DRWis 1936, S. 46; Dahm, DStR 1934, Boldt, DR 1937, S. 95. h 4 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 132; schrift für Gleispach 1936, S. 99. us H.Mayer, DStR 1938, S. 100 A n m . 20; vgl. auch Schaff stein, Das brechen als Pflichtverletzung, S. 114 f. ne Vgl. ZStaatW 95, S. 283 ff.
1936, FestS.93; FestVer-
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immer weiter zurückgedrängt habe. Diese gehe am Wesen der Delikte vorbei, wenn sie sie auf die Verletzung der inneren Ordnung bzw. der äußeren Sicherheit reduziere; denn das besonders Verwerfliche des Verrats bestehe nicht i m Angriff auf eine äußere Form des Zusammenlebens oder i n der Schädigung von staatlichen Rechtsgütern, sondern i n der Verletzung der Treuepflicht, die jeden Volksgenossen an die Gemeinschaft binde 1 1 7 . Der Verräter offenbare eine gegen die Gemeinschaft gerichtete Gesinnung. Dahm beschränkte den Begriff des Verrats zunächst auf die Delikte, durch deren Begehung nach seiner Ansicht die Beziehung zur Gemeinschaft völlig zerstört w i r d 1 1 8 . Ihnen entsprach in seiner Straftheorie die „Ächtung" als Rechtsfolge 119 . „Verbrechen" nannte er diejenigen k r i m i nellen Handlungen, die gegen die Gemeinschaft gerichtet seien, die den Täter aber nicht als vollständig außerhalb der Gemeinschaft stehend kennzeichneten 120 . Diese Unterscheidung hielt er jedoch nicht durch; vielmehr dehnte er den Verratsgedanken aus: Jedes „echte Verbrechen" berge i n sich das Moment des Verrats 1 2 1 . I m nationalsozialistischen Strafrecht, das Ehre und Treue in den Mittelpunkt strafrechtlichen Denkens rücke, habe der Verrat als „Prototyp" des Verbrechens zu gelten 1 2 2 . Er bestimme die allgemeinen Grundsätze 122 . Auch der Verratsgedanke sollte auf zwei Ebenen Anwendung finden: Grunddelikt sei der Verrat an der Volksgemeinschaft. Von Verrat könne auch bei einer Verletzung von Treuepflichten gegenüber einer engeren Gemeinschaft gesprochen werden 1 2 3 . Daß die Erklärung jedes Verbrechens als Bruch eines Treueverhältnisses die psychische Konstellation des Täters und das Zusammengehörigkeitsgefühl i m Volk verzerrt wiedergab, konnten aber auch die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler nicht völlig übersehen. Schaffstein räumte ein, daß die „Verdichtung der Volksgemeinschaft" noch nicht den erforderlichen Grad erreicht habe 1 2 4 . Um eine „Banalisier u n g " 1 2 5 des Verratsgedankens zu vermeiden, wurde angestrebt, aus der Fülle strafbarer Handlungen die „echten Verratsdelikte" herausVgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Straf recht, S. 17 f. us Vgl. ZStaatW 95, S. 285 f. Ii» Vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. c). 120 vgl. ZStaatW 95, S. 285. 121 Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 14. 122 ZStaatW 95, S. 291. 123 Vgl. ebd., S. 294; auch Siegert, DR 1934, S. 530. 124 Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 115. ΐ2δ Dahm, ZStaatW 95, S. 297.
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zuarbeiten 126 . Zur Durchführung gelangte dieses Vorhaben jedoch nicht. I m Zuge der Ausdehnung der nationalsozialistischen Macht wurde vielmehr der Kreis dieser Delikte noch erweitert. Sogar dem einfachen Diebstahl wurde Treubruchscharakter zuerkannt 1 2 7 . Deutlich zeichnet sich hier eine Übereinstimmung m i t der Straftheorie ab: I m nationalsozialistischen Straf recht sollte die Strafe die Funktion ausüben, das gestörte Verhältnis des Täters zur Gemeinschaft, seine geminderte Ehre, deutlich werden zu lassen. Diese Auffassung setzte das Bestehen einer Volksgemeinschaft voraus; ihr eigentlicher Sinn aber lag darin, durch das Zwangsmittel der Strafe erst an der Herstellung einer solchen Gemeinschaft mitzuwirken 1 2 8 . Sie stellte sich i n den Dienst der nationalsozialistischen Gemeinschaftsideologie, der nur an der unumschränkten politischen Macht gelegen war. Das Gegenstück zur Ehrenstrafe bildete der Verbrechensbegriff, der jedes Verbrechen als Verrat erklärte. c) Das Verbrechen als Ausdruck einer niedrigen Gesinnung Das Merkmal der Gesinnung hatte bereits in denjenigen Verbrechensbegriffen großes Gewicht, die auf die Pflichtverletzung oder den Treubruch abstellten. Darüber hinaus wurde dieser Gedanke als ein besonderer und eigenständiger Aspekt des Verbrechens hervorgehoben. Dahm erinnerte an das „Neidingswerk" des mittelalterlichen Rechts, das die Tat desjenigen erfaßte, der aus „tückischer, unehrlicher und feiger Gesinnung" handelte 1 2 0 . I n der Interpretation des Verbrechens als „Ausdruck der verbrecherischen Gesinnung des Täters" 1 3 0 trat der Gemeinschaftsgedanke etwas zurück. Nicht so sehr die Verletzung der Treuepflicht, sondern die Niedrigkeit der Gesinnung sollte das Wesen des Verbrechens ausmachen 131 . Der Verbrecher wurde nicht mehr als
12 6 Ebd., S. 297; vgl. auch Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 14; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 118. Nationalsozialistischem Strafrechtsdenken w a r daher die Zielsetzung, bloßes Polizeiunrecht aus dem K r i m i n a l s t r a f recht auszuscheiden, durchaus nicht fremd; so aber E. Schmidt, Das neue westdeutsche Wirtschaftsrecht, S. 13 f., u n d Michels, Strafbare Handlungen u n d Zuwiderhandlungen, S. 26 Anm. 66. Vgl. noch Freisler, DStR 1936, S. 199; Nicolai, Rassengesetzliche Rechtslehre, S. 43 f.; insgesamt dazu Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 246. 127 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 103 A n m . 80. 128 vgl. Siegert, DR 1934, S. 528 f., sowie oben 4. Kap. I I I . 4. c).
12» Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 15. 130 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 122. 131 Vgl. Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 15.
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potentielles Glied der Gemeinschaft behandelt. Sein Verhalten wurde als Beweis für seine Andersartigkeit gewertet. Noch deutlicher als i n den anderen materiellen Verbrechenslehren trat i n dieser Auffassung die Bedeutung des neuen Strafrechts als ein Kampfrecht hervor. Der Schleier einer absoluten Rechtfertigung der Strafe und einer idealistisch gefärbten Gemeinschaftsideologie wurde weggezogen. Nachdem der Nationalsozialismus sich eine unumschränkte Machtposition gesichert hatte, traten die Konturen des materiellen Verbrechensbegriffs m i t aller Schärfe hervor. Aus dem Jahre 1936 stammen die Worte Schaffsteins: „Für uns ist . . . Sinn der Strafe und des Strafrechts nicht mehr der Schutz von Individualgütersphären, sondern Reinigung und zugleich Schutz der Volksgemeinschaft durch die Ausscheidung der Entarteten. So liegt nichts näher, als dem Ausdruck einer entarteten Gesinnung unmittelbare Unrechtsbedeutung zuzuerkennen 1 3 2 ." d) Die neue Täterlehre Die Bemühungen der antiliberalen Strafrechtswissenschaftler um Überwindung einer rein formellen Verbrechensauffassung hatten auch eine Lehre vom Täter zum Ergebnis, die dieselbe Funktion erfüllte, wie der materielle Verbrechensbegriff 133 . Da die Tatbestände des Strafgesetzbuches überwiegend auf den äußeren Taterfolg abstellen und täterschaftliche Elemente nur sporadisch und dann attributiv verwenden, sollte die Täterlehre das Strafgesetz ergänzen, konkretisieren, korrigieren und letzten Endes beiseite schieben. Eine eigenständige Täterlehre hatten zuvor Vertreter der modernen Schule entwickelt. Ihre Arbeiten hatten vornehmlich der soziologischen und psychologischen Erforschung des Täter Verhaltens gegolten 134 . Von antiliberaler Seite wurden ihre Versuche entschieden abgelehnt; sie seien Produkte einer individualistischen, naturalistischen und rationalistischen Denkweise 135 . Der Täter werde als isoliertes Wesen betrachtet. Von einem angeblich wertfreien Standpunkt aus werde er m i t naturwissenschaftlichen Methoden bis i n alle Feinheiten analysiert. Die Aufschlüsselung des Täterverhaltens nach naturwissenschaftlichen Gesetzen habe zur Folge, daß nahezu alles entschuldigt werde 1 3 6 . Die Mittel der kriminologischen Forschung versagten jedoch, wenn es darum gehe, den 132 DRWis 1936, S. 46. iss vgl. Schaff stein, DStR 1942, S. 34. 134 v g l . υ. Liszt! Schmidt, Lehrbuch, S. 9 ff. 135 vgl. E. Wolf, RuS H. 87, S . 8 f f . ; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 120 f. 136 vgl. Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 12.
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wesensmäßigen K e r n des Täters zu erschließen, seine Bedeutung und die seiner Tat für die Gemeinschaft 137 . Die neue Täterlehre war von E. Wolf vorbereitet worden 1 3 8 . Sein „personaler" Täterbegriff zielte auf den Täter als Glied der Rechtsgemeinschaft. Von der späteren antiliberalen Täterlehre unterschied er sich noch i n zweifacher Hinsicht: E. Wolf begründete i h n nicht m i t der Volksanschauung, sondern mit modernen philosophischen Strömungen 1 3 9 ; i n ihrer ersten Gestalt enthielt seine Täterlehre noch keine unmittelbaren Folgerungen für die Rechtsanwendung 140 . Die antiliberale Lehre vom Täter ging von der Auffassung aus, daß der Gesetzgeber bei der Formulierung des Tatbestandes ein bestimmtes Täterbild vor Augen gehabt habe, das der i m Volk lebendigen Vorstellung vom Täter entspreche 141 . Er habe sich bemüht, diese Vorstellung begrifflich nachzuzeichnen. Ein solcher Formulierungsversuch müsse jedoch notwendigerweise wegen der beschränkten M i t t e l begrifflicher Wiedergabe unvollkommen bleiben. Die Fixierung durch das Gesetz könne nicht bedeuten, daß die Volksanschauung vom Täter bedeutungslos geworden sei. Sie enthalte ja gerade das konkrete, lebendige Recht, das sich ständig weiterentwickle, während das Gesetz seinem Wesen nach abstrakt und starr sei. Jede Beschäftigung m i t dem Gesetz habe sich daher an dem B i l d des Täter zu orientieren, das i m Volksbewußtsein aufzufinden sei. Es erfasse den Mörder, den Brandstifter, den Dieb als Typ. Die Besinnung auf diesen Tätertyp führe zum richtigen Verständnis des rechtlichen Sinngehalts der gesetzlichen Tatbestände 142 . Ob der Täter einem bestimmten Typ entspreche, könne somit weder durch kriminologische Untersuchungen noch durch scharfe begriffliche Unterscheidungen festgestellt werden. Diese Frage könne nur eine ganzheitliche und konkrete „Wesensschau" beantworten 1 4 3 . Dabei sei zu beachten, daß die Volksanschauung stärker als das verletzte Rechtsgut die Pflichtenstellung des Täters i n der Gemeinschaft 144 , seine Gesinnung, 137
v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 88. 8 V o m Wesen des Täters, RuS H. 87; vgl. oben 4. Kap. I. 2. b). 139 Ebd., S. 12: „Phänomenologischer Personalismus" u n d „Normativismus"; vgl. auch ders., RuS H. 103, S. 27. 140 vgl. Dahm, Festschrift f ü r Siber, 1941, Bd. 1, S. 208. !4i Vgl. Dahm, ZStW 59, S. 143; Schaff stein, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 102 ff. 13
142 vgl. Dahm, ZStW 59, S. 144 f. 143
Vgl. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 88; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 120. 144 Dahm sprach daher v o m „sozialen" Tätertyp (Festschrift für Siber 1941, Bd. 1, S. 210). Weitere Bezeichnungen, die der Abgrenzung v o m k r i m i n o l o gischen Tätertyp dienten, waren: „normativer" (vgl. Dahm, ebd., S. 210) und „genereller" Tätertyp (vgl. Mezger, ZStW 57, S. 680).
I I . Der materielle Verbrechensbegriff
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seine Motive und auch die A r t der Tatausführung i n Betracht ziehe 145 . Bisweilen könne aber auch die äußere Tatseite, der Schaden, den Ausschlag geben 146 . I n Gegensatz zum kriminologischen Täterbegriff richte sich der volkstümliche Tätertyp nicht oder doch nur sehr wenig nach der Häufigkeit der Tatbegehung oder einer kriminellen Veranlagung 1 4 7 . Feste Regeln für die Ermittlung der Typenmäßigkeit gab es nicht 1 4 8 . Es konnte sie nicht geben, weil m i t ihnen ein gewisses Maß an liberaler Rechtssicherheit geblieben wäre. „Einfache und volkstümliche Unterscheidungen" sollten entscheiden 149 . „Das B i l d wechselt von Fall zu Fall 1 5 0 ." Die antiliberale Tätertyplehre war Ausdruck der Bestrebungen i n der Straf rechts Wissenschaft, die persönliche „Inpflichtnahme" des einzelnen i m neuen Staat durch eine Subjektivierung des Straf rechts zu unterstützen. Aus diesem Grunde hatte auch das Eingehen auf die Täterperson seine Grenzen. Das Maß der Rücksichtnahme auf die individuelle Motivationslage gab die „völkische Sittenordnung" 1 5 1 , die allgemeinverbindliche Anforderungen stellte. Daher war die antiliberale Täterlehre eine Lehre vom Tätertyp. Welche Auswirkungen die antiliberale Täterlehre sowie insgesamt die Vorstellungen der antiliberalen Strafrechtswissenschaftler zu einem materiellen Verbrechensbegriff auf die strafrechtliche Theorienbildung hatten, soll i m folgenden untersucht werden. Eine vollständige Darstellung kann allerdings i m Rahmen dieser Arbeit nicht erreicht werden. Sie müßte nach Gliederung und Umfang den Charakter eines Lehrbuchs annehmen. Sie wäre zudem m i t der Gefahr verbunden, daß der Gedankenfaden der Untersuchung verloren ginge. Die erforderliche Eingrenzung orientiert sich an den Schwerpunkten, die die antiliberale Strafrechtswissenschaft selbst setzte: Eine der ersten konkreten Folgerungen, die sie aus der Priorität eines materiellen Verbrechensbegriffs zog, war der Ruf nach Beseitigung des Analogieverbots (III). Zugleich m i t diesem Thema war der gesamte Bereich der Fragen zur Funktion und Handhabung des Gesetzes angesprochen. Diese 145 vgl. Dahm, ZStW 57, S.257; Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 12; V e r brechen u n d Tatbestand, S., 88; Schaff stein, Festschrift für Gleispach 1936, S. 104 f. 146 Vgl. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 88: „Auch die Tat tötet den Mann." 147 vgl. Dahm, ZStW 57, S. 257; ZStW 59, S. 146; Festschrift für Siber 1941, Bd. 1, S. 212. 148 So ausdrücklich Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 89. 149 Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 12. 150 Ders., Verbrechen u n d Tatbestand, S. 88. 151 Schaffstein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 139.
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allgemeinen Probleme fanden noch größere Beachtung, nachdem der nationalsozialistische Gesetzgeber die Hindernisse beseitigt hatte, die einer analogen Anwendung des Strafgesetzes i m Wege standen. Eine Erneuerung der Auslegungsmethode sollte die Anpassung des Strafgesetzbuches von 1871 an die Bedürfnisse des nationalsozialistischen Staates ermöglichen (IV). Liberales Gedankengut glaubte man weiterh i n vor allem i n den herkömmlichen Lehren zur strafrechtlichen Begriffsbildung und zum Verbrechenssystem enthalten. Um eine Neuformulierüng war die antiliberale, nationalsozialistische Strafrechtswissenschaft besonders i n ihrer Spätphase bemüht (V). Neben diesen Schwerpunkten können die Einwirkungen des antiliberalen Denkens auf besondere Probleme des Strafrechts nur an einigen Beispielen kurz angedeutet werden (VI). Der exemplarischen Darstellungsweise w i r d sich auch die Erörterung der Bedeutung des Antiliberalismus für das Gebiet des Strafprozeßrechts bedienen (VII). I I I . Der K a m p f gegen das Analogieverbot
Die antiliberale, nationalsozialistische Strafrechtswissenschaft bekannte sich zu politischen Zielen. Sie drängte auf konkrete Veränderungen i n der praktischen Strafrechtspflege. Erster Gegenstand dieser Bemühungen war das Verbot einer analogen Anwendung von Strafgesetzen, wie es i n § 2 StGB festgelegt und durch A r t . 116 WRV verfassungsrechtlich abgesichert war. Die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler hielten es für unvereinbar m i t ihrer materiellen Verbrechensauf fassu ng. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 unternahmen sie große Anstrengungen, um seine Abschaffung und die Beseitigung der übrigen m i t dem Grundsatz „ n u l l u m crimen, nulla poena sine lege" zusammenhängenden Prinzipien (Tatbestandsbestimmtheit, Gesetzesbindung, Rückwirkungsverbot) durchzusetzen. Sie waren sich dabei der Tatsache bewußt, daß die Bedeutung des Grundsatzes für die unmittelbare Rechtsanwendung ständig abgenommen hatte. Die Methode der wertbeziehenden Auslegung hatte das Verbot der analogen Anwendung eines Strafgesetzes weitgehend ausgehöhlt. Was als Analogie verboten war, konnte durch eine ausdehnende Auslegung erreicht werden 1 5 2 . E. Wolf bezeichnete den Grundsatz daher als eine „bloße Formel, die eine sehr verschiedene inhaltliche Aus-
152 v g l . Dahm, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung 1937, S. 516 f. Das Referat Dahms diente der Rechtfertigung der zu dem Zeitpunkt bereits vorgenommenen Abschaffung des Grundsatzes gegenüber dem Ausland. Es faßte noch einmal die Argumente der antiliberalen Strafrechtswissenschaft zusammen.
I I I . Der K a m p f gegen das Analogieverbot
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füllung verträgt" 1 5 3 , und Dahm vermochte i n i h m „kein Bollwerk gegenüber der richterlichen Ermessensfreiheit" zu erkennen 1 5 4 . Z u der Abwertung hatte auch der Gesetzgeber der Weimarer Republik beigetragen, der die Bindung des Richters an das Gesetz durch zahlreiche Generalklauseln und „Kautschukbestimmungen" 1 5 5 gelockert hatte. E i n markantes Beispiel bildete das Republikschutzgesetz, das weitgehend auf bestimmte Tatbestandsbeschreibungen verzichtete 156 . Auch die Rechtsprechung beteiligte sich an der Zersetzung des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege". I n der Entscheidung der Vereinigten Strafsenate vom 2. Mai 1934 157 trat das Reichsgericht für die Möglichkeit einer gesetzlich nicht vorgesehenen alternativen Tatbestandsfeststellung ein. Es gestand sich selbst zu, bei Gesetzeslücken rechtsschöpferisch tätig zu werden. Angesichts dieser Entwicklung erklärt sich die Vehemenz, m i t der Straf rechtswissenschaftler nach 1933 gegen den Grundsatz vorgingen, vorwiegend aus den Fernwirkungen, die er auf die gesamte Strafrechtspflege ausübt 1 5 8 . Als Programmsatz i n § 2 des StGB enthielt er eine ständige Mahnung an den Gesetzgeber, das Gebot einer eindeutigen Tatbestandsformulierung und das Rückwirkungsverbot zu beachten. Er hielt den Richter dazu an, durch ausschließliche und genaueste Beachtung des Gesetzes die Eingriffe des Staates i n die individuelle Freiheitssphäre zu begrenzen und berechenbar zu machen. Der antiliberale Kampf gegen das Analogieverbot hatte vor allem das Ziel, diesen Einfluß des Grundsatzes auf den Geist der Rechtspflege zu beseitigen. Fernwirkungen löste der Grundsatz vor allem dadurch aus, daß er ein Bestandteil der Verfassung war. Auch nach der Machtübernahme wurde die Weimarer Verfassung nicht insgesamt förmlich aufgehoben. Dennoch vertraten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftlicher die Auffassung, daß A r t . 116 WRV nicht mehr gelte 1 5 9 . Zur Begründung führten sie an, daß die WRV zu weiten Teilen materiell keine Gültigkeit mehr habe. Die „nationale Revolution" habe einen neuen Staatstyp 153 M i t t . I K V N.F. 6. Bd., S. 193. 154 Referat zum Kongreß f ü r Rechtsvergleichung 1937, S. 517. iss H. Mayer, Straf recht des Deutschen Volkes, S. 112. 156 Vgl. § 5 Ziff. 1 u n d § 8 Ziff. 1 des Gesetzes zum Schutze der Republik v o m 21. J u l i 1922 (RGBl I, 585); dazu H.Mayer, Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 112; Naucke, RuS H. 417, S. 10. 157 J W 1934, S. 2049 ff.; mit zustimmender Anmerkung von Schaff stein. 158 vgl. die Andeutungen bei Dahm, Referat zum Kongreß f ü r Rechtsvergleichung 1937, S. 519. 159 vgl. Dahm, DStR 1934, S. 251; Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 12; Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 54. 13 Marxen
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geschaffen, der nichts mehr mit dem bürgerlichen Rechtsstaat der Weimarer Zeit gemein habe. Der Bruch m i t der Vergangenheit sei i m Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 deutlich geworden, das durch eine Beseitigung des liberalen Gewaltenteilungsprinzips den neuen Typ des „Regierungsstaates" auch gesetzlich verankert habe und das die Verfassungslage des neuen deutschen Staates entscheidend präge. Die damit unvereinbaren Bestimmungen der WRV hätten auch ohne formelle Aufhebung ihre Gültigkeit verloren 1 6 0 . Eine solche Unvereinbarkeit bestehe m i t dem Satz „nulla poena sine lege" ; denn i h m liege der Menschentyp des Bourgeois und das B i l d der liberalen Gesellschaft zugrunde, die maßgeblich von der Forderung nach Berechenbarkeit der staatlichen Eingriffe bestimmt seien. Der Nationalsozialismus dagegen erhebe die Volksgemeinschaft zum höchsten Wert. Er habe den Typ des gemeinschaftsgebundenen Menschen geformt, dessen Lebensinhalt der freudig geleistete Dienst am Staat, das w i l l i g dargebrachte Opfer an Freiheit bilde. Der individualistische Rechtssicherheitsbegriff habe daher vollständig seine Bedeutung eingebüßt 161 . Die nationalsozialistische Rechtserneuerung erstrebe eine Vereinigung von Recht und Sitte; sie bemühe sich um die Erfassung des wahrhaft Rechtswidrigen, das nur mit Hilfe der „völkischen Sittenordnung und des inneren Gesetzes der Gemeinschaft" 162 festgestellt werden könne. Der Abbau der absoluten Gesetzesherrschaft sei dafür unumgänglich. Er sei notwendig, wenn der neue materielle Verbrechensbegriff zur Entfaltung kommen solle 1 6 3 . Wenn die Rechtsanwendung insgesamt auf die Erfassung des wahrhaft Strafwürdigen ziele, werde auch die Denkfigur der Analogie überflüssig. Die angeblich analoge Anwendung des Gesetzes bedeute i n Wahrheit die „unmittelbare Sinn- und Wesenserfassung des Verbrechens", wie sie das Gesetz auch ursprünglich verwirklichen sollte 1 6 4 . Zwischen Auslegung und Lückenausfüllung bestehe kein grundsätzlicher Unterschied 165 . Die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler begrüßten, daß durch die Abschaffung des Analogieverbots eine „Gefahrenzone" 166 u m die gesetzlichen Tatbestände gelegt werde. Der Gemeinschaftsfeind, der durch 160 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 54 f.; speziell zu den staatstheoretischen Fragen: Walz, D J Z 1933, Sp. 1335 ff. u n d oben 3. Kap. I I . 3. 161 Vgl. Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 52, 67; Dahm, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung 1937, S. 520; Schaffstein, DR 1934, S. 351. 162 Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14. 163 vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 22. 164 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 103. 165 Vgl. ebd., S. 103; ZStW 57, S.263; Schaffstein, J W 34, S. 2051. 166 Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 68.
I I I . Der K a m p f gegen das Analogieverbot
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sittlich verwerfliches, aber strafrechtlich vielleicht nicht ohne weiteres faßbares Handeln gegen die Gemeinschaftsinteressen verstoße, werde zu Recht i n seiner Bewegungsfreiheit eingeengt 167 . Das m i t dem Kampf gegen das Analogieverbot angestrebte kriminalpolitische Ziel wurde auch i n der Formulierung Schaffsteins deutlich, die Aufhebung des Verbots sei das „notwendige Gegenstück" zu den übergesetzlichen Unrechtsausschließungsgründen 168 . Ziel der antiliberalen Angriffe gegen den Grundsatz war ursprünglich, i h n ganz zu beseitigen. Eine bloße „Auflockerung" des Satzes hielt Dahm 1934 für unzureichend 169 . M i t dem Wegfall des liberalen Rechtsstaates habe er seine Grundlage verloren und müsse völlig entfallen. C. Schmitt wollte den Satz „nulla poena sine lege" durch die „Gerechtigkeitsformel ,nullum crimen sine poena' " ersetzen 170 . Die radikale Lösung konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Nationalsozialistische Bedürfnisse standen einer völligen Auflösung der Gesetzesbindung entgegen. Soweit bereits Gesetze des nationalsozialistischen Gesetzgebers vorlagen, mußte ihre unbedingte Durchsetzung gewährleistet sein. Gegen die Schmittsche Formel wurde eingewandt, sie sei mit dem Führerprinzip unvereinbar 1 7 1 . Aus der Identität von Gesetzgeber und Führer folge, daß das Gesetz als Führerbefehl für den Richter verbindlich sei 1 7 2 . Eine Kompromißformel i n Form einer Auflockerung der gesetzlichen Bindung enthielt der Reformvorschlag des preußischen Justizministers 173 , der mit nur geringen Änderungen von der amtlichen Strafrechtskommission übernommen wurde: „Ist die Tat nicht ausdrücklich für strafbar erklärt, aber eine ähnliche Tat in einem Gesetz m i t Strafe bedroht, so ist dieses Gesetz anzuwenden, wenn der i h m zugrundeliegende Rechtsgedanke und die gesunde Volksanschauung Bestrafung fordern 1 7 4 ." Die Gesetzesnovelle vom 28. 6. 1935 175 stimmte i m wesentlichen damit überein. lß 7 Vgl. ebd., S. 68; Dahm, Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung 1937, S. 519; Freister, DStR 1935, S. 13 f.; Nicolai, DR 1933, S. 6. 168 ZStW 55, S. 22; vgl. auch DStR 1934, S. 352. 169 DStR 1934, S. 92. 170 J W 1934, S. 714; vgl. auch Bung, J W 1934, S. 1108. 171 Vgl. Schaff stein, ZStW 54, S. 262; DR 1934, S.352; Dahm, DStR 1934, S. 251 f. 172 Vgl. unten 5. Kap. I V . 6. 173 Vgl. Kerrl, Nationalsozialistisches Strafrecht, S. 127; zustimmend: Schaffstein, ZStW 53, S. 607 f.; ZStW 55, S.23; Siegert, Grundzüge, S. 22. 174 K . Schäfer, N u l l u m crimen sine lege, nulla poena sine lege, S. 132. 175 R G B l I, 839. Eine teilweise Vorwegnahme bedeutete das Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe v o m 29. 3.1933 (sog. „ L e x van der Lübbe"), das das Rückwirkungsverbot durchbrach (RGBl I, S. 151).
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Einigen Strafrechtlern ging die Neufassung von § 2 StGB, die nur die Gesetzesanalogie gestattete, nicht weit genug. M i t dem Strafrechtsausschuß der Akademie für Deutsches Recht forderten sie, daß auch die Rechtsanalogie zuzulassen sei 1 7 6 . Die Frage des Analogieverbots bildet immer nur einen Ausschnitt aus einem viel größeren Problemkreis: M i t ihr ist zugleich die allgemeine Frage nach der Bedeutung des Gesetzes und der dieser Bedeutung angemessenen Auslegungsmethode gestellt. Schaffstein nannte daher § 2 StGB a. F. „das Feldzeichen des Gegners" 177 . Nach seiner Eroberung sei der Kampf noch keineswegs beendet. I V . Die Bestrebungen zur Erneuerung der strafrechtlichen Auslegungsmethode Die antiliberale Straf rechts Wissenschaft nach 1933 entwickelte ihre Auslegungsmethode aus der Antithese zu voraufgegangenen Methoden. Was die Diskussion u m den materiellen Verbrechensbegriff allgemein zum Inhalt hatte, wurde bei der Erörterung der Auslegungsmethode wieder aufgenommen und vertieft: Der Gegensatz zum Denken i n Rechtsgütern und Interessen. Der Neigung der antiliberalen Strafrechtswissenschaft, undifferenzierte Betrachtungen anzustellen und pauschale Urteile zu fällen, waren auf dem Gebiet der strafrechtlichen Auslegungsmethode Grenzen gesetzt. Unübersehbar hatte der Gedanke, das Gesetz nach dem geschützten Rechtsgut auszulegen, bedeutende Veränderungen erfahren, die vom substanzerfüllten Rechtsgutsbegriff zur teleologischen Methode führten. Die antiliberale K r i t i k konnte auch an dem Einfluß der zivilrechtlichen Interessenjurisprudenz auf das Strafrecht nicht achtlos vorübergehen. 1. Die entschiedene Gegnerschaft zur teleologischen Methode
Energisch und bedingungslos wurde der Kampf gegen die Auslegungsmethode geführt, die eine verfeinerte Form der Rechtsgutstheorie zugrundelegte. Sie hatte sich i n einer intensiven Diskussion der zwanziger Jahre über Fragen der Gesetzesauslegung herausgebildet. I n der Schrift
176 v g l . Freisler, DStR 1935, S. I f f . ; Krug, Z A k D R 1935, S. 99; Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 12; DStR 1934, S. 252. I m Ausland äußerte Dahm sich anders (vgl. Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung 1937, S. 522), vermutlich u m das ohnehin große M i ß trauen gegenüber der Rechtsentwicklung i n Deutschland nicht noch zu bestärken. 177 DR 1934, S. 350.
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode
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Schwinges „Teleologische Begriffsbildung i m Strafrecht" (1930), die die Ergebnisse zusammenfaßte, fand sie ihren klarsten Ausdruck 1 7 8 . Der Zusammenhang m i t der geisteswissenschaftlichen Methode des Neukantianismus wurde deutlich herausgestellt. Die teleologische Methode verfuhr individualisierend: Zum Bezugspunkt der Auslegung wurde der Zweck der jeweiligen gesetzlichen Bestimmung genommen, womit nicht ein substantielles Schutzobjekt gemeint war, sondern die Gesamtheit der für die Kodifizierung maßgeblichen Wertgesichtspunkte. Der substanzerfüllte Rechtsgutsbegriff wurde zum methodischen erweitert. Die Anwendung des Gesetzes und die dabei erforderliche Auslegung erfolgte i m Wege einer Bewertung des Lebenssachverhalts nach dem so verstandenen Gesetzeszweck. Gegen die Verknüpfung der teleologischen Methode m i t dem Neukantianismus richtete vor allem Welzel heftige Angriffe 1 7 9 . Die neukantianische Wertphilosophie verstehe die Welt als chaotisches, amorphes Material, i n das eine Ordnung erst durch das wertbeziehende Verfahren juristischen Denkens hineingetragen werde. Typisch für diese Lehre sei der „überaus theoretische, abstrakt-begriffliche Charakter" und der Abstand von der „unmittelbaren Lebenswirklichkeit" 1 8 0 . Nur i m Ziel unterscheide sich das Rechtsguts denken der teleologischen Methode von der Begriffsjurisprudenz; die Verbindung der einzelnen Tatbestandsmerkmale mit dem Gesetzeszweck werde durch abstrakte Begriffe hergestellt 181 . Welzel und Dahm vertraten die Auffassung, daß das völkische Leben von einer werthaften Ordnung durchdrungen sei, die es nur nachzuempfinden gelte 1 8 2 . Die Auslegung des Gesetzes müsse lebensnah die Ordnung der konkreten Gemeinschaft widerspiegeln. Sie habe so zu erfolgen, „wie es das innere Gesetz der Gemeinschaft verlangt" 1 8 3 . Die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler vermochten i m methodischen Rechtsgutsbegriff keinen wissenschaftlichen Fortschritt zu erkennen 1 8 4 . Diese Theorie beinhalte nicht mehr als die „triviale Fest178
Vgl. auch ders., Methodenstreit. Auch die Schriften von Grünhut verschaffen einen guten Einblick i n die Entwicklung: Begriffsbildung u n d Rechtsanwendung i m Strafrecht (RuS H. 41; 1926); Methodische Grundlagen der heutigen Strafrechtswissenschaft (Festgabe f ü r F r a n k 1930, Bd. 1, S. 1 ff.); Strafrechtswissenschaft u n d Strafrechtspraxis (1932). i™ Vgl. Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 69 ff. 180 Ebd., S. 69. « ι Vgl. auch Krüger, Z S t W 54, S. 642 f. 18« Vgl. oben 3. Kap. I I I . 3. 183 Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 17. 184 v g l . Dahm, ZStW 57, S. 233; auch Schaff stein, Tel. Begriffsbildung, S. 15 f.; DStR 1937, S. 347; Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 138.
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Stellung" 185 , daß das Gesetz nach seinem Zweck auszulegen sei; eine Auslegung nach dem Zweck habe aber bereits von Ihering gefordert 1 8 6 . M i t der ausschließlichen Berücksichtigung zweckbezogener Gesichtspunkte werde zudem das Blickfeld unzulässig verengt. Die Frage nach den Schranken der Zweckauslegung werde nicht gestellt 1 8 7 . Das Strafrecht werde von allen anderen Gesichtspunkten abgeschirmt. Die individualisierende teleologische Methode berge die Gefahr i n sich, daß allein der besondere Zweck der jeweiligen gesetzlichen Bestimmung die Auslegung beherrsche. Dadurch blieben die „formal-teleologischen" Gesichtspunkte 188 , allgemeine Rechtsprinzipien wie Rechtssicherheit, Praktikabilität, Gerechtigkeit, unberücksichtigt 189 . Da die Rechtsgutstheorie auf die Erhaltung und den Schutz eines bestimmten Zustandes abziele, werde sie auch nicht den mannigfaltigen Wertbeziehungen gerecht, aus denen der gesetzliche Tatbestand hervorgegangen sei. Außer Betracht bleibe, daß dem geschützten Interesse „Gegeninteressen" gegenüberstünden, deren allgemeinstes das der menschlichen Betätigungsfreiheit sei 1 9 0 . Daß sie nicht unbeachtlich sein könnten, ergebe sich unmittelbar aus den gesetzlichen Tatbeständen: Aus den subjektiven Elementen, wie ζ. B. Bereicherungsabsicht, erpresserische Absicht, oder aus der Beschränkung auf eine bestimmte Begehungsart sei zu entnehmen, daß es nicht allein u m den Schutz von Rechtsgütern gehe 191 . Die Ausdehnung des ursprünglich konkreten Rechtsgutsbegriffs habe zu einer „Vergeistigung und Verflüchtigung" seines Inhalts geführt 1 9 2 . Was unter „Zweck" zu verstehen sei, könne nicht mehr klar angegeben werden. Indem der Rechtsgutsbegriff zur Lösung aller noch so verschiedenartiger Auslegungsprobleme bemüht werde 1 9 3 , mute man ihm zuviel zu. Das Ergebnis sei ein Übermaß an Abstraktion. «s Schaffstein, DStR 1937, S. 347. 186 Vgl. Dahm, ZStW 57, S. 233. 187 Vgl. ebd., S. 233. 188 Bezeichnung von Hegler, ZStW 36, S. 20 Anm. 4. 189 v g l . Schaffstein, Tel. Begriffsbildung, S. 17. 190 Vgl. ebd., S. 10, 15; Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 73; Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 57 f., u n d schon früher: Dahm, MschrKrimPsych 1931, S. 766. Dieses Argument bedeutete nicht ein Eintreten für die menschliche Betätigungsfreiheit, sondern hatte allein taktische Bedeutung. Insofern w i r d es von Amelung, Rechtsgüterschutz u n d Schutz der Gesellschaft, S. 10 Anm. 43, überschätzt. 191 Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 73; H.Mayer, DStR 1938, S. 86 ff. 192 Schaff stein, DStR 1935, S. 100; vgl. auch DStR 1937, S. 347. 193 Vgl. H. Mayer, DStR 1938, S. 88.
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode
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Der Ubergang von einem materiell bestimmten Rechtsgutsbegriff zu einem methodischen Prinzip habe an dem Einfluß liberalen Denkens i n der Auslegungsmethode nichts geändert. Das wichtigste Prinzip liberaler Rechtsanwendung, das der Gesetzesbestimmtheit, sei von der teleologischen Methode nicht angetastet worden 1 9 4 . Als Beweis diente Schwinges Formulierung, daß der „mögliche Wortlaut" die Grenze der Auslegung bilde 1 9 5 . Hauptsächlich zwei Beispiele trugen die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler vor, um die praktische Unbrauchbarkeit der Rechtsgutstheorie nachzuweisen: Sie müsse notwendigerweise zu dem Ergebnis führen, daß nicht wegen vollendeten Meineids bestraft werden könne, wenn trotz des Vorsatzes, falsch auszusagen, eine objektiv richtige Aussage beschworen werde. Eine Beeinträchtigung der Rechtspflege liege ja nicht vor und das irrationale Wesen des Eides, das den eigentlichen Grund für die Strafe bilde, sei mit Zweckgesichtspunkten nicht zu fassen 196 Ein zweites häufig angeführtes Beispiel betraf die Frage, ob ein Ausländer in gleichem Maße wie ein Deutscher wegen Landesverrats zu bestrafen sei 1 9 7 . Aus der Gleichartigkeit des Erfolges müsse die Rechtsgutstheorie die strafrechtliche Gleichbehandlung folgern. Sie unterschlage dabei die Bindung des Deutschen an die Volksgemeinschaft, die das Wesen des Landesverrats als „Treubruch" erscheinen lasse. Demgegenüber stelle sich die Tat des Ausländers als etwas völlig anderes dar: Er verletze das Gastrecht, das das deutsche Volk i h m gewähre. Das abschließende Urteil über den methodischen Rechtsgutsbegriff lautete: Er ist „überflüssig und schädlich" 198 . 2. Bedenken gegen die lnteressenjurisprudenz i m Strafrecht 199
Die Interessenjurisprudenz 200 betrachtete das Gesetz als „Kraftdiagonale ringender Faktoren" 2 0 1 , d. h. als die Entscheidung eines 194 v g l . Krüger, ZStW 54, S. 643. 195 Teleologische Begriffsbildung, S. 48. 196 Vgl. Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 128; DStR 1937, S. 343; Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 16 f.; Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 52. 197 Vgl. Dahm, ZStW 57, S. 235 Anm. 27 a; Verbrechen u n d Tatbestand, S. 92; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 121; auch H. Mayer, DStR 1938, S. 89 f.; Gallas, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 52. 198 Dahm, ZStW 57, S. 234; vgl. auch Schaff stein, Tel. Begriffsbildung, S. 15. !99 Eine allgemein gehaltene Darstellung findet sich bei Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 270 ff. 200 Einen Einblick verschafft die Neuauflage wichtiger Schriften Hecks i n : Studien u n d Texte zur Theorie u n d Methodologie des Rechts, Bd. 2, soi Ebd., S. 155.
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Interessenkonflikts, wobei bestimmte Interessen den Vorrang vor anderen erhalten. Sie forderte eine Gesetzesanwendung unter Beachtung der generellen Interessenentscheidung des Gesetzgebers. Der konkrete Interessenkonflikt sei i m Wege vergleichender Bewertung zu lösen: Die Entscheidung des Einzelfalles habe die für das Gesetz kausalen Interessen zu beachten und sie i n einem Maße zu berücksichtigen, das der generellen Lösung des Gesetzgebers entspreche. Die Interessenjurisprudenz war für das Zivilrecht entwickelt worden. Ihr führender Vertreter, Heck, war der Ansicht, daß ihr auch i m Straf recht eigenständige Bedeutung zukomme 2 0 2 . Dieser Auffassung schlossen sich einige antiliberale Strafrechtswissenschaftler an, die die Interessenjurisprudenz neben dem methodischen Rechtsgutsbegriff einer gesonderten K r i t i k unterzogen 203 . Ihrer Meinung nach kam der Denkansatz der Interessenjurisprudenz bei den Vertretern der teleologischen Methode nicht zum Tragen, weil diese die ratio legis ausschließlich in der Verfolgung nur eines Zweckes, i m Schutz eines bestimmten Objekts sähen 204 . I n vielen Punkten bewegten sich die Einwände gegen die Interessenjurisprudenz aber auf derselben Linie wie die K r i t i k am methodischen Rechtsgutsbegriff: Sie enthalte sich einer Stellungnahme zu den obersten Rechtswerten. Sie stelle lediglich ein rein formelles Verfahren für die Rechtsanwendung zur Verfügung und sei nicht i n der Lage, aus sich selbst heraus den Maßstab für die Bewertung der verschiedenen Interessen zu entwickeln 2 0 5 . Indem sie i n positivistischer Manier die Entscheidung des Interessenkonflikts durch den Gesetzgeber für maßgeblich erkläre, bewege sie sich i n den Gedankenbahnen liberal-rechtsstaatlicher Gesetzesanwendung 206 . Sie stelle allein auf die Interessenlage, also auf Zweckgesichtspunkte ab und vernachlässige die irrationalen Elemente des Rechts. Sie bilde das „methodische Gegenstück" zu der Auffassung, die das Wesen der Rechtswidrigkeit i n der Sozialschädlichkeit der Tat erblicke 207 . Die besondere K r i t i k der antiliberalen Strafrechtswissenschaft an der Interessen jurisprudenz richtete sich gegen deren Denkmodell. Es wider202
Vgl. Heck, Begriffsbildung und Interessenturisprudenz, S. 48 f. °3 v g l . Dahm, ZStW 57, S. 232 ff.; Gallas, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 50 ff. ; Krüger, ZStW 54, S. 641 f. 204 v g l . Dahm, ZStW 57, S.233f.; MSchrKrimPsych 1931, S .766; Gallas, Festschrift für Gleispach 1936, S. 57 f.; Schaff stein, Tel. Begriffsbildung, S. 10, 15. 205 vgl. Krüger, ZStW 54, S. 641; Gallas, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 64; auch Engisch, MSchrKrimPsych 1934, S. 71; Larenz, Über Gegenstand und Methode, S. 37 f. 206 vgl. Krüger, ZStW 54, S. 642. 207 Dahm, ZStW 57, S. 244. 2
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spreche i n mehrfacher Hinsicht nationalsozialistischem, gemeinschaftsbezogenem Rechtsdenken: Die Interessenturisprudenz bediene sich einer schrittweisen Methode. Zunächst stelle sie die beteiligten Interessen fest. Anschließend unterziehe sie diese einer Wertung m i t Hilfe der vom Gesetzgeber vorgezeichneten Entscheidung. Dabei übergehe sie die „Vorarbeit" 2 0 8 des Gemeinschaftslebens und der völkischen Sittenordnung, in denen der Rechtsstoff weitgehend vorgeformt sei. Daher erfasse sie die Erscheinungen des Lebens nur unzulänglich und presse sie i n ein künstliches Schema 209 . Es werde übersehen, daß m i t der Bindung des einzelnen an die Gemeinschaft und der unbedingten Überlegenheit der Gemeinschaft der Gedanke des Interessenkonflikts überwunden sei. Die Interessenjurisprudenz gehe am „wirklichen Leben" vorbei 2 1 0 . Sie vermittle zudem ein falsches B i l d von der Arbeitsweise des Richters: Diese bestehe nicht i n einer rationalistischen Zergliederung des Sachverhalts nach den beteiligten Interessen. Vielmehr lege der Richter seiner Entscheidung eine bestimmte ganzheitliche Vorstellung von der betroffenen konkreten Ordnung und deren Anforderungen an den einzelnen zugrunde und bemühe sich, diesem „gesunden Vorurteil" gemäß das Gesetz auszulegen 211 . Das gewichtigste Bedenken der antiliberalen Strafrechtswissenschaft war unmittelbar politischer Natur. Dahm nannte es das „psychologisch Bedenkliche" der Konfliktschau 212 . Man befürchtete eine Behinderung der nationalsozialistischen Rechtserneuerung. Die Beachtung auch von Gegeninteressen könne den Richter bei der Anwendung nationalsozialistischer Gesetze veranlassen, „den Grundgedanken abzuschwächen und den entgegenstehenden Erwägungen auch dort Raum zu lassen, wo dies nicht angebracht wäre" 2 1 3 . Dahm führte i n diesem Zusammenhang die Nürnberger Gesetze und das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses an 2 1 4 . I m nationalsozialistischen Straf recht könne die lnteressenjurisprudenz daher nur eine untergeordnete Rolle spielen. Sie sei wenig geeignet, „gerade die tief erliegenden Probleme einer Lösung nahezubringen" 215 . 208 Ebd., S. 249. 209 v g l . ebd., S. 240, 248 f. 210 Ebd., S. 248; vgl. auch Larenz, Über Gegenstand u n d Methode, S. 39 f. 211 Dahm, ZStW 57, S. 248. Dahm legte nicht etwa eine empirische Untersuchung des Richterverhaltens zugrunde. Bezeichnend f ü r die unwissenschaftliche Argumentationsweise w a r die häufige Verwendung der Floskel „doch w o h l " u n d des Verbs „glauben" sowie ähnlicher Verben („glaube i c h . . . ; glauben w i r . . . ; können w i r uns nicht recht vorstellen ...). 212 ZStW 57, S. 243. 213 Ebd., S. 243. 214 Ebd., S. 242. 215 Ebd., S. 250.
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs 3. Die Funktion des Strafgesetzes aus antiliberaler Sicht
I n der Ablehnung herkömmlicher Auslegungsmethoden hielt die antiliberale Strafrechtswissenschaft eine einheitliche und klare Linie ein. Anders verhielt es sich mit ihrer eigenen Lehre zur Auslegung, die deutlich ambivalent w a r 2 1 6 . Zu Unterscheidungen sahen sich die A n t i liberalen genötigt, weil die anzuwendenden Gesetze Unterschiede aufwiesen: Auch nach der „nationalen Revolution" behielt das Strafgesetzbuch von 1871 Gültigkeit. Der Versuch einer Gesamtreform scheiterte trotz großer Anstrengungen. Der nationalsozialistische Gesetzgeber zeigte sich am Entwurf der amtlichen Kommission uninteressiert 217 . Er führte aber einige Teilreformen innerhalb des StGB durch. Noch größere A k t i v i t ä t entfaltete er auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts, insbesondere des Kriegsstrafrechts 218 . Somit standen sich zwei unterschiedliche Gesetzestypen gegenüber, das vornationalsozialistische und das nationalsozialistische Gesetz. Um die vornationalsozialistischen Gesetze denselben Zielen unterwerfen zu können, denen die nationalsozialistische Gesetzgebung gehorchte, propagierte die antiliberale, nationalsozialistische Strafrechtswissenschaft für sie eine Auslegungsmethode, i n der ihre materielle Verbrechensauffassung sich voll entfalten konnte. Den Ansatzpunkt dafür schuf sie, indem sie die Funktion der Gesetze neu definierte: Sie sollten keineswegs wie i m liberalen Staat die Staatsgewalt vom Freiheitsbereich des Bürgers abgrenzen 219 . Auch könnten sie keine allumfassende und endgültige Beschreibung des Verbrechens geben. Jedes Verbrechen enthalte in sich begrifflich nicht faßbare Bestandteile 220 . Das Gesetz könne daher nur als ein notwendigerweise lückenhafter Ver216
Ähnliche Feststellungen wie diese und die folgenden machte schon 1937 Neumann i n : „Der Funktionswandel des Gesetzes i m Recht der bürgerlichen Gesellschaft" (vgl. vor allem S. 43 ff.). Seine allgemeinen rechtstheoretischen Aussagen betrafen die Bedeutung der Generalklauseln i m vornationalsozialistischen u n d nationalsozialistischen Recht. Vgl. auch Böhmer, Grundlagen I I , 1, S. 215 über den „antinomischen" Charakter der nationalsozialistischen Rechtsauffassung; ferner Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 176 ff. 217 Zwei Gründe dürften maßgebend sein: Die Reformarbeiten basierten auf dem E n t w u r f 1927 u n d enthielten i n Restbeständen liberales Gedankengut. Durch die Ablehnung einer Neukodifikation w o l l t e der nationalsozialistische Gesetzgeber die Möglichkeit einer Selbstbindung ausschließen. Vgl. E.Schmidt, Strafrechtspflege, S. 450 f. 218 v g l . Peters, Die Umgestaltung des Strafgesetzes 1933 - 1945. 219 Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14; Verbrechen u n d Tatbestand, S. 107; DStR 1934, S. 89; Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 52 f. 220 Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14, und oben 3. Kap. I I I . 2. u n d 5. Kap. I I . 3. d).
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such einer Wiedergabe der im Volk lebendigen Vorstellung vom Verbrechen, der „völkischen N o r m " 2 2 1 , verstanden werden. Es habe lediglich die Funktion, der Auslegung als „Richtlinie" zu dienen, m i t deren Hilfe der Richter die Volksanschauung zur Geltung bringe 2 2 2 . Daneben gab es aber auch die Kennzeichnung des Gesetzes als „Führerbefehl" 2 2 3 . Sie war ganz offensichtlich auf die Gesetze des nationalsozialistischen Gesetzgebers gemünzt. Die für diese Gesetze erhobene Forderung nach engerer Bindung des Richters bei der Auslegung ging bis zum Ruf nach „absolutem Gehorsam" 224 , und Schaffstein sah einen neuen Formalismus heraufziehen 225 . Vorläufig läßt sich zusammenfassen: Die Auslegungsmethode der antiliberalen, nationalsozialistischen Strafrechtswissenschaft war nicht einheitlich. Sie schwankte zwischen einer Lösung vom Gesetz und strenger gesetzlicher Bindung je nach dem Inhalt des auszulegenden Gesetzes. Die folgende Darstellung w i r d die beiden Pole näher beleuchten. 4. Die ganzheitliche und wesenhafte Gesetzesauslegung
Nach dem politischen Umbruch des Jahres 1933 trat die nationalsozialistische Strafrechtswissenschaft entschieden für eine freiere Handhabung des Gesetzes ein; nur so konnte das weiterhin geltende Strafgesetzbuch für die Zwecke der nationalsozialistischen Machteroberung eingesetzt werden. Durch eine „materielle" Auslegungsmethode wurde der Unterschied zwischen lex lata und lex ferenda beseitigt 2 2 6 . Die neuen politischen Ideen konnten ohne eine Gesetzesänderung i n das bestehende Strafgesetz eingeführt werden. Da auch später trotz einiger Neukodifikationen die vornationalsozialistischen Strafgesetze zur Hauptsache den Beschäftigungsgegenstand der Strafrechtswissenschaft bildeten, war die Auslegungsmethode überwiegend vom Gedanken einer Lösung der gesetzlichen Bindung geprägt.
221 Ebd., S. 15. 222 Ebd., S. 14; vgl. auch Dahm, DStR 1934, S.89; Mezger, ZStW 55, S.4; Boldt, DR 1937, S. 97, verwandte den Ausdruck „ L e i t b i l d " . 223 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 101; Herschel, DJZ 1933, Sp. 1009. 224 Herschel, DJZ 1933, Sp. 1009. 225 v g l . Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 24. Er schwächte jedoch anschließend ab: „Eine Perspektive, die freilich niemals W i r k l i c h k e i t werden kann, w e i l u n d solange das nationalsozialistische Bekenntnis zu einem organischen Rechts- und Staatsbegriff die rechtswissenschaftliche Entwicklung nach der entgegengesetzten Seite drängt." 226 v g l . Schaff stein, Tel. Begriffsbildung, S. 7; Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 20.
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5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Das Wort „Methode" sollte nicht zu der Vorstellung verleiten, daß es sich um ein durchgegliedertes System von Denkschritten handelte. Eine solchermaßen rationale Gedankenführung lehnten die Antiliberalen als unzureichend ab; sie erfasse nie das Wesen der Verbrechenstatbestände, das vorwiegend i m irrationalen Bereich liege. M i t M i t t e l n der Logik sei der Kern des Verbrechens nicht zu fassen 227 . Der eigentliche Gehalt der Delikte sei nur i m Wege ganzheitlicher Betrachtung „emotionalwertfühlend" zu „verstehen" 2 2 8 . Er sei nur „durch Erforschung seines wirklichen Seins und durch die Einsicht i n die Unordnung zu begreifen, die das Verbrechen enthält" 2 2 9 . Das „Wesen" des Delikts rückte so sehr i n den Mittelpunkt, daß der gesetzliche Tatbestand aus dem Blickfeld zu geraten drohte. Von Dahm stammte die Formulierung, daß „Dieb nicht jeder ist, der ,eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen', sondern nur, wer seinem Wesen nach Dieb ist". Weiter hieß es bei ihm: „Was Diebstahl ist, sagt ja i m Grunde nicht das Gesetz, sondern das ergibt sich aus dem Wesen der Sache 230 ." Diese Sätze konnten so verstanden werden, daß von den gesetzlichen Voraussetzungen ganz abgesehen werden könne. Das lag vielleicht nicht in der Absicht des Autors 2 3 1 ; die wesenhafte Betrachtungsweise barg jedoch unverkennbar diese Tendenz i n sich. Worin bestand jetzt aber das „Wesen" der Delikte? Es war nach antiliberaler Auffassung vor allem i n der volkstümlichen Anschauung von den Verbrechen zu finden. Die Gesetze seien keine „Kunstprodukte des Gesetzgebers", sondern „geschichtlich gewordene, i m Volksbewußtsein lebendige, für das Gemeinschaftsleben i n bestimmter Weise bedeutsame Vorstellungen" 2 3 2 . M i t der Kodifizierung höre die Funktion der Volksanschauung als Rechtsquelle nicht auf; die Auslegung habe sich maßgeblich nach der i m Volk herrschenden Auffassung vom Mord, Diebstahl oder Betrug zu richten. Dahm meinte, daß der für die Ermittlung des subjektiven Unrechtsbewußtseins entwickelte Gesichtspunkt der „Parallelwertung i n der Laiensphäre" 2 3 3 darüber hinaus auch bei der Bestimmung der einzelnen Deliktstypen heranzuziehen sei 2 3 4 . 22 7 Vgl. Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 89. 228 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 75. 229 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 89. 230 Ebd., S. 102 . 231 Vgl. die restriktive Intention der Tätertypenlehre Dahms, unten 5. Kap. IV. 5. sowie Schröder, Georg D a h m als Strafrechtler, S. 18 f. 232 Dahm, ZStW 57, S. 252. 233 Mezger, Strafrecht, 2. Aufl., S. 333. 234 ZStW 57, S. 255.
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Aufschlüsse über das Wesen des Verbrechens glaubten die antiliberalen Strafrechtler aus dem volkstümlichen Sprachgebrauch gewinnen zu können. Er sei organisch-geschichtlich gewachsen und erlaube häufig bessere Einblicke als die abstrakten, gekünstelten Begriffe der Fachsprache 235 . Ζ. B. leitete Dahm aus dem Sprachgebrauch des Volkes ab: „Wo der Täter mit einem Hauptwort benannt werden kann — Verräter, Mörder, Betrüger, Erpresser —, dort liegt das Wesen i n der Regel i m ,Willen'. Wo das nicht der Fall ist — Notzucht, Körperverletzung, Unterschlagung usw. —, dort t u t man meistens gut, den Erfolg und den äußeren Vorgang stärker hervortreten zu lassen 236 ." Nur scheinbar ordnete sich die antiliberale Auslegungsmethode der Volksanschauung und dem volkstümlichen Sprachgebrauch unter. Eine bedingungslose Akzeptierung hätte i m Widerspruch zu den politischen Intentionen der antiliberalen Strafrechtler gestanden. M i t Volksanschauung war daher nicht die Auffassung gemeint, die i m Volk tatsächlich vorherrscht und die empirisch feststellbar ist 2 3 7 . Das macht die Ergänzung durch das A t t r i b u t „gesund" deutlich. Von einem außerhalb der Volksanschauung befindlichen Standpunkt wurde festgelegt, welche i m Volk vertretene Ansicht als „gesunde Volksanschauung" die Auslegung bestimmen sollte. Das von den Antiliberalen so hart attackierte „Trennungsdenken", die Unterscheidung von Wert und Wirklichkeit, zog an dieser Stelle auch i n ihr Auslegungsverfahren ein. Die Auffassung, daß das völkische Sein i n sich werthaft sei und nicht von außen durch die Bezugnahme auf höhere Werte geordnet werden müsse 238 , verschleierte nur den wahren Tatbestand: Der Nationalsozialismus bestimmte, was als völkisch wertvoll zu gelten hatte, und dem ordnete die antiliberale Strafrechtswissenschaft ihre Auslegung unter: „Als gesund kann . . . nur die Rechtsanschauung gelten, die der deutschen und nationalsozialistischen Rechtsidee entspricht 2 3 9 ." — „Jede Auslegung muß eine Auslegung i m nationalsozialistischen Sinne sein 2 4 0 ." 235 Vgl. Dohm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 89, 106 f.; ZStW 57, 275; Krüger, ZStW 55, S. 123; auch H.Mayer, DStR 1938, S. 93. H.Mayer wandte sich aber gegen eine unkritische Übernahme des herrschenden Sprachgebrauchs. U m eine „praktisch ausreichende Bestimmtheit" zu erreichen, sei es erforderlich, den Sprachgebrauch anhand der überlieferten Rechtspraxis kritisch zu überprüfen (Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 210). 236 Verbrechen u n d Tatbestand, S. 89. 237 v g l . Dahm, DStR 1934, S. 91; ZStW 57, S. 255; vgl. auch oben 3. Kap. I I I . 2. und 4. 238 Vgl. oben 3. Kap. I I I . 3. 239 Dahm, DStR 1934, S. 91; vgl. auch S.90: „Zweifellos hat der Richter i m neuen Staat die Werturteile zu fällen, die der nationalsozialistischen Rechtsanschauung u n d dem W i l l e n der politischen F ü h r u n g entsprechen." 240 C.Schmitt, J W 1934, S.717; vgl. auch Mezger, ZStW 55, S. 2: „Nicht der historisch erforschbare W i l l e eines i n der Vergangenheit tätig gewordenen
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Aus der Auslegung unter Zugrundelegung der Volksanschauung konnten nach Ansicht ihrer Vertreter keine allgemeinen Regeln abgeleitet werden. Die Abkehr vom Allgemeinen und Abstrakten sei gerade das Kennzeichen des neuen Rechtsdenkens 241 . Die Lösung von der abstrakten Norm erlaube dem Richter, bei der Auslegung die „konkrete Ordnung" zu würdigen, die den Rahmen für die Tat bilde. Erforderlich sei eine Besinnung auf das Wesen der engeren Gemeinschaft, der der Täter angehöre. Die Auffassung des Verbrechens als Pflichtverletzung mache es notwendig, die konkrete Pflichtenstellung des Täters innerhalb der Gemeinschaft zu ermitteln 2 4 2 . Die Verschiedenheit der Auslegungsergebnisse könne nicht als Mangel angesehen werden, sondern bedeute i m Gegenteil einen großen Gewinn; denn sie stelle die Lebensnähe der neuen Denkweise unter Beweis 4 2 3 . Eine gefühlsmäßige und kasuistische Methode sei dem Wesen des Strafrechts durchaus angemessen 244 . Wie i m einzelnen praktischen Rechtsfall zu arbeiten sei, machten die Ausführungen über die Gesetzesauslegung nicht deutlich 2 4 5 . Das konnte auch nicht geschehen, weil eine intuitive Wesensschau und nicht ein präzises Denkverfahren vorgeschlagen wurde. Anhaltspunkte für die praktische Handhabung gaben nur die Beispiele, m i t denen die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler ihre Methode erläuterten. Der Kreis dieser Beispiele war begrenzt. Sehr oft wurden die Delikte des Meineids und des Landesverrats angeführt, so daß man von „Paradebeispielen" sprechen könnte: Eine Besinnung auf das Wesen des Meineides führe zu dem Ergebnis, daß er mehr als nur die Verletzung eines bestimmten Rechtsgutes enthalte. Nach volkstümlicher Auffassung liege das Wesentliche i n der Gesinnung des Täters. Daher verdiene die subjektive Theorie den Vorzug 2 4 6 . Gesetzgebers, sondern das Verstehen und die Auslegung des Gesetzes aus den Bedürfnissen und Anschauungen der nationalsozialistischen deutschen Gegenwart u n d ihrer politischen S t r u k t u r erschließt das i m Gesetz enthaltene wirkliche Recht." 241 Vgl. Dahm, ZStaatW 95, S.283; auch Mezger, ZStW 55, S. 5. 242 v g l . Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 125; auch H.Mayer, DStR 1938, S. 96. 243 v g l . Dahm, ZStaatW 95, S. 283. 244 v g l . H. Mayer, DStR 1938, S. 94. 245 Was w a r i m Einzelfall ζ. B. m i t einer Formulierung anzufangen wie: Aufgabe einer neuen Rechtswissenschaft sei es, das Gesetz „so auszulegen, wie es das innere Gesetz der Gemeinschaft verlangt" (Dahm, Gemeinchaft und Strafrecht, S. 17)? 246 v g l . oben 5. Kap. IV. 1. u n d Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 128 f.; DStR 1937, S.343; J W 1938, S. 146; Dahm, ZStW 57, S.245; Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 16 f.; Rauch, Die klassische Strafrechtslehre, S. 46.
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Ähnliches gelte für den Landesverrat. Bei einer richtigen Würdigung des Verratsmomentes könne die Spionage des Ausländers nicht mit diesem Tatbestand erfaßt werden, weil der Wesenskern des Delikts i m Bruch des Treueverhältnisses des deutschen Volksgenossen zu seinem Volk liege 2 4 7 . Eine Gruppe von Beispielsfällen trug offen den Stempel der politischen Überzeugung der antiliberalen Strafrechtler: Diebstahl habe nicht vorgelegen, als 1919 einige Männer i n das Berliner Zeughaus eindrangen, die 1871 erbeuteten französischen Fahnen, die auf Grund des Versailler Vertrages herauszugeben waren, mitnahmen und anschließend verbrannten. Zwar seien alle tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt gewesen, doch der Grundtypus des Diebstahls sei nicht gegeben 248 . Z u demselben Ergebnis komme eine wesenhafte Betrachtungsweise i n dem Fall, daß eine Gruppe der Hitler-Jugend einer katholischen Jugendorganisation die Fahne entreiße und als Trophäe verbrenne 2 4 9 . I n vielen Fällen gelangte die antiliberale, nationalsozialistische Strafrechtswissenschaft zu denselben Resultaten wie die herrschende Lehre, nur auf einem anderen Wege: Der Arzt, der die Schwangerschaft unterbreche, um das Leben der Mutter zu retten, begehe keine Abtreibung, weil er „seiner A r t nach" kein Abtreiber sei 2 5 0 . — Vergleiche man die Tatbestandsformulierung von § 253 StGB m i t der volkstümlichen Vorstellung vom Wesen des Delikts und des Täters, so schieden zahlreiche Fälle aus dem Bereich des Tatbestandes der Erpressung aus, i n denen i m Rahmen des Verkehrsüblichen Druck ausgeübt werde 2 5 1 . — Der erpresserische Kindesraub des § 239 a StGB habe ersichtlich nur die Fälle zum Gegenstand, i n denen die Vorenthaltung des Kindes mit der Drohung verbunden werde, es zu töten oder ernsthaft zu verletzen. Fehle es an dieser Drohung, so könne die Vorschrift nicht angewandt werden, weil der Täter nicht dem „Wesen des i n dieser Vorschrift gemeinten Tätertyps" entspreche 252 . — Ein Polizist oder eine Fürsorgerin, denen bekannt sei, daß eine Mutter ihr K i n d verhungern lasse, und die nicht einschritten, könnten nicht wie die Mutter nach §211 247 v g l . Dahm, ZStW 57, S.235: H.Mayer, DStR 1938, S.89; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung S. 121; Festschrift für Gleispach 1936, S. 112 A n m . 37. 248 vgl. Dahm, ZStW 57, S. 253 f. 249
Vgl. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 102. Nach Angaben Dahms (S. 79) stammte dieses Beispiel von C. Schmitt. 2 50 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 99; ZStW 57, S. 254; vgl. damit R G 61, 242 u n d R G 62, 137. 2 51 Vgl. Dahm, ZStW 57, S. 253; vgl. damit Ebermeyer/Lobe/Rosenberg, Reichsstrafgesetzbuch, S. 812. 252 Dahm, ZStW 57, S. 253; vgl. damit Kohlrausch, StGB, § 239 a A n m . 2.
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
StGB bestraft werden, weil ihr Unterlassen nicht von der Vorstellung erfaßt werde, die sich i n der Volksanschauung vom Mord und vom Mörder herausgebildet habe 2 5 3 . A n den Beispielen fällt auf, daß sie häufig auf eine Straflosigkeit des Täters hinausliefen. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich i n der Strafrechtspraxis die antiliberalen Vorstellungen zur Auslegungsmethode anders auswirken konnten und wohl auch sollten. Die Beispiele verschleierten die eigentliche Zielsetzung, die hier und dort anklang; so, wenn die Priorität des materiellen Verbrechensbegriffs mit der Notwendigkeit begründet wurde, die Verbrechensbekämpfung wirksamer zu gestalten 254 , wenn für die straf begründende Analogie angeführt wurde, daß sie das notwendige Gegengewicht zu den übergesetzlichen Unrechtsausschließungsgründen bilde 2 5 5 . Eine entsprechende Tendenz i n der antiliberalen Auslegungsmethode deutete Dahm an, als er sich dafür einsetzte, das argumentum e contrario sparsamer zu verwenden 2 5 6 . Es beruhe auf der Gleichsetzung von Gesetz und Recht. Gerade ein „wesenhaftes und lebendiges Denken" werde dazu führen, „daß die Strafbarkeit über den Wortlaut des Gesetzes hinaus ausgedehnt w i r d " 2 5 7 . Der extensiven nationalsozialistischen Strafrechtspraxis begegnete also von Seiten der antiliberalen Strafrechtswissenschaft kein Widerstand. Aber auch sie konnte schließlich die Auswüchse i n Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht übersehen, die mit Kriegsbeginn immer zahlreicher wurden 2 5 8 . Gegen Ende der dreißiger Jahre machten antiliberale Strafrechtswissenschaftler erste Versuche, die von ihnen selbst geförderte Entwicklung zu dämpfen. Der Tendenz zur Ausdehnung der Strafbarkeit entgegenzuwirken, war ein Motiv der Lehre vom Tätertyp. 5. Die Lehre vom Tätertyp
Die Denkform des Typus war von Beginn an Bestandteil der antiliberalen Auslegungsmethode. Die materielle Auffassung ging von der Unzulänglichkeit der gesetzgeberischen Formulierungsversuche aus 2 5 9 . Der Gesetzgeber mache sich stets eine Vorstellung vom typischen Gehalt 253 v g l . Dahm, ZStW 57, S. 254; Verbrechen u n d Tatbestand, S.99f.; Schaff stein, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 94 f.; vgl. damit Mezger, Strafrecht, 2. Aufl., S. 143. 254 v g l . Schaffstein, ZStW 55, S. 19. 255 v g l . ebd., S. 22. 256 Vgl. DStR 1934, S. 210. 257 Verbrechen u n d Tatbestand, S. 102. 258 v g l . E.Schmidt, Straf rechtspflege, S. 432 ff.; Schorn, Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus als M i t t e l der Machtpolitik; Staff, Justiz i m D r i t t e n Reich, S. 50 ff.; Broszat, Vierteljahreshef te f ü r Zeitgeschichte Bd. 6 (1958). 259 v g l . oben 5. Kap. I V . 3.
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eines Delikts, der i n der gesetzgeberischen Formulierung aber nie vollkommen Ausdruck finde. Der Richter habe die Aufgabe, bei der Anwendung des Gesetzes durch einen Vergleich mit der vom Gesetzgeber gemeinten Vorstellung vom Deliktstypus zu prüfen, ob der materielle Inhalt des Gesetzes den Sachverhalt erfaßt. Der Deliktstypus setzt sich nach antiliberaler Auffassung aus beiden Seiten des Verbrechens zusammen, aus dem äußeren Tathergang und dem Erfolg sowie aus den subjektiven, täterschaftlichen Elementen 2 6 0 . Der Spielraum für die Anwendung dieser Denkform war jedoch i m Hinblick auf die Täterseite weitaus größer, weil die Tatbestände des StGB ganz überwiegend auf die Tatseite abstellen. Daher und weil die antiliberale Strafrechtswissenschaft der Gesinnung des Täters bei der Prüfung der Strafbarkeit besondere Beachtung beimaß 261 , geriet das Denken i n Typen zu einer Lehre vom Tätertyp. Einen entscheidenden Anstoß zur Ausbildung der Lehre vom Tätertyp gab die Entwicklung i n Gesetzgebung und Rechtsprechung. Die Subjektivierung des Straf rechts nahm Ausmaße an, die selbst die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler, die dieser Tendenz Vorschub geleistet hatten, nicht mehr gutheißen konnten. Dahm wandte gegen die strafrechtliche Novellengesetzgebung ein, daß die „Entwertung und Verflüchtigung des äußeren Tatbestandes" bis zu einer „Gleichgültigkeit . . . gegen die Eigenart der begangenen Tat" gehe 262 . Namentlich wurde auf die Vorschriften des Kriegsstrafrechts (Gewaltverbrecher V O 2 6 3 , VolksschädlingsVO 264 , VO über die Strafrechtspflege gegen Juden und Polen 2 6 5 ) hingewiesen. Aber auch sonstige Novellierungen innerhalb des StGB (Novelle vom 4. 9.1941 266 ; Reform des Tötungsstrafrechts) und außerhalb (Blutschutzgesetz 267 ; VO gegen jugendliche Schwerverbrecher 268 ) bestätigten diese Entwicklung. A u f eine präzise Angabe der tatbestandsmäßigen Handlung wurde weitgehend verzichtet. Die Tatbestände beschränkten sich auf eine bloß typmäßige Benennung des Täters. 260 v g l . Dahm, Festschrift für Siber 1941, Bd. 1, S. 205 f.; Schaff stein, DStR 1942, S. 36 ff. 261 Vgl. oben 5. Kap. I I . 3. c). 262 Ebd., S. 188; vgl. auch S. 186, 221; Schaff stein, DStR 1942, S. 36, 38, 41. 263 V O gegen Gewaltverbrecher v o m 5.12.1939; R G B l I, 2378. 264 V O gegen Volksschädlinge v o m 5.9.1939; R G B l I, 1679. 265 V o m 4. 12.1941; R G B l I, 759. 266 R G B l I, 549. 267 Gesetz zum Schutze des deutschen Bluts u n d der deutschen Ehre v o m 15.9. 1935; R G B l I, 1146. 268 V O zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher v o m 4.10.1939; R G B l I, 2000. 14 Marxen
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Eine gleichgerichtete Tendenz zeigte sich i n der Rechtsprechung ζ. B. am fast vollständigen Verzicht auf objektive Merkmale für die Grenzziehung zwischen Vorbereitung und Versuch bei der Rassenschande269. Die Entwicklung in der Strafrechtspflege brachte die antiliberalen Straf rechtswissenschaftler i n eine schwierige Lage: Sie mußten zugeben, daß die Subjektivierung des Straf rechts m i t ihren Ideen zur strafrechtlichen Erneuerung übereinstimmte 2 7 0 . Wollten sie dieser Entwicklung entgegenwirken, so konnten sie nicht gut eine Rückkehr zu einem reinen Tatstrafrecht fordern. Die offensichtlichen Auswüchse konnten sie lediglich dadurch bekämpfen, daß sie sich um eine Eingrenzung der Tatbestände durch eine restriktive Anwendung der Typenlehre i m Hinblick auf die täterschaftlichen Merkmale bemühten. Als Zweck der Tätertypenlehre wurde daher genannt: Sie solle zu einer „Einschränkung und Verdichtung" der Tatbestände führen und so eine „Begrenzung der Strafe" ermöglichen 271 . Schaff stein betrachtete die Typenmäßigkeit als ein zusätzliches Tatbestandsmerkmal 272 . Die mehrdeutigen Begriffe und Generalklauseln des Gesetzes sollten durch eine Besinnung auf das volkstümliche Täterbild verfestigt und eingeengt werden. Neben der Prüfung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale sei zusätzlich nach der „zweiten Grenzlinie" 2 7 3 zu fragen, nämlich, ob der Sachverhalt den vom Gesetzgeber gemeinten Lebenserscheinungen und der Volksanschauung darüber gleiche 274 . I m Rahmen der Lehre vom Tätertyp wurden auch sonstige Korrekturen an früheren antiliberalen Auffassungen vorgenommen. Vor allem Dahm zeigte sich am Beginn der vierziger Jahre zur Aufgabe überspitzter Forderungen bereit. Er hob wieder die Tat als Grundvoraussetzung jeder Strafe hervor 2 7 5 und rückte vom Begriff des Gesinnungsstrafrechts ab 2 7 6 . Er gab zu, daß der Volksanschauung keine fertigen Entscheidungen zu entnehmen seien 277 , daß die Strafrechtsdogmatik R G 71, 4 u n d R G 71, 7. 270 Dahm, Festschrift f ü r Siber 1941, Bd. 1, S. 187: „ . . . läßt sich nicht gut übersehen, daß gerade das neue Kriegsstrafrecht manche Wesenszüge unserer Rechtsentwicklung überhaupt besonders deutlich hervortreten läßt." 271 Ebd., S. 224; vgl. auch S. 202, 219, 222 f.; Z A k D R 1939, S. 528 f.; vgl. dazu Schröder, Georg Dahm als Strafrechtler, S. 18 f. 272 Vgl. DStR 1942, S. 40. 273 Dahm, Festschrift f ü r Siber 1941, Bd. 1, S. 224. 274 v g l . ebd., S. 205, 217, 219 („Der Typus ist der Schatten des Tatbestandes."), 223 f. 269 V g l .
275 v g l . ebd., S. 189 f.; auch Schaff stein, Anm. 15. 276 v g l . ebd., S. 206 Anm. 41. 277 v g l . ebd., S. 195.
DStR 1942, S. 76 A n m . 12, S. 37
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode
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einer eigenen, auch allgemein gehaltenen Begrifflichkeit bedürfe 2 7 8 und daß die Einheit von Recht und Sitte, von Recht und Volksanschauung kein bestehender Zustand, sondern ein anzustrebendes Ideal sei 2 7 9 . M i t der Lehre vom Tätertyp wurde der Versuch unternommen, die Auswirkungen der materiellen Verbrechensauffassung zu begrenzen. Er wurde jedoch nur mit halbem Herzen unternommen. Die antiliberale Strafrechtswissenschaft trug auch i n der Tätertyplehre den Anforderungen des nationalsozialistischen Staates und seiner Kriegspolitik Rechnung: Dahm erklärt die Tätertyplehre dort für nicht anwendbar, wo das Gesetz — wie ζ. B. i m Kriegsstrafrecht — an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientiert sei 2 8 0 . Hier könne nicht stets auf eine zutreffende typmäßige Einordnung des Täters geachtet werden. Auch bei einer strafbegründenden analogen Anwendung eines Gesetzes sei es nicht erforderlich, daß der Täter dem Tätertyp dieses Gesetzes entspreche, wenn aus Zweckmäßigkeitsgründen die Bestrafung geboten sei 2 8 1 . Daß man die Tätertyplehre i m übrigen für den Bereich der Analogie gem. § 2 StGB i. d. F. vom 28. 6.1935 für anwendbar erklärte 2 8 2 , trug auch nicht zur Strafeinschränkung bei; i n wertender, ganzheitlicher Prüfung sollte allein festgestellt werden, ob der Tätertyp des analog anzuwendenden Gesetzes auf den Sachverhalt passe. Für die Strafbarkeit der Ersatzhehlerei stellte Dahm lediglich darauf ab, „wieweit der Täter jenem Typus des ,Parasiten' entspricht, an den der Gesetzgeber denkt" 2 8 3 . Die Einschränkung der Tätertyplehre und ihre Anwendung i m Rahmen strafbegründender Analogie machte die Absicht, den Bereich des Strafbaren einzuengen, zu einem großen Teil wieder zunichte. Dennoch verdient festgehalten zu werden, daß antiliberale Strafrechtswissenschaftler i n der Spätphase des Dritten Reiches es öffentlich für notwendig erklärten, der Tendenz zur Ausdehnung der Strafbarkeit zu begegnen. Doch kehren w i r zur strafrechtlichen Diskussion i n der Mitte der dreißiger Jahre zurück. Wie bereits angedeutet, bildete die ganzheitliche und wesenhafte Gesetzesauslegung nur einen Teil der antiliberalen Theorie zur Gesetzesanwendung. Zu ihr gehörte auch die scheinbar damit unvereinbare Kennzeichnung des Gesetzes als „Führerbefehl", dem der Richter unbedingten Gehorsam zu leisten habe 2 8 4 . 278 279 280 281 282 2β3 284 14*
v g l . ebd., S. 241. Vgl. ebd., S. 219. v g l . ebd., S. 220 f. Vgl. ebd., S. 230 f. v g l . Dahm, Z A k D R 1939, S. 528 f. Festschrift f ü r Siber 1941, Bd. 1, S. 233 f. v g l . oben 5. Kap. I V . 3.
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs 6. Die Einschränkung der Auslegungsfreiheit durch das Führerprinzip
Die Stellungnahme der antiliberalen Strafrechtswissenschaft zu Fragen der Gesetzesanwendung bieten ein anschauliches Studienobjekt für allgemeine Betrachtungen zum Ablauf eines Umsturzes der Rechtsordnung: Unmittelbar nach 1933 wurde eine nahezu vollständige Lösung der gesetzlichen Bindung gefordert. Der Strafrichter sollte die Stellung eines „königlichen Richters" einnehmen 285 . Ziel dieser Bestrebungen war, die weitergeltenden strafrechtlichen Normen sofort für nationalsozialistische Zwecke verwendbar zu machen. Bedenken mußte dieser Standpunkt hervorrufen, sobald Strafgesetze des nationalsozialistischen Gesetzgebers vorhanden waren. Eine freie Auslegungsmethode konnte auch zu einer Abschwächung des politischen Gehalts führen. Auf derselben politischen Basis wurde daher jetzt eine Schwenkung vollzogen: Die Autorität des Führers müsse durch eine unbedingte Gesetzestreue gewahrt werden 2 8 6 . Ganz deutlich trat dieser Gedanke i n der Erwägung zutage, daß i m nationalsozialistischen Staat Aufgaben der Rechtspflege auf die Verwaltung übertragen werden könnten 2 8 7 . Das Erfordernis einer Einschränkung der richterlichen Freiheit entnahmen die Antiliberalen wiederum dem Leitbild des total-autoritären Staates: Das i n ihm enthaltene Führerprinzip verbiete eine völlige Lösung der gesetzlichen Bindung, die letzten Endes einen „Individualismus auf der Richterseite" hervorrufen würde 2 8 8 . Auch u m der Rechtseinheit w i l l e n und damit zur Festigung der staatlichen Gemeinschaft verlange der Führergedanke bei der Gesetzesanwendung Beachtung 289 . Ein unüberbrückbarer Gegensatz zur ganzheitlichen, wesenhaften und volksanschauungsgemäßen Auslegungsmethode bestehe nicht, weil es einmal i m Sinne des Führers sei, wenn der Richter die Volksanschauung als Rechtsquelle heranziehe 290 , und weil zum anderen der Führer i n seinen Gesetzen der Volksanschauung Ausdruck verleihe; die Eigenschaft des Führers befähige ihren Träger, die echten völkischen Werte zu erkennen und ihnen Gestalt zu geben 291 . ses v g l . etwa Goetzeler, GS 104, S.350; Ostwald, D J Z 1934, Sp.439ff.; dazu Krüger, ZStW 55, S. 115; Dahm, ZStW 57, S. 261. 286 Schaffstein, Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 24: „ I m Verhältnis von Gesetzgeber u n d Richter ist der letztere der Geführte." Vgl. auch oben 3. Kap. I I I . 5. u n d 5. Kap. I V . 3. 287 v g l . Dahm, DStR 1934, S. 90. Zusätzlich w a r f Dahm die Frage auf, „ob nicht die Entscheidung politischer Strafsachen i n gewissem Umfang ganz der Führung u n d den politischen Instanzen zu überlassen wäre". 2 88 Dahm, DStR 1934, S. 92. 289 v g l . Henkel, Die Unabhängigkeit, S. 21 f.; Dahm, Strafrecht, S. 17. 2 90 v g l . Dahm, ZStW 57, S. 263.
Gemeinschaft
und
I V . Erneuerung der Auslegungsmethode
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Die Bindung an die Gesetze des Führers konnte nach antiliberaler Anschauung nicht mit der liberalen Gesetzesbindung gleichgesetzt werden. Diese habe lediglich dem Ziel vollkommener formaler Rechtssicherheit gedient; jene sei dagegen Ausfluß der materiellen Rechtsauffassung des Nationalsozialismus: Der Führer und der Richter als sein Gefolgsmann arbeiteten gemeinsam an der Verwirklichung des wahren Rechts, dessen Quelle i n der Volksanschauung liege. Die Gefolgschaft des Richters bestehe nicht i n einem blinden Gehorsam, sondern i n einem „Nachschaffen" der vom Führer formulierten Rechtssätze. Als „Mitarbeiter" des Führers vollende er dessen T a t 2 9 2 . Für die praktische Rechtsanwendung war entscheidend, daß dem Richter bei der Anwendung nationalsozialistischer Gesetze die unmittelbare Bezugnahme auf die Rechtsvorstellungen des Volkes verwehrt wurde. Diese wurden nach antiliberaler Auffassung durch die Gesetzgebung des Führers vermittelt 2 9 3 . I n beiden Teilaspekten der antiliberalen Theorie zur Gesetzesanwendung, i n der ganzheitlichen und wesenhaften Auslegungsmethode sowie i n der Beschränkung der richterlichen Freiheit durch den Führergedanken, sollte also die Volksanschauung das herrschende Prinzip darstellen. Wo sie i n der Form des Führergesetzes konkrete Gestalt angenommen hatte, sollte jede Abweichung vom Gesetz ausgeschlossen sein. Völlig undenkbar war es für die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler, daß der Richter ein solches Gesetz für nicht anwendbar erklären könnte, weil es der Volksanschauung widerspreche 294 . Hingegen folgte aus der Priorität der volkstümlichen Rechtsanschauungen für die Anwendung vornationalsozialistischer Gesetze eine Lockerung der gesetzlichen Bindung. Auch hier war es aber praktisch ausgeschlossen, daß der Richter sich dem Willen der politischen Führung versagte: Durch das A t t r i b u t „gesund" wurde die Volksanschauung zu einem Instrument nationalsozialistischer Machtpolitik 2 9 5 . Aus dem Führergrundsatz und der angeblichen Fähigkeit des Führers, die „gesunde Volksanschauung" zu erkennen und zu gestalten, wurde gefolgert, daß nicht nur die Führergesetze, sondern auch sonstige „außerjuristische Äußerungen des Führerwillens" die Rechtsanwendung maßgeblich be-
291 Vgl. Dahm, DStR 1934, S. 92; Referat zum Kongreß für Rechtsvergleichung 1937, S. 522; Schaffstein, DR 1934, S.352; Krüger, ZStW 55, S. 115 f.; Larenz, RuS H. 109, S. 35 f. 292 Vgl. Krüger, ZStW 55, S. 116 ff. 293 v g l . ebd., S. 116, 118 f. 294 v g l . Dahm, DStR 1934, S. 90; ZStW 59, S. 151 Anm. 40; Larenz, Rus H. 109, S. 34; Schaff stein, DR 1934, S.352. 295 v g l . oben 3. Kap. I I . 1. u n d I I I . 2.
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
einflussen müßten 2 9 6 . Schließlich plädierten Strafrechtswissenschaftler dafür, nur aktive, von der nationalsozialistischen Weltanschauung durchdrungene Richter mit Aufgaben der Rechtspflege zu betrauen 2 9 7 . Auf dieser theoretischen Grundlage konnten sich die nationalsozialistischen Praktiken der Richterauslese und der massiven Beeinflussung der Rechtsprechung 298 ungehindert entfalten. V. Die Angriffe gegen die begriffliche und systematische Zergliederung des Verbrechens und die Forderung nach einer wesenhaften und ganzheitlichen Begriffsbildung und Verbrechenssystematik Das Interesse der Strafrechtswissenschaft an Fragen der gesetzlichen Bindung des Richters und der Auslegungsmethode nahm m i t der Fortdauer der nationalsozialistischen Herrschaft ab. Der totale Staat ließ den Organen der Rechtspflege kaum noch einen Spielraum. Nach wenigen Jahren war gewährleistet, daß sie sowohl die alten als auch die neuen Strafgesetze i m Sinne der politischen Führung anwandten. Stärkere Beachtung fanden in der Strafrechtswissenschaft gegen Ende der dreißiger Jahre Themen, die allerdings auch schon i n der Mitte der dreißiger Jahre behandelt worden waren: I n den Mittelpunkt der Auseinandersetzung rückten die Probleme einer Erfassung des Rechtsstoffs mit Hilfe generalisierender Begriffe (im Unterschied zur individualisierenden Auslegung) und des Verbrechenssystems. 1. Der Kampf gegen allgemeine abstrakte Begriffe und gegen das „Trennungsdenken"
I n einem jahrhundertelangen Entwicklungsprozeß waren i n der Strafrechtstheorie die isolierte Betrachtung der einzelnen Verbrechen überwunden und gemeinsame Bestandteile und Merkmale herausgearbeitet worden. Das Ergebnis waren allgemeine Verbrechenslehren, wie sie der Allgemeine Teil des Strafrechts verzeichnet. Die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler hielten dies für einen zweifelhaften Fortschritt 2 9 9 . Zweifel an der Brauchbarkeit des Denkens in allgemeinen Begriffen und Merkmalen hegten sie auf Grund des historischen Ursprungs: 296 Dahm, DStR 1934, S. 91. Vgl. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 16; DStR 1934, S. 96; Boldt, DR 1937, S. 95. 298 v g l , Weinkauff, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus, S. 96 ff.; Johe, Die gleichgeschaltete Justiz. 2 99 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 90; auch ZStaatW 95, S. 289 („ Zerf allserscheinung"). 297
V. Angriffe gegen begriffliche und systematische Zergliederung
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„Dieser Allgemeine Teil verdankt seine Entstehung vornehmlich der deduktiv-rationalistischen Denkweise des Naturrechts und der Aufklärung und w i r d eben dadurch bereits i n seinem weltanschaulichen Gehalt charakterisiert 300 ." Als weitere geistige Quelle des Denkens i n Allgemeinbegriffen betrachteten sie den Neukantianismus der südwestdeutschen Schule 301 . A u f die strikte Unterscheidung von Wirklichkeit und Wert sei das „Trennungsdenken" i n der Strafrechtswissenschaft zurückzuführen. Das Recht erhalte die Bedeutung einer Ordnung, die von außen an das chaotische Leben herangetragen werde; es sei durch den Abstand vom Leben gekennzeichnet. Rechtsbegriffe sollten nach dieser Auffassung frei von Bestandteilen der Wirklichkeit und von konkreten Inhalten sein. Dieses normativistische Denken erstrebe möglichst allgemeine und neutrale Begriffe. Alle wissenschaftliche Arbeit sei dem Ausbau des Allgemeinen Teils und allgemeiner Rechtslehren gewidmet 3 0 2 . Das inhaltlose und „blutleere" 3 0 3 Denken i n Allgemeinbegriffen entwertete nach antiliberaler Auffassung das Leben und das „innere Gesetz der Gemeinschaft" 304 . Es zerstöre die inneren Sachzusammenhänge und nehme keine Rücksicht auf das „Wesen" der Lebenserscheinungen 305 . Als Folge im Bereich der Verbrechenslehren beklagte Dahm eine „Vernachlässigung der einzelnen Verbrechen" 3 0 6 und eine Zerstörung der Eigenart des einzelnen Verbrechens. Die Aufgliederung i n allgemeine Merkmale versperre den Zugang zum tieferen Verständnis des einzelnen Delikts. Sie biete nicht das geeignete Mittel, u m ζ. B. das Wesen des Verrats erkennbar zu machen; denn Ehre, Treue oder Gemeinschaftsgesinnung könnten nicht i n abstrakte Begriffe gefaßt werden 3 0 7 . Das politische Ziel der abstrakten, zergliedernden Denkweise sei gewesen, m i t Hilfe allgemeiner Begriffe, die zumeist einen zivilistischen Ursprung hätten, alle Lebensbereiche dem Urteil des Bürgers zu unterwerfen 3 0 8 . Die besonderen Sinnzusammenhänge des Militärischen und Politischen sollten zerstört werden, so ζ. B. durch die Ausschaltung des 300 Schaffstein, DStR 1935, S. 97. Vgl. Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 70 ff.; Dahm, V e r brechen u n d Tatbestand, S. 62, sowie oben 3. Kap. I I I . 3. u n d 5. Kap. I. 3. 302 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 62. 303 Schaff stein, DStR 1935, S. 97. 304 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 62. 305 v g l . ebd., S. 62; Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 7 f., wandte sich gegen das „zergliedernde u n d atomisierende" Denken. 306 Verbrechen u n d Tatbestand, S. 63. 307 v g l . ZStaatW 95, S. 289, 292; Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14. 308 v g l . Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 74; Boldt, DR 1937, S. 92. 301
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Verratsmoments aus den Delikten des Hoch- und Landesverrats m i t Hilfe der Rechtsgutslehre. Das Strafrecht werde auf die Funktion einer bloßen Sicherung individualistisch gedachter Rechtsgüter beschränkt. Erforderlich sei eine grundlegende Erneuerung der juristischen Begriffsbildung. Volk und Rasse enthielten i n sich sinnvolle Ordnungsstrukturen und Gesetzlichkeiten, die durch juristische Begriffe nur nachzubilden seien. Dahm knüpfte an Binder und C. Schmitt an und forderte eine „nachdenkliche Begriffsauffassung" 309 . Die Begriffe und Gliederungsschemata müßten dem Stoff angepaßt sein; innerlich verschiedenartige Erscheinungen dürften nicht unter einen Begriff gepreßt werden; wesensmäßig Gleichartiges dürfe nicht durch begriffliche Unterscheidungen auseinandergerissen werden 3 1 0 . Eine wirklichkeitsbezogene Betrachtungsweise werde Verallgemeinerungen scheuen; sie interessiere sich mehr für den konkreten Gehalt des Delikts 3 1 1 . Schaffstein setzte sich daher für einen Abbau des Allgemeinen Teils und für eine Konkretisierung der Allgemeinbegriffe vom Besonderen Teil her ein 3 1 2 . I m übrigen seien die „irrationalen Momente und das Bestreben, die Spaltung zwischen ethischer und rechtlicher Wertung zu beseitigen", als „begriffsbildende Faktoren" zu beachten 313 . I n engem Zusammenhang m i t dem Kampf gegen abstrakte Begriffe stand die Forderung nach einer neuen „Rechtssprache" 314 . Die gekünstelte Fachsprache des Juristen diene lediglich dem Zweck, eine präzise Grenzlinie zwischen Privatsphäre und staatlichem Machtbereich zu ziehen 315 . Ein Volksrecht müsse sich auch einer Sprache bedienen, die die Sprache des Volkes sei. Einfache, lebendige, bildhafte Worte sollten dem Richter und auch dem ungelehrten Volksgenossen „das Wesen der Dinge bezeichnen" 316 . Die Begriffe des Strafrechts müßten für jeden gefühlsmäßig verständlich sein. 2. Die Angriffe gegen die Untergliederung des Tatbestandes
Als typisches Produkt des „wesenlosen und abstrakten Rechtsdenkens" 3 1 7 betrachteten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler die »09 Verbrechen und Tatbestand, S. 87; vgl. Binder, Logos Bd. 18, S. 12 f.; C.Schmitt, Die drei Arten, S. 13, 20; vgl. auch Thierfelder, Normativ und Wert, S. 8 A n m . 3. aio v g l . Dahm, ZStW 57, S. 268. an Vgl. ebd., S. 266 f. »12 DRWis 1936, S. 45; vgl. auch Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 101. 313 S chaff stein, Teleologische Begriffsbildung, S. 11 f. 314 Krüger, ZStW 55, S. 123; vgl. auch Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 106 f.; ZStW 57, S. 275. 315 Vgl. Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 107. 316 Ebd., S. 107.
V. Angriffe gegen begriffliche und systematische Zergliederung
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herrschende Lehre vom Tatbestand. Sie wandten sich gegen die Herauslösung eines allgemeinen Handlungsbegriffs und die Trennung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit. a) Die Bekäynpfung des naturalistischen
Handlungsbegriffs
Scharfe Angriffe gegen den i m Anschluß an Radbruch 3 1 8 von der ganz überwiegenden Meinung vertretenen Handlungsbegriff trugen Welzel, Dahm und Berges vor 3 1 9 . Die Absonderung der Handlung vom übrigen Tatbestand und die Definition der Handlung als willensgetragene Veränderung der Außenwelt verriet nach ihrer Auffassung eine „liberalistische Grundeinstellung" 3 2 0 . Sie äußere sich i n der „Entwesung" der Handlung zu einem „blutleeren Gespenst" 321 . Von den wesentlichen Merkmalen der verbrecherischen Handlung, vom Willensinhalt, von der Bewußtseinslage des Täters, von seiner Gesinnung und sonstigen personalen Eigenschaften werde abgesehen. Materialistisches und rationalistisches Denken habe für eine Anpassung an die Denkkategorien der Naturwissenschaften gesorgt: Die juristische Handlung werde auf einen naturalistisch verstandenen Kausalvorgang reduziert, um ein möglichst hohes Maß an Rechtssicherheit zu erreichen. Von der naturalitischen Kausalität erwarte man, daß sie die rechtlichen Folgen menschlichen Verhaltens berechenbar mache 322 . Nach Meinung der antiliberalen Strafrechtler stand der naturalistische Handlungsbegriff i n einem engen Zusammenhang m i t der Rechtsgutsverletzungslehre, die die Handlungsformen der strafrechtlichen Tatbestände zu bloßen KausalitätsVorgängen umgeformt habe 3 2 3 . I n die antiliberale Beurteilung des naturalistischen Handlungsbegriffs paßte nicht ohne weiteres hinein, daß er die strafrechtliche Haftungs317 Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 91. 318 Der Handlungsbegriff i n seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1903. 319 Hier wäre auch noch H. Mayer zu nennen, der das „Verursachungsdogma" gründlich analysierte u n d m i t Entschiedenheit bekämpfte (vgl. Strafrecht des Deutschen Volkes, S. 163 ff.). I n der Zielrichtung stimmte er aber m i t den genannten Autoren nicht überein. Die Beschäftigung m i t dem Strafrecht w a r bei i h m m i t dem Streben nach einer präzisen Bestimmung der Grenzen strafbaren Handelns verbunden (vgl. ebd., S. 53 ff., DStR 1938, S. 74 f.). 320 Berges, DStR 1934, S. 240; vgl. auch Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 91. 321 Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 77; vgl. auch Berges, DStR 1934, S., 240; Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 91. 322 v g l . Krüger, ZStW 54, S. 652 f. 323 v g l . Dahm, Verbrechen und Tatbestand, S. 91; auch Berges, DStR 1935, S. 441.
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
grundlage erweitert, indem er die Motivationslage des Täters unberücksichtigt läßt. Berges konnte jedoch darauf verweisen, daß die Haftungserweiterung durch eine Prüfung des Willensinhalts i m Rahmen der Schuld wieder rückgängig gemacht w i r d 3 2 4 . Aus dieser Plazierung der Willensprüfung ergaben sich aber nach seiner Auffassung die „verschwiegenen straf rechtstheoretischen Grundlagen der bisherigen Dogmatik" 3 2 5 : Durch die Verbannung der täterschaftlichen Merkmale in den Bereich der Schuld sei die Möglichkeit ausgeschlossen worden, „die Rechtswidrigkeit des äußeren Verhaltens als Pflichtwidrigkeit gegenüber dem Staate zu begreifen" 3 2 5 ; denn die Feststellung, daß eine Pflicht verletzt worden sei, könne nur erfolgen, wenn auch die Bewußtseinslage des Täters berücksichtigt werde. Der naturalistische Handlungsbegriff sei hingegen Bestandteil einer strafrechtlichen Grundauffassung, die das Wesen des strafrechtlichen Unrechts i n der Verursachung einer Verletzung der äußeren Ordnung erblicke 3 2 5 . Die „völlige Neuorientierung des Handlungsbegriffs" 3 2 6 wurde am stärksten von Welzel gefördert. Die Ergebnisse seiner Arbeit wurden von anderen antiliberalen Strafrechtswissenschaftlern übernommen, allerdings mit dem Unterschied, daß sie auf den politischen Aspekt weitaus größeres Gewicht legten. Seine Auffassung von der Handlungsstruktur legte er erstmals i n dem Aufsatz „Kausalität und Handlung" 1931 nieder 3 2 7 . Zur Begründung führte er vorwiegend denk- und willenspsychologische sowie philosophische Argumente an. Die Handlung könne nicht als naturalistischer Kausalvorgang verstanden werden, den das Recht einer Wertung unterwerfe. Die entscheidenden Merkmale menschlichen Handelns würden dabei übersehen: Der Erfolg werde vom Menschen nicht blind-kausal „verursacht", sondern gedanklich antizipiert und bei jedem Abschnitt der Handlung intendiert. Welzel bezeichnete die Handlung als „Sinneinheit" 3 2 8 , die weit mehr als nur den Kausalzusammenhang umfasse. Anknüpfungspunkt für die strafrechtliche Zurechnung sollte die „Intentionalität" menschlichen Handelns sein 329 . Diese Gedanken erweiterte Welzel zu seiner finalen Handlungslehre. Sie ging als ein Teilaspekt aus seiner Grundanschauung hervor, daß die Werte nicht i n einer idealen Schicht dem Sein übergeordnet seien, sondern daß die Werthaftigkeit eine ontische Struktur der Wirklichkeit dar324 Vgl. DStR 1934, S. 240. 325 Ebd., S. 241. 326 Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 78. 327 ZStW 51, S. 703 ff. 328 Ebd., S. 718. 329 Ebd., S. 709.
V. Angriffe gegen begriffliche u n d systematische Zergliederung
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stelle, i n die der Mensch gestellt sei und zu der er ständig durch sein Handeln Stellung beziehe 330 . Nach dem politischen Umsturz drangen i n diese Lehre auch Splitter der nationalsozialistischen Weltanschauung ein, ohne daß jedoch eine Abhängigkeit vom Nationalsozialismus behauptet werden könnte 3 3 0 3 . Die ganzheitliche Auffassung des Handlungsbegriffs, die den Vorsatz aus dem Bereich der Schuld i n den der Handlung zog, übernahmen Strafrechtswissenschaftler, die dem Nationalsozialismus weitaus stärker verbunden waren, für ihr Konzept, das darauf angelegt war, dem Streben nach rationalen Maßstäben i m Strafrecht entgegenzuwirken und eine irrational-ganzheitliche Betrachtungsweise an ihre Stelle zu setzen 331 . Daher waren sie letzten Endes auch nicht allein an einer Umformung des Handlungsbegriffs interessiert; die gesamte Tatbestandslehre, vor allem aber die Unterscheidung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit sollte aufgelöst werden. b) Die Forderung nach Überwindung der Trennung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit Die antiliberalen Angriffe konzentrierten sich auf die seit von Liszt und Beling übliche Unterteilung i n einen objektiv und wertfrei gedachten Tatbestand und in eine bewertende Rechtswidrigkeit. Die Ausscheidung normativer Merkmale aus dem Tatbestand verfolgte nach Dahms Ansicht einzig und allein den Zweck, eine optimale Durchführung des Satzes „nulla poena sine lege" zu gewährleisten 332 . Die gesonderte Prüfung der Rechtswidrigkeit sei durch die Rechtsgutslehre erforderlich geworden; da sich i m Rahmen dieser Lehre die tatbestandlichen Feststellungen darauf beschränkten, ob ein Rechtsgut verletzt sei, werde eine Korrektur i n den Fällen erforderlich, i n denen aus besonderen Gründen keine Strafwürdigkeit gegeben sei 3 3 3 . Diese Aufgabenverteilung zwischen Tatbestand und Rechtswidrigkeit hatte sich nach antiliberaler Auffassung auch durch die neueren Bestrebungen zur Teleologisierung des Verbrechenssystems nicht grundsätzlich geändert. Die Erkenntnis „normativer" Tatbestandsmerkmale habe die dualistische Denkweise nicht beseitigt. Nach Dahm zeigt das „unmögliche Wort" bereits, daß Wirklichkeit und rechtliche Bewertung 330 v g l . ZStW 51, S. 715; Naturalismus u n d Wertphilosophie, S. 74 ff. 330a v g l . oben 1. Kap. I I I . 2. a) A n m . 135. 331 So Berges, Dahm u n d Schaffstein. 332 v g l . Verbrechen u n d Tatbestand, S. 78 f. 333 vgl. ebd., S. 79 f.; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 133.
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getrennt gesehen würden 3 3 4 . Auch i n der Lehre vom Tatbestand als dem „vertypten Unrecht" 3 3 5 werde i m Grundsatz an der liberal-rechtsstaatlichen Funktion der Tatbestandslehre festgehalten; letzten Endes werde auch hier zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit unterschieden 336 . Die h. L. halte somit an der „widersinnigen" Konstruktion fest, daß es ein an sich tatbestandsmäßiges, aber nicht rechtswidriges Verhalten geben könne 3 3 7 . M i t scharfen Worten bekämpfte Dahm dieses „An-SichDenken" 3 3 8 : Er sah darin einen „Hohn auf die Logik . . . und auf jedes gesunde Gefühl" 3 3 9 . Die liberale Tatbestandslehre behaupte zu Unrecht, daß die Unterordnung unter den Tatbestand noch kein Werturteil enthalte. Die Gleichbehandlung rechtswidriger und rechtmäßiger Handlungen bei der Tatbestandsprüfung stelle einen Zusammenhang zwischen beiden her. Die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit bedeute daher für den rechtmäßig Handelnden eine Herabsetzung 340 . Von einer wertneutralen Subsumtion könne insbesondere dann keine Rede sein, wenn der gesetzliche Tatbestand Begriffe enthalte, denen der einfachen Wortbedeutung nach ein abfälliges Urteil innewohne. Dahm nannte als Beispiel das Wort „mißhandeln" aus dem Körperverletzungstatbestand. Für die natürliche Volksanschauung müsse es unbegreiflich bleiben, daß nach einer lebensfremden, abstrakten juristischen Denkweise auch dann eine „Mißhandlung" vorliege, wenn ein Rechtfertigungsgrund gegeben sei und die Tat somit letzten Endes rechtmäßig sei, wie ζ. B. der gelungene ärztliche Eingriff zu Heilzwecken 340 . Die Entfernung des Werturteils aus der Tatbestandsprüfung hat nach Dahms Ansicht zur Folge, daß der besondere Sinngehalt des jeweiligen Delikts nicht zur Geltung kommt. Um die erforderliche Eingrenzung i m Bereich der Rechtswidrigkeit vornehmen zu können, sei man darauf angewiesen, die Unrechtsausschließungsgründe zu dehnen und zu verallgemeinern 341 . Die Ganzheit von Tatbestand und zugehörigen Unrechtsausschließungsgründen werde gelöst: Die konkreten Voraussetzungen der zulässigen Schwangerschaftsunterbrechung würden zum allgemeinen Güterabwägungsprinzip ausgedehnt; die Rechtfertigung 334 Verbrechen u n d Tatbestand, S. 82 f. 335 vgl. Mezger, Festschritf für Träger 1926, S. 187 ff. 336 vgl. Dahm, ZStW 57, S. 270; Verbrechen und Tatbestand, S.82; Schaffstein, ZStW 57, S. 297. 337 Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 133. 338 Verbrechen und Tatbestand, S. 74. 339 Ebd., S. 66 f. 340 vgl. ebd., S. 68 f. 341 v g l . ZStW 57, S. 270 ff.; Verbrechen u n d Tatbestand, S. 97 ff.; auch Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 52.
V. Angriffe gegen begriffliche u n d systematische Zergliederung
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der Körperverletzung durch Einwilligung des Verletzten werde zum allgemeinen Rechtfertigungsgrund der Einwilligung erweitert und auf völlig andersgeartete Verbrechen wie die Beleidigung oder die Vermögensdelikte angewandt. Dieses „Inversionsverfahren" 3 4 2 zerreiße die konkreten Lebenszusammenhänge. Die Maßstäbe des Rechtswidrigkeitsurteils verflüchtigten sich immer mehr ins Allgemeine, wie die inhaltsleeren, abstrakten materiellen Rechtswidrigkeitslehren bewiesen 343 . Der verborgene politische Gehalt der Verallgemeinerung und des „An-Sich-Denkens" lag nach Ansicht Dahms i n der Unterwerfung aller Lebensbereiche unter allgemeine und bürgerliche Begriffe 3 4 4 . Gerade die unbürgerlichen Bereiche des soldatischen und politischen Handelns sollten bürgerlicher Kontrolle unterzogen werden. Die Verallgemeinerung des Rechtswidrigkeitsurteils solle zudem das Maß an Rechtssicherheit vergrößern. Das Ergebnis der antiliberalen K r i t i k an der Tatbestandslehre lautete kurz und bündig: „Begriff und Wort des Tatbestands sollten aus der Strafrechtsdogmatik verschwinden 345 ." Was aber sollte an deren Stelle treten? c.) Die ganzheitliche und wesenhafte Betrachtung des Unrechts Zwar sagte Dahm ganz klar, daß ein Tatbestände nicht angestrebt werde 3 4 6 ; eine Vorstellung davon zu erhalten, wie Dahm und Schaffstein die verschiedenen
Strafrecht ohne differenzierte dennoch ist es sehr schwierig, Strafrechtswissenschaftler wie Deliktsarten erfassen wollten.
Sie fühlten sich nicht verpflichtet, ihre Auffassung präzise vorzutragen, einen klaren methodischen Weg aufzuzeigen und rationale Begründungen anzugeben. Eine solche Formalisierung hätte ihrer ganzen Denkweise widersprochen, weil sie letztlich dem bekämpften liberalen Interesse an Rechtssicherheit gedient hätte. Ihre Unrechtslehre erschöpfte sich daher i n unbestimmten Andeutungen und vagen Umschreibungen. Fest stand für sie: Handlung, Tatbestand und Rechtswidrigkeit sollten 842 Vgl. ZStW 57, S. 272. 343 v g l . Verbrechen u n d Tatbestand, S. 69 ff. 344 Ebd., S. 89. 345 Ebd., S. 89. 346 Vgl. ZStW 57, S. 206. Weder von Dahm noch von anderen antiliberalen Strafrechtswissenschaftlern wurde ein Strafrecht bestehend aus einer Generalklausel entsprechend § 6 des damaligen sowjetrussischen StGB gefordert. Diese Forderung wurde aber von politischer Seite erhoben, von dem Nationalsozialisten v. Heydebrink und der Lasa, der a k t i v an der nationalsozialistischen Machteroberung beteiligt w a r (vgl. Deutsche Rechtserneuerung, S. 163 f.).
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5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
nicht mehr getrennt werden; die Unterscheidung von natürlichem Lebensvorgang und rechtlicher Bewertung galt als überwunden. Das Verbrechen ist, wie Dahm meinte, „konkrete Unordnung", die wesenhaft und ganzheitlich zu erfassen sei 3 4 7 . Die A r t des Verbrechens und damit seine rechtliche Erfassung bestimme sich vor allem nach dem Wesen des Täters, das wiederum entscheidend von seiner Stellung innerhalb der Gemeinschaft, von seinem Pflichtenkreis geprägt werde. Auch aus der inneren Haltung und der Gesinnung des Täters, wie sie in der Tat zum Ausdruck komme, aus der Beschaffenheit des Willens sei näher auf das Verbrechen zu schließen. Die Aufzählung weiterer ähnlicher Formulierungen ist überflüssig; denn schon jetzt w i r d erkennbar, daß die Ausführungen zur Tatbestandslehre nahezu identisch waren m i t denen zur Auslegungsmethode. Beide Bereiche flössen ineinander über, gingen auf i n der ganzheitlichen „Wesensschau" des Verbrechens. Vollständig w i r d dieses Bild, untersucht man den Kampf der A n t i liberalen gegen eine weitere Unterscheidung i m herkömmlichen Verbrechenssystem, die zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld. 3. Die Forderung nach Aufhebung der Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld
Die Bekämpfung der Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuld hatte sich insbesondere Schaffstein zur Aufgabe gemacht, der zugleich einer der schräfsten K r i t i k e r der Rechtsgutslehre w a r 3 4 8 . Nach seiner Auffassung waren beide Konstruktionen ineinander verzahnt: Die Trennung von Rechtswidrigkeit und Schuld sei eine Konsequenz der Rechtsgutstheorie, die das Strafrecht als Instrument zum Schutz von Interessen und Rechtsgütern betrachte 349 . Die Grundlage für das Strafbarkeitsurteil gebe allein die objektive Veränderung der Rechtsgüterwelt ab. Die Frage nach der Rechtswidrigkeit beantworte sich nur danach, ob ein objektiv feststellbarer Eingriff i n eine fremde Interessensphäre vorliege. Ob auf Grund subjektiver Gegebenheiten eine mildere Beurteilung angezeigt sei, werde erst sekundär geprüft. Die Schuld 347 Verbrechen u n d Tatbestand, S. 86; vgl. auch S. 80 f.; Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 133 Anm. 22; Kempermann, Die Erkenntnis des Verbrechens, S. 7 f. 348 Dahm hielt sich i n dieser Frage zurück; vgl. Verbrechen u n d Tatbestand, S. 93 A n m . 60 u n d ZStW 57, S. 268 f. A n m . 104. M a n könnte daher fast von einer Arbeitsteilung bei der Auflösung des Verbrechenssystems sprechen: Dahm griff es i m Bereich der Tatbestandslehre an, Schaffstein i m Rahmen von Rechtswidrigkeit u n d Schuld. 349 v g l . Schaff stein, ZStW 55, S. 31; Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 134.
V. Angriffe gegen begriffliche u n d systematische Zergliederung
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bleibe auf die Funktion der Strafbegrenzung beschränkt; die Strafbegründung bleibe allein dem objektiven Unrecht vorbehalten. Nach Schaffsteins Ansicht war diese Theorie schon angesichts zahlreicher wissenschaftlicher Erkenntnisse der vornationalsozialistischen Zeit nicht mehr zu halten. Zum Beweis führte er einmal die von Fischer begründete 350 , von Hegler 3 5 1 und Mezger 3 5 2 weiterentwickelte und vertiefte Lehre von den subjektiven Unrechtselementen an 3 5 3 . Sie durchbreche die strikte Scheidung von objektiver Rechtswidrigkeit und subjektiver Schuld. Nur ζ. T. könnten die subjektiven Unrechtselemente von der Rechtsgutslehre erklärt werden. Bei dem Element der Bereicherungsabsicht i n den §§ 263, 253 und 268 StGB, bei dem Merkmal „aus Eigennutz" i n den §§ 180, 181 a, 257 Abs. 2, 258, 259 oder auch bei den Merkmalen „böswillig" i n § 134 a StGB und „roh mißhandelt" i n § 223 b StGB versage sie ganz offensichtlich, weil hier nicht der Schutz von Rechtsgütern, sondern die Erfassung einer bestimmten Gesinnung i m Vordergrund stehe. I m Gegensatz zur These des rein objektiven Unrechts stünden auch die subjektiven Elemente vieler Unrechtsausschließungsgründe 354 : Der Verteidigungswille bei der Notwehr und der Wahrnehmung berechtigter Interessen, die Verfolgung eines Erziehungszwecks bei der Züchtigung eines Kindes, die pflichtgemäße Prüfung der Notlage beim übergesetzlichen Notstand. Ein Schuldmoment sei auch durch einige Entscheidungen des RG i n Fällen unechten Unterlassens i n die Unrechtsprüfung einbezogen: I m Rahmen der Rechtswidrigkeitsfeststellung habe das RG erwogen, ob dem Unterlassenden ein aktives Eingreifen zuzumuten gewesen wäre 3 5 5 . Weiterhin berief sich Schaffstein auf felder 3 5 7 vorgetragene Lehre von den deren typischstes Beispiel § 217 StGB Privilegierung der unehelichen Mutter 350
die von Hegler 3 5 6 und Thierobjektiven Schuldmerkmalen 358 , (Kindestötung) war, der eine auf Grund ihrer psychischen
Vgl. die Rechtswidrigkeit, 1911. 351 Vgl. ZStW 36, S. 19 ff., 31 ff., 184 ff.; Festschrift f ü r F r a n k 1930 Bd. 1, S. 251 ff. 352 v g l . GS 89, S. 207 ff.; Festschrift f ü r Träger 1926, S. 187 ff.; Straf recht, S. 168 ff. 353 v g l . Schaff stein, ZStW 55, S.32; Tel. Begriffsbildung, S. 20 f. 354 vgl. Schaff stein, ZStW 55, S.32; Tel. Begriffsbildung, S.20f.; ZStW 57, S. 303. 355 vgl. Schaff stein, ZStW 55, S. 33; ZStW 57, S.302; auch Dahm, ZStW 59, S. 183; vgl. dazu R G 58, 97; 226. 356 vgl. Festschrift für F r a n k 1930, Bd. 1, S. 253 f. 357 Objektiv gefaßte Schuldmerkmale, 1932. 358 vgl. Schaff stein, ZStW 57, S.302; Tel. Begriffsbildung, S. 28.
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5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Zwangslage vorsieht. Hier werde das Prinzip der rein subjektiven Fassung der Schuld durchbrochen, wie auch i m Falle des entschuldigenden Notstandes, dessen Vorliegen das RG von einer Güterabwägung abhängig gemacht habe, von einem Merkmal, das ansonsten nur zur Unrechtsbegründung herangezogen werde 3 5 9 . Schließlich nannte Schaff stein die subjektive Versuchstheorie als Beweis für die Unrichtigkeit der herkömmlichen Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuld 3 6 0 . Der Unrechtsgehalt des ungefährlichen untauglichen Versuchs könne nicht aus dem Gedanken der objektiven Rechtsgutsverletzung bzw. -gefährdung erklärt werden. Die Notwendigkeit, die Rechtswidrigkeit mit Hilfe subjektiver Merkmale zu bestimmen, könne hier nicht mehr übersehen werden. Schaffstein mußte konzedieren, daß durch den Ubergang von der psychologischen zur normativen Schuldlehre 361 der Pflichtverletzungsgedanke i n das Strafrecht eingezogen und damit die Rechtsgutsverletzungslehre zurückgedrängt worden war. Insgesamt habe sich an ihrer dominierenden Position aber nichts geändert, weil der Gedanke der Pflichtverletzung eben nur im Rahmen der Schuld Beachtung gefunden habe und somit nur zur Einschränkung der Strafbarkeit verwandt worden sei. Das Schuldurteil knüpfe an eine Pflichtnorm an, die ein der objektiven Rechtsnorm entsprechendes inneres Verhalten verlange 3 6 2 . Die Unterordnung unter das rationalistische Verbrechenssystem zeige sich auch i n der Bestimmung des Maßstabes, der über eine Verletzung der Pflicht entscheide: Dieser richte sich nach den Anforderungen, die man i n der gleichen Situation an den durchschnittlichen Menschen stellen könne 3 6 3 . M i t dem Abstellen auf das menschliche Durchschnittsverhalten würden wieder die gesetzlichen Tatbestände maßgebend, i n denen die durchschnittlichen Anforderungen typisiert worden seien 364 . Die Grundgedanken der nationalsozialistischen Rechtserneuerung machten nach Schaffsteins Auffassung eine Verschmelzung von Rechtswidrigkeit und Schuld zwingend erforderlich. „Vom Standpunkt einer materiellen Verbrechensauffassung" sei die Aufrechterhaltung der Trennung „undurchführbar und zu verwerfen" 3 6 5 ; denn die Frage nach 359 Vgl. Schaffstein, ZStW 57, S.303; Tel. Begriffsbildung, S. 29; RG 66, 397. 360 v g l . ZStW 55, S. 33. sei Vgl. die 12./13. Auflage, S. 157 f. von Liszts Lehrbuch m i t der 14./15, S. 158 f.; ferner Frank, Festschrift für die juristische Fakultät i n Gießen 1907, S. 519 ff. 362 v g l . Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 135. 363 Vgl. ebd., S. 135 f., 138. 364 v g l . Krüger, ZStW 55, S. 82 f. 365 ZStW 55, S. 26.
V. Angriffe gegen begriffliche u n d systematische Zergliederung
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der materiellen Strafwürdigkeit sei nur zu klären, wenn Tat- und Täterseite unter Berücksichtigung ihrer gegenseitigen Abhängigkeit ganzheitlich betrachtet würden. Das nationalsozialistische Straf recht strebe eine durchgängige Verknüpfung von Recht und Sittlichkeit an. Maßgebend für die sittliche Bewertung seien aber der Wille und die Gesinnung, nicht jedoch die äußere Interessen Verletzung. Das führe zwangsläufig zur Subjektivierung des Unrechtsbegriffs und schließlich zur Beseitigung der Grenze zwischen Unrecht und Schuld 3 6 6 . Die Unsinnigkeit des herkömmlichen Verbrechensaufbaus trat nach Dahms Auffassung bei den Treubruchsdelikten offen zutage 3 6 7 : Der Wesenskern des Verrats liege i n der inneren Haltung, i m gesinnungsmäßigen Abfall von der Gemeinschaft: „Die Schuld ist ja gerade das Unrecht 3 6 8 ." Die herkömmliche Grenzlinie zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld wurde von beiden Seiten aus angegriffen: Der geschilderten Subjektivierung des Unrechtsbegriffs entsprach eine Objektivierung des Schuldbegriffs: Der Maßstab für die Pflichtverletzung sollte sich nicht aus einer Individualethik ergeben, sondern aus den Anforderungen der völkischen Sozialethik, die am Menschenbild des „politischen Soldaten" ausgerichtet w a r 3 6 9 . Die ersten Angriffe Schaffsteins gegen die Trennung von Rechtswidrigkeit und Schuld zielten auf eine völlige Aufhebung der Unterscheidung 370 . Sie wurden i n der übrigen Strafrechtswissenschaft ζ. T. skeptisch aufgenommen. Ihnen wurde zur Hauptsache entgegengehalten, daß die Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuld i n vielen Bereichen des Strafrechts unumgänglich sei, so i m Rahmen der Notwehr, des Maßnahmenrechts, der Teilnahme- und der Fahrlässigkeitslehre 3 7 1 . Später äußerte sich auch Schaffstein etwas zurückhaltender: Notwendig sei vor allem die Aufhebung der Trennung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen. Auch sei der Vorsatz i n die Rechtswidrigkeitsprüfung einzubeziehen 372 .
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Vgl. Schaff stein, ZStW 55, S.31; auch Dahm, ZStW 57, S. 244. 367 v g l . ZStaatW 95, S. 288 f.; auch Mezger, ZStW 55, S. 14. 3€8 Dahm, ZStaatW 95, S. 288. 369 v g l . oben 3. Kap. I I . 1. 370 vgl. ZStW 55, S. 26. 371 Vgl. Mezger, Z S t W 55, S. 13 ff.; SchwingelZimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 33 ff.; Kohlrausch, Vermögensverbrechen u n d Eigentumsverbrechen, S. 504, sowie unten 5. Kap. I X . 372 v g l . ZStW 57, S. 305. 15 Marxen
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5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs 4. Das antiliberale „Verbrechenssystem"
Was ließen die Antiliberalen vom Verbrechenssystem übrig? Die antiliberale K r i t i k am formellen Verbrechensbegriff bewegte sich auf unterschiedlichen Argumentationsebenen. Einen Teil der Argumente übernahm sie von einem wissenschaftlichen Standpunkt, der grundsätzlich am herkömmlichen Verbrechenssystem festhielt und lediglich eine Beseitigung von Unebenheiten und Widersprüchen sowie eine Verfeinerung des Systems beabsichtigte. Auf dieser Basis ruhten die Lehren von den subjektiven Unrechtselementen, von den objektiven Schuldmerkmalen, die materiellen Rechtswidrigkeitsbegriffe aus der vornationalsozialistischen Zeit und die normative Schuldlehre. Diese systemimmanente K r i t i k wurde als Beweis für die Systemauflösung vorgetragen. Sie war eingebettet i n eine grundsätzlichere K r i t i k , deren Grundthese war, daß das Verbrechenssystem nicht lediglich ein technisches Instrument zur Prüfung von Strafrechtsfällen sei. Diese K r i t i k am alten Verbrechenssystem hob dessen politische Voraussetzungen hervor und stellte von daher die einzelnen Elemente i n Frage. Ihre Tendenz war überwiegend destruktiv; Anstrengungen zum Aufbau eines neuen Verbrechenssystems waren von einer antirationalistischen Grundhaltung nicht zu erwarten. Das Desinteresse an einem System zeigte sich auch i m Fehlen einer Bestandsaufnahme dessen, was nach der antiliberalen K r i t i k noch vom alten System verwendbar war. Nur Schaffstein umriß i n groben Zügen das Ergebnis der K r i t i k am Verbrechenssystem: Er lobte die „außerordentliche Vereinfachung und Einschränkung", die die allgemeinen Verbrechenslehren erfahren hätten 3 7 3 . Aus dem Tatbestand werde ein „Deliktstypus", der als negative Merkmale sowohl Unrechts- als auch Schuldausschließungsgründe i n sich aufnehme. Da das Verbrechen seiner Natur nach „Willensverwirklichung" sei, ergebe sich eine Untergliederung nach inneren und äußeren Voraussetzungen. Diese beiden Seiten des Verbrechens würden jedoch wieder durch den ganzheitlichen Handlungsbegriff zusammengefaßt und erst i n dieser Form als rechtswidriges Verhalten gewürdigt 3 7 4 . Die „Zweispurigkeit von Rechtswidrigkeit und Schuld als einander gleichgeordnete und selbständige Haftungs Voraussetzungen" konnte nach Schaffsteins Ansicht nicht mehr aufrechterhalten werden 3 7 5 . Die Begriffe fallenzulassen, sei jedoch nicht erforderlich; nur müßten ihnen neue Aufgabenbereiche zugewiesen werden: Nach seinen Vor373 ZStW 55, S. 36. 374 v g l . ZStW 57, S. 315. 375 Ebd., S. 335.
V I . Auswirkungen des neuen Denkens i n Einzelproblemen
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Stellungen sollte die Rechtswidrigkeit alle objektiven und subjektiven Verbrechensvoraussetzungen i n sich aufnehmen, also den „gesamten Deliktstypus" umfassen 376 . Für die Verwendung des Schuldbegriffs machte er drei Vorschläge 377 : Er könne einmal auf die Zurechnungsfähigkeit reduziert werden. Auch sei denkbar, daß er zur Bezeichnung der gesamten objektiven und subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen unter Einschluß der Rechtswidrigkeit der Handlung und der Zurechnungsfähigkeit des Täters verwandt werde. Schließlich könne er als Oberbegriff die Merkmale des Vorsatzes und der Zurechnungsfähigkeit in sich aufnehmen und damit zur Kennzeichnung derjenigen Merkmale dienen, auf die sich die Akzessorietät der Teilnahme nicht erstrecke. Diese Vorschläge Schaffsteins konnten kaum noch verdecken, daß der Schuldbegriff seine eigenständige Bedeutung eingebüßt hatte. Seine Entleerung war symptomatisch für die Auflösung des gesamten Verbrechenssystems. Die Elemente der einzelnen Bestandteile des Systems wurden zu einem ungegliederten, unförmigen Gebilde zusammengefaßt, zum „Deliktstypus". Dessen Etikettierung als „Rechtswidrigkeit" mußte eher verwirren als zu einer Klärung beitragen; die Bezeichnung „rechtswidrig" war keineswegs identisch m i t dem entsprechenden Merkmal des überkommenen Verbrechenssystems. Das Einheitsmerkmal der „Rechtswidrigkeit" erfülle i n idealer Weise die Anforderungen einer wesenhaften und ganzheitlichen Verbrechensbetrachtung. Es befreite von dem Zwang, den eine systematische Untergliederung ausübt. A n die Stelle einer geordneten schrittweisen Gedankenführung, die einer rationalen Nachprüfung zugänglich ist, konnte eine intuitive Wesensschau treten. VI. Die Auswirkungen des neuen strafrechtlichen Denkens in Einzelproblemen 378 1. Die Forderung nach Ersetzung des Territorialitätsprinzips durch das Personalitätsprinzip379
Der Geltungsbereich des StGB von 1871 bestimmte sich zur Hauptsache gem. § 3 nach dem sog. Territorialitätsprinzip. Dahm erblickte darin einen Widerspruch zu „deutschrechtlichem Denken" 3 8 0 , das sich die 376 Vgl. ebd., S. 335 f. 377 v g l . ebd., S. 336. 378 Der Rahmen dieser Untersuchung bringt es m i t sich, daß sich die D a r stellung auf Beispiele beschränkt. Auch sie können n u r sehr kurz abgehandelt werden. Das Schrifttum stellt zumeist n u r eine A u s w a h l dar. 379 Vgl. dazu Dahm, Gemeinschaft u n d Strafrecht, S. 13; Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 29; ZStaatW 95, S. 318 f.; Schaffstein, DRWis 1936, S. 48; Mezger, ZStW 55, S. 12; Gleispach, ZStW 55, S. 399 ff. »so Gemeinschaft und Strafrecht, S. 13. 15*
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Staatsgewalt nicht als territoriale Herrschaftsmacht, sondern als Verpflichtung des einzelnen zur Treue gegenüber der Gemeinschaft vorstelle. Wer nicht zur Gemeinschaft gehöre, den könne die Strafe auch nicht i n ihrer ehrmindernden Funktion treffen. Das materielle Verbrechensprinzip des Treubruchs und die Verdrängung der Rechtsgutsverletzungstheorie durch den Pflichtverletzungsgedanken verlangten eine unterschiedliche Behandlung von Deutschen und Ausländern. Diese müßten einem besonderen „Fremdenrecht" 3 8 0 unterworfen werden, das dem Gedanken der sichernden Maßnahmen näher stehe als dem der echten Strafe. Die Treuepflicht des deutschen Volksgenossen ende nicht mit dem Verlassen des Vaterlandes. Aus diesen Gründen sei es insbesondere i m Hinblick auf die Delikte des Hoch- und Landesverrats notwendig, das Territorialitätsprinzip durch das Personalitätsprinzip abzulösen. I n der amtlichen Strafrechtskommission setzte sich dieser Gedanke durch 3 8 1 . Eine entsprechende Änderung des Gesetzes erfolgte durch die VO vom 6. 5.1940 382 . 2. Die Gleichstellung von Versuch und Vollendung 3 ^
Die unterschiedliche Behandlung von Versuch und Vollendung i m StGB erklärte Schaffstein als Konsequenz der Rechtsgutslehre; für sie bestehe die Rechtswidrigkeit des Versuchs i n der Gefährdung des Rechtsguts i m Unterschied zur Verletzung i m Falle der Vollendung. Wenn dagegen der Pflichtverletzungsgedanke zum herrschenden materiellen Prinzip i m Strafrecht erhoben werde, könne der Grad der Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht mehr über das Strafmaß entscheiden. Die Pflichtverletzung bestimme sich nach subjektiven Kriterien, wie überhaupt i m neuen „Willensstrafrecht" — so formulierte Dahm — die „Betätigung des gefährlichen und volksfeindlichen Willens" der maßgebende Anknüpfungspunkt für die Strafe sei 3 8 4 . Daraus folge zwingend die strafrechtliche Gleichbehandlung von Versuch und Vollendung. Das Ziel dieser Forderung, durch eine gleich hohe Bestrafung des Versuchs eine „aktivistisch geführte Verteidigungslinie des Staates gegen ordnungsverneinende und -bedrohende Elemente" aufzubauen 385 , sei Vgl. Reimer, Räumliche Geltung des künftigen Strafgesetzes, S. 140 ff., und Gleispach, ZStW 55, S. 399 ff. 382 R G B l I, 754. 383 v g l . d a z u Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 137 ; DRWis 1936, S. 48 f.; Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 18; Freisler, Willensstraf recht; Versuch u n d Vollendung, S. 9 ff. 384 Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 18. 385 Freisler, Willensstraf recht; Versuch u n d Vollendung, S. 23.
V I . Auswirkungen des neuen Denkens i n Einzelproblemen
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wurde durch die VO vom 29. 5.1943 erreicht 3 8 6 . Sie ersetzte die i n § 44 Abs. 1 StGB zwingend vorgesehene Milderbestrafung des Versuchs durch eine fakultative. 3. Die Gleichstellung von Täterschaft und
T e i l n a h m e ^
Aus der Maßgeblichkeit des gemeinschaftsfeindlichen Willens wurde weiterhin gefolgert, daß es keinen Unterschied ausmachen könne, ob der Tatbeitrag i n einer unmittelbaren Ausführung, einer Beihilfe oder einer Anstiftung bestehe. Die Denkschrift des Preußischen Justizministers enthielt daher den Vorschlag, den Täterbegriff i n diesem Sinne zu vereinheitlichen 388 . Er fand zunächst Zustimmung, weil er der antiliberalen Bestrebung entsprach, „doktrinäre" Unterscheidungen zu beseitigen und stattdessen eine ganzheitliche Betrachtungsweise einzuführen 3 8 9 . Begrüßt wurde, daß i n der Ausdehnung des Täterbegriffs eine „erhöhte Verantwortlichkeit des einzelnen" zum Ausdruck komme 3 9 0 . Erst mit der Zuschärfung der Tätertyplehre stellten sich Zweifel an der Richtigkeit einer unterschiedslosen Behandlung von Täterschaft und Teilnahme ein. Dahm hielt jetzt diesen Gedanken für „schon i m Ansatz verfehlt" 3 9 1 . Einmal rufe er unüberwindliche technische Schwierigkeiten hervor; zum anderen vermenge er dem Wesen nach Verschiedenes: „Kein Gesetzgeber vermag etwas daran zu ändern, daß der Anstifter und der Gehilfe ein anderer ist als der Täter 3 9 1 ." 4. Die Lösung der Problematik unechter Unterlassungsdelikte mit Hilfe des Pflichtverletzungsgedankens und der Tätertyplehre
Fragen der unechten Unterlassungsdelikte wurden zunächst von Schaff stein 3 9 2 , dann auch von D a h m 3 9 3 intensiv abgehandelt. Die bis dahin i n Wissenschaft und Praxis herrschenden Auffassungen waren ihrer Ansicht nach eindeutig liberalen Ursprungs. Vor allem Schaffstein betonte den Zusammenhang m i t der Rechtsgutslehre 394 . Für diese liege der Sinn des Strafrechts darin, daß der Bürger angehalten werde, 3
86 R G B l I, 341. Vgl. dazu Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 18; Schaffstein, ZStW 53, S. 612; Angermeier, DR 1935, S. 527 ff. 388 Vgl. S. 131; auch S. 27 u n d 117. 389 Vgl. Schaff stein, ZStW 53, S. 612. 390 v.Dohnanyi, Täterschaft u n d Teilnahme, S. 75. 391 Festschrift für Siber 1941, Bd. 1, S. 236. 392 vgl. Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 140 ff.; Festschrift für Gleispach 1936, S.70ff.; D J 1936, S. 767 ff. 393 vgl. ZStW 59, S. 133 ff. 394 Vgl. Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 140 f.; Festschrift für Gleispach 1936, S. 98. 387
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5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Eingriffe i n fremde Rechtsgütersphären zu unterlassen. Grundsätzlich hätten die Pflichten nur negativen Charakter. Die offensichtliche Strafwürdigkeit bestimmter Unterlassungen bringe die Rechtsgutslehre daher i n erhebliche systematische Schwierigkeiten, die auch darauf beruhten, daß die ihr eigene kausale Betrachtungsweise nicht ausreiche, um die Straf bar keit i n diesen Fällen zu begründen. Stelle man allein darauf ab, daß das Unterlassen kausal für eine Rechtsgutsbeeinträchtigung geworden sei, so ergebe sich ein unendlich großer Kreis zu bestrafender Fälle, denen aber nach vernünftiger Einschätzung zum größten Teil die Strafwürdigkeit fehle. Nach vergeblichen Anläufen, die Lösung i m Bereich der Kausalität zu finden, habe man versucht, die notwendige Einschränkung i m Rahmen der Rechtswidrigkeit vorzunehmen. Man habe nicht umhin können, die Verletzung positiver Pflichten als Strafgrund zu statuieren. Dabei sei das liberale Denken stets darum besorgt gewesen, diese Ausnahmen vom grundsätzlich negativen Charakter der Strafrechtspflichten i n engen und zugleich berechenbaren Grenzen zu halten. Als strafrechtlich relevant sei daher nur die Verletzung sog. „Rechtspflichten" anerkannt worden, d. h. solcher Pflichten, die aus Gesetz oder vertraglicher Vereinbarung resultierten 3 9 5 . Durch die Anknüpfung an Rechtspflichten habe man auch i m Bereich der unechten Unterlassungsdelikte die Durchführung des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege" sichergestellt. Die Rechtspflichtslehre habe eine klare, formale Unterscheidung von Strafbarem und Nicht straf barem zu treffen versucht. Sie kenne daher auch nur ein Entweder-Oder 3 9 6 : Entweder habe eine Rechtspflicht zum Handeln bestanden, dann treffe den Unterlassenden die volle Strafbarkeit; oder das Vorliegen einer Rechtspflicht werde verneint, dann gehe er straffrei aus, auch wenn er offensichtlich gegen sittliche Pflichten verstoßen habe. Eine differenzierende Betrachtung des Unrechts erlaube die Rechtspflichtslehre nicht. U m die scharfe Grenzziehung nicht wieder i n Frage zu stellen, sei i m Gegensatz zu den Begehungsdelikten hier der Übergang zur materiellen Rechtswidrigkeit nicht vollzogen worden. Man klammere sich positivistisch an den Wortlaut des Gesetzes und komme daher zu widersinnigen und lebensfremden Ergebnissen: Der Positivismus gehe so weit, daß alle nur möglichen Rechtsvorschriften herangezogen würden, auch solche, die nicht für das Gebiet des Straf rechts paßten, nur um eine gesetzliche Grundlage vorweisen zu können. M i t der Berücksichtigung vor allem der Handlungspflichten des Zivilrechts werde i m übrigen ein 395 v g l . Z U r Rechtspflichtlehre: S chaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 142 f.; Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 76 ff.; D J 1936, S. 767 f. 3»6 vgl. neben Schaff stein (Anm. 395) noch Dahm, Verbrechen u n d T a t bestand, S. 99 f.
V I . Auswirkungen des neuen Denkens i n E i n z e l p r o b l e m e n 2 3 1
weiterer Beitrag zur Unterwerfung des Strafrechts unter die zivilistische Denkweise geleistet. Daraus resultiere eine Abhängigkeit von völlig sachfremden Vorschriften: Die Frage, ob ein Vertrag wegen fehlender Genehmigung unwirksam, wegen Formverstoßes nichtig oder wegen Irrtums angefochten sei, könne nicht der Entscheidung über die Strafbarkeit wegen Mordes, Betrugs oder Brandstiftung zugrundegelegt werden. Positivistisches Denken zeige sich in der Entgegensetzung von rechtlichen und nur sittlichen Pflichten, die nicht zur Strafbarkeitsbegründung ausreichten. Damit würden Gesetz und völkische Sittenordnung i n einen Gegensatz gebracht 397 . Daß die Rechtspflichtslehre aus dem Gedankenkreis der Rechtsgutstheorie hervorgegangen sei, erweise sich auch daran, daß für diese wie für jene die A r t der Tatbegehung, die Gesinnung des Täters und die Intensität des verbrecherischen Willens bedeutungslos seien 398 . Ein entscheidender Wandel habe sich auch nicht durch die jüngere, vor allem von Nagler vertretene Lehre von der Garantenpflicht vollzogen 399 . Auch i n ihr komme einseitiges Rechtsgutsdenken zum Ausdruck: denn auch sie stelle maßgeblich darauf ab, ob eine rechtliche Pflicht des Garanten zur Abwendung des Erfolges, d. h. aber der Rechtsgutsverletzung, bestand. Personale Gesichtspunkte blieben wiederum außer Betracht. M i t Entschiedenheit setzte sich Schaffstein dagegen für die Priorität des Pflicht Verletzungsgedankens gerade i m Bereich der unechten Unterlassungsdelikte ein. Es müsse erkennbar gemacht werden, daß der neue Staat als Ausdrucksform der Volksgemeinschaft von jedem Gemeinschaftsglied die Erfüllung weitgehender Handlungspflichten verlangen könne. Die Identität von Recht und Sitte i n der völkischen Rechtsordnung mache es überflüssig, daß die Pflicht zum Handeln positivrechtlich festgelegt sei. Die Unterscheidung rechtlicher und sittlicher Pflichten habe ihren Sinn verloren 4 0 0 . I n zweifacher Hinsicht zog diese Theorie eine Ausdehnung der Strafbarkeit nach sich: Auch solche Handlungsgebote, die bis dahin als nur sittliche Pflichten eingestuft worden waren, sollten die Strafbarkeit wegen Unterlassens begründen können. Der Maßstab zur Bestimmung von Inhalt und Umfang der Pflichten sollte nicht auf die individuellen 397 Vgl. außer Schaff stein (Anm. 395) noch Dahm, Verbrechen u n d T a t bestand, S. 99. »98 vgl. Schaff stein, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 107; DJ 1936, S. 768. 399 vgl. Nagler, GS 111, S. 59 ff., 80 ff.; dazu Dahm, ZStW 59, S. 140 f. 400 v g l . Schaff stein, Festschrift für Gleispach 1936, S. 96; D J 1936, S. 767; Dahm, ZStW 59, S. 116.
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Voraussetzungen zugeschnitten sein, sondern sich aus der „völkischen Sittenordnung" ergeben 401 . Zum Richtpunkt wurde der „vorbildlich urteilende Volksgenosse" genommen, „der besonders hohe sittliche A n forderungen stellt" 4 0 2 . Insgesamt sollte bei der Bestimmung der Pflichten Berücksichtigung finden, daß der neue Staat den „aktiven Einsatz des Volksgenossen zum Schutz der Gemeinschaft und zur Abwendung von Gefahren für andere Volksgenossen" erwarte 4 0 3 . Schaff stein Schloß daraus die „Notwendigkeit, die Strafandrohungen gegen die Unterlassungsdelikte zu vermehren, u m damit die Erfüllung jener Gemeinschaftspflichten sicherzustellen" 404 . Ein Mittel, das sich dazu eignete, die unechten Unterlassungsdelikte den Bedürfnissen des totalen Staates zu unterwerfen, war, die Grenzen der erweiterten Handlungspflichten nicht präzise und allgemeinverbindlich zu bestimmen. I m einzelnen sei der Umfang der Pflichten durch eine „Besinnung" 4 0 5 auf die jeweilige konkrete Ordnung, auf das „innere Gesetz" 406 der betreffenden engeren Gemeinschaft zu ermitteln. Die Verdrängung des Rechtsgutsverletzungsgedankens sollte eine stärkere Beachtung der personalen Seite des unechten Unterlassungsdelikts zur Folge haben. Schaffstein vertrat daher die Ansicht, daß auch die neue materielle Täterlehre den Aufbau des unechten Unterlassungsdelikts bestimmen müsse. Der Pflichtverletzungsgedanke lege es nahe zu untersuchen, ob der Täter nach seiner Stellung i n der Gemeinschaft, nach seinem Willen und seiner Gesinnung und auch nach der A r t der Tatausführung dem Tätertyp des betreffenden Delikts zuzurechnen sei 4 0 7 . Dahm rückte die Frage nach der Täterschaftsmäßigkeit noch weiter i n den Vordergrund. Er sah das Verhältnis zwischen dieser Frage und der nach der Pflichtverletzung umgekehrt: Die Feststellung, daß der Unterlassende m i t dem Täterbild i n der Volksanschauung übereinstimme, könne als wesentlicher Anhaltspunkt dafür genommen werden, daß er eine strafrechtlich relevante Pflicht zur Abwendung des Erfolges gehabt habe 4 0 8 . Praktische Unterschiede konnten daraus jedoch 401 Schaff stein, Festschrift für Gleispach 1936, S. 96. 402 Ebd., S. 97 A n m . 26. Schaff stein übernahm hier eine Formulierung, die Larenz bei der Kennzeichnung des Begriffs der „guten Sitten" i n § 138 B G B verwandt hatte (vgl. Vertrag u n d Unrecht I, S. 81 f.). 403 vgl. Schaffstein, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 98. 404 D J 1936, S. 767. 405 Schaff stein, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 76. 406 Ebd., S. 97. 407 vgl. ebd., S. 94 f. 408 vgl. ZStW 59, S. 135 ff.; Festschrift f ü r Siber 1941, Bd. 1, S. 228 f.
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nicht entstehen. Wie bereits dargelegt, war die Lehre vom Tätertyp nicht geeignet, die Grenzen des strafbaren Verhaltens enger zu ziehen oder sie auch nur klar zu bezeichnen 409 . Das bestätigen die Formulierungen, die Dahm und auch Schaff stein für die Untersuchung der Täterschaftsmäßigkeit i m Rahmen der unechten Unterlassungsdelikte verwandten: Der Unterlassende müsse „nach gesundem Volksempfinden" als Täter des Delikts erscheinen 410 . „Ist zweifelhaft, ob der Unterlassende ,tötet', so soll der Richter sich fragen, ob ihn die Volksanschauung als Mörder betrachtet 4 1 1 ." Als Täter habe er i n zahlreichen Fällen dann zu gelten, wenn von i h m „nach seiner Gesinnung ebensowohl wie die Nichtabwendung des Erfolges auch seine Herbeiführung durch aktives T u n hätten erwartet werden können" 4 1 2 . Allgemeine Begriffe und Richtlinien könnten nicht weiterhelfen 4 1 3 ; die Frage nach der Typmäßigkeit müsse konkret aus dem einzelnen Delikt heraus beantwortet werden: „Nur eine wesenhafte und konkrete Betrachtung führt hier zum Ziel 4 1 4 ." Noch i n anderer Hinsicht hatte die Tätertyplehre i m Bereich der unechten Unterlassungsdelikte weitreichende Konsequenzen: Die Prüfung der Täterschaftsmäßigkeit erfolgte unter dem Aspekt, ob der Unterlassende dem Tätertyp unterfällt, ob er Täter „ i s t " 4 1 5 . Nach Dahms Auffassung konnte daher nicht mehr von einer „Gleichstellung" die Rede sein; diese Vorstellung sei zusammen m i t dem herkömmlichen Handlungsbegriff überwunden. Es komme nicht auf den „naturalistischen Vorgang des äußeren Geschehens, sondern auf den objektiven Sinn an, der dem Verhalten i n der Gemeinschaftsordnung zukommt" 4 1 6 . Der Unterlassende sei von vornherein Täter, sofern er dem B i l d entspreche, das sich die Volksanschauung vom Täter mache. Die Aufhebung der scharfen Trennung von positivem Tun und Unterlassen veranlaßte Dahm zu fordern, daß viele Delikte, die bis dahin dem Bereich des unechten Unterlassens zugerechnet worden waren, als positives T u n einzustufen. Er dachte dabei vor allem an die Vermögensdelikte 417 . Diese Forderung muß i m Lichte der damaligen Rechtsprechung betrachtet werden: Trotz der antiliberalen K r i t i k hielt sie an der Unter409 Vgl. oben 5. Kap. I V . 5. 410 Schaffstein } Festschrift für Gleispach 1936, S. 95. 411 Dahm, ZStW 59, S. 149. 412 Schaff stein, Festschrift für Gleispach 1936, S. 111. 413 Vgl. ebd., S. 95. 414 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 100. 415 Vgl. Dahm, ZStW 59, S. 148. 416 Ebd., S. 160; ähnliche Gedankenführung bei H. Mayer, Deutschen Volkes, S. 214 f. 417 Vgl. ZStW 59, S. 159 ff.
Straf recht des
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5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Scheidung zwischen „Rechtspflichten" und strafrechtlich irrelevanten nur sittlichen Pflichten fest und wehrte sich durch eine gewisse Formalisierung gegen eine völlige Auflösung der Strafbarkeitsgrenzen 418 . Eine Übernahme von Unterlassungsfällen i n den Bereich des positiven Tuns hätte es ermöglicht, diese Rechtsprechung zu unterlaufen. V I L D e r Antiliberalismus i m Strafprozeßrecht: Die Auflösung des Legalitätsprinzips
Von den zahlreichen Ansatzpunkten antiliberalen Denkens i m Strafprozeßrecht soll hier einer als Beispiel herausgegriffen werden. Die Diskussion um das Legalitätsprinzip eignet sich besonders gut für eine exemplarische Darstellung, weil i n dieser Frage noch einmal die Struktur der antiliberalen, nationalsozialistischen Strafrechtspolitik m i t aller Deutlichkeit hervortritt: Die Stellungnahme zum Legalitätsprinzip war ambivalent, jedoch nur scheinbar widersprüchlich. Sie leitete sich aus dem einen Ziel ab, die Strafrechtspflege dem nationalsozialistischen Führungsanspruch zu unterwerfen. Die Frage, ob das Legalitätsprinzip i m nationalsozialistischen Staat beizubehalten sei, wurde auf einer Zusammenkunft deutscher Strafrechtslehrer i m März 1934 unter dem Thema „Richter, Staatsanwalt und Beschuldigter i m Strafprozeß des neuen Staates" angeschnitten 419 . Als entschiedener Gegner des Legalitätsgrundsatzes gab sich Siegert zu erkennen 420 . Zwei Gründe brachte er vor: Der Staatsanwalt übe im Vorverfahren die Funktion eines Führers aus; daher müsse es ihm überlassen bleiben, ob das Verfahren eingeleitet werde. Seine völlige Entscheidungsfreiheit folge auch zwingend aus der Überwindung des Formalismus i m Strafrecht: „Wo aber nicht der Wortlaut, sondern der Geist des Gesetzes, nicht die formelle Gesetzesverletzung, sondern die Volksschädlichkeit i m materiellen Recht ausschlaggebend sind, da muß i m Prozeß die Staatsanwaltschaft die Freiheit haben, die Anklage zu erheben oder sie zu unterlassen 421 ." Die Forderung nach Beseitigung des Legalitätsgrundsatzes war eine Konsequenz aus der Priorität des materiellen Verbrechensbegriffs. Sie sollte von der strafprozessualen Seite her eine „immanente Straf rechtsreform" ermöglichen, eine A n passung des auch nach dem politischen Umsturz weitergeltenden Strafgesetzes an das nationalsozialistische Rechtsdenken und an die politischen Forderungen des Nationalsozialismus. 418 so ganz deutlich R G 70, 154; vgl. auch Niethammer, ZStW 57, S. 437. 419 Die Referate u n d ein Bericht über die Diskussion wurden i n ZStW 54, S. 1 ff. abgedruckt. 420 vgl. ZStW 54, S. 14 ff. 421 Ebd., S. 25.
V I I . Antiliberalismus i m Strafprozeßrecht
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Siegerts Vorstoß entsprach jedoch nur zu einem Teil den Prinzipien der antiliberalen, nationalsozialistischen Rechtserneuerung. Auf der anderen Seite konnte die Abschaffung des Legalitätsprinzips den geplanten verschärften Einsatz der Strafe behindern. Unvereinbar war der Vorschlag weiterhin m i t dem Führerprinzip, aus dem zumindest für die nationalsozialistischen Gesetze eine strenge Bindung der Rechtspflegeorgane gefolgert wurde. Die überwiegende Meinung sprach sich daher für die Beibehaltung des Legalitätsprinzips aus 422 , das jetzt jedoch nicht mehr aus formal-rechtsstaatlichen Gründen abgeleitet, sondern „materiell" erklärt wurde: Der Legalitätsgrundsatz sei „nicht als Sicherung der Rechtsgleichheit, sondern als natürliche Folge der Funktionszuweisung an Staatsorgane" aufzufassen 423 . Die Affinität zwischen antiliberalem Denken und dem Opportunitätsprinzip setzte sich jedoch insoweit durch, als daneben eine Ausdehnung der Opportunitätsfälle verlangt wurde 4 2 4 . Z u bewerten ist diese Forderung i m Hinblick auf die praktisch politische Seite des Opportunitätsprinzips: Es ermöglicht der politischen Führung, über die weisungsgebundene Staatsanwaltschaft Einfluß auf die Rechtspflege zu nehmen und durch willkürlichen Zugriff ein K l i m a der Unsicherheit zu schaffen. Dieser Gesichtspunkt gab schließlich den Ausschlag für die Entwicklung des Strafprozeßrechts i n dieser Frage durch die Gesetzgebung: A r t i k e l 9 § 2 der VO zur weiteren Vereinfachung der Rechtspflege vom 13. August 1942 425 entband den Staatsanwalt bei allen Antragsdelikten von dem Zwang zum Einschreiten, sofern das öffentliche Interesse fehlte, und befreite ihn für die Vergehensfälle des § 153 Abs. 2 StPO von dem Erfordernis der richterlichen Zustimmung. Schließlich hob A r t i k e l 2 § 8 der 4. VereinfachungsVO vom 13. Dezember 1944 426 das Legalitätsprinzip überhaupt auf: Der Staatsanwalt konnte bei allen Delikten von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen, wenn die Verfolgung i m Kriege zum Schutz des Volkes nicht erforderlich schien: das Gericht konnte noch nach Anklageerhebung das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft einstellen. 422 v g l . Henkel, ZStW 54, S . 3 8 1 ; Dahm, ZStW 54, S. 401 ff.; Schaff stein, DR 1935, S. 521. Finke, L i b . und Strafverfahrensrecht, S. 49, forderte sogar eine verstärkte Anwendung des Grundsatzes, so bei privater Kenntnisnahme „verdächtiger Umstände oder begangener Straftaten" durch den Staatsanwalt. Das Opportunitätsprinzip ist nach seiner Auffassung „undeutsch". 423 Freisler, DStR 1935, S.232; vgl. auch Schaffstein, DR 1935, S. 521. 424 v g l . Freisler, DStR 1935, S.232; Schaff stein, DR 1935, S. 521; W.Busch, DR 1934, S. 63. 425 R G B l I, 508, 510. 426 V O zur weiteren Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse des totalen Krieges; R G B l I, 339.
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5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs V I I I . Philosophische Hintergründe der antiliberalen Strafrechtswissenschaft
Nach der Darstellung der wichtigsten antiliberalen Strafrechtslehren können die eingangs angestellten allgemeinen Betrachtungen über die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des strafrechtswissenschaftlichen Antiliberalismus 4 2 7 spezifiziert werden. Anlaß für eine Wiederaufnahme dieser Fragen gibt die 1937 von den Marburger Professoren Schwinge und Zimmerl veröffentlichte Schrift „Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken i m Straf recht". Grundthese der Arbeit war: Die von Dahm und Schaffstein repräsentierte strafrechtswissenschaftliche Richtung befindet sich i n völliger Abhängigkeit von philosophischen Lehrmeinungen. Ihre Methoden und ihr System sind von der Phänomenologie und vom konkreten Ordnungsdenken C. Schmitts beherrscht. — Zu prüfen bleibt, ob dieses vom Standpunkt des zeitgenössischen Betrachters gefällte Urteil aus heutiger Sicht aufrechterhalten werden kann. 1. Der Einfluß der Phänomenologie
Die von Schwinge/Zimmerl behauptete Abhängigkeit von der Phänomenologie scheint sich zu bestätigen, wenn man einige Elemente des Denkverfahrens näher betrachtet, das Auslegung, Begriffsbildung und Systematik bestimmen sollte: Wie das von Husserl entwickelte Reduktionsverfahren zielte es auf eine Ausscheidung des Unwesentlichen ab. Beabsichtigt war eine bewußte „Vereinfachung der Blickrichtung" 4 2 8 . Die Lebenswirklichkeit i n ihrer konkreten Gestalt sollte erfaßt werden. I n Übereinstimmung mit einigen phänomenologischen Denkern, allen voran Heidegger, erwarteten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler von der Sprache tiefere Aufschlüsse über den Bedeutungsgehalt des Gegenstandes 429 . Für einen Zusammenhang mit der Phänomenologie spricht aber vor allem der häufige Gebrauch des Wortes „Wesen" und abgeleiteter Wörter wie „wesenhaft" und insbesondere „Wesensschau". Diese Indizien reichen jedoch nicht aus, um das Urteil zu stützen, Straf rechts wissenschaf tier wie Dahm und Schaff st ein hätten es unternommen, die Phänomenologie in das Strafrecht umzusetzen 430 . Zur Begründung mag ein Vergleich mit Reinach dienen: I n seiner Schrift „Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts" bemühte 427 v g l . oben Kap. 2. 428 Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 88. 429 v g l . oben 5. Kap. I V . 4. 430 So auch schon Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 134 Anm. 4; Mittermaier, SchwZStR 1938, S. 213; E.Wolf, DRWis 1939, S. 173.
V I I I . Philosophische Hintergründe
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er sich u m den Nachweis, daß i m Recht eine apriorische Wesenserkenntnis möglich ist. Zunächst legte er den philosophischen Grundgedanken dar 4 3 1 ; daran anschließend versuchte er am Beispiel verschiedener Institutionen des bürgerlichen Rechts i m Wege streng phänomenologischer Betrachtungsweise, d. h. durch eine „rein immanente, intuitive Klärung ihres Wesens" 432 , den Beweis zu erbringen, daß es „an sich seiende rechtliche Gebilde" g i b t 4 3 3 . Ganz anders dagegen Dahm und Schaff stein: Weder lehnten sie sich ausdrücklich an die fachphilosophische Phänomenologie an 4 3 4 , noch bedienten sie sich eines ähnlich geordneten Gedankenschemas. Während die Phänomenologie zumindest i m Ansatz rationale Logik als Erkenntnismittel verwandte, bekämpften die antiliberalen Strafrechtler den Rationalismus m i t aller Entschiedenheit. Ihre „Wesensschau" bildete kein genau angebbares Verfahren. Uber die bloße Forderung, ganzheitlich und wesenhaft zu denken, die nur einen Irrationalismus und Intuitionismus zum Ergebnis haben konnte, gelangten sie nicht hinaus 4 3 5 . Allenfalls die Schrift Kempermanns „Die Erkenntnis des Verbrechens und seiner Elemente" eignet sich als Beleg für einen Zusammenhang mit der philosophischen Lehrmeinung der Phänomenologie. Kempermann hatte sich zum Ziel gesetzt, die strafrechtlichen Lehren vom Boden der Phänomenologie aus zu erneuern 4 3 6 . Seine Arbeit fand jedoch bei weitem nicht die Beachtung der Schriften Dahms und Schaff st eins. Sie machte i m übrigen die m i t der phänomenologischen Denkweise verbundenen Gefahren erkennbar: Zwar verstand Kempermann die phänomenologische Methode i m Sinne ihres Begründers als ein objektives, streng logisches Verfahren 4 3 7 . Zur Begründung seiner Ergebnisse berief er sich auf „evidente Erkenntnisse" 4 3 8 und „Einsich43
i § 1.
432 s . 7 . 433 s . 6 .
434 Nach Dahms Aussage hielten sich die K i e l e r Strafrechtler bewußt v o n philosophischen Überlegungen fern (ZStW 57, S. 285). E r verwahrte sich m i t dem Hinweis auf Husserls jüdische Abstammung dagegen, m i t i h m i n einen Zusammenhang gebracht zu werden (ebd.). Die philosophische Abstinenz machte Schaff stein m i t den Worten deutlich, die Neuorientierung der Strafrechtswissenschaft nehme ihren Ausgang „ v o n dem politischen Geschehen der letzten Jahre" (Pol. Strafrechtswissenschaft, S. 5). 435 Diese Feststellung soll nicht besagen, daß ein streng phänomenologisches Denkverfahren zu besseren Ergebnissen führen würde. Vgl. die K r i t i k Blochs an Reinach (Naturrecht u n d menschliche Würde, S. 164 ff.). 436 v g l . z.B. S. 17 f., 19 f.; vgl. auch die spätere Abhandlung Kampermanns über „Strafrecht und Phänomenologie" (ArchRSozPh Bd. 31, S. 292 ff.), die der Verteidigung seiner Schrift über „ D i e Erkenntnis des Verbrechens u n d seiner Elemente" diente. 437 Vgl. z. B. S. 2, 51. 438 s . 2 9 .
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5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
t e n " 4 3 9 . Für ihre objektive Gültigkeit führte er an, daß sie i m Wege phänomenologischer Reduktion gewonnen worden seien 440 . Inwieweit damit die Subjektivität des Schauenden überwunden war, erörterte er nicht. Auch die Frage der rationalen Nachprüfbarkeit erschien ihm nicht problematisch 4 4 0 3 . Schwinge und Zimmerl hatten aber nicht völlig unrecht m i t ihrer Behauptung, daß zwischen der Dahm/Schaffsteinschen Richtung und der Phänomenologie ein Zusammenhang bestand. Die Phänomenologie war i n den zwanziger Jahren über die Grenzen des Fachbereichs Philosophie hinausgetreten. Sie wurde von der Woge des Irrationalismus mitgerissen 441 . I n einem Simplifizierungs- und Vulgarisierungsprozeß wurde die irrationale Endphase der Phänomenologie, das „Schauen" des Gegenstandes, zum alleinigen Inhalt der phänomenologischen Methode gemacht. I n dieser Form verband es sich m i t der Lebensphilosophie und m i t der antiliberalen und antidemokratischen politischen Erneuerungsbewegung und beeinfiußte auf diesem Wege mehr unterschwellig die Anschauungen der antiliberalen Strafrechtswissenschaft. 2. Das konkrete Ordnungsdenken in der damaligen Strafrechtswissenschaft
Schwinge und Zimmerl behaupteten ferner, daß sich die neue strafrechtswissenschaftliche Richtung der Lehre C. Schmitts, insbesondere dem von ihm propagierten Denken i n konkreten Ordnungen, untergeordnet habe 4 4 2 . Hier war die Beweisführung einfacher. Häufig und eingehend nahmen die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler auf C. Schmitts Lehren Bezug 4 4 3 . Übernommen wurde die Vorstellung, daß sich die Volksgemeinschaft aus einer Vielzahl engerer Gemeinschaften zusammensetze, aus „konkreten Ordnungen", die ihre eigene Gesetzmäßigkeit i n sich tragen. Die Forderung, das Denken an diesen konkre43 9 S. 30. 440 v g l . s. 20, 27 ff. 44oa Ganz beiläufig heißt es i n seiner Verteidigungsabhandlung i n ArchRSozPh Bd. 31, S. 300: Der phänomenologische Blick überlasse sich dem „vorgängigen Seins Verständnis, das jedem Menschen mehr oder weniger eignet". 441 Vgl. oben Kap. 2. 442 v g l . Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 27 ff.; vgl. zum konkreten Ordnungsdenken: C.Schmitt, Die drei A r t e n ; D R 1934, S. 225 ff.; D R 1936, S. 181 ff.; D J Z 1934, S. 691 ff.; vgl. ferner die Darstellung bei Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 277 ff., i n der auch die Bedeutung des konkreten Ordnungsdenkens für die nationalsozialistische Rechtserneuerung erörtert w i r d . 443 v g l . oben 3. Kap. I I I . 1. u n d 5. Kap. V. 1. u n d die Nachweise bei Schwingel Zimmerl, ebd.
V I I I . Philosophische Hintergründe
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ten Ordnungen auszurichten, schlug sich i m „personalen" Täterbegriff und i n der Deutung des Verbrechens als Pflichtverletzung nieder, die z. B. i m Bereich der Unrechtsausschließungsgründe oder der unechten Unterlassungsdelikte weitreichende Konsequenzen hatten. Es weckt jedoch falsche Vorstellungen, wenn behauptet wird, daß die strafrechtlichen Lehren Dahms und Schaffsteins sich i n vollständiger Abhängigkeit vom konkreten Ordnungsdenken befanden. Eine unselbständige Nachahmung der Lehre C. Schmitts war gar nicht möglich; denn diese enthielt kein umfassendes Denkverfahren, sondern lediglich einen Denkanstoß, den Aufruf, konkret zu denken. Der Typus des konkreten Ordnungsdenkens wies eine solche Weite und Vielfalt auf 4 4 4 , daß für eine strikte Befolgung die notwendigen festen Anhaltspunkte fehlten. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß der K e r n des konkreten Ordnungsdenkens, die Abwendung von Abstraktion und Kationalismus, einer weit umfassenderen geistigen Zeitströmung entsprach 445 . Die Ausrichtung der neuen strafrechtlichen Lehren an konkreten Ordnungen setzte nicht notwendigerweise das konkrete Ordnungsdenken C. Schmitts voraus 4 4 6 . Es wäre daher besser, von einem Gleichklang als von einer Abhängigkeit zu sprechen. 3. Der Einiluß des Neuhegelianismus
Eine dritte geistesgeschichtliche Verbindungslinie, die Schwinge/Zimmerl jedoch nicht zogen, findet ihren äußeren Anhalt darin, daß wiederholt auf rechtsphilosophische Ansichten Binders und dessen Schüler Larenz Bezug genommen wurde 4 4 7 . Larenz galt gemeinhin als Rechtsphilosoph der „Kieler Schule" 4 4 8 . Zusammen m i t seinem Lehrer repräsentierte er eine Geistesrichtung, die um eine Wiederbelebung Hegeischen Gedankengutes bemüht w a r 4 4 9 . 444 Der weite Bogen, den C.Schmitt zog, u m seine Lehre v o m konkreten Ordnungsdenken herzuleiten u n d abzustützen, reichte v o n Thomas von Aquin über Luther, Fichte, Savigny, Schelling, Hegel, v. Gierke, Hauriou, Renard bis zum Führer der deutschen Rechtsfront, Hans Frank (vgl. Die drei Arten, S. 41 ff.). Vgl. dazu Schneider, Ausnahmezustand u n d Norm, S. 268 ff. 445 v g l . oben Kap. 2. 446 So auch H. Mayer, DStR 1938, S. 96 A n m . 101, i n bezug auf die A u f fassung v o m Verbrechen als Pflichtverletzung; vgl. auch zum Abstand der Kieler Strafrechtsschule von der Methodenlehre C.Schmitts: Dahm, ZStW 57, S. 292 u n d ZStaatW 95, S. 181 f., sowie Amelung, Rechtsgüterschutz u n d Schutz der Gesellschaft, S. 220 A n m . 34. 447 v g l . z.B. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 62 f. A n m . 1; S. 87 A n m . 47; ZStW 57, S. 251 A n m . 63 a; S. 262 A n m . 88; S. 289 A n m . 166. 448 v g l . E. Wolf, DRWis 1939, S. 174. 449 v g l . Larenz, Die Rechts- u n d Staatsphilosophie des deutschen Idealismus, S. 187 ff.; Glockner, Logos Bd. X X , S. 169 ff.; speziell zu Binder: Larenz, ZRPh Bd. 5, S. 185 ff.; u n d aus der neueren L i t e r a t u r : Evers, Der
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5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Dieser Neuhegelianismus hinterließ i n den Anschauungen der antiliberalen Straf rechtswissenschaft deutliche Spuren 4 5 0 : Eine wichtige Verbindungslinie läßt sich von der Staatstheorie Hegels zur organischen Machtstaatsideologie der antiliberalen Straf rechtswissenschaft ziehen 4 5 0 a . Hegelschem Denken entsprach die Unterscheidung von Stufen der W i r k lichkeit („empirische", „sinnvolle" Wirklichkeit) 4 0 1 . Anklänge an Hegel enthielt auch die Anknüpfung an den „Volksgeist" 4 5 2 . Der Begriff des „objektiven Geistes" erlebte eine Renaissance 453 . I n i h m sollte die Unterscheidung von Wert und Wirklichkeit überwunden sein. Der Neuhegelianismus erstrebte eine „Abwendung von der formalen Logik und Erkenntnistheorie" sowie eine „Hinwendung zum Gegenständlichen und zu einer immanenten Sachlogik" 4 5 4 . Damit erfuhr Hegels „konkreter Begriff" eine Wiederbelebung. Deutlich zeichnen sich die Verbindungslinien zur Phänomenologie und zum konkreten Ordnungsdenken ab. I X . Die geringe Bedeutung liberaler Argumente auf Seiten der Verteidiger
der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik Die Ansichten und Forderungen der antiliberalen S traf rechts Wissenschaftler blieben nicht unwidersprochen. Widerstand ging vor allem von den beiden Marburger Hochschullehrern Schwinge und Zimmerl aus. Sie Richter u n d das unsittliche Gesetz, S. 61 ff.; Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, S. 187 ff.; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 314 ff. 450 Vgl. auch E. Wolf, DRWis 1939, S. 174; H. Mayer, DStR 1938, S. 76 A n m . 16; Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 134 A n m . 4, u n d die Aussage Schaffsteins, die Begriffsbildungslehre der Jüngeren sei „teüs phänomenologisch, teüs hegelianisch" beeinflußt (ZStW 56, S. 106). Ob jedoch der Z u sammenhang zwischen der antiliberalen, nationalsozialistischen Strafrechtstheorie u n d Hegels Theorie der Strafe als „direkte A b l e i t u n g " dargestellt werden k a n n (Kiesewetter, V o n Hegel zu Hitler, S. 322), muß bezweifelt werden. Die führenden antiliberalen Strafrechtswissenschaftler Dahm u n d S chaff stein standen sicherlich nicht i n gleichem Maße i n der T r a d i t i o n Hegelscher Philosophie wie etwa Larenz. Wenn auch i m Rahmen der allgemeinen Rechts- u n d Staatstheorie der Einfluß der Hegeischen Staatsideologie nicht zu verkennen ist (vgl. Kiesewetter, V o n Hegel zu Hitler, S. 233 ff.), so k a n n aber auch der Abstand i n der strafrechtlichen Theorie nicht übersehen werden, der etwa i n den von antiliberaler Seite vorgetragenen A n g r i f f e n gegen Allgemeinbegriffe, gegen strafrechtliche System a t i k u n d auch gegen eine absolute Straftheorie deutlich w i r d . 450a Einen detaillierten Nachweis für den Zusammenhang zwischen Hegels Staats- u n d Rechtsverständnis u n d der nationalsozialistischen Staatsideologie hat jetzt Kiesewetter, V o n Hegel zu Hitler, 1974, geführt. Die Ansichten der führenden antiliberalen Strafrechtswissenschaftler sind dort verarbeitet. 451 Vgl. oben 3. Kap. I I . 1. A n m . 45. 452 v g l . oben 3. Kap. I I I . 2. 453 v g l . oben 3. Kap. I I I . 3. A n m . 121 u n d Larenz, RuS H. 109, S. 15. 454 Larenz, RuS H. 109, S. 15.
I X . Die Verteidiger der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik
241
setzten sich für eine abstrakte wissenschaftliche Begriffsbildung, für die Beibehaltung der Rechtsgutslehre und für die Aufrechterhaltung des Verbrechenssystems ein. Eine Überprüfung ihrer Argumentation w i r d weiteren Aufschluß über das Verhältnis der damaligen Strafrechtswissenschaft zum liberalen Strafrecht geben. Inwieweit knüpften die K r i t i k e r der antiliberalen Strafrechtswissenschaft an die Prinzipien des Rechtsstaates an? Keinesfalls legten sie das Schwergewicht auf liberale Argumente. I m Vordergrund standen vielmehr Argumente, die lediglich auf die Schlüssigkeit der antiliberalen Darlegungen eingingen, sie aber nicht von einem anderen politischen oder weltanschaulichen Standpunkt aus i n Frage stellten: Schwinge/Zimmerl warfen Dahm und Schaffstein vor, daß sie sich ihre K r i t i k an den herkömmlichen Verbrechenslehren zu einfach machten, indem sie diese einseitig und überspitzt darstellten und historische Weiterentwicklungen unberücksichtigt ließen 4 5 5 . So werde bei ihnen die Rechtsgutslehre verzerrt wiedergegeben. A u f Grund ihrer Entwicklung zum methodischen Prinzip könne ihr nicht mehr der Vorwurf der Hypostasierung gemacht werden 4 5 6 . I n ihrer neueren Form sei sie durchaus i n der Lage, die Vielzahl der beteiligten Interessen 457 , das Moment der Pflichtverletzung 458 und ethische Wertungen 4 5 9 i n sich aufzunehmen. Unterschlagen werde auch die Entwicklung i n der Tatbestandslehre. Dahm polemisiere gegen die Lehre Belings vom wertfreien Tatbestand und übergehe dabei stillschweigend, daß Mezgers Lehre vom Tatbestand als dem typisierten Unrecht einen entscheidenden Fortschritt gebracht und sich gegenüber Belings Auffassung durchgesetzt habe 4 6 0 . Ubertrieben und einseitig erschienen Schwinge/Zimmerl 4 6 1 und auch Engisch 462 die Angriffe gegen eine analysierende und abstrakte wissenschaftliche Begriffsbildung. Abstraktion und Analyse müßten notwendigerweise herangezogen werden, wenn man das Strafrecht nicht als 455 456 457 458 459
v g l . Wesenschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 86. v g l . ebd., S. 67 f. vgl. ebd., S. 69 f. v g l . ebd., S. 68. v g l . ebd., S. 77.
460 Vgl. ebd., S. 83. Engisch machte i m übrigen gegen Dahm geltend, daß der V o r w u r f des „Trennungsdenkens" gegenüber Beling fehlgehe. Die Elemente seines Systems hätten durchaus i n einem sinnvollen Zusammenhang gestanden (ArchRSozPh Bd. 30, S. 147). 461 Vgl. Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 28 ff.; vgl. auch Schwinge, Irrationalismus u n d Ganzheitsbetrachtung, S. 58 ff. 462 v g l . M S c h r K r i m B i o 1938, S. 145 ff.; ArchRSozPh Bd. 30, S. 145 ff.
16 Marxen
242
5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
bloße Ansammlung heterogener Verbrechenstypen betrachten wolle. Eine Aufgliederung des Verbrechens nach allgemeinen Merkmalen folge natürlicherweise aus der Tatsache, daß das Strafrecht von bestimmten Grundgedanken beherrscht sei. Von „Trennungsdenken" und unnatürlichen „Zerreißungen" könne keine Rede sein, wenn man sich der Sinnzusammenhänge bewußt bleibe. Niemand sei gehindert, die einzelnen Merkmale zusammenzuhalten und ganzheitlich zu betrachten. Eine weitere Gruppe von Argumenten betraf technische Gründe, Zweckmäßigkeitsgründe und Gründe aus dem Gesetz. Sie wurden vor allem für die Beibehaltung der Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuld ins Feld geführt 4 ® 23 . Die Trennung der beiden Verbrechensmerkmale folge „zwangsläufig" aus den unterschiedlichen Funktionen der einzelnen Straf Voraussetzungen 463 . Die Rechtswidrigkeit, verstanden als Gemeinschaftswidrigkeit, bestehe i n den meisten Fällen i m äußeren Geschehen 464 . Ein objektiver Rechtswidrigkeitsbegriff sei auch erforderlich, um den Bürgern eine allgemeinverbindliche Richtlinie zu geben 465 . Es entspreche „praktischen Bedürfnissen der Rechtspflege" 466 , Unrecht und Schuld zu unterscheiden. Eine gesonderte Behandlung verlangten auch „Sinn und Zweck" 4 6 7 einiger gesetzlicher Vorschriften und zahlreicher strafrechtlicher Regelungsbereiche 468 : Eine „sinnvolle Regelung" 4 6 9 der Teilnahme und der Notwehr lasse sich nur durchführen, wenn die Rechtswidrigkeit der Haupttat bzw. des Angriffs gesondert festgestellt werde. Gleiches gelte für die Rechtswidrigkeit der Vortat bei der Hehlerei, des drohenden Verbrechens nach § 139 StGB, der Bedrohung m i t einem Verbrechen oder Vergehen gem. § 241 StGB. Das Merkmal des „rechtswidrigen Vermögensschadens" stelle eine Verbindung zum Zivilrecht her, das wiederum deutlich zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld unterscheide. Für das Zivilrecht sei diese Unterscheidung unentbehrlich, wie die Gefährdungshaftung zeige. Nach Schwinge/Zimmerl rechtfertigten auch Gründe der Logik die Unterscheidung: Die Bewertungsnorm gehe logisch der Bestimmungs462a Mittasch bediente sich „technischer u n d praktischer Erwägungen" zur Verteidigung der Rechtsgutslehre, vgl. Wertbeziehendes Denken, S. 102 ff. 463 Schwinge/Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 47, 33. 464 Vgl. ebd., S. 40. 465 v g l . Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 143. 466 Schwinge/Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 40, 42. 467 Ebd., S. 50. 468 Vgl. ebd., S. 36 ff. ; vgl. auch Kohlrausch, Vermögensverbrechen u n d Eigentumsverbrechen, S. 504; Mezger, ZStW 55, S. 13 ff. 469 Schwinge/Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 36.
I X . Die Verteidiger der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik
243
norm voran 4 7 0 . Mezger trat für die Beibehaltung aus „denkökonomischen" Gründen ein 4 7 1 . A u f derselben Ebene lagen einige Argumente gegen die Aufhebung der Unterscheidung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit. Die Trennung sei „technischer N a t u r " 4 7 2 ; die Absonderung von allgemeinen Unrechtsausschließungsgründen aus den einzelnen Tatbeständen sei eine „rein rechtstechnische Frage, die nach den Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit und der praktischen Brauchbarkeit entscheiden werden m u ß " 4 7 3 . Die Unterscheidung sei i m übrigen geeignet, die besondere Bedeutung des Normativen, das Eigentümliche des Rechtlichen gebührend zur Geltung zu bringen. Auch aus pädagogischen Gründen empfehle es sich, daran festzuhalten 474 . Eine letzte Gruppe von Argumenten enthielt Einwände, die die Vorwürfe der Antiliberalen gegen die herkömmliche Strafrechtsdogmatik gegen sie selbst kehrten: Das Denken i n konkreten Ordnungen hielten Schwinge und Zimmerl für unklar und unbestimmt 4 7 5 . Was unter „Ordnung" zu verstehen sei, bleibe i n C. Schmitts Lehre ungeklärt. Seine Ansichten drohten, die deutsche Rechtswissenschaft i n eine „Gespensterwelt lebensabgezogener Abstraktionen" zu führen 4 7 6 . Sie seien zudem mit der Gefahr verbunden, daß bei Betonung der vielen Sonderordnungen das höchste und wichtigste Gut, die deutsche Volksgemeinschaft, i n Vergessenheit gerate 477 . Gegen eine phänomenologische Betrachtungsweise i m Strafrecht wandte Engisch ein: Sie sei m i t der Gefahr verbunden, daß Begriffe verabsolutiert würden. Rechtliche Begriffe seien aber einem ständigen politischen und kulturellen Wandel unterworfen; sie hätten kein reines „Wesen" 4 7 8 . Dem Pflichtverletzungsgedanken warfen Schwinge/Zimmerl vor, daß er sich die Einseitigkeit zuschulden kommen lasse, die er der Rechtsgutslehre zu Unrecht anlaste, indem er die Bedeutung des Erfolgs und der objektiven Gemeinschaftswidrigkeit verkenne 4 7 9 . Der m i t i h m unter470 Vgl. ebd., S. 35; auch Mezger, ZStW 55, S. 13, 17 A n m . 2; ähnlich Mittasch, Wertbeziehendes Denken, S. 104; es sei „teleologisch unmöglich, die Pflichtverletzung der Rechtsguts Verletzung vorzuordnen". « ι ZStW 55, S. 14. 2 Schwinge/Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 85. 4?3 Ebd., S. 80. 474 Vgl. ebd., sowie Engisch, M S c h r K r i m B i o 1938, S. 147 f. 4?5 Vgl. ebd., S. 20 f. 4?6 Ebd., S. 30. 4 7 7 Vgl. ebd., S. 57. 4?8 Vgl. ArchRSozPh Bd. 30, S. 132 ff. 4*79 Vgl. Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 54. 47
16*
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5. Kap.: Antiliberales Denken während des 3. Reichs
nommene Versuch, Recht und Ethik miteinander zu verbinden, sei nicht von dem Verdacht frei, individualistisch zu sein 4 8 0 . Der Weg, der zur Überwindung der Trennung von Recht und Ethik eingeschlagen werde, eine durchgängige S ubjekti vierung des Strafrechts, verleite dazu, die individuellen Besonderheiten zu stark zu berücksichtigen. Daran ändere sich auch nichts, wenn man die i m Volk herrschende Ethik für maßgeblich erkläre; denn diese sei überwiegend Individualethik. Die Gegner der antiliberalen Strafrechtswissenschaft zogen i n erster Linie Argumente heran, die nicht m i t dem liberalen Hintergrund der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik zusammenhingen. N u r vereinzelt und dann vorsichtig und zurückhaltend brachten sie Einwände vor, i n denen zwar der Begriff „liberal" vermieden wurde, die aber dem Gedankengut des Liberalismus entstammten. I n Anbetracht der Zeitumstände kann es Schwinge und Zimmerl nicht hoch genug angerechnet werden, daß sie einer völligen Preisgabe des liberalen Rechtssicherheitsgedankens entgegentraten : Schwinge/Zimmerl sahen durch die „Wesensschau" die Gleichheit und Sicherheit der Rechtspflege gefährdet, da sie sich am „unklaren und schwankenden Sprachgebrauch des Alltags" orientiere 4 8 1 . Das Denken i n konkreten Ordnungen ziele auf die „Ablehnung jeder Regel" und auf eine „schrankenlose Kasuistik" 4 8 1 . Der gesetzliche Tatbestand müsse „den Grundgedanken des Unrechtstypus klar und unmißverständlich zum Ausdruck bringen", so daß er dem Richter eine „zweifelsfreie" A n wendung gestatte 482 . Daß das künftige Strafrecht den Willen und die Gesinnung des Täters stärker i n Betracht ziehe, dürfe nicht die „Gleichmäßigkeit und Gerechtigkeit der Praxis" i n Frage stellen 4 8 3 . Schwinge/ Zimmerl setzten sich gegen die Verwendung „unklarer und vieldeutiger Begriffe", wie ζ. B. das „Volksempfinden", zur Wehr 4 8 4 . Diesen Einzelforderungen lag die Einsicht i n die „Notwendigkeit der Vermeidung von W i l l k ü r und des Scheines von W i l l k ü r " zugrunde 4 8 5 . Das Dritte Reich könne i m Interesse des Rechtsfriedens innerhalb der Gemeinschaft nicht auf dieses Prinzip jeder kulturell hochstehenden Rechtsordnung verzichten. Den Versuch einer totalen Materialisierung des Strafrechts wiesen Schwinge/Zimmerl i n seine Schranken; sie
4S0 Vgl. ebd., S. 48 f. 481 Ebd., S. 82; vgl. auch S. 55 sowie Zimmerl, Festschrift für Jung 1937, S. 216 ff. 482 Ebd., S. 92. 483 Ebd., S. 59. 484 Ebd., S. 94; vgl. auch Zimmerl, Festschrift für Jung 1937, S. 240 f. 485 Schwinge/Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 99.
I X . Die Verteidiger der herkömmlichen Strafrechtsdogmatik
245
machten darauf aufmerksam, daß die materielle Gerechtigkeit ohne ein gewisses Maß an Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit unvollkommen bleibt 4 8 6 . Auffallend an den „liberalen" Argumenten Schwinges und Zimmerls war, daß sie i n nur sehr geringem Maße in einen Zusammenhang m i t den herkömmlichen Methoden und dem Verbrechenssystem gebracht wurden. Diese wurden, wie dargelegt, überwiegend m i t technischen Erwägungen gestützt. Die dahinterstehende Denkweise entsprach derjenigen, die sich unter dem Einfluß des Neukantianismus i n den zwanziger Jahren durchgesetzt hatte: Wissenschaftliche Methoden und Systeme sind neutral und unabhängig vom Wandel der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse; nur die Inhalte ändern sich 487 . Schwinge, Zimmerl und einige andere Strafrechtswissenschaftler traten i m Glauben an die Ideologiefreiheit der Methode für die Beibehaltung der herkömmlichen Dogmatik ein, ohne also deren politische Essenz i n die Waagschale zu werfen 4 8 8 . Auch bei ihnen zeigte sich, wie wenig diese Haltung geeignet ist, Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gegenüber politischen Machtansprüchen wirksam zu verteidigen. Sie erklärten die angeblich wertneutralen Kategorien der herkömmlichen Dogmatik für durchaus vereinbar mit der nationalsozialistischen Weltanschauung 489 . So gelangten sie auf einem anderen Weg i n vielen Fragen zu denselben Ergebnissen wie ihre Kontrahenten 4 9 0 : Auch Schwinge und Zimmerl forderten den «κ Vgl. ebd., S. 98 ff. 487 So ganz deutlich Engisch, ArchRSozPh Bd. 30, S. 149. 488 Es könnte eingewandt werden, daß diese Darstellung den genannten Strafrechtswissenschaftlern nicht gerecht werde, w e i l eine Verteidigung der herkömmlichen Dogmatik unter Hinweis auf deren politischen Gehalt i m nationalsozialistischen Staat nicht veröffentlicht worden wäre. Daran ist richtig: Die Bedeutung des äußeren politischen Drucks f ü r die wissenschaftliche Diskussion i m D r i t t e n Reich u n d insbesondere für die Argumentationsweisen sollte nicht unterschätzt werden. I m vorliegenden F a l l dürfte dieser Druck aber nicht ausschlaggebend gewesen sein; denn die grundsätzliche Einstellung dieser Strafrechtswissenschaftler i n methodischen Fragen, die sie i n der M i t t e u n d gegen Ende der dreißiger Jahre vertraten, läßt sich bis i n die Zeit vor der nationalsozialistischen Machtergreifung zurückverfolgen. So ganz deutlich bei Schwinge; vgl. „Teleologische Begriffsbildung" (1930) u n d „Methodenstreit" (1930); gleiches g i l t f ü r Zimmerl u n d seine streng systematische Methode, die er seinem „ A u f b a u des Strafrechtssy stems" (1930) zugrundelegt. 489 So ζ. B. die Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit als Sozialschädlichkeit (Schwing e /Zimmer, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 58); die Rechtsgutslehre (ebd., S. 64 f., 72 f.); den Nominalismus (Engisch, ArchRSozPh Bd. 30, S. 136 f.). 4 9° Das gilt auch für Mittasch, der die Rechtsgutslehre verteidigte, sie dabei aber gleichzeitig für die herrschende Staatsidee verwendbar machte. Vgl. Wertbeziehendes Denken, S. 99 ff.
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5. Kap. : Antiliberales Denken während des 3. Reichs
Übergang vom Formalismus zur „Rechtsinhaltsbetrachtung" 491 , die von der „inhaltserfüllten Idee der Blutgemeinschaft des deutschen Volkes" 4 9 2 ausgehen sollte. Was Recht und was Unrecht sei, sei gemäß dem Wohl des deutschen Volkes zu entscheiden. Zur Konkretisierung des Maßstabes sei die nationalsozialistische Weltanschauung heranzuziehen, „so wie sie i n großen Zügen i m Parteiprogramm und i n den Reden und Schriften des Führers zum Ausdruck k o m m t " 4 9 3 . Wie ihre Kieler Gegner verlangten Schwinge und Zimmerl eine stärkere Berücksichtigung der Gesinnung des Täters 4 9 4 . I m Bereich der Schuld sollte nach ihrer Auffassung der individualethische Maßstab durch eine „Sozialethik" ersetzt werden 4 9 5 . Die Gesetzesauslegung machten sie davon abhängig, ob es sich u m ein vornationalsozialistisches oder ein nationalsozialistisches Gesetz handelt. Nur i m ersten Fall hielten sie ein Abweichen von den Vorstellungen des Gesetzgebers für zulässig. I m anderen Fall fordere das „Primat der politischen Führung" eine streng subjektive Auslegung 4 9 6 .
491
Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken, S. 92. 492 Ebd., S. 92; vgl. auch S. 58. 493 Ebd., S. 58. 494 v g l . ebd., S. 59. 495 Ebd., S. 58. 496 Ebd., S. 75 f.; vgl. auch Zimmerl, Festschrift f ü r Gleispach 1936, S. 174: „Der Gesetzgeber hat dem Richter gegenüber die Stellung eines Oberführers."
6. Kapitel
Schlußbetrachtung I . Grundsätzliche Aspekte der antiliberalen Phase 1. Die antiliberale Strafrechtswissenschaft als Teil der strafrechtswissenschaftlichen Gesamtentwicklung
Ziel der antiliberalen Bewegung i n der Strafrechtswissenschaft der dreißiger Jahre war es, die Ideen einer „Konservativen Revolution" aus dem politischen Bereich auf das Strafrecht zu übertragen. Dieses solchermaßen „revolutionäre" Denken führte aber nicht zu einem völligen Bruch i n der Entwicklung der strafrechtlichen Lehren und der Kriminalpolitik, sondern nur zu einer Fortführung und Steigerung bereits vorhandener Denkansätze. Zunächst wurde der Kampf gegen den Liberalismus vorwiegend auf dem Feld der Kriminalpolitik ausgetragen. Die Konzeptionen eines „autoritären" Straf rechts standen i n einer Linie m i t Verschärfungstendenzen i n der Rechtsprechung und der strafrechtlichen Gesetzgebung, die am deutlichsten i m Strafrecht der Notverordnungen zum Ausdruck kamen 1 . Die ablehnende Haltung der antiliberalen Strafrechtler gegenüber dem liberalen System des Weimarer Staates war eine Steigerung des Mißtrauens, das weite Kreise in der Rechtsprechung der Republik entgegenbrachten 2 . Übereinstimmungen ihrer kriminalpolitischen Forderungen m i t dem Gedankengut der klassischen Schule rührten aus der gemeinsamen Gegnerschaft zu den Reformvorschlägen der modernen Schule. Sie bestanden zur Hauptsache i n einer gleichgelagerten Grundhaltung: Das Strafrecht müsse die Überlegenheit des Staates gegenüber dem einzelnen deutlich machen. Insgesamt konnten die jungen antiliberalen Strafrechtswissenschaftler jedoch nicht auf einen Nenner mit der klassischen Schule kommen. Diese war von jeher für die Prinzipien des Rechtsstaates eingetreten, die dem Individuum einen gesicherten Raum zu freier Betätigung ge1 Vgl. oben 4. Kap. I I . 3. b). 2 Vgl. dazu vor allem die Rechtsprechimg i n politischen Hannover, Politische Justiz 1918 - 1933.
Strafsachen;
248
6. Kap.: Schlußbetrachtung
währen. Zwar setzte sich eine autoritäre neuklassische Richtung für eine Ausdehnung der staatlichen Macht zuungunsten der individuellen Freiheitssphäre ein; am Prinzip der Gegenüberstellung und Abgrenzung des staatlichen und individuellen Bezirks hielt sie jedoch fest 3 . Gerade diesem Prinzip galt aber der Kampf der antiliberalen Richtung, die sich zum totalen Staat bekannte. I n ihren kriminalpolitischen Vorschlägen war auch einiges aus dem Ideengut der modernen Schule enthalten. Ein unmittelbarer Zusammenhang läßt sich zwar nicht herstellen; waren doch die Reformbestrebungen der modernen Schule das Hauptangriffsziel der antiliberalen Strafrechtswissenschaft i n ihrer Anfangsphase. Es kann jedoch nicht bedeutungslos gewesen sein, daß der Widerspruch gegen die „liberale" Reform und das Verlangen nach einem „autoritären" Straf recht zuerst auf einer Sitzung der deutschen Landesgruppe der I K V , einer Organisationsform der modernen Schule, öffentlich vorgetragen wurden. Bemerkenswert ist auch die Annäherung führender Vertreter der modernen Schule an das autoritäre Strafrecht, die sie vollziehen konnten, ohne ihren bisherigen Standpunkt völlig aufzugeben 4 . Das war nur möglich, weil ihr Konzept einer Besserungs- und Sicherungsstrafe i m Keim illiberales, rechtsstaatsgefährdendes Gedankengut enthielt. Zu voller Entfaltung konnte es bei einer Änderung des angestrebten Endzieles gelangen, wenn es nicht mehr um die Sicherung der als politisch neutral gedachten Gesellschaft ging, sondern um die Durchsetzung der totalen Politisierung. Der konservative Antiliberalismus übernahm die Forderung nach einschneidenden Maßnahmen gegen Berufs- und Gewohnheitsverbrecher 5 , er erweiterte den Erziehungsgedanken, indem er als Erziehungsziel den opferbereiten „politischen Soldaten" setzte6, und übersteigerte den Determinismus der modernen Schule, indem er verbrecherisches Verhalten als blutmäßig bedingte Entartung kennzeichnete 7 . I n der Mitte der dreißiger Jahre verlagerte sich der Kampf gegen den Liberalismus i m Strafrecht auf den Bereich der Dogmatik. Auch hier knüpfte die antiliberale Bewegung an voraufgegangene Entwicklungen an, wenngleich sie deren Resultate i n vielen Punkten ablehnte.
3 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. a). 4 Vgl. oben 4. Kap. I V . 2. 5 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. c). 6 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. c) ; vgl. zum Menschenbild des „politischen Soldaten" i m totalen Staat Schaff stein, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 130 f., u n d Henkel, Strafrichter u n d Gesetz, S. 65. 7 I n letzter Konsequenz bei Nicolai, vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. d). Ansätze auch bei Dahm u n d Schaffstein, vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. c).
I. Grundsätzliche Aspekte der antiliberalen Phase
249
A m Ende des 19. und i m ersten D r i t t e l des 20. Jahrhunderts hatte sich i n der Strafrechtswissenschaft ein Wandel von einer kategorialen Denkweise zu einer teleologischen vollzogen 8 . Die Grenzen positivistischer Gesetzesgebundenheit, schematischer, logischer Begriffs ableitungen, rein objektiver, wertfreier juristischer Betrachtungsweise waren erkannt und überschritten worden. Es hatte sich die Einsicht durchgesetzt, daß juristisches Erkennen und Entscheiden wertbezogen ist. I m Zuge dieser Entwicklung entstand die teleologische Auslegungsmethode; das herkömmliche formelle Verbrechenssystem wurde durch die Formulierung materieller Rechtswidrigkeits- und Schuldbegriffe modifiziert. Die Dogmatik vom teleologischen Standpunkt aus zielte jedoch nicht auf einen Bruch m i t der liberal-rechtsstaatlichen Tradition, die die strafrechtliche Methode und das Verbrechenssystem entscheidend geprägt hatte. Sie sollte lediglich das formelle System verfeinern. Daß sie stattdessen seine politische Grundlage aufweichte, war ihren Vertretern nicht bewußt. Die Diskrepanz zwischen Absicht und Erfolg erklärt sich aus dem Abstand, den sie zum liberal-rechtsstaatlichen Hintergrund des Verbrechenssystems hatten. Sie behandelten es als eine rein wissenschaftliche, unpolitische Konstruktion. Die Teleologisierung der Verbrechenselemente leiteten sie aus einer philosophischen Konzeption ab (zumeist der des Neukantianismus der südwestdeutschen Richtung), die sie wiederum für unpolitisch hielten 9 . Diese Evolutionierung des Verbrechensbegriffs blieb jedoch i n Grenzen. Die Lockerung der gesetzlichen Bindung durch den materiellen Verbrechensbegriff wurde auf die Fälle beschränkt, i n denen sie dem Angeklagten zugutekam (übergesetzlicher Notstand, Zumutbarkeit). Die verhältnismäßig geringen Auswirkungen der teleologischen Betrachtungsweise waren außerdem eine Folge der Zurückhaltung und Unentschlossenheit bei der Bestimmung maßgebender Werte. Soweit möglich, bezog man sich auf die Wertentscheidungen des Gesetzgebers. I m übrigen gelangte man nicht über einen relativistischen Standpunkt hinaus 10 . Hier setzten die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler an. Für sie hatte der Relativismus als Erscheinung des demokratischen Liberalismus mit dem Zusammenbruch des liberalen Systems seine Existenz8 Vgl. dazu u n d zum folgenden: Grünhut u n d Radbruch i n Festgabe für Frank 1930, Bd. 1, S. 1 ff. bzw. S. 158 ff.; Mittasch, Die Auswirkungen des wertbeziehenden Denkens i n der Strafrechtsdogmatik; Gallas, ZStW 67, S. I f f . ; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, S. 156 ff.; Schmidhäuser, Gedächtnisschrift für Radbruch 1968, S. 268 ff. 9 Vgl. auch Krüger, ZStW 55, S. 114 f. 10 Vgl. das Bekenntnis zum Relativismus bei Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), S . V I I I .
250
6. Kap.: Schlußbetrachtung
berechtigung verloren. Ihre eigenen strafrechtlichen Lehren gründeten sie auf eine bewußte und eindeutige politische Wertentscheidung. Das Wohl der Volksgemeinschaft, die i m nationalsozialistischen Staat ihre angemessene Form gefunden habe, erklärten sie zum obersten Wert. Daraus leiteten sie eine materielle Bestimmung des Rechts ab, die ihre Auslegungsmethode und ihren systematischen Anschauungen das Gepräge gab. Unter Führung der Kieler Professoren Dahm und Schaffstein beschränkten sie sich nicht auf eine neue Inhaltsbestimmung alter Formen, sondern lösten diese Formen auf. Sie verneinten die Frage, ob die herkömmliche Methode und das formelle Verbrechenssystem i m nationalsozialistischen Staat noch Gültigkeit haben könnten. Die rationale, logische Denkweise erklärten sie für weithin unbrauchbar i n der Jurisprudenz. Das Hauptgewicht ihrer Arbeit lag auf dem Bemühen, das Verbrechen materiell zu bestimmen. Dabei trat die Hauptfrage der Strafrechtswissenschaft, das „Grenzproblem" 1 1 , i n den Hintergrund. Die Auflösung formaler Prinzipien kam dem Machtstreben des nationalsozialistischen Staates entgegen. Wo der gesetzliche Tatbestand nur noch die Funktion einer ungefähren Leitlinie hat, kann sich W i l l k ü r ungehindert entfalten und das Strafrecht zur politischen Machtausübung mißbrauchen. Der offene Mißbrauch durch die nationalsozialistischen Machthaber brachte schließlich auch einige antiliberale Strafrechtswissenschaftler zu der Einsicht, daß der Bereich des Strafbaren eingeengt werden müsse. I n den letzten Jahren des Dritten Reiches versuchten sie mit der Lehre von der materiellen, typmäßigen Erfassung des Täters eine Einschränkung der kriegsrechtlichen Strafbarkeit zu bewirken. Diese Versuche waren nicht geeignet, die über das Straf recht hereingebrochene Flut einzudämmen, zumal sie nur mit halbem Herzen unternommen wurden. Das „politische Prinzip" 1 2 wurde auch von einer traditionsgebundeneren Richtung akzeptiert, an deren Spitze die Marburger Professoren Schwinge und Zimmerl standen. Seine Anwendung beschränkte sich bei ihnen jedoch darauf, daß die herkömmliche Methode und das formelle Verbrechenssystem mit neuem Inhalt, m i t der nationalsozialistischen Weltanschauung als oberstem Wert, angefüllt wurden. Obgleich diese Richtung für die Beibehaltung bisheriger dogmatischer Lehren vorwiegend technische Gründe anführte, erkannte sie aber auch der formalen Rechtssicherheit eine gewisse Bedeutung zu. Sie teilte nicht die ver11 H. Mayer, DStR 1938, S. 74. 12 S chaff stein, Pol. Straf rechts Wissenschaft, S. 23.
I. Grundsätzliche Aspekte der antiliberalen Phase
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breitete Geringschätzung rechtsstaatlicher Grundsätze, sondern hielt an formalen Prinzipien des Rechtsstaates fest und setzte sich für eine rationale wissenschaftliche Denkweise ein. Die praktische Bedeutung mag gering gewesen sein; denn das formelle System wurde von innen her weitgehend ausgehöhlt: Die nationalsozialistische Weltanschauung als oberster Wert beraubte die Form weitgehend ihrer Garantiefunktion. Diese Strafrechtswissenschaftler machten die Strafrechtsdogmatik aber nicht vollständig nationalsozialistischer Herrschaft dienstbar. Als letzte Barriere blieb bei ihnen ein Restbestand an formaler Rechtsstaatlichkeit erhalten. 2. Vom Positivismus 13 zum materiellen Verbrechensbegriff und zurück
Das Versagen der Strafrechtspflege gegenüber nationalsozialistischer W i l l k ü r w i r d häufig als Konsequenz positivistischen Denkens erklärt 1 4 . Diese These kann hier nicht in vollem Umfang nachgeprüft werden 1 4 * Für die Strafrechtswissenschaft kann sie jedenfalls i n dieser simplen Form keine Gültigkeit beanspruchen. Das w i r d i m folgenden darzulegen sein. Berücksichtigt man den Zusammenhang zwischen Strafrechtswissenschaft und -praxis, so ergeben sich auch für den Bereich der Strafrechtspraxis Zweifel an der Richtigkeit der These. Das positivistische Denken erreichte i n der Rechtswissenschaft der Zeit nach dem ersten Weltkrieg mit den Arbeiten Kelsens einen Höhepunkt. Eine unumschränkte Herrschaft wie etwa zur Wirkungszeit Labands übte es jedoch zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr aus. Die Situation war durch einen heftigen Methodenstreit gekennzeichnet 15 . I n der Strafrechtswissenschaft bewirkte das vor allem von der modernen Schule vorangetriebene Wert- und Zweckdenken einen allmählichen Abbau der Gesetzestreue. Ihre Vertreter erweiterten den Rahmen der strafrechtswissenschaftlichen Arbeitsweise, indem sie die gesetzlichen Verbrechensdefinitionen i n einen materiellen Verbrechensbegriff einbetteten. Die damit verbundenen antiliberalen Konsequenzen blieben jedoch, wie oben gezeigt, begrenzt.
13 I n der Bedeutung von „Gesetzespositivismus"; vgl. Lüderssen, Einleitung zu: Theorie der Erfahrung i n der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, S. 18 f., der die verschiedenen Erscheinungsformen des Positivismus sorgfältig unterscheidet. 14 Vgl. etwa Weinkauff, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus, S. 182; Schmidhäuser, Straf recht, S. 59; Ostermeyer, Strafunrecht, S. 38. 14a Vgl. zur Rolle des Positivismus i m totalitären Staat m i t besonderer Blickrichtung auf das Zivilrecht: Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 98 f. is v g l . Schwinge, Methodenstreit (1930).
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6. Kap. : Schlußbetrachtung
Die autoritäre, später nationalsozialistische Strafrechtswissenschaft propagierte und praktizierte dagegen die unumschränkte Priorität ihres materiellen Verbrechensbegriffs. Zugleich bereitete sie damit aber auch die Rückkehr zum Positivismus vor: Inhaltlich bedeutete ihr materieller Verbrechensbegriff trotz mancher verschleiernder Umschreibungen („Gemeinschaftswidrigkeit" 16 , „Angriff gegen die Grundordnung des deutschen Volkes, gegen die völkische Sittenordnung und das innere Gesetz der Gemeinschaft" 17 , „Verstoß gegen die Grundlage des völkischen Lebens" 18 ) i m Endeffekt nichts anderes als die vollständige Anpassung an den Nationalsozialismus 1 9 . Der materielle Verbrechensbegriff ermöglichte es, daß die nationalsozialistische Weltanschauung i n das Strafgesetz eindringen und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft sich seiner bemächtigen konnte. Die Ausrichtung am Nationalsozialismus hatte auf der Gegenseite zur Folge, daß für die Gesetze des nationalsozialistischen Gesetzgebers unbedingte Gesetzestreue gefordert wurde. Diesen Formalismus versuchte man vom Positivismus abzuheben, indem man ihn „materiell" erklärte 2 0 . Die praktische Bedeutung war jedoch dieselbe; nur galt die Forderung nach strikter Gesetzesbindung jetzt Gesetzen m i t anderen Inhalten. 3. Gemeinschaftsdenken und autoritäres Denken — der Widerspruch im Denken der antiliberalen Strafrechtswissenschaft
Die Lektüre des antiliberalen strafrechtlichen Schrifttums vermittelt den Eindruck, daß die Autoren — jedenfalls i n der Anfangsphase ihres Wirkens — von einem idealistischen, gemeinschaftsbezogenen Willen beseelt waren. Die Tiefe des Volksbewußtseins erschien ihnen als wahre Rechtsquelle und Ausgangspunkt für die Lösung aller Rechtsprobleme, die gegenseitige Durchdringung von Volksgemeinschaft und Staat als ideale Staatsform. Dieses Denken zeichnete sich durch stark romantische Züge und eine gewisse Naivität aus: M i t der „nationalen Revolution" glaubte man ohne weiteres den Wandel von der liberalen Gesellschaft zur Gemeinschaft vollzogen. Das Gemeinschaftsdenken innerhalb des Volkes sollte allein die Überwindung der Klassengegensätze bewirken. Konkrete Schritte, etwa auf ökonomischem Gebiet, erwogen die antiliberalen Strafrechtswissenschaftler nicht. Den eigentlichen Ursachen der Klassenbildung gingen sie nicht nach. 16 17 is 19 20
Larenz, Z f K u l t u r p h 1936, S. 33. Dahm, Nationalsozialistisches u n d faschistisches Strafrecht, S. 14. Freisler, zitiert bei Schaff stein, ZStW 55, S. 29 f. Vgl. oben 5. Kap. I I . 3. Vgl. oben 5. Kap. I V . 6.
I. Grundsätzliche Aspekte der antiliberalen Phase
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Bei genauer Betrachtung der antiliberalen Strafrechtswissenschaft t u t sich auch dort das Dilemma jeder Strafrechtswissenschaft auf, die die Volksanschauung zum Anfangs- und Endpunkt ihres Denkens nimmt. Eine bloß passive Hinnahme des i m Volksbewußtsein Gegebenen führt nicht weit, weil eine einheitliche Volksmeinung nicht existiert und die zahlenmäßig überwiegende Meinung häufig den Geboten des Vernünftigen, Billigen oder Gerechten offensichtlich widerspricht. Eine am Volksbewußtsein orientierte Strafrechtswissenschaft ist daher zumeist m i t einem politischen Gestaltungswillen verbunden: Aus dem Konglomerat verschiedener Anschauungen i m Volk w i r d eine als die eigentliche, wahre, „gesunde" Volksanschauung herausgehoben; diese w i r d zum Richtpunkt für die Formung einer „echten" Volksgemeinschaft, eines monolithischen Blocks, genommen. Z u Anfang nur vorsichtig, später immer deutlicher sprachen die Antiliberalen daher von der Notwendigkeit, das Volk aus dem bestehenden Zustand i n den Zustand einer echten Gemeinschaft zu führen 2 1 . Die Rechtsordnung wurde zum „Instrument für die Pflege des Volkes" 2 2 ; das autoritäre Denken überlagerte das Gemeinschafts denken. Den Widerspruch zwischen Gemeinschaftsgesinnung und politischem Gestaltungswillen glaubten die antiliberalen Strafrechtler i n den weltanschaulichen Grundlagen des nationalsozialistischen Führerprinzips überbrückt: Danach ist der Führer aus dem Volk hervorgegangen, gewissermaßen eine Inkarnation des Volksbewußtseins. Die innere Bindung an das Volk mache es unmöglich, daß er dem Volksgemäßen zuwiderhandele. Seine herausragende Stellung beruhe auf der nur i h m verliehenen Fähigkeit, die wahren Gemeinschaftswerte zu erkennen und sie aus der Tiefe des Volksgeistes herauszuheben 23 . — A u f diesem Wege führte das Gemeinschaftsdenken zu einer völligen Unterwerfung unter die autoritäre nationalsozialistische Herrschaft. 4. Die politische Bedeutung der antiliberalen Strafrechtswissenschaft
Sontheimer spricht von einer „Steigbügelhalter-Rolle" der Konservativen Revolution für den Nationalsozialismus 24 . Diese Bezeichnung gilt i n gleicher Weise für den Antiliberalismus i n der Strafrechtswissenschaft zu Anfang der dreißiger Jahre, dessen führende Vertreter i n ihren politischen Grundanschauungen Gedanken der Konservativen Revolu-
21 a 23 24
Vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. c). Schaff stein, ZStW 53, S. 614. Vgl. oben 5. Kap. I V . 6. Antidemokratisches Denken, S. 376.
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6. Kap.: Schlußbetrachtung
tion vertraten 2 5 . Ihr Kampf gegen die rechtsstaatlichen Prinzipien des Liberalismus und gegen den Staat von Weimar erleichterte es dem Nationalsozialismus, seine Willkürherrschaft zu etablieren. Der Zusammenhang zwischen der konservativen antiliberalen Strafrechtswissenschaft und dem Nationalsozialismus wurde nach 1933 besonders deutlich, als ihre führenden Vertreter sich am intensivsten um eine Durchdringung des Strafrechts mit nationalsozialistischem Geist bemühten. Die politische Funktion der antiliberalen Strafrechtswissenschaft i m Dritten Reich bestand i n einer völligen Dienstbarmachung des Strafrechts für die Zwecke der nationalsozialistischen Herrschaft. Erst in der Endphase des Dritten Reiches wurden vorsichtige Versuche unternommen, sich von den Auswüchsen der Willkürherrschaft ζ. B. i m Kriegsstrafrecht abzusetzen. Sie führten aber zu keiner Revision des Standpunktes. II. Die Bedeutung des liberalen Strafrechts in der Strafrechtswissenschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit Die Untersuchung der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre hat gezeigt: Die radikale Ablehnung des liberalen Strafrechts und auch das weniger entschiedene, mehr unterschwellige Abweichen von ihm ebnen einer Politik den Weg, die darauf abzielt, die Mittel des Strafrechts in den Dienst mißbräuchlicher Machtausübung zu stellen. Die Beschäftigung m i t diesem Gegenstand läßt i m Betrachter der Historie die Erwartung entstehen, daß der Zusammenbruch des Dritten Reichs zu einem grundlegenden Wandel i n der Strafrechtswissenschaft durch intensive Bemühungen u m eine Theorie des liberalen Strafrechts als Orientierungspunkt genutzt wurde. Diese Erwartung w i r d enttäuscht. Ein Beispiel mag als Einstieg für einen Nachweis dienen: Die Behandlung der unechten Unterlassungsdelikte i n der strafrechtlichen Dogmatik. Die antiliberale Strafrechtswissenschaft hatte die unechten Unterlassungsdelikte zu einem höchst wirkungsvollen Instrument der „totalen Inpflichtnahme" 2 6 ausgeformt 27 . Die Ausdehnung der Rechtspflichten zum Tätigwerden auf sittliche Pflichten bewirkte eine unmäßige Ausweitung strafrechtlicher Gebote; die Täterbe25 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 5. b) bb). 26 Forsthoff, Der totale Staat, S. 42. 27 Vgl. oben 5. Kap. V I . 4.
I I . Das liberale Strafrecht i n der Nachkriegszeit
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Stimmung unter dem Aspekt, ob eine „wesens "-mäßige Gleichartigkeit mit dem Täter des Begehungsdelikts vorliege, erhöhte die Unsicherheit auf diesem Gebiet, so daß nationalsozialistische W i l l k ü r sich ungebunden entfalten konnte. Dem Radikalismus der antiliberalen Strafrechtswissenschaft folgte kein ebenso radikaler Neubeginn nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs. Das zeigte sich sehr bald nach dem Kriegsende. Zwar w i r d man der Strafrechtswissenschaft für die unmittelbare Nachkriegszeit eine Phase der Orientierung zugute halten können. Doch schon i n dieser Zeit zeigte H. Mayer m i t aller wünschenswerten Deutlichkeit die Konsequenzen einer antiliberalen Strafrechtsdogmatik gerade für den Bereich der unechten Unterlassungsdelikte und die Notwendigkeit eines umfassenden Revirements auf. Aus dem Jahre 1947 stammt seine Feststellung, daß die Lehre von der Begehung durch Unterlassen zum „Ausgangspunkt ärgster Rechtsunsicherheit" geworden und m i t den liberalen Grundsätzen des Analogieverbots und der Tatbestandsbestimmtheit unvereinbar sei 28 . Er hob hervor, daß die Rechtspflichtslehren, die Garantenlehre Naglers sowie die Theorien der Pflichtverletzung und der Tätertypik ein illiberaler Grundzug verbinde und folgerte schließlich: „Was w i r brauchen, ist eine ernsthafte Überprüfung des gesamten deutschen Strafrechts unter dem Gesichtspunkt der individuellen Freiheit, eine Zurückführung des übermäßigen Strafdruckes auf ein vernünftiges Maß 2 9 ." Seine Bedenken gegen die i n den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelten allgemeinen Begriffe i n der Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte wiederholte und präzisierte H. Mayer noch i n den nachfolgenden Jahren 3 0 . Die Reaktion i n der Strafrechtswissenschaft läßt i n typischer Weise ein Aufsatz von Vogt aus dem Jahr 1951 erkennen, der i n breiter Form die Erörterung der unechten Unterlassungsdelikte in der Nachkriegszeit aufnahm 3 1 . Vogt knüpfte an die Garantenlehre Naglers an. Ganz eindeutig bewegte er sich i n alten Gedankenbahnen, indem er eine allgemeine Herleitung der Rechtspflichten zum Handeln aus den „sozialen Ordnungen" versuchte. Die von Dahm und Schaffstein betriebene Dogmatik der unechten Unterlassungdelikte blieb i n seiner Darstellung 28 SJZ 1947, Sp. 14. 29 Ebd., Sp. 19. so Vgl. Strafrecht, S. 112 f.; Materialien zur Strafrechtsreform 1. Bd., S. 275 f. Ob H.Mayers eigene Lehre i m Ergebnis die Bedenken vermeidet, die er gegen die h. L. geltend machte, mag zweifelhaft sein (vgl. Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 270 f.; Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, S. 67 ff.). Davon bleibt sein Verdienst unberührt, das Kernproblem der unechten Unterlassungsdelikte als erster nach dem K r i e g m i t aller notwendigen Deutlichkeit aufgezeigt zu haben. 31 ZStW 63, S. 381 ff.
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6. Kap. : Schlußbetrachtung
w e i t g e h e n d ausgeblendet oder w u r d e als e i n ü b e r w u n d e n e s , n i c h t m e h r d i s k u s s i o n s w ü r d i g e s Ü b e l abgetan 3 -. N i c h t e i n m a l i n A n s ä t z e n k a m es zu der E r k e n n t n i s , daß diese s t r a f r e c h t l i c h e n L e h r e n n u r e i n e l e t z t e A u s p r ä g u n g f r ü h e r e r strafrechtswissenschaftlicher T h e o r i e n d a r s t e l l ten. M a n n a h m e i n e n F a d e n w i e d e r auf, v o n d e m m a n g l a u b t e , daß er u n t e r der H e r r s c h a f t des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s gerissen sei. D i e L e h r e n D a h m s u n d Schaffsteins w u r d e n n i c h t z u m Gegenstand s o r g f ä l t i g e r historischer A n a l y s e , geschweige d e n n z u m A n l a ß f ü r eine U m k e h r 3 3 . D i e B l i n d h e i t f ü r die p o l i t i s c h e n I m p l i k a t i o n e n der ü b e r k o m m e n e n U n t e r l a s s u n g s d o g m a t i k ließ d e n n a i v e n O p t i m i s m u s entstehen, d u r c h a l l g e m e i n e B e g r i f f e e t w a f ü r das M e r k m a l der Rechtspflicht z u m H a n d e l n das Rechtsstaatsprinzip f ü r d e n B e r e i c h der u n e c h t e n U n t e r l a s s u n g s d e l i k t e z u v e r w i r k l i c h e n 3 4 . A u c h b e i besserer E i n s i c h t i n die rechtsstaatliche P r o b l e m a t i k der u n e c h t e n U n t e r l a s s u n g s d e l i k t e w a r n i c h t die F o r d e r u n g nach v ö l l i g e r N e u o r i e n t i e r u n g , sondern der V e r zicht auf i n t e n s i v e B e m ü h u n g e n u m eine s t r i k t e A n w e n d u n g rechtsstaatlicher G r u n d s ä t z e d i e Regel, w o b e i z u r B e g r ü n d u n g a n g e f ü h r t w u r d e , daß eine präzise E r f a s s u n g der u n e c h t e n U n t e r l a s s u n g s d e l i k t e unmöglich sei35. 32 Z u Dahm u n d Schaff stein äußert Vogt lediglich i n einer A n m e r k u n g : „ A u f die Lösungsversuche m i t Hilfe eines ,wesenhaften Tätertyps' (Schaffstein, Dahm) einzugehen, lohnt nicht mehr. . . . Z u m Glück sind sie überwunden" (S. 395 A n m . 39). 33 E i n weiteres Beispiel: E i n Aufsatz von Zimmermann aus dem Jahr 1952 unter der ganz allgemein gehaltenen Uberschrift „ Z u r Problematik der unechten Unterlassungsdelikte" (NJW 1952, S. 1321 f.) läßt Dahm u n d Schaffstein gänzlich unerwähnt, obwohl dem I n h a l t nach eine E r w ä h n u n g unbedingt erforderlich gewesen wäre: „Eine Erfolgsabwendungspflicht k a n n sich, gleich ob man sie der Tatbestandsmäßigkeit oder der Rechtswidrigkeit zurechnet, ergeben aus Gesetz, Gewohnheitsrecht, Vertrag u n d vorangegangenem T u n (Schaffung oder Erhöhung der Gefahrenlage). Die Tendenzen weisen jedoch über diesen allzu formalen Bereich hinaus. Aus konkreten Gemeinschaftsverhältnissen sind weitere Rechtspflichten abgeleitet u n d durch die Rechtsprechung gefestigt worden. Das Schrifttum sprach sich für die Aufnahme bislang bloß moralischer Verpflichtungen i n den Kreis der Rechtspflichten aus (Niethammer, ZStW 57, S. 438), wies auf die Bedeutung des tatsächlichen Herrschaftsbereichs h i n u n d lenkte die Aufmerksamkeit insbesondere auf A m t s - u n d Berufsstellungen, aus denen gesteigerte Pflichten erwüchsen, die über den Bereich des A m t s i m technischen Sinne hinausgingen" (NJW 1952, S. 1321). — Da die Zusammenhänge verdeckt bleiben, t r i t t die Notwendigkeit einer Neufundierung der Dogmatik i m Bereich der unechten Unterlassungsdelikte nicht zutage. Statt dessen w i r d unbefangen formuliert: „Die Dinge sind m i t t e n i m F l u ß " (ebd.). Genauso naiv u n d unkritisch w i r d die Wendung von der „fortschreitenden Ethisierung des Straf rechts" benutzt (ebd.). 34 Vgl. Vogt, ZStW 63, S. 396. Auch der E i n w a n d Maurachs, A l l g . Teil, 1. Aufl., S. 237, gegenüber der K r i t i k H. Mayers, daß das Rechtspflichtmerkmal „nicht zur Erweiterung, sondern n u r zur Präzisierung des Tatbestandes" diene, läßt sich nicht anders erklären. ^ Vgl. Welzel, N J W 1958, S. 495 A n m . 10; ders., Deutsches Strafrecht, 6. Aufl., S. 179. Die genannte Regel trat i m übrigen zumeist dadurch i n
I I . Das liberale Strafrecht i n der Nachkriegszeit
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D i e angeschnittene P r o b l e m a t i k der u n e c h t e n U n t e r l a s s u n g s d e l i k t e u n d i h r e B e w ä l t i g u n g d u r c h die Strafrechtswissenschaft der N a c h k r i e g s zeit müssen als e i n T e i l a s p e k t i n e i n e n g r ö ß e r e n Z u s a m m e n h a n g e i n g e o r d n e t w e r d e n : Das E n d e der a n t i l i b e r a l e n Epoche u n d d a m i t der m ö g l i c h e A n s a t z f ü r eine energische W e n d u n g i n der gesamten E n t w i c k l u n g des Strafrechts w u r d e d u r c h d i e A u f h e b u n g des § 2 S t G B i n der seit 1935 g e l t e n d e n Fassung, d i e m i t d e m K o n t r o l l r a t s g e s e t z N r . 11 v o m 30.1. 1946 erfolgte, u n d später d u r c h die S c h a f f u n g des A r t . 103 A b s . 2 G G angezeigt. A n diesen äußeren Zeichen m u ß t e sich der E r n e u e r u n g s w i l l e der Strafrechtswissenschaft erweisen. Gerade die verfassungsrechtliche A b s i c h e r u n g des Satzes „ n u l l u m c r i m e n , n u l l a poena sine lege" h ä t t e z u r W e n d e m a r k e i n der gesamten s t r a f r e c h t l i c h e n D o g m a t i k w e r d e n k ö n n e n 3 6 ; sie hätte, w i e H . M a y e r f o r m u l i e r t e , A n l a ß f ü r eine Erscheinung, daß i n den strafrechtlichen Lehrbüchern die rechtsstaatliche Problematik der unechten Unterlassungsdelikte übergangen wurde. se E i n Blick i n die Entstehungsgeschichte von A r t . 103 Abs. 2 GG erweckt Zweifel, ob der Gesetzgeber der Vorschrift die hier behauptete Bedeutung beimaß. I n den Verfassungsberatungen hat diese Grundgesetznorm keine große Rolle gespielt. Der Gesetzgeber scheint lediglich eine Wiederherstellung alter Grundsätze unter A n k n ü p f u n g an A r t . 116 W R V beabsichtigt zu haben (vgl. die Darstellungen der Entstehungsgeschichte bei Naucke, Betrug, S. 184; Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses, S. 216; Nickel, Die Problem a t i k der unechten Unterlassungsdelikte, S. 155 ff.). Damit wäre i n der Tat kein Signal f ü r eine vollständige A b k e h r v o m Antiliberalismus gesetzt worden; denn weder die i n der Weimarer Zeit zu A r t . 116 W R V vertretenen Ansichten (vgl. Naucke, Betrug, S. 184; Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses, S. 204 ff.; Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, S. 156), noch der Zustand von Strafrechtstheorie u n d -praxis i n jener Zeit können als i m strengen Sinne liberal bezeichnet werden. Es erscheint jedoch unzulässig, die subjektiv-historische Auslegung auf diesen T e i l der Entstehungsgeschichte zu beschränken (so aber Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, S. 155 ff.). Dadurch werden wichtige Zusammenhänge außer acht gelassen. A r t . 103 Abs. 2 G G k n ü p f t unmittelbar an die Proklamation des Kontrollrats Nr. 3 sowie an das Kontrollratsgesetz Nr. 11 v o m 30.1.1946 an. Wie H. Mayer dargelegt hat, können diese Vorschriften n u r als Aufforderung zu einer grundsätzlichen Neuorientierung verstanden werden (SJZ 1947, Sp. 12 ff.). Eine vollständige Darstellung, die die M i t t e l der historischen Auslegung ausschöpft, muß auch den T e i l der Entstehungsgeschichte einbeziehen, der die Zeit vor Schaffung der Weimarer Verfassung betrifft. Naucke hat gezeigt, daß insbesondere § 2 des Preußischen Strafgesetzbuchs wichtige Aufschlüsse über den liberalen Gehalt des Grundsatzes „ n u l l u m crimen, n u l l a poena sine lege" liefert (Betrug, S. 184 ff.). Schließlich sollte eine historische Auslegung auch die gesamtpolitischen Bezüge nicht übersehen, innerhalb derer der Gesetzgeber tätig geworden ist. Wenn auch die W R V i n vielem als V o r b i l d gedient haben mag, so waren die Schöpfer des Grundgesetzes doch stets bestrebt, Fehlentwicklungen der Weimarer Zeit durch verfassungsrechtliche Sicherungen zu verhindern (vgl. Fromme, V o n der Weimarer Verfassung z u m Bonner Grundgesetz). A u f dieser Grundlage r u h t auch A r t . 103 Abs. 2 GG. I n seine Auslegung ist der strafrechtliche Illiberalismus u n d Antiliberalismus der zwanziger u n d dreißiger Jahre als Negativbild einzubeziehen. Das setzt allerdings voraus, daß m a n der historischen Auslegung einen wesentlichen Einfluß auf die Gesetzesinterpretation einräumt; vgl. etwa 17 Marxen
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6. Kap. : Schlußbetrachtung
„grundsätzliche Neubesinnung" nach der Phase des Antiliberalismus geben können 37 . Die Entwicklung verlief jedoch anders. Uberwiegend wurde A r t . 103 Abs. 2 GG als eine Rückkehr zu den Lehren aufgefaßt, die zu A r t . 116 WRV entwickelt worden waren 3 8 . Die unheilvolle Bedeutung der illiberalen Tendenzen, die sich i n der Weimarer Zeit herausgebildet hatten und i m Dritten Reich zu voller Entfaltung gelangt waren, rückte nicht i n das Bewußtsein der Strafrechtswissenschaft der Nachkriegszeit. Art. 103 Abs. 2 GG wurde somit i m allgemeinen kein echter Prüfstein für die strafrechtliche Lehre zum Zeitpunkt ihrer Wiederaufnahme nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs. Nicht die Absicht, einen völlig neuen Anfang zu wagen, sondern der Wille, die überkommene strafrechtliche Dogmatik fortzuführen, leitete die Strafrechtswissenschaft bei dem Beginn ihrer Tätigkeit nach dem Krieg. Die nationalsozialistische Strafrechtsdogmatik wurde dabei entweder ausgeblendet oder — soweit sie überhaupt Beschäftigungsgegenstand war — aus ihren politischen Bezügen herausgelöst. Das zeigt sich an geschichtlichen Rückblicken, i n denen die antiliberale strafrechtswissenschaftliche Richtung entweder gar nicht erwähnt 3 9 oder als eine Stufe i n einer kontinuierlichen Entwicklung der Strafrechtswissenschaft bis zur Gegenwart beschrieben w i r d 4 0 .
Naucke, Betrug, S. 182 ff.; ders., Festschrift f ü r Engisch, S. 274 ff. Gerade Naucke hat aber zahlreiche Gegner gefunden; vgl. u. a. Schänke - Schröder, StGB, §263 A n m . 1 a; Cramer , Vermögensbegriff u n d Vermögensschaden i m Strafrecht, S. 31 f.; Lüderssen, JuS 1974, S. 132 f.; Otto Die S t r u k t u r des strafrechtlichen Vermögensschutzes, S. 17 ff. 37 SJZ 1947, Sp. 12; ferner ders., Straf recht, S. 85; Buchwald, Gerechtes Recht, S. 85 f. 38 Vgl. v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, S. 547; ferner Schänke, StGB, 5. Aufl., S. 31 ff: Die Kommentierung von §2 läßt i n keiner Weise erkennen, daß diese Vorschrift eine Wendemarke bedeuten könnte. Die Überlegungen zum Fragenkomplex Auslegung/Analogie, w i e sie etwa Schwinge i n der V o r kriegszeit angestellt hat, werden ohne besondere Begründung u n d ohne grundsätzliches Eingehen auf die Zwischenzeit fortgeführt. Daß A r t . 103 Abs. 2 GG keine praktische Bedeutung beigemessen wurde, läßt der Aufsatz von Schwarz „Das Grundgesetz i n der strafrechtlichen Praxis" (NJW 1950, S. 124 ff.) erkennen. Die Vorschrift w i r d dort nicht behandelt. 39 Vgl. Welzels Uberblick über die strafrechtliche Dogmatik der letzten 100 Jahre u n d i h r Verhältnis zur finalen Handlungslehre i n JuS 1966, S. 421 ff. 40 Vgl. Würtenberger, Die geistige Situation, S. 48 f.; Gallas, ZStW 67, S. 4; Engisch, ZStW 66, S. 341.
I I I . Das liberale Strafrecht i n der Gegenwart
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I I I . Die Bedeutung des liberalen Strafrechts in der Gegenwart Der Eindruck von den Gefahren eines strafrechtlichen Illiberalismus und Antiliberalismus, den die Beschäftigung m i t der strafrechtlichen Theorie und Praxis der zwanziger und dreißiger Jahre hervorruft, ist so nachhaltig, daß man auch der heutigen Strafrechtswissenschaft dringend anraten möchte, sich intensiv m i t Fragen des liberalen Straf rechts zu befassen. Angesichts des zeitlichen Abstandes vom Kriegsende und der seither eingetretenen Entwicklung kann eine solche Empfehlung aber wohl vernünftigerweise nur gegeben werden, wenn sie von einer Begründung begleitet ist, die auf die gegenwärtige strafrechtliche Theorie und Praxis eingeht, und wenn aufgezeigt wird, i n welcher Form und i n welchem Zusammenhang heute Bemühungen u m eine Theorie des liberalen Straf rechts ihre Berechtigung haben. Die folgenden Ausführungen stellen somit den Versuch dar, den Befund hinsichtlich der Bedeutung des liberalen Strafrechts i n der unmittelbaren Nachkriegszeit für die Gegenwart zu ergänzen und das Ergebnis verwertbar zu machen, d. h. Bewertungskriterien und methodische Ansatzpunkte für eine erneute Diskussion über das liberale Strafrecht zu entwickeln. Erweitern w i r zunächst den oben für die unmittelbare Nachkriegszeit festgestellten Befund: Der von H. Mayer geforderte Neuaufbau des Strafrechts unter völliger Abkehr von der antiliberalen Phase ist auch i n der seither verstrichenen Zeit nicht vollzogen worden. Das w i r d wiederum am Beispiel der Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte sehr deutlich: Neuere methodologische Versuche zur Lösung etwa des Problems der Handlungspflichten, die die überwiegende Ansicht des strafrechtlichen Schrifttums repräsentieren, lassen keinen prinzipiellen Unterschied zu entsprechenden Versuchen der zwanziger und dreißiger Jahre erkennen. Die begriffliche Erfassung erfolgt durch ein „wertermittelndes und wertbeziehendes Verfahren" 4 1 , ergänzt durch eine 41 Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik, S. 92. Derselben M i t t e l bedient sich Bärwinkel, der seinen methodischen Weg ausführlich beschreibt (Zur S t r u k t u r der Garantieverhältnisse, S. 125 f.) : Zunächst soll das Rechtsgut des i n Betracht kommenden gesetzlichen Tatbestandes „ i n einer teleologisch-wertenden Betrachtung, die a m obersten Rechtswert ausgerichtet ist", bestimmt werden. Dann ist die „soziale Rolle" des Unterlassungstäters zu untersuchen, auf Grund der er m i t dem Rechtsgut i n Berührung gekommen ist. Relevant sind n u r diejenigen Rollen, die eine essentielle T e i l f u n k t i o n innerhalb einer solchen Gruppe innehaben, die „nach ihrer Aufgabenstellung bzw. Sinnorientierung notwendig für ein gedeihliches Zusammenleben i n der Gesellschaft ist". Diese Rollen sind „ i n werthafter Betrachtung" unter dem Aspekt zu „beschreiben", inwieweit sie auf den Schutz des verletzten Rechtsguts gerichtet sind. Die so ermittelten „sozial-ethischen Pflichten" sind daraufhin zu überprüfen, ob sie „Rechtspflichten" sind, d. h., ob sie dem „obersten Rechtswert der Notwendigkeit f ü r ein gedeihliches Zusammenleben" dienen.
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6. Kap.: Schlußbetrachtung
„auf Sinnerfassung gerichtete Betrachtung" 4 1 . Die gesetzliche Strafrechtsordnung w i r d zwar als Grundlage für die Festlegung der Wertmaßstäbe benannt 4 2 ; es ist jedoch ohne weiteres ersichtlich, daß auf diesem Wege einer Beschreibung der Handlungspflichten durch allgemeine Begriffe das Strafgesetz keine Begrenzungsfunktion mehr hat 4 3 : „Die i m Geist der Gemeinschaft lebendige, besondere Verantwortlichkeit des Bruders für seine Schwester macht auf sein Unterlassen die strafrechtliche Norm, die die fahrlässige Tötung betrifft, anwendbar 4 4 ." Es ist daher völlig berechtigt, wenn dem deutschen Straf recht eine „Ausuferungstendenz i n der Anerkennung von Rechtspflichten, deren Verletzung als Unterlassungsdelikt bestraft w i r d " , bescheinigt w i r d 4 5 . Die Ausweglosigkeit der vom überwiegenden Teil des strafrechtswissenschaftlichen Schrifttums unternommenen Bestimmungsversuche gibt § 13 des 2. StrRG angemessen wieder. Wenn dort als Voraussetzung für die Strafbarkeit des unechten Unterlassens ganz allgemein formuliert wird, daß der Unterlassende rechtlich für den Nichteintritt des Erfolges einzustehen habe und daß das Unterlassen dem T u n „entspreche", so läßt sich ein geeigneterer Ansatz für eine ganzheitliche, wesenhafte und damit verschwommene Bestimmung der Handlungspflichten und des Täterkreises kaum denken. Greifen w i r wiederum auf den Hintergrund dieses Befundes zurück: Die vorherrschende Auffassung zu A r t . 103 Abs. 2 GG. Zwar w i r d die Möglichkeit einer Diskrepanz zwischen A r t . 103 Abs. 2 GG und der h. L. i n der Dogmatik der Unterlassungsdelikte nicht geleugnet 46 . Die Erörterung dieses Problems beinhaltet jedoch i n der Regel keine erschöpfende und konsequente Erörterung des liberalen Strafrechts. Die entscheidenden Kriterien für die Behandlung des Problems durch die h. L. sind: — Das Fehlen der historischen Dimension; das bedeutet, daß die Erfahrungen aus der Phase des Antiliberalismus ungenutzt bleiben 4 7 ; 42 Vgl. Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik, S. 91; Bärwinkel, Zur S t r u k t u r der Garantieverhältnisse, S. 125; Herzberg, Die Unterlassung i m Strafrecht, S. 216. 43 Rudolphi bewertet es als Vorteil des auf seinem methodischen Weg gefundenen allgemeinen Begriffs, daß er „offen" ist „ f ü r zukünftige soziale Entwicklungen u n d Veränderungen i n der Regelungsmaterie" (Die Gleichstellungsproblematik, S. 92). 44 Herzberg, Die Unterlassung i m Strafrecht, S. 215. 4 * Jescheck-Goldmann, ZStW 77, S. 133. 46 Einen umfassenden Uberblick über den Stand der Diskussion gibt Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte i m Hinblick auf den Grundsatz „ n u l l u m crimen sine lege" (Art. 103 Abs. 2 GG). 47 Bezeichnend ist, daß i n der Abhandlung Nickels, die als erschöpfende Darstellung konzipiert ist, die Autoren Dahm u n d Schaffstein fehlen. Den Nachweis dafür, daß die h. L. A r t . 103 Abs. 2 G G eine Bedeutung beilegt, die den historischen Sinn außer Betracht läßt, hat Naucke, Betrug, S. 191 ff., geführt.
I I . Das liberale Strafrecht i n der
e g e t
261
— D i e „ H a r m o n i s i e r u n g s t e n d e n z " 4 8 ; das bedeutet, daß A r t . 103 A b s . 2 G G n i c h t als strenger M a ß s t a b f ü r die A n f o r d e r u n g e n des Rechtsstaatsprinzips angelegt w i r d . V i e l m e h r d i e n t die B e s c h ä f t i g u n g m i t der V o r s c h r i f t d e m Z i e l , e i n s t r e n g l i b e r a l e s S t r a f recht als u n p r a k t i k a b e l d a r z u s t e l l e n u n d die G r u n d g e s e t z n o r m i m W e g e o b j e k t i v teleologischer A u s l e g u n g f ü r die herrschende S t r a f r e c h t s l e h r e u n d - p r a x i s v e r w e n d b a r zu m a c h e n 4 9 . A r t . 103 A b s . 2 G G h a t s o m i t n i c h t d i e B e d e u t u n g e i n e r E x i s t e n z f r a g e f ü r die S t r a f r e c h t s l e h r e e r l a n g t . M i t diesem B i l d der Strafrechtswissenschaft s t i m m e n E r s c h e i n u n g e n i n der Strafrechtspflege ü b e r e i n , d i e e i n d e u t i g d e n G r u n d p r i n z i p i e n eines l i b e r a l e n Strafrechts z u w i d e r l a u f e n . A l s herausragendes B e i s p i e l sei 48 Jescheck-Goldmann, ZStW 77, S. 128. 49 Auch hierfür ist der Nachweis durch Naucke, Betrug, S. 191 ff., erbracht. Die folgenden neueren Zitate ergänzen lediglich sein Untersuchungsergebnis: Herzberg, Die Unterlassung i m Straf recht, S. 253 ff., verneint einen Verstoß der Unterlassungsdogmatik gegen das Bestimmtheitsgebot, indem er auf andere Unbestimmtheiten hinweist (Täterlehre, objektives Fahrlässigkeitsmoment), die unbesorgt hingenommen würden. Wenn der Gesetzgeber von der Regelung allgemeiner Fragen absehe, so müsse er dafür ja w o h l immer gute Gründe haben. I m übrigen sei es nicht realistisch, die Vorschrift als strengen Maßstab zu handhaben. Die Forderung nach präziser gesetzlicher Regelung der Garantenstellungen verlange v o m Gesetzgeber Unmögliches. Herzbergs Überlegungen münden i n den allgemeinen Satz: „Strafbarkeitsvoraussetzungen, die für viele Tatbestände gelten u n d die daher innerhalb des Allgemeinen Teils zu behandeln sind, unterliegen nicht oder n u r sehr beschränkt den Bestimmtheitsanforderungen des Artikels 103 Abs. 2 GG." Das Argument, m a n dürfe v o m Gesetzgeber nichts Unmögliches verlangen, findet sich auch bei Lenckner, JuS 1968, S. 257. Eine Abschwächung des ursprünglichen Sinns des Grundsatzes ,nullum crimen, nulla poena sine lege' erreicht Lenckner ferner durch die Einführung seines Rechtsstaatsverständnisses i n die Auslegung von A r t . 103 Abs. 2 GG (vgl. JuS 1968, S. 3041): Die Rechtsstaatlichkeit enthalte eine formelle Komponente der Rechtssicherheit u n d eine materielle Komponente der Gerechtigkeit, die durch eine gewisse „Elastizität" der Rechtsbegriffe v e r w i r k l i c h t werde. Der Konflikt könne n u r durch einen Kompromiß gelöst werden, dessen I n h a l t die Forderung wiedergebe: „Soviel Rechtssicherheit u n d soviel materielle Gerechtigkeit w i e möglich!" I n gleicher oder ähnlicher Weise argumentieren Thelen, Das Tatbestandsermessen des Strafrichters, S. 154, 156, Lemmel, Unbestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 166 f., S eel, Unbestimmte u n d normative Tatbestandsmerkmale, S. 107, 111, u n d Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, S. 177 f. Die beiden zuletzt genannten Autoren stützen ihre Auslegung auch auf den „ K o n t e x t der Verfassung". Die dahinterstehende Absicht einer Harmonisierung läßt eine Äußerung von Seel, S. 107, m i t besonderer Deutlichkeit hervortreten: Das Ergebnis der Verfassungswidrigkeit unbestimmter Tatbestände w ü r d e nach seiner Auffassung „angesichts der herrschenden Tendenz zur Vermehrung solcher Tatbestände offenbar nicht befriedigen". Seel hält es n u n f ü r seine Aufgabe, zu untersuchen, „ob der Satz n u l l u m crimen sine lege seit Inkrafttreten des Grundgesetzes überhaupt noch i m herkömmlichen Sinn verstanden werden k a n n oder ob er durch seine Aufnahme i n das Grundgesetz eine Veränderung i n I n h a l t u n d Aussage erfahren hat".
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6. Kap.: Schlußbetrachtung
hier die erhebliche Zunahme von Generalklauseln genannt 50 . Ferner könnte auf die Vielzahl von richterlichen Ermessensentscheidungen im Bereich der Strafzumessung verwiesen werden, die durch die Reformgesetzgebung keineswegs verringert wurde 5 1 . Auf derselben Linie liegt etwa der Abbau des Legalitätsprinzips 52 oder die erhebliche Ausweitung einer privaten Justiz mit dem Charakter einer Strafgerichtsbarkeit 5 3 . Das Ganze fügt sich nahtlos in eine soziologisch-politische Gegenwartsbeschreibung unter dem Stichwort „nachliberales Zeitalter" 5 4 ein. Wer heute die Beschäftigung m i t dem liberalen Strafrecht für notwendig erachtet und die Forderung nach einer strafrechtlichen Liberalismusdiskussion erhebt, muß diese Analyse des gegenwärtigen Zeitalters in seine Überlegungen einbeziehen, wenn er nicht i n die Position des w i r k lichkeitsfremden Außenseiters geraten w i l l . Es muß mitgeteilt werden, in welchem Rahmen eine Liberalismusdiskussion möglich und denkbar erscheint und welche Ergebnisse erwartet werden könnten. Zu dem Begriff „nachliberales Zeitalter" gelangt der Soziologe Hildebrandt über die Feststellung: „Die großartige und umfassende Entfaltung des Individualismus, die w i r bis i n unsere Tage hinein beobachten können, hat als Folge ihrer rigoristischen Radikalität auf ihrer Rückseite eine A r t chronische gesellschaftliche Unterernährung, soziale Defizite der mannigfaltigsten Form, aufkommen lassen 55 ." Daraus habe sich ein Bedürfnis und ein Zwang ergeben, den „Mangel an sozialer Dimensionierung des einzelnen wie der Summe aller" 5 5 zu beseitigen. Die Kennzeichen der Zeit sieht Hildebrandt in drei Tendenzen: „Die nahezu alles erfassende Nivellierungstendenz i m Sinne des Abbaues alter Strukturen oder der Angleichung ihrer Profile . . . die immer großräumigere, intensivere und effektivere Organisiertheit unseres Lebens . . . das üppige Koalieren von Ideologien, Weltanschauungen und irrationalen Handlungsmustern m i t modernen Organisationstech50 Vgl. Naucke, RuS H. 417; ferner Claß, Festschrift für E.Schmidt 1961, S. 129; Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses, S. 232; Lenckner, JuS 1968. S. 249. si Vgl. Bruckmann, ZRP 1973, S. 30 ff. Das 2. StrRG operiert gerade i m Bereich der Strafzumessung i n großem Umfang m i t Generalklauseln; vgl. Naucke, RuS H. 417, S. 4 f. E i n Begriff w i e „Verteidigung der Rechtsordnung" (§§ 41, 47, 56 Abs. 3, 59) läßt jede klare Regelung vermissen; vgl. Kieler Seminar, Verteidigung der Rechtsordnung, S. 134 ff. 52 Vgl. Wagner, Festschrift f ü r den 45. Deutschen Juristentag 1964, S. 169 ff.; Baumann, ZRP 1972, S. 274 f. 53 Vgl. zur „Warenhausjustiz" Kramer, ZRP 1974, S. 62 ff.; zur Betriebsjustiz Metzger - Pregizer, ZRP 1974,S. 167 ff. 54 Vgl. Hildebrandt, Das nachliberale Zeitalter; Kaltenbrunner, Neue Rundschau 1974, S. 7. 55 Hildebrandt, Das nachliberale Zeitalter, S. 11.
I V . Z u r Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Strafrecht
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niken 5 6 ." Wenn Hildebrandt zusammenfassend eine „stärkere Vergesellschaftung der Menschen i m nachliberalen Zeitalter" feststellt 57 , w i r d ihm schwerlich widersprochen werden können. Dem läßt sich als Kehrseite folgendes für die gegenwärtige Bedeutung und Funktion des Liberalismus entnehmen: Wenn er auch vielleicht nicht obsolet geworden ist, so hat er jedoch die Rolle als offensive, treibende und prägende eigenständige K r a f t verloren. Seine W i r kung besteht nicht mehr i m Gestalten, sondern allenfalls noch i m kritischen Begleiten. IV. Überlegungen zu einer Wiederaufnahme der Liberalismusdiskussion im Strafrecht Halten w i r zunächst einmal fest: Die Beschreibung der Gegenwart als „nachliberales Zeitalter" gibt auch den gegenwärtigen Zustand des Strafrechts angemessen wieder. Eine liberale Strafrechtstheorie, die weder anachronistisch noch utopisch ist, sollte sich zunächst ganz bescheiden darum bemühen, die notwendigen Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Rolle eines kritischen Begleiters zu schaffen. Ein erster Schritt i n diese Richtung wäre es, wenn die grundlegenden Elemente eines liberalen Strafrechts aufgezeigt würden. Danach wären die strukturellen Mängel und offenen Flanken des liberalen Strafrechts herauszustellen, die Ansatzpunkte für illiberale Abweichung und antiliberale Gegnerschaft bieten. Diese ersten Überlegungen hätten zunächst einmal den nicht zu unterschätzenden Nutzen, daß sie zu einer größeren begrifflichen Klarheit verhelfen würden. Damit könnte einem Zustand begegnet werden, i n dem sich so unterschiedliche strafrechtliche Konzeptionen wie der Entwurf 1962 und der Alternativentwurf gleichermaßen als liberal verstehen 58 . Weiterhin wäre zu erhoffen, daß auf diese Weise ein gedankliches Instrumentarium geschaffen werden könnte, das eine inhaltlich klarere Standortbestimmung neuerer strafrechtlicher Lehren und Praktiken ermöglicht; d. h. es könnte nachgewiesen werden, auf welchen typischen Wegen das liberale Strafrecht verlassen wird. Ziel eines solchen Nachweises wäre nicht, Unwerturteile zu fällen und die Rückkehr zum liberalen Straf recht zu fordern; es ginge zunächst nur darum, Orientierungshilfen zu geben. A u f diesem Weg könnten dann i n weiteren Schritten die historischen Erfahrungen aus der Phase der Bekämpfung des liberalen 56 Ebd., S. 33 f. 57 Ebd., S. 26. 58 Vgl. einerseits E n t w u r f 1962, S. 101, andererseits A l t e r n a t i v e n t w u r f A T , S. 29, auch 49.
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6. Kap.: Schlußbetrachtung
Strafrechts i n der Form verwertet werden, daß herausgearbeitet würde, wann der strafrechtliche Illiberalismus i n eine unerträgliche Bedrohung der individuellen Freiheit umschlägt. Als ein fernes, hier noch nicht zu erörterndes Ergebnis einer erneuten Diskussion um das liberale Strafrecht wäre zu wünschen, daß der „Wesensgehalt" eines solchen Strafrechts sichtbar würde, die Minimalanforderungen einer strafrechtlichen Ausformung des grundgesetzlich verankerten Rechtsstaatsprinzips. Dieses Vorhaben soll hier ansatzweise nur soweit i n Angriff genommen werden, als die Untersuchung der zwanziger und dreißiger Jahre Anlaß und Rahmen dafür bietet. Anlaß für eine heutige Erörterung des liberalen Strafrechts gibt die Phase des strafrechtlichen Illiberalismus und Antiliberalismus, weil es sich nicht um eine einmalige Erscheinung handelte, sondern um einen Vorgang, der i n idealtypischer Form die strukturellen Mängel des liberalen Strafrechts und die daraus resultierenden Ansätze für seine illiberale Auflösung und antiliberale Bekämpfung erkennbar werden läßt. Die folgende Betrachtung w i r d die grundsätzliche Bedeutung der damaligen Diskussion hervorkehren. Dabei soll der i n der vorstehenden Untersuchung abgehandelte Themenkreis nicht überschritten werden, was nicht zu dem I r r t u m verleiten sollte, daß damit der Gegenstand einer strafrechtlichen Liberalismusdiskussion erschöpfend erfaßt wäre. Neben der Theorie wären auch die praktischen Konsequenzen eines liberalen Strafrechts zu erörtern, neben dem Allgemeinen Teil wären auch der Besondere Teil sowie das Prozeßrecht, das Gerichtsverfassungs-, das Vollstreckungs- und Vollzugsrecht zu berücksichtigen. 1. Der Kern eines liberalen Strafrechts*0
Schwierigkeiten bereitet die Frage, wo anzuknüpfen ist, wenn es um die Beschreibung der grundlegenden Elemente eines liberalen Strafrechts geht. Es wurde bereits gezeigt, daß i n der Gegenwart das A t t r i b u t „liberal" für durchaus Verschiedenes, ja Konträres verwandt wird. Die Kalamität nimmt noch deutlichere Formen an, wenn man sich den Unterschied vergegenwärtigt zwischen dem i m historischen Sinne 59 Das Schrifttum gibt hierfür wenig Hilfen. Pfenningers Abhandlung über „Liberalismus u n d Strafrecht" (Festgabe für Fleiner 1937, S. 257 ff.) behandelt von den hier interessierenden Fragen n u r die des Analogieverbots u n d der Straftheorie, letztere außerordentlich knapp. Wenig ergiebig ist auch die kurze allgemeine Betrachtung Dannenbergs über das Verhältnis von L i b e r a lismus u n d Strafrecht (Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 5 ff.). Als typische Kennzeichen eines liberalen Straf rechts f ü h r t er lediglich auf: Den Grundsatz „ n u l l a poena sine lege", das Prinzip der Vergeltung, den formellen Schuldbegriff u n d die Möglichkeit einer rechtfertigenden E i n w i l l i g u n g des Verletzten.
I V . Zur Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Straf recht
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liberalen Strafrecht der klassischen Schule und dem Strafrechtsprogramm der heutigen liberalen politischen Bewegung, das auf eine Beseitigung des herkömmlichen Strafgedankens und seine Ersetzung durch ein reines Besserungs- und Sicherungsrechts abzielt 60 . Aus folgenden Gründen halten w i r es für möglich und sinnvoll, bei einer Wiederaufnahme der Diskussion über das liberale Strafrecht auf den Meinungsstand der zwanziger und dreißiger Jahre zurückzugreifen: W i l l man eine willkürliche Handhabung des Begriffs „liberales Strafrecht" vermeiden und eine feste Diskussionsgrundlage schaffen, so empfiehlt es sich, auf dem aufzubauen, was traditionsgemäß von dem Begriff erfaßt w i r d 6 1 . Ein etwaiger Hinweis auf das gewandelte Erscheinungsbild des Liberalismus läßt die Notwendigkeit unberührt, die historische Erscheinung des strafrechtlichen Antiliberalismus für die Gegenwart zu verwerten. Die Spuren dessen, was i n den zwanziger und dreißiger Jahren als liberales Strafrecht bekämpft wurde, sind i n der heutigen Strafrechtswissenschaft noch überall aufzufinden. Man denke nur an die Systematik des Verbrechensaufbaus, deren Grundmuster seit von Liszt und Beling unverändert geblieben ist 6 2 . Das liberale Straf recht des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verkörperte eine strafrechtswissenschaftliche Grundhaltung, die mehr als nur historisches Interesse verdient 6 3 . Zu einem hohen Maß an wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit kam eine Einstellung zum Gesetz, die die häufig dafür verwandten Vokabeln „positivistisch" und „formalistisch" nur unzureichend beschreiben. Sie erfassen nicht den Ernst, m i t dem das Gesetz als eine vom Gesetzgeber richtig und gerecht gemeinte Lösung und daher als eine für die Strafrechtswissenschaft verbindliche Arbeitsgrundlage aufgefaßt wurde, und nicht die Achtung vor der Würde des Menschen, auf deren Verwirklichung die Sorge für eine garantierte Freiheitssphäre des einzelnen zielte. Der Liberalismus enthält einige Grundelemente, die von Änderungen i n der gesellschaftlichen Situation unberührt bleiben 64 . Z u ihnen 60 Vgl. die liberale Programmschrift von Flach, Noch eine Chance f ü r die Liberalen, S. 78; ferner Zundel, Die Erben des Liberalismus, S. 94 f. 61 Ä h n l i c h f ü r den Begriff „Rechtsgut": Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 2; auch Sina, Dogmengeschichte, S. 88. β2 Vgl. Jescheck, Lehrbuch des Straf rechts, S. 138 ff.; Schmidhäuser, Strafrecht, S. 128 ff. 63 Vgl. zum folgenden Maurach, Allg. Teil, S. 70; E.Schmidt, Strafrechtspflege, S. 303 f., 307. 64 Vgl. Maihof er, Liberale Gesellschaftspolitik, S. 27 ff.; Flach, Noch eine Chance für die Liberalen, S. 12.
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6. Kap.: Schlußbetrachtung
zählt das Mißtrauen gegenüber einer unmäßigen Ausdehnung staatlicher Macht, die den Menschen i n seiner freien Entfaltung behindern könnte. Diesem liberalen Grundproblem hat das Strafrecht um die Jahrhundertwende, das Gegenstand des späteren strafrechtlichen Illiberalismus und Antiliberalismus war, größte Aufmerksamkeit geschenkt. Nach der ausführlichen Darstellung des historischen liberalen Strafrechts, wie seine Gegner es sahen, zu Beginn dieser Arbeit 6 5 sollen hier nur seine Grundzüge i n aller Kürze umrissen werden. Vorweg sein Programmsatz: Das Straf recht muß die Handlungsräume des Bürgers als Nichtstraftäter und als Straftäter sowie des Staates eindeutig begrenzen. Den Zustand klar abgegrenzter Handlungsräume versucht das liberale Strafrecht durch intensive gedankliche Arbeit i m Bereich der Straftheorie, des allgemeinen Verbrechensbegriffs und allgemeiner methodischer Fragen herbeizuführen. a) Der Straf begriff Die Strafe stellt aus liberaler Sicht einen so schwerwiegenden Eingriff i n die individuelle Freiheitssphäre dar, daß vom Staat der Nachweis einer speziellen Berechtigung für die Verhängung von Strafen verlangt werden muß. Dieser staatliche Strafanspruch kann allein aus einem Gesetz hergeleitet werden, das bestimmte, seit seiner Geltung begangene Handlungen mit Strafe bedroht. Es zieht der staatlichen Machtausübung Grenzen, die zugleich für den einzelnen eine Garantie seiner persönlichen Freiheit bedeuten. Das liberale Strafrecht w i r d vom Prinzip des Maßes beherrscht. Das bedeutet i m Hinblick auf die Androhung von Strafen: Das Strafgesetz muß als Rechtsfolge einer bestimmten Handlung zumindest einen Strafrahmen benennen. Verhängt werden dürfen nur von vornherein nach A r t und Umfang begrenzte Strafen. Eine Verurteilung zu unbestimmter Strafe würde vom liberalen Standpunkt aus den staatlichen Machtbereich auf untragbare Weise zuungunsten des persönlichen Freiheitsraumes erweitern. Zum Prinzip des Maßes kommt die Forderung nach Angemessenheit der Strafe. Die strafbare Handlung und insbesondere der Taterfolg geben die Grundlage für die Feststellung der Verhältnismäßigkeit ab. Das folgt einmal aus der liberalen Auffassung, daß das Strafrecht durch den Schutz von Rechtsgütern den individuellen Freiheitsbereich zu sichern habe 66 . Zum anderen bietet die Tat objektiv präzise feststellen Vgl. oben 1. Kap. III. 66 Der liberale Gehalt der Rechtsgutstheorie w i r d ausführlich i n den Schriften von Amelung, Rechtsgüterschutz (vgl. insbesondere S. 240 ff.), u n d Sina, Dogmengeschichte, abgehandelt. Daß dieser liberale Gehalt auch Gren-
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bare Merkmale, die eine genaue Grenzziehung zwischen dem staatlichen Recht zum Eingriff und dem persönlichen Anspruch auf freie Entfaltung ermöglichen. Schließlich gewährleistet die äußere Tat als Anknüpfungspunkt des Straf Urteils die Gleichbehandlung jeden Täters einer solchen Tat. Weitere Voraussetzung für eine Bestrafung ist die Schuld des Täters; d. h. aus liberaler Sicht: Der äußere Erfolg muß vom Willen des Täters getragen sein. Das Schuldprinzip folgt aus dem liberalen B i l d vom Menschen innerhalb der Rechtsordnung: Diese bildet den Rahmen für seine freie Entfaltung; für seine willentlichen Handlungen trägt er die volle Verantwortung. Das subjektive K r i t e r i u m bleibt i n Einklang mit der Begrenzungsfunktion des liberalen Strafrechts, indem es sich auf die psychische Beziehung des Täters zu einer bestimmten Normübertretung beschränkt 67 . Die Kriterien der Tätergesinnung, der Gefährlichkeit oder der Resozialisierbarkeit des Täters erfüllen die liberalen Anforderungen nicht. Wegen Verletzung des Proportionalitätsgrundsatzes, wegen der drohenden Gefahr einer unkontrollierbaren staatlichen Machtentfaltung und bevormundender Eingriffe i n die persönliche Sphäre ist der Strafzweck der Spezialprävention nicht m i t dem liberalen Strafrecht vereinbar 68 . b) Das Verbrechenssystem Ein wesentliches Merkmal des liberalen Strafrechts ist, daß es ein durchgegliedertes Verbrechenssystem kennt. Einer liberalen Einstellung entspricht es, wenn die Systematisierung m i t besonderem Nachdruck betrieben wird. Der mit dem System verbundene Zwang zu sorgfältiger, schrittweiser Prüfung, die einer Nachprüfung zugänglich ist, dient der Rechtssicherheit und der Rechtsgleichheit. Die Basis des liberalen Verbrechenssystems bildet ein allgemeiner Handlungsbegriff, der auf die naturwissenschaftliche Denkkategorie der Kausalität abstellt, von der erwartet wird, daß sie zu gleichzen hat, zeigen Naucke, Betrug, S. 42 f., u n d Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 246 ff. Vgl. auch die Verwendung des Rechtsgutsbegriffs bei Schwingel Zimmerl, oben 5. Kap. I X . 67 Vgl. Dannenberg, Lib. u n d Strafrecht i m 19. Jahrh., S. 6. 68 a. A. Radbruch, MSchrKrimPsych 1909, S. 1 ff. Nach seiner Ansicht fordert der Liberalismus i m Strafrecht die Sicherungstheorie. E i n unlösbares Problem bleibt für Radbruch, wieso Kant sich f ü r den Vergeltungsgedanken einsetzte (vgl. S. 3 A n m . 1). Gegen Radbruch m i t überzeugenden Argumenten Dannenberg, L i b . u n d Straf recht i m 19. Jahrh., S. 6 Anm. 14; R. Schmidt, Strafrechtsreform, S. 191 ff.; Köhler, Vergeltungsgedanke, S. 277 ff.
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6. Kap.: Schlußbetrachtung
mäßigen und leicht überprüfbaren Ergebnissen führt, da sie frei von subjektiven und wertenden Elementen ist. Zur Sicherung der absoluten Priorität des Gesetzes als der Grenzlinie zwischen strafbarem und nichtstrafbarem Bereich, zwischen staatlicher Machtssphäre und individueller Freiheitssphäre dient das Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit. Es verlangt, daß in objektiver, möglichst wertfreier begrifflicher Prüfung festgestellt wird, ob die Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes i n der Handlung des Täters wiederzufinden sind. Das Absehen von subjektiven und weitgehend auch von wertenden Prüfungskriterien soll eine klare Grenzlinie ermöglichen und die Funktion des Strafgesetzes als „Magna Charta" sowohl des Verbrechers als auch des Nichtverbrechers stärken. Eine Ausdehnung des gesetzlichen Tatbestandes durch analoge Anwendung zuungunsten des Täters würde der Begrenzungsfunktion des liberalen Strafrechts zuwiderlaufen. Die Aufgabe der Wertung erfüllt die Rechtswidrigkeitsprüfung, die sich i m liberalen Strafrecht an den allgemeinen Wertungen des Gesetzes orientiert. Gegenüber einem materiellen Rechtswidrigkeitsbegriff w i r d Zurückhaltung geübt, da er die Herrschaft des Gesetzes untergräbt. Erst i m Rahmen der Schuldprüfung findet der die äußere Tat begleitende innere Vorgang Beachtung. Geprüft und bewertet w i r d jedoch nur die unmittelbare psychische Beziehung des Täters zur Tat. Die Priorität des äußeren Geschehens bleibt gewahrt; die Schuldprüfung hat nur korrigierende Funktion. Diese Beschränkung liegt im Sinne des liberalen Gleichbehandlungspostulats. c) Die Methode Große Bedeutung haben i m liberalen Strafrecht die begriffliche Abstraktion und die Systematisierung i m Allgemeinen Teil. Sie dienen dem Zweck, das Strafrecht rational zu durchdringen und den Gleichheitsgedanken i n das Strafrecht umzusetzen. Die Auslegung hat sich i m liberalen Strafrecht völlig dem Gesetz unterzuordnen, das als eine bindende Regelung angesehen wird, die als richtig hinzunehmen ist. Daraus folgt eine strikte Unterscheidung zwischen lex lata und lex ferenda. Zwischen Auslegung und Analogie w i r d ein grundlegender Unterschied gesehen. Das liberale Strafrecht zieht die historische Auslegung vor; denn diese nimmt das Gesetz als verbindliche Richtlinie ernst und bietet ein nachprüfbares Verfahren. Skepsis besteht gegenüber einem materiellen Verbrechensbegriff als
I V . Z u r Wiederaufnahme einer Liberalismusdiskussion i m Strafrecht
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Hilfsmittel der Auslegung, da er die Position des Gesetzes als Grenzlinie für den Machtbereich des Staates gefährdet. 2. Ansatzpunkte für liberale und antiliberale Tendenzen
a) Die (kriminal-)politische
Zurückhaltung
I m Zentrum des liberalen Strafrechts steht das „Grenzproblem" 6 9 , d. h. die Frage nach der Grenze zwischen strafbarem und straflosem Verhalten. A l l e Bemühungen sind auf das Ziel gerichtet, für jedermann gleichermaßen den Bezirk abzugrenzen und kenntlich zu machen, i n dem er sich frei bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, straffällig zu werden. Die Grundlage für die angestrebte exakte und verbindliche Bestimmung der Grenzlinie bildet das Gesetz. Das liberale Strafrecht verbietet, kriminalpolitische Ziele zu verfolgen, die sich nicht vollständig m i t denen des Gesetzgebers decken. Es ist i h m daher eine gewisse Starrheit und Unbeweglichkeit eigen. Der Strafrechtspflege, die an die einmal gezogene Grenzlinie gebunden ist, w i r d verwehrt, aktuellen kriminalpolitischen Bedürfnissen zu entsprechen, auch wenn sie als unabweisbar angesehen werden. Fast zwangsläufig entsteht eine Gegenbewegung vom liberalen Strafrecht weg, die für eine weniger scharfe Grenzziehung mit dem Argument plädiert, daß ein Offenhalten der strafrechtlichen Grenzen aus Gründen kriminalpolitischer Zweckmäßigkeit erforderlich sei. Das größte Gewicht legt das liberale Strafrecht auf die Frage, wie die Grenze zwischen strafbarem und straflosem Verhalten möglichst eindeutig und präzise gezogen werden kann. Der Rückzug auf das Gesetz und der defensive Charakter des liberalen Gedankens behindern eine gesetzeskritische Haltung i n der Frage, wo diese Grenze verlaufen sollte. Das liberale Strafrecht vermag daher politischen Bewegungen keinen energischen Widerstand zu leisten, die die Grenze entsprechend ihren Zielen zuungunsten des einzelnen verschieben. Das Beispiel der neuklassischen Richtung zu Anfang der dreißiger Jahre zeigt, daß ein autoritäres Strafrecht auch aus einem liberalen Ursprung hervorgehen kann 7 0 . Erst dann w i r d das liberale Strafrecht i n seinem Nerv getroffen, wenn eine klare Grenzziehung überhaupt unterlassen w i r d und damit die Zusicherung eines noch so kleinen individuellen Freiheitsraumes entfällt. Die politische Abstinenz des liberalen
69 H. Mayer, DStR 1938, S. 74. 70 Vgl. oben 4. Kap. I I I . 4. a).
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6. Kap.: Schlußbetrachtung
Strafrechts reicht nicht so weit, daß sich auch der totale Staat liberal gebärden könnte. Er ist auf die Bekämpfung des liberalen Strafrechts angewiesen. Die Reformbewegung der modernen Schule wandte sich gegen die starre Grenzziehung durch das liberale Straifrecht m i t kriminalpolitischen Argumenten. Ein eigener materieller Verbrechensbegriff ermöglichte es ihr, die Begrenzungsfunktion des Strafrechts und insbesondere der liberalen strafrechtlichen Dogmatik zu verringern 7 1 . Weitaus energischer und zielstrebiger ging die antiliberale Richtung i n der Straf rechtswissenschaft vor. Es waren bei ihr jedoch weniger kriminalpolitische Erwägungen i m engeren Sinne maßgebend für die Beseitigung der Begrenzungsfunktion des Straf rechts; vorwiegend ihre allgemeinpolitische Grundhaltung, das Bekenntnis zum starken Staat und zur Gemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus, veranlaßte sie, das Strafrecht zu einem flexiblen Machtmittel des Staates umzuformen. b) Der formale Gleichheits- und Freiheitsbegriff Ein beherrschender Zug i m liberalen Strafrecht neben der Priorität des Grenzproblems ist seine Stellungnahme zur Frage der Gleichheit. M i t Entschiedenheit und Konsequenz w i r d ein formaler Gleichheitsbegriff vertreten. Der strikten Bindung an das Gesetz und dem Vorrang des äußeren Tathergangs liegt eine Vorstellung von Gleichheit zugrunde, die bewußt die besonderen persönlichen Bedingungen und Verhältnisse unberücksichtigt läßt. Das liberale Strafrecht verschließt sich gegenüber Unterschieden auf der Täterseite, soweit sie nicht i n so enger Beziehung zur Tat stehen, daß diese i n einem anderen Licht erscheint. Zu diesem Begriff der Gleichheit gehört eine bestimmte Vorstellung von der menschlichen Freiheit, die sich bewußt einer Stellungnahme zu Fragen der materiellen Bedingungen von Freiheit und des rechten Gebrauchmachens von ihr enthält. Unter Freiheit w i r d ein Freiraum verstanden, i n dem der Mensch nahezu sämtliche Möglichkeiten der Selbstverwirklichung hat, i n dem er aber auch die volle Verantwortung für seine Handlungen trägt. Dieser Standpunkt w i r d sowohl i m Hinblick auf die Entstehungsgründe des Verbrechens als auch i m Hinblick auf die Situation des Deliquenten nach der Strafverbüßung eingenommen. Es liegt nahe, diesen Freiheitsbegriff als „formal" zu bezeichnen; völlig würde man ihm damit jedoch nicht gerecht; denn er hat ein lebenserfülltes Menschenbild zum Hintergrund, den aktiven, zu selb7i Vgl. dazu Naucke, Betrug, S. 22 ff., 31 ff.
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ständiger Lebensgestaltung fähigen Menschen, der durch die Verfolgung seiner Interessen zugleich das Wohl der Gesamtheit fördert. I h m allein bleibt es vorbehalten, Zwecke zu setzen und sie mit allen erlaubten Mitteln anzustreben. Der Staat ist lediglich Mittel zum Zweck, nämlich zu dem Zweck, dem Menschen den individuellen Freiheitsraum zu sichern. Für das liberale Strafrecht folgt daraus, daß es ebenfalls über diesen Aufgabenbereich nicht hinausgehen darf. Es verschließt sich daher gegenüber allen weiterreichenden Zwecken und jeder Einflußnahme auf die individuelle Zwecksetzung. I n Fragen der Gleichheit, Freiheit und des Zwecks des Strafrechts muß das liberale Strafrecht dem kritischen Betrachter als kurzsichtig erscheinen. Nicht i n sein Blickfeld geraten die tatsächlichen, empirisch feststellbaren äußeren und inneren Bedingungen menschlichen Lebens, die die postulierte Gleichheit und Freiheit i n Frage stellen. Die verkürzte Sicht des liberalen Strafrechts fordert geradezu eine Gegenbewegung heraus, die sich die empirische Erforschung der Verbrechensursachen zur Aufgabe macht und nach den konkreten persönlichen Bedingungen fragt, die zur Begehung des Verbrechens beitragen. Die Forderung nach einer entsprechenden Ausdehnung des strafrechtswissenschaftlichen Arbeitsbereiches wurde von der modernen Schule vorgetragen, die i n diesem Punkt den naturwissenschaftlichen Optimismus des ausgehenden 19. Jahrhundert repräsentierte 72 . I h r weiterreichendes Ziel war es, die Strafe rational zum Nutzen der Allgemeinheit einzusetzen. Dem lag der Eindruck zugrunde, daß das liberale Straf recht „zwecklos" sei, daß es das Verbrechen nicht wirksam bekämpfe. Das Strafrecht sollte m i t der Aufgabe betraut werden, die vom Täter ausgehende Gefahr für die Gesellschaft zu beseitigen oder einzudämmen. Dabei wurde die Vorstellung von der Gefahr zunehmend verallgemeinert; d. h. sie löste sich vom Gesetz. Wenngleich der Gesellschaftsschutz letzten Endes dem einzelnen wieder zugute kommen sollte, so war damit doch eine entscheidende Gewichtsverlagerung gegenüber dem liberalen Strafrecht vorgenommen worden. Die erste Rangstelle wurde einem überindividuellen Kollekt i v u m zuerkannt. Der Ruf nach größerer Effektivität des Strafrechts war mit der Bereitschaft verbunden, dem Staat eine Erweiterung seines Machtbereichs zuungunsten der individuellen Freiheit zuzugestehen. Dieser illiberale Denkansatz schlug i n der modernen Schule jedoch nicht i n einen offenen Antiliberalismus um, weil die zu schützende 72 v g l . Welzel, Naturalismus u n d Wertphilosophie, S.22ff.; Strafrechtspfìege, S. 356 f.
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Gesellschaft als ein nur loser Verbund von Individuen angesehen wurde, i n dem dem einzelnen eine gewisse Selbständigkeit erhalten bleiben sollte. Daher suchte von Liszt seine illiberale Kriminalpolitik zu begrenzen, indem er i m übrigen, d. h. aber: mit einer gewissen Inkonsequenz, am liberalen Strafrecht festhielt 73 . I n der Frage des grundlegenden Zwecks des Strafrecht s bestand eine prinzipielle Übereinstimmung zwischen der modernen Schule und der antiliberalen Richtung. Auch diese bemängelte am liberalen Strafrecht, daß es sich den Belangen der Gesamtheit versage. Die K r i t i k der antiliberalen Richtung galt jedoch nicht primär der mangelnden Effektivität des liberalen Straf rechts, sondern dem „Eindruck der Schwäche", den es hervorrufe 7 4 . Die Gefährdung des liberalen Straf rechts ging hier nicht von einer berechnend — klugen Kriminalpolitik aus, die zur Erreichung des kriminalpolitischen Optimums zwar die Grenzen des liberalen Strafrechts überschreitet, wegen ihres rationalen Grundzuges aber nicht unbedingt zur Unmäßigkeit tendiert; Antriebsfeder war das irrationale Verlangen, das Strafrecht müsse die Überlegenheit des Staates gegenüber dem einzelnen machtvoll demonstrieren. Dem Staat wurde damit ausdrücklich ein Eigenwert zugesprochen. Eine noch schärfere Wendung gegen das liberale Strafrecht nahm dieses Denken, indem es den Staat als Ausdruck der Volksgemeinschaft interpretierte. Die Überspitzung des Gemeinschaftsgedankens beraubte das liberale Straf recht jeder Existenzmöglichkeit. Eine Freiheit vom Staat wurde negiert; der rechtlichen, formalen Gleichheit wurde die Grundlage entzogen durch die Auflösung der Strafbarkeitsgrenzen und durch die Orientierung an der „konkreten Ordnung". c) Das starre System, die abstrakte Begriffsbildung Mittel zum Ausschluß bestimmter Fragestellungen sind i m liberalen Strafrecht die weitgehende Schematisierung durch ein starres System und die Verwendung abstrakter Begriffe. Das liberale Strafrecht nähert sich bei der begrifflichen Bearbeitung dem Einzelfall nur soweit, als die formale Gleichheit dabei gewahrt bleibt. Unzulänglichkeiten bei der Erfassung des Rechtsstoffs, Vergröberungen, aber auch übertriebene Unterscheidungen treten zwangsläufig auf. Man könnte fast von einer naturnotwendigen Gegenbewegung sprechen, die bei der Diskrepanz zwischen den allgemeinen Begriffen und den Besonderheiten des einzelnen Falles ansetzt. Gefahr droht 73 „Das Strafrecht ist die unübersteigbare Schranke der K r i m i n a l p o l i t i k " (Aufsätze u n d Vorträge Bd. 2, S. 80). Vgl. auch oben 4. Kap. I V . 74 Dahm, MSchrKrimPsych 1933, S. 175.
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dem liberalen Strafrecht dort, wo diese Erscheinungen nicht als Konsequenz der politischen Basis erkannt, sondern als rein wissenschaftliche Mängel behandelt werden. Die Beseitigung von „Unstimmigkeiten" i m System des liberalen Strafrechts kann so zu seiner Aufweichung führen, ohne daß die Tragweite dieses Vorgangs gewürdigt wird. Die Bemühungen u m eine Korrektur und Verfeinerung des strafrechtlichen Systems i n den zwanziger Jahren i m Zeichen des Neukantianismus gingen von einer derartigen unpolitischen Basis aus 75 . Richtiger schätzte die antiliberale Strafrechtswissenschaft die Systematik und Begriffsbildung des liberalen Strafrechts als eine sekundäre Erscheinung ein. Wenngleich i n diesem Bereich heftige Angriffe vorgetragen wurden, so wurde hier aber nicht der entscheidende Stoß gegen das liberale Strafrecht geführt. Den Hebel setzten die Antiliberalen i n den politischen Grundsatzfragen an. Die Auflösung des Verbrechenssystems und die Beseitigung abstrakter Begriffe waren bereits der zweite Schritt. Er setzte die Entscheidung für den totalen Staat i n die strafrechtliche Dogmatik um. Das geschah i n der Weise, daß der Kampf gegen die Abstraktion mit Mitteln geführt wurde, die selbst einer abstrakten Begrifflichkeit entstammten. Die Forderung nach einer konkreten Betrachtungsweise mündete nicht i n intensive Bemühungen u m eine präzise Erfassung des Rechtsstoffs. M i t der Beseitigung des Geltungsanspruchs allgemeiner Begriffe war das Ziel bereits erreicht, ein flexibleres Strafrecht zu schaffen, das rascher und effektiver die kriminalpolitischen Konsequenzen aus den leitenden politischen Gesichtspunkten ziehen kann. Unter diesem Aspekt erscheint selbst die Frage, inwieweit technische Gründe die Verwendung abstrakter Begriffe erforderlich machen, nicht weiter diskussionswürdig. d) Das begrenzte Betätigungsfeld
des liberalen Strafrechts
Die historische Entwicklung zum liberalen Strafrecht war i m wesentlichen gleichbedeutend m i t der Entwicklung und dem Ausbau des A l l gemeinen Teils, wie von den Gegnern des liberalen Straf rechts i n den zwanziger und dreißiger Jahren zu Recht herausgestellt wurde 7 6 . Der Schwerpunkt liberaler Strafrechtslehre lag eindeutig auf der Verarbeitung des Rechtstoffs durch allgemeine Begriffe und deren systematische Einordnung. Notwendigerweise trat dadurch eine Verengung des Blickfeldes ein. Auch darauf haben die Gegner des Liberalismus i n der Zeit 75 Vgl. oben 6. Kap. I. 1. 76 v g l . Schaff stein, DStR 1935, S. 97; Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, S. 63. 18 Marxen
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vor dem 2. Weltkrieg hingewiesen 77 . Die Arbeit am Allgemeinen Teil basierte auf einem verengten B i l d von der Kriminalität, das sich auf einen Kreis einiger einfach strukturierter Delikte erstreckte, zu denen vor allem die Vermögensdelikte und die vorsätzliche Tötung zu zählen sind. Die vom Grundbestand kriminellen Unrechts weiter entfernt liegenden Delikte blieben außer Betracht. Man kann wohl allgemein formulieren: Spezielle Fragen des Besonderen Teils hatten in der liberalen Strafrechtslehre nur eine untergeordnete Bedeutung. Wenig Aufmerksamkeit zog auch das Nebenstrafrecht auf sich. Noch geringere Beachtung fand der Bereich des Verwaltungsrechts und die Frage seines Verhältnisses zum Strafrecht. Neben den Gründen, die m i t der Zielrichtung des liberalen Strafrechts zusammenhängen, dürften auch äußere Bedingungen maßgebenden Einfluß auf diese Entwicklung genommen haben. Die Anfänge liberalen Strafrechts datierten auf einen Zeitpunkt zurück, i n dem die Technik der Strafgesetzgebung zu relativ klar umrissenen und inhaltlich eindeutig bestimmten Tatbeständen führte. Die Tatbestände des Besonderen Teils bildeten einen geschlossenen, i m Vergleich zu späteren Zeiten engen Kreis. Die Ausuferung des für strafbar erklärten Unrechts erfolgte erst sehr viel später durch allgemeinere und abstraktere Gesetze und durch die Schaffung neuer Tatbestände, insbesondere i m Nebenstrafrecht 78 . Auf dieser Grundlage entwickelte sich ein Vertrauen i n die Vernunft des Besonderen Teils und i n seine Verwendbarkeit für Zwecke des liberalen Straf rechts. Dieses Vertrauen fußte auch auf den relativ stabilen politischen Verhältnissen i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die einen grundlegenden Wandel i n der Gesetzgebungspolitik nicht befürchten ließen. I n dieser Phase verschmolz der weitaus überwiegende Teil der politischen liberalen Bewegung m i t dem Nationalismus 79 . Die Verbindung verringerte i n erheblichem Maße die kritische Distanz des Liberalismus zum Staat. Die traditionelle Höherbewertung der Individualinteressen vor den Staatsinteressen wich zunehmend der Bereitschaft, der Autorität des Staates einen Eigenwert zuzuerkennen. Infolgedessen zeigte sich das liberale Strafrecht i n der Zeit nach dem 1. Weltkrieg i n keiner Weise gerüstet für eine kritische Uberprüfung der m i t Macht einsetzenden Ausuferungstendenz i m Besonderen Teil, i m Nebenstrafrecht und insbesondere i n den Notverordnungen. Dieser 77 v g l . Schaff stein, DStR 1935, S. 103; ders., Das Verbrechen als Pflichtverletzung, S. 113; ferner H.Mayer, Strafrecht, S. 184f. 78 Vgl. Naucke, RuS H. 417, S. 11 A n m . 14. 79 Vgl. Zundel, Die Erben des Liberalismus, S. 25 ff.; Molt, Der politische Liberalismus i n Deutschland, S. 412 ff.
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illiberale Vorgang vollzog sich durch eine enorme Vermehrung von Strafvorschriften und durch eine unbedenkliche Verwendung von Generalklauseln 80 . Höhepunkt dieser Entwicklung war das Strafrecht der Notverordnungen, das i n extremer Weise die Gesetzgebungstechnik des allgemeinen und unbestimmten Gesetzes verkörperte. Auf eine Gefährdung von dieser Seite war die liberale Strafrechtslehre nicht eingerichtet. Die Illiberalisierung des Strafrechts rückte nicht i n das Bewußtsein liberaler Strafrechtler. Das Vertrauen i n die Vernunft des Gesetzgebers erwies sich als blind 8 1 . Bezeichnend ist, daß die Verschärfungstendenzen i m Strafrecht erst i n der Zeit des A n t i liberalismus zur Sprache kamen, und zwar als ein Argument, m i t dem sich die Vertreter der Reformbewegung gegen den Vorwurf von antiliberaler Seite verteidigten, i m Zuge der Reformbestrebungen sei eine Liberalisierung des Strafrechts eingetreten 82 . Die liberale Strafrechtslehre wäre auch nicht i n der Lage gewesen, der Illiberalisierung wirksam zu begegnen; denn sie hatte es versäumt, die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Frage zu lenken, wie ein Gesetz beschaffen sein muß, damit es liberalen Bestimmungsanforderungen genügt. Die illiberale Aushöhlung des Strafrechts setzte sich i m Antiliberalismus des Dritten Reichs fort, ohne daß zwischen diesen Phasen ein prinzipieller Unterschied bestand. Der Antiliberalismus ging eben nur offener und brutaler vor und sorgte i n einem erheblich größeren Umfang für die Beseitigung liberalen Strafrechts. Die von der antiliberalen Strafrechtswissenschaft propagierte Hinwendung zu den Besonderheiten des einzelnen Delikts ließ i m Ergebnis den Abstand zu den gesetzlichen Straftatbeständen noch größer werden. Der antiliberalen Strafrechtswissenschaft war es nicht um eine präzisere begriffliche Erfassung des jeweiligen gesetzlichen Tatbestandes zu tun. Sie bekämpfte m i t Entschiedenheit die Auffassung, daß der gesetzliche Straftatbestand eine feste Grenze bilde. Die noch verbliebene Bindungsw i r k u n g des Allgemeinen Teils wurde weitgehend beseitigt. Die Beschäftigung m i t den Tatbeständen des Besonderen Teils beschränkte sich auf den Appell, durch eine wesenhafte und konkrete Betrachtungs-
80 v g l . H. Mayer, Straf recht des Deutschen Volkes, S. 112; Naucke, RuS H. 417, S. 11, u n d oben 4. Kap. I I . 3. b) sowie 5. Kap. I I I . 81 Als Ausnahmeerscheinung muß die Entschließung der Deutschen Strafrechtlichen Gesellschaft v o m 16.10.1931 (GS 101, S. 128) gelten, die auf illiberale Tendenzen i n der Strafgesetzgebung aufmerksam machte. Sie blieb ohne gebührendes Echo (vgl. Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses, S. 206). β2 Vgl. oben 4. Kap. I I . 3. b). 18*
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weise die besonderen Aspekte des jeweiligen Tatbestandes zur Geltung zu bringen. Das Spiegelbild dieses theoretischen Konzepts bietet die von der Gesetzgebung i m Dritten Reich vorgenommene Ausdehnung des Bereichs des Strafbaren und die Auflösung seiner Grenzen durch die Schaffung einer Unmenge neuer Tatbestände und die Verwendung von Generalklauseln i n weitestem Umfang 8 3 . Ohne jede Bedeutung war die Diskussion über das liberale Strafrecht für die nationalsozialistische Polizeipraxis. I m Bereich des Polizeirechts war es nicht erforderlich, Kautelen eines liberalen Strafrechts zu beseitigen oder zu unterlaufen. Der Wert des liberalen Strafrechts hängt somit i n entscheidendem Maße davon, ob es i h m gelingt, die selbstgesteckten Grenzen zu überwinden und auf dem Gebiet des gesamten Strafrechts der Rolle eines kritischen Beobachters gerecht zu werden.
83 Vgl. Peters, Die Umgestaltung des Strafgesetzes 1933-1945; RuS H. 417, S. 9 f.
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