Der junge Horkheimer: Ein Essay zum 50. Todestag des Begründers der Frankfurter Schule 9783495996836, 9783495996829


131 50 1MB

German Pages [182] Year 2023

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg und allererste literarische Versuche (Novellen und Tagebuchblätter, 1914–1918)
II. Der junge Horkheimer als Marxist. Einige analytische Betrachtungen zur «Dämmerung»
III. Das Institut für Sozialforschung an der Columbia-Universität von New York
IV. Kritik der bürgerlichen Geschichtsphilosophie und der psychologischen Geschichtsauffassung Machiavellis
V. Abschied von der Utopie?
VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie
VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)
VIII. Nachtrag
IX. Der Autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil
X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus
XI. Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942)
XII. Schlussbemerkung
XIII. Bibliografische Hinweise
XIV. Über den Autor
XV. Publikationsliste des Autors (Auswahl)
Recommend Papers

Der junge Horkheimer: Ein Essay zum 50. Todestag des Begründers der Frankfurter Schule
 9783495996836, 9783495996829

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Arno Münster

Der junge Horkheimer

Ein Essay zum 50. Todestag des Begründers der Frankfurter Schule

https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Arno Münster

Der junge Horkheimer Ein Essay zum 50. Todestag des Begründers der Frankfurter Schule

https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Diese Publikation wurde gefördert durch die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

© Titelbild: Archivzentrum der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main. Einheit Na 1, Nachlass Max Horkheimer, 1293.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99682-9 (Print) ISBN 978-3-495-99683-6 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Vorwort

Der hier veröffentlichte Essay, diese Studien zum Werk Max Horkhei­ mers, bezwecken nicht nur, neue Einblicke in das geradezu gigantische sozialphilosophische Werk des großen Frankfurter Philosophen und Soziologen zu ermöglichen, sondern sie bezwecken vor allem die konkrete Analyse und Freilegung der Kernstruktur dieses Denkens der neuen «kritischen Theorie» der Gesellschaft, deren größter und originellster Architekt – neben Adorno und Marcuse – Horkheimer unbestritten war. Er ergänzt eine ganze Reihe von Vorstudien und Veröffentlich­ ungen des Autors zur Geschichte der «Frankfurter Schule» und ihrer größten Repräsentanten, die u. a. ihren Niederschlag in dessen Wer­ ken über Adorno1, Horkheimer2, Habermas3 und Marcuse4 fand, die in den beiden letzten Dezennien in verschiedenen Verlagen in Frank­ reich veröffentlicht wurden und die von der Absicht geleitet waren, den Studenten der Philosophie und der Soziologie, mit denen ich es zu tun hatte, einen Eindruck von dem zu vermitteln, was die «Frank­ furter Schule» wirklich war, welche politische Funktion sie hatte und in welchem theoretischen und geschichtlichen Um- und Spannungs­ feld sie entstanden ist. Diese Arbeiten entstanden im Rahmen einer übergeifenden theoretisch-philosophischen Reflexion über die Geschichte der menschlichen Emanzipation im Okzident und ihre theoretisch-praktischen philosophischen Grundlagen von der Auf­ klärung bis zu dem neueren Formen des Emanzipationsdenkens im Neo-Marxismus des 20. Jahrunderts. Cf. Arno Münster, Adorno – une introduction. «Il n'y a pas de vraie vie dans la vie fausse», Ed. Hermann, Paris, 2009. 2 Cf. Arno Münster, Max Horkheimer entre Marx, Freud et Schopenhauer. Essai sur la philosophie sociale du fondateur de l'Ecole de Francfort, Ed. Le Retrait, Orange, 2021. 3 Cf. Arno Münster, Habermas et le tournant langagier et communicationnel de la «Théorie critique», Kimé, Paris, 1998; ders., Habermas, l'Européen cosmopolite et historien de la pensée post-métaphysique, L'Harmattan, Paris, 2021. 4 Cf. Arno Münster, Herbert Marcuse et le «Grand refus». Vers une société non-répres­ sive?,L'Harmattan, coll. «Ouverture philosophique: Bibliothèque», Paris, 2022. 1

5 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Vorwort

Nun machte jedoch die vor allem durch didaktische Kriterien bestimmte prinzipielle Begrenztheit dieses Unterfangens unbedingt eine ganze Reihe von Ergänzungen und Vertiefungen nötig, die mich u. a. dazu gebracht haben, in diesem neuen in meiner Muttersprache verfassten Essay gerade den frühen theoretischen Schriften Horkhei­ mers aus den 1920er und 1930er Jahren ein besonderes Augenmerk zu schenken, nicht nur den Jugendschriften Aus der Pubertät, Novellen und Tagebuchblättern (1914–1918), sondern insbesondere auch dem Buch Dämmerung, jenem noch in Aphorismen nietzscheanischer Art verfassten Erstlingswerk des Philosophen, das, 1926 begonnen, erst 1934 im Schweizer Exil des Autors veröffentlicht wurde und dessen Originalität darin bestand, in soziologisch-literarischen «Mikrolo­ gien» – im Lichte eines durchaus heterodoxen, aber immer noch rela­ tiv klassenbewussten Marxismus (Michael Löwy) – die großen sozia­ len Widersprüche und Ungerechtigkeiten der Welt des Kapitalismus gewissermaßen wie aus einem Rückspiegel aus der Sicht der Opfer, der «Erniedrigten und Beleidigten» in der Welt des bürgerlichen All­ tags zu belichten, einzufangen, anzuklagen und widerzuspiegeln, ohne jedoch die vage Hoffnung ganz zu verlieren, dass eine Verände­ rung dieser Verhältnisse zum Besseren durchaus noch möglich wäre, wenn nur die «subjektiven Bedingungen» (Voraussetzungen) dafür gegeben wären ... Vornehmlich war diese unsere rekonstruktive «genetische» Ana­ lyse des Entstehungsprozesses dieser Sozialphilosophie der «Frank­ furter Schule» bestrebt, die Wurzeln von Horkheimers Sozialkritik und seinem Materialismus in den Texten der Periode des Frühwerks von 1914 bis 1940 freizulegen und aufzuzeigen, wie sich schon sehr früh bei dem jungen jüdischen Philosophen die Tendenz herausbil­ dete, Marxens Theorie der sozialen Emanzipation, d. h. die Theorie der Befreiung der arbeitenden Menschen von den Fesseln des kapitalisti­ schen Produktionsmodus, der Unterdrückung des Proletariats und der kapitalistischen Verdinglichung, in einer neuen Perspektive – unter Berücksichtigung der spezifischen Bedingungen des Übergangs der bürgerlichen Gesellschaft vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalis­ mus und von dort zum staatsmonopolistischen Faschismus – neu zu formulieren, und zwar als kritische Sozialphilosophie, entstanden aus der Fusion der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie mit der modernen zeitgenössischen Sozialpsychologie und mit wesentlichen Begriffen der Freud’schen Psychoanalyse. Es steht außer Zweifel, dass es vor allem Horkheimer war, der mit seinen diesbezüglichen Essays

6 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Vorwort

aus den 1930er Jahren (Cf. Kritische und traditionelle Theorie (1937)) den Grundstein zu diesem «Freudo-Marxismus» gelegt hat, was sodann sehr wohlwollend sowohl von Adorno wie auch von Marcuse und von Wilhelm Reich, der die Psychoanalyse ganz und gar in den Dienst der gesellschaftlichen Transformation stellen wollte, aufge­ nommen wurde, und der in den Jahren des amerikanischen Exils dann auch sogleich zu einer gewissen «Kanonisierung» der kritischen Theo­ rie der Frankfurter Schule geführt hat. In diesem Zusammenhang schien es uns auch unerlässlich, auf eine Reihe von theoretischen Affinitäten zwischen Max Horkheimer und Ernst Bloch zu verweisen, die nicht nur in dem gemeinsamen großen Interesse beider Philoso­ phen an den Forschungen über den Materialismus bestanden, sondern auch bezüglich der sich in vielen Punkten sehr ähnelnden Reflexionen über das Judentum, im Kontext der von den Nationalsozialisten aus­ gelösten großen Judenverfolgung der 1930er und 1940er Jahre. Wie wir versucht haben aufzuweisen, kennzeichnet die Perspektive beider Philosophen das Bewusstsein von der Tragik und Einmaligkeit der jüdischen Existenz in ihrer Singularität und von der Notwendigkeit des Widerstands gegen den Antisemitismus und den Nationalsozia­ lismus. Sie stimmen total überein in der Ansicht, dass die «neue faschistische Ordnung [in Deutschland] die Vernunft ist, in der Ver­ nunft selber als Unvernunft sich enthüllt.»5 140 Jahre nach der offiziellen «Emanzipation der Juden» durch die Französische Revolution, im Kontext eines in der Gesellschaft in fast allen Schichten stets immer noch latent vorhandenen, immer virulenter werdenden, agressiven, von den Nazis geschürten exter­ minatorischen Antisemitismus, so könnte man sagen, reflektieren die diesbezüglichen Aphorismen Horkheimers den «neu erwachten Stolz, jüdisch zu sein», von dem Ernst Bloch bereits in seinem Aufsatz Symbol – die Juden6 aus dem Jahre 1913 spricht, auch wenn Horkheimer darauf verzichtet, Bloch in seinem Antisemitismus-For­ schungsprojekt aus dem Jahre 1941 oder in den Notizen II (1949–1969) (1974), diesen Aufsatz Blochs aus der ersten Auflage des Geistes der Utopie von 1918 direkt zu zitieren. Ein Grund dafür könnten 5 Max Horkheimer, «Vernunft und Selbsterhaltung» (1942), in: Gesammelte Schriften Band 5, Dialektik der Aufklärung und Schriften (1940 – 1950), Fischer-TaschenbuchVerlag, Frankfurt a.M. 1987, S. 348. 6 Cf. Ernst Bloch, Geist der Utopie (Erste Fassung 1918), Gesamtausgabe (GA) Bd. 15, Suhrkamp, Frankfurt, 1970.

7 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Vorwort

höchstwahrscheinlich wohl die Differenzen und persönlichen Kon­ flikte zwischen Ernst Bloch und Adorno (indirekt also auch mit Horkheimer als dem Leiter des Instituts für Sozialforschung im Exil in New York) gewesen sein, die im Herbst/Winter des Jahres 1942 ausgebrochen waren als Reaktion auf die Veröffentlichung eines von Adorno initiierten Spendenaufrufs für Ernst Bloch in der New Yorker Exilzeitung Aufbau, gegen den Bloch sehr energisch protestiert hatte. Auch als Protest gegen den Umstand, dass das IfS Bloch jegliche finan­ zielle Unterstützung seiner Forschungen und Arbeiten am Prinzip Hoffnung verweigert hatte. Daran war – leider – nicht nur Blochs Freundschaft mit Adorno, sondern wohl auch die mit Horkheimer zerbrochen, der allerdings in den Jahren 1936–1938 noch einen höchst interessanten freundschaftlichen Briefwechsel7 mit Ernst Bloch hatte, in dem Horkheimer, aber auch Marcuse sein großes Interesse an Blochs Forschungen über den Materialismus bekundet hatte. Einig waren sich Horkheimer und Bloch jedoch absolut bei der Verteidigung der jüdischen Identität gegen die systematische Diskriminierung und Verfolgung der Juden im «Dritten Reich», in ihrer scharfen Kritik der antisemitischen Lügenpropaganda der Nazis sowie in ihrer Soli­ darität mit dem 1948 gegründeten Staat Israel, der während des Sechs-Tage-Kriegs vom Juni 1967 einen feierlichen Appell an alle Juden in der Diaspora gerichtet hatte, Israel im Kampf gegen die militärische Bedrohung durch die arabischen Staaten zu Hilfe zu kommen.8 Uneinig hingegen waren sich Bloch und Horkheimer in der Einschätzung der Psychoanalyse, die Ernst Bloch wesentlich kritischer sah, bezüglich des Horkheimerschen Projekts der Notwendigkeit einer Erweiterung der marxistischen Kritik der politischen Ökonomie durch die Sozialpsychologie, die letztendlich zum Fundament des Freudo-Marxismus der Frankfurter Schule wurde, und auch bezüglich der Einschätzung der Philosophie Schopenhauers, den Horkheimer schon sehr früh schätzen gelernt hatte und dessen Gewicht auch in Horkheimers Spätwerk9 immer größer geworden war, wohingegen 7 Cf. Ernst Bloch, Briefe (1903–1975), hsg. von Karola Bloch et alii, Band 2, Suhr­ kamp, Frankfurt a.M., 1985, S. 669 ff. 8 Cf. Ernst Bloch, «Zum Pulverfass im Nahen Osten» (Ansprache bei der deutschisraelischen Kundgebung, Frankfurt/Main, 27.6.1967),in: E.B., Politische Messungen Pestzeit, Vormärz, Gesamtausgabe Band 11, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1970, S. 419– 424. 9 Cf. Max Horkheimer, «Zur Aktualität Schopenhauers», in: Archiv für Philosophie 11, Frankfurt 1962.

8 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Vorwort

Bloch dessen pessimistischer Philosophie sehr skeptisch begegnete, war diese doch so etwas wie ein philosophischer Gegenpol zu sei­ nem Prinzip Hoffnung. Intellektuelle Verbündete waren Horkheimer und Ernst Bloch jedoch seit den dreißiger Jahren im Kontext der sich ankündigenden Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland, im Kampf gegen den Faschismus, den Rassismus und den Antisemitismus in allen seinen Ausdrucksformen. Unüberhörbar in diesem Zusammenhang ist zum Beispiel dies­ bezüglich die Verbitterung Horkheimers in seinem in den ersten Septembertagen des Jahres 1939 abgeschlossenen Aufsatz Die Juden und Europa, dessen Niederschrift zeitlich zusammengefallen war mit dem barbarischen Überfall Hitlers auf Polen, der den 2. Weltkrieg eröffnete und in dem Horkheimer angesichts der Niederlage der fortschrittlichen Kräfte vor dem Faschismus sich gezwungen sah, des­ illusioniert festzustellen: «Der Optimismus des politischen Aufrufs entspringt heute der Mutlosigkeit. Daß die fortschrittlichen Kräfte erlegen sind und der Faschismus endlos dauern kann, verschlägt den Intellektuellen den Gedanken. Sie meinen, daß alles, was funktioniert, auch gut sein müsse, und beweisen deshalb, daß der Faschismus nicht funktionieren könne. Aber es gibt Perioden, in denen das Bestehende in seiner Kraft und Tüchtigkeit das Schlechte geworden ist. Die Juden sind einmal stolz gewesen auf den abstrakten Monotheismus, die Ablehnung des Bilderglaubens, die Weigerung, ein Endliches zum Unendlichen zu machen. Ihre Not heute verweist sie darauf zurück. Die Respektlosigkeit vor einem Seienden, das sich zum Gott aufspreizt, ist die Religion derer, die im Europa der Eisernen Ferse nicht davon lassen, ihr Leben an die Vorbereitung eines besseren zu wenden.»10 Der Kampf des frühen Horkheimer für eine bessere, gerechtere und vernünftigere Gesellschaft ohne Ausbeutung, Repression und Unterdrückung war der Kampf gegen den kommenen Faschismus, den der junge jüdische Intellektuelle mit großer Konsequenz in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter der Flagge der Kritischen Theorie der Gesellschaft an der Seite von Adorno, Erich Fromm und Herbert Marcuse geführt hat. So wurde die Kritische Theorie in den letzten Jahren der Weimarer Republik in Deutschland wie dann auch in den folgenden Jahren des US-amerikanischen Exils Max Horkheimer, «Die Juden und Europa»,in: Gesammelte Werke, Band 4: Schrif­ ten 193 –1941, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 1988, S. 331.

10

9 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Vorwort

(1933–1949) zu einem der wichtigsten theoretischen Wegweiser im weltweiten antifaschistischen Kampf gegen Franco, Mussolini, Hitler und Stalin sowie gegen alle autoritären Regime und Diktatu­ ren, die im Namen eines verblendeten Nationalismus die Menschen­ rechte mit Füßen traten und eine totalitäre Herrschaft errichteten. Ebenso kritisch ging sie auch auf Distanz zum bürokratisch entarteten totalitären Sozialismus/Kommunismus in Osteuropa, wo unter der Vorherrschaft von Stalin im Namen des Marxismus-Leninismus und der «Diktatur des Proletariats» eine Diktatur der Apparatschiks herrschte, die die bürgerlichen Freiheiten liquidierte und jede Form von Opposition autoritär erstickte. Die enge Verknüpfung der im Monopolkapitalismus bereits entstandenen autoritär-hierarchischen Strukturen in Wirtschaft, Gesellschaft und Familie mit den Struk­ turen des kommenden totalitären Staates11 in der Hitler-Diktatur aufgezeigt zu haben, ist zweifelsohne eines der größten Verdienste der Frankfurter Schule und der von Horkheimer in Gang gesetzten Bewegung der Kritischen Theorie der Gesellschaft. Horkheimer ver­ einte in seiner Person – und dies ist seine unumstrittene Größe – die analytische Schärfe des großen Intellektuellen mit einer unglaub­ lichen philosophischen Gelehrsamkeit und mit einer außerordentli­ chen intellektuellen Produktivität, die ihn gleichzeitig auch in den äußerst schweren Zeiten seines Lebens und seiner Tätigkeiten zu einem großen Zeitzeugen machte, dem niemand etwas vormachen konnte. Selten haben sich im Werke eines Akademikers in dieser hervorragenden Form äußerste Gründlichkeit bei der wissenschaft­ lich-philosophischen Forschung, moralisch-politisches Engagement für die Unterdrückten, Erniedrigten und Beleidigten und desillusio­ nisierender Durchblick auf die gesellschaftlichen Widersprüche und Ungerechtigkeiten gekreuzt und vereinigt. In Horkheimers Werk und Denken können insgesamt vier ver­ schiedene Phasen unterschieden werden: (1) eine vorkritische Phase (1922–1926); (2) die Frühzeit der Kritischen Theorie der Gesellschaft (1927–1933) mit ihrer «heterodox marxistischen» Orientierung; (3) die Jahre der Emigration in den USA (identisch mit der Phase der Entstehung der Klassiker der Kritischen Theorie); und (4) die Phase von Horkheimers Spätphilosophie (1950–1973), gekennzeichnet durch die enge Zusammenarbeit mit Adorno und die Fokussierung 11 Cf. Max Horkheimer, «Der autoritäre Staat» (1942), in: Gesammelte Schriften, Band V, Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt a.M., S. 293–319.

10 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Vorwort

der Kritischen Theorie auf die Phänomene der Verdinglichung des Bewusstseins in der «verwalteten», voll technisierten und automati­ sierten Gesellschaft und der Verteidigung der Autonomie und Freiheit des Individuums gegen alle Formen des Totalitarismus). In dieser Phase vollzieht sich auch die erneute und entscheidende Hinwendung Horkheimers zu Arthur Schopenhauer. Wenn die vorliegende Studie ihre Analysen vor allem auf die hier genannte zweite und die dritte Phase im theoretischen Schaffen Horkheimers konzentriert, so des­ wegen, weil sie sich von Anfang an zum Ziel gesetzt hatte, die Über­ gänge, d. h. die Evolution und Progression eines materialistischen Denkens vom «heterodoxen» undogmatischen Marxismus des Früh­ werks zu einer «offenen» kritischen materialistischen Sozialphiloso­ phie aufzuzeigen, die von dem festen Willen geleitet war, jenseits aller Dogmatisierungen der Marx’schen Lehre, die Kritik der politischen Ökonomie und die Marx’sche Vision der sozialen Emanzipation mit den Erkenntnissen der Freud’schen Psychoanalyse und der zeitgenös­ sischen Sozialpsychologie zu verbinden. Typisch für diese Denkhal­ tung ist, dass Horkheimer – im Gegensatz zu den Repräsentanten des Idealismus und des Positivismus – nachdrücklich die gesellschaftliche Funktion der Philosophie unterstreicht: «Der Widerstand der Philo­ sophie gegen die Realität rührt aus ihren immanenten Prinzipien her. Philosophie insistiert darauf, daß die Handlungen und Ziele der Men­ schen nicht das Produkt blinder Notwendigkeit sein müssen. Weder wissenschaftliche Begriffe noch die Form des gesellschaftlichen Lebens, weder die herrschende Denkweise noch herrschende Sitten sollten gewohnheitsmäßig übernommen und unkritisch praktiziert werden. Der Impuls der Philosophie richtet sich gegen bloße Tradition und Resignation in den entscheidenden Fragen der Existenz; sie hat die undankbare Aufgabe übernommen, das Licht des Bewusstseins selbst auf jene menschlichen Beziehungen und Reaktionsweisen fal­ len zu lassen, die so tief eingewurzelt sind, daß sie natürlich, unver­ änderlich und ewig erscheinen.»12 In Replik auf Paul Valérys pessimistische Auffassung vom wis­ senschaftlichen Fortschritt gibt Horkheimer zu bedenken, dass es zwar zutrifft, «daß weder die Leistungen der Wissenschaft an sich noch die Verbesserung der industriellen Methoden unmittelbar iden­ 12 Max Horkheimer, «Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie», in: Gesam­ melte Schriften, Band 4: Schriften 1936 – 1941, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 1988, S. 336–337.

11 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Vorwort

tisch mit dem wirklichen Fortschritt der Menschheit sind. Es ist offen­ kundig, daß die Menschen, ungeachtet des Fortschritts von Wissen­ schaft und Industrie, materiell, emotionell und geistig verarmen können. Wissenschaft und Technik sind nur Elemente einer beste­ henden gesellschaftlichen Totalität, und es ist gut möglich, daß, trotz all ihrer Leistungen, andere Faktoren, sogar die Totalität selbst, sich zurückentwickeln; daß die Menschen in steigendem Maß verküm­ mern und unglücklich werden; daß das Individuum als solches aus­ gelöscht wird und die Nationen dem Unheil zusteuern. (...) Der Ratio­ nalismus kann mit einem allgemeinen Irrationalismus ohne weiteres einhergehen.»13 Mit anderen Worten: «Die wahre gesellschaftliche Funktion der Philosophie liegt in der Kritik des Bestehenden. Das bedeutet keine oberflächliche Nörgelei über einzelne Ideen oder Zustände (…). Es bedeutet auch nicht, daß der Philosoph diesen oder jenen isoliert genommenen Zustand beklagt und Abhilfen empfiehlt. Das Hauptziel einer derartigen Kritik ist es, zu verhindern, daß die Menschen sich an jene Ideen und Verhaltensweisen verlieren, welche die Gesellschaft in ihrer jetzigen Organisation ihnen eingibt. (...) Phi­ losophie enthüllt den Widerspruch, in den sie sich insofern verstri­ cken, als sie im Alltag genötigt sind, sich an isolierte Ideen und Begriffe zu halten.»14 Die Funktion und Aufgabe der Kritischen Theo­ rie ist folglich, die Irrationalität der in der bestehenden Gesellschafts­ ordung vorherrschenden Rationalität aufzuzeigen und vernünftigere Alternativen zu ihr zu denken und zu entwerfen, d. h. die Alternative einer gerechteren Gesellschaft ohne Entfremdung, Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung. Anders ausgedrückt: «Wir müssen dafür kämpfen, daß die Menschheit durch die grauenhaften Ereignisse der Gegenwart nicht gänzlich entmutigt wird, daß der Glaube an eine menschenwürdige, friedliche und glückliche Zukunft der Gesellschaft nicht von der Erde verschwindet.»15 Dass Max Horkheimer in der letzten Periode seines Lebens und Schaffens, d. h. nach seiner Rückkehr nach Europa und nach Deutsch­ land im Jahre 1949, sich zunehmend von dem politischen Engagement seiner frühen Periode distanzierte und dabei sogar soweit ging, die Neuauflage seiner frühen, bereits zu Klassikern gewordenen großen Essays über Autorität und Familie, Materialismus und Moral etc. 13 14 15

A. a. O., S. 338–339. Max Horkheimer, a. a. O., S. 344. A. a. O., S. 351.

12 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Vorwort

zunächst sogar zu verbieten, bevor er sich schließlich doch noch dazu bereit fand, sie ergänzt um ein neues Vorwort zu autorisieren16, mag verwundern; deswegen jedoch über den Begründer der Kritischen Theorie der Gesellschaft sogleich den Stab zu brechen oder ihn gar des Verrats bezichtigen zu wollen, erscheint uns unangemessen, eben weil dieses Zögern, weil diese spezifische Form der Resistenz Hork­ heimers gegen seine eigene intellektuelle Vergangenheit in gewisser Weise typisch ist für die Rigorosität, Aufrichtigkeit und Unbestech­ lichkeit dieses großen Denkers, der stets im Einklang mit den Ideen und Theorien leben wollte, die er verkündete und vertrat und der in der Tat nach dem Ende des 2. Weltkriegs und seiner Rückkehr nach Europa, angesichts des Aufstiegs der Sowjetunion unter Stalin zur atomaren Weltmacht und nach dem Sieg des totalitär-kommunisti­ schen Regimes unter Mao-Tse-Tung in China, nach 12 Jahren natio­ nalsozialistischer Diktatur in Deutschland, nach der Shoah und nach den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki, zu der Überzeugung gelangt war, dass die wichtigste Aufgabe des kritischen Intellektuellen in dieser Situation – nach der Katastrophe der Shoah – darin bestehe, die Freiheit und Autonomie des Individuums, der Individuen gegen die brutale, menschenverachtende Herrschaft des Totalitarismus in allen seinen Ausdrucksformen (Faschismus, Stalinismus...) zu vertei­ digen. Diese Überzeugung ist komplementär zu der zur gleichen Zeit geäußerten Ansicht von Adorno, dass, wer die Wiederholung von Auschwitz verhindern wolle, das System der Erziehung radikal ändern müsse.17 Was das Verhältnis Horkheimers zur Studentenre­ volte «komplizierte», war den einschlägigen Äußerungen Horkhei­ mers zufolge nicht etwa der anti-autoritäre Impuls der studentischen Protestaktionen gegen die «Ordinarienuniversität», den VietnamKrieg und den autoritären Staat, sondern ihr Verhältnis zur Gewalt. In diesem Punkt war Horkheimer kategorisch mit seiner Ablehnung von jeglicher Gewalt (auch in der Form von anti-systemischer Gegen­ gewalt), die er – im großen Unterschied zu Jean-Paul Sartre oder zu Herbert Marcuse – absolut nicht legitimieren wollte.18 Auch die Gegengewalt war für ihn ein autoritärer Akt, den er nicht billigen konnte. 16 Cf. Max Horkheimer, Brief an den S. Fischer-Verlag vom 3. Juni 1965, in: Gesam­ melte Schriften, Band 3, Frankfurt, 1988, S. 9–13. 17 Cf. Theodor W. Adorno, «Erziehung nach Auschwitz»,in: Kritische Modelle 2, Edi­ tion Suhrkamp 347, Frankfurt, 1969, S. 85–101. 18 Cf. Max Horkheimer, Brief an den S. Fischer-Verlag, a. a. O.,S. 12.

13 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Vorwort

Bedauerlich ist nur, dass es in diesem Zusammenhang nie mehr zu einer richtigen öffentlichen Diskussion Horkheimers mit den rebellierenden Studenten, die ihm theoretisch ja so viel verdankten, gekommen ist, und auch nicht mit Ernst Bloch, der – wie Sartre und Herbert Marcuse – eher Verständnis für diese Revolte der Stu­ denten hatte. Sein großes theoretisches intellektuelles Erbe, ohne das diese große Emanzipationsbewegung in den 1960er Jahren realiter niemals entstanden wäre, bleibt dennoch unauslöschbar präsent in der Geschichte dieser Revolte und nicht nur im Bewusstsein derjenigen, die sie damals getragen haben.19 Die hier vorliegende Studie zum Werk des «frühen» Horkhei­ mer verdankt ihre Entstehung vor allem der intensiven Lektüre der im Fischer-Taschenbuch-Verlag ab 1988 erschienenen von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr herausgegebenen Gesammelten Schriften Horkheimers in 19 Bänden, einer verlegerischen Großtat, die es in der Tat ermöglicht hat, dank der hervorragenden Textaus­ wahl und Kommentierung durch die Herausgeber das große «Gedan­ kenmassiv» des eigentlichen Begründers der Kritischen Theorie der Gesellschaft und der Frankfurter Schule in all seinen Facetten und Ent­ wicklungsstadien zu rekonstruieren, um den «roten Faden» aufzeigen zu können, der alle Teile dieses immensen sozialphilosophischen Werks, das inzwischen eine weltweite Verbreitung gefunden hat, miteinander verbindet. Leider konnte Max Horkheimer persönlich diesen späten Triumphzug seines Werks und seines kritischen Den­ kens nicht mehr erleben. Er war bereits im Juli 1973, vier Jahre nach dem Tode Theodor W. Adornos (1969), in Nürnberg verstorben, ohne dass seine Gesammelten Schriften erschienen waren. Er hatte die letzten 14 Jahre seines Lebens – nach seiner Übersiedlung nach Montagnola (bei Lugano/Tessin) im Jahre 1957 und nach seiner Emeritierung als Ordinarius an der Universität Frankfurt im Jahre 1962 – in großer «Einsamkeit und Freiheit» im Ruhestand in der Schweiz verbracht.20 Seine Gemahlin Maidon Riekher war bereits 1969 verstorben. Bis zuletzt hatte er in der Schweiz an dem Manu­ skript zu dem Buch Notizen (1949–1969)21 gearbeitet. 19 Cf. Arno Münster, Leben als Widerstand. Memoiren eines «Alt-Achtundsechzigers», Deutsche Literaturgesellschaft, Berlin, 2010. 20 Von 1954–1959 hatte Horkheimer zusätzlich noch sozialphilosophische Vorlesun­ gen als Gastprofessor an der Universität von Chicago gehalten. (A.M.). 21 Cf. Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band VI, Frankfurt,1974.

14 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Vorwort

Der Autor dankt insbesondere Herrn Dr. Matthias Jehn, dem Leiter des Max Horkheimer-Archivs an der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, und Herrn Oliver Kleppel für die Mithilfe und die großzügige Unterstützung seiner Forschungsarbeit durch das MHArchiv. Dank auch an Rolf Wiggershaus22, den großen Spezialisten der Frankfurter Schule, für wichtige bibliographische Hinweise. Mein besonderer Dank gilt auch Herrn Nicola Emery von der Fondazione Max Horkheimer in Lugano für die finanzielle Unterstützung und Förderung meiner Forschungen zum soziologisch-philosophischen Werk des eigentlichen Begründers der Frankfurter Schule und der Kri­ tischen Theorie der Gesellschaft sowie Frau Dr. Monika Mühlpfordt vom Verlag Karl Alber bei Nomos. Wichtige Hinweise und Ermunterungen zur Abfassung dieses Essays über den frühen Horkheimer und dessen kritische Sozialphi­ losophie verdankt der Autor auch seinem brasilianischen Freund und Kollegen, dem Soziologen Michael Löwy (CNRS), dem es u. a. zu ver­ danken ist, dass sich der Autor nach der Veröffentlichung seines ersten Essays über Horkheimer, Marx, Freud und Schopenhauer23 so inten­ siv mit der Dämmerung und den anderen Frühschriften Horkheimers beschäftigt und vertraut gemacht hat, die uns in gewisser Weise den Schlüssel zum Verständnis nicht nur von Horkheimers Frühen Schrif­ ten, sondern auch von vielen Grundzügen seines späteren soziologi­ schen und philosophischen Gesamtwerks geliefert hat. Dieser Essay ist unsere Gabe zum 50. Jahrestag des Todes von Max Horkheimer in Nürnberg am 7. Juli 1973 im Alter von 78 Jahren. Nizza, im Dezember 2022

Arno Münster

22 Cf. Rolf Wiggershaus, Biographische Notiz «Max Horkheimer» in: BadenWürttembergische Biographien, Band VI, hsg. von Fred Ludwig Sepainter, W. Kohlham­ mer Verlag, Stuttgart 2016. 23 Cf. Arno Münster, Max Horkheimer entre Marx, Freud et Schopenhauer. Essai sur la philosophie sociale du fondateur de l'Ecole de Francfort, ed. Le Retrait, Orange, 2021.

15 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Inhaltsverzeichnis

I.

Horkheimer im Ersten Weltkrieg und allererste literarische Versuche (Novellen und Tagebuchblätter, 1914–1918) . . . . . . . . . . .

19

II.

Der junge Horkheimer als Marxist. Einige analytische Betrachtungen zur «Dämmerung» . .

35

III.

Das Institut für Sozialforschung an der ColumbiaUniversität von New York . . . . . . . . . . . . . .

65

IV.

Kritik der bürgerlichen Geschichtsphilosophie und der psychologischen Geschichtsauffassung Machiavellis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

V.

Abschied von der Utopie? . . . . . . . . . . . . . .

83

VI.

Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

107

VIII. Nachtrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

IX.

Der Autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

X.

Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

XI.

Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942) . . . . . . . . .

159

17 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

Inhaltsverzeichnis

XII. Schlussbemerkung

. . . . . . . . . . . . . . . . .

171

XIII. Bibliografische Hinweise . . . . . . . . . . . . . .

175

XIV. Über den Autor

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

XV. Publikationsliste des Autors (Auswahl) . . . . . .

181

18 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg und allererste literarische Versuche (Novellen und Tagebuchblätter, 1914–1918)

Max Horkheimer wurde am 14. Februar 1895 in Stuttgart-Zuffen­ hausen als einziger Sohn des jüdischen Fabrikbesitzers, Textilfabri­ kanten und Kommerzienrates Moses Horkheimer (1858–1945) und seiner Ehefrau Babette, geb. Lauchheimer, geboren. In dieser jüdischkonservativen Familie wurden zwar die jüdischen Feste und Feiertage, wie z. B. Rosh Ha Shana oder das Pessah-Fest respektiert, sie war jedoch keineswegs streng gläubig im Sinne der jüdischen Orthodoxie und Tradition, sondern stark an die deutsch-protestantische Kultur assimiliert. Wie die überwiegende Mehrheit der deutschen Juden hat­ ten Horkheimers Eltern eine eher patriotisch-nationalistische Ein­ stellung. Deshalb wurde der junge Horkheimer als Sekundarschüler auch nicht auf ein Gymnasium der jüdischen Gemeinde von Stuttgart geschickt, wo er «Talmud-Torah» hätte studieren können, sondern auf ein staatliches christliches humanistisches Gymnasium, das er jedoch nach der Untersekunda im Herbst 1910 verließ, um als Lehrling in den väterlichen Betrieb, eine Textilfabrik in Stuttgart-Zuffenhausen, einzutreten. Wie die meisten jungen jüdischen Intellektuellen dieser Epoche, z. B. Albert Einstein24, Walter Benjamin oder Ernst Bloch, hatte auch Horkheimer als Schüler der Elementarschule und als Gym­ nasiast in Stuttgart sehr unter dem autoritären Schulsystem des deut­ schen Kaiserreichs gelitten, und die Erinnerung, das Trauma an diese ständig mit dem Rohrstock fuchtelnden Lehrer war sicherlich einer der entscheidenden Gründe für seine spätere Radikalkritik der Auto­ rität und des Autoritarismus im Kontext des Entwurfs der Kritischen Theorie der Gesellschaft. Sein Ziel war zunächst, unter dem Druck des Vaters, Kaufmann zu werden. Wie Alfred Schmidt bezeugt, unter­ 24 Aus Protest gegen diese Exzesse an Autoritarismus in der Schule hatte Albert Ein­ stein den Entschluss gefasst, auf seine deutsche Staatsbürgerschaft zu verzichten. (A. M.).

19 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

nahm der junge Horkheimer zusammen mit seinem langjährigen Freund Friedrich Pollock (ebenfalls Sohn eines Fabrikbesitzers) in den Jahren 1910 bis 1914 auch einige Auslandsreisen nach Brüssel, Paris und London. «Seit Mitte 1913 hielt Horkheimer sich in England auf, wo er noch bis sechs Wochen vor Ausbruch des 1. Weltkriegs verblieb, und zwar zunächst bei einer Familie in Manchester, danach bei einer Familie in London.»25 Zurückgekehrt nach Stuttgart, arbeitete er dann drei Jahre lang im elterlichen Unternehmen bis zu seiner Mobilisie­ rung im Frühjahr 1917. Im Frühjahr 1918 wurde er jedoch bereits aus «gesundheitlichen Gründen» aus der kaiserlichen Armee entlas­ sen und in eine Klinik in München eingeliefert. Danach verbrachte er mehrere Monate in einem Sanatorium, höchstwahrscheinlich wegen einer Erkrankung an der Lunge. Ebenfalls in München holte er nach seiner Genesung 1919 sein Abitur als «externer» Schüler nach. Im Sommersemester 1919 immatrikulierte er sich an der Ludwig-Maxi­ milians-Universität München zum Studium der Fächer Psychologie, Ökonomie und Philosophie; im Wintersemester 1920/21 wechselte er jedoch zur Universität Frankfurt, wo der «Kantianer» Hans Corne­ lius lehrte. Ab dem Sommersemester 1921 setzte er jedoch – gegen den väterlichen Willen – sein Studium in Freiburg im Breisgau fort, wo er regelmäßig die Vorlesungen von Edmund Husserl und Martin Heidegger hörte. 1922 promovierte er dann allerdings nicht in Frei­ burg, sondern an der Universität Frankfurt bei Hans Cornelius26 (1863–1947) mit der Inaugural-Dissertation Die Antinomie der teleo­ logischen Urteilskraft (Prädikat: Summa cum laude). Im Seminar von Cornelius befreundete er sich sehr schnell mit Theodor W. Adorno und Felix Weil. 1925 habilitierte sich Horkheimer – ebenfalls unter der Leitung von Professor Hans Cornelius – mit der Habilitations­ chrift Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theo­ retischer und praktischer Philosophie. 1926 verheiratete er sich mit 25 Cf. Alfred Schmidt, «Frühe Dokumente der Kritischen Theorie» ((Nachwort des Herausgebers), in Max Horkheimer: Gesammelte Schriften Bd. 1: Aus der Pubertät. Novellen und Tagebuchblätter 1914–1918, Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt a. M., 1988, S. 365. 26 Cf. Hans Cornelius(1863–1947), Transzendentale Systematik, München, 1916; ders., Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, München 1926. (Die zentrale These von Cornelius ist, dass alles in der Vielfalt der Erfahrung Erlebte eine doppelte Struktur hat: (a) als Teil einer «zeitlichen Totalität» und (b) als Element einer «subjek­ tiven Totalität». In diesem Sinne definiert Cornelius die Psychologie als «Erfahrungs­ wissenschaft». Cf. ders., Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Leipzig, 1897).

20 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

Rosa Christine (Maidon) Riekher, der Privatsekretärin seines Vaters, die entlassen wurde, als Horkheimers Vater davon erfuhr. Im gleichen Jahr begann seine Tätigkeit als Privatdozent im Fachbereich Philoso­ phie an der Universität Frankfurt am Main. 1930 wurde er zum Ordi­ narius für Sozialphilosophie und gleichzeitig zum Direktor des Insti­ tuts für Sozialforschung berufen. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde er im Zuge der antisemitischen Diskriminierungen durch das Regime als Professor entlassen, weil er Jude war. Er ging zunächst nach Genf ins Exil, wo er eine Zweigstelle des «Instituts für Sozialforschung» gründete. Ende 1933 emigrierte er dann in die USA, wo das Institut in den Räumen der Columbia-University in New York Zuflucht fand und von wo aus Horkheimer zusammen mit Friedrich Pollock, Adorno, Erich Fromm und Herbert Marcuse, die Arbeit des IfS fortsetzte.27 1940 erhielt er die US-Staatsbürgerschaft; 1941 über­ siedelte er nach den Pacific Palisades bei Los Angeles, wo er in enger Zusammenarbeit mit Adorno an der Dialektik der Aufklärung (1947) arbeitete.28 Dort entstand auch – unter der Federführung Max Hork­ heimers in den Jahren 1942–1948 – das große Antisemitism ResearchProject sowie die fünfbändigen Studies in Prejudice. 1948 kehrte er – nicht ohne Bedenken – nach Deutschland zurück, wo er 1950 erneut als Ordinarius für Sozialphilosophie und drei Jahre später auch zum Direktor des Instituts für Sozialforschung an die Goethe-Universität Frankfurt berufen wurde, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1962 lehrte. Nach seinem Tode am 7. Juli 1973 in Nürnberg wurde Max Horkheimer am 12. Juli 1973 auf dem jüdischen Friedhof der Stadt Bern (Schweiz) beigesetzt. Wie Rolf Wiggerhaus unterstreicht, machen «die Vielseitigkeit seines Wirkens und der Wechsel der Schauplätze und Epochen Hork­ heimer zu einer singulären Figur seiner Zeit. Über eine mustergültige Ausgabe der Gesammelten Schriften hinaus gibt es einen in Umfang und Vielfalt unerschöpflich scheinenden schriftlichen Nachlass. All das macht es wahrscheinlich, dass das internationale Interesse am Begründer der Frankfurter Schule weiterhin eher zu- als abnehmen wird.»29 Alfred Schmidt ist durchaus zuzustimmen, wenn er bezüglich des Problems der Entstehung der ersten Frühschriften des jungen Philo­ 27 28 29

Cf. Rolf Wiggershaus, a. a. O., S. 187. Ebd. Rolf Wiggershaus, «Horkheimer, Philosoph und Soziologe», a. a. O., S. 190.

21 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

sophen Horkheimer, das heißt seiner Novellen und Tagebuchblätter, feststellt, dass man «im Fall Horkheimer die typisch großbürgerliche Familiensituation des ausgehenden neuzehnten Jahrhunderts» vor­ aussetzen kann, «als er – objektiv gesellschaftskritisch – Liebesfä­ higkeit und geschärftes soziales Gewissen gegen die Eltern kehrte, die ihm diese Qualitäten eingepflanzt hatten»30 und dass – unter dem literarischen Einfluss von Wedekind, Strindberg und Ibsen – «die gegen den Druck des Elternhauses aufbegehrenden Mädchen seiner Novellen Schwestern Noras und Hedda Gablers (sind).»31 Die Lektüre dieser Novellen aus der Pubertät ermöglicht uns die Identifizierung des Autors mit einem zunächst zwischen Anarchismus, Expressio­ nismus und Pazifismus schwankenden romantisch-revolutionären antibürgerlichen Rebellen, dessen Kritik an der bestehenden Gesell­ schaft und ihren autoritären Strukturen, am preußischen Militarismus und an der völlig irrationalen deutschen Kriegsbegeisterung im August 1914 offensichtlich stark von den Thesen von Pfemferts Zeit­ schrift Die Aktion, dem Sprachrohr der literarisch-künstlerischen expressionistischen Linken der Epoche, beeinflusst war, aber auch von der Fackel eines Karl Kraus. Alfred Schmidt: «Obwohl Horkheimer sich erst als Student näher mit der Marx-Engelsschen Lehre beschäf­ tigt hat, war er – das steht zwischen den Zeilen der Jugendschriften – mit dem weltanschaulich-politischen Für und Wider der Diskussio­ nen um den Sozialismus recht vertraut. Namentlich dessen ethischlibertärer, radikal staatsfeindlicher, dem Rätegedanken zugetaner Flü­ gel scheint ihn fasziniert zu haben: der Anarchismus Kropotkins, Mühsams, Eisners und Landauers, aber auch Tolstois unermüdlicher Appell an den Geist, seine Predigt der Gewaltlosigkeit, der Askese und allumfassenden Liebe.»32 Dazu käme dann noch – und dies ist kei­ neswegs nur ein «Nebenbei» – der Einfluss Arthur Schopenhauers, der in der Gedankenwelt des jungen Horkheimer schon sehr früh einen wichtigen Platz einnimmt und dessen pessimistische Weltsicht schon sehr früh in Horkheimers Schriften aus der Pubertät sowie seinen Novellen und Tagebuchblättern 1914–1918 ihren Niederschlag gefun­ den haben. So alternieren geradezu kontrapunktisch in diesen Tage­ buchaufzeichnungen des gerade zwanzigjährigen Sohns des Fabrik­ besitzers Moses Horkheimer aus Stuttgart-Zuffenhausen 30 31 32

A. a. O., S. 366. Ebd. A. a. O., S. 366–367.

22 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

Wahrheitsdrang und «wahnsinniges Lebenwollen»33, der Drang nach Liebe und Erlösung, romantische Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben und die Schreckensvisionen einer «sinnlosen», ver­ rohten und barbarischen Welt, jener Welt des Ersten Weltkriegs, der für Millionen von Menschen in Europa zur Hölle wurde. Was ist die Welt? Darauf kann der jüdische Kosmopolit und Kriegsgegner Hork­ heimer, der in all diesen Jugendschriften bereits in den schärfsten Worten die von den gallophoben Nationalisten in Deutschland geschürte Kriegsbegeisterung kritisiert, nur antworten: «Die Welt ist berauscht, aber nicht von klarer Erkenntnis, sondern von dumpfem, schwerem Irrtum, von Lüge und von der Wut des Eigennutzes. Wei­ terkommen muß jeder für sich allein oder an der Hand geliebter Wesen, die Masse der Menschheit ist ja noch viel zu weit zurück, um ihm hierbei helfen zu können.»34 Seine Mission sieht er bereits zu Beginn seines Studiums darin, «den Unglücklichen beizustehen, die von ihr [dieser Welt] verfolgt und ausgestoßen sind; den Schrecken und die Höllenqual zu lindern, die das Zusammenleben der Masse infolge ihrer Unvollkommenheit, infolge ihrer Bestialität den Einzel­ nen leiden läßt ...»35 Erlösen kann uns aus dieser Qual, so der junge Horkheimer, und hierin zeigt sich in der Tat der Einfluss Tolstois, nur der «Geist», «der Gegenpol der Materie, indem er uns vom Teildasein befreit und zur Persönlichkeit führt, zur Individualität, die allein imstande ist, sich vom Gesetz der Schwere loszumachen und zum Lichte durchzudringen, zur Wahrheit, die mir als jenes große, herrli­ che, unfaßbare Nichts vorschwebt, – wie der Horizont, dessen Leere uns als schönes Blau erscheint» (...) Dieses «Nichts» ähnelt in der Tat dem «großen Nichts», dem Nirwana als dem Endziel der «Verneinung des Willens zum Leben» in Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (Kapitel 71). Für Schopenhauer36 ist die­ ses «Nichts» die einzige «wahre Wirklichkeit», und unsere Welt das einzig «wirkliche Nichts». Für Horkheimer wie für Schopenhauer ist das Bestehende immer schlecht, für Horkheimer ist jedoch «seine 33 Cf. Max Horkheimer, Tagebuchblatt vom 9. Juli 1915 [Stuttgart], in: Gesammelte Schriften Band 1: «Aus der Pubertät». Novellen und Tagbuchblätter 1914–1918, Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 1988, S. 158. 34 Cf. Max Horkheimer, Brief an Luise vom 21. August 1914, in: Gesammelte Schriften Band 1, S. 31. 35 Ebd. 36 Cf. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), Kap.71, Frank­ furt, S. 512 ff.

23 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

Beschaffenheit der einzige Anhaltspunkt, den unsere Sinne benützen können, um das Geistige aus ihm herauszufühlen, das wir nicht grei­ fen können und das seine mehr oder minder große Schönheit aus­ macht.»37 Die Selbsttötung, der Selbstmord ist für ihn, der in der Tat oft der Verzweiflung sehr nahe ist und der offensichtlich auch allen Grund hat, an dieser «absurden» Welt zu verzweifeln, jedoch nicht der Ausweg. Wie man u. a. aus dem Briefwechsel mit seiner «Gelieb­ ten» Luise aus Stuttgart vom August 1914 erfahren kann, geht es ihm, dem jungen, dem «illusionslosen», dem von der «Gemeinheit» der Welt so sehr enttäuschten Studenten, eher darum, «alles hassen [zu] lernen, wovon wir uns zu befreien haben; das ist unsere, das ist meine Aufgabe. Was überwunden werden muß, verachten – das will ich, das soll ich im Leben. So verachte ich dies, was die Leiden notwendig macht, was die Erdenqual verursacht, wovon wir uns reinigen müssen: die Gier nach Erde.»38 Gemeint ist natürlich der kriegerische Natio­ nalismus dieser Epoche, der die Staaten systematisch im Namen der «Vaterlandsverteidigung» in den Krieg treibt: «Sie treibt uns», unterstreicht Horkheimer, «zum Häßlichen, zum Niederen, durch sie steht der Tod uns als Schreckgespenst stets vor Augen, durch sie müs­ sen wir Kriege führen. Sie ist es, die ich im Kriege hasse, und mit ihr die Tatsache, daß die Menschheit während der Jahrtausende ihres Bestehens noch keinen so großen Schritt vorwärts getan hat, daß wenigstens der Massenmord überwunden ist. Daß diese furchtbaren Katastrophen noch notwendig sind, beweist mir, wie tief noch die Menschheit steht, oder, mit anderen Worten, wie dumm sie noch ist. (...) Ich habe ein Gefühl des Schreckens, wenn ich die Begeisterung sehe, mit der die Leute Krieg führen. Wie lange wird es noch dauern, bis an die Stelle dieser Begeisterung eine andere, reinere Freude getre­ ten ist!»39 Wie ein Ernst Bloch oder ein Albert Einstein widersteht der junge Horkheimer mit seiner kritischen Distanz und Desillusion zu all den «Vaterländischen», all den Kriegstreibern, Ideologen und «Patrioten», die in ihrer Verblendung offenen Auges in die große Katastrophe hineinrennen, der verführerischen Kraft dieser Mobili­ sierung des Patriotismus und Nationalismus, indem er am Ende sei­ nes Briefes an Luise die folgenden Sätze schreibt: «Es ist Nacht gewor­ A. a. O., S. 33. Max Horkheimer, Brief an Luise vom 21. August 1914, in: Gesammelte Schriften Band 1, S. 34. 39 A. a. O., S. 34.

37

38

24 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

den. Noch höre ich auf der Straße unter meinem Fenster die Schritte der siegesfreudigen Bürgerlein, noch singen sie im Wirtshaus drüben die ‹Wacht am Rhein›; auf dem Tisch liegt eine Zeitung mit dick über­ schriebenem Leitartikel; alles glänzt und johlt vor Vergnügen – nur mein Herz ist traurig und will nichts wissen – vom ersten Sieg.»40 Noch deutlicher wird Horkheimer in seinem in einem Viehwagen zur deutsch-französischen Grenze verfassten weiteren Brief an Luise vom 22. September 1914, wo man u. a. Folgendes lesen kann: «Der Krieg ist nicht nur Dummheit – der Krieg ist Sünde! Du weißt, ich huldige dem Satz: Was lebt, muß leben, braucht das Leben – es muß noch ringen, sonst wäre es erlöst, sonst wäre es nicht hier. Und sie schießen – mit ihren läppischen Flinten und Kanonen, auf die sie ein­ gebildet sind, schießen sie und freuen sich, wenn sie treffen. Es ist ein Gefühl, das ich nicht erklären kann, weshalb ich es Sünde nenne, was sie tun. (...) Menschen, die andere zwingen, zu morden und sich mor­ den zu lassen, Menschen, die leben könnten ohne dies fließende Blut, sind Verbrecher, und alle die Millionen haben an ihrem Verbrechen teil, die ihnen beistimmen, die es wollen wie sie: vom Feldherrn bis zum begeisterten Käsehändler; (...) trotz aller Lüge glimmt neben den berechtigten physischen Qualen auch ein klein wenig wahres Seelen­ leid – nicht um einen gefallenen Bruder, nicht um ein verbranntes Haus, nicht um verwüstete Felder, nicht um einen zerschossenen Arm, sondern um niedere, verblendete, unglückselige Taten, um die verlassenen Höhen des Verstandes, um vergessene Ziele unserer inneren Sehnsucht und um verlorene Menschenleben.»41 Ein beson­ ders kritisches Augenmerk in seinem Kriegs-Briefwechsel widmet Horkheimer diesbezüglich auch der von den Kriegverteidigern und -hetzern, von den «Vaterländischen» immer wieder ins Feld geführten ominösen «Pflichtethik» zu Rechtfertigung der Massaker und Tötun­ gen des «Feindes» in den Gefechten und Schützengräben. Hier ent­ hüllt der junge Horkheimer die absurde, grausige Realität dieses Mor­ dens und gegenseitigen Sich-Abschlachtens in den Kämpfen um einzelne Frontabschnitte, Häuser und Dörfer, u. a. in jenem Brief an Luise vom 9. Oktober 1914, wo es heißt: «Und sie schlagen und stechen sich tot. Wütend, erbittert wird gemor­ det, greuliche Wunden klaffen, Rauch qualmt in den Straßen, Leichen 40 41

A. a. O., S. 36. A. a. O., S. 48.

25 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

liegen am Boden, Sterbende ächzen. Sie wollen das Dorf, sie wollen Erde, Gewinn, Besitz, und sie nennen’s Ehre, Pflicht und Tapferkeit, um die weinende Stimme ihrer Seele zu beschwichtigen. Unendliche Güter wollt Ihr haben und mächtig wollt Ihr sein; dieser Wunsch stürzt Euch in die Hölle der Schlacht. Das Unheimliche ist, daß Ihr Menschen seid – daß Ihr Menschen sein solltet! Ah, wie ich Euch hasse, Euch und besonders die Offiziere, die Generäle, Minister und Beamten, die stupiden nichtsahnenden Priester und Henkersknechte des gräßlichen Götzen. ‹Wir sind notwendig› ist Eure abgeschmackte Entschuldigung. Meine Antwort darauf ist: ‹Schämt Euch, daß Ihr’s seid.› (...) Die letzten Schrapnells fliegen über unseren Köpfen, die letzten Häuser stürzen zusammen. Neben uns werden Gefangene abgeführt – Gefangene! (...) Sie durchsuchen die Häuser, kochen ab, legen die Leichen in Reih und Glied, singen ‹Nun danket alle Gott! ›, bedauern die Gefallenen und sind zufrieden, daß sie ‹ihre Pflicht getan›.»42

Diese Sätze des jungen Horkheimer können durchaus verglichen wer­ den mit der radikalen expressionistisch-pazifistischen Kritik Ernst Blochs43 im Geist der Utopie (1918), d. h. Blochs Philippka gegen die «Faulen und Elenden», gegen die «Schieber» und «verängstigten Kleinbürger», gegen den «Gestank der Fäulnis und der starren Ver­ finsterung» sowie gegen die «geistfeindlichen Ziele» des kaiserlichen Deutschland, d. h. mit dessen radikaler Kritik am preußischen Mili­ tarismus, am Kolonialismus und an der geistlos erbärmlichen Wirk­ lichkeit einer Gesellschaft, die 1914 mit ihrem gallophoben Nationa­ lismus in einen völlig irrationalen Kriegstaumel verfallen war, mit dem Millionen von Menschenleben in den Schützengräben des 1. Weltkriegs geopfert wurden, allerdings mit der «Nuance», dass der von Horkheimer ebenfalls erhoffte Umbau der Welt «zum Besse­ ren» trotz der vorherrschenden, alles bedrückenden und niederdrü­ ckenden Verzweiflungsstimmung – im Gegensatz zu Bloch mit seiner Illusionslosigkeit und Anklage – frei ist von allen messianisch-apo­ kalyptisch-utopischen Zügen. Allerdings ist, gerade, was auch die Bejahung des Lebens sowie die Kritik der Leere, der «Dummheit» und die engagierte Protesthaltung dagegen im kaiserlichen Deutschland betrifft, die geistige Verwandschaft des jungen Horkheimer mit dem jungen Ernst Bloch frappierend. Zitat (Bloch): «In unsere Hände ist A. a. O., S. 58–59. Cf. Ernst Bloch, Geist der Utopie (1918) (2. Auflage,1923), Suhrkamp, Frankfurt, 1973, S. 11 ff.

42

43

26 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

das Leben gegeben. Für sich selbst ist es längst schon leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden.» (...) «Was jung war, mußte fallen, zum Sterben gezwungen für so fremde, geistfeindliche Ziele, aber die Erbärmlichen sind gerettet und sitzen in der warmen Stube. Von ihnen ist keiner verloren gegangen, doch die andere Fah­ nen geschwungen haben, so viel Blüte, so viel Traum, so viel geistige Hoffnung, sind tot. (...) Lichtloser war nie ein Kriegsziel als das des kaiserlichen Deutschland; ein stickiger Zwang, von Mittelmäßigen verhängt, von Mittelmäßigen ertragen; der Triumph der Dummheit, beschützt vom Gendarm, bejubelt von den Intellektuellen, die nicht Gehirn genug auftreiben konnten, um Phrasen zu liefern.»44 Beide Philosophen verbindet offensichtlich trotz all ihrer späte­ ren Differenzen der Umstand, dass sie, angeekelt von der «Fäulnis», der «Verlogenheit» und «Rohheit» in dieser Gesellschaft, wie ein Seismograph die herrschende Katastrophenstimmung und die mora­ lische Zersetzung beschreiben und stigmatisieren, die letztendlich dieses Taumeln und diese «begeisterte» Rennen der Menschheit in ihren eigenen Untergang in den Schützengräben des Ersten Welt­ kriegs begleitet hat. Dazu gehört selbstverständlich auch die Kritik des ständig zunehmenden Antisemitismus in dieser Gesellschaft, den Horkheimer z. B. in seiner in Stuttgart im November 1917 geschrie­ benen Novelle Gregor explizit erwähnt, und zwar dort, wo von dem Antisemiten Tom die Rede ist, dem, eingekeilt zwischen johlenden Metallarbeitern, «die Erkenntnis kommt, Juden leiden nie zuviel, wen es trifft, ist so gleichgültig. (...) Gewaltsam und mit letztem Aufgebot des Selbsterhaltungstriebs rafft er sich zum Entschluss auf: Man muß mittun, sonst wird man verrückt! Und darum schrie Tom, johlte mit seinen Menschenbrüdern: ‹Nieder mit den Juden!›»45 In derselben Novelle beschreibt Horkheimer dann auch das darauf folgende Pogrom sowie das zwielichtige, ambivalente, aber gleichzeitig typi­ sche Verhalten der Polizei, die auf die Erstürmung der Judenhäuser durch die Menge nur schwach und «ohne überzeugenden Befehl der Übermacht» reagiert: «Man läßt nicht ungern Volkswut in Pogromen 44 A. a. O., S. 11. Cf. auch: Arno Münster, Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst Bloch, Suhrkamp stw 372, Frankfurt, 1982, S. 185 ff. 45 Max Horkheimer, «Gregor» (Novelle), in: Gesammelte Schriften Band 1: »Aus der Pubertät«.Novellen und Tagebuchblätter 1914 -1918, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1988, S. 296.

27 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

verrauchen. Schwächere Wiederholung der in letzten Tagen häufigen Krawalle wird halb geduldet»46, derweil Gregor, der eigentliche Held der Novelle, ein unglückseliger Soldat der Garnison, von einem Kriegsgericht wegen «Meuterei» zu einer Haftstrafe verurteilt wird und im Gefängnis sitzt, weil er sich geweigert hatte, auf Arbeiter zu schießen.47 Vom Antisemitismus ist auch in dem Text Horkhei­ mers «Bekenntnis meiner Politik. Ein Brief» die Rede, wo Horkhei­ mer von einer Schlägerei berichtet, bei der zwei rivalisierende Lager sich gegenseitig beschuldigen, für den Krieg verantwortlich zu sein und in deren Verlauf dann die Juden als die stets «idealen» Sündenbö­ cke bespien werden: «Alle schimpften auf äußeren oder inneren Feind, sich selbst ausneh­ mend von jeder Verantwortung am Elend des Kriegs. Die Gelegenheit unerhofften Zusammentreffens wurde ausnahmslos zur Äußerung unbeherrschten Grolls bewillkommt, die Richtung war eigentlich unbestimmt: Die Reichen bildeten ein Ziel, auch Offiziere wurden nicht ehrenvoll erwähnt (...), vor allem aber das Fremdeste, das Überlegenste bespien: die Juden. Kraftvolles Eingreifen der Polizei beendete wirksam diesen Auftritt. Nachdem die Vertreter heldenmü­ tigen Volksstammes, Zuschauer der Schlägerei, sich entfernt, blieben die Leidtragenden mit ziemlich beschädigten Kleidern und unzweideu­ tigen Anzeichen kürzlichen Wirtshausbesuches in den Händen der Schutzleute. (...) Besessener Radaumacher, der auf den Frieden anstieß, dies Blutbad unmenschlich schalt, sofortige Absetzung der Regierung forderte, drang mit dem Messer auf ihn, den laut die Unschuld seines Volkes Preisenden, ein, und Zufall ist, daß man im letzten Augenblick die Waffe dem grausamen Angreifer entriß. Der Ärmste, unfähig, Tieren ein Leid anzutun, wurde Opfer seiner guten Meinung von den Menschen.»48

Dass diesbezüglich in demselben Text Horkheimers vom 24. August 1917 Karl Liebknecht (1871–1919) mehrmals erwähnt wird, ist natür­ lich alles andere als Zufall, verweist dies doch klar auf das radikale politische Engagement des Autors dieser Novelle, der wie auch der junge Herbert Marcuse in dieser Epoche eindeutig mit den linksso­ zialistisch-libertären Strömungen und Tendenzen in der deutschen 46 47 48

A. a. O., S. 296. Ebd. A. a. O., S. 282.

28 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

Arbeiterbewegung und in der SPD sympathisierte und der diesen Text in Stuttgart zu einem Zeitpunkt verfasste, wo der Gründer des Spar­ takus-Bundes (1916) und spätere Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschland (KPD) ebenso wie Rosa Luxemburg wegen seiner radikalen, mutigen Opposition gegen den Krieg von Kaiser Wilhelm II. und wegen seines Aufrufs zu einer Revolution gegen das Regime verhaftet und zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden war. Diese seine Sympathie für die revolutionäre sozialistische Oppositionsbe­ wegung im Kontext des bevorstehenden Zusammenbruchs des Kai­ serreichs und der Monarchie bringt Horkheimer im letzten Abschnitt seiner Novelle Bekenntnis meiner Politik. Ein Brief u. a. in der Episode zum Ausdruck, die mit geradezu expressionistischem Pathos beschreibt, wie seine Freundin und Gefährtin Ninon, hartnäckig und gegen alle Widerstände und Verbote sich hinwegsetzend, darauf besteht, den in seinem Gefängnis schmachtenden Karl Liebknecht persönlich in seinem Kerker zu besuchen, daran aber, trotz all ihrer verzweifelten Versuche, von «behelmten Wachen» brutal gehindert wird: «Fortgestoßen, verspottet lag sie eine Nacht lang vor dem Tor. Die schönsten seidenen Kleider hat sie angelegt, des edelsten Men­ schen Todesqual durch Gruß der Lebensfreude zu zerstreuen. Sie kennt ihn nicht, doch Blumen will sie ihm bringen, weil ich ihn gelobt und bedauert habe. Liebknecht, hörst Du meine Ninon unter deinen Marterkammern, sehnsüchtig, dein Leid süß zu machen? Traumsein ändert nichts an der Wahrheit ihres Willens, und sie liegt, ein Geschenk, vor des Tores Unerbittlichkeit. Geistiger Mensch in rohen, grausamen Händen: dies Schicksal Verständnis und Mitleid Dir bei uns erobernd – gewann dir Ninons Pilgerfahrt. Am nächsten Morgen kamen (dann) auch langsam die Gefürchteten, schlichen gefährlich auf und ab und deuteten bös auf die Bebende. (...) Sie spürte nur die schrecklich drohende Gefahr und daß sie zufällig Opfer werden mußte. Unbändiger Haß gegen die blutdürstigen, dummen, niedrigen Tiere breitet als Flamme, jede andere Empfindung fressend, unbe­ zwingbar sich aus. Verachtung zeichnen ihre Mundwinkel, ehe sie aufschreiend vor anstürmenden Mördern erwacht.»49 Enthält der Text «Bekenntnis meiner Politik» vom August 1917 mit seinem äußerst gefühlvollen expressionistischen Pathos und sei­ ner Radikalkritik an der den Krieg begleitenden Verrohung und Grau­ samkeit seltsamerweise noch keine direkten programmatischen poli­ 49

A. a. O., S. 285.

29 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

tischen Thesen weder zu Horkheimers Pazifismus noch zu seinen Sympathien mit dem Spartakusbund Karl Liebknechts, sondern eher moralisch-politische Gesten von großer symbolischer Ausdrucks­ kraft, so wird dieses Defizit vollauf in dem Theaterstück Friede (Ein Zwischenakt) ausgeglichen, das im Erdgeschoss eines Spitals (in Mün­ chen) spielt, in das auch zwei verwundete Militärs (ein Hauptmann und ein Leutnant) eingeliefert wurden und von Krankenschwestern gepflegt werden, die durchweg, wie es damals gefordert wurde, eine sehr «patriotische» Gesinnung an den Tag legen mussten. In diesem Stück kontrastiert Horkheimer krass diese Welt der «Ordnung» mit derjenigen des verwundeten Front-Soldaten Zech und des Künstlers (Malers) Claude, die beide eine «lichtvolle Zukunft» predigen und ein «Erwachen», in der Perspektive des kommenden, unvermeidlichen Kampfes für Gerechtigkeit und Frieden und der Rettung der Mensch­ heit vor dem totalen Absturz in die Barbarei. Diesbezüglich ist die Gestalt des Soldaten Zech in diesem «Zwischenakt» nichts anderes als das Sprachrohr des radikalen politischen Engagements Horkheimers 1917 auf Seiten der sozial-revolutionären Kräfte, die die Gesellschaft verändern und «erneuern» wollen. «Zukunft», sagt u. a. Claude in einer Dialogszene dieses Stücks am Krankenbett mit Zech und mit einer Krankenschwester, «Zukunft heißt, mich an letzter Entfaltung sichtbarer Natur berauschen und es ihr gleichtun», und Zech, der Revolutionär, erwidert darauf mit dem Hinweis auf die Notwendig­ keit der umwälzenden Praxis im Klassenkampf: «Beginnender Kampf bedarf des guten Willens. Die Zeit fordert Politik, Sie müssen handeln lernen. Begreifen Sie doch, daß die Menschheit ertrinkt. Da ist nicht mehr erlaubt, abseits zu stehen. Maler, wirf die Palette fort, hilf retten! Ich rufe Sie auf zur großen Revolution!»50 Und auf den Einwand der Krankenschwester «Haben Sie kein Vaterland, nichts Heiliges, das zu schützen Sie Ihr Leben wagen?» entgegnet der Spartakist Zech: «Doch: die Vergewaltigten. Anwalt bin ich der für eure Ordnung in den Tod gehetzten Proletarier, Anwalt der Witwen, die in Fabriken um Brot arbeiten, der Müden, die heimkehren werden und wieder für euch hungern sollen!» Und: «In den Kampf gerissen, hat jeder sich seines Leibs zu wehren. Krieg tobt durch die Welt. Du stehst im Feuer – fällst, wenn du dich nicht wehrst. Entscheiden Sie, wem Sie folgen: uns, denen die Zukunft gehört, oder denen, die alles verschuldet.»51 50 51

Max Horkheimer, «Friede», in : Gesammelte Schriften Band 1, S. 300. A. a. O., S. 301.

30 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

Darauf folgt nun – zu Beginn der dritten Szene dieses «Zwischen­ akts» – die politische Erklärung Zechs, die beinahe so etwas wie eine politische Grundsatzerklärung des wohl intentionierten kosmopoli­ tischen, pazifistischen und internationalistischen «Weltverände­ rers» Max Horkheimers ist, der entschieden jeglichen Nationalismus ablehnt: «Die Mächtigen Europas führen Krieg, und die Völker sind ihre Sklaven. Auf unzähligen Fronten verbluten Millionen; töten sich, ohne einander zu kennen. Die Reichen haben einen Götzen errichtet und sich zu seinen Priestern ausgerufen: Vaterland. Die Dummheit der Massen betet ihn an, bringt ihm Opfer aus eigenem Fleisch. In Kasernen formt man unter Drohung fürchterlichster Martern Men­ schen zu Soldaten um, entreißt die Seele, verbietet eigene Gedanken, erzeugt gewaltsam Mordmaschinen des Staats. Man wirft sie in die Hölle der Schlacht gegen die Sklaven des Feinds. Dann schießen sie giftige Gase aufeinander, Granaten platzen, Treffer reißen sie in Atome. Aufgespießt in Drahtverhaue, schreiend verendet an Bauch­ schüssen, erstickt in Sümpfen ist diese Jugend, und noch gebietet sie nicht Einhalt.»52 Dies war die fürchterliche Realität der Massaker in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, eine Realität, die nun lei­ der heute – im Jahre 2022! – in dem schmutzigen Invasionskrieg des imperialistischen Russlands Putins gegen die Ukraine ihre tragische Wiederholung findet. Das Bewusstsein dieser Katastrophe ist jedoch für Zech [Horkheimer] kein Grund, resigniert «einzuknicken» und seinen prinzipiellen «militanten Optimismus» zu ersticken; denn – und hiermit ist er sozusagen auf der «gleichen Wellenlänge» wie die sozialistische «Internationale», die die Völker aufruft, zum «letzten Gefecht» zu erwachen: «Trotz krampfhafter Bemühung, trotz Maschinengewehr und Minis­ tern werden die Völker erwachen! Über Toten und Wahnsinnigen werden sie Rechenschaft fordern, auf Barrikaden nach dem Sinn des Gemetzels fragen. Die Reichen werden wir von ihrem Throne stoßen! Das Blutgeld wird an die Gläubiger bezahlt! Wir lehnen ab, uns vom Ehrgeiz und der Geldgier einzelner gegen Brüder hetzen zu lassen, die Staaten werden sich versöhnen, Völker in Freundschaft mit den

52

A. a. O., S. 302.

31 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

Nachbarn selbst ihr Geschick bestimmen. Vorrecht und Besitz wird nicht geduldet werden. Das ist der Friede.»53

Mit diesen pathetischen Worten verleiht Zech, der proletarische inter­ nationalistische Revolutionär, seinem festen Glauben an das Ziel des proletarischen Klassenkampfes und das Kommen der «sozialistischen Weltrepublik» Ausdruck, für die Karl Liebknecht und Rosa Luxem­ burg an der Spitze des «Spartakus-Bundes» bis zu ihrem jähen Lebensende, d. h. ihrer Ermordung durch die «Freikorps» in Berlin im Januar 1919, unerbittlich gekämpft hatten. Und mit Blick auf die Oktoberrevolution 1917 in Russland, bei der die Bolschewiki unter Lenins Führung das autokratische Zarenregime gestürzt und wo im Zuge dieser Revolution die Arbeiterräte (Sowjets) die politische Füh­ rung übernommen hatten, kann deshalb Zech in der 10. Szene die­ ses «Zwischenakts» ausrufen: «Über Fronten hinweg reichen Proletarier uns die Hand. Schlagt sie nicht aus, laßt unsere mutigeren Brüder nicht vergebens hoffen. Wir waren tapfer für unsere Tyrannen, kämpfen wir endlich für uns selbst. Auch wir sind reif – wollen nicht auf neuen Weltbrand warten, ergreifen selbst die Führung. (...) Zum Kampf für unser Recht laßt uns Kameraden sammeln! Zieht durch die Straßen und singt die Marseil­ laise! Setzt die Mächtigen ab, damit eure Kinder nicht noch einmal das gleiche Elend zu erdulden haben! Und säumt keinen Augenblick, unverzüglich beginnt das Große, es lebe die Revolution! Brecht auf ...! »54 Als Zech dann dazu aufruft, im Zuge dieses Aufstands die «Brüder aus den Kasernen zu befreien», tritt ihm schroff der Leutnant Norbert Scholz entgegen, der ihn mit Gewalt daran hindern und dem Zech den schon gezückten Degen entwinden will. Kurz darauf erschießt Zech den Maler, den «Futuristen» Claude mit seiner Pistole, bis er dann in der 12. Szene vom herbei eilenden Militär und dem Hauptmann selbst überwältigt wird. Das Theaterstück endet sodann mit der großen Unglücksbotschaft des frontalen Zusammenstoßes zweier D-Züge in rasender Fahrt in der Nähe des Münchener Hauptbahnhofs, d. h. mit dem erschütternden Bericht einer Krankenschwester, die am Unfallort Augenzeuge von grausig verstümmelten, schreienden und sterbenden Menschen gewesen war, sowie mit dem Schuldverweis an einen Eisenbahnbeamten, der «aus Freude vor der Friedensbotschaft» die 53 54

A. a. O., S. 303. A. a. O., S. 316.

32 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

Abgabe eines Signals vergessen hatte. Er war der «Schuldige». Fazit: «Gleichmütig duldet er [Gott] Unbeschreibliches.» [Vorhang] Den Schlüssel zum Verständnis dieses «Einakters» in 14 Szenen, der in den Räumen einer Münchener Privatklinik mit angeschlosse­ nem Militärlazarett spielt, liefert Horkheimers Biographie: Er war im Frühjahr 1917, damals noch als «Lehrling» in der väterlichen Textil-Fabrik in Stuttgart-Zuffenhausen arbeitend, nach mehreren vorausgegangenen Ausmusterungen, schließlich doch noch zum Kriegdienst eingezogen worden. Aus gesundheitlichen Gründen wurde er jedoch bereits im Herbst 1917 aus der Armee vorzeitig entlassen und verbrachte daraufhin einige Wochen in einer Münche­ ner Klinik, wo er sich langsam erholte. Dort in München erfuhr er wohl auch – sowohl aus der Presse wie aus den sozialistischen Flugschriften und Broschüren jener Zeit – von der Oktoberrevolution in Russland. Seine Sympathien für den rätedemokratisch-utopischen Aspekt des frühen Bolschewismus (Alfred Schmidt) stammen aus dieser Zeit, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er im Vorfeld der Ausrufung der «Münchner Räterepublik» auch von Kurt Eisners revolutionären Ideen etwas beeinflusst worden war. In einer Münche­ ner Klinik erlebte Horkheimer dann auch den Zusammenbruch des Wilhelminischen Deutschland55 im November 1918, den er in seinem Zwischenakt «Friede» bereits literarisch antizipiert hatte. Ebenfalls in München holte er im Juli 1919 als «externer» Schüler sein Abitur nach, um studieren zu können. Letztendlich können wir nur voll und ganz dem Urteil von Alfred Schmidt, seinem besten Schüler und Kenner seines Werks, zustimmen, wenn er feststellt, dass uns Horkheimer in seinen Frühschriften nicht als Theoretiker entgegen­ tritt, sondern als «ein lebendiger Mensch, leidenschaftlich bemüht, auszudrücken, was ihn in den Wirren der Zeit bewegt. Kritik am Bestehenden, utopische Sehnsucht über es hinaus und Trauer, ja nihilistische Verzweiflung über den unerbittlichen Weltlauf stehen unversöhnt nebeneinander. Neben Marx steht Schopenhauer. Der junge Horkheimer kann dennoch nicht vom Gedanken eines anderen, besseren Lebens lassen und weiß doch, wie verstrickt in die Natur auch die Unterdrückten sind. Er sah wohl», schreibt er in einer Novelle, «die Unberechtigkeit der Verteilung der Güter, er begriff, daß vieles Äußerliche gemildert und gebessert werden könne, doch 55 Cf. Alfred Schmidt, «Nachwort des Herausgebers», in: Max Horkheimer, Gesam­ melte Schriften Band 1, S. 366.

33 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

I. Horkheimer im Ersten Weltkrieg

im tiefsten Bewußtsein ahnte er, daß (...) die Erfüllung der kühnsten Utopien die große Qual nicht berühren würde, weil der Kern des Lebens selbst Qual und Sterben ist.» Sollte es je – was ja ungewiss genug ist – zu einem humaneren Dasein kommen, so fiele vom guten Ende her kein versöhnender Glanz auf den grauenvollen Weg zu ihm hin. Ist der «Welt- und Höllenapparat» einmal durchschaut, so wird die «übersinnliche Bedeutung» selbst menschenfreundlicher mitleidiger Tat «fraglich.»56 Dies mag wohl jenes für den jungen Horkheimer typische stän­ dige Schwanken zwischen Marx, Liebknecht, Kropotkin, Mühsam, Eisner, Tolstoi und Schopenhauer erklären, das charakteristisch ist für das Frühwerk dieses großen kritischen Denkers mit seinem schar­ fen, desillusionierenden – in seiner ersten Phase zwar noch nicht psychoanalytischen, wohl aber sozialpsychologischen – Tiefblick in die Verstrickung des Menschen in die Natur und in eine von Ungleich­ heit, Ungerechtigkeit und Gewalt bestimmte Gesellschaft, die zu verändern – dies ist die feste Überzeugung des jungen Horkheimer – das absolute Ziel jeder emanzipatorisch orientierten philosophischpolitischen Praxis sein muss. *** Arno Münster

56

Nizza, im Dezember 2022

Alfred Schmidt, a. a. O., S. 375.

34 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist. Einige analytische Betrachtungen zur «Dämmerung»

Dämmerung. Notizen in Deutschland57 (1926–1931), dieses im Schweizer Exil 1934 im Verlag Oprecht und Helbling in Zürich unter dem Pseudonym Heinrich Regius veröffentlichte Buch des jungen Horkheimer, das 1974, ein Jahr nach dem Tode des Philosophen – mit einer Einleitung von Alfred Schmidt – im S. Fischer Verlag neu herauskam und das dann 1987 auch im Band 2 der von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr herausgegebenen Gesammelten Schriften Max Horkheimers im Fischer Taschenbuch-Verlag neuveröffentlicht wurde, ist zweifelsohne der mit Abstand beste und typischste Beleg für die noch marxistische Orientierung des jungen Frankfurter Sozi­ alphilosophen, der 1930 an der Universität Frankfurt ordentlicher Professor für Sozialphilosophie geworden war und der 1931 die Leitung des Instituts für Sozialforschung übernommen hatte. Erklärtes Ziel war dabei die Gründung eines interdisziplinären Forschungs­ teams aus Soziologen, Philosophen, Literaturwissenschaftlern und Anthropologen, das sich zur Aufgabe gesetzt hatte, jenseits von allen Dogmatisierungen und im Kontrast zu allen Kanonisierungen im Bereich der Soziologie und der Philosophie eine neue Kritische Theorie der Gesellschaft zu entwerfen und zu begründen, die trotz ihres kla­ ren Engagements für eine radikale Transformation der bürgerlichen Gesellschaft und für die Emanzipation der vom Kapitalismus Unter­ drückten, «Erniedrigten und Beleidigten», mit ihrer Autonomie und ihrem Insistieren auf empirisch fundierten Erkenntnissen und Model­ lisierungen sowie mit ihrem erklärten Willen einer Erweiterung der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie durch die Psychologie (Psychoanalyse) und die Sozialpsychologie kritische Distanz hielt zu 57 Cf. Max Horkheimer, Dämmerung. Notizen in Deutschland, in: M.H.,Gesammelte Schriften, Band 2: Philosophische Frühschriften 1922–1932, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1987, S. 309–452.

35 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

allen Ideologien, Parteiprogrammen und Organisationen, auch denen der Arbeiterbewegung, denen sie seit der Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (IfS) durch Felix Weil und seiner Leitung durch Carl Grünberg in seiner allerersten Phase sehr nahestand. Dies ist auch der eigentliche Grund dafür, weshalb Horkheimer, der den 1927 verstorbenen Austromarxisten Carl Grünberg an der Spitze des IfS abgelöst hatte, von Anfang an trotz seiner anfänglich klaren Orientierung am historischen und dialektischen Materialismus unter dem Einfluss gewisser libertärer Strömungen im Sozialismus stets einen gewissen kritischen Abstand zum orthodoxen Marxismus hielt, wie auch zu dem damals schon relativ weit verbreiteten Kathedermar­ xismus mit seinen manifesten Tendenzen zur Dogmatisierung und einer gewissen elitären Abkapselung von den «harten Realitäten» der bestehenden Gesellschaft. Gerade dieser Non-Konformismus des Frankfurter Teams um Max Horkheimer, das bald um so große Denker wie Adorno, Erich Fromm und Herbert Marcuse erweitert wurde, sollte sich im Nachhinein als die große «Trumpfkarte» dieser in jeder Hinsicht heterodoxen und originellen neuen neo-marxistischen Sozi­ alphilosophie erweisen. Ein Charakteristikum dieses «heterodoxen» Marxismus war der in diesem theoretischen Unterfangen von Anfang an erklärte Wille, die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie in der Lesart des offi­ ziellen Marxismus der 1920er und 1930er Jahre durch die Erkennt­ nisse der zeitgenössischen Sozialpsychologie, der Anthropologie und der Psychoanalyse zu erweitern und zu ergänzen sowie der Versuch, gleichzeitig auch durch gezielte Analysen das Alltagsbewusstseins der pauperisierten Massen und der verunsicherten Mittelschichten unter den Bedingungen der Krise des Kapitalismus in der modernen Mas­ sengesellschaft theoretisch zu erfassen, einschließlich der gefährli­ chen Potentiale, die damit für die Gesellschaft insgesamt zu entstehen drohten. Insgesamt aber blieb das Leitmotiv dieser neuen, undogma­ tischen Sozialphilosophie seit der Übernahme und Leitung des IfS durch Max Horkheimer im Jahre 1931 der engagierte teilnehmende Blick auf die unter diesem System leidenden und von diesem System ausgebeuteten und verachteten arbeitenden Menschen sowie die Widerstandshaltung gegenüber jeglicher Form von Knechtschaft, Unterdrückung und autoritärer Unterwerfung. So gesehen ist Hork­ heimers Dämmerung in der Tat nichts anderes als der in Aphorismen geschriebene Essay eines non-konformistischen Widerständlers gegen die herrschende Ideologie des Bürgertums, d. h. jene Ideologie,

36 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

die die total «verwaltete Gesellschaft» hervorgebracht hat.58 Was ihn des Weiteren charakterisiert, ist der Umstand, dass hier – «gleicher­ maßen durch Inhalt, Form und Präsentation – die traditionell akade­ mische durch eine im weiteren Sinne schriftstellerische Arbeit über­ schritten wird.»59 Gerade bezüglich der von Max Horkheimer hier gewählten und praktizierten aphoristischen Form ist auch ein gewis­ ser Einfluss Nietzsches unverkennbar. Diese Wende Horkheimers zu einer neo-marxistisch fundierten kritischen Sozialphilosophie und -psychologie ist das Ergebnis seines philosophischen Werdegangs vom Idealismus der Kantischen Trans­ zendentalphilosophie seiner Studienjahre bei Cornelius60 an der Uni­ versität Frankfurt zum Materialismus, d. h., um noch einmal mit Alfred Schmidt, seinem Schüler und besten Interpreten zu sprechen, seiner «Begründung einer materialistischen Geschichts- und Wis­ senschaftsauffassung», sowie des Versuchs, «die zeitgenössische Metaphysik durch den Nachweis zu entkräften, daß deren Wurzeln längst verdorrt sind.» Folglich ist die von Horkheimer dieser Meta­ physik des deutschen Idealismus entgegengesetzte «empirische Ansicht»61 keine andere als die des Marx-Engels’schen historischen Materialismus. So ist auch Horkheimers Bemerkung im Schlussab­ satz seines Aufsatzes über Hegel und das Problem der Metaphysik zu verstehen, in der aus eindeutig materialistischer Sicht die Reduktion geschichtlicher Vorgänge und Fakten auf ein rein «geistiges Prin­ zip» negiert wird: «Die empirische Erforschung geschichtlicher Vor­ gänge ist auf möglichst treffende Beschreibung und letzten Endes auf die Erkenntnis von Gesetzen und Tendenzen gerichtet, ganz ebenso 58 Cf. das Vorwort von S. Cornille und Philippe Ivernel zur französischen Ausgabe der «Dämmerung»: «Crépuscules. Notes en Allemagne (1926–1931)», Payot, Paris, 1994, S. II. 59 Cf. Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 2: Philosophische Frühschriften 1922- 1932, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 1987, S. 3. 60 Max Horkheimer hatte nach drei ersten Studienjahren der Psychologie und der Philosophie an den Universitäten München, Freiburg und Frankfurt (1919–1922) bei Prof. Hans Cornelius (1863–1947) über das Thema «Die Antinomie der teleologischen Urteilskraft» promoviert und sich drei Jahre später 1925 ebenfalls bei Cornelius über «Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und prakti­ scher Philosophie» habilitiert. Damit wurde er 1926 Privatdozent an der Goethe-Uni­ versität Frankfurt a. M. Im gleichen Jahr verheiratete er sich mit Maidon Riekher. 61 Vgl. Max Horkheimer, «Hegel und das Problem der Metaphysik», in: M. H., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Philosophische Frühschriften 1922–1932, Frankfurt, Fischer Taschenbuch Verlag, 1987, S. 307.

37 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

wie die Forschung auf dem Gebiete der außermenschlichen Natur: der Gedanke an ein zugrunde liegendes geistiges Prinzip, das notwendig höchst abstrakt sein müsste, ist ihr ganz fremd.»62 Dies zielt bereits kritisch auf Hegel, dessen vernunftorientierte dialektische «Geistphi­ losophie» die Identifikation des wirklich Bestehenden mit dem Ver­ nünftigen postuliert, ein Postulat, das später von der «negativen Dia­ lektik» Horkheimers und Adornos («Das Wirkliche ist das Falsche!») immer mehr in Frage gestellt werden wird.63 Als kritischer Zeitzeuge und Beobachter einer neuen kritischen materialistisch orientierten Soziologie, Sozialpsychologie und Sozial­ philosophie ist Horkheimer absolut davon überzeugt, dass das «20. Jahrhundert die Ära der unbegrenzten Möglichkeiten ist, in der die Errungenschaften der Technik täglich zunehmen (...) und in der die menschlichen Produktivkräfte sich ständig steigern.»64 Charakteris­ tisch für den Kapitalismus in dieser zweiten Phase der industriellen Revolution sei daher, so Horkheimer, der Umstand, «daß in Wirk­ lichkeit dessen Ökonomie so organisiert ist, daß sie mit der Moral derjenigen von Oben äußerst verwandt ist, die auf jeder Stufe die größten Chancen verspricht (garantiert). Noch weit gerechter als diese Überzeugung der kleinen Unternehmer von ihrer eigenen Moral wäre jedoch der entgegengesetzte Standpunkt.»65 Typisch für die politische Positionierung des jungen Horkheimer in dieser Periode der Massenarmut, der ständigen Wirtschaftskrisen, der Inflation und der verschärften politischen Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten, Kommunisten und Nationalsozialisten, die durch die große Wirtschaftskrise des Jahres 1929 noch weiter dra­ matisch verschärft wurden und die allmählich die Grundfesten der Weimarer Republik zum Wanken brachten, ist der desillusionierte Blick des jungen jüdischen Philosophen und Intellektuellen auf diese Gesellschaft im Prozess ihrer Zersetzung und Entstabilisierung und vor allem auf die Situation und das politische Bewusstsein des Prole­ tariats, d. h. der deutschen Arbeiterklasse als der – nach Marx – ein­ zigen Alternative zur Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Paradigma­ A. a. O., S. 307. Cf. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, Gesammelte Schriften Band 5, Frankfurt 1987, S. 16–238; Cf. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Suhrkamp, Frankfurt 1966. 64 Max Horkheimer, «Traditionelle Theorie und Kritische Theorie», Gesammelte Schriften Band 4, Frankfurt 1988, S. 173. 65 A. a. O., S. 17. 62

63

38 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

tisch dafür ist u. a. der Aphorismus Die Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse, nicht zufällig einer der längsten Aphorismen der Däm­ merung, ein Aphorismus, in dem Horkheimer eine ganze Reihe von empirisch fundierten Differenzierungen an der «klassischen» mar­ xistischen Theorie von der emanzipatorischen Rolle des Proletariats vornimmt, mit deren Hilfe es erst möglich wird, die näheren Gründe und Ursachen zu verstehen, die dazu geführt haben, dass im Januar 1933 die Nationalsozialisten mit Hitler an der Spitze in Deutschland an die Macht kommen konnten. Interessant ist diesbezüglich auch die doppelte von Horkheimer in diesem Aphorismus formulierte Kritik sowohl einerseits am Reformismus der Sozialdemokraten, die mit ihrem Real-Pragmatismus immer mehr die Theorie vergaßen, als auch andererseits am stalinistischen Sektierertum und am Dogma­ tismus der Kommunisten, die zwar viel «treuer» auf dem Boden des Marxismus standen als ihre Rivalen von der Sozialdemokratie, die sie als ihre «Hauptfeinde» bezeichneten und denunzierten («Sozialfa­ schisten»!?), die aber nicht verhindern konnten, dass eine Mehrheit der Arbeitslosen, die sie zu organisieren versuchten, dann doch lieber die Nationalsozialisten wählten. Mehr als alle anderen sozio-politi­ schen Analytiker verweist Horkheimer von Anfang an auf die tiefe Spaltung der deutschen Arbeiterklasse als einer der wesentlichen Ursachen der kommenden Niederlage: «Zwischen den in Arbeit ste­ henden und den nur ausnahmsweise oder vielmehr gar nicht Beschäf­ tigten gibt es heute eine ähnliche Kluft wie früher zwischen der gesamten Arbeiterklasse und dem Lumpenproletariat. Heute ruht der eigentliche Druck des Elends immer eindeutiger auf einer sozialen Schicht, deren Mitglieder von der Gesellschaft zu völliger Hoffnungs­ losigkeit verdammt sind. Arbeit und Elend treten auseinander, sie werden auf verschiedene Träger verteilt. Das heißt nicht etwa, es gehe den Arbeitenden gut, das Kapitalverhältnis ändere ihnen gegenüber seinen brutalen Charakter, die Existenz der Reservearmee drücke nicht mehr auf die Löhne; keineswegs: die Misere der Arbeitenden bleibt auch weiterhin Bedingung und Grundlage dieser Gesellschafts­ form, aber der Typus des tätigen Arbeiters ist nicht mehr kennzeich­ nend für die, welche am dringendsten einer Änderung bedürfen. Es vereinigt vielmehr eine gewisse untere Schicht der Arbeiterklasse, einen Teil des Proletariats, immer ausschließlich das Übel und die Unruhe des Bestehenden in sich. Diese unmittelbar und am drin­ gendsten an der Revolution interessierten Arbeitslosen besitzen aber nicht wie das Proletariat der Vorkriegszeit die Bildungsfähigkeit und

39 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

Organisierbarkeit, das Klassenbewußtsein und die Zuverlässigkeit der in der Regel doch in den kapitalistischen Betrieb Eingegliederten. Diese Masse ist schwankend, organisatorisch ist mit ihr wenig anzu­ fangen. Den Jüngeren, die nie im Arbeitsprozeß standen, fehlt bei allem Glauben das Verständnis der Theorie.»66 Dies klingt fast wie eine Replik auf Lukacs’ Thesen in Geschichte und Klassenbewußtsein, das diesbezüglich noch eine relativ marxistisch-orthodoxe Position verteidigt. Mit ähnlicher Schärfe und Desillusion analysiert nun Horkhei­ mer, der offensichtlich von Georg Lukacs, Rosa Luxemburg und Walter Benjamin beeinflusst ist, in diesem Kontext auch die Rolle der deutschen Sozialdemokratie, die seit der Niederschlagung des Spartakus-Aufstandes und der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin im Januar 1919 verstärkt dem Vorwurf des «Klassenverrats» ausgesetzt war, insofern als Gustav Noske, der Militärbeauftragte der Regierung Ebert-Scheidemann, sich eindeutig mitschuldig an der Ermordung der beiden führenden Repräsentan­ ten der gerade gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) gemacht hatte, indem er die reaktionären Freikorps, die diesen Mord begangen hatten, nach Berlin beordert hatte, um im Zentrum der Hauptstadt «Ruhe und Ordnung» wiederherzustellen. In vielen Punkten die Kritik der Kommunisten und der «revolutionären Mar­ xisten» am Reformismus der SPD-Führung teilend, kritisiert der junge Horkheimer explizit den reformistischen Flügel der Arbeiter­ bewegung, der, so Horkheimer, «das Wissen um die Unmöglichkeit einer wirksamen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auf kapitalistischem Boden verloren (hat).»67 Er bedauert diesbezüglich außerordentlich, dass eben diesem reformistischen Flügel offensicht­ lich «alle Elemente der Theorie abhanden gekommen» seien, und zwar dergestalt, dass «seine Führung das genaue Abbild der sichersten Mitglieder»68 ist. Bürokratismus, Karrierismus und wachsende Theo­ rievergessenheit habe in dieser Partei offensichtlich dazu geführt, dass «viele mit allen Mitteln suchen, sich, selbst unter Preisgabe der Max Horkheimer, «Dämmerung», in:Gesammelte Schriften Band 2: Philosophische Frühschriften 1922–1932, Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt, 1987, S. 374–375. 67 Max Horkheimer, «Die Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse»,in: ders. Gesam­ melte Schriften Band 2, Philosophische Frühschriften 1922–1932, Fischer TaschenbuchVerlag, Frankfurt 1987, 2012, S. 376. 68 A. a. O., S. 376. 66

40 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

einfachen Treue, auf ihren Posten zu erhalten; die Angst, ihre Stellung zu verlieren, wird nach und nach der einzige Erklärungsgrund ihrer Handlungen. Die immerhin noch bestehende Notwendigkeit, manche Reste ihres besseren Bewußtseins zu verdrängen, bedingt dann die stetige Bereitschaft dieser reformistischen deutschen Staatspolitiker, den Marxismus ärgerlich als überholten Irrtum abzutun. Jeder präzise theoretische Standpunkt ist ihnen verhaßter als dem Bürgertum.»69 Ähnlich wie Ernst Bloch, der in dem Buch Erbschaft dieser Zeit (1935) in vergleichbaren Formulierungen und Worten die «Verwäs­ serung» des Marxismus durch den «sozialdemokratischen Reformis­ mus» kritisiert, nimmt Horkheimer Anstoß an der typisch sozialde­ mokratischen Realpolitik sowie an einem politischen Pragmatismus, der die Tatsachen akzeptiert sowie an der Unart, «alles mit der glei­ chen grauen Farbe des Relativismus, Historismus, Soziologismus anzuschmieren.» (...) «Diese Ideologen der reformistischen Realpo­ litik», so Horkheimer, «erweisen sich insofern als Nachfahren des von ihnen vielfach bekämpften bürgerlichen Positivismus, als sie gegen die Theorie und für (die) Anerkennung der Tatsachen sind. (...) Die ihr entsprechende Philosophie mutet daher unparteiisch und illusi­ onslos an.» Als eine Art und Weise, sich mit dem schlechten Gang der Dinge abzufinden, neige sie dazu, «die irdische Resignation mit dem vagen Glauben an ein ganz unbestimmtes transzendentales oder reli­ giöses Prinzip zu verbinden.»70 Dies wiederum habe sein Pendant in einer Art von «unglücklicher Liebe zum Konkreten», das von ihnen jedoch nicht «durch die bewußte Parteinahme im geschichtlichen Kampf (…) organisiert wird.»71 Dieser «Revisionismus» der Sozial­ demokratie war in der Tat das Ergebnis der theoretischen Wende die­ ser großen Arbeiterpartei, die bereits 1899 durch die Veröffentlichung des Buches von Eduard Bernstein Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie eingeleitet wurde, eine Veröf­ fentlichung, auf die u. a. Rosa Luxemburg mit ihrer Streitschrift Sozi­ alreform oder Revolution?72 (1899) reagiert hatte, in der sie in sehr scharfer Form Bernstein des «Revisionismus» beschuldigte. Wie u. a. Michael Löwy in seinem Buch über Rosa Luxemburg unterstreicht, Ebd. A. a. O., S. 377. 71 Ebd. 72 Cf. Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution? (1899), in: R. L. Gesammelte Werke 1/1, Erster Halbband, Karl Dietz-Verlag, Berlin, 2000. 69

70

41 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

hat für Bernstein «der Sozialismus keine objektive materielle Fun­ dierung (Grundlage) mehr in den Widersprüchen des Kapitalismus und im Klassenkampf (…); er sucht für ihn vielmehr ein anderes ethi­ sches Fundament in den ewigen Prinzipien der Moral, des Rechts und der Justiz.»73 Und er findet dies – ähnlich wie Max Adler – durch den Rekurs auf Kant, der nun gegen den Materialismus aufgeboten wird. Mit anderen Worten: Die erhabene Moral von Kant werde nun zum Fundament des ewigen universellen menschlichen Handelns.»74 In ihrer Replik in ihrer Streitschrift aus dem Jahre 1899 hatte Rosa Luxemburg diese Thesen Bernsteins mit dem Hinweis darauf als «revisionistisch» verdammt, dass «der Sozialismus immer not­ wendig das Ergebnis des Zusammenbruchs des kapitalistischen Sys­ tems ist und sein wird, und zwar infolge seiner eigenen ökonomischen Widersprüche und des Klassenkampfs, und daß er folglich niemals auf ein alleingültiges ‹Gerechtigkeitsprinzip› reduzierbar ist.»75 Dass in diesem innerparteilichen Konflikt zwischen zwei verschiedenen poli­ tischen Linien – einer sozialrevolutionären und einer reformistischen – der mehrere Jahrzehnte dauerte, letztendlich der reformistische Flü­ gel um Bernstein und Kautsky die Überhand gewann, zeigte sich klar bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als im August 1914 die Mehr­ heitssozialdemokratie mit ihrem «Sozialpatriotismus» für die Kriegs­ kredite des Kaisers Wilhelm II. stimmte. Nach der Ansicht von Hork­ heimer wird jedoch diese offensichtliche Schwäche der deutschen Sozialdemokratie – Theoriefeindlichkeit, Soziologismus, Relativis­ mus, Kapitulation vor den schlechten Tatsachen, «realistischer» Prag­ matismus, «Patriotismus» statt Internationalismus – keineswegs in effizienter und überzeugender Weise korrigiert oder kompensiert durch die Kommunisten, die zwar das materialistische Prinzip viel besser verteidigen, gleichzeitig aber im Streit mit den Sozialdemo­ kraten «viel zu wenig Gründe» hätten; d. h. sie verweisen, so unter­ streicht Horkheimer, «häufig anstatt auf Gründe bloß auf die Auto­ rität. In der Überzeugung, die ganze Wahrheit für sich zu haben, nehmen sie es mit den einzelnen Wahrheiten nicht so genau und Michael Löwy, Rosa Luxemburg oder der zündende Funke der Revolution. Ein Essay, aus dem Französischen übersetzt von Arno Münster, VSA Verlag Hamburg, 2020, S. 11–12. 74 M. Löwy, a. a. O. S. 12. 75 Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: R. L., Gesammelte Werke Band 1: 1893–1905. Erster Halbband, Karl Dietz Verlag, Berlin, 2000. 73

42 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

bringen ihre besserwissenden Gegner mit moralischer, notfalls auch mit physischer Gewalt(!) zur Räson.»76 In diesen Worten kritisiert Horkheimer nichts anderes als die Stalinisierung der KPD und die damit einhergehende Kanonisierung des Marxismus-Leninismus in der Sowjetunion zum Zweck der ideo­ logischen Rechtfertigung – im Namen der Diktatur des Proletariats – einer Diktatur der Apparatschiks im Namen einer von dem General­ sekretär der Kommunistischen Partei autoritär-zentralistisch geführ­ ten staatlichen Diktatur, in der alle Macht in den Händen des Gene­ ralsekretärs der Einheitspartei konzentriert ist. Aber trotzdem existiere, so schlussfolgert Horkheimer, «in beiden Parteien», d. h. bei den Sozialdemokraten und bei den Kommunisten, dennoch noch «ein Teil der Kräfte, von denen die Zukunft der Menschheit abhängt.»77 Dass diese dennoch – wegen dieser tiefen Spaltung der Arbeiterbe­ wegung und der Linken in Deutschland – nicht in der Lage waren, sich in der Periode 1930–1933 taktisch zusammenzuschließen, wenigstens um den Hitlerfaschismus und den Nationalsozialismus zu verhindern, dieses tragische politische Defizit und Versagen, das Deutschland und Europa in die größte Katastrophe der Menschheits­ geschichte stürzen sollte, wird von Horkheimer, der diese Notizen in Deutschland in den Jahren 1926–1932 verfasst hat, zwar in diesem Zusammenhang – paradoxerweise – nicht explizit thematisiert, aber die «dunkle Vorahnung» davon schwebt dennoch gewissermaßen über diesen tiefschürfenden kritischen Aphorismen, die v. a. die Bewusstseinsformen der Massen, der Arbeiter, der Angestellten und der verunsicherten Mittelklasse in der Alltagswelt eines Kapitalismus analysieren, der offensichtlich, eben weil die Kräfte, die auf seine Überwindung und auf eine soziale Revolution hinarbeiten, organisa­ torisch und politisch einfach zu schwach sind, eher zum Faschismus tendiert. «Heute», so Horkheimer, eben weil die industrielle Arbeiter­ schaft in Deutschland in ihrer großen Mehrheit, offensichtlich aus der Angst davor, den Arbeitsplatz zu verlieren, nicht zu einer revolutio­ nären Aktion bereit ist, «ruht der eigentliche Druck des Elends immer eindeutiger auf einer sozialen Schicht, deren Mitglieder von der Gesellschaft zur totalen Hoffnungslosigkeit verurteilt sind.»78 Diese 76 77 78

A. a. O., S. 378. Ebd. Horkheimer, a. a. O., S. 374.

43 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

Schicht aber sei schwer organisierbar und zusätzlich verurteile das ständige «Fluktuieren großer Schichten von Erwerbslosen zwischen kommunistischer und nationalsozialistischer Partei (...) die Arbeiter zur faktischen Ohnmacht.»79 «Weil nahezu jeder, der noch Arbeit hat, angesichts der Gewißheit, ins Elend der Arbeitslosigkeit hinabzusin­ ken, der kommunistischen Streikparole nicht Folge leistet, weil sogar die Arbeitslosen vor dem furchtbaren Machtapparat (…), der bloß darauf wartet, im Innern ‹eingesetzt› zu werden und alle Waffen vom Gummiknüppel über die Maschinengewehre bis zum wirksamsten Giftgas in einem frischfröhlichen, ganz bestimmt unriskanten Bür­ gerkrieg zu probieren, hoffnungslos und phlegmatisch werden, sinken die besonderen Anweisungen der Partei vorerst zur Bedeutungslo­ sigkeit herab, was notwendig auf die Zusammensetzung und Verfas­ sung ihrer Führung den ungünstigsten Einfluß ausüben muß.»80 Genau dies war jedoch rückblickend gesehen der eigentliche Grund für das Scheitern der «März-Aktion» der KPD im Jahre 1923, d. h. des geplanten «Generalstreiks», der durch den Streik der Bergarbeiter von Mansfeld (in Thüringen) ausgelöst werden sollte. Was aber nützt die beste Planung, so könnte man schlussfolgern, wenn, wie Horkheimer ernüchtert in seinem Aphorismus «Der leider stabilisierte Kapitalis­ mus» der Dämmerung feststellt, der Zeitpunkt für die soziale Revo­ lution ja vor allem «von dem Willen der Menschen abhängt»81, die sie durchführen sollen? Dieser Wille kann ihnen nicht von außen aufge­ zwungen werden, wenn sie – aus den verschiedensten Gründen – nicht so richtig «wollen». «Der Wille aber,» so Horkheimer, «ist ver­ schieden je nachdem ob man in der gegenwärtigen Gesellschaft ein geistiges Leben führen darf oder ob einem alles versagt ist und man an ihr zugrunde geht. Ich habe gegenwärtig, in den Jahren 1927 und 1928, von ‹literarisch radikaler› Seite den Satz, daß der Kapita­ lismus auf lange hinaus wieder stabilisiert sei, niemals mit dem Aus­ druck solcher Niedergeschlagenheit aussprechen hören, wie er etwa die Mitteilung eines persönlichen Mißgeschicks zu begleiten pflegt. Ich glaube entdeckt zu haben, daß häufig das Bewußtsein, mit der Feststellung dieser Stabilität eine lobenswerte Gefaßtheit und einen schönen Weitblick zu beweisen, eine ziemlich gewichtige Kompen­

79 80 81

A. a. O., S. 375. A. a. O., S. 376. A. a. O., S. 397.

44 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

sation für den Sprechenden bildet. Es gibt ja für uns so viele Kom­ pensationen – mit der Größe des Einkommens nehmen sie zu!»82 Der Ausgang der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 mit der Massenarbeitslosigkeit und dem spektakulären großen Zuwachs an Wählerstimmen für die NSDAP bestätigte diese pessimistischskeptische Einschätzung der politischen Situation in Deutschland durch Horkheimer. Gemäß der «klassischen» marxistischen Theorie der zyklischen Überproduktionskrisen des Kapitalismus hätte diese weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise notwendig zum Zusammenbruch des Systems, auch und vor allem infolge des spektakulären Einsturzes der Börse von New York führen müssen; stattdessen jedoch erholte sich – entgegen aller Voraussagen – der Weltkapitalismus erstaunli­ cherweise relativ schnell von diesem Schock und statt des erwarteten Zusammenbruchs stabilisierte er sich und das System langsam und allmählich. Die durch die massive Arbeitslosigkeit in die Armut getriebenen Massen in Deutschland wurden durch diese Krise jedoch in die Arme der demagogischen ultranationalistischen und antise­ mitischen Propaganda der Nazis getrieben, was den spektakulären Zuwachs des Votums für die NSDAP bei den Parlamentswahlen der Jahre 1930, 1932 und 1933 erklärt. Die Ursache dafür war Max Horkheimer zufolge jedoch nicht nur die ökonomische Katastrophe, sondern auch die psychische Disposition der Massen, die schon sehr früh vor allem durch ein zu autoritäres Erziehungs- und Schulsystem viel zu diszipliniert waren und die deshalb keine richtige Widerstands­ bereitschaft mehr gegen Diktatursysteme entwickeln konnten. Wie Horkheimer in dem Aphorismus Grenzen der Freiheit der Dämmerung unterstreicht, bildet der «psychische Haushalt des Einzelnen einen wichtigen Bestandteil des Machtapparats der herrschenden Klasse.»83 Und dieser ist in diesem System der Erziehung außerordentlich hart und intolerant gegen seine Kritiker. «Du kannst die berühmtesten Gelehrten», so Horkheimer, «sogar Politiker und Industriegrößen des Landes abfällig behandeln, aber bei der ersten wirklich verächtlichen Bemerkung über Gott selbst oder gar das deutsche Vaterland und das Feld der Ehre, auf dem die Masse zu fallen bereit sein soll, wirst Du gleich an Dir selbst das unmittelbare Interesse, das der Kapitalismus an der Unberührtheit dieser Begriffe besitzt, erfahren (…). Heute 82 83

Ebd. A. a. O., S. 331 (Aphor. «Grenzen der Freiheit»).

45 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

steckt schon in dem Unwillen über den ‹Aufkläricht›, mit dem allen ernsthaften religionskritischen Schriften begegnet wird, die Drohung der Prügel oder des Totschlags, die den Feind der religiösen oder nationalen Lüge bei Gelegenheit erwarten. (...) In dieser Verfolgung, in der schonungslosen Unterdrückung der entscheidenden Erkennt­ nisse sind die Kapitalisten jeder Spielart wahrhaftig miteinander einig, darin besteht eine Klassensolidarität, das große kulturelle Band. In die Werkstätten der Fabriken, in die Bergwerke, in die Büros werden die Proletarier schon vom Hunger getrieben; damit sie sich auf den Schlachtfeldern zu Millionen verstümmeln, erschießen, vergiften lassen, braucht man eine latente Begeisterung, welche ohne die fetischisierten und verschlungenen Begriffe von Volk und Kirche nicht aufrechtzuerhalten ist. Diese gehören unmittelbar zum Bestand des Systems, wer sich an ihnen vergreift, rührt an seine Grundfesten.»84 Obwohl diese sehr kritischen Anmerkungen des jungen Hork­ heimer zum offiziellen «Patriotismus» eines autoritären reaktionären Schulsystems in erster Linie bezweckten, die ideologischen Manipu­ lationen zu kritisieren, die u. a. dazu geführt hatten, dass Millionen von Rekruten in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, angesta­ chelt von der nationalistischen Propaganda, ihr Leben für «Volk und Vaterland» opfern mussten, ohne sich dagegen aufzulehnen,85 haben sie auch die Funktion, auf die psychologischen Dispositionen und Grundvoraussetzungen dieser manipulierten Massen zu unterstrei­ chen, und hier in erster Linie die sozio-psychischen Folgen der bru­ talen Abrichtung (Dressur) der Kinder durch ein sehr autoritäres Schulsystem, d. h. der sehr frühen Abrichtung der Kinder und Jugend­ lichen zum Kadaver-Gehorsam (auch in der Familie). Außerdem unterstreicht Horkheimer auch noch – bezüglich der «Aufklärung» – die Differenz zwischen Deutschland und Frankreich, wo infolge der Französischen Revolution und des Sturzes der Monarchie die Toleranz gegenüber freigeistigen Strömungen, der Aufklärung im Allgemeinen und auch gegenüber dem Atheismus im 19. Jahrhundert wesentlich größer gewesen sei als in Deutschland, wo die kurzfristige Duldung A. a. O., S. 331–332. Max Horkheimer, der von 1914 an im väterlichen Unternehmen in Stuttgart-Zuf­ fenhausen gearbeitet hatte, war im letzten Kriegsjahr 1917–1918 selbst zum Kriegs­ dienst eingezogen worden. Seine Erwähnung der deutschen Schützengräben und des deutschen Patriotismus hat deshalb durchaus einen autobiographischen Hintergund (A. M.). 84

85

46 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

des Atheismus im Zuge der Bekämpfung des Feudalregimes relativ schnell beendet wurde. Fazit: «In einer Epoche, in der die menschliche Gesellschaft noch nicht weiter ist als jetzt, gibt es auch in den fortge­ schrittensten Menschen noch Bezirke, in denen sie Spießbürger sind. Soweit die Menschen sich nicht selbst helfen können, bedürfen sie der Fetische, und wären es die ihrer Not und Verlassenheit.»86 Die Reli­ gion als «Zufluchtsort» der Verzweifelten und als «Seufzer der bedrängten Kreatur». So sah es schon kein anderer als Karl Marx in seiner berühmten Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphiloso­ phie (1843)87. Mit dieser Kritik am religiösen Obskurantismus und an den «philosophischen Dienern der Religion» steht der junge Hork­ heimer ganz klar in der «Lichtlinie» der Aufklärung und ihrer Dekon­ struktion jeglicher Formen des religiösen Dogmatismus und Fanatis­ mus seit Descartes und Spinoza, jedoch erweitert um die soziale Dimension der Marx’schen Religionskritik: «Gegen die philosophi­ schen Diener der Religion sei gesagt, daß die Notwendigkeit, aus der Religionslosigkeit eine Religion zu machen, eine faktische und keine logische Notwendigkeit ist. Es gibt keinen logisch zwingenden Grund, an die Stelle des gestürzten Absoluten irgendein anderes Absolutes, an die Stelle der gestürzten Götter andere, an die der Anbetung die Leugnung zu setzen. Die Menschen könnten selbst heute schon die Religionslosigkeit vergessen. Aber sie sind zu schwach dazu.»88 Bei diesen kritischen Anmerkungen des Agnostikers Horkhei­ mer zum religiösen «Elend», seinen tief in der Psyche der Menschen verankerten Wurzeln und zum Atheismus handelt es sich nicht nur um die Reflexionen eines jungen marxistischen Intellektuellen und Moralphilosophen mit einer stark ausgeprägten Sensibilität für die Leiden der vom Kapitalismus Erniedrigten, Beleidigten und Ausge­ beuteten, sondern auch um das politische Credo eines kritischen, für die soziale Gleichheit und Gerechtigkeit engagierten Akademikers und Zeitzeugen, der ideologisch-politisch den linken Parteien und den Gewerkschaften zwar nahesteht, aber parteipolitisch nicht so gebun­ A. a. O., S. 379 (Aphorismus «Atheismus und Religion»). «Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.»(Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, in: Marx/Engels, Werke Band 1, Dietz-Verlag Berlin, 1964, S. 378. 88 Max Horkheimer, Dämmerung, Aphorismus «Atheismus und Religion» (Anmer­ kung), a. a. O., S. 379. 86 87

47 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

den ist, dass er darauf verzichten könnte, auch offensichtliche Fehler und Schwächen der traditionellen Organisationen der Arbeiterbewe­ gung (SPD und Gewerkschaften) zu kritisieren. Horkheimer ist prin­ zipiell «unterparteilich». Typisch dafür sind u. a. die kritischen Anmerkungen Horkheimers in der Dämmerung zur Gewerkschafts­ bürokratie und zu ihren Funktionären, die ja sehr realistisch das Dilemma beschreiben, in dem sich die sozialdemokratisch geführte Gewerkschaftsbewegung des ADGB in ihrer traditionellen «Mittler­ rolle» zwischen den «Unternehmern» und den «Unternomme­ nen» (Ernst Bloch) befindet: «Daß die Ansichten von Gewerkschaftsfunktionären häufig viel reak­ tionärer sind als die bürgerlicher Demokraten, läßt sich gut verstehen. Jene Funktionäre sollen von den Unternehmern immer Vorteile für die Arbeiter herausholen. Wenn ihnen das nicht in erwünschtem Maß gelingt, bekommen sie Vorwürfe und enttäuschte Gesichter zu sehen. Von den Arbeitern werden sie zwar bezahlt, aber ihre Leistung ist kraft der Mechanik des ökonomischen Systems immer ungenügend. Wie sollten sie da nicht auf ihren unersättlichen, unruhigen, unbequemen Mandanten ärgerlich werden und für reformistische Theorien beson­ deres Verständnis haben, welche – mit Ausnahme von ihren Posten – die Ansprüche der Arbeiterklasse preiszugeben tendieren.»89

Dies ist eine ganz klare Anspielung auf die unabweisliche Tatsache, dass es gerade diese starke interne «Gewerkschaftsbindung» der SPD war, die in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung seit 1900 dazu geführt hatte, dass der eindeutig reformistische Flügel in der Führung der Partei allmählich die Oberhand gewann und dass die sozialrevolutionären Kräfte auf dem linken Parteiflügel immer mehr an den Rand gedrängt wurden – mit fatalen Folgen wie z. B. der Zustimmung zu den Kriegskrediten von Kaiser Wilhelm II. im August 1914 und – noch schlimmer – anlässlich des Spartakus-Aufstands im Januar 1919, wo die rechte SPD-Führung unter Ebert, Scheidemann und Noske sich indirekt an der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht durch die «Freikorps» im Januar 1919 mitschuldig gemacht hatte. In diesem Kontext verdienen auch die Äußerungen des jungen Horkheimer zum Engagement und zur Betätigung des kritischen –

Max Horkheimer, Dämmerung, Aphorismus «Gewerkschaftsbürokratie», a. a. O., S. 445–446.

89

48 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

im Sinne Gramscis – «organischen» Intellektuellen in einer proletari­ schen Partei Beachtung: «Betätigung in einer proletarischen Partei hat die Abschaffung der Ausbeutung zum Ziel. Die Stärkung dieser Partei bedingt aber mittelbar eine Verschärfung des Drucks auf die beherrschte Klasse und dazu noch den erbarmungslosen Kampf gegen alle, die der Sympathie mit ihr verdächtig sind. Je näher die Entscheidung rückt, um so furcht­ barere Maßnahmen der Unterdrückung ergreifen die Herrschenden, der Bürgerkrieg selbst, auf den die Partei in der historischen Dynamik hingetrieben wird, enthält alle Scheußlichkeiten der Erde. Siegt die alte Ordnung, so beginnt der Terror und das endlose Grauen. Das alles haben diejenigen stets mit in Kauf nehmen müssen, denen es ernsthaft um die Verbesserung der Gesellschaft zu tun war. Die Hand­ lung, mit der geholfen werden soll, ist verflucht, das Elend zu vermeh­ ren. Wenn das zynische Mitglied der Herrenklasse dem asketischen Revolutionär vorwirft, er bedinge namenlose Leiden, hat er nicht ein­ mal unrecht. Das ist die Welt.»90 Der spanische Bürgerkrieg (1936– 1939) mit all seinen «Scheußlichkeiten», die Klassenkämpfe in Chile91 nach der Wahl des sozialistischen Volksfront-Präsidenten Salvador Allende in der Periode von 1970 bis 1973 sowie die darauffolgende Pinochet-Diktatur bestätigten im Nachhinein diese pessimistische Prognose Horkheimers. Dennoch aber könnte man seine kritische Bemerkung in diesem Zusammenhang bezüglich des «Unrechtha­ bens» des «asketischen Revolutionärs» anzweifeln. Er wäre ja wohl der Letzte, dem man ernsthaft den Vorwurf machen könnte, haupt­ sächlich für diese «namenlosen» Leiden verantwortlich gewesen zu sein. Es hat wenig Sinn, den grundsätzlichen Antagonismus zwischen Opfer und Henker zu verwischen. Hier gleich noch eine zusätzliche Anmerkung zum «Moralphilo­ sophen» Horkheimer: Wie schon an anderer Stelle vermerkt, unter­ scheidet sich Horkheimers heterodox-marxistische Moralphilosophie von der eines La Rochefoucault oder Friedrich Nietzsche eben dadurch, dass sie permanent ihren entmystifizierenden kritischen Blick auf eine inhumane, harte, kalte und erbarmungslose Klassen­ gesellschaft richtet, deren Widersprüche in einer eindeutig marxisti­ schen Perspektive schonungslos enthüllt und angeprangert werden, Aphorismus «Das ist die Welt» in: M.H., Dämmerung, a. a. O., S. 445. Vgl. Arno Münster, Chile – friedlicher Weg? (Historischer Bericht und politische Analyse), Wagenbach-Verlag, Berlin 1972; Neuauflage, Berlin, 1973.

90 91

49 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

und zwar in der Form einer durch sozialpsychologische Aperçus angereicherte dialektisch-materialistischen Analyse, die sich zum Ziel gesetzt hat, den «Dingen auf den Grund zu gehen» und sie stets «an der Wurzel», nicht nur ihrer sozio-ökonomischen, sondern auch sozialpsychologischen Wurzel, zu packen. Ihr erklärtes Ziel ist daher das illusionslose Aufzeigen der großen sozialen Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Systems, der Brutalität der Großgrundbesitzer, der Unternehmer und Fabrikbesitzer92, der reaktionären Mentalität der herrschenden Klasse – immer mit der Zielvorstellung einer mög­ lichen radikalen Veränderung der ökonomischen Verhältnisse und der Neuordnung der Wirtschaft unter dem Zeichen des Sozialismus. Wie aber definiert Horkheimer diesen «Sozialismus»? In der Dämmerung definiert Horkheimer den herbeigesehnten, aber alles andere als leicht zu realisierenden Sozialismus nicht nur als die Wunschutopie der ausgebeuteten und entfremdeten arbeiten­ den Klasse vom unaufhaltsamen Kommen der neuen Ära eines «bes­ seren Lebens» der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit und des Endes der bürgerlichen Klassengesellschaft, sondern auch als die Verwirklichung einer «klassenlosen Planwirtschaft», durch die «die Auswirkungen des Produktionsprozesses auf die Menschen und ihre Beziehungen verstanden und gesteuert werden können.» Wie es in dem Aphorismus Skepsis und Moral so schön heißt, ist «der Sozialis­ mus eine bessere, zweckmäßigere Gesellschaftsform, deren Elemente gewisserweise im Kapitalismus vorhanden sind. Es bestehen im Kapi­ talismus «Tendenzen, die auf einen Umschlag des Systems hintrei­ ben.»93 Diese «Tendenz-Latenz» ist, und das wäre gleichzeitig auch die Ansicht Ernst Blochs, die eigentlich vorwärts treibende Kraft, die eigentliche Dynamik der hier anstehenden sozialen Transformation, jener «Umwälzung» der ökonomischen Verhältnisse, deren Ziel – nach Marx/Engels – der Sozialismus ist. Zugleich aber gibt uns Horkheimer mit diesen Anmerkungen zum Sozialismus zu bedenken, dass «das Erfahrungsmaterial, auf Grund dessen wir annehmen, daß die Tendenzen sich wirklich durchsetzen, sehr gering ist. Niemand Der 1895 in Stuttgart-Zuffenhausen geborene Max Horkheimer war selbst der Sohn eines jüdischen Fabrikanten, d. h. von Moses Horkheimer, der seine Fabrik «patriarchalisch» leitete. Der junge Max Horkheimer hatte selbst in der Zeit vor seinem Studium von 1914–1918 in dem väterlichen Betrieb gearbeitet.(A. M.). 93 Max Horkheimer, Aphorismus «Skepsis und Moral», in: Dämmerung, a. a. O., S. 342. 92

50 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

vertraute sich ohne äußerste Gefahr der Brücke über einen Abgrund an, deren Konstruktionsprinzipien auf keine exakteren Erfahrungen begründet wären als der Eintritt des Sozialismus.»94 Gewiss ist der Sozialismus, den Erwartungen seiner theoretischen Begründer und denjenigen der großen Mehrheit seiner Anhänger und Befürworter entsprechend, die «Morgenröte» der Gesellschaft, aber einer zukünf­ tigen Gesellschaft, in der «die Freude nicht aus der Natur der zu leistenden Arbeit hervorgehen wird»; denn dies anzustreben, so Horkheimer, wäre «ganz reaktionär». «Die Arbeit wird vielmehr des­ halb gern verrichtet werden, weil sie einer solidarischen Gesellschaft dient.»95 Beachtung verdient hier auch der Umstand, dass die Verteidigung des Sozialismus als der unbestritten besten Ausdrucksform der poli­ tischen Emanzipation der unterdrückten und ausgebeuteten Massen bei Horkheimer im Kontext der globalen Verteidigung des ‹Fort­ schritts› erfolgt, einer Diskussion, in der Horkheimer erstaunlicher­ weise eine ganz andere Position vertritt als sein Freund Walter Ben­ jamin, für den «der Begriff des Fortschritts in der Idee der Katastrophe zu fundieren ist.» Für den Autor der Geschichtsphilosophischen Thesen (1940) gibt es keinerlei Zweifel daran, dass, wenn es mit dem tech­ nologisch-wissenschaftlichen Fortschritt «so weiter geht», dies die Katastrophe ist. «Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene. (...) Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.»96 Demgegenüber hält Horkhei­ mer in seiner Polemik gegen die «literarischen Diener der Herrschen­ den» unter den Repräsentanten einer positivistischen Geschichtsphi­ losophie seiner Epoche an der Idee des Fortschritts im «materialistischen Sinn (…) von einer sozialistischen Neuorgani­ sation der Gesellschaft» fest, die nicht nur das Ziel einer «besseren Versorgung der Menschheit mit dem Notwendigsten» verfolge, son­ dern auch «die Verwirklichung aller sogenannten kulturellen oder ideellen Werte.» Gleichzeitig aber widerspricht er auch dem späteren ebenfalls auf den historischen Materialismus gegründeten Ebd. A. a. O., S. 411 (Aphorismus «Arbeitsfreude» (Anmerkung)). 96 Walter Benjamin, «Thesen zum Begriff der Geschichte» (1940), in: W.B., Illumi­ nationen (Ausgewählte Schriften), Suhrkamp, Frankfurt, 1977, S. 251–263; vgl. Arno Münster, Progrès et catastrophe. Walter Benjamin et l’Histoire.(L’itinéraire philoso­ phique d’un marxisme «mélancolique»), Kimé, Paris, 1996. 94 95

51 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

Geschichtspessimismus durch die Feststellung: «Daß der gesell­ schaftliche Fortschritt nicht stattfinden muß, hat in der Tat seine Rich­ tigkeit, daß er nicht stattfinden kann, ist eine plumpe Lüge; daß es aber einseitig wäre, die Geschichte der Menschheit an dem Maßstab zu messen, wieweit sie ihren Mitgliedern ein erträgliches Dasein bie­ tet, ist wirklich bloß philosophisches Geschwätz.»97 Und er hält den schon zitierten bürgerlichen Kritikern des sozialistischen Fortschritt­ begriffs entgegen: «Was heißt denn Fortschritt? Das Maß des Fort­ schritts kann doch nur die Annäherung an die Verwirklichung irgend­ eines einzelnen und relativ zufälligen Wertes sein. (...) Aus ihrer Wut gegen den sozialistischen Kampf um eine bessere Welt, der seine Hoffnung aus den Resultaten der früheren Kämpfe, vor allem aus den Revolutionen der letzten Jahrhunderte schöpft, machen sie dann ihre sogenannte Geschichtsphilosophie. Als ob es nicht klar wäre, welcher Fortschritt von den Sozialisten gemeint und von der Reaktion theo­ retisch und praktisch bekämpft wird: die Verbesserung der materiellen Existenz durch eine zweckmäßigere Gestaltung der menschlichen Verhältnisse! Für die Mehrheit der Menschen, ob sie es weiß oder nicht, bedeutet diese Verbesserung keineswegs bloß die Verwirk­ lichung eines relativ zufälligen Werts, sondern das Wichtigste auf der Welt.»98 Wie man sieht, teilte der junge Horkheimer der Dämmerung trotz seiner Kritik am Reformismus und am Bürokratismus der Gewerkschaften noch den damals weit verbreiteten Fortschrittsopti­ mismus der Sozialdemokratie. Erst im Laufe der vierziger Jahre sollte sich, nicht zuletzt unter dem wachsenden Einfluss von Walter Benja­ min, Adorno und Marcuse, seine diesbezügliche Position im Sinne einer pessimistischeren Sicht verändern. Wie u. a. auch die französi­ schen Germanisten und Horkheimer-Übersetzer Sabine Cornille und Philippe Ivernel in ihrer Einleitung zur französischen Ausgabe der Dämmerung unterstreichen, ist der Sozialismus für den jungen Hork­ heimer wie für Rosa Luxemburg gleichbedeutend mit dem «Fort­ schritt der Menschheit und einer besseren, funktionelleren Gesell­ schaft; und die Verwirklichung des Sozialismus ist die Verkörperung der Moral in der Gegenwart.»99 Unverkennbar scheint in diesem 97 Max Horkheimer, «Der Fortschritt», in: «Dämmerung», Ges. Schriften Band 2, Frankfurt, S. Fischer, 1987, 2012, S. 419. 98 A. a. O., S. 418. 99 Vgl. Einleitung von S. Cornille und Philippe Ivernel zu: Max Horkheimer, Crépus­ cule, Notes en Allemagne (1926–1931), Payot, Paris, 1994, S. VI, Fußnote 1.

52 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

Punkte auch die Übereinstimmung mit Ernst Bloch zu sein, der ebenso wie der junge Horkheimer vom Sozialismus träumt, dem orthodo­ xen «Kältestrom» des kanonisierten Marxismus-Leninismus-Stali­ nismus mit seiner Dogmatisierung der Marxschen Kritik der politi­ schen Ökonomie jedoch den utopischen «Wärmestrom» eines Sozialismus als dem antizipierten Humanum entgegenstellt wie auch – eher in der Linie von Rosa Luxemburg – einen Sozialismus als «Moral». Bezüglich dieser Übereinstimmung mit dem jungen Horkheimer ist es daher naheliegend, hier auch auf den letzten Abschnitt des 41. Kapitels des Buches Experimentum Mundi (1975) von Ernst Bloch zu verweisen, dessen letztes Unterkapitel Ideale in der Moral ohne Eigentum betitelt ist und wo es so schön heißt: «Echter, sich kennender, sich könnender Kommunismus hat dasjenige zu sein, was unter dem Namen Moral so lange vergebens gesucht ward.»100 Dieser «Kommunismus der Moral» hat nach Ernst Bloch absolut nichts gemein mit einer bürokratisch-totalitären Diktatur der Appa­ ratschiks, wie er sich in der Sowjetunion unter Stalin präsentierte und auch in der DDR, sondern er ist nichts anderes als die Verwirklichung des alten utopischen Menschheitsideals von einer brüderlichen ega­ litären Gesellschaft ohne Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung, in der alle Menschen – wie in der «Utopia» (1516) des Thomas Morus – frei nach ihren Bedürfnissen leben und frei von allen staatlichen Zwängen ihre schöpferischen Möglichkeiten entfalten können. Und in dieser Perspektive ist auch Horkheimers Dämmerung nichts ande­ res als die kritische Analyse der Dekadenzphase des Kapitalismus, der, wie bereits im allerersten Aphorismus der Dämmerung angedeutet wird, sich in einem fortgeschrittenen Stadium befindet: «Der Verstand der Massen hat in Europa mit der großen Industrie so zugenommen, dass die heiligsten Güter vor ihm behütet werden müssen. Wer sie gut verteidigt, hat seine Karriere schon gemacht; wehe dem, der mit einfachen Worten die Wahrheit sagt: neben der allgemei­ nen, systematisch betriebenen Verdummung verhindert die Drohung mit wirtschaftlichem Ruin, gesellschaftlicher Ächtung, Zuchthaus und Tod, dass der Verstand sich an den höchsten begrifflichen Herrschafts­ mitteln vergreife. Der Imperialismus der großen europäischen Staaten hat das Mittelalter nicht um seine Holzstöße zu beneiden; seine Symbole sind durch feinere Apparate und furchtbarer gerüstete Garden 100 Ernst Bloch, Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, Suhrkamp, Frankfurt 1975, S. 196.

53 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

beschützt als die Heiligen der mittelalterlichen Kirche. Die Gegner der Inquisition haben jene Dämmerung zum Anbruch eines Tages gemacht, auch die Dämmerung des Kapitalismus braucht nicht die Nacht der Menschheit einzuleiten, die ihr heute freilich zu drohen scheint.»101

Unbestritten ist, dass für Horkheimer diese «Morgenröte eines neuen Tages», die er mit dem Sozialismus gleichsetzt, eines Tages sehr wohl der Unrechtsordnung und der Herrschaft des Geldes ein Ende bereiten werde, und zwar durch den politischen Kampf für die soziale Emanzipation sowie für eine rationalere Wirtschaftsordnung, die endgültig Schluss macht mit dem «Irrationalismus» der auf das Geld gegründeten kapitalistischen Wirtschaft, mit dem Privateigentum und mit dem wilden Konkurrenzkampf. «Die proletarische Forderung», heißt es dazu weiter in dem Aphorismus Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen, «geht auf Reduktion der Arbeit. Sie bezweckt nicht, daß in einer künftigen, besseren Gesellschaft einer davon abgehalten werde, sich nach sei­ ner Lust zu betätigen, sondern sie geht darauf aus, die zum Leben der Gesellschaft erforderlichen Verrichtungen zu rationalisieren und gleich zu verteilen. Sie will dem Zwang und nicht der Freiheit, dem Leid und nicht der Lust eine Schranke setzen. In einer vernünftigen Gesellschaft verändert der Begriff der Arbeit seinen Sinn.»102 Wie Horkheimer unterstreicht, verklärt der Satz «Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen» die herrschende Ordnung: «Er rechtfertigt die Kapitalisten, denn sie arbeiten; er trifft die Ärmsten mit einem Verdammungsurteil, denn sie arbeiten nicht. Der Bour­ geoisie gelingt es überall, einen ursprünglich von ihr selbst gefaßten revolutionären, von den Sozialisten in seiner Allgemeinheit festge­ haltenen Gedanken mit der reaktionären Moral der herrschenden Klasse zu versöhnen. Aber das Wort zielt auf eine zukünftige Gesell­ schaft, und die Konsequenz aus ihm für die Gegenwart ist nicht etwa die Heiligung der Arbeit, sondern der Kampf gegen ihre heutige Gestalt.»103 Diesbezüglich gibt Horkheimer in dem Aphorismus «Die gute alte Zeit» der Dämmerung auch noch zu bedenken, dass in der 101 Max Horkheimer, Dämmerung, in: Gesammelte Schriften Band 2: Philosophische Frühschriften (1922–1932), S. Fischer, Frankfurt 1987, S. 313. 102 A. a. O., S. 405–406. 103 A. a. O., S. 406.

54 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

Geschichte «der Druck der Herrenklasse auf die Allgemeinheit mit wenigen Unterbrechungen äußerst grausam (war). Wer die Macht an empfindlicher Stelle zu treffen wagte, hatte immer den Verlust von Freiheit, Ehre, Leben zu erwarten, wahrscheinlich riß er auch die Sei­ nen: Frau, Kinder, Freunde mit ins Verderben. Immer lag über der Gemeinheit, durch die sich die Macht am Leben hält, ein Schleier; wer ihn zu zerreißen versuchte, war zum Untergang bestimmt.»104 Nach Horkheimer besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass der gegenwärtige Kapitalismus diese Form der Unterdrückung mit frü­ heren Gesellschaftsformen teilt105 und dass bei den Massen in der Geschichte das Leid überwiegt.106 Und wenn Horkheimer nun genau in dieser Perspektive einer materialistisch-marxistischen Geschichts­ philosophie «von Unten» explizit die Herrschenden, d. h. die Bour­ geoisie, die Fabrikanten, die Militärs und die «Kriegsgewinnler» (des Ersten Weltkriegs) und diesbezüglich in erster Linie auch jene Indus­ triellen von Rhein und Ruhr kritisiert, die sich im Ersten Weltkrieg durch die Waffenproduktion für Kaiser Wilhelm II. maßlos bereichert hatten; und wenn er in diesem Zusammenhang auch scharfe Kritik übt an der Militarisierung, dem weit verbreiteten preußischen Mili­ tarismus sowie den autoritären Erziehungsmethoden in der Schule und in der Familie (im Vorgriff auf seinen späteren epochemachenden Essay Autorität und Familie aus dem Jahre 1936), so tut er dies nicht nur, um die direkte Verantwortung und Mitschuld der Bourgeoisie an diesem schrecklichen Krieg und seinen Folgen anzuprangern, sondern auch, um gleichzeitig die Scheinheiligkeit der herrschenden Moral, d. h. der bürgerlichen Moral der Epoche und der herrschenden Klasse zu verdammen, die mit der Propagierung ihrer angeblich «humanis­ tischen» Prinzipien ja nichts anderes anstrebe als die Perpetuierung eines auf Hierarchie, Ungleichheit und Autorität gegründeten Gesell­ schaftszustands. Bezüglich jener «Moral» heißt es dazu u. a. in dem Erziehung zur Wahrhaftigkeit betitelten Aphorismus der Dämmerung: «Die bürgerliche Moral ist wie ein Schulmeister, der die bösen Buben nicht bloß mit Prügeln traktiert, wenn sie unartig sind, sondern auch noch verlangt, dass sie sich melden, wenn ihnen der bloße Gedanke an eine Unart durch den Kopf schießt. Erziehung zur Wahrhaftigkeit! Die 104 105 106

A. a. O., S. 407 (Aphorismus «Die gute alte Zeit»). Ebd. Ebd.

55 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

in den Köpfen verschlossenen Gedanken bilden selbst eine unerlaubte Lust, die sich das brave Kind versagt; außerdem könnten sie in den Köpfen, wo sie verschlossen sind, reifen, um zu einem Augenblick hervorzubrechen, in dem der Schulmeister Mühe hätte, ihrer mit dem Rohrstock Herr zu werden.»107

In dem Aphorismus Europa und das Christentum unterstreicht Hork­ heimer die unermessliche «Kluft zwischen den moralischen Maßstä­ ben, welche die Europäer seit Einzug des Christentums anerkennen, und dem wirklichen Verhalten dieser Europäer: «Zwischen der Tötung von Millionen junger Leute im Krieg bis zum infamsten Meuchelmord am politischen Gegner [hier steht zu vermuten, dass Horkheimer mit dieser Formulierung direkt anspielt auf die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin, im Januar 1919 bzw. auf diejenige des Außenministers der Weimarer Republik Walter Rathe­ nau, der 1922 von antisemitischen Nationalisten ermordet wurde] gibt es keine Schurkerei, die man mit dem öffentlichten Bewußtsein nicht aussöhnte. Auch daß die beherrschten Klassen, von den fortge­ schrittensten Gruppen abgesehen, der Verlogenheit ihrer Vorbilder folgen, ist zwar schwer verständlich, aber doch hinreichend allgemein bekannt. Besteht doch die Abhängigkeit jener Klassen nicht allein darin, dass man ihnen zu wenig zu essen gibt, sondern daß man sie in einem erbärmlichen geistigen und seelischen Zustand hält. Sie sind die Affen ihrer Gefängniswärter, beten die Symbole ihres Gefängnisses an und sind bereit, nicht etwa diese ihre Wärter zu überfallen, sondern den in Stücke zu reißen, der sie von ihnen befreien will.»108 Diese verlogene Moral, die immer im Dienste der Unterdrückung der Freiheitsrechte und der Autonomie der Beherrschten steht, kon­ trastiert nun Horkheimer als unorthodoxer Marxist bewusst mit der «moralischen Integrität des Revolutionärs» und dessen «selbst­ losen Idealismus» im Dienste der «guten Sache»; denn, so Horkhei­ mer, «die Empörung, Solidarität, Selbstverleugnung ist ebenso mate­ rialistisch wie der Hunger; der Kampf um die Verbesserung des Loses der Menschheit schließt Egoismus und Altruismus, Hunger und Liebe als natürliche Glieder von Ursachenketten ein. Freilich: die materia­ listische Theorie besitzt keinen logischen Beweisgrund für die Hin­ gabe des Lebens. Sie bleut den Heroismus weder mit der Bibel noch 107 108

A. a. O., S. 384 (Aphorismus «Erziehung zur Wahrhaftigkeit»). A. a. O., S. 412 (Aphorismus «Europa und das Christentum»).

56 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

mit dem Rohrstock ein, an die Stelle der Solidarität und der Erkenntnis von der Notwendigkeit der Revolution setzt sie keine «praktische Philosophie», keine Begründung des Opfers. Sie ist vielmehr selbst das Gegenteil jeder solchen idealistischen Moral. Sie befreit von Illu­ sionen, entschleiert die Realität und erklärt das Geschehen. Logische Beweisgründe für «höhere Werte» hat sie nicht, aber ganz gewiß auch keine Gründe dagegen, daß einer unter Einsatz seines Lebens mithilft, die «niederen» Werte, d. h. ein materiell erträgliches Dasein für alle zu verwirklichen. Der Idealismus beginnt gerade dort, wo dieses Ver­ halten sich nicht mit einer natürlichen Erklärung seiner selbst begnügt, sondern nach der «Krücke» objektiver Werte, absoluter Pflichten oder sonst irgendeiner ideellen Rückversicherung und «Hei­ ligung» greift, also dort, wo man die Umwälzung der Gesellschaft von der Metaphysik abhängig macht – anstatt von den Menschen.»109 Gemäß einem der kürzesten und gleichzeitig prägnantesten Aphorismen der Dämmerung, ist, wie Horkheimer sagt, «die Bour­ geoisie ein weiser Vater, der sein eigenes Kind kennt.» Wenn sie einem Revolutionär zu seinen Lebzeiten die moralische Intaktheit bestätigt, mögen sich ihre Gegner vor ihm in acht nehmen.»110 Im selben Atemzug ergänzt Horkheimer jedoch sofort dieses Urteil durch die schonungslose Kritik des «reaktionären Charak­ ters» des Bürgers, der sich nicht etwa darüber empört, was in furcht­ barer Regelmäßigkeit im Zuge einer imperialistischen Weltpolitik in den Kolonien geschieht, sondern der erst wirklich in leidenschaftliche Wut gerät «nicht etwa gegen die Urheber und Vollstrecker der unmenschlichen Taten, sondern gegen die, welche sie dem Dunkel entreißen. Wo um des nackten Profites willen die Träger der Mensch­ lichkeit und des Geistes ganzer Länder ermordet, Gesellschaftsklas­ sen in Schrecken und Verzweiflung gehalten, Völker aufs Schmäh­ lichste unterjocht, ja ausgerottet werden, da verwandelt sich der bürgerliche Laie in einen kritischen Historiker peinlichster Genauig­ keit (…), er proklamiert (…) genaue Feststellung der Einzelheiten als Wesen der Forschung und führt angesichts des vergossenen Blutes Klage gegen die einseitige Historie, gegen den für die Verfolgten par­ teiischen Bericht, gegen die Anstifter, aber nicht die Anstifter des Greuels, sondern gegen die Kameraden, die Parteien, die Ideen jener,

109 110

A. a. O., S. 420 (Aphorismus «Der Idealismus des Revolutionärs»). A. a.O., S. 437 (Aphorismus «Moralische Intaktheit des Revolutionärs»).

57 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

die von ihm betroffen sind, und am Ende gegen die Opfer selbst.»111 Schlimmer noch, dieser «liebenswürdige Herr» ist «nur dort leicht­ gläubig, wo es gilt, die Wut gegen das Proletariat zu schüren, er wird zum Menschen nur, wenn es einen Zaren und eine russische Ober­ klasse zu beweinen gilt, für die der Weltkrieg eine schlechte Speku­ lation gewesen ist.»112 Kurzum, dieser Mann «hält es mit den Hen­ kern» und es ist eben diese Form des «objektiven Geistes», der auch bestimmend sei für die ähnliche haarsträubend ungerechte Einseitig­ keit von Schule, Presse und dem gesamten Herrschaftssystem der Bourgeoisie. Philosophisch reagiert Horkheimer diesbezüglich auf diese Ideologie des «objektiven Geistes» mit einer doppelten Kritik: zum Einen mit seiner Kritik an der Bewegung der «Neuen Sachlich­ keit», die sich mit ihrer Doktrin vom «Konkreten» zum Ziel gesetzt hatte, den romantisch-utopisch-revolutionär orientierten subjekti­ vistischen Expressionismus abzulösen (vgl. Ernst Bloch: Geist der Utopie (1918/1923)); und zum Anderen mit seiner Kritik an der «neuen Anthropologie», d. h. jener auf die Beschreibung des menschlichen Wesens in der Hierarchie des Kosmos konzentrier­ ten «konservativen Doktrin vom Menschen», die u. a. die Philosophie von Max Scheler charakterisiert. Wie Horkheimer unterstreicht, kommt es der Neuen Sachlichkeit nicht mehr auf die kausalen Zusam­ menhänge zwischen den Dingen an, «nicht die Beziehungen will man kennenlernen, sondern gerade die Sachen abgesehen von den Bezie­ hungen, sie selbst, ihre Existenz, ihr Wesen steht in Frage.»113 Die Neue Anthropologie hingegen sei nichts anderes als eine «als Sach­ lichkeit drapierte Abstraktheit der Wissenschaft, die sich gegen den alten Formalismus so hochmütig als ‹Konkretheit› aufführt und die doch insgesamt große Ähnlichkeit mit dem Verhalten zeigt, das in der guten Gesellschaft von jedem ‹anständigen› Menschen gefordert wird.»114 Diese Konkretheit hat zur Devise: «Vielmehr soll ich jeden Menschen nehmen ‹wie er ist›, seinen Charakter, seine Persönlichkeit, kurz sein individuelles ‹Wesen› im Blick haben. (...) Mit der ‹Ganz­ heitsbetrachtung›, die seit neuestem auch die Physiologie metaphy­ sisch reformiert, verträgt sich diese abstrakte Sachlichkeit sehr gut; sie

111 112 113 114

A. a. O., S. 422 (Aphorismus «Greuelnachrichten»). Ebd. A. a. O., S. 424 (Aphorismus «Die neue Sachlichkeit»). Ebd.

58 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

ist ihre Kehrseite.»115 Diese Horkheimer’sche Kritik zielt vor allem auf die ethische, anthropologische und essentialistische Philosophie von Max Scheler (1874–1928), die in Verlängerung der Husserl’schen phänomenologischen Theorie der Wesensschau die Werte als das Reich des Wesenszusammenhangs definiert, unter besonderer Berück­ sichtigung der Rolle und Funktion der Persönlichkeitsstruktur des Menschen im Erkenntnisprozess der Realität. Scheler zufolge ermög­ licht in der Tat der «menschliche Geist» die sofortige Erkenntnis des Wesens des objektiv Seienden. Deshalb nimmt in Schelers philoso­ phischer Anthropologie tatsächlich die – aus dem Ich und dem menschlichen Körper bestehende – Person eine so wichtige und zen­ trale Stelle ein. Die Person ist – nach Scheler, der auch der Verfasser einer höchst interessanten, wenngleich nicht unumstrittenen Studie zum menschlichen «Ressentiment»116 ist – «die konkrete und wesent­ liche Einheit der Handlungen eines jeden Individuums. Sie hat in der Form des Ego (Ichs) einen absolut ‹trans-zeitlichen› und ‹trans-kau­ salen› Charakter.» (Max Scheler, der mit seinen Ausführungen zum menschlichen Leiden vermutlich sogar zeitweilig einen gewissen Ein­ fluss auf Horkheimer ausgeübt hat, geriet jedoch sehr bald insofern in die Kritik der antimilitaristisch, pazifistisch und antifaschistisch orientierten «Frankfurter Schule», als er politisch als Verfasser der Broschüre Der Genius des Krieges (1915) im Ersten Weltkrieg eine sehr nationalistische Haltung zugunsten des deutschen Kaiserreichs ein­ genommen hatte, eine Parteinahme, die ihm u. a. auch von Ernst Bloch sehr verübelt wurde.) Mit der Kritik an dieser Philosophie, die darauf erpicht ist, das «Wesen» zu erkennen und die dazu «von allem Äußerlichen und Zufälligen, von aller faktischen Verknüpfung absieht»117, sowie mit der gleichzeitigen Kritik an der Charakterologie als einer «Pseudowis­ senschaft», die sich «nicht an die Außenseite der Dinge hält, sondern bis zu ihrem ‹Kern› vordringen will», positioniert sich der junge Horkheimer wiederum ganz klar als Verfechter eines philosophischen Materialismus, der nicht nur kritische Distanz zu Max Scheler und Henri Bergson, zu Husserl und zu Diltheys «geisteswissenschaftli­ cher Methodik» hält, sondern der sich auch immer klarer an der Ebd. Vgl. Max Scheler, Ressentiment (Das Ressentiment im Aufbau der Moralen), München, 1912–1915. 117 Horkheimer, Dämmerung, a. a. O., S. 425 (Aphorismus «Die neue Sachlichkeit»).

115

116

59 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

Geschichtsdialektik des historischen und dialektischen Materialismus von Marx orientiert. In genau derselben Perspektive einer scharfen Kritik der Wider­ sprüche und der großen sozialen Ungerechtigkeiten des kapitalisti­ schen Systems, d. h. der Kritik der Ausbeutung und Unterdrückung des Proletariats durch die «Kapitalherren» und Großindustriellen, kritisiert Horkheimer vor allem in den letzten Aphorismen der Däm­ merung den unverhohlenen Zynismus der besitzenden Klasse und des herrschenden Liberalismus, indem er deren weitverbreitete Vorstel­ lung dekonstruiert, «es bedürfe der Anreizung des ‹Wirtschaftsego­ ismus› aller Einzelnen, um die ganze Wirtschaft in Schwung zu halten. »118 Man vergisst hinzuzufügen, so Horkheimer, «daß der ‹Wirt­ schaftsegoismus› der erdrückenden Mehrzahl aller schwer Arbeiten­ den im Zwang des Hungers besteht, während jene Herren für eine interessante und befriedigende, saubere und ungefährliche Arbeit in Palästen leben. Um den egoistischen Menschen so weit anzustacheln, daß er sich herbeiläßt, über ein Heer von Arbeitern und Angestellten zu gebieten, muß man ihm Automobile, feine Frauen, Ehren schenken und Sicherung bis ins zehnte Glied, dafür aber, daß er sich tagtäglich im Bergwerk unter fortwährender Lebensgefahr körperlich und geis­ tig zugrunde richtet, ist regelmäßige Wassersuppe und einmal Fleisch in der Woche verlockend genug. Eine merkwürdige Psychologie!»119 Trotz dieser uneingeschränkten Verteidigung der Marx’schen Theorie des Antagonismus von Arbeit und Kapital und des proletari­ schen Klassenkampfes zur Lösung dieser Widersprüche zeigt sich in diesen frühen sozialphilosophischen Schriften Horkheimers, und hier auch schon in einigen Aphorismen der Dämmerung, doch gleichzeitig die Tendenz zu einer gewissen Relativierung der Marx’schen Theorie des Klassenantagonismus, wie z. B in jenem Relativität der Klassen­ theorie betitelten Aphorismus, dessen Gegenstand die Einheit von Theorie und Praxis bei Marx ist. Dort kann man nämlich lesen, dass die «von Marx gemeinte Praxis im wesentlichen mit der politischen zusammenfällt» und dass «die Strukturierung des aus dieser Praxis entspringenden Weltbildes die Scheidung der Menschheit in gesell­ schaftliche Klassen ist. Diese müssen für alle, denen es hauptsächlich um die freie Entfaltung der menschlichen Kräfte und um Gerechtigkeit zu tun ist, als das entscheidende Strukturprinzip der Gegenwart 118 119

A. a. O., S. 426. A. a. O., S. 426 (Aphorismus «Wirtschaftspsychologie»).

60 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

erscheinen, weil von ihrer Aufhebung die Erfüllung jenes Strebens abhängt.» Aber es sind nicht nur die sozialen Ungerechtigkeiten, die die bürgerliche Gesellschaft spalten: «Die Menschheit wird von einer für den tätigen Beobachter der Welt gewöhnlich nicht sichtbaren Grenzlinie gespalten, welche ebenso ungerecht als die zwischen Angehörigen verschiedener Klassen eine Reihe von Menschen von den Genüssen der Erde ausschließt und sie zu den schlimmsten Qua­ len verdammt.»120 Dazu gehören u. a., so Horkheimer, die Spaltung der Gesellschaft in Gesunde und Kranke, die Ausgrenzungspraktiken gegen die Erkrankten impliziert, die ebenso «vernunftwid­ rig» und «diskriminierend» sind wie die Eigentumsverhältnisse in der Gesellschaft.121 Man denke hier nur an die jahrlange Quarantäne und Ausgrenzung der Lungenkranken in Krankenhäusern und Sanato­ rien! Die Anspielungen auf deren besonders schwierige Situation sowie einige Formulierungen betreffs der «Empfänglichkeit für Bazil­ len» und über den «Pneumothorax» lassen vermuten, dass der junge Horkheimer eventuell sogar selbst, ebenso wie Thomas Mann und viele andere Intellektuelle seiner Zeit, zumindest kurzfristig, im Jahre 1917 einmal mit dieser Ausgrenzungspraktik im Lungensanatorium konfrontiert war. Dies erklärt u. a. die folgenden nüchternen und kri­ tischen Ausführungen von Horkheimer zum gegenwärtigen Stand der Hygiene und der Medizin: «Die schweren Hemmungen, unter wel­ chen die gegenwärtige Hygiene und Medizin vegetiert, sind nicht im entferntesten erkannt (...). Diese Gesellschaft, welche die Anlagen der weitaus meisten Menschen skrupellos ersticken läßt, gewährt für die Entwicklung der ungeheuren medizinischen Möglichkeiten keine Freiheit mehr. Nicht bloß die herrschende Sexualmoral, sondern der latente Haß gegen die beherrschte Klasse, die Unfähigkeit, die gesun­ den Menschen zu ernähren, beeinträchtigen den Kampf gegen die Krankheit bis in alle Einzelheiten. Ferner erweist sich das ökono­ misch-politische Prinzip auch dadurch als tiefgreifender denn das physiologische, daß die Machtvergötzung und das Konkurrenzprinzip der kapitalistischen Menschheit ein gut Teil der heute mit der Krank­ heit verbundenen Bitterkeit bedingt. (...) Die Aufhebung der Klassen gilt somit als das entscheidende Prinzip – aber nur im Hinblick auf die umwälzende Praxis. Wegen der Irrationalität der Welt gilt dieser

120 121

A. a. O., S. 434 (Aphorismus «Relativität der Klassentheorie»). Ebd.

61 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

Vorrang nicht für jede Beurteilung der Gegenwart überhaupt.»122 Mit anderen Worten, aus den angegebenen Gründen kann also sehr wohl, zumindest zeitweilig, der Blick auf die Marx’sche politische TheoriePraxis in der Perspektive des Klassenkampfs und der sozialen Revo­ lution (Umwälzung) durch den Blick auf andere Interessen und andere Leiden verstellt sein, wie z. B. den auf Gesundheit, Krankheit und Tod. Diesbezüglich meint Horkheimer, dass diese «andere Betrach­ tung» auch «durch ihre aufhellende Macht selbst zu einer besseren Wirklichkeit beitragen (kann), von deren unbestimmter Vorstellung sie in ihrem Ursprung ebenso motiviert ist wie die Theorie der Klas­ sengesellschaft selbst. Auch sie setzt das Bestehende in seiner Unge­ rechtigkeit dem Licht des Denkens aus. Der Schrecken, der sich jen­ seits des Bewußtseins der Menschen, also im Dunkel, vollzieht, hat seine besondere Trostlosigkeit.»123 Die Mission und die Funktion des kritischen Sozialphilosophen und Zeitzeugen, so Horkheimer, muss deshalb darin bestehen, diese Trostlosigkeit, dieses Dunkel aufzuhel­ len, d. h. der Irrationalität des bestehenden Wirklichen die Rationali­ tät einer gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Alterna­ tive entgegenzusetzen. So entsteht auch beim genauen Lesen dieser Aphorismen, also immer da, wo bei Horkheimer von der «Irrationa­ lität der Welt» und vom unermesslichen Leiden der Menschen die Rede ist, der Eindruck, als ob auch irgendwie der Schatten Schopen­ hauers bereits über diesen von Skepsis geprägten Passagen schwebe und nicht nur der von Montaigne, obwohl zum Zeitpunkt der Abfas­ sung der Dämmerung – im Gegensatz zu seiner Spätphase (1950– 1973) – Horkheimer offensichtlich theoretisch-philosophisch noch sehr weit davon entfernt war, wirklich in Schopenhauers «Fußstap­ fen»124 zu wandeln. Die «Konvergenz» zwischen beiden Philosophen beschränkt sich zu diesem Zeitpunkt daher ausschließlich auf die A. a. O., S. 435. A. a. O., S. 436. 124 Wie Georg Lukacs in der «Zerstörung der Vernunft», kritisiert auch Ernst Bloch in seinen Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie Schopenhauers «über­ triebenen Aristokratismus», seinen «Nihilismus» und dessen reaktionäre politische Einstellung v. a. anlässlich der politischen Unruhen und Arbeiterdemonstrationen in Deutschland im Jahre 1848. So stigmatisiert er u. a. Schopenhauers System der Welt als Wille und Vorstellung als ein «Hôtel Abgrund, das zwar allen nötigen Komfort besitzt, aber am Rande des Abgrunds, des Nichts, des Nicht-Sinns errichtet worden ist.»(Vgl. Ernst Bloch, «Arthur Schopenhauer», in: ders., Neuzeitliche Philosophie II: Deutscher Idealismus. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts, in: Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Band 4, Suhrkamp, Frankfurt 1985, S. 390. 122

123

62 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

II. Der junge Horkheimer als Marxist

Wahrnehmung und das Ernstnehmen des Leidens und des Mitleidens mit der gequälten Natur des Menschen in einer Welt, die, obwohl auf die Handlungsformen und Imperative der Vernunft gegründet, immer «irrationaler» geworden ist. Nichtsdestoweniger ist es jedoch auch diese Apperzeption der Welt als der Hölle, der Sinnlosigkeit und der Zufälligkeit, die Horkheimer am Ende der Dämmerung schrei­ ben läßt: «Es gibt keine Metaphysik, es ist keine positive Aussage über ein Absolutes möglich. Aber es sind Aussagen über die Zufälligkeit, End­ lichkeit, Sinnlosigkeit der sichtbaren Welt möglich.125 (...) Vielleicht ist ein ohnmächtiges und gequältes Leben, das voll von Güte war, nicht verloren, vielleicht hat es einen ewigen Morgen. Wir können es nicht wissen. Aber wir können auch nicht wissen, ob die Güte nicht fernerhin in der Hölle anstatt im Paradiese wandle und ob die Regierung der Ewigkeit nicht wirklich so schlecht sei, wie sie in der Zeitlichkeit erscheint. Die Zufälligkeit der Welt und unserer Erkenntnis von ihr oder die Unmöglichkeit der Metaphysik kommt darin zum Ausdruck, daß alle Aussagen, die das Zeitliche transzendieren, gleich berechtigt oder gleich unberechtigt sind. (…) Die Sinnlosigkeit der Welt straft die Metaphysik, d. h. ihre sinnvolle Deutung Lügen; aber sie vermag nur den irrezumachen, welcher aus Furcht vor irgendeinem Herrn und nicht aus Mitleid mit den Menschen ein menschliches Leben führt. (…) Soweit die Menschen die Welt nicht selbst in Ordnung bringen, bleibt sie ein Spiel blinder Natur. Draußen im All wohnt nicht die Güte und Gerechtigkeit, das All ist dumpf und erbarmungslos. Die Menschheit als Ganzes gleicht in der sie umgebenden Nacht dem Mädchen von Lavaur, das nach einem Scheintod erwacht ist und alle Menschen ihrer Heimat erschlagen findet. Keiner nimmt an ihrem Erwachen Anteil, für keinen anderen hat ihr Leben Bedeutung. Niemand hört sie. Auch die Menschheit ist ganz allein.»126

125 126

Horkheimer, Dämmerung, a. a. O., S. 430 (Aphorismus «Zufälligkeit der Welt»). A. a. O., S. 431–432.

63 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

III. Das Institut für Sozialforschung an der Columbia-Universität von New York Der Ausbau der «Kritischen Theorie der Gesellschaft» im US-amerikanischen Exil

Die Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, gefolgt von dem Reichstagsbrand im Februar 1933 und von der Ver­ abschiedung des «Ermächtigungsgesetzes» im März 1933, der dem Reichskanzler außerordentliche Vollmachten übertrug die es ihm erlaubten, die Opposition völlig auszuschalten und auf den Ruinen der Weimarer Demokratie einen autoritär-despotisch antisemiti­ schen NS-Staat zu errichten, hatte auch dramatische Folgen für das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS): Das IfS, das viele jüdi­ sche Mitarbeiter hatte, wurde 1933 auf Anordnung der NS-Regierung geschlossen; alle seine Mitarbeiter wurden entlassen; Horkheimer und auch Karl Mannheim verloren im Zuge dieser diskriminierenden Maßnahmen und rassistischen Säuberungen des NS-Staats wegen ihrer jüdischen Abstammung ihre Stellung als ordentliche Professo­ ren an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Um das Institut zu retten, gründete daher Horkheimer noch im gleichen Jahr 1933 zunächst eine Zweigstelle des IfS in Genf und kurz darauf eine weitere an der Ecole Normale Supérieure in Paris (wo die »Zeitschrift für Sozi­ alforschung« bis zum Jahre 1939 im Verlag »Felix Alcan« erscheinen konnte) und schließlich – 1934 – eine weitere Zweigstelle an der Columbia University zu New York, wo dann auch sowohl Horkheimer, Pollock wie Marcuse als Professoren eingestellt wurden.127 Bereits Anfang 1934, noch vor dem Erscheinen der Dämmerung in der 127 Vgl. Max Horkheimer, Die «Zeitschrift für Sozialforschung».Geschichte und gegenwärtige Bedeutung; Sonderheft der Nachrichten aus dem Kösel-Verlag, München 1970; und: Die ursprüngliche Konzeption der Kritischen Theorie im frühen und mittleren Werk Max Horkheimers, in: Axel Honneth und Albrecht Wellmer (Hsg.), Die Frank­ furter Schule und ihre Folgen, Berlin-New York 1986, S. 89–112; vgl. Nachwort von

65 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

III. Das Institut für Sozialforschung an der Columbia-Universität von New York

Schweiz (1934), war Horkheimer jedoch schon zusammen mit seinen engsten Mitarbeitern wie z. B. Friedrich Pollock und mit Herbert Mar­ cuse in die USA, d. h. nach New York, emigriert, wo schließlich wäh­ rend der gesamten Periode des nordamerikanischen Exils das IfS an der Columbia University Zuflucht fand und wo Horkheimer dann auch bis zum Jahre 1941, dem Jahr seines Umzugs nach Kalifornien, als Professor für Philosophie und Soziologie als Hochschullehrer tätig war, wo er dann bald neben Theodor W. Adorno, Friedrich Pollock und Herbert Marcuse eine außerordentlich große intellektuelle Produkti­ vität entfaltete, in deren Verlauf er all jene großen sozialphilosophi­ schen Essays verfasste, die dann in den Folgejahren geradezu zu Klas­ sikern der zeitgenössischen Sozialphilosophie und der Theorieproduktion der Frankfurter Schule geworden sind. In jener Zeit entstanden u. a. die berühmten Essays Egoismus und Freiheitsbewe­ gung (Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters) (1936), Autorität und Familie (1936), Traditionelle und kritische Theorie (1937), Die Juden und Europa (1939), Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie (1940) sowie das große von Horkheimer persönlich geleitete For­ schungsprojekt über den Antisemitismus (Zur Tätigkeit des Instituts) (1941) und viele andere mehr. Die hauptsächlichen Leitmotive dieser Schriften waren: (a) der Versuch einer materialistischen Begründung der Geschichts­ philosophie; (b) die Skizzierung einer neuen «kritischen Theorie der Gesell­ schaft» in der Perspektive der Überwindung der traditionel­ len Theorie; (c) die Analyse der autoritären Strukturen der Familie vom Ende des Matriarchats bis zu neuesten Zeit; (d) die Erforschung der sozio-psychologischen Bedingungen des Antisemitismus und ihrer Beziehung zum autoritären Charakter; (e) der Übergang von einer liberalistischen Wirtschaftsordnung zum autoritären (faschistischen) Staat; (f) die Rolle der Psychoanalyse für die Begründung einer Kritischen Theorie der Gesellschaft sowie (g) das Nachdenken über die spezifisch gesellschaftliche Funktion der Philosophie im Spiegel aller philosophiegeschichtlich relevanten Alfred Schmidt zu den Bänden 3 und 4 der Gesammelten Schriften Max Horkhei­ mers, a. a. O., Frankfurt, S. Fischer 1988, 2009, S. 443 ff.

66 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

III. Das Institut für Sozialforschung an der Columbia-Universität von New York

bisherigen Definitionen der Philosophie, von der philia/sophia des Hellenismus (Aristoteles, Platon) bis zu Karl Mannheims128 Gleichsetzung der Philosophie mit der Ideologie. Die besondere Rolle, die die Psychoanalyse – neben dem Marxismus und der Sozialpsychologie – bei der Begründung dieser neuen, eman­ zipationsorientierten Theorie der Gesellschaft seit Anfang der 1930er Jahre, d. h. seit der Veröffentlichung von Freuds Unbehagen in der Kultur (1929), gespielt hat, ist bereits durch eine Reihe von Untersu­ chungen und Studien zu dieser Problematik belegt und bestätigt wor­ den. So verweist diesbezüglich der bekannte Pariser Psychoanalytiker Paul-Laurent Assoun in seiner Studie Le moment psychoanalytique de la Théorie critique auf den keineswegs zufälligen zeitlichen Zusam­ menfall der Entstehung der Kritischen Theorie als «Denkrichtung der Transformation der sozio-historischen Realitäten» Anfang der 1930er Jahre mit dem Zeitpunkt der Verleihung des Goethe-Preises an Sig­ mund Freud «als eine Art von Trostpreis für den ihm verweigerten Nobelpreis». Paradox: Der Moment, in dem Freud den Terminus ad quem seines Werks erreicht, fällt zeitlich zusammen mit dem «Ter­ minus a quo der Kritischen Theorie.»129 Worin aber besteht genau diese «Fusion» von Psychoanalyse und materialistisch-marxistischer Gesellschaftsanalyse? Die «Zauberfor­ mel» dafür liefert u. a. – und auch diesen wichtigen Hinweis verdan­ ken wir Paul-Laurent Assoun wie auch Martin Jay – Max Horkheimer selbst in seinem Brief an Löwenthal vom 31. Oktober 1942, in dem er die Psychoanalyse als eine der ganz großen «Bildungs­ mächte» bezeichnet, «ohne die unser Denken nicht das wäre, was es ist.» Macht und Bildung: zwei Termini, die direkt auf das kulturelle Schaffen und auf die «einzigartige und organische» Aneignung einer ganzen Menge von Erkenntnissen und Erfahrungen «von gestalteri­ schem und schöpferischem Wert» verweisen, in denen natürlich auch noch das Erbe des «Bildungsideals» des 19. Jahrhunderts mit­ schwingt.130 Mit anderen Worten: die Kritische Theorie der Frankfurter Schule entstand – nach ihren eindeutig marxistischen Anfängen 1923 –, d. h. nach der «marxistischen Arbeitskonferenz» in Ilmenau (Thü­ Vgl. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn, 1929. Cf. Paul-Laurent Assoun, L’Ecole de Francfort, Paris PUF, 2013, p. 87–95; ders., «Le moment psychanalytique de la Théorie critique. Sujet de l’inconscient et illusions de l’histoire», in: Théorie de la crise, Illusio n 14/15, 2016, Le Bord de l’eau, S. 322. 130 P.-L. Assoun, a. a. O., S. 323. 128

129

67 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

III. Das Institut für Sozialforschung an der Columbia-Universität von New York

ringen) im Jahre 1922, im theoretischen Schnittpunkt der Ablösung vom neukantianischen Idealismus (Horkheimers unter der Leitung von Hans Cornelius verfasste Habilitationsschrift (1925) war noch ganz und gar der Kantischen Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwi­ schen theoretischer und praktischer Philosophie gewidmet; auch seine Dissertation aus dem Jahre 1922 Zur Antinomie der teleologischen Urteilskraft stand noch völlig im Zeichen der Rezeption des Kanti­ schen Kritizismus) und der Hinwendung zum Materialismus, d. h. zum Marxismus (Cf. Horkheimer: Dämmerung (Notizen in Deutsch­ land) (1926–1931); ders., Die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphi­ losophie (1930)) und dem seit 1929 immer stärker werdenden Einfluss der Psychoanalyse. Es ist folglich nachgerade unabweisbar, dass die Freud’sche Psychoanalyse ab 1930 nicht etwa als «Weltanschauung», sondern als, wie Paul-Laurent Assoun so schön sagt, «kritisches Fer­ ment» die Frankfurter Kritische Theorie in der Phase ihrer umfassen­ den und allseitigen theoretischen Begründung, in der Horkheimers theoretische Hauptwerke entstanden (also zuerst in Frankfurt, ab 1930, dann, ab 1933, in Genf, Paris und New York), stark beeinflusst hat, und dies, obwohl es, unseren Recherchen zufolge, keine persön­ liche Begegnung zwischen Sigmund Freud und Max Horkheimer gegeben hat. Es blieb lediglich bei einem Briefwechsel, d. h. bei zwei Briefen Sigmund Freuds an Horkheimer aus dem Jahre 1929, in dem sich der «Vater» der Psychoanalyse u. a. ausdrücklich für die freund­ liche Gründung einer «Zweigstelle» seiner psychoanalytischen Bewe­ gung an der Universität Frankfurt bedankt.131 Im Vorfeld davon gab es jedoch bereits eine wichtige persönliche Begegnung Horkheimers mit Anna Freud am 16. Februar 1929 anläss­ lich der Einweihung des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts an der Goethe-Universität und der gleichzeitigen Gründung einer Psy­ choanalytischen Studiengruppe in Südwestdeutschland. An diesem Institut hielten dann auch führende Köpfe der psychoanalytischen Bewegung in Deutschland Vorträge, wie z. B. Hans Sachs und Sieg­ fried Bernfeld132, nicht jedoch Sigmund Freud. Eine wichtige Vermittlerrolle bei dem Zusammentreffen (man kann jedoch von «Zusammenschweißen» reden) des IfS mit der Psy­ choanalyse spielte Kurt Landauer, der Leiter des Frankfurter Instituts für Psychoanalyse, bei dem der damals gerade 36 Jahre alte Max 131 132

Vgl. P. L. Assoun, a. a. O., S. 326. Vgl. Siegfried Bernfeld, Antiautoritäre Erziehung, 1929.

68 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

III. Das Institut für Sozialforschung an der Columbia-Universität von New York

Horkheimer mehrere Monate lang persönlich eine Psychoanalyse machte, um imstande zu sein, ohne schriftliche Vorlage und Text frei Vorlesungen zu halten. Wie erklärt sich diese Zurückhaltung Freuds? Hatte sie philosophische, «weltanschauliche» oder gar poli­ tische Gründe? Nach Paul-Laurent Assoun könnte der eigentliche Grund dafür sehr wohl ein gewisses Misstrauen Freuds gegenüber der Philosophie allgemein gewesen sein, vor allem gegenüber der systematischen Metaphysik des Idealismus, genauer, gegenüber dem objektiven dialektischen Idealismus der Hegelschen Philosophie, der er seine psychoanalytische Methode als Wissenschaft vom Unbe­ wussten entgegenstellte.133 Und letztendlich konnte wohl gerade deshalb die «Einbettung der Psychoanalyse in eine emanzipationsori­ entierte Weltanschauung» Freuds Misstrauen nur verstärken, der – trotz seiner Sympathien für progressive und liberale Ideen – nicht müde wurde zu unterstreichen, dass es für die Psychoanalyse nach wie vor unmöglich sei, «einer Weltanschauung – ganz gleich welcher – anzuhängen.»134 Dies erklärt, warum bei diesem Versuch einer konstruktiven Annäherung der damals noch weitgehend marxistisch orientierten Kritischen Theorie der Gesellschaft135 es eindeutig der Frankfurter Kreis um Horkheimer war, der ab 1929 bewusst seine Hand nach Wien und dem psychoanalytischen Kreis um Sigmund Freud ausstreckte, und warum Freud auf diesen «Annäherungsversuch» zwar a priori positiv, dennoch aber etwas reserviert reagiert hat und warum es im Verlauf dieser Kontakte, von dem kurzen Briefwechsel aus dem Jahre 1929 einmal abgesehen, zu keinem persönlichen Treffen zwischen Horkheimer und Sigmund Freud mehr gekommen ist. Mit anderen Worten: die Begründer der Kritischen Theorie, hier vor allem Hork­ Vgl. S. Freud: Neue Vorträge, Wien, 1933. P.-L. Assoun, a. a. O., S. 327. 135 Wie Jürgen Habermas in seinem Marx gewidmeten Kapitel in den Buch Auch eine Geschichte der Philosophie unterstreicht, richtete sich das empirische Forschungsin­ teresse der «älteren Kritischen Theorie, die sich an die soziologische Tradition und den webermarxistischen Ansatz von Georg Lukacs angeschlossen hatte, nicht mehr auf Krisentendenzen, die zur Revolution führen sollten, sondern auf die Mechanismen, die die Selbststabilisierungsfähigkeit des Kapitalismus erklären konnten. Im Übrigen lenkte sie mit einer systematischen Einbeziehung der Freud’schen Psychoanalyse in die Grundannahmen der marxistisch inspirierten Gesellschaftstheorie den Blick auf eine sozial-psychologische Lücke.» (J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philoso­ phie. Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Suhrkamp, Berlin 2019, S. 666). 133

134

69 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

III. Das Institut für Sozialforschung an der Columbia-Universität von New York

heimer und Erich Fromm, taten alles in ihrer Macht Stehende, um die Freud’sche Psychoanalyse in die Kritische Theorie der Gesellschaft mit ihren erklärten sozialen Emanzipationszielen zu integrieren; Sigmund Freud – in Wien – blieb jedoch relativ reserviert und vermied es, die theoretischen Arbeiten und Entwürfe der Frankfurter kritischen Soziologen und Philosophen in seinen eigenen Werken und Schriften zu zitieren. Anstoß nahm Freud und die Freud’sche «Orthodoxie», d. h. die von Freud gegründete Internationale Psychoanalytische Vereinigung, offenbar wohl auch und vor allem an der sogenannten «Psycho-Sozio­ logisierung der Psychoanalyse», deren Wortführer kein Geringerer als Erich Fromm (1900–1980) war, der, aus dem Berliner Institut für Psychoanalyse kommend und als Schüler von Theodor Reik zu Beginn der 1930er Jahre eine wichtige Vermittlerrolle zwischen der offiziellen Psychoanalyse und dem Frankfurter IfS spielte. Fromm trat ab 1931 – ähnlich wie Wilhelm Reich, aber viel gemäßigter als Letzterer – für eine Verbindung von Psychoanalyse und Politik ein und skizzierte in seinen Werken eine «sozio-analytische Charakterologie» und «Theo­ rie der Persönlichkeit», die von der Freud’schen Orthodoxie als «revi­ sionistisch» abgelehnt wurde. Er war auch namhaft beteiligt an der Ausarbeitung der Studien über Autorität und Familie (1936) und den Studien über die autoritäre Persönlichkeit (1950), die im amerikani­ schen Exil in enger Zusammenarbeit mit Adorno, Horkheimer und Marcuse entstanden sind und die 1936 in Paris im Verlag Felix Alcan im Jahrgang 3 der Zeitschrift für Sozialforschung und später dann auch 1950 in Amsterdam veröffentlicht wurden. Meinungsverschieden­ heiten mit Horkheimer und Adorno führten jedoch dazu, dass Erich Fromm 1950 aus dem Kollektiv des IfS im Exil ausschied bzw. als Anhänger des «Kulturalismus» ausgeschlossen wurde. Fromm grün­ dete daraufhin die Sozialistische Partei der USA, deren Aktivität jedoch – im Kontext des Kalten Krieges und des Mc Carthy’schen vehemen­ ten Antikommunismus – sehr begrenzt und letztendlich erfolglos waren. Die von Horkheimer vorgenommene Synthese eines «heterodo­ xen» Marxismus mit der Psychoanalyse hatte u. a. zur Folge, dass gerade, was die Analyse des Antisemitismus, des autoritären Staats, des Faschismus und des Nationalsozialismus betrifft, eine Reihe von direkt der Psychoanalyse bzw. Sozialpsychologie entlehnten Begriffen eingeführt wurden, die die diesbezüglichen Analysen der damaligen Linksparteien, die vor allem die ökonomischen Ursachen des Über­

70 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

III. Das Institut für Sozialforschung an der Columbia-Universität von New York

gangs vom Wirtschaftsliberalismus zum Faschismus untersuchten, erheblich bereicherten. Besonders deutlich wird dies z. B. im dem Antisemitismus gewidmeten Kapitel der Dialektik der Aufklärung136, in dem Horkheimer und Adorno zur sozio-kritischen Erklärung des Führerkults u. a. den psychoanalytischen Begriff der «paranoiden Pro­ jektion» und der «Entsubjektivierung der Individuen» einführen, um zu erklären, in welcher Form von dem NS-Regime diesbezüglich auch massiv die Psyche der in den Stadien zusammengetriebenen Massen manipuliert wurde, die ihrer Autonomie völlig beraubt, mit eben jenen Mechanismen dazu konditioniert worden waren, dem obersten charismatischen «Führer» blind zu gehorchen und zu vertrauen, unter totaler Aufgabe ihrer eigenen Subjektivität. Und es wird dabei klar und unwiderlegbar aufgezeigt, dass dies – mit all seinen schrecklichen Folgen – nicht möglich gewesen wäre, wenn bei eben diesen Massen nicht schon seit Längerem eine gewisse erziehungsbedingte Prädis­ position zum unbedingten blinden Gehorsam und zur Unterwerfung unter die Autorität vorhanden gewesen wäre. Dieser Rekurs auf die Psychoanalyse, diese Erweiterung zu einer kritischen Sozialpsycho­ logie und -soziologie, die schließlich in den 1930er Jahren zur Begrün­ dung des Frankfurter Freudo-Marxismus führte, beendete letztendlich die 1923 von Grünberg bestimmte theoretische Linie des IfS, diejenige eines noch stark vom Austromarxismus eines Max Adler und Rudolf Hilferding, z. T. aber auch von Georg Lukacs beeinflussten Marxis­ mus, der die Publikationen und sonstigen Aktivitäten des Instituts in der Zeit von 1923–1930 maßgeblich bestimmt hatte. Gleichzeitig hielt dieser Frankfurter Freudo-Marxismus jedoch einen kritischen Abstand sowohl zur Lebensphilosophie eines Henri Bergson wie zu reaktionären Strömungen im Lager der Psychoanalyse, wie z. B. zu C. G. Jung, dessen Theorie eines «kollektiven Unbewussten» auf eine entschiedene Ablehnung stieß. Dies implizierte auch eine klare Ablehnung jeglicher Identitätsphilosophie im Namen einer Theorie der «Nicht-Identität des Subjekts mit sich selbst», die bald zu einem zentralen Motiv von Adornos Negativer Dialektik137(1966) werden sollte.

136 Cf. Horkheimer/Adorno, «Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklä­ rung» in: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940–1950, Gesammelte Schriften Band 5, S. Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt a. M., 1987. S. 197 ff. 137 Cf. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1966.

71 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

III. Das Institut für Sozialforschung an der Columbia-Universität von New York

Wie u. a. von Paul-Laurent Assoun unterstrichen wird, stieß diese von Horkheimer bewußt vorangetriebene psychoanalytische Wende der Kritischen Theorie, die in den 1950er und 1960er Jahren noch erheblich durch die Arbeiten und Publikationen von Herbert Marcuse138 in den USA verstärkt wurde, in dem Moment an ihre Grenzen, wo Jürgen Habermas, der Assistent Adornos, als führender Repräsentant der «zweiten Generation» der Frankfurter Schule in dem 1951 nach Frankfurt aus dem Exil zurückgekehrten IfS die Führung übernahm. Damit verbunden war die Einleitung einer entscheidenden Wende und Reformulierung der Kritischen Theorie durch Habermas als Theorie des Kommunikativen Handelns139. Assoun zufolge handelt es sich dabei um nichts Geringeres als um eine «Exkommunikation der Kritischen Theorie und der Psychoanalyse» insofern, als ganz im Gegensatz zu Horkheimer, der schon in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1935 Zum Problem der Wahrheit die große Bedeutung der Psycho­ analyse unterstrichen hatte, für Habermas die Freud’sche Lehre keine theoretische Bildungsmacht mehr ist. «Letztere wird vielmehr aus­ schließlich an der Theorie der Kommunikation gemessen, um letzt­ endlich von dieser total beherrscht zu werden.»140 Anders ausge­ drückt, «die Psychoanalyse wird nunmehr ausschließlich nach dem Modus der ‹Selbstreflexion› verortet, was notwendig bedeute, sie mit einer der Freud’schen Metapsychologie fremden Rationalität zu beur­ teilen.»141 Des Weiteren werde die Psychoanalyse von Habermas im Bezugsrahmen einer «Meta-Hermeneutik» behandelt, was ihm wie­ derum ermöglichte, in der klassischen Optik seit Wittgenstein am «Freud’schen Kausalismus» Kritik zu üben. In Erkenntnis und Interesse (1968/1973) hatte Habermas die Psychoanalyse noch als «das einzige greifbare Beispiel einer methodisch Selbstreflexion in

138 Wie u. a. von Paul Laurent Assoun unterstrichen wird, bedeutet die von Marcuse in dem Buch «Triebstruktur und Gesellschaft» vorgenommene Akzentuierung des Begriffs «Eros» (Triebstruktur) nichts Anderes als «die Anerkennung der kritischen Funktion der (Freudschen) Libido-Theorie im Kontext eines neuen Unbehagens an der Kultur», was u. a. seine Wirkung auf den «Mai 68» erkläre. Freuds Libido-Theorie erweise sich somit als «kritisches Instrument» bei der strukturellen Entzifferung des Widerspruchs zur Triebstruktur, was die Freud’sche These, die Zivilisation beruhe auf der Unterdrückung der Triebstruktur nur erhärte.» (P.-L. Assoun, a. a. O., S. 333). 139 Cf. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1982. 140 P.-L. Assoun, a. a. O., S. 334. 141 A. a. O., S. 334.

72 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

III. Das Institut für Sozialforschung an der Columbia-Universität von New York

Anspruch nehmenden Wissenschaft» bezeichnet.142 «Die Psychoana­ lyse verbindet nämlich Hermeneutik mit Leistungen, die genuin den Naturwissenschaften vorbehalten zu sein schienen. (...) Sie liefert theoretische Gesichtspunkte und technische Regeln für eine Deutung von symbolischen Zusammenhängen. (...) Sie verlangt eine spezifisch erweiterte Hermeneutik, die gegenüber der üblichen geisteswissen­ schaftlichen Interpretation eine neue Dimension berücksichtigt.»143 Zwölf Jahre nach dem Erscheinen von Erkenntnis und Inter­ esse – inzwischen hatte sich bereits die entscheidende kommunika­ tionstheoretische Wende der Kritischen Theorie II vollzogen – ist für jene erweiterte Hermeneutik Freuds jedoch kein Platz mehr in Habermas’ Denkgebäude, das inzwischen mit seinem intensiven Rekurs auf sprachphilosophische und intersubjektive Theorien und seinem immer mehr an Kant orientierten erneuerten Rationalismus den Freudo-Marxismus Horkeimers, Adornos und Marcuses ebenso wie die Marx’sche Praxisphilosophie allgemein längst verabschie­ det hat.144

Cf. J. Habermas, «Selbstreflexion als Wissenschaft: Freuds psychoanalytische Sinnkritik» ,in: Erkenntnis und Interesse, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1968, 1973, S. 262. 143 Habermas, a. a. O., S. 263. 144 Vgl. Arno Münster, Habermas et le tournant langagier et communicationnel de la Théorie critique, Kimé, Paris, 1998. 142

73 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

IV. Kritik der bürgerlichen Geschichtsphilosophie und der psychologischen Geschichtsauffassung Machiavellis

Horkheimers Schrift Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie vom Januar 1930 ist insofern ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Konstruktion der Kritischen Theorie der Gesellschaft, als sie im Rahmen einer kritischen Lektüre des Werks von Machiavelli, die am Begriff der «Gesellschaft» orientiert ist, einen wichtigen Beitrag zur Selbstverständigung einer a priori materialistischen Geschichts­ philosophie leistet, deren Voraussetzung die Abgrenzung von allen anderen vor allem geisteswissenschaftlich und idealistisch orientier­ ten Theorien und Philosophien der Geschichte ist. Wie Horkheimer bereits im Vorwort zu diesem Essay unterstreicht, «können die Aus­ einandersetzungen über die an Machiavelli entwickelte psychologische Geschichtsauffassung nicht bloß für moderne, von der Psychologie beeinflußte Geschichtstheorien, sondern auch für Fragen der philoso­ phischen Anthropologie Bedeutung gewinnen.»145 Es gelte nun, so Horkheimer, die wesentlich am Begriff der Gesellschaft orientierte Kritik an Machiavelli in den größeren Zusammenhang einer philo­ sophischen und soziologischen Diskussion zu stellen, in die auch die Naturrechtslehre von Hobbes, das Problem der Ideologie und das der Utopie einbezogen werden müssten. Diesbezüglich tangiert Horkheimer – und dies ist alles andere als Zufall – die Auffassung von Ernst Bloch, dass die Ideologie den Schein bewirke, wohingegen die Utopie «der Traum von der wahren und gerechten Lebensordnung sei.» «Ideologie und Utopie» – man spürt hier das gespannte Verhält­ nis zu Karl Mannheim – «wollen als Haltungen gesellschaftlicher Gruppen aus der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit begriffen

145 Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930), Gesam­ melte Schriften Band 2, Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 1987, S. 179.

75 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

IV. Kritik der bürgerlichen Geschichtsphilosophie Machiavellis

sein.»146 Des Weiteren gelte es aufzuzeigen, wie diese Theorien als Teil der Emanzipationsbewegung der bürgerlichen Gesellschaft von den Fesseln des Feudalsystems die «Bedürfnisse, Wünsche, Nöte und Widersprüche dieser Gesellschaft»147 zum Ausdruck bringen. In seiner Lektüre der Hauptschriften von Machiavelli – Discorsi (über die ersten zehn Bücher des Titus Livius) (1531), Il Principe (Der Fürst) (1532), Florentiner Geschichten (1532) – dessen Gesammelte Werke auf Deutsch 1925 in einem Münchener Verlag erschienen waren, stellt Horkheimer zunächst anerkennend fest, dass es unbe­ stritten «die Größe Machiavellis» sei, «an der Schwelle der neuen Gesellschaft die Möglichkeit einer der neuzeitlichen Physik und Psy­ chologie in ihren Prinzipien entsprechenden Wissenschaft von der Politik erkannt und ihre Grundzüge einfach und bestimmt ausgespro­ chen zu haben.»148 Hauptziel seiner Reflexionen, Analysen und Über­ legungen zur Politik sei es gewesen, die Gesetzmäßigkeiten zu erfor­ schen, denen zufolge in der wirklichen Gesellschaft die Menschen durch andere Menschen beherrscht werden: «Aufgrund von Beob­ achtungen und einem systematischen Studium der Tatsachen sollen die Kenntnisse vermittelt werden, wie man Herrschaft erwirbt und wie man sie aufrecht erhält.» Als hoher Beamter im Florenz des 16. Jahr­ hunderts, und somit als Zeitzeuge ständiger Rivalitäten, von Ver­ schwörungen, Komplotten, Intrigen und harten Machtkämpfen zwi­ schen den verschiedensten Fraktionen und sozialen Schichten um die Führung und die Regierungsgewalt konnte er diese Beobachtungen sammeln und schließlich in Schriften wie Discorsi und Der Fürst sys­ tematisieren. «Bei seinem Sturz und während seiner Bemühungen, wieder Einfluß zu gewinnen, haben sich gesellschaftliche Bewegun­ gen von nicht geringer Tragweite vor seinen Augen abgespielt. Seine Werke beweisen, daß er seine eigene Zeit mit höchster Genauigkeit verfolgt hat; aber im wesentlichen sieht er sich doch auf die Geschichte angewiesen: dem politischen Forscher muß neben der Gegenwart die Vergangenheit die Beispiele liefern, aus denen die Regelmäßigkeiten abzulesen sind. Wenn Machiavelli die römische Geschichte an Hand des Livius durchforscht, so sucht er in ihr die ewigen Regeln, nach denen sich die Menschen beherrschen lassen.»149 «Die Florentinische 146 147 148 149

A. a. O., S. 180. Ebd. A. a. O., S. 183. Horkheimer, a. a. O., S. 184.

76 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

IV. Kritik der bürgerlichen Geschichtsphilosophie Machiavellis

Geschichte ist ein einziges großes Beispiel; sie ist eine Sammlung von Erinnerungsmaterial im Dienste der zukünftigen Politik.» Im Grunde genommen, so Horkheimer, ist eine einzige Theorie, nämlich die von der Wesensgleichheit der Menschennatur, bestimmend für die gesamte politische Philosophie Machiavellis.150 In Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so heißt es u. a. in Machiavellis Hauptwerk Discorsi, werden die Dinge auf Erden immer von Menschen vollbracht, «die immer die gleichen Leidenschaften besitzen und besaßen; mithin muß auch das Ergebnis immer das gleiche sein.»151 Hier aber stelle sich, so Horkheimer, sofort die Frage: «Wem dient (eigentlich) die Wissenschaft von der Politik? Wer soll denn nach Machiavelli die Menschen beherrschen?» bzw. «welche Form der Beherrschung, welche Staatsform hat sich in der Geschichte als die beste erwiesen oder welche soll erst noch im Fortgang der Dinge aus­ gebildet werden»152? Diesbezüglich verweist Horkheimer in seiner genauen Lektüre der Schriften des Florentinischen Staatsmannes auf einen Widerspruch zwischen Machiavellis Hauptwerk, den Discorsi, und dem Fürsten (Il Principe): Während er «im Buch vom Fürsten, das er einem Medici zu Füßen legt, die Monarchie in ihrer brutalsten Form als den einzigen Weg zur Einigung Italiens preist, hält er ebenso unzweideutig in den Diskursen die Republik für die beste Staatsform. Sie enthülle, so Horkheimer, «durchaus republikanische, ja selbst demokratische Sympathien.»153 Die Aussagen der Diskurse, dem unbestrittenen Hauptwerk Machiavellis, haben hier jedoch eindeutig das Übergewicht über die Thesen des Fürsten. Was die Staatsform betrifft, so macht Machiavelli, wie Horkheimer unterstreicht, hier grundsätzlich die Unterscheidung zwischen der Monarchie, der Tyrannie, der Aristokratie und der Demokratie. Die Entartung der Monarchie in Tyrannei sowie ihr Sturz durch Meuterei und Verschwö­ rung führe zunächst zu einer aristokratischen Regierung, deren Sturz wiederum zur Errichtung der Demokratie führe. «Diese aber hat die Tendenz, sich in Korruption und damit in Anarchie aufzulösen, aus der ein Volk nur wieder durch einen tatkräftigen einzelnen, einen Diktator, einen Monarchen errettet werden kann. Dann beginnt der

150 151 152 153

A. a. O., S. 185. Ebd. Ebd. A. a. O., S. 186.

77 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

IV. Kritik der bürgerlichen Geschichtsphilosophie Machiavellis

Zyklus von neuem.»154 Jede, auch die scheinbar beste Regierungs­ form, trage jedoch den Keim des Untergangs in sich.155 In seiner Lek­ türe Machiavellis aus marxistischer Sicht unterstreicht Horkheimer u. a. die Fortschrittlichkeit des Autors der Diskurse, der den Adel ver­ abscheue und die Erwerbstüchtigkeit des Bürgertums lobe, weil von der Blüte dieser Berufe die allgemeine Wohlfahrt abhänge.156 «Es beweist seinen politischen Weitblick, daß tatsächlich der Aufstieg der Bürgerklasse in der Renaissance die Bedingung des großen gesell­ schaftlichen Fortschritts gewesen ist. Was es mit dem landläufigen Begriff des ‹Machiavellis­ mus› im Sinne radikaler politischer Skrupellosigkeit, völlig ‹moral­ freien› Handelns etc. auf sich hat, lässt sich erst jetzt verstehen. Machiavelli fordert die Unterordnung aller Rücksichten unter den ihm am höchsten erscheinenden Zweck: «die Herbeiführung und Aufrechterhaltung eines starken zentralisierten Staats als Bedingung bürgerlichen Wohlergehens.»157 Immer gehe es Machiavelli daher um die «Herstellung des bestmöglichen Gemeinwesens»158. Deshalb sei auch bei Machiavelli die «leidenschaftliche Verkündigung des starken Staats im Glauben an die Möglichkeit des geistigen und moralischen Fortschritts begründet.»159 Indem er hervorhebe, dass die Verbesserung der Lebensverhältnisse stets aus materieller Not erzwungen wurde und auch die Moralität «nicht aus ursprünglich angelegten kulturellen Intentionen oder moralischen Trieben», son­ dern «aus den durch Not bedingten gesellschaftlichen Verhältnissen abgeleitet ist160, erweise sich seine Analyse als materialistisch. Gera­ dezu «vormarxistisch», so könnte man in Horkheimers Perspektive dazu schlussfolgern, wäre deshalb auch seine Beschreibung der Kämpfe der gesellschaftlichen Klassen in der Epoche der Renaissance in Italien zu werten: «Diese Kämpfe, die er wesentlich in der Gestalt von Bürgerkriegen gesehen hat, sind für ihn daher keineswegs etwas schlechthin Verderb­ liches, sondern eine wesentliche Bedingung des Aufstiegs. Die Form, 154 155 156 157 158 159 160

Ebd. A. a. O., S. 187. A. a. O., S. 189. A. a. O., S. 189–190. A. a. O., S. 190. A. a. O., S. 191. A. a. O., S. 191–192.

78 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

IV. Kritik der bürgerlichen Geschichtsphilosophie Machiavellis

in der er sie selbst am lebendigsten erfahren hat, sind die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Adeligen und Bürgerlichen.»161

Mit anderen Worten, dort wo bei Machiavelli von der «plebs», d. h. den in den Manufakturen, in Reederei und Schifffahrt beschäftigten Arbeitern und den arbeitslosen Existenzen die Rede ist, handele es sich, so Horkheimer, «um die ersten Anfänge des modernen Proleta­ riats.»162 «In der Florentinischen Geschichte werde nämlich eingehend eine Lohn- und Reformbewegung der Arbeiter geschildert, die bei der Wollzunft und in anderen Zünften beschäftigt waren». Diesbezüglich zitiert Horkheimer einen der revolutionären Anführer dieser «prole­ tarischen» Widerstandsbewegung und Propagandisten der «sozialen Gleichheit», in dessen flammender Rede es u. a. heißt: «Alle Men­ schen haben den gleichen Ursprung, ihre Geschlechter sind gleich alt, alle hat die Natur gleich geschaffen. Zieht sie nackt aus, ihr werdet sehen, daß sie uns gleich sind. Kleidet uns in ihre Kleider, sie in die unsrigen und ohne allen Zweifel werden wir Adel, sie Pöbel erschei­ nen. Nur Armut und Reichtum macht zwischen uns den Unterschied. (...) Wer, wie wir, Hunger und Kerker zu fürchten hat, kann und darf der Furcht vor der Hölle nicht Raum geben. Betrachtet die Hand­ lungsweise der Menschen. Ihr werdet sehen, daß alle, die zu großem Reichtum und zu großer Macht gelangen, durch Gewalt oder Betrug dazu gelangten. (...) Treue Knechte bleiben immer Knechte und ehr­ liche Leute bleiben immer arm.»163 So also beschrieb Machiavelli die Klassenkämpfe seiner Zeit. «Trotz der Opfer, die sie fordern», schlussfolgert Horkheimer, «sind sie für ihn als Beobachter der Weltgeschichte eine notwendige Bedingung der menschlichen Entwicklung.»164

Gleichwohl verbindet Horkheimer diese überwiegend positive Ein­ schätzung der Machiavelli’schen psychologischen Geschichtsauffas­ sung mit einer Kritik an Machiavellis «Naturalismus», d. h. seiner Auffassung von der prinzipiellen Gleichförmigkeit der menschlichen Natur, die sich im Charakter der geschichtlich auftretenden Menschen zeige. Dies sei ein «Fehler» Machiavellis, der dazu geführt habe, dass 161 A. a. O., S. 192; cf. Machiavelli, Florentinische Geschichten. Schriften IV, München, 1925. 162 A. a. O., S. 193. 163 Machiavelli, Schriften IV, S. 176.; Max Horkheimer, a. a. O., S. 194. 164 Horkheimer, a. a. O., S. 194.

79 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

IV. Kritik der bürgerlichen Geschichtsphilosophie Machiavellis

er «die Abhängigkeit des Charakters aus den gesellschaftlichen Ver­ hältnissen, in denen ein bestimmtes Individuum sich vorfindet»165, nicht erkannt habe oder nicht habe erkennen wollen. Demgegenüber ist Horkheimer fest davon überzeugt, dass «wir heute Machiavellis ontologische Setzung einer unabänderlichen Psyche des Menschen vermeiden [können], ohne dabei auf psychologische Erklärungen in der Geschichte verzichten zu müssen.»166 Nach Horkheimer, der trotz alledem auch für die Kritik an dieser Kritik des Naturalismus etwas Verständnis hat, kann man mit Recht den Vorwurf des Naturalismus gegen Machiavelli nur dann erheben, «wenn man darunter versteht, daß die dialektischen Bezie­ hungen zwischen außermenschlicher und menschlicher Natur auf Grund einer Betrachtungsweise, die wesentlich der ersteren angepaßt ist, vereinfacht sind. Bei Machiavelli werden ja die Menschen als Gattungen in der Natur genommen wie irgendeine Tiergattung. Jedes Individuum, gleichviel welcher Gruppe und welcher Zeit es angehört, wird als Exemplar der einheitlichen Gattung betrachtet, so wie man eine Biene, eine Ameise oder ein Atom als Beispiel für die übrigen Individuen der Gattung setzen kann. (…) Die Menschen treten hier wie vertauschbare Exemplare einer biologischen Gattung auf; die anorganische und organische Natur macht ihre Einflüsse auf die Individuen geltend, von denen jedes nach seinen Gattungsmerkmalen reagiert, und die Summe der individuellen Reaktionen ist dann die Geschichte.»167 Bei Machiavelli entspreche folglich der bloß biologistischen Auf­ fassung der Menschen eine naturalistische Auffassung der Natur: «Die naive Hinnahme der Naturgesetze und des durch sie bestimmten Naturbegriffs als eines absoluten Ausgangspunktes für alle Erklärungen ist also ebenfalls naturalistisch. Was Natur ist, hängt ebensosehr von dem Lebensprozess der Menschen ab wie umgekehrt dieser Lebensprozeß von der Natur.»168 Das gleiche gälte für das Ver­ hältnis Individuum–Gesellschaft. Im Kontext dieser Überlegungen zum Naturbegriff und zum Verhältnis des Menschen zur Natur wäre hier sicherlich auch ein Verweis auf Spinoza und seinen «Natur­ gott» (Deus sive natura) in seiner Ethica more geometrico demonstrata 165 166 167 168

A. a. O., S. 202. A. a. O., S. 202. A. a. O., S. 203. A. a. O., S. 204.

80 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

IV. Kritik der bürgerlichen Geschichtsphilosophie Machiavellis

(1677) willkommen gewesen, in der ebenfalls dieser Naturalismus eine große Rolle spielt, dies ist jedoch in dieser Studie Horkheimers nicht der Fall. Dennoch spricht vieles für die Hypothese, dass trotz aller bestehenden Differenzen gerade dieser Naturalismus Machia­ vellis Spinoza, jenen anderen großen Vorkämpfer der aufsteigenden bürgerlichen Gesellschaft im 17. Jahrhundert, bei der Abfassung sei­ ner Ethik (1677)169 beeinflusst hat. Gleichwohl verdanken wir dieser äußerst gründlichen Analyse von Machiavellis naturalistisch-psycho­ logistischer Natur- und Geschichtsauffassung durch Horkheimer den wichtigen Hinweis, dass «Ansätze zur Überwindung des Naturalis­ mus, d. h. zur Erkenntnis spezifisch sozialer Gesetze», sich bereits «bei Machiavelli teils in seiner Lehre vom notwendigen Wechsel der Regierungsformen, teils in den Kapiteln, wo die Kämpfe zwischen den Klassen als bestimmend für die kulturelle Fortbewegung dargetan werden», vorhanden sind. Machiavelli habe jedoch diese Einsichten über gesamtgesellschaftliche Bewegungstendenzen «für seine prinzi­ piellen Gedanken nicht fruchtbar gemacht»; denn «er meint, auch die Bewegungen der Klassen wie das politische Leben überhaupt aus dem Begriff isolierter Individuen erklären zu können.»170 Fazit: «Machia­ velli, der erste Geschichtsphilosoph der Neuzeit, ist ein Vorkämpfer der aufsteigenden bürgerlichen Gesellschaft. Ihrer Förderung und Entfaltung gelten die Prinzipien seiner Geschichtsbetrachtung.»171

169 Cf. Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, LateinischDeutsch, hrsg. von Wolfgang Bartuschat, Sämtliche Werke Band 2, Hamburg, Verlag Felix Meiner, 2015 (Philosophische Bibliothek 092). 170 Horkheimer, a. a. O., S. 204. 171 A. a. O., S. 205.

81 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

V. Abschied von der Utopie?

In dem den Anfängen der bürgerlichen Geschichtsphilosophie gewid­ meten Essay Horkheimers wird diese außerordentlich gelehrte, kriti­ sche und sehr überzeugende Studie über Machiavelli und dessen psy­ chologisch orientierte politische Philosophie ergänzt durch ein 2. Kapitel über Naturrecht und Ideologie sowie durch ein 3. Kapitel über «die Utopie». Dass der «Utopie» in diesem Zusammenhang so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, ist sicherlich dem Umstand zu verdanken, dass das 1929 von Karl Mannheim veröffentlichte Buch Ideologie und Utopie in Soziologenkreisen und auch bei den fort­ schrittlich orientierten Philosophen der Epoche relativ viel diskutiert wurde, und sicherlich noch mehr und intensiver als Ernst Blochs Geist der Utopie (1918), ein Buch, das 1923 – mit einigen Veränderungen, Streichungen und Zusätzen – neu aufgelegt worden war und das u. a. wegen des großen der Philosophie der Musik gewidmeten zentralen Kapitels, das bei Theodor W. Adorno großen Anklang gefunden hatte, trotz des Umstands, dass Blochs vom Begriff der schöpferischen Sub­ jektivität geleitete Musikphilosophie einen ganz anderen Weg ging als Adornos materialistisch fundierte Musiksoziologie. Dass Max Horkheimer trotz seines prinzipiellen Interesses an den Utopien – vor allem derjenigen von Thomas Morus, Utopia (1516) und Campanella, Der Sonnenstaat (1623) – ein wesentlich distanzierteres Verhältnis zu den Utopien hatte als z. B. Ernst Bloch, wird nicht nur durch die Tat­ sache belegt, dass in besagtem Kapitel dieses seines Essays aus dem Jahre 1930 Blochs Geist der Utopie unerwähnt bleibt, sondern auch durch die eher utopieskeptische Grundtendenz seiner Argumenta­ tion, die den Willen zur Skizzierung dieser Sozial-Utopien, z. B. im 16. Jahrhundert, durch Thomas Morus172, zwar grundsätzlich aner­ kennt, gleichzeitig aber kritisch anmerkt, dass diese Utopie einer «alternativen besseren Welt» ebenso wie diejenige von Campa­ nella unrealisierbar ist (war). Anerkennend stellt Horkheimer jedoch 172

Cf. Thomas Morus, Utopia (1516).

83 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

V. Abschied von der Utopie?

fest, dass die «Utopisten» klar erkannt hätten, wie in der sich entfal­ tenden Verkehrswirtschaft, d. h. beim Übergang von der Feudalwirt­ schaft zum Merkantilismus und zu dem vor-kapitalistischen Manu­ faktursystem, «der Profit zum Triebrad der Geschichte wird.»173 Dieser Umbruch hätte zur Folge gehabt, dass einerseits bei den großen Unternehmern und Besitzern der Produktionsmittel große Reichtü­ mer aufgehäuft wurden, andererseits aber – z. B. durch die Vertrei­ bung der Bauern von ihren Feldern in England und die Umwandlung ihres Landbesitzes in Weideland für Schafe im 16. Jahrhundert, zwecks Erzeugung der Wolle für die Spinnereien – «die Überlebenden der Leibeigenschaft, die verhungernden Massen der großen Städte, die menschlichen Trümmer der versinkenden Ordnung» zu Lohnar­ beitern wurden, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.»174 Dies sei der eigentliche Grund dafür gewesen, weshalb den Utopisten in dieser seit der Renaissance neu geschaffenen Situation «das Eigentum als der Teufel erscheinen konnte.»175 Weshalb? Eben weil durch «die Ver­ fügung über die Menschen und ihre Arbeitskraft» die Macht immer mehr mit dem Besitz der Arbeitsmittel identisch wurde. Wie Horkheimer des Weiteren unterstreicht, war für Morus und Campanella – beide waren Katholiken – «die Religion das Gefäß, das die Forderung der Gerechtigkeit im Angesicht des realen Elends unverfälscht bewahrte; sie wollen die heilige Gemeinschaft auf Erden verwirklichen, welche die Gesetze der freien Konkurrenz durch die Gebote Christi zu ersetzen hätte. Ihre Anschauung konnte sich nicht auf die der unmittelbaren Gegenwart abgelesene Konzeption von der «Wolfsnatur des Menschen» durch Hobbes stützen. Vielmehr ist nach diesen Denkern der Mensch nicht von Natur aus schlecht, son­ dern er wird es erst durch die Verflechtung in irdische Institutionen, vor allem in die des Eigentums. Campanella wirft Machiavelli vor, er kenne nur die schlechten Motive der Menschen. In den Menschen könnte jedoch «nicht bloß der Egoismus, sondern auch die göttlichen Antriebe der Nächstenliebe wirksam sein.»176 Mit anderen Worten: Die Utopisten antizipieren diesbezüglich bereits im 16. Jahrhundert Rousseaus Theorie, dass die «von Natur aus guten Menschen durch

173 174 175 176

A. a. O., S. 238. Ebd. Ebd. A. a. O., S. 240.

84 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

V. Abschied von der Utopie?

das Eigentum verdorben seien.»177 Es gebe jedoch einen wichtigen Gegensatz zwischen Rousseau und den Utopisten: Denn Rousseau dachte nicht daran, eine unmittelbar gleiche Eigentumsverteilung zu fordern, wohingegen die Utopisten «in Gedanken eine kommunisti­ sche Gesellschaft ohne Privateigentum entwarfen, deren Verwirk­ lichung ihnen in fantastischer Weise mit den Mitteln der Gegenwart als möglich erschien. So erklärt es sich, dass ihre Wunschländer im Gegensatz zu den modernen sozialistischen Entwürfen von Zukunfts­ gesellschaften (...) nicht in der Zukunft liegen, sondern nur in räum­ licher Entfernung von dem Aufenthaltsort der Autoren. «Das Land ‹Utopia› des Morus lieg auf einer Insel des Weltmeeres, im Atlantik, der Sonnenstaat Campanellas im Innern Ceylons.»178 Ein weiteres Charakteristikum der Utopien der Renaissance nach Max Horkheimer ist der Umstand, dass «die Utopie die Zeit [überspringt]. Aus den Sehnsüchten, die durch eine bestimmte Lage der Gesellschaft bedingt sind (...), will sie mit in der Gegenwart vorgefundenen Mitteln eine vollendete Gesellschaft errichten: das Schlaraffenland einer zeit­ bedingten Phantasie.»179 Anstatt jedoch diesem Vorhaben der Pro­ jektion einer künftigen «besseren Welt ohne Herr und Knecht, ohne Ausbeutung und Unterdrückung» auf eine utopische Insel im Atlan­ tischen bzw. Indischen Ozean – z. B. wie ein Ernst Bloch in Das Prinzip Hoffnung180 – begeistert zuzustimmen, gibt Horkheimer hier kritisch zu bedenken, dass «die Utopie verkennt, daß der geschichtliche Ent­ wicklungsstand, von dem aus sie zum Entwurf ihres Nirgendlandes gedrängt wird, materielle Bedingungen seines Werdens, Bestehens und Vergehens hat, die man genau kennen muß, und an denen man selbst anzusetzen hat, wenn man etwas zustande bringen will.»181 Anders ausgedrückt, die «logische Schwierigkeit» der utopistischen Lehre bestehe darin, dass hier «den menschlichen Vorstellungen (...) nicht bloß (...) die geduldige Arbeit an der Wirklichkeit, sondern auch die Zeichnung eines inhaltlich bis ins Einzelne bestimmten Idealbil­ des von einer vollkommenen Gesellschaft zugemutet wird.» Und Horkheimer wertet dies – erstaunlicherweise negativ – als Zeichen Ebd. A. a. O., S. 241–242. 179 A. a. O., S. 242. 180 Cf. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Band II, Kapitel 33–42: Grundrisse einer besseren Welt, Suhrkamp, Frankfurt 1959, S. 598–607. («Thomas Morus oder die Utopie der sozialen Freiheit»). 181 A. a. O., S. 242. 177

178

85 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

V. Abschied von der Utopie?

der Hybris, d. h. des «überheblichen Begriffs einer absoluten Allge­ meinvernunft, die uns in der Theorie der bürgerlichen Philosophen begegnete, wo sie im Gegensatz zu den Utopisten die Funktion hatte, die bestehende Gesellschaft zu verklären und ihre Kategorien für ewige auszugeben.» 182 In der Tat scheint hier Horkheimer eindeutig den «Realismus» eines Hobbes oder Machiavelli, der von sol­ chen «utopischen Einbildungen» und «Phantastereien» nicht viel hielt, dem Utopismus eines Thomas Morus oder Campanella vorzu­ ziehen. Gleichwohl sieht er sich jedoch dazu genötigt, zuzugeben, dass die Utopie «zwei Seiten» habe: Sie sei – einerseits – «Kritik dessen, was ist, und – andererseits – Darstellung dessen, was sein soll.» Die Bedeutung liege wesentlich im ersten Moment beschlossen: «Aus den Wünschen eines Menschen kann man auf seine wirkliche Lage schlie­ ßen; durch das glückliche Utopia des Morus scheint der Zustand der Massen in England hindurch, deren Sehnsucht der humane Kanzler gestaltet hat (...); er projiziert den Inhalt dieser Sehnsucht naiv in ein räumliches oder zeitliches Jenseits. Die Utopie der Renaissance ist der säkularisierte Himmel des Mittelalters»183. In seiner Analyse der Sozialutopien von Thomas Morus und Campanella bestreitet Max Horkheimer zwar keineswegs die Legitimität dieser Wunschprojek­ tionen und Idealisierungen eines besseren und gerechteren Staatswe­ sens, gleichzeitig aber macht er den Einwand geltend, dass es offen­ sichtlich «ein Fehler war, die Gegenwart zu überspringen und mit der Verkündung einer absoluten Vollkommenheit die im Gegebenen lie­ genden Möglichkeiten zu übersehen.»184 Aber es sei ebenso ein Man­ gel, «eine bessere Ordnung nicht auszudenken und ihre Vorausset­ zungen nicht zu erkennen.»185 Und er verbindet damit eine Kritik an Kant, «der sich dem Irrtum der Utopisten in Bezug auf die Bedingun­ gen der Verwirklichung selbst» [anschließe]. Auch er hielte «am Phantom einer harmonischen Gesellschaft fest, zu deren Begründung es jeweils nur auf die rechte Einsicht und den guten Willen aller Betei­ ligten ankomme.»186 Um jedes unnötige Missverständnis in dieser Frage der Nützlichkeit oder Unnützlichkeit der politisch-sozialen Utopien für den Prozess der Emanzipation der Menschheit von 182 183 184 185 186

A. a. O., S. 243. A. a. O., S. 244–245. A. a. O., S. 246. A. a. O., S. 246–247. A. a. O., S. 247.

86 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

V. Abschied von der Utopie?

Gewalt, Unrecht und Unterdrückung zu vermeiden: Nach Horkhei­ mer geht es hier nicht primär darum, von hoher Warte aus «solche Unternehmungen überlegen abzuurteilen, in denen Menschen unver­ mittelt die Utopie verwirklichen und die absolute Gerechtigkeit auf Erden einsetzen wollen.»187 Andererseits aber sei es ein Zeichen von mangelndem Realismus und großer Wirklichkeitsferne, ein «von vornherein aussichtsloses Unternehmen» zu beginnen und mit ihm zu scheitern. Diesen Vorwurf macht Horkheimer u. a. Thomas Mün­ zer, dem Theologen der Revolution und linken Rivalen von Martin Luther in der Reformationsbewegung, der mit seinen flammenden Predigten die aufständischen Bauern, die gegen die feudale Knecht­ schaft rebellierten, dazu anstachelte, einen «heiligen Krieg» gegen die Unterdrücker mit der utopischen Zielvorstellung der «Errichtung des Reiches Gottes auf Erden» zu führen. In den Augen Horkheimers war dies ein von vornherein völlig «aussichtsloses Unternehmen». Nir­ gends wird der Kontrast, die Differenz hinsichtlich der Einschätzung der Utopien zwischen Horkheimer und Ernst Bloch deutlicher als in ihrer völlig unterschiedlichen Einschätzung und Beurteilung von Thomas Münzer. Blochs 1921 erschienenes Buch Thomas Münzer als Theologe der Revolution188 hatte der junge Horkheimer sicherlich gelesen und gekannt, er hat es jedoch in dem der Utopie gewidmeten 3. Kapitel seines Essays über die Anfänge der bürgerlichen Geschichts­ philosophie weder erwähnt noch zitiert. Für Ernst Bloch ist Thomas Münzer nicht nur ein «Rebell in Christo», sondern eine abso­ lute «Lichtgestalt» zur Zeit der Reformation in Deutschland, zur Zeit der Luther’schen Reformbewegung und des Bauernkriegs: «Münzer brach am jähesten ab und hat doch das Weiteste gewollt. (…) Münzer vor allem ist Geschichte im fruchtbaren Sinn; er und das Seine und alles Vergangene, das sich lohnt, aufgeschrieben zu werden, ist dazu da, uns zu verpflichten, zu begeistern, das uns stetig Gemeinte immer breiter zu stützen.»189 Münzer ist für ihn eine messianische Gestalt, die nicht nur das Alte und das Neue Testament versöhnt, sondern in dem sich endlich «Marxismus und Traum des Unbedingten im glei­ chen Gang und Feldzugsplan vereinigen als Kraft der Fahrt und Ende aller Umwelt, in der der Mensch ein gedrücktes, ein verächtliches, ein A. a. O., S. 249. Vgl. Ernst Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, GA Band 2, Suhrkamp, Frankfurt 1972. 189 A. a. O., S. 9. 187

188

87 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

V. Abschied von der Utopie?

verschollenes Wesen war; als Umbau des Sterns Erde und Berufung, Schöpfung und Erzwingung des Reichs: Münzer mit allen Chiliasten bleibt Rufer auf dieser stürmischen Pilgerfahrt.»190 Das «Konkrete seiner Monomanie, seines Idealismus und seines Vertrauens auf sich selber» unterstreichend, schlussfolgert daher Ernst Bloch, ist Thomas Münzer «auch in seinem Scheitern keine rührende, keine punktuelle, keine kosmische, sondern eine durchaus vertretende, kanonische, tra­ gische Gestalt; mit seiner Niederlage wurde von neuem einer echt verkörperten, richtig eingesetzten adäquat erfassten Idee der Weltweg verlegt.»191 Gewiss habe es bei Münzer, so Bloch, auch einen gewissen Zug zur Überschätzung der eigenen Kraft gegeben, z. B. «im schiefen Sich-Einspielen in Gideon, in der reflexiven Ekstase, ein neuer Daniel, ein neuer Elias, ein neuer Moses zu sein, der sein Volk nach Kanaan führt, im Vertrauen auf eine ungegebene, nicht mehr konstitutiv angetroffene Himmelskraft. Aber darüber ist er ein tragischer Held, ernsthaft und mit gebrochener messianischer Kraft; er verlangte Außerordentliches, jedoch keine Illusionen, er zerschellte an Satani­ schem, jedoch Münzer wurde nicht, gleich einem nur negativ gese­ henen Quixote-Typus, in Illusionshaftigkeit zerrieben.»192 Bloch zufolge verfolgte seine Indienstnahme der Theologie für die soziale Revolution193 an der Seite des Bauernheeres ein durchaus realistisches konkret-utopisches Ziel: die von Ausbeutung und Unterdrückung befreite klassenlose Gesellschaft. Diese Begeisterung Blochs für die­ sen «Theologen der Revolution», den Bloch an einer Stelle seiner Münzer-Monographie sogar mit Karl Liebknecht vergleicht, kontras­ tiert erheblich mit der eher rational-kühlen Haltung Max Horkhei­ mers, der Münzer u. a. zum Vorwurf macht, dass ihm «die Geduld des Idealismus» abgehe, wie auch «der Sinn für die gegebenen gesell­ schaftlich-politischen Realitäten», die ihn dazu gebracht hätten, im Bauernkrieg und während der lutherischen Reformation das beste­ hende Kräfteverhältnis falsch einzuschätzen. Münzer wollte die Revo­ lution, niemand kann dies ernsthaft bestreiten, hic et nunc, und zwei­ felsohne ist die Ungeduld immer ein Zeichen revolutionären A. a. O., S. 229. A. a. O., S. 99. 192 A. a. O., S. 101. 193 Cf. dazu auch das Blochs Münzer-Rezeption gewidmete Kapitel in: Arno Münster, Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst Bloch, Suhrkamp stw 372, Frankfurt, 1982. 190

191

88 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

V. Abschied von der Utopie?

Handelns, d. h. das einer kritischen Minderheit, die abwägen muss, welches reale Risiko mit ihren Protestaktionen verbunden ist und welches die realen Chancen der Verwirklichung der politischen Ideale, für die sie kämpft, sind. Max Horkheimer zufolge bestand der Irrtum Münzers darin, dass er nicht warten wollte, «bis das Christentum nach einem endlosen Leidensgang sich verwirklichte. Er verkündete, auch Christus sei nicht geduldig gewesen gegenüber der Ungerechtigkeit auf Erden, und er berief sich dabei auf die Worte Christi selbst im Gegensatz zu den theologischen Interpreten.»194 Und war die Ver­ treibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel durch Jesus von Nazareth nicht ebenso ein klares Zeichen moralisch absolut gerecht­ fertigter revolutionärer Ungeduld? Charakteristisch für Horkheimers Herangehen an die Problema­ tik der Utopien ist auch der Umstand, dass er unter ausdrücklichem Verzicht auf Differenzierungen und Klassifizierungen der sozialen Utopien, die u. a. Ernst Bloch im 2. Band von Das Prinzip Hoffnung vornimmt, d. h. der prinzipiellen Unterscheidung von «Utopien der Ordnung» (Campanella) und «Sozial-Utopien der Freiheit» (von Thomas Morus bis Charles Fourier) auch dem Begriff der «konkreten Utopie», der in Ernsts Blochs utopisch-marxistischem Denken eine wichtige Rolle spielt, ausweicht und dass er die verschiedenen litera­ rischen und philosophischen Utopien allgemein dem Oberbegriff der in eine ideale neue Welt projizierten Wunschträume zuordnet, deren Erfüllung zwar legitim, aber – leider – aussichtslos ist angesichts der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese Skepsis gegen­ über den Utopien ist auch charakteristisch für die Haltung von Rousseau195, der sich in seinem Gesellschaftsvertrag (Contrat social) vor allem auf die Naturrechtstheorien stützt, nicht jedoch auf die Sozi­ alutopien. Der für einen Ernst Bloch typische «militante Optimis­ mus» bezüglich der Verwirklichung der konkreten Utopie, d. h. die große Hoffnung auf das baldige Konkretwerden dieser «Träume von einer besseren Welt» mit einer alternativen gerechteren Wirtschaftsund Sozialordnung in einer Welt der sozialen Gleichheit ohne Aus­ beutung und Gewalt ist bei Horkheimer nicht vorhanden. Stattdessen bleibt dessen kritischer Blick stets auf die großen Leiden der ausge­ beuteten, verarmten und vom bestehenden «System» niedergehalte­ A. a. O., S. 249. Cf. Jean-Jacques Rousseau, «Du Contrat Social ou Principes du droit politique», Paris, 1762.

194 195

89 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

V. Abschied von der Utopie?

nen Massen in der Geschichte gerichtet, deren «Seufzer nach Erlö­ sung» zwar unüberhörbar sind, die jedoch nach Horkheimer von einer religiös-utopischen Eschatologie à la Thomas Münzer, der mit sei­ nen «aufrührerischen» Predigten wie die Propheten des Alten Testa­ ments die baldige Ankunft des Reiches Gottes ankündigte, nicht erlöst, nicht befreit werden können, jedenfalls nicht – und diesbezüg­ lich ist Horkheimers Analyse nach wie vor marxistisch – unter den damals herrschenden Bedingungen eines noch nicht zur Herrschaft und zur Machtausübung herangereiften Bürgertums und einer wei­ testgehend proletarisierten, in die Armut getriebenen und eher schlecht organisierten Bauernschaft, deren Revolte von den damals Herrschenden grausam im Blut erstickt wurde. Thomas Münzer selbst wurde 1525 – nach der verlorenen Schlacht bei Frankenhausen, zusammen mit Tausenden von aufständischen Bauern – gefangen genommen, schrecklich gefoltert und hingerichtet. Welchen großen Stellenwert dieses unermessliche Leiden der Individuen für die Geschichtsphilosophie hat, eine Geschichtsphilo­ sophie wohlgemerkt, die alles andere bestrebt, als diese Leiden und den Menschen von anderen Menschen zugefügten Leiden, z. B. im Namen eines universalen Vernunftprinzips à la Hegel, idealistisch zu verklären, belegt u. a. das 4. Unterkapitel Vico und die Mythologie des Essays von Horkheimer über die Anfänge der bürgerlichen Geschichts­ philosophie, wo es gleich zu Anfang heißt: «... die Frage nach dem ‹Wozu?› angesichts des individuellen Leidens und Todes stammt aus einer allzu tiefen psychischen Wurzel, als daß sie je hätte verstummen können. Wenn die Versuche versagen, die Gegenwart für alle glücklich zu gestalten, wenn die Utopie, in welcher der Zufall ausgelöscht ist, sich nicht verwirklichen lässt, muss eine Geschichtsphilosophie entstehen, die hinter der erfahre­ nen Wirrnis von Leben und Tod eine verborgene gütige Absicht zu erkennen meint, in deren Plänen das Einzelne, scheinbar unbe­ greifliche und sinnlose Faktum seinen ganz bestimmten Stellenwert hat, ohne selbst darum zu wissen. Wenn es wahr ist, dass die Kon­ struktion eines solchen verborgenen Sinnes das Wesen aller echten Geschichtsphilosophie ausmacht, dann ist der Italiener Gianbattista Vico der erste wirkliche Geschichtsphilosoph der Neuzeit gewesen. Denn sein Hauptwerk beabsichtigt zu zeigen, dass die Vorsehung in der menschlichen Geschichte walte und ihre Ziele durch die Hand­ lungen der Menschen verwirkliche, ohne dass diese selbst davon ein klares Bewusstsein besäßen oder besitzen müssten. Seine Größe

90 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

V. Abschied von der Utopie?

liegt freilich nicht in der Konstruktion, sondern in den empirischen Untersuchungen, die er bei dieser Gelegenheit angebahnt hat.»196 Gleichwohl ist, wie Horkheimer unterstreicht, Vicos Theorie der «Vorsehung», d. h. sein Glaube an einen göttlichen Sinn und Heilszweck der Geschichte, nicht unproblematisch; insofern als «die Frage nach der Gerechtigkeit für die einzelnen Menschen, die in der Utopie gestellt wurde, nicht durch den Hinweis auf die gütige Absicht einer göttlichen Vorsehung zu beantworten (ist), wenn diese Indivi­ duen auf dem Weg der Geschichte, der zum Licht führen soll, zer­ stampft werden.»197 Zurecht verweist diesbezüglich Horkheimer auf die Nähe dieser Geschichtsauffassung zu der Hegels, insofern als das, was Hegel später die «List der Vernunft» genannt hat, Vico der «divinitas» zuschreibt: «sie verwirklicht durch das chaotische Tun der Menschen hindurch im unerbittlichen Kampf der Einzelnen, der Klassen und der Völker, in allem Leid und Elend persönlicher Schick­ sale, trotz Borniertheit, Geldgier, Grausamkeit, Fanatismus, ja sogar mittels dieser Momente, menschenwürdige Ordnungen und schließ­ lich ein rational bestimmtes Leben der Gesellschaft.»198 Bei Vico jedoch dominiere eindeutig der Wille, den Gang der Geschichte, «die inneren Bewegungsgesetze, die geheimen und unterirdischen Tendenzen der Geschichte freizulegen.» Auch sei – verglichen mit Hegel – sein Werk «viel empirischer, bedeutend weni­ ger konstruktiv als die Spekulationen des großen Idealisten, dem es darauf ankam, das Göttliche im Diesseits aufzuweisen.»199 Ähnlich wie Machiavelli gehe er auch davon aus, dass «die menschlichen Produktionen aus Notwendigkeit, genauer gesprochen: aus der Reak­ tion auf materielle Not zu erklären sind.»200 Die Aufgabe von Vico’s Scienza Nuova, seiner Wissenschaft, sei daher, «diese Kulturprodukte als Oberflächenerscheinung der Geschichte wahrzunehmen und die naturhaften, triebmäßigen, sozialen Zusammenhänge zu begreifen, aus denen sie hervorgegangen sind und die sich in ihnen reflektie­ ren.»201 In dieser Perspektive zeichne Vico in der Scienza Nuova die Konturen einer «idealen Geschichte», deren Etappen das «frühe 196 197 198 199 200 201

Max Horkheimer, a. a. O., S. 252 («Vico und die Mythologie»). A. a. O., S. 256. A. a. O., S. 256. A. a. O., S. 257. A. a. O., S. 258. A. a. O., S. 264.

91 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

V. Abschied von der Utopie?

Königtum», die aristokratische, dann die demokratische Republik, das Kaisertum und schließlich der Untergang202 seien. Auf jeden dieser Zyklen folge unvermeidlich ein «Rückfall in die Barbarei»203. Nach Horkheimer ist ihm hier insoweit recht zu geben, «dass die Möglich­ keit des Rückfalls in die Barbarei niemals völlig ausgeschlossen ist. »204 Die katastrophale politische Entwicklung in den europäischen Nationalstaaten in den 1930er und 40er Jahren sowie der 2. Weltkrieg mit der genozidalen Barbarei des Nationalsozialismus hat vollauf diese pessimistisch-realistische Einschätzung Horkheimers bestätigt.

202 203 204

A. a. O., S. 267. Ebd. A. a. O., S. 268.

92 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

Als die Nazis mit Hitler 1933 an die Macht kamen und als die überwiegend jüdischen Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozi­ alforschung gezwungen waren, ins Exil zu gehen, hatte Horkheimer in den drei Jahren, in denen er die Direktion des IfS innehatte, mit sei­ nem interdisziplinären Forschungsprogramm bereits die Fundamente für eine neue, kritische, «heterodox» neo-marxistische Sozialphiloso­ phie gelegt, deren systematische Ausarbeitung und Grundlegung, durch die politischen Ereignisse in Deutschland verzögert, dann aller­ dings erst im ersten Jahr des Exils in Genf (1933) und später dann in den USA erfolgen sollte. Mit der Veröffentlichung des Essays Tra­ ditionelle und kritische Theorie im Jahre 1937, der von Horkheimer in New York während seiner Lehrtätigkeit an der Columbia-Universität in den Jahren 1935 bis 1936 geschrieben worden war, erreichte diese Arbeit an einer breiten umfassenden theoretischen Fundierung der Frankfurter Sozialphilosophie einen ihrer großen Höhepunkte. Die zwei anderen thematischen Schwerpunktgebiete des nach Amerika emigrierten Instituts waren die Studien über Autorität und Familie (1936) und das Studienprojekt über den Autoritären Staat, dessen Ergebnisse 1942 veröffentlicht wurden. Man könnte Horkheimers Essay Traditionelle und kritische Theo­ rie als den groß angelegten Versuch der Begründung und Selbst­ vergewisserung einer neuen dialektischen kritischen Theorie der Gesellschaft verstehen, die sich von vornherein methodisch von allen anderen szientistisch, idealistisch oder positivistisch orientier­ ten Theorieentwürfen in der Geschichte der Philosophie und der Soziologie abgrenzt und dabei auch «das falsche Selbstbewußtsein des bürgerlichen Gelehrten unter der liberalistischen Ära»205 denun­ ziert. Damit distanziert sich Horkheimer ausdrücklich auch von dem 205 Max Horkheimer, «Traditionelle und kritische Theorie» (1937), in: Gesammelte Schriften Band 4, Fischer Taschenbuch-Verlag, Fankfurt, 1988, S. 171.

93 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

Neukantianismus der Marburger Schule um Hermann Cohen206, Natorp und Cassirer und dem «Logizismus» dieser Erneuerung der Kantischen Transzendental-Philosophie, bei der «einzelne Züge der theoretischen Tätigkeit des Fachgelehrten» geradezu zu «universa­ len Kategorien, gleichsam zu Momenten des Weltgeistes, des ewi­ gen Logos» gemacht und wo die «Kraft der Erkenntnis» die «Kraft des Ursprungs» und «Erzeugen» die «schöpferische Souveränität des Denkens»207 genannt werden. In dieser Hypostasierung des Logos als der Wirklichkeit durch die Marburger Neukantianer sieht Hork­ heimer so etwas wie eine «verkleidete Utopie»208. Folglich «muß zu einer Konzeption übergegangen werden, in der die Einseitigkeit, welche durch die Abhebung intellektueller Teilvorgänge von der gesamtgesellschaftlichen Praxis notwendig entsteht, wieder aufgeho­ ben wird.»209 Wie Axel Honneth unterstreicht, «benutzt Horkheimer das erkenntnistheoretische Denkmodell Kants, um eine geschichtsphi­ losophische Konstruktion zu verdeutlichen: so wie Kant die Welt der Gegenstände möglicher Erfahrung auf die strukturgebenden Leistungen eines transzendentalen Subjekts zurückführt, so ist die soziale Welt als noch nicht gewusstes Produkt der menschlichen Naturbearbeitung zu betrachten. Die transzendentalphilosophische Redeweise, die diese materialistische Lesart der Erkenntnistheorie Kants aufzwingt, verlangt den Singular, den Horkheimer verwendet, um die menschlichen Arbeitsleistungen gebündelt als ‹die› Aktivität der Gattung zu charakterisieren; ihr muss er all die ordnungsstiften­ den Leistungen zutrauen, mit denen Kant das transzendentale Ich ausstattet. Dann stellt die menschliche Gattung als singulares Subjekt der Geschichte schon immer und ständig perfekter die soziale Welt her, um deren Konstitution sie aber bis in die Gegenwart hinein nichts weiß; diese Bewusstlosigkeit der Gattung als Subjekt ist letzte Ursache für die katastrophale Blindheit des bisherigen Geschichts­ verlaufs. Die neuzeitliche Wissenschaft ist selbst noch einmal unbe­

206 207 208 209

Cf. Hermann Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, Berlin, 1902. A. a. O., S. 172. Ebd. A. a. O., S. 173.

94 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

wusstes Moment dieser immerwährend produktiven, aber bislang blinden Selbsterhaltung.»210 Horkheimers Kritik an der ‹traditionellen Theorie› betrifft des Weiteren auch die Methodik der Phänomenologie Husserls. Davon ausgehend, dass «Theorie» in der gebräuchlichen Forschung als ein Inbegriff von Sätzen über ein Sachgebiet gilt, «die so miteinander verbunden sind, dass aus einigen von ihnen die übrigen abgeleitet werden können»211, und eingedenk des Umstands, dass Descartes in der dritten Maxime seines Discours de la méthode die wissenschaftli­ che Methode und Theoriebildung als den «Entschluss» (bezeich­ net), «der Ordnung nach meine Gedanken zu leiten, also bei den ein­ fachsten und am leichtesten zu erkennenden Gegenständen zu beginnen, um nach und nach sozusagen gradweise bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten aufzusteigen»212 mit dem Ziel, die «Ord­ nung der Welt aus einem deduktiven logischen Zusammenhang zu erschließen», räumt Horkheimer ein, dass die Phänomenologie Hus­ serls213, so wie sie in den Logischen Untersuchungen formuliert wird, zwar die «fortgeschrittenste Logik der Gegenwart» darstelle, dass aber andererseits dieser Begriff von Theorie ähnlich wie bei Descartes eine «systematische Verknüpfung von Sätzen in der Form einer sys­ tematisch einheitlichen Deduktion»214 postuliere. Grundsätzlich pro­ blematisch sei in den Augen von Horkheimer und einer gesellschaft­ lich orientierten kritischen Theorie auch die schon bei Descartes vorhandene Tendenz zur puren Reduktion der Erkenntnis auf die Mathematik oder mathematisch formulierte Konstruktionen sowie die Rationalisierung von Allem auf rein logische Operationen. Pro­ blematisch ist aber auch – aus der Sicht einer materialistischen und dialektischen Sozialphilosophie Horkheimers – Husserls essentialis­ tische Theorie von der «Wesensschau» und der «eidetischen Reduk­ tion» den Wesenskern der zu erkennenden Phänomene und Fakten betreffend. (Cf. Husserls Postulat «Zu den Sachen selbst!»). Bei bei­ den gebe es folglich ein Defizit hinsichtlich der Bedeutung der gesell­ schaftlich-geschichtlichen Prozesse, die z. B. schon im 16. Jahrhundert 210 Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschafts­ theorie, Suhrkamp, Frankfurt, 1985, S. 15–16. 211 A. a. O., S. 162. 212 Cf. René Descartes, Discours de la méthode II, Leipzig, 1637, S. 15. 213 Cf. E. Husserl, Logische Untersuchungen, Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik, «Husserliana» Band XVIII, 1975. 214 Cf. Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik, Halle, 1929, S. 79.

95 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

dazu geführt hätten, dass das kopernikanische System eine «revolu­ tionäre Macht» wurde: «Daß die Änderung wissenschaftlicher Strukturen von der jewei­ ligen gesellschaftlichen Situation abhängt, gilt jedoch nicht allein für so umfassende Theorien wie das kopernikanische System, sondern auch für die speziellen Forschungsprobleme im Alltag. Ob das Auf­ finden neuer Varietäten auf einzelnen Gebieten der anorganischen oder organischen Natur (...) zur Änderung alter Klassifikationen oder zum Entstehen neuer den Anlaß bildet, läßt sich keineswegs nur aus der logischen Situation ableiten. (...) Ob und wie neue Definitionen zweckmäßig aufgestellt werden, hängt in Wahrheit nicht bloß von der Einfachheit und Folgerichtigkeit des Systems, sondern u. a. auch von der Richtung und Zielen der Forschung ab, die aus ihr selbst weder zu erklären noch gar letztlich einsichtig zu machen sind.»215 Gewiss berücksichtigen die Positivisten wie auch die Pragmatis­ ten die Verflechtung der theoretischen Arbeit in den Lebensprozeß der Gesellschaft. Für den Gelehrten sei dies jedoch, so Horkheimer, eine reine Privatangelegenheit. Deshalb widerspricht Horkheimer diesbezüglich auch Max Weber und dessen Theorie vom «freischwe­ benden» Charakter des Gelehrten und Intellektuellen, mit dem Hin­ weis, dass «der Gelehrte und seine Wissenschaft in den gesellschaft­ lichen Apparat eingespannt» ist und dass «ihre Leistung ein Moment der Selbsterhaltung, der fortwährenden Reproduktion des Bestehen­ den» sei, «gleichviel, was sie sich selbst einen Reim darauf machen. Sie müssen nur ihrem ‹Begriff› entsprechen, d. h. Theorie in dem Sinn herstellen, wie er oben beschrieben wurde. In der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hat der Gelehrte Tatsachen in begriffliche Ordnungen einzugliedern und diese so instand zu halten, dass er selbst und alle, die sich ihrer bedienen müssen, ein möglichst weites Tatsachengebiet beherrschen können. Das Experiment hat innerhalb der Wissenschaft den Sinn, die Tatsachen in einer Weise festzustellen, die der jeweiligen Situation der Theorie besonders angemessen ist. Das Tatsachenma­ terial, der Stoff wird von außen geliefert (...). Für den Gelehrten ist das Aufnehmen, Umformen, Durchrationalisieren des Tatsachenwis­ sens (...) seine besondere Art der Spontaneität, die theoretische Betä­ tigung. Der Dualismus von Denken und Sein, Verstand und Wahr­ nehmung ist ihm natürlich.»216 215 216

Max Horkheimer, a. a. O., S. 169. A. a. O., S. 171.

96 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

Seit Descartes, Spinoza und Kant beruht das bürgerliche Denken auf der Vorstellung von der Autonomie des erkennenden und han­ delnden Subjekts, das, wie Horkheimer unterstreicht, «in der Refle­ xion auf sein eigenes Subjekt mit logischer Notwendigkeit das Ego erkennt, das sich autonom dünkt.»217 Sein Prinzip ist die «vom Geschehen abgeschlossene Individualität». Diese wiederum stehe jedoch in absolutem Gegensatz zum rhetorisch-ideologi­ schen «Wir» des völkischen Gemeinschaftsdenkens, d. h. jenes pangermanischen Nationalismus der Nazis, der die Autonomie des Sub­ jekts als der entscheidenden Instanz des rationalen Handelns bewusst bekämpft und ersticken will, um mit einem totalitären Anspruch das rassistisch-antisemitische Projekt einer autoritär von einem «Füh­ rer» gelenkten Volksgemeinschaft zu verwirklichen: «Das rhetorische Wir wird hier im Ernst gebraucht. Das Reden glaubt, das Organ der Allgemeinheit zu sein. In der zerrissenen Gesellschaft der Gegenwart ist dieses Denken, vor allem in gesellschaftlichen Fragen, harmonis­ tisch und illusionär. Das kritische Denken und seine Theorie ist beiden Arten entgegengesetzt. Es ist weder die Funktion eines isolierten Individuums noch die einer Allgemeinheit von Individuen. Es hat vielmehr bewußt ein bestimmtes Individuum in seinen wirklichen Beziehungen mit anderen Individuen und Gruppen, in seiner Aus­ einandersetzung mit einer bestimmten Klasse und schließlich in der so vermittelten Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Ganzen und der Natur zum Subjekt. Es ist kein Punkt wie das Ich der bürgerlichen Philosophie, seine Darstellung besteht in der Konstruktion der geschichtlichen Gegenwart.» Mit der Aussage, «das denkende Subjekt sei nicht der Ort, an dem Wissen und Gegenstand zusammenfal­ len»218, widerspricht Horkheimer nicht nur Hegel, sondern auch Des­ cartes’ «idealistischer», zur Ideologie gewordenen These, dass «die beschränkte Freiheit des bürgerlichen Individuums in der Gestalt vollendeter Freiheit und Autonomie»219 erscheine. Dem hält Hork­ heimer, diese Theorie der «Autonomie» in Frage stellend, entgegen, dass «das Ich, ob es sich nun bloß als denkendes oder auch in anderer Weise betätigt, in einer undurchsichtigen, bewußtlosen Gesellschaft auch seiner selbst nicht gewiß» sei:

217 218 219

A. a. O., S. 184. A. a. O., S. 184. A. a. O., S 185.

97 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

«Im Denken über den Menschen klaffen Subjekt und Objekt auseinander; ihre Identität liegt in der Zukunft und nicht in der Gegenwart. Die Methode, die dahin führt, mag nach dem cartesia­ nischen Sprachgebrauch Klärung heißen, aber diese bedeutet im wirklich kritischen Denken nicht nur einen logischen, sondern einen ebenso sehr konkret-geschichtlichen Prozeß. In seinem Verlauf verän­ dert sich sowohl die soziale Struktur im ganzen wie das Verhältnis des Theoretikers zur Gesellschaft überhaupt, das heißt, es ändert sich das Subjekt wie auch die Rolle des Denkens. Die Annahme der wesentlichen Unveränderlichkeit des Verhältnisses von Subjekt, Theorie und Gegenstand unterscheidet die cartesianische Auffassung von jeder Art dialektischer Logik.»220 In seinen Reflexionen über die Funktion des kritischen Denkens in der Gesellschaft widerspricht Horkheimer auch entschieden der von den Konservativen ins Feld geführten und verbreiteten Ansicht, dass dieses kritische Denken, «soweit es nicht zu utopistischen Phan­ tasien seine Zuflucht nehme, in formalistische Spiegelfechterei»221 versinke und dass «der Versuch, auf legitime Weise praktische Ziele denkend zu bestimmen, immer mißlingen»222 müsse. Nach Hork­ heimer besteht der grundsätzliche Irrtum dieser Argumentation darin, «daß in ihr das Denken in der abgelösten fachlichen und daher spiritualistischen Weise verstanden ist, wie es sich unter den Bedingungen der gegenwärtigen Arbeitsteilung vollzieht.»223 Konse­ quent konfrontiert Horkheimer als Freudo-Marxist diese Polemik mit dem Hinweis darauf, dass die Menschen stets «im geschichtlichen Gang zur Erkenntnis ihres Tuns gelangen und dadurch auch den Widerspruch in ihrer Existenz begreifen.»224 Entscheidend sei hier vor allem der Umstand, dass im Zuge dieses geschichtlich-ökonomischsozialen Prozesses die Veränderung des Arbeitsprozesses verstärkt im Bewusstsein der Massen wahrgenommen werde und dass der bürgerlichen Wirtschaftsordnung eine Dynamik innewohne, die dazu geführt habe, dass sich auf der einen Seite «phantastische Macht» und auf der anderen «materielle und intellektuelle Ohnmacht» sich ange­ häuft habe: «Die Menschen erneuern durch ihre eigene Arbeit eine 220 221 222 223 224

Ebd. A. a. O., S. 185. Ebd. Ebd. A. a. O., S. 186.

98 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

Realität, die sie in steigendem Masse versklavt.»225 Dieser mit der Erweiterung der Produktion zunehmende Klassenantagonismus zwi­ schen Kapital und Arbeit ist bestimmend für die Klassentheorie von Marx und Engels und die dialektische Begründung der Notwendigkeit einer sozialen Revolution. Horkheimer wäre zwar der Letzte, dies zu leugnen, gleichzeitig aber gibt er – gewissermaßen in der Verlänge­ rung seiner kritischen Reflexionen in der Dämmerung über die «Ohn­ macht der deutschen Arbeiterklasse» – zu bedenken, dass «auch die Situation des Proletariats in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis bildet.»226 Warum? Weil, so Horkheimer, «wie sehr es die Sinnlosigkeit als Fortbestehen und Vergrößerung der Not und des Unrechts an sich selbst erfährt, so verhindert doch die von oben noch geförderte Differenzierung seiner sozialen Struk­ tur und die nur in ausgezeichneten Augenblicken durchbrochene Gegensätzlichkeit von persönlichem und klassenmäßigem Interesse, daß dieses Bewußtsein sich unmittelbar Geltung verschaffe. An der Oberfläche sieht vielmehr die Welt auch für das Proletariat anders aus. Eine Haltung, welche seine wahren Interessen und damit auch die der Gesellschaft im ganzen nicht auch ihm selbst entgegenzusetzen imstande wäre, sondern ihre Richtschnur von Gedanken und Stim­ mungen der Massen bezöge, geriete selbst in sklavische Abhängigkeit vom Bestehenden.»227 Mit dieser Bemerkung spielt Horkheimer unverblümt auf die vom orthodoxen Marxismus verschleierte und nicht zur Kenntnis genommene Tatsache an, dass die Masse der Arbeiterschaft in Deutschland, auch unter den Bedingungen der großen Zuspitzung der sozialen Kämpfe infolge von Wirtschaftskrise, Inflation und großer Arbeitslosigkeit, realiter kein revolutionäres Klassenbewusst­ sein hatte, welches es ermöglicht hätte, durch bewusste Aktionen die bestehende kapitalistische Wirtschaftsordnung und Gesellschaft zu stürzen, eben weil in dieser beherrschten Klasse die «sklavische Abhängigkeit» der Massen vom Bestehenden bereits viel zu groß war. Ähnlich wie Gramsci sieht Horkheimer die Funktion des kritischen, für den sozialen Fortschritt und die Emanzipation der Arbeiterklasse von den Fesseln des Kapitalismus engagierten Intellektuellen, darin, nicht etwa wie so mancher Intellektuelle in einen «bodenlosen sozia­ 225 226 227

Ebd. A. a. O., S. 187. A. a. O., S. 188.

99 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

len Pessimismus und Nihilismus zu verfallen»228, sondern in «dyna­ mischer Einheit» mit der beherrschten Klasse in der jeweiligen kon­ kreten historischen Situation «stimulierend»229 auf den Kampf der beherrschten Klasse einzuwirken. Dabei legt er gleichzeitig auch Wert auf die Feststellung, dass «der Gang der Auseinandersetzung zwischen den fortgeschrittenen Teilen der Klasse und den Individuen, welche die Wahrheit über sie aussprechen (...), als ein Prozeß von Wechselwirkungen zu verstehen ist, bei dem das Bewußtsein mit seinen befreienden zugleich seine antreibenden, disziplinierenden, aggressiven Kräfte entfaltet.»230 «Die Einheit der sozialen Kräfte, von denen die Befreiung erwartet wird, ist – im Sinne Hegels – zugleich ihr Unterschied, sie existiert nur als Konflikt, welcher ständig die in ihm begriffenen Subjekte bedroht.» Deshalb sei, so Horkheimer, die Kritik des Theoretikers «nicht nur aggressiv gegenüber den Apologeten des Bestehenden, sondern ebensosehr gegenüber ablenkenden, konfor­ mistischen oder utopistischen Tendenzen in den eigenen Reihen.»231 Deshalb dürfe der oppositionelle Theoretiker – im Gegensatz zu dem bürgerlichen der «traditionellen Theorie» – sich auch nicht damit begnügen, wie z. B. Henri Poincaré, nur Hypothesen zu prüfen und zu verwerfen; «sein Beruf» sei vielmehr, so Horkheimer, «der Kampf, zu dem sein Denken gehört, nicht das Denken als etwas Selbständiges, davon zu Trennendes.» Mit anderen Worten: «Was die traditionelle Theorie ohne weiteres als vorhanden annehmen darf, ihre positive Rolle in einer funktionierenden Gesellschaft (...), (das) stehe beim kritischen Denken in Frage. Das Ziel, das es erreichen will, der ver­ nünftige Zustand, gründet zwar in der Not der Gegenwart. Mit dieser Not ist jedoch das Bild ihrer Beseitigung nicht schon gegeben. Die Theorie, die es entwirft, arbeitet nicht im Dienst einer schon vorhan­ denen Realität; sie spricht nur ihr Geheimnis aus.»232 Zu diesem Geheimnis gehöre u. a. das unbeirrte Festhalten an der «Idee einer künftigen Gesellschaft als Gemeinschaft freier Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist»233, sowie die Überzeugung, dass die Zerrissenheit und Irrationalität der bestehen­ den Gesellschaft beseitigt werden können. Es ist dieser unerschütter­ 228 229 230 231 232 233

Ebd. A. a. O., S. 189. A. a. O., S. 189. A. a. O., S. 189–190. A. a. O., S. 190–191. A. a. O., S. 191.

100 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

liche Glaube an die Möglichkeit der Verwirklichung einer besseren, gerechteren und vernünftigeren Gesellschaft als Antipode und einzi­ ger Alternative zum Irrationalismus des völkischen Nationalismus und Faschismus und zu anderen ihm ähnelnden totalitären Systemen, der Horkheimer wie auch Adorno und Marcuse in dem Willen bestärkt hat, vom nordamerikanischen Exil aus in den 1930er und 1940er Jahren die kritische Theorie der Gesellschaft bewusst und wirksam als «intellektuelle Waffe» einzusetzen und zu gebrauchen, deren Mission vor allem darin bestehe, jene Talfahrt der Menschheit in die Hölle aufzuhalten und zu verhindern. Natürlich habe diese Theorie, «die zur Transformation des gesellschaftlichen Ganzen treibt, zunächst zur Folge, daß sich der Kampf verschärft, mit dem sie verknüpft ist.» Diese Idee mit dem erklärten Ziel der Errichtung einer besseren, auf die Assoziation freier und gleicher Menschen gegründeten Gesellschaft, hat nach Horkhei­ mer jedoch nichts zu tun mit «abstraktem Utopismus», insofern als sich «diese Idee durch den Nachweis ihrer realen Möglichkeit beim heutigen Stand der menschlichen Produktivkräfte [unterscheide]. Wie viele Tendenzen jedoch zu ihr hintreiben mögen, wie viele Über­ gänge erreicht sind, wie wünschenswert und in sich wertvoll einzelne Vorstufen sein können – was sie geschichtlich für die Idee bedeuten, ist ausgemacht erst dann, wenn sie verwirklicht ist.»234 Beschwört Horkheimer in diesem Zusammenhang den «Eigensinn der Phanta­ sie», den der Theoretiker unbedingt aufbringen müsse, um dieses Bild der Zukunft zu entwerfen und entschieden für dessen Verwirklichung kämpfen zu können, so befindet er sich hier – wohlgemerkt unein­ gestandenermaßen –, auch mit der Anspielung auf die «reale Mög­ lichkeit» der Transformation des Bestehenden zum Besseren und Ver­ nünftigeren, beinahe auf der gleichen Wellenlänge wie Ernst Bloch, der im Prinzip Hoffnung die Realisierung der «konkreten Utopie» mit der Kategorie «reale Möglichkeit» verknüpft, ohne deren Vermitt­ lung die im antizipierenden Bewusstsein geformten Wunschbilder des «utopischen Vorscheins» nicht verwirklicht werden können.235 Auch seine Rehabilitierung der oft so verschmähten Utopien ist begleitet von der Überzeugung, dass es notwendig sei, den «abstrak­ ten Utopismus» zu beenden und an seine Stelle die «konkrete Uto­ A. a. O., S. 193–194. Cf. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. I: Kap. 18, «Die Schichten der Kategorie Möglichkeit», Suhrkamp, Frankfurt, 1959, S. 258 ff.

234 235

101 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

pie» eines praktizierten «Marxismus als Moral» zu setzen. Dabei stellt er bewusst die erforderliche radikale pro-utopische gesellschaft­ liche Transformation in den Horizont der Postulate der Marx’schen Feuerbach-Thesen.236 Horkheimer hingegen positioniert sich hier vor allem als der engagierte kritische Intellektuelle, dessen Funktion darin bestehen soll, «eine Entwicklung zu beschleunigen, die zu einer Gesellschaft ohne Unrecht führen soll» und der sich somit auch «im Gegensatz zu Ansichten befinden kann, die beim Proletariat gerade vorherrschen.»237 Mit dem Pochen auf der Autonomie und der Unab­ hängigkeit des kritischen Intellektuellen, dessen Charakteristikum auch darin bestehe, dass er «innerhalb der avanciertesten Gruppen den Eigensinn238 der Phantasie verkörpert»239, während die Gegen­ seite ihn als «weltfremden Utopisten» denunziert, distanziert sich Horkheimer ausdrücklich auch von der wissenssoziologischen Posi­ tion Karl Mannheims240, für den das Wesensmerkmal der Intelligenz das «Schweben über den Klassen» ist. Wie auch Ernst Bloch weist er Mannheims Theorie von der «freischwebenden Intelligenz» zurück, weil «diese überparteiliche und daher abstrakte Fassung der Intelli­ genz eine Fassung der Probleme bedeute, welche die entscheidenden Fragen bloß verdeckt.» Denn der kritische Intellektuelle ist alles andere als von dem Leben der Gesellschaft losgelöst, er schwebt nicht über ihr. «Soweit er auf Autonomie, auf die Herrschaft der Menschen über ihr eigenes Leben wie über die Natur abzielt, vermag er diese Tat­ sache als wirkende Kraft in der Geschichte zu erkennen.» Mit anderen Worten: «Der abstrakte, als soziologische Kategorie festgehaltene Begriff einer Intelligenz, die dazu noch missionarische Funktionen haben soll, gehört seiner Struktur nach zur Hypostasierung der Fachwissenschaft. Die kritische Theorie ist weder ‹verwurzelt› wie die totalitäre Propaganda, noch ‹freischwebend› wie die liberalistische

236 Cf. Ernst Bloch, «Weltveränderung oder die Elf Thesen von Marx über Feuer­ bach»,in: Das Prinzip Hoffnung, Suhrkamp, Frankfurt 1959, S. 288–334. 237 Max Horkheimer, a. a. O., S. 195. 238 Vgl. hierzu auch: Oskar Negt, Geschichte und Eigensinn, Zweitausendeins, Frank­ furt, 1981; Oskar Negt, Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn. Geschichtliche Organisation von Arbeitsvermögen; Elemente der politischen Ökonomie der Arbeitskraft, Werkausgabe Bd. 6,1, Steidl-Verlag, Göttingen. 239 A. a. O., S. 194. 240 Cf. Karl Mannheim (1893–1947), Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hrsg. von Kurt Wolff, Luchterhand, Neuwied/Berlin, 1964.

102 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

Intelligenz.»241 Ähnlich wie Marx, Engels, Rosa Luxemburg, Lenin, Gramsci, Lukacs, Ernst Bloch oder Bertolt Brecht, plädiert Horkhei­ mer im Kontext der ökonomisch-politischen Kämpfe seiner Zeit also für «Parteilichkeit», allerdings schon mit dem Vorbehalt einer prinzi­ piellen Autonomie und Unabhängigkeit des kritischen Intellektuellen gegenüber den Entscheidungen und Aktionen der bürokratisierten Apparate der Parteien mit ihrer Tendenz, durch die mechanische Prak­ tizierung eines «demokratischen Zentralismus» ihre Mitglieder und Anhänger zu einfachen Befehlsempfängern bürokratischer Ukase zu machen, die jegliche Spontaneität zu ersticken drohen. (Diesbezüglich ist die theoretische Nähe Horkheimers zu der Positionierung von Rosa Luxemburg242 in ihrer Polemik gegen Lenin unverkennbar.) Dies alles erfolgt jedoch bei Horkheimer im Rahmen einer durch­ aus marxistischen Gesellschaftsanalyse, die vor allem die regulie­ rende Wirkung des Tausches243 bei der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus unterstreicht, auf der die bürgerliche Wirtschaft beruht. Nach Horkheimer hat jedoch die Kritische Theorie die Auf­ gabe, in diese Theorie von der Dynamik des Tauschverhältnisses «spe­ zifische Elemente» einzufügen, um von dieser grundlegenden Struk­ tur zu einer Differenzierung der Realität zu gelangen.244 Dies sei jedoch nicht durch einfache Deduktion möglich, sondern zu jedem Schritt gehöre notwendig «die Kenntnis über Mensch und Natur, die in den Wissenschaften und in der geschichtlichen Erfahrung vorliegt. »245 Folglich beginne die Kritische Theorie mit einer einfachen Theorie des Warenaustausches, um dann in den weiteren Schritten aufzuzei­ gen, wie «die bürgerliche Tauschgesellschaft notwendig zu Kapitalis­ mus mit industrieller Reservearmee und Krisen führe.»246 Gerade was die Kenntnis über Menschen und Natur betrifft, sei jedoch der Rück­ griff und gewissermaßen die Erweiterung der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie durch sozialpsychologische Analysen notwen­ dig und unentbehrlich, ermögliche diese doch die Darstellung der Kritischen Theorie als Gesellschaftstheorie als ganze als ein «einziges

Max Horkheimer, a. a. O., S. 197. Cf. Rosa Luxemburg, «Die Russische Revolution», in: R. L., Gesammelte Werke Band 2, Karl Dietz-Verlag, Berlin, 1970, 2000. 243 Max Horkheimer, a. a. O., S. 199. 244 Ebd. 245 A. a. O., S. 199–200. 246 A. a. O., S. 200. 241

242

103 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

entfaltetes Existentialurteil.»247 Dies wiederum ermögliche schließ­ lich die Erkenntnis, warum diese bürgerliche Tauschgesellschaft, d. h. der moderne Kapitalismus, «nach einer Periode des Aufstiegs, der Entfaltung menschlicher Kräfte, der Emanzipation des Individuums, nach einer ungeheuren Ausbreitung der menschlichen Macht über die Natur schließlich die weitere Entwicklung hemmt und die Menschheit einer neuen Barbarei zutreibt. Die Warnung vor dieser neuen Barbarei wird seit der Tätigkeit des IfS im Exil an der Columbia-University in New York geradezu zu einem Leitmotiv der publizistischen Arbeit des Frankfurter Gelehrten-Kollektivs werden. Gegen den Idealismus mit seiner Vorstellung von einer «bloß inneren Freiheit» gerichtet, distanziert sich die Kritische Theorie erkenntnistheoretisch auch ausdrücklich von der «Hypostasierung des cartesianischen Dualismus von Denken und Sein»; denn «die Theorie, die zur realen Macht wird, das Selbstbewußtsein der Subjekte einer großen geschichtlichen Umwälzung, geht über die Mentalität hinaus, für welche dieser Dualismus kennzeichnend ist.»248 Als mate­ rialistische orientiere sich die Kritische Theorie daher notwendig an der Theorie-Praxis-Dialektik der Lehre von Karl Marx, an dessen Kri­ tik der politischen Ökonomie und an seiner Ideologiekritik, wohl wis­ send, dass «die Ideologie einen nicht zu unterschätzenden Kittfaktor des rissig gewordenen Gesellschaftsbaus»249 darstelle. Wesentlich gehe es in der Theorie der sozialen Emanzipation der Kritischen Theo­ rie bei dem «Übergang von der gegenwärtigen zu einer künftigen Gesellschaftsform» jedoch um die «Konstitution der Menschheit zum bewußten Subjekt»250, was nur durch eine «Neukonstruktion der ökonomischen Verhältnisse» möglich sei. Ihr Ziel ist und bleibe daher eine «vernünftig organisierte zukünftige Gesellschaft.»251 Marxens Leitbegriff von der sozialen Revolution, d. h. der umfassenden gesell­ schaftlichen «Umwälzung», von der Rosa Luxemburg spricht, in deren Verlauf die Proletarier die Kontrolle über die Produktionsmittel über­ nehmen sollen, wird von Horkheimer also ersetzt durch den stark abgeschwächten Begriff der «Neuordnung der ökonomischen Ver­ hältnisse», der offen lässt, ob diese auf «revolutionärem Wege» (wie bei Marx) oder lediglich durch friedliche Reformen (Bernstein, Jau­ 247 248 249 250 251

A. a. O., S. 201. A. a. O., S. 205. A. a. O., S. 206. A. a. O., S. 207. Ebd.

104 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

rès ...) herbeigeführt werden soll. Auf jeden Fall aber bleibt das anvi­ sierte Ziel die von Marx herbeigesehnte «klassenlose Gesellschaft». Letztendlich werden jedoch die allerletzten Absätze und Para­ graphen des Aufsatzes Traditionelle und kritische Theorie von der ernüchternden, eher pessimistischen Erkenntnis überschattet, dass unter den gegebenen geschichtlichen und politischen Verhältnis­ sen «das Streben nach einem Zustand ohne Ausbeutung und Unter­ drückung, in dem tatsächlich ein umgreifendes Subjekt, das heißt die selbstbewußte Menschheit existiert und in dem von einheitlicher Theorienbildung, von einem die Individuen übergreifenden Denken gesprochen werden kann, noch nicht seine Verwirklichung»252 (ist). Auch gebe es keine «allgemeinen Kriterien für die Kritische Theorie als Ganzes»; denn diese «beruhen immer auf der Wiederholung von Ereignissen und somit auf einer sich selbst reproduzierenden Totalität. »253 Ebenso wenig existiere auch «eine gesellschaftliche Klasse, an deren Zustimmung man sich halten könne. Das Bewußtsein jeder Schicht vermag unter den gegenwärtigen Verhältnissen ideologisch verengt und korrumpiert zu werden, wie sehr sie ihrer Lage nach auch zur Wahrheit bestimmt sei. Die kritische Theorie hat bei aller Ein­ sichtigkeit der einzelnen Schritte und der Übereinstimmung ihrer Elemente mit den fortgeschrittensten traditionellen Theorien keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts. (...) An der Exis­ tenz des kritischen Verhaltens (…) hängt heute die Zukunft der Humanität. Eine Wissenschaft, die in eingebildeter Selbständigkeit die Gestaltung der Praxis, der sie dient und angehört, bloß als ihr Jenseits betrachtet und sich bei der Trennung von Denken und Han­ deln bescheidet, hat auf die Humanität schon verzichtet.»254 Auch solle man – trotz der erschreckenden Manipulation des Massenbe­ wusstseins durch den Propagandaapparat der totalitären Regime, ins­ besondere unter dem Faschismus – nicht vergessen, dass die Geschichte lehre, dass eine kritische Minderheit, d. h. «solche selbst von den oppositionellen Teilen der Gesellschaft kaum beachtete, ver­ femte, aber unbeirrbare Gruppen auf Grund ihrer tieferen Einsicht im entscheidenden Augenblick zur Spitze werden können.»255 Die Geschichte des antifaschistischen Widerstands sollte diese Einschät­ 252 253 254 255

A. a. O., S. 214. A. a. O., S. 215. A. a. O., S. 216. A. a. O., S. 215.

105 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VI. Die Wende von der traditionellen zur kritischen Theorie

zung bestätigen. Folglich war die Kritische Theorie der Gesellschaft in ihrem theoretisch-politischen Selbstverständnis der 1930er und 1940er Jahre eines der wichtigsten und unentbehrlichsten Aus­ drucksorgane des antifaschistischen Widerstands im Exil, und der Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie aus dem Jahre 1937 eines seiner größten intellektuellen Manifeste.

106 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

Neben dem programmatischen Essay Traditionelle und kritische Theo­ rie, die die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand hatte, waren die Studien über Auto­ rität und Familie, die 1936 in Paris in der «Zeitschrift für Sozialfor­ schung» erstveröffentlicht wurden, der zweite Höhepunkt und gleich­ zeitig so etwas wie ein weiterer theoretischer Grundpfeiler jener im Exil sich entfaltenden materialistischen Sozialphilosophie der Frank­ furter Schule, deren Zentrum die realistische emanzipationsorientierte Gesellschaftskritik ist. Auch dieser große Essay war das Produkt einer Kollektivarbeit, die im Wesentlichen von Max Horkheimer, von Fried­ rich Pollock, dem Psychologen Erich Fromm, dem Pädagogen Leo Löwenthal, dem Philosophen Herbert Marcuse und dem Wirtschafts­ historiker Karl August Wittfogel geleistet wurde. Die Wahl dieses Themas als einer der wichtigsten Forschungsschwerpunkte des IfS wurde im Vorwort zu diesem Text von den Autoren folgendermaßen begründet: «Schon seit mehreren Jahren gehörte es zu den Aufgaben des Instituts, den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Berei­ chen der materiellen und geistigen Kultur zu erforschen. (...) Je mehr wir die Bedeutung der politischen, moralischen und religiösen Anschauungen der neueren Zeit für die Gesellschaft analysierten, umso deutlicher trat die Autorität als ein entscheidender Faktor her­ vor. Die Stärkung des Glaubens, daß es immer ein Oben und Unten geben muß und Gehorsam notwendig ist, gehört mit zu den wichtigs­ ten Funktionen der bisherigen Kultur. Ein Verständnis des Zusam­ menspiels zwischen den einzelnen Kultursphären ohne ausführliche Berücksichtigung dieses Moments erscheint als ausgeschlossen. Unter allen gesellschaftlichen Institutionen, welche die Individuen für Autorität empfänglich machen, steht aber die Familie an erster Stelle. Nicht bloß erfährt der Einzelne in ihrem Kreis zuerst den Einfluß der kulturellen Lebensmächte (…), sondern die patriarchalische Struktur der Familie in der neueren Zeit wirkt selbst als entscheidende Vorbe­

107 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

reitung auf die Autorität in der Gesellschaft, die der Einzelne im spä­ teren Leben anerkennen soll. Die großen zivilisatorischen Werke des bürgerlichen Zeitalters sind Produkte einer spezifischen Form menschlicher Zusammenarbeit, zu deren stetiger Erneuerung die Familien mit ihrer Erziehung zur Autorität einen wichtigen Teil bei­ getragen hat.»256 Diese, unterstreichen die Autoren, «wird aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie selbst fortsetzen und festigen hilft, immer wieder erzeugt.»257 Die Studien beziehen sich, obwohl überwiegend im nordamerikanischen Exil des Instituts für Sozialfor­ schung verfasst, wesentlich auf die europäische Familie und hier ins­ besondere auf die moderne bürgerliche Familie und deren spezifische Beziehung zur Autorität. Formell ist der Essay in drei Teile, in drei Abteilungen gegliedert, d. h. (a) eine ökonomische, die von Friedrich Pollock verfasst wurde, (b) eine zweite, die auf der Grundlage von Enquêten des Instituts nach dem Vorbild der amerikanischen Sozial­ forschung entstanden ist, und (c) eine dritte Abteilung, die «Einzel­ studien vereinigt, die das Institut im Zusammenhang mit dem Prob­ lem Autorität und Familie von Gelehrten verschiedener Wissenschaftszweige unternehmen ließ.»258 Obwohl der Gegenstand dieser sozialpsychologisch-historischkritischen Untersuchungen über die Familie jene sich ständig repro­ duzierende gesellschaftliche Instanz ist, die – neben der Schule – hauptverantwortlich ist für die autoritäre Sozialisation der Kinder und ihre Abrichtung zum Gehorsam, zur Disziplin und zu späteren unter­ tänigen Staatsbürgern, sind Horkheimer und sein Forscherkollektiv nicht unbedingt willens, das Problem von Autorität und Familie in den Mittelpunkt der Theorie der Gesellschaft zu stellen, auch wenn es unbestritten eine größere Aufmerksamkeit verdient, als ihm bisher gewidmet worden ist; denn, so schlussfolgert Horkheimer in seinem Vorwort zu diesen Studien vom April 1935, «in ihrer Bedeutung für die Autorität in der gegenwärtigen Gesellschaft hat die Familie stets einen zwischen materieller und geistiger Kultur vermittelnden Faktor gebildet und bei dem regelmäßigen Ablauf und der Erneuerung

256 Max Horkheimer, «Vorwort [zu den Studien über Autorität und Familie]», in: Gesammelte Schriften Band 3, Frankfurt, Fischer Taschenbuch-Verlag, 1988, 2009, S. 330. 257 A. a. O., S. 330–331. 258 Cf. Vorwort, a. a. O., S. 333.

108 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

des allgemeinen Lebens in der gegebenen historischen Form eine unvertretbare Rolle gespielt.»259 Diese vorsichtige Einschätzung Horkheimers soll jedoch die Autoren der Studie über Autorität und Familie keineswegs daran hin­ dern, schonungslos die ideologischen, religiösen, gesellschaftlichen und zivilisatorischen Gründe und Bedingungen aufzudecken und zu stigmatisieren, die für die traditionelle Formung des autoritären Cha­ raktertyps in der Kleinfamilie der modernen bürgerlichen Gesellschaft verantwortlich sind. Dazu heißt es u. a. im 3. Kapitel der Studie über Autorität und Familie: «Solange die grundlegende Struktur des gesellschaftlichen Lebens und die auf ihr beruhende Kultur der gegenwärtigen Welt­ epoche sich nicht entscheidend verändern, wird die Familie als Pro­ duzentin von bestimmten autoritären Charaktertypen ihre unentbehr­ liche Wirkung üben. Sie bildet ein wichtiges Moment des gesetzmäßigen Zusammenhangs, der diesen historischen Abschnitt beherrscht. Alle folgerichtigen politischen, moralischen, religiösen Bewegungen, welche die Kräftigung dieser Einheit zum Ziel hatten, sind sich über die fundamentale Funktion der Familie als Erzeugerin autoritärer Gesinnung im Klaren gewesen und haben die Stärkung der Familie mit allen ihren Voraussetzungen wie Verpönung des außer­ ehelichen Geschlechtsverkehrs, Propaganda für Kinderzeugung und Aufzucht, Beschränkung der Frau auf den Haushalt sich zur Pflicht gemacht.»260 Diesbezüglich zitiert Horkheimer u. a. den sehr konser­ vativen französischen Soziologen Le Play, der in seiner Studie über die europäische Arbeiterschaft die große gesellschaftliche Bedeutung des Gehorsams in der patriarchalischen Familie unterstreicht und der in der Tat für alle Übel der neueren Zeit den «Verfall der väterlichen Autorität» verantwortlich macht.261 Der Glaube an einen einzigen Gott und die Unterwerfung unter die väterliche Autorität sind nach ihm «die beiden ewigen Prinzipien jeder Gesellschaft.» Der Geist des Gehorsams gilt ihm in gewisser Weise als «das materielle Element des sozialen Friedens, und er hält die väterliche Autorität als Ursprung dieses Gehorsams für so grundlegend, daß ihm von diesem Gesichts­

259 260 261

A. a. O., S. 335. A. a. O., S. 401–402. A. a. O., S. 402.

109 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

punkt sogar die Schulbildung, das Lesen- und Schreibenlernen der Kinder unter Umständen als bedenklich erscheint.»262 Demgegenüber stellen die Autoren des Essays Autorität und Familie kritisch fest: «Die Familie besorgt, als eine der wichtigsten erzieherischen Agenturen, die Reproduktion der menschlichen Cha­ raktere, wie sie das gesellschaftliche eben erfordert, und gibt ihnen zum großen Teil die unerläßliche Fähigkeit zu dem spezifisch auto­ ritären Verhalten, von dem der Bestand der bürgerlichen Ordnung weitgehend abhängt.» Nach Horkheimer hat die Apologie der väterlichen Autorität in der vom Christentum und der christlichen Moral geprägten patriar­ chalischen Familie ihre tiefen religiös-ideologischen Wurzeln einer­ seits bei den Kirchenvätern, wie z. B. Augustinus, und andererseits im Protestantismus: Lehrt doch bereits Augustinus, «dass der Hausfrie­ den zum Frieden des Gemeinwesens, d. h. dass die geordnete Ein­ tracht der Hausgenossen im Befehlen und Gehorchen zu der geord­ neten Eintracht der Bürger im Befehlen und Gehorchen eine Beziehung hat. Daher kommt es, dass der Hausvater aus dem Gesetze des Gemeinwesens die Vorschriften zu entnehmen hat, nach denen er sein Haus so leiten soll, dass es sich dem Frieden des Gemeinwesens anpasst.»263 Demgegenüber hatte der Protestantismus nach Hork­ heimer – und hier zeigt sich klar der Einfluss der Studie von Max Weber264 über Die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus – vor allem die Funktion, die «bürgerlich-kapitalistische Gesinnung einzuführen, bei der Arbeit, Gewinn und Verfügungsgewalt über Kapital als Selbstzweck an die Stelle eines um irdisches oder auch himmlisches Glück zentrierten Lebens tritt. Der Mensch soll sich nicht vor der Kirche beugen, wie es im Katholizismus geschah, son­ dern er soll sich schlechthin beugen lernen, gehorchen und arbeiten. (...) Der Eigenwille des Kindes soll gebrochen und der ursprüngliche Wunsch nach freier Entwicklung seiner Triebe und Fähigkeiten durch den inneren Zwang zur unbedingten Pflichterfüllung ersetzt werden. »265 Bei der Analyse dieser von Luther und Calvin in ihren Schriften Cf. Le Play, Les ouvriers européens, Paris, 1877–1879, Band VI, S. XLI. Cf. Augustinus, De civitate Dei, XIX, cap. 16, Bibliothek der Kirchenväter, Band XXVIII, Kempten und München 1916, S. 237; Cf. Max Horkheimer, a. a. O., S. 389. 264 Cf. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1920), in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 4. Auflage, Tübingen, Mohr, 1947, S. 1–236. 265 Horkheimer, a. a. O., S. 389. 262

263

110 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

und Predigten verbreiteten protestantischen Auffassung von Familie und Autorität, unterstreicht Horkheimer den darin enthalte­ nen «eigentlichen Grundgedanken des Luthertums», der «die von Natur gesetzte körperliche Überlegenheit [des Familienvaters] als Ausdruck eines von Gott gewollten Überordnungsverhältnisses und feste Ordnung als den Hauptzweck aller sozialen Organisationen ansieht. Der Hausvater ist der Rechtsvertreter, der nicht kontrollierte Gewaltinhaber, der Brotherr, der Seelsorger und Priester seines Hau­ ses.»266 Das Kind wird nachgerade gezwungen, dieser «Reali­ tät» Rechnung zu tragen, d. h. den Vater als den physisch Stärkeren zu respektieren, sich ihm zu unterwerfen, wie autoritär und despotisch er sich auch immer als «Chef der Familie» aufführen und verhalten mag. Anders ausgedrückt: «Der Vater hat [gemäß diesen Postulaten der protestantischen Theologie] moralischen Anspruch auf Unterord­ nung unter seine Stärke, nicht weil er sich als würdig erweist, sondern er erweist sich als würdig, weil er der Stärkere ist.»267 Aus dem Blick­ winkel einer emanzipationsorientierten Theorie der Erziehung und der Gesellschaft entlarvt Horkheimer somit treffend das moralischpolitische Dilemma des Protestantismus und dessen sprichwörtlichen Konservatismus in der Familienfrage, der unter Berufung auf den Römerbrief des Apostels Paulus, zusätzlich auch noch die Unterwer­ fung des «freien» Christenmenschen unter die weltliche Autorität und Herrschaft fordert und predigt. Wir wissen, welche verheerenden Auswirkungen gerade dieses Gehorsamspostulat gegenüber der welt­ lichen Obrigkeit im historischen Kontext der NS-Diktatur im Deutschland der 1930er und 1940er Jahre hatte, wo nur eine kleine Minderheit der in der «Bekennenden Kirche» zusammengeschlosse­ nen evangelisch-lutherischen Christengemeinde zum Widerstand gegen Hitler und den Faschismus bereit war. In dieser Perspektive jegliche Verschleierung durch religiöse oder metaphysische Ideolo­ gien ablehnend, unterstreicht Horkheimer auch den Umstand, dass «in der Entwicklungsgeschichte der Familie von der absolutisti­ schen zur liberalistischen Periode ein neues Moment in der Erziehung zur Autorität immer stärker hervortritt: Es wird nicht mehr unmit­ telbar der Gehorsam, sondern im Gegenteil der Gebrauch der Ver­ nunft gefordert. Wer nur nüchtern die Welt betrachtet, wird einsehen, dass der Einzelne sich fügen und unterordnen muss. Wer es zu etwas 266 267

A. a. O., S. 390. A. a. O., S. 391.

111 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

bringen, ja, überhaupt, wer nicht untergehen will, muss lernen, es anderen recht zu machen. Auch diese Erziehung zur Realitätsgerech­ tigkeit (…) ist in der protestantischen Familienauffassung vorbereitet. »268 Unumstritten bleibt auch, dass die Kantische «Pflichtenethik» – als praktisch-philosophischer Pfeiler eines idealistischen Rationalis­ mus, d. h. desjenigen des Kantischen «Kritizismus» – zumindest indi­ rekt – auch von dieser protestantisch-lutherischen Pflichtauffassung beeinflusst ist. (Kants Reflexionen über die Erziehung sind zwar ganz und gar vom fortschrittlichen Humanismus und Rationalismus der «Aufklärung» geprägt, seine Anschauungen, was z. B. die Kinder­ erziehung betrifft, sind jedoch keineswegs «anti-autoritär».) Wie Horkheimer überzeugend aufweist, ist seit dem Bestehen der patriarchalischen Kleinfamilie, vor allem seit der römisch-griechi­ schen Antike, wo der Vater absolute Gewalt über die Ehefrau und die Kinder (bis zu ihrer Emanzipation) hatte, die Familie die «Ordnungs­ zelle» der Gesellschaft par excellence, einfach schon deshalb, weil der Vater nicht nur der physisch Stärkere ist, sondern vor allem, weil er das Geld für den Unterhalt der gesamten Familien verdient: «Er ist Herr im Haus, weil er das Geld verdient oder wenigstens besitzt. »269 Gleichwohl besteht der Unterschied zur modernen Kleinfami­ lie darin – und hierin folgt Horkheimer der Argumentation von Franz Oppenheimer270 und derjenigen von Eduard Westermarck271 –, dass die Familie, aus der nach Aristoteles der Staat hervorging, «die Klassenverschiedenheit in ihrer krassesten Gestalt als Sklaverei vor­ aussetzt.»272 «Die ‹liberi› der neueren Familie können zwar nicht mehr vom Vater verkauft werden, der erwachsene Sohn und seine Kinder bleiben nicht der Oberhoheit des Großvaters unterworfen; der Umstand jedoch, daß in der normalen bürgerlichen Familie der Mann das Geld, diese Macht in substantieller Form, besitzt und über seine Verwendung bestimmt, macht Frau, Söhne und Töchter auch in der neueren Zeit zu den ‹Seinen›, gibt ihr Leben weitgehend in seine Hand, zwingt sie zur Unterordnung unter Leitung und Befehl. (...) Gehorsam aus freien Stücken tritt an die Stelle der Sklaverei A. a. O., S. 390. A. a. O., S. 395. 270 Cf. Franz Oppenheimer, System der Soziologie, Band II, Jena 1926. 271 Cf. Eduard Westermarck, Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe, Band I, Leipzig 1913. 272 Ebd. 268

269

112 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

und Untertänigkeit. Aber die Rationalität ist auch hier die des iso­ lierten und ohnmächtigen Individuums, das sich den Zuständen zu beugen hat, ob sie korrupt oder vernünftig sind. Die Verzweiflung von Frauen und Kindern, der Raub an ihrem Lebensglück, die materielle und psychische Ausbeutung infolge der ökonomisch begründeten Vormachtstellung des Vaters hat in den letzten Jahrhunderten nur in höchst begrenzten Perioden, Regionen und sozialen Schichten weni­ ger auf der Menschheit gelastet als im Altertum. Die geistige Welt, in die das Kind infolge dieser Abhängigkeit hineinwächst, wie auch die Phantasie, durch welche es die wirkliche beseelt, seine Träume und Wünsche, seine Vorstellungen und Urteile sind vom Gedanken an die Macht von Menschen über Menschen, des Oben und Unten, des Befehlens und Gehorchens beherrscht.»273 Infolge dieser doppelten – ökonomischen und physischen – Wurzel der durch die Jahrhun­ derte hindurch gefestigten und reproduzierten väterlichen Autorität in der Welt des christlichen Abendlandes, bildet, so schlussfolgert Horkheimer, «die Erziehung in der Kleinfamilie eine ausgezeichnete Schule für das spezifisch autoritäre Verhalten in dieser Gesellschaft», insofern als diese autoritäre Erziehung schon sehr früh dem Kind das «Realitätsprinzip» beibringen will, dass «die Wege, die zur Macht führen, in der bürgerlichen Welt nicht durch Verwirklichung mora­ lischer Werturteile, sondern durch geschickte Anpassung an die Verhältnisse vorgezeichnet sind.» Der Sohn muss sich dem Vater, der Macht und Erfolg in der bürgerlichen Gesellschaft repräsentiert, beugen, sich ihm unterordnen und gehorchen, und so werde «die Kindheit in der Kleinfamilie zur Gewöhnung an eine Autorität, welche die Ausübung einer qualifizierten gesellschaftlichen Funktion mit der Macht über Menschen in undurchsichtiger Weise vereinigt.»274 Diese Analyse spiegelt auch in eindrucksvoller Weise den Ein­ fluss wider, den diesbezüglich der amerikanische Sozialpsychologe William McDougall auf Horkheimer und sein Forschungskollektiv im nordamerikanischen Exil ausgeübt hat, der in seinen sozialpsycholo­ gischen Untersuchungen zur Kleinfamilie im liberalen Zeitalter u. a. unterstreicht, dass bei den «kleinbürgerlichen Massen, wo der [gesell­ schaftliche] Druck auf den Vater sich im Druck auf die Kinder repro­ duzierte», auch zur Folge hatte, die «masochistische Neigung zur Preisgabe des [eigenen] Willens gegenüber irgendeiner Führung (…) 273 274

Horkheimer, a. a. O., S. 395–396. A. a. O., S. 397–398.

113 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

unmittelbar zu steigern.»275 Ach, «wie süß ist es doch zu gehorchen, wenn wir das in unseren Tagen fast unmögliche Glück verwirklichen können, durch weise und würdige Führer (!!) von der drückenden Verantwortlichkeit einer allgemeinen Leitung unseres Handelns angemessen befreit zu werden.»276 Diesbezüglich zitiert Horkheimer explizit eine Passage aus McDougall’s Buch über die Grundlagen einer Sozialpsychologie, in der vom «Unterwerfungstrieb» die Rede ist, «wo das negative Selbstgefühl zum Hauptelement wird, welches aber durch die Vollständigkeit der Unterwerfung unter die Macht, die uns zurechtweist, von einer gewissen Lust begleitet sein kann, einer Lust, die auf die Befriedigung des Unterwerfungstriebes zurückzuführen ist.»277 Wie Horkheimer unterstreicht, ist dieser masochisti­ sche «Unterwerfungstrieb» jedoch «keine ewige Größe, sondern ein wesentlich in der bürgerlichen Kleinfamilie erzeugtes Phänomen. Ob in der Erziehung Zwang oder Milde waltet, ist hierbei nicht entschei­ dend; denn der kindliche Charakter wird durch die Struktur der Fami­ lie selbst weit mehr als durch die bewußten Absichten und Methoden des Vaters gebildet (…); seine gesellschaftliche Position dem Kinde gegenüber bringt es mit sich, daß jede Maßnahme der Erziehung, mag sie noch so vernünftig sein, an Zuckerbrot oder Peitsche erinnern muß.»278 Betont der französische Soziologe Pierre Bourdieu279 bezüglich der Repression in der bürgerlichen Kleinfamilie, der Unterdrückung des Eigenwillens und der autoritären Erziehung der Kinder vor allem den Umstand, dass die Eltern sich diesbezüglich in einem «Wieder­ holungszyklus» («cycle de répétition») befinden, in dem von Gene­ ration zu Generation die traditionellen autoritären Verhaltensstruk­ turen der eigenen Eltern einschließlich der Praktizierung der körperlichen Züchtigung der Kinder gewissermaßen «automa­ tisch» auf die eigenen Kinder übertragen werden, so bewegt sich Horkheimer mit seinen Reflexionen über die Erziehung der Kinder in der bürgerlichen Familie im Gesamtsystem der gesellschaftlichen Entwicklung in der Nähe zu dieser Theorie, wenn er z. B. feststellt, dass «die Entwicklung jedes Menschen vom Naturwesen zum Mit­ 275 276 277 278 279

A. a. O., S. 400. A. a. O., S. 400. Cf. William McDougall, Grundlagen einer Sozialpsychologie, Jena 1928, S. 169. Horkheimer, a. a. O., S. 401. Cf. Pierre Bourdieu, La reproduction, Paris, Minuit, 1970.

114 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

glied der Gesellschaft die wesentlich abgekürzte, wenn auch verän­ derte Wiederholung eines jahrtausendelangen zivilisatorischen Pro­ zesses (ist), aus dem der Zwang nicht wegzudenken ist.» Aber es mache «einen Unterschied, ob dieser Zwang die blinde Reproduktion der herrschenden gesellschaftlichen Widersprüche im Vater-SohnVerhältnis darstellt oder sich im Fortgang jedes individuellen Daseins als in der Gesellschaft überwundene Beziehung erschließt.»280 Somit ist auch Horkheimer – wie Bourdieu – fest davon über­ zeugt, dass «so lange die grundlegende Struktur des gesellschaftlichen Lebens und die auf ihr beruhende Kultur (...) sich nicht entscheidend verändern, die Familie als Produzentin von bestimmten autoritären Charaktertypen ihre unentbehrliche Wirkung üben (wird). Sie bildet ein wichtiges Moment des gesetzmäßigen Zusammenhangs, der die­ sen historischen Abschnitt beherrscht. Alle folgerichtigen politischen, moralischen, religiösen Bewegungen (…) sind sich über die funda­ mentale Funktion der Familie als Erzeugung autoritärer Gesinnung im Klaren gewesen und haben die Stärkung der Familie mit allen ihren Voraussetzungen wie Verpönung des außerehelichen Geschlechtsver­ kehrs, Propaganda für Kindererzeugung und Aufzucht, Beschränkung der Frau auf den Haushalt sich zur Pflicht gemacht.»281 Diesbezüglich ist sich Horkheimer auch bewusst, dass eine a priori dialektische Analyse der Familie, ihres allgemeinen Selbstver­ ständnisses und ihrer Funktion in der modernen bürgerlichen Gesell­ schaft notwendigerweise nicht nur die negativen, sondern auch die positiven Züge dieses fundamentalen Elements der gesellschaftlichen Realität zur Kenntnis nehmen müsste. Für Hegel z. B. hat «die Familie als die unmittelbare Substantia­ lität des Geistes (…) die Liebe zu ihrer Bestimmung». Ihre Substan­ tialität hat Dasein; ist also ein Recht gegen die Äußerlichkeit und gegen das Heraustreten aus dieser Einheit. Dagegen ist aber wieder die Liebe eine Empfindung, ein Subjektives, gegen das die Einheit sich nicht geltend machen kann.»282 Nach Hegel vollendet sich die Familie in den drei Seiten: (a) in der Gestalt ihres unmittelbaren Begriffes als Ehe, (b) in dem äußerlichen Dasein, dem Eigentum und Gut der Fami­ lie und der Sorge dafür; (c) in der Erziehung der Kinder und der Auf­ Cf. Horkheimer, a. a. O., S. 401. A. a. O., S. 401–402. 282 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 159, Werke in 20 Bänden, Band 7, Suhrkamp, Frankfurt 1970, S. 309.

280 281

115 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

lösung der Familie.283 Für Hegel ist die Ehe die bewusste, reflektierte Verbindung zweier Menschen unterschiedlichen Geschlechts mit dem Ziel der sittlichen Begründung eines gemeinsamen Lebens von Mann und Frau in der Familie. Sie unterscheidet sich dadurch vom Konku­ binat, «dass es bei diesem letzteren hauptsächlich auf die Befriedigung des Naturtriebes ankommt, während dieser bei der Ehe zurückge­ drängt ist. Deswegen wird bei der Ehe ohne Erröten von natürlichen Ereignissen gesprochen, die bei unehelichen Verhältnissen ein Schamgefühl hervorbrächten. Darum ist aber auch die Ehe an sich für unauflöslich zu achten; denn der Zweck der Ehe ist der sittliche, der so hoch steht, dass alles andere dagegen gewaltlos und ihm unter­ worfen erscheint. Die Ehe soll nicht durch Leidenschaft gestört wer­ den, denn diese ist ihr untergeordnet. (...) Weil die Ehe das Moment der Empfindung enthält, ist sie nicht absolut, sondern schwankend und hat die Möglichkeit der Auflösung in sich. Aber die Gesetzge­ bungen müssen diese Möglichkeit aufs höchste erschweren und das Recht der Sittlichkeit gegen das Belieben aufrechterhalten.»284 Für Hegel steht es daher außer Frage, dass damit «die Ehe, und wesentlich die Monogamie, eines der absoluten Prinzipien (ist), worauf die Sitt­ lichkeit eines Gemeinwesens beruht.»285 Demgegenüber habe «die Familie als Person ihre äußerliche Realität in einem Eigentum, in dem sie das Dasein ihrer substantiellen Persönlichkeit nur als in einem Vermögen hat».286 Indem Hegel im § 174 seiner Rechtsphilosophie einerseits fest­ stellt, dass die «Kinder das Recht haben, aus dem gemeinsamen Fami­ lienvermögen ernährt und erzogen zu werden», gleichzeitig aber auch das Recht der Eltern unterstreicht, «die Kinder in Zucht zu halten und zu erziehen», rechtfertigt er explizit die autoritäre Erziehung der Kin­ der und das Prinzip der Bestrafung, deren Zweck nicht etwa die Gerechtigkeit als solche sei, sondern die «Abschreckung der noch in [der] Natur befangenen Freiheit» und die «Erhebung des Allgemeinen in ihr Bewusstsein und ihren Willen».287 Für Hegel ist offensichtlich die Macht der Eltern über die Kinder von einem «sittlichen Motiv» durchdrungen, mit dem die «Seele des Kindes sich verbin­ 283 284 285 286 287

A. a. O., § 160, S. 309. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 163, a. a. O., S. 314–315. A. a. O., § 167, S. 320. A. a. O., § 168, S. 322. A. a. O., § 174, S. 326.

116 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

det» unter Anerkennung dieser Autorität, dieser Unterordnung unter die elterliche Gewalt: «Ein Hauptmoment der Erziehung ist die Zucht, welche den Sinn hat, den Eigenwillen des Kindes zu brechen, damit das bloß Sinnliche und Natürliche ausgereutet werde (...). Daran, dass die Eltern das Allgemeine und Wesentliche ausmachen, schließt sich das Bedürfnis des Gehorsams der Kinder an. Wenn das Gefühl der Unterordnung bei den Kindern, das die Sehnsucht, groß zu werden, hervorbringt, nicht genährt wird, so entsteht vorlautes Wesen und Naseweisheit.»288 In seiner kritischen Reaktion auf diese Apologie des Autoritäts­ prinzips in der Familie durch Hegel unterstreicht Horkheimer die Abwertung des Einzelnen, des Individuums, wie es «faktisch lebt und leidet», in dieser Philosophie des «objektiven Idealismus», wo der Einzelne in dieser Philosophie wie in der ihr entsprechenden Gesellschaft «nicht dieser Mann, nicht dieses Kind, sondern ein Mann, Kinder überhaupt sind und das Individuum etwas Unmäch­ tiges und Unwirkliches.»289 Die Apologie der bürgerlichen Gesell­ schaft durch Hegel kritisierend, macht Horkheimer Hegel dann auch zum Vorwurf, als «größter Realist» in der Philosophie die in dem Gegensatz von Familie und Gemeinwesen angelegte Dialektik nicht zu entfalten: «Obgleich er die Erkenntnis, dass der Mensch nur als vergesellschaftetes Wesen wirklich ist, mit der Hypostasierung der gegenwärtigen Gesellschaft verknüpft, hat er doch vom Schicksal des Individuums in ihr als von «der langen Reihe seines zerstreuten Daseins» und der «Unruhe des zufälligen Lebens»290 gesprochen, während in der Familie «der ganze Einzelne» umfasst wird. Weil Hegel jedoch die Verwirklichung einer wahren einheitlichen und vernünftigen Gesellschaft nicht zu denken vermag, wo «der Einzelne als solcher», wie er in der Familie gehegt und verstanden wird, zu seinem Recht kommt, muss ihm dieser konkrete Einzelne, der Mensch als ganzer, schon in der Familie selbst nur als der «unwirkli­ che marklose Schatten» gelten.291 (...) Die «Einschrumpfung der Ein­ zelnen zu bloßen Repräsentanten einer ökonomischen Funktion»292 A. a. O., § 174, S. 327. Cf. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Band 3, Suhrkamp, Frankfurt 1970, S. 378. 290 A. a. O., S. 343. 291 A. a. O., S. 344. 292 Max Horkheimer, a. a. O., S. 406. 288

289

117 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

ist dessen philosophische Verklärung. Dieser idealistischen Fami­ lien- und Gesellschaftskonzeption Hegels hält Horkheimer nun ent­ schieden die geschichts-materialistische Auffassung von Friedrich Engels293 entgegen, der in seiner Schrift Vom Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, dabei an die diesbezüglichen Studien von Bachofen und Morgan zum Matriarchat («Mutterrecht») anknüpfend, den Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht als eine «Revolution» bezeichnet hat, «eine der einschneidendsten, die die Menschen erlebt haben.» Wie Horkheimer hervorhebt, tritt «mit dem patriarchalischen System der Gegensatz der Klassen, die Spal­ tung von öffentlichem und familialem Leben in die Welt, und auch in der Familie selbst wird das Prinzip der schroffen Autorität angewandt. Der Umsturz des Mutterrechts war die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts.»294 Im zweiten, der Familie gewidmeten Kapitel dieser Schrift enthüllt Engels sodann den «Wesenskern» der modernen Kleinfamilie mit den folgenden Sätzen: «Die moderne Einzelfamilie ist gegründet auf die offene oder verhüllte Haussklaverei der Frau, und die moderne Gesellschaft ist eine Masse, die aus lauter Einzelfamilien als ihren Molekülen sich zusammensetzt. Der Mann muß heutzutage in der großen Mehrzahl der Fälle der Erwerber, der Ernährer der Familie sein, wenigstens in den besitzenden Klassen, und das gibt ihm eine Herrscherstellung, die keiner juristischen Extrabevorrechtung bedarf. Er ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat. In der industriellen Welt tritt aber der spezifische Charakter der auf dem Proletariat lastenden ökonomischen Unterdrückung erst dann in seiner vollen Schärfe hervor, nachdem alle gesetzlichen Sondervorrechte der Kapi­ talistenklasse beseitigt und die volle juristische Gleichberechtigung beider Klassen hergestellt wurden; die demokratische Republik hebt den Gegensatz beider Klassen nicht auf, sie bietet im Gegenteil erst den Boden, worauf er ausgefochten wird. Und ebenso wird auch der eigentümliche Charakter der Herrschaft des Mannes über die Frau in der modernen Familie und die Notwendigkeit, wie die Art der Her­ Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884),in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 21, Dietz-Verlag Berlin 1962, S. 25–173. Cf. H. Morgan, Ancient Society or Researches in the Lines of Human Progress from Savegery, through Barbarism to Civilization, London 1877. 294 Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884, 1892), MEW 21, Dietz-Verlag Berlin 1962, S. 27–173. 293

118 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

stellung einer wirklichen gesellschaftlichen Gleichstellung beider erst dann in grelles Tageslicht treten, sobald beide juristisch vollkommen gleichberechtigt sind. Es wird sich dann zeigen, daß die Befreiung der Frau zur ersten Vorbedingung hat die Wiedereinführung des weiblichen Geschlechts in die öffentliche Industrie, und daß dies wiederum erfordert die Beseitigung der Eigenschaft der Einzelfamilie als wirtschaftlicher Einheit der Gesellschaft.»295 Nach Engels bedeutet die Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum de facto das Ende der Einzelfamilie: «Die Privat­ haushaltung verwandelt sich in eine gesellschaftliche Industrie.» Die Erziehung der Kinder werde dadurch eine «öffentliche Angelegen­ heit»296. Anstelle der Erziehung der Kinder durch die Eltern trete ihre Erziehung durch die Gemeinschaft: «Die Gesellschaft sorgt für alle Kinder gleichmäßig, seien sie eheliche oder uneheliche.»297 Gleichzeitig mit der Monogamie verschwinde damit jedoch auch ihr bürgerliches «Gegenstück», die Prostitution. Diese Prophezeiung von Engels hat sich nicht erfüllt und sie wurde durch die gesellschaft­ lich-industrielle Entwicklung des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft im 20. Jahrhundert weitestgehend dementiert. Ohne diese optimistische Vision von Engels, die noch von der Überzeugung der Realisierung einer «proletarischen Revolution» ent­ sprechend den Prophezeiungen von Marx geleitet war, zu ignorieren, war das Forscherteam von Autorität und Familie um Horkheimer in den USA darum bemüht, vor allem die sozial-psychologischen und psychoanalytischen Mechanismen zu erforschen und aufzudecken, die die ständige zyklische Reproduktion der autoritären Strukturen in der Familie ermöglicht haben und auch weiterhin unter den Bedin­ gungen der entwickelten industriellen Gesellschaft ermöglichen. Dies – wie auch viele rein empirische Studien – bringen sie dann u. a. auch zu der Erkenntnis, dass dadurch dass «die Frau sich [im Zuge ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung] dem Gesetz der patriarchali­ schen Familie beugt, sie selbst zu einem die Autorität in dieser Gesell­ schaft reproduzierenden Moment wird. (…) Indem sie so auf jeden Widerstand verzichtet, nimmt sie zugleich das Prinzip der männlichbürgerlichen Welt auf sich: wen das Los trifft, der ist auch schuldig.

295 296 297

A. a. O., S. 75–76. A. a. O., S. 77. Ebd.

119 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

»298 Nicht nur übe dadurch die Frau «eine autoritätsstärkende Funk­ tion aus, sondern ihre ganze Stellung in der Kleinfamilie hat eine Fes­ selung wichtiger seelischer Energien, die der aktiven Gestaltung der Welt zugute kommen könnten, notwendig zur Folge.»299 Dennoch setzt Horkheimer im Zuge dieser Soziokritik der Familie als «Auto­ ritätsfabrik» des gesellschaftlichen Konformismus nicht wie Engels auf das Ende und die Auflösung der Kleinfamilie nach der angestreb­ ten Vergemeinschaftung der Produktionsmittel, sondern er deutet an, dass im Kontext des Kampfes für eine mögliche bessere vernünftigere Gesellschaft ohne Armut und Ungerechtigkeit die Familie eventuell dennoch noch der Ort sein könnte, an dem ein «Gefühl der Gemein­ schaft aufkommen könne, das diese Menschen auch außerhalb der Familie mit ihresgleichen verbindet»300. Mit anderen Worten: Die Auflösung der Familie steht – im Kontext der Abfassung des Essays Autorität und Familie fünfzig Jahre nach dem Erscheinen der Schrift von Friedrich Engels über den Ursprung der Familie, des Privateigen­ tums und des Staats (1884) – eigentlich nicht mehr auf der Tagesord­ nung. Gleichwohl aber sei, was den Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft im Zeitalter von Inflation, Massenarbeitslosigkeit und Verarmung großer Teile der Bevölkerung betrifft, zu erkennen, dass gerade als Folge dieser gesellschaftlichen Krise auch die traditionelle Autorität des Vaters in der patriarchalischen kleinbürgerlichen oder proletarischen Familie immer mehr erschüttert und geschwächt werde, ohne dass dadurch jedoch die Existenz der Familie selbst – kurz- oder langfristig – realiter gefährdet sei. «Die mit der Vorstellung einer heute möglichen Gesellschaft ohne Armut und Ungerechtigkeit verknüpfte Anstrengung, es besser zu machen, und sie herbeizufüh­ ren, beherrscht dann anstelle des individualistischen Motivs die Beziehungen. Aus den Leiden an der Wirklichkeit, die unter dem Zei­ chen der bürgerlichen Autorität das Dasein bedrückt, kann eine neue Gesellschaft der Gatten und Kinder entstehen, die freilich nicht gegen andere Familien der gleichen Art oder gegen die Individuen der eige­ nen Gruppe in bürgerlicher Weise abgeschlossen ist. Die Kinder wer­ den nicht als künftige Erben erzogen und daher auch nicht in jenem spezifischen Sinn als die eigenen erfahren.»301 298 299 300 301

Horkheimer, a. a. O., S. 411. A. a. O., S. 410. A. a. O., S. 412. A. a. O., S. 413–414.

120 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

Ihre Arbeit gehe in «die Erfüllung der historischen Aufgabe über, eine Welt zu schaffen, in welcher sie und andere es besser haben sollen.»302 Und bei der Erziehung der Kinder sei hier deut­ lich «die Erkenntnis der Tatsachen von ihrer Anerkennung zu unter­ scheiden.»303 Allerdings verbindet Horkheimer diese Feststellung mit der Einschränkung, dass, auch «wenn die gegenwärtige Familie kraft der durch die Frau bestimmten menschlichen Beziehungen ein Reservoir von Widerstandskräften gegen die völlige Entseelung der Welt ausmacht»304, die Entfaltung der Frau in dieser Struktur nach wie vor insofern gehemmt ist, als nach wie vor «das gesellschaftliche Leben wesentlich von Männern in Gang gehalten wird und es der Mann ist, welcher der Familie vorsteht.»305 Eben weil seit der von Engels beschriebenen «Revolution» des Übergangs vom Mutterrecht (Matriarchat) zum Patriarchat sich über Jahrhunderte hinweg quasi nichts an diesem Abhängigkeitsverhältnis geändert hat. Mit der Kritik an dieser «Männergesellschaft» und der Unter­ drückung der Frau unterstützen die Autoren des Essays den Eman­ zipationskampf der Frauenbewegung, allerdings mit dem Hinweis darauf, dass in der bürgerlichen Familie «ein tiefes ökonomisches, ja physiologisches Interesse die Frau mit dem Ehrgeiz des Mannes verbinde»; dass es der Frau vor allem «um die eigene ökonomische Sicherheit und die ihrer Kinder» zu tun ist, und dass politisch mit der Einführung des Wahlrechts der Frau die konservativen Mächte gestärkt wurden.306 Gewissermaßen komme daher diese Emanzipa­ tion zu spät: «Die ohnehin spät und nur in Stufen vor sich gehende Emanzipation der Frau, ihre Tätigkeit im Erwerbsleben bedeutete einesteils in dieser Ordnung der Dinge von Anfang an einen bloßen Ersatz. Der «Beruf» der Frau, auf den sie durch ihre bürgerliche Erziehung und Charakterbildung innerlich angewiesen ist, treibt sie nicht hinter den Verkaufsstand des Warenhauses oder an die Schreibmaschine, sondern zu einer glücklichen Ehe, in der sie selbst versorgt wird und sich um ihre Kinder kümmern kann.»307 «Die Abhängigkeit ist nicht mechanisch, sondern durch die Totalität der 302 303 304 305 306 307

A. a. O., S. 414. Ebd. A. a. O., S. 408. Ebd. A. a. O., S. 409. A. a. O., S. 412.

121 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VII. Die Studien über»Autorität und Familie« (1936)

Verhältnisse, durch ein Zueinander von Spannungen und Gegen­ sätzen vermittelt.»308 Die Arbeitslosigkeit der 1920er und 1930er Jahre habe sich gleichwohl als ein Faktor erwiesen, der «den Typus einer in die Zukunft weisenden Familie immer seltener mache». Ergebnis: «die völlige Demoralisierung, die aus absoluter Hoffnungs­ losigkeit stammende Unterwerfung unter jeden Herrn wirkt sich auch in den Familien aus. Ohnmacht und mangelnde Gelegenheit zu produktiver Arbeit haben die Ansätze zu neuen Typen der Erziehung schon weitgehend aufgelöst.»309 Daher die desillusionierende Fest­ stellung, dass in der Familie nach wie vor die «Erziehung autoritärer Charaktere, zu welcher sie auf Grund ihrer eigenen Autoritätsstruktur befähigt ist, kein vorübergehendes Phänomen ist, sondern zum relativ dauernden Bestand gehört.»310 Im Vergleich zur bürgerlichen Blüte­ periode werde nun im Zeitalter des Totalitarismus die Familie immer mehr zu einem «Problem bloßer Regierungstechnik»: «Die Totalität der Verhältnisse im gegenwärtigen Zeitalter, dieses Allgemeine, war durch ein Besonderes in ihm, die Autorität, gestärkt und gefestigt worden, und dieser Prozeß hat sich wesentlich in dem Einzelnen und Konkreten, der Familie, abgespielt. Sie bildete die ‹Keimzelle› der bürgerlichen Kultur, welche ebenso wie die Autorität in ihr lebendig war. Dieses dialektische Ganze von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit erweist sich nun als Einheit auseinanderstrebender Kräfte. Das sprengende Moment der Kultur tritt gegenüber dem zusammenhaltenden stärker hervor.»311 ***

308 309 310 311

Ebd. A. a. O., S. 414. A. a. O., S. 416. A. a. O., S. 417.

122 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VIII. Nachtrag

Nicht zuletzt wegen der klaren und schonungslosen Analyse der auto­ ritären Strukturen der bürgerlichen Familie und der darin zum Aus­ druck kommenden Kritik an der Unterdrückung der Frau und der vor­ herrschenden autoritären Erziehung der Kinder wurde der Essay Autorität und Familie in den 1968er Jahren von der anti-autoritären Studentenbewegung in Deutschland begeistert aufgenommen, aller­ dings erst 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung dieses bahnbre­ chenden Textes von Horkheimer unter dem Titel Theoretische Ent­ würfe über Autorität und Familie: Allgemeiner Teil, in: Studien über Autorität und Familie, hrsg. von Max Horkheimer, Paris, 1936, S. 1– 76. Wie aus dem Briefwechsel Horkheimers mit der Leitung des S. Fischer Verlags hervorgeht, hatte sich Horkheimer der Wiederveröf­ fentlichung dieses Essays und einiger anderer marxistischer Texte der 30er Jahre im Jahre 1968 zunächst widersetzt, weil er sich in der Zwi­ schenzeit philosophisch-politisch von dem marxistischen Ansatz die­ ser Essays entfernt hatte und weil er seitdem – ebenso wie Adorno – eine neue Kritische Theorie der Gesellschaft propagierte, deren Eman­ zipationsideal nicht mehr einzig an der Aufhebung der Not einer beherrschten Klasse (des Proletariats) orientiert war, sondern an der Emanzipation des in dieser Gesellschaft entfremdeten und lei­ denden Einzelnen, d. h. des Individuums, dessen Freiheit immer mehr von «totalitären Mächten» bedroht sei. Deshalb hatte Horkheimer zunächst sogar beschlossen, den 1965 schon unterschriebenen Vertrag mit dem S. Fischer Verlag bezüglich der Neuauflage dieser Essays aufzulösen, bevor er dann schließlich in den Kompromiss einwilligte, das Erscheinen dieser Aufsätze doch zu autorisieren, aber nur unter der Bedingung, dass sie mit einem neuen Vorwort erscheinen, in dem sich Horkheimer von diesen Texten seiner «frühen Periode» distan­ ziert. In diesem «Vorwort zur Neupublikation» vom April 1968 heißt es dazu explizit: «Der Grund meines Zögerns, die Aufsätze aus der längst vergriffenen Zeitschrift für Sozialforschung nochmals herauszubringen, war nicht

123 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VIII. Nachtrag

zuletzt die Überzeugung, ein Autor solle jeweils nur Gedanken publi­ zieren, zu denen ohne Rückhalt er zu stehen vermag. Meine hier wieder erscheinenden früheren philosophischen Versuche bedürften heute nicht nur exakterer Formulierung, sondern sind von ökonomi­ schen und politischen Vorstellungen durchherrscht, die nicht mehr unvermittelt gelten; ihre richtige Beziehung zur Gegenwart erfordert differenzierte Reflexion. Ihr dienen meine späteren Arbeiten. Wenn ich trotz der Bedenken dem Neudruck zustimmte, geschah es in der Hoffnung, daß die um Erkenntnis Bemühten, die seit langem ihn gefordert hatten, der Diskrepanz sich bewußt, zur Verhinderung von Unheil beitragen werden. Aus kritischer Theorie Konsequenzen für politisches Handeln zu ziehen, ist die Sehnsucht derer, die es ernst meinen; jedoch besteht kein allgemeines Rezept, es sei denn die Notwendigkeit der Einsicht in die eigene Verantwortung. Unbedachte und dogmatische Anwendung kritischer Theorie auf die Praxis in der veränderten historischen Realität vermöchte den Prozeß, den sie zu denunzieren hätte, nur zu beschleunigen. Die der kritischen Theorie im Ernst Verbundenen, auch Adorno, der mit mir sie entfaltet hat, stimmen darin überein.»312

Nach Horkheimer ist der entscheidende Punkt, in dem die vom Marxismus weithin verbreitete Auffassung der notwendigen revolu­ tionären gesellschaftlichen Veränderung unbedingt korrigiert werden müsste, die Doktrin vom «revolutionären Bewusstsein der Arbeiter­ klasse», des Proletariats; denn «seit den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Vorstellung zunehmenden Elends der Arbeiter, aus dem nach Marx die Empörung, die Revolution, als Übergang zum Reich der Freiheit, hervorgehen sollte, über lange Perioden hin abstrakt und illusorisch geworden, zumindest so veraltet wie die Ideologien, die von der Jugend verachtet werden. Die Existenz­ bedingungen für Handarbeiter wie für Angestellte, zur Zeit des Kommunistischen Manifests Ergebnis krasser Unterdrückung, bilden in der Gegenwart Motive für gewerkschaftliche Organisation, für die Auseinandersetzung leitender Gruppen in Wirtschaft und Poli­ tik. Längst ist proletarisch revolutionärer Wille übergegangen in gesellschaftsimmanente, realitätsgerechte Aktivität. Zumindest dem subjektiven Bewußtsein nach ist das Proletariat integriert.»313

312 Max Horkheimer, «Vorwort zur Neupublikation» (1968),in: Gesammelte Schrif­ ten, Band 3: Schriften 1931–1936, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1988, 2009, S. 14. 313 A. a. O., S. 15.

124 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VIII. Nachtrag

Was nun des Näheren die Studentenrevolte der «68er» betrifft, deren Anfänge Horkheimer als Hochschullehrer in Frankfurt selbst direkt nicht mehr erleben konnte, weil er sich schon seit seiner Eme­ ritierung im Jahre 1959 nach Montagnola im Tessin zurückgezogen hatte, wo er im Ruhestand intensiv an der Vorbereitung der Notizen (1949–1969) arbeitete, so räumt der Begründer der Kritischen Theorie zwar ein, dass viele von deren Impulsen, wie z. B. die «Sehnsucht nach dem Besseren», nach einer gerechteren Gesellschaft etc. den seinen verwandt seien, in einem Punkt jedoch sei er ganz anderer Mei­ nung: «dem Verhältnis zur Gewalt, die in ihrer Ohnmacht den Geg­ nern gelegen kommt.» Nicht zufällig erinnert und zitiert Max Hork­ heimer diesbezüglich Rosa Luxemburg, die in ihrer berühmten Broschüre über die Russische Revolution die «von Trotzki und Lenin gefundene (...) Beseitigung der Demokratie überhaupt» ein «Heil­ mittel» genannt hat, «noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll.»314 Folglich sei es ein schwerer Fehler, ja geradezu «pseudorevo­ lutionär», «dem Vormarsch totalitärer Bürokratie von links Hilfe zu leisten.»315 Diesen Vorwurf allerdings erhebt Horkheimer nun in der Tat, ebenso wie Adorno und Habermas (dessen Bonmot vom «Links­ faschismus» offensichtlich den gleichen Adressaten galt) gegen die Repräsentanten und Anführer der radikalen anti-autoritären Studen­ tenbewegung, die ihrerseits – im Kontext der gewaltsamen Räumung des besetzten Frankfurter IfS durch die herbeigerufene Polizei – die führenden Repräsentanten der Frankfurter Schule des «Verrats» an ihren eigenen autoritätskritischen Prinzipien und Schriften der 1930er Jahre bezichtigte, u. a. gerade auch wegen jener klaren, radi­ kalen kritischen Aussagen zur Autorität, die in dem Essay Autorität und Familie gemacht worden waren. Diesbezüglich gerieten allerdings nicht nur Adorno, der die Polizei gerufen hatte, und Habermas, der auf dem Kongress des SDS in Hannover vom Oktober 1968 die radi­ kale Linke des «Linksfaschismus» bezichtigt hatte, ins Zwielicht, son­ dern – zumindest indirekt – auch Max Horkheimer, der offensichtlich vollauf Adornos These von den «totalitären Tendenzen» der linksra­ dikalen antikapitalistischen Studentenbewegung zustimmte.316 In Rosa Luxemburg, Die russische Revolution, Frankfurt, E. V.̲ A., 1963, S. 69. Horkheimer, a. a. O., S. 17. 316 Belegt ist dies v. a. durch den «Gegen den Linksextremismus» betitelten Apho­ rismus Max Horkheimers in seinem Buch Notizen (1949–1969), der mit den Worten beginnt: «Der Kampf gegen den Kapitalismus muss heute mit der Reflexion über die 314

315

125 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VIII. Nachtrag

dem damaligen vom Vietnam-Krieg gekennzeichneten weltge­ schichtlichen Zusammenhang gab es natürlich auch seitens eben die­ ser radikalen Linken wenig Verständnis für Horkheimers Apologie der «freien Welt», die seiner Ansicht nach eine Insel darstellt, «deren Ende im Ozean der Gewaltherrschaft auch das Ende der Kultur bezeichnen würde, der die kritische Theorie noch zugehört.»317 Gleichzeitig liefert uns Horkheimer jedoch in diesem Vorwort auch den Schlüssel für sein eigenes philosophisches Umschwenken von der heterodox-marxistischen Frühphase seines Werks zu dem metaphy­ sischen Pessimismus seines Spätwerks, für den fortan Schopen­ hauer318 ein wichtiges Vorbild wird: «Der metaphysische Pessimismus, implizites Moment jedes genuinen materialistischen Denkens, war mir seit je vertraut. Meine erste Bekanntschaft mit Philosophie verdankt sich dem Werk Scho­ penhauers319; die Beziehung zur Lehre von Hegel und Marx, der Wille zum Verständnis wie zur Veränderung sozialer Realität haben, trotz dem politischen Gegensatz, meine Erfahrung seiner Philosophie nicht ausgelöscht. Die bessere, die richtige Gesellschaft ist ein Ziel (…). Seit dem Ende des Krieges jedoch ist das Ziel verstellt. Die Gesellschaft befindet sich in einer neuen Phase. (…) Einzelner wie Klasse werden integriert. Die sogenannte freie Welt an ihrem eigenen Begriff zu messen, kritisch zu ihr sich zu verhalten und dennoch zu ihren Ideen zu stehen, sie gegen Faschismus Hitlerscher, Stalinscher oder anderer Varianz zu verteidigen, ist Recht und Pflicht jedes Denkenden.»320

totalitäre Gefahr verknüpft werden. Ebenso wie der Tendenz zum Faschismus in den kapitalistischen Staaten muss er sich dessen bewusst sein, dass die linksradikale Opposition zu einem Totalitarismus des Terrors tendiert.» (a. a. O., S. 256) Damit schloss sich Horkheimer ganz und gar der Meinung von Theodor W. Adorno an, der eben diese «totalitären Tendenzen» in der a priori anti-autoritären Studentenbewe­ gung kritisiert hatte. 317 Horkheimer, a. a. O., S. 18. 318 Cf. Arno Münster, Max Horkheimer entre Marx, Freud et Schopenhauer. Essai sur la philosophie sociale du fondateur de l’Ecole de Francfort, Editions Le Retrait, Orange, 2021. 319 Wie biogaphische Fakten aus seinem Leben und intellektuellen Entwicklungs­ gang belegen, «entdeckte» Horkheimer Schopenhauer, als er schon als 17-Jähriger anlässlich einer Reise nach Paris im Schnellzug zum ersten Mal Schopenhauers Haupt­ werk «Die Welt als Wille und Vorstellung» las. (Cf. Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 1: Aus der Pubertät. Novellen und Tagebuchblätter 1914–1918, Frankfurt, Fischer Taschenbuch-Verlag, 1987). 320 Ebd.

126 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VIII. Nachtrag

Die 68er Bewegung, die von den Ideen Horkheimers in seiner marxistischen Frühphase starke Impulse bekommen hatte, hat wesentliche Teile der die Analyse der Autoritätsstruktur in der moder­ nen Kleinfamilie betreffenden Passagen und Theoreme des Essays Autorität und Familie (1936) in ihre eigene anti-autoritäre Theorie einer von Ausbeutung, Gewalt, Unterjochung und Entfremdung befreiten Gesellschaft der Zukunft integriert. Sie hat auch in den 70er Jahren, z. B. in der Form der zahlreichen anti-autoritären Kinderkrip­ pen, die es in allen deutschen Großstädten gab, versucht, diese eman­ zipatorische Theorie in die konkrete Praxis zu wenden, wo die Kinder zum ersten Mal nicht mehr autoritär von Oben «abgerichtet» und diszipliniert wurden und ihre Autonomie maximal entfalten konnten. Dem war – historisch gesehen – die von der linkszionistischen Bewe­ gung geschaffene Gemeinschaftserziehung der Kinder in den Kibbut­ zim in Israel in den 1950er Jahren vorausgegangen. Zu einer allge­ meinen gesamtgesellschaftlichen Umwälzung der Erziehungspraktiken in den «liberal» regierten kapitalistischen Metropolen kam es dennoch nicht. Diese anti-autoritären Kinder­ krippen waren und blieben vielmehr «anti-autoritäre Inseln» in einer nach wie vor von Autorität und Hierarchie bestimmten bürgerlichen Klassengesellschaft. Dies ist auch der Grund dafür, weshalb die meis­ ten der betroffenen Staaten in der «Europäischen Union» erst sehr spät die nötigen längst überfälligen Schritte und gesetzgeberischen Maßnahmen zu einer Reform des Erziehungswesens einleiteten. So war die letztendliche Ratifizierung des Prinzips des «Rechts der Kin­ der auf eine gewaltfreie Erziehung» und das Verbot der Prügelstrafe nicht nur in der Schule, sondern auch in der Familie im Rahmen einer «europäischen Gesetzesinitiative» das unbestrittene Verdienst der «Grünen» im Europäischen Parlament zu Straßburg. Erstaunli­ cherweise waren Frankreich, das Land der «Erklärung der Menschen­ rechte», und das konservative England die Schlusslichter bei der Annahme und Ratifizierung dieser Reform durch die jeweiligen natio­ nalen Parlamente. Dadurch wurden zwar generell in den 27 Staaten der Europäischen Union de jure die Kinderrechte gestärkt, de facto aber bedeutet dies leider jedoch noch lange nicht das Ende der Unterdrü­ ckung der Kinder durch familiäre elterliche Gewalt, da damit ja noch lange nicht die sog. «Bio-Gewalt» (Michel Foucault321) in der Familie 321 Cf. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Suhr­ kamp, Frankfurt a. M., 1977.

127 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

VIII. Nachtrag

abgeschafft werden konnte. Durchgesetzt werden konnte lediglich eine effektivere Ahndung und Verfolgung der ständig in der Familie gegen Kinder (und auch gegen die Frauen) begangenen Gewalttaten sowie die Verankerung des Prinzips der «gewaltfreien Erziehung» in der jeweiligen Verfassung der EU-Länder. Auch ist es offensichtlich noch einfacher, gewisse Gesetze zu beschließen und gewisse Artikel der Verfassung zu ändern als die Mentalität breiter Bevölkerungs­ schichten, die sich bezüglich der Kindererziehung aus den von Hork­ heimer und seinen Mitarbeitern aufgewiesenen Gründen kaum ver­ ändert hat. Feststellbar ist – infolge der beschlossenen Reformen – lediglich eine gewisse «Liberalisierung» bei den eher aufgeklärten Bevölkerungsschichten der oberen Mittelklasse, nicht jedoch bei der großen Masse der arbeitenden oder im Rentendasein befindlichen Bevölkerung. Gewiss gibt es Lockerungen. Aber ein grundlegender Wandel in Richtung auf die allgemeine Akzeptanz und Notwendigkeit einer anti-autoritären Erziehung der Kinder ist leider noch nicht erkennbar. Es muss also noch sehr viel geschehen, bis diesbezüglich ein wirklich radikaler Wandel eintritt.

128 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

IX. Der Autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil

Das Buch Der autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorur­ teil, d. h. die von einer von Adorno geleiteten Arbeitsgruppe322 her­ gestellte Übersetzung ins Deutsche der Bände I-III und V der 1950 in New York veröffentlichten Studies in Prejudice, die erst 1968 auf Deutsch als Publikation des IfS im Verlag de Munter in Amsterdam erschienen ist, war in gewisser Weise die logische Fortsetzung der Studien über Autorität und Familie, hat diese Studie doch vor allem mittels genauer empirischer Untersuchungen, Befragungen und soziologischer Messungen zum Gegenstand, das Faschismuspotential in der Charakterstruktur der Individuen auszuloten und diejenigen Elemente in der Persönlichkeitsstruktur zu analysieren, «die zu feind­ seligen Reaktionen gegenüber religiösen und ethnischen Minoritäten prädisponieren.» Wie Horkheimer dazu in seinem Vorwort unter­ streicht, «suchen sie Antworten auf die Frage: Gibt es etwas in der seelischen Verfassung des heutigen Menschen, das ihn auf die Dem­ agogie skrupelloser Agitatoren positiv reagieren läßt, und was ist die Technik dieser Demagogie?»323 Und sie erforschen des Näheren auch die psycho-sozialen Ursachen des Antisemitismus sowie die verbrei­ tete Prädisposition zu antisemitischen Ressentiments unter beson­ derer Berücksichtigung der «Zusammenhänge zwischen Charakter­ struktur und ‹Voreingenommenheit› (Prejudice).»324 So entlarvt die Studie sehr überzeugend – auf der Grundlage der Auswertung eines Fragebogens zur Eruierung öffentlicher Meinung325 mit insgesamt 26 Fragen, der an eine ausgewählte Gruppe von 100 Versuchspersonen 322 Diese von Adorno geleitete Studie entstand in enger Zusammenarbeit mit Bruno Bettelheim, Else Frenkel-Brunswik, Norbert Guterman, Morris Janowitz, D. Levinson, Leo Löwenthal und R. W. Sandford. 323 Max Horkheimer, «Vorwort» in: Theodor W.Adorno u. a., Der autoritäre Charak­ ter, Band 1:Studien über Autorität und Vorurteil, de Munter, Amsterdam 1968, S.VII. 324 A. a. O., S. VIII. 325 A. a. O., S. 120 ff.

129 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

IX. Der Autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil

in den USA (Kalifornien) verschickt worden war – all die Stereotypen des antisemitischen Ethnozentrikers, d. h. jene in der Gesellschaft tief verwurzelten rassistischen Ressentiments gegen die Juden, die AfroAmerikaner und alle «Fremdgruppen»; sie bereichert darüber hinaus die Antisemitismus-Forschung um eine ganze Reihe wichtiger, eben­ falls aus dem Gruppenexperiment abgeleiteter Erkenntnisse hinsicht­ lich des Verhältnisses von Ethnozentrismus und elterlicher Parteiprä­ ferenz, welche die Hypothese erhärteten, dass der Konflikt, d. h. die Nichtübereinstimmung mit dem Vater, «in Korrelation zum AntiEthnozentrismus steht, ganz abgesehen davon, um welche väterliche Ideologie es sich dabei handelt. (...) Mit anderen Worten: das E-SkalaErgebnis eines Menschen läßt sich ebensogut auf Grund seiner Stel­ lung zur väterlichen Parteipräferenz (Zustimmung zur väterlichen Ideologie oder deren Ablehnung, welchen Inhalts auch immer sie sein mag) voraussagen wie auf Grund seiner eigenen Parteipräferenz. Dieses Resultat bestätigt die Hypothese, daß Ethnozentriker sich der Autorität der Eigengruppe unterwerfen, Anti-Ethnozentriker ihr jedoch kritisch oder in Auflehnung gegenüberstehen.»326 Besonders deutlich werde dies im «Prototyp der Eigengruppe», d. h. in der Fami­ lie. Die wissenschaftliche Auswertung der Daten der Versuchsperso­ nen gemäß der E- oder AS-Skala widerlegte auch die naheliegende Theorie der ausschließlichen und direkten Bestimmung des Ethno­ zentrismus durch den wirtschaftlichen Status des Subjekts: «Sie beweisen vielmehr, daß Klassenzugehörigkeit und wirt­ schaftliche Motive als solche keineswegs zu den bestimmenden Fakto­ ren gehören, die das Individuum in das ethnozentrische oder anti-eth­ nozentrische Lager treiben.»327 Das heißt, dass «Versuchspersonen, deren Väter in ganz verschiedene Einkommens- und Berufsgruppen gehören, keineswegs entsprechend in Bezug auf ihren E-Punkt-Wert variieren. (…) Die Leute, deren Väter mehr als 10 000 Dollar Einkommen haben, sind jedoch wesentlich weniger ethnozentrisch als die aus niedrigen Einkommensgruppen stammenden.»328 Außerdem legen die Ergebnisse der Untersuchung «die Vermutung nahe, daß soziale Aufstiegstendenz und daher rührende Identifizierung mit dem status quo positiv mit Ethnozentrismus korrelieren; während 326 327 328

A. a. O., S. 191. A. a. O., S. 192. Ebd.

130 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

IX. Der Autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil

soziale Abstiegstendenz und Identifizierung mit unteren Klassen mit Anti-Ethnozentrismus gekoppelt sind.»329 Deshalb kommen die Forscher und Autoren der Studien über Autorität und Vorurteil zu dem nuancenreichen Schluss, dass Gruppenzugehörigkeit und wirt­ schaftliche Faktoren zwar die Entwicklung von Ideologien beeinflus­ sen, dass jedoch «die Wirkung dieser sozialen Gegebenheiten sehr komplex» ist, und daß diese sich «meist indirekt über psychische Reaktionen vollzieht. (...) Die Sozialpsychologie darf daher keine einfachen Relationen zwischen Ideologie und Gruppenzugehörigkeit erwarten; sie muß sich vielmehr das Studium der komplizierten Prozesse zur Aufgabe machen, durch die das Individuum selektiv die verschiedenen Einflüsse assimiliert, die seine sozial-ideologische Umwelt ausübt.»330 Es bleibt unumstritten, dass, gerade was die Theorie und die Definition der Aufgaben einer solchen auf empirische Untersuchungen gestützten Sozialpsychologie betrifft, Horkheimer sehr stark von den beiden nordamerikanischen Sozialpsychologen Murray331 und Sandford beeinflusst worden ist. Der vierte Teil der Studie Der autoritäre Charakter ist ganz und gar dem Problem des Messens antidemokratischer Elemente in der Struktur des Charakters mittels des Aufstellens der FaschismusSkala (F-Skala) gewidmet. Dementsprechend untersucht diese Studie durch die Anwendung wesentlicher Begriffe der Tiefenpsychologie zur Erforschung des Syndroms des Ethnozentrismus die folgenden sozialpsychologischen Phänomene: (a) den Konventionalismus, (b) die autoritäre Untertänigkeit, (c) die aggressive Autoritätssucht, (d) Aberglauben und Stereotypie, (e) Macht und Robustheit, (f) Destruk­ tivität und Zynismus, (g) die Projektion und (h) die Sexualität. Das Ergebnis dieser Messungen im Gruppenexperiment, deren Subjekte vor allem Studenten und Studentinnen in Kalifornien im Alter von 20–26 Jahren waren, war, dass «potentieller Faschismus», wie immer er auch seinen Ursprung in den autoritären Strukturen der Familie und im gespannten Vater-Sohn-Verhältnis hatte, immer A. a. O., S. 193. Ebd. 331 Henry Murray (1893–1988): Psychologieprofessor an der Harvard-Universität; Neo-Psychanalyst und Begründer der «Personology», d. h. einer Theorie der «Perso­ nalität» (1938), die Freuds Psychoanalyse in einigen Punkten revidiert. Das von ihm begründete Murray-Sandford-Schema in der Sozialpsychologie benutzt zur Auswer­ tung der erhaltenen Protokolle ein System, das deren Inhalt in gewisse Variabeln auf­ gliedert. (Cf. Adorno et alii, a. a. O.,S. 297.). 329

330

131 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

IX. Der Autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil

als eine»sehr komplexe Struktur« anzusehen ist. Auch werde die Hypothese, dass zentrale Charaktereigenschaften für diese Struktur verantwortlich sind, durch dieses Ergebnis gestützt. Dies allein aber genüge nicht, denn es müssten zur endgültigen Klärung dieses Pro­ blems zusätzlich noch «klinische Untersuchungen die Ergebnisse der vorliegenden Studie nicht nur bestätigen, sondern sie vielmehr noch ergänzen und vertiefen.»332 Fest stehe jedoch, z. B. was die Untersuchung des Komple­ xes «Destruktivität und Zynismus» betrifft, dass nach der zugrunde­ liegenden Theorie das antidemokratische Individuum durch eine starke verborgene Aggressivität gekennzeichnet ist, und zwar des­ halb, weil ihm durch zahlreiche äußere Hemmungen und Verbote eine angemessene Trieberfüllung versagt ist. Die Übertragung auf Fremd­ gruppen ist ein Kanal, durch den sich die Aggressivität in für die also deformierten Personen in annehmbarer und ungefährlicher Form ent­ lädt. (...) Die Kategorie «Zynismus» bezieht sich auf derartig rationa­ lisierte, vom Ich akzeptierte offene Aggressivität.333 Was des Näheren den psychischen Projektionsmechanismus betrifft, so unterstreicht die Studie ganz und gar in der Perspektive der Erkenntnisse der Freud’schen Tiefenpsychologie, dass es sich hier vor allem um einen psychologischen Mechanismus handle, wo «die unterdrückten Impulse [oder Triebe] der autoritären Persönlichkeit auf andere projiziert und dann heftig verurteilt werden. Projektion ist ein Mittel, ES-Triebe ichfremd zu erhalten; sie kann daher als ein Anzeichen dafür gewertet werden, daß das Ich seiner Aufgabe nicht gewachsen ist. Die meisten Sätze der F-Skala sind projektiv. Dem lag die Annahme zugrunde, daß die Auffassungen und Interpretationen von Tatsachen durch psychische Bedürfnisse verzerrt werden. Dann kann aber die Projektionsneigung als Zugang zu einigen tieferen Schichten benutzt werden. Wenn etwa jemand darauf besteht, daß ein anderer üble Absichten ihm gegenüber verfolgt und sich in der Realität keine Anhaltspunkte dafür finden, kann man mit guten Gründen schließen, daß er selbst aggressive Absichten hat und sie durch Projektion zu rechtfertigen sucht.»334 In dem Elemente des Anti­

332 333 334

A. a. O., S. 427. A. a. O., S. 402. A. a. O., S. 403.

132 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

IX. Der Autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil

semitismus betitelten Kapitel der Dialektik der Aufklärung335 (1944) operieren Horkheimer und Adorno bewusst und konsequent mit dem Begriff der «paranoiden Projektion» zur Erklärung des massenpsy­ chologischen Phänomens der systematischen ethnozentrischen Stig­ matisierung der Juden durch den Nationalsozialismus als Inkarnation des «Bösen» und aller «Übel» gerade infolge dieser im Unbewussten der verblendeten Massen latent vorhandenen und agierenden Pro­ jektionsneigung, die in den 1930er und 1940er Jahren zum festen Bestandteil der kollektiven Paranoia des kriminellen Judenhasses der Nazis geworden war, der letztendlich in der Form des rassisti­ schen «Exterminismus» zur Shoah geführt hat.

335 Cf. Horkheimer/Adorno, «Elemente des Antisemitismus», in: Dialektik der Aufklärung, Gesammelte Schriften Band 5, Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt, 1987, S. 197 ff., S. 217 ff.

133 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus, eine der bedeutendsten Studien des 20. Jahrhunderts zum Antisemitismus, entstand im Exil in den USA und wurde unter dem Originaltitel Notes on Institute Activities, Research Project on Antisemitism, in der Zeit­ schrift für Sozialforschung, Jahrgang IX, Heft 1, S. 121–143 auf Englisch erstveröffentlicht.336 1941 war Horkheimer, Adorno folgend, von New York nach Pacific Palisades bei Los Angeles (Kalifornien) umge­ zogen, wo er in enger Zusammenarbeit mit seinem Freund Adorno an der Dialektik der Aufklärung (1947) arbeitete. Im Jahr zuvor – 1940 – hatte er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erworben. Bei diesem Forschungsprojekt handelt es sich um eine kollektive Studie, die unter der Federführung von Horkheimer zustande kam, der inzwi­ schen auch zum Präsidenten des American Jewish Committee for Refu­ gees gewählt worden war und der auch dessen Forschungskommission leitete. Der andere Auslöser für die Inangriffnahme dieses Projekts waren offensichtlich die im November 1938 von den Nazis ausgelös­ ten und durchgeführten antisemitischen Pogrome in Deutschland («Reichskristallnacht»), in deren Verlauf Hunderte von jüdischen Geschäften, Synagogen, Schulen und Kulturstätten in Deutschland zerstört und zahlreiche jüdische Mitbürger vom aufgewiegelten anti­ semitischen Mob und der SA ermordet wurden. Diese Pogrome waren jedoch nur der «Auftakt» für die von den Nazis geplante und von Hit­ ler angeordnete vollständige «Ausrottung des Judentums» in Europa im Rahmen der in der Wannseekonferenz vom Januar 1942 von der Nomenclatura des NS-Regimes beschlossenen «Endlösung der Judenfrage», die ja nichts anderes zum Ziel hatte als die vollständige Vernichtung der europäischen Juden (Völkermord).

Ins Deutsche übersetzt von Hans Günter Holl, fungiert dieses Projekt in Band 4: Schriften 1936–1941 der Gesammelten Schriften von Max Horkheimer im Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt,1988, S. 373–411.

336

135 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

Diese Antisemitismusstudie von Max Horkheimer337 und sei­ nem Forscherteam unterscheidet sich von den meisten anderen dem Antisemitismus-Syndrom gewidmeten Untersuchungen des 20. Jahrhunderts vor allem dadurch, dass sie primär die tieferen sozialpsychologischen Ursachen aufzeigen will, die für den weltweit verbreiteten Antisemitismus, der ja nicht nur ein «deutsches Phäno­ men» war, typisch sind, und dass sie in genau dieser Perspektive den Versuch einer Klassifizierung all der Ausdrucksformen des antisemi­ tischen Denkens und Verhaltens unternimmt, die nicht nur seit der Dreyfus-Affäre in Frankreich typisch für die bürgerliche Gesellschaft jener Epoche waren, sondern die weiterhin auch noch in der ganzen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmend waren für die Menta­ lität breiter Schichten der Bevölkerung quasi in allen Ländern Euro­ pas und Amerikas, deren ökonomische Struktur vom Kapitalismus geprägt war, also auch in den USA. Im Rahmen dieser Klassifizierung macht Horkheimer in seinem Forschungsprojekt die Unterscheidung von zehn verschiedenen gängigen Ausdrucksformen des Antisemitis­ mus und entwirft dabei eine «Typologie heutiger Antisemiten», die sowohl in einer historischen wie in einer psychologischen Perspektive untersucht werden. Mit dieser Klassifizierung verfolgt er jedoch nicht etwa die Absicht, «den einzelnen Typen große Gruppen von Indivi­ duen zuzuordnen», sondern es gehe hier allein darum, «eine Reihe extremer Möglichkeiten von antisemitischen Haltungen mit wissen­ schaftlicher Genauigkeit darzustellen.»338 In diesem Sinne behandelt die hier vorgelegte Studie die folgenden Typen heutiger Antisemiten: (1) den «geborenen» Antisemiten, d. h. «denjenigen, der «die Juden einfach nicht ausstehen kann» und dessen «natürlicher Anti­ semitismus in Wirklichkeit eine Überkompensation unterdrückter oder gehemmter Bedürfnisse ist».339 «Er reagiert offensicht­ lich ‹instinktiv› auf sogenannte jüdische Rassenzüge: Plattfüße, Geruch, Hakennase, jüdischer Akzent, Gestik etc. Sein Ekel ist eine 337 Nun ist es alles andere als Zufall, dass die Inangriffnahme dieser Studie zeitlich zusammenfiel mit Horkheimers praktischer Tätigkeit und Funktion als Präsident des American Jewisch Comittee for Refugees, dessen wissenschaftlicher Beirat, dem die Kontrolle dieses kollektiven Forschungsprojekts unterstellt war, ebenfalls von ihm geleitet wurde. 338 Max Horkheimer, «Forschungsprojekt über den Antisemitismus», in: Gesammelte Schriften Band 4 (1936–1941), Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt a. M., 1988, 2009, S. 394. 339 A. a. O., S. 395.

136 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

Reaktion auf die Narben der Erniedrigung, die den Juden von der Geschichte zugefügt wurden.»340 (2) den «religiös-philosophischen Antisemiten», für den die Juden als Anhänger einer feindlichen Religion erscheinen und der den Juden insgesamt zum Vorwurf macht, «Christus gekreuzigt zu haben».341 Für ihn ist die jüdische Religion «gleichbedeutend mit absolutem Unglauben. Der Jude ist Judas. Er ist der Fremdling, der sich bewußt aus der christlichen Gemeinschaft ausschließt.» Zu dieser Kategorie gehören, so Horkheimer, «viele Humanisten – etwa Goe­ the, Schopenhauer und Hegel –, sofern sie ihre günstigen Urteile über die Juden mit Vorbehalten unterfüttern.»342 De facto handelt es sich bei diesem Phänomen jedoch um nichts anderes als das von der christ­ lichen Religion und Theologie (vor allem der katholischen) seit dem Mittelalter weit verbreitete Vorurteil (Ressentiment) gegen die Juden als «Gottesmörder», das sich auf die von den Evangelien überlieferte Auslieferung Christi an die Römer zu seiner Kreuzigung stützt. (3) den «hinterwäldlerischen oder sektiererischen Antisemiten», der sich dadurch auszeichnet, dass er den Antisemitismus geradezu zum Religionsersatz macht: «Die imaginäre Welt des sektiererischen Antisemitismus ist vom Begriff der Verschwörung beherrscht. Er glaubt an die jüdische Weltherrschaft; er schwört auf die Weisen von Zion. (...). Er hält die Freimaurerei und andere bruderschaftliche Orden für die größten Übel der Welt, gründet aber selbst logenähnli­ che Kongegrationen, wann immer dies möglich ist.»343 Er gibt allen den Rat, «den Verkehr mit Juden zu meiden.» (4) den Antisemiten als dem «unterlegenen Konkurrenten», der aus den unteren Gesellschaftsschichten kommt, «der dazu ver­ dammt ist, bei Juden zu kaufen oder Schulden bei ihnen zu machen. »344 «Sein Haß gründet nicht in spezifisch jüdischen Eigenarten, son­ dern eher in bestimmten ökonomischen Verhältnissen, unter denen er leidet.»345 Er ist folglich vor allem auf ein Ressentiment der benach­ teiligten Unterschichten (Proletarier, Arbeiter, Arbeitslose ...) und deren ökonomisch bedingten Neid auf den wirtschaftlich-kulturellen 340 341 342 343 344 345

A. a. O., S. 394. A. a. O., S. 395. Ebd. A. a. O., S. 395–396. A. a. O., S. 396. Ebd.

137 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

Erfolg der überwiegend zur gesellschaftlichen Oberschicht zählenden Juden gegründet. (5) In Kontrast dazu stehe, so Horkheimer, der «wohlhabende Antisemit der bürgerlichen Oberschichten», ein Typus, der besonders in der angelsächsischen Welt weit verbreitet sei. Dort sage man den Juden nach, sie seien «laut, taktlos und aufdringlich; ihr Minderwer­ tigkeitskomplex nötige sie, sich in den Vordergrund zu spielen; sie seien nörgelich und mürrisch; sie wollten das Beste für möglichst wenig Geld. Mit ihnen mache man immer schlechte Erfahrungen.»346 (6) den «Condottiere»-Antisemiten, der, als Produkt des Mas­ senelends zwischen den beiden Weltkriegen, aus dem Lager des großen Heeres der Arbeitslosen kommt, die eher «nihilistisch» ein­ gestellt seien, aber nicht unbedingt aus «Zerstörungsdrang»: «Von den früheren Erwerbslosen unterscheidet er sich dadurch, dass sein Kontakt zur Produktionssphäre (…) sporadisch ist.» Ihre Neigung zum Haß gegen die Juden sei vor allem dadurch bestimmt, dass sie als ökonomisch entwurzelte Arbeitslose «eine große Empfänglichkeit für jede Propaganda entwickeln und bereit sind, jedem beliebigen Führer zu folgen.»347 Wie uns die Geschichte der Weimarer Republik lehrte, war es gerade diese Schicht der Arbeitslosen, um deren Unterstützung sich auch die KPD bemüht hatte, die mit ihrem Umschwenken zu den Nationalsozialisten im Zeitraum 1931–1933 den Ausschlag gab für den Wahlsieg der NSDAP im Januar 1933. Die antisemitischen Ten­ denzen innerhalb bestimmter Gruppen der deutschen Jugendbewe­ gung gingen, wie Horkheimer unterstreicht, in dieselbe Richtung.348 (7) der «Judenhetzer». Die hervorstechende Eigenschaft dieses besonderen Typus von Antisemitismus sei, dass sein Hass, seine Wut auf die Juden einem ausgesprochen sadistischen nackten Destrukti­ onsdrang entspringe, «auch wenn sich dieser Drang nur in Exzessen manifestiert, die von oben erlaubt werden.» Daher nenne er «seine konterrevolutionäre Aktionswut Revolution und die Revolution Kapitalismus. Viele der Radikalen, die Hitler bei seinen Säuberungs­ aktionen liquidierte und ein Großteil der SS-Führer fallen unter diese Kategorie. Die Beziehung dieses Typus von Antisemitismus, der übrigens vieles mit dem früheren ‹Radau-Antisemitismus› gemein

346 347 348

A. a. O., S. 397. A. a. O., S. 397. Ebd.

138 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

hat, zu sexuellen Impulsen liegt vergleichsweise offen zutage. Meist beruht sie auf unbewußter oder bewußter Homosexualität.»349 (8) Demgegenüber – so Horkheimer – sei der 8. Typus dieser Typologie, d. h. der faschistisch-politische Antisemit, vor allem durch seine «nüchterne Intelligenz, seine Gefühls- und gnadenlose Kaltblü­ tigkeit» gekennzeichnet. «Aus der Verfolgung der Juden zieht er kei­ nen unmittelbaren Gewinn (...). Bewußt plant er ihre Ausrottung. Er erfüllt seine Aufgabe durch administrative Maßnahmen, ohne in per­ sönlichen Kontakt zu den Opfern zu treten. Er muß die Juden nicht hassen; mit ausländischen kann er äußerst liebenswürdig verhandeln. Für ihn ist der Antisemitismus etwas Verdinglichtes. Er muß funk­ tionieren. Dieser Typus organisiert die spontanen Massenaktionen gegen die Juden. (...) Auch er ist nihilistisch, aber auf zynische Weise. »350 Horkheimer verweist in diesem Zusammenhang auf Goebbels, auf Hitlers Propagandaminister. Noch viel mehr trifft diese seine Charakterisierung des «faschistisch-politischen Antisemiten» jedoch auf einen Adolf Eichmann zu, der kaltblütig-zynisch – von seinem Schreibtisch aus – die Deportation und Vernichtung von sechs Mil­ lionen mitteleuropäischen Juden plante, als bürokratisch-ausführen­ des Organ der Anweisungen und Befehle, die er dazu von «Oben», d. h. vom R.S.H.A. (Reichssicherheitshauptamt) und vom Reichs-«Führer» Hitler erhalten hatte. Bei seinem Prozess in Jerusa­ lem im Jahre 1961 beteuerte er immer wieder, persönlich «nichts gegen die Juden gehabt» und nur die erhaltenen Befehle zur Depor­ tation der Juden aus mehreren Ländern Europas ausgeführt zu haben, was ja seine «Pflicht» als «Staatsbeamter» gewesen sei. Deshalb zeigte er auch, wie es Hannah Arendt351 so treffend beschreibt, die für den «New Yorker» als Prozessbeobachterin an diesem Tribunal teil­ genommen hat, keinerlei Reue! (9) Dass Horkheimer den 9. Platz in dieser Typologie des Anti­ semitismus den «Judenfreunden» widmet, «die den Unterschied zwi­ schen Juden und Christen in judenfreundlicher Weise betonen»352, mag zunächst verwundern, erklärt sich aber logisch aus der vor allem tiefen- und sozialpsychologischen Forschungsperspektive, mit der Horkheimer die tieferen seelischen Ursachen der Judeophobie in 349 350 351 352

A. a. O., S. 398. A. a. O., S. 398–399. Cf. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, Frankfurt, 1963. Horkheimer, a. a. O., S. 399.

139 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

unserer Welt der Modernität zu ergründen versucht. Wie er hervor­ hebt, enthalte «diese Denkweise einen antisemitischen Kern, der in Rassendiskriminierung wurzelt.»353 In der Tat ist Horkheimer der Meinung, dass «gegenüber dieser Art von Antisemitismus» die Juden besonders «feinfühlig», um nicht zu sagen empfindlich sind: «Die Erklärung eines Menschen, der vorgibt, sie wegen ihrer ‹propheti­ schen› und anderen Gaben besonders zu mögen, bereitet ihnen Unbe­ hagen. Denn sie spüren darin die Anerkennung und sogar Rechtfer­ tigung dieser geheimen Diskriminierung.»354 Diese Kritik an einem gewissen oft demonstrativ zur Schau gestellten heuchlerischen «Phi­ losemitismus», der die Juden offenbar mehr irritiert als beschützt, offenbart Horkheimers Verwurzelung in einer jüdischen Identität, die sich nur bewahren lässt, indem sie ihre unauflösbare Differenz zu den Christen und allem «Nichtjüdischen» betont, im vollen Bewusstsein des Sachverhalts, dass die Tragik der jüdischen Existenz in der Moderne gerade darin besteht, an eben dieser Identität gegen die Angriffe der Antisemiten in einer den Juden prinzipiell feindlich gesinnten Umwelt, trotz oder gerade wegen all der Verfolgungen und Pogrome, denen sie seit Jahrhunderten ausgesetzt waren, absolut festhalten zu müssen. Dies ist sicherlich auch der tiefere Sinn der Lehre vom «auserwählten Volk» Gottes. Dies bedeutet natürlich nicht, dass es nicht trotzdem Freundschaften zwischen Juden und christli­ chen Prosemiten geben kann und immer geben wird; aber wohl immer nur auf der Basis der Respektierung der jeweiligen Identität und Dif­ ferenz, was oberflächliche, die Juden verletzende philosemiti­ sche «Umarmungsstrategien» ausschließt. (In der Tat ist das Juden­ tum eine Religion, die es aus eben den genannten Gründen relativ schwer hat, sich mit dem Phänomen der «Konversion», d. h. dem Übertritt zum Judentum abzufinden.) In der jüdischen Welt ist Hork­ heimer allerdings auch nicht der Einzige, der diesen grundsätzlichen skeptischen Vorbehalt gegenüber dem Philosemitismus und anderen gesellschaftlichen Formen der «Heuchelei» zum Ausdruck bringt; auch ein Ernst Bloch hat z. B. in einem Artikel in seinen Literarischen Aufsätzen sich in ähnlichem Sinne geäußert. So spricht u. a. Ernst Bloch in seinem Artikel Die sogenannte Judenfrage aus dem Jahre 1963 à propos der weit verbreiteten «Heuchelei» im Nachkriegsdeutschland von «einer Art von Reue», die darin bestehe, «dass man nicht gern an 353 354

Ebd. Ebd.

140 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

ihren Anlaß erinnert wird. Man sei inwendig ja immer dagegen gewe­ sen, wonach einem die Juden leid tun, die für nichts geplagten.»355 Mit dem Verweis auf die Haltung der Justiz im Nachkriegsdeutsch­ land, d. h. auf «die skandalösen Freisprüche oder kleinen Streichel­ strafen für Nazimörder»356 unterstreicht Ernst Bloch, dass «in dieser ganzen Schicht eine Art Reue lebt, die nicht in sich geht, sondern um sich schlägt, mit dem Bedauern dieser Helden, Wehrlose als Zeugen übriggelassen zu haben.»357 Frappierend ist nun die Übereinstim­ mung von Horkheimer und Ernst Bloch in der kritischen Beurteilung jenes «judenfreundlichen» Philosemitismus im Zusammenhang mit der «Reue» in der deutschen Nachkriegsgesellschaft zur Zeit des Eich­ mann-Prozesses: «Wieviel wärmer und schöner klingt, demgegen­ über, die judenfreundliche Stimme so vieler. (…) Die Skala solch betont abgesetzter, philosemitisch geformter Brüderlichkeit ist weit, sie glaubt schon zu beginnen, wenn versichert wird, voll Reue über das, was man mindestens mitgelebt hat: die Juden seien auch Men­ schen. Eine geradezu überraschende Feststellung, besonders, wenn man bedenkt, daß auch das jüdische Jesuskind nicht als Öchslein oder Esel im Stall geboren worden ist. Der Philosemitismus greift aber, nach der anthropologischen Feststellung, noch sehr viel höher, viel zu überpointierend für den Alltag menschlicher Selbstverständlichkeit, er greift zum Pathos des auserwählten Volks, und das so, als müsse auch hier einem Mythos Unterrasse Gegendampf gegeben werden. (…) Offenbar ist aber auch zwischen der Philanthropie, die ehemals Lincoln den schwarzen Jims in den Südstaaten angedeihen ließ, und der hiesig propagierten Brüderlichkeit ein feiner Unterschied im Recht von Herablassung; das sogar ohne Predigt vom auserwählten Volk. Insgesamt erhellt, schließlich, zugespitzt gesagt: Indem überhaupt von einer Judenfrage gesprochen wird, streift man antisemitische Fra­ gestellung und setzt sie, wider Willen, fort. Ja selbst die betonte Lie­ besantwort auf diese Frage, der Philosemitismus, er impliziert selber so etwas wie ein überwundenes, doch immanentes Stück Antisemi­ tismus. (...) Hat Hitler auch, vor den Vernichtungslagern, wieder ein Getto errichtet, so muß man doch nicht solch fruchtigen Philosemi­ tismus von heute strapazieren, gar wieder als Entdeckung. Was zu Ernst Bloch, «Die sogenannte Judenfrage» ,in: Literarische Aufsätze, Gesamtaus­ gabe Band 9, Suhrkamp, Frankfurt 1965, S. 550. 356 A. a. O.,S. 551. 357 A. a. O., S. 551–552. 355

141 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

Lessings und Kants Zeit Rechtens war, wirkt heute wie eine bloße Retourkutsche, abgelassen aus anerkannter, ob auch positiv behan­ delter Judenfrage bei diesen Philosemiten selber.»358 Es steht außer Frage, dass Horkheimer, der schon in den Jahren 1935–1936 einen interessanten Briefwechsel359 mit Ernst Bloch bezüglich des Materia­ lismusproblems hatte, diesen Aussagen Blochs zur «Judenfrage», zum Antisemitismus und zum «Philosemitismus» voll zugestimmt hätte. Was nun des Näheren die sog. typische «jüdische Mentali­ tät» betrifft, so merkt Horkheimer diesbezüglich sehr richtig an, dass der den Juden von den Antisemiten in der Regel angelastete HyperRationalismus, d. h. das sogenannte «rationalistische Denken», hauptsächlich von nicht-jüdischen Denkern [wie z. B. Descartes, Kant oder Leibniz] entwickelt wurde. «Der Antisemitismus versucht jedoch, die Juden mit dieser Denkschule zu identifizieren. Tatsächlich hatten die Juden, historisch gesehen, immer schon einen Hang zum kühnen abstrakten Denken, was in der Idee eines Gottes zum Aus­ druck kommt, der alle Menschen als Gleiche betrachtet.» Aber es gebe auch eine «Schattenseite des jüdischen Geistes, in der Irrationalität und sogar Mythologien sprießen», und diesbezüglich verweist Hork­ heimer vor allem auch auf die osteuropäischen Chassidim. Dies sei jedoch keinerlei Grund dafür, «sich dem Verdikt zu beugen, zu dem die Antisemiten auf der Grundlage dieser Annahme gelangen.»360 Horkheimer unterstreicht die Bedeutung dieses jüdischen Rationa­ lismus und dessen Parteinahme für das Vernunftrecht, für die Geschichte der Freiheit und der Demokratie allgemein. «Die Anglei­ chung, die aus dem abstrakten Denken resultiert, ist eine Vorbedin­ gung für die Entwicklung der Welt in einem wahrhaft menschlichen Sinne, denn diese Denkungsart befreit die menschlichen Beziehungen und Dinge von ihren Tabus und hebt sie in die Sphäre der Vernunft. Daher kommt es, daß die Juden im Kampf um Demokratie und Frei­ heit schon immer in vorderster Linie gestanden haben.»361 Im Zuge dieser Reflexionen und Analysen zur jüdischen Mentalität erkennt Horkheimer sehr genau, dass die Frage nach dem Ursprung jener A. a. O., S. 552–553. Cf. Ernst Bloch, Briefe von und an Max Horkheimer und Herbert Marcuse (1936– 1938) hrsg. von Jan Robert Bloch, in: Ernst Bloch: Briefe (1903–1975), hrsg. von Karola Bloch et al., Bd. II, Frankfurt, 1985, S. 669–687. 360 Horkheimer, a. a. O., S. 403. 361 Ebd. 358

359

142 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

Eigenarten, die den Juden in verzerrter Form zugeschrieben werden, vor allem «mit einer Zurückweisung der Rassentheorie beantwortet werden» (muss).362 Festzuhalten wäre dabei – im Zuge dieser Zurück­ weisung – der Umstand, dass es vor allem die ökonomische Funktion, in welche die Juden seit dem Mittelalter gedrängt worden waren, war, die diese intellektuellen und charakterlichen Züge der Juden bestimm­ ten und nicht etwa biologische Faktoren. Diese Widerlegung der vom Nationalsozialismus so massiv propagierten Rassentheorie könne, so Horkheimer, auch zum Aufbau einer Alternative beitragen, die «Licht auf die Entstehung deutscher, französischer und englischer, aber auch jüdischer Charakterzüge»363 werfen. «Die Eigenarten, welche die Antisemiten ständig (…) im Munde führen, dürfen nicht als natürli­ che Konstanten, als ewige biologische Gesetze aufgefaßt werden; man muß sie als Charakterzüge betrachten, die zusammen mit den Bedin­ gungen, aus denen sie erwuchsen, verschwinden können (...)».364 Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang auch Horkheimers luzide Kritik des Neids der Antisemiten, d. h. jener Theorie des Nei­ des, die behauptet, «daß der Antisemitismus in der überlegenen Intel­ ligenz und Schaffenskraft der Juden wurzelt» und dass infolgedes­ sen «die Juden aufgrund ihrer überragenden Fähigkeiten in jedem Bereich hohe Positionen erlangen und so bei den materiell und psy­ chisch Benachteiligten Ressentiments» (auslösen)365. Wie Horkhei­ mer diesbezüglich anmerkt, «ist diese These, psychologisch gespro­ chen, zu rationalistisch. Sie geht davon aus, daß der Antisemitismus durch völlig bewußte Erfahrungen und Erwägungen verursacht wird, obwohl solche Erwägungen in Wirklichkeit nur eine relativ unbedeu­ tende Rolle spielen. Das Element des Neids ist zwar von gewisser Bedeutung, dies aber nur in einer verlagerten und pervertierten Form (z. B. die Unterstellung der physischen, psychischen und sozia­ len ‹Minderwertigkeit der Juden›), anstatt in einer direkten Form.»366 Wie August Bebel als führender Repräsentant der deutschen Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende bereits treffend festge­ stellt hat, ist der «Antisemitismus der Sozialismus der dummen Kerle». Wenn Horkheimer diesen Satz seiner Schlussbemerkung 362 363 364 365 366

A. a. O., S. 403. A. a. O., S. 404. Ebd. A. a. O., S. 380. A. a. O., S. 380–381.

143 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

zum ersten Teil seines Projekts über die «heutigen Antisemitismus­ theorien» voranstellt, so deshalb, weil er in einer prägnanten For­ mulierung auf nichts anderes verweist als auf den beschämenden Sachverhalt, der besagt, «daß die untere Mittelschicht in ländlichen und städtischen Bereichen die Vernichtung ihrer jüdischen Gläubiger und Konkurrenten als den schnellsten Ausweg aus ihrem ökonomi­ schen Dilemma ansieht.»367 Gerade auf diese Schicht stützten sich vornehmlich die Nazis mit ihrer rassistischen Ideologie von Blut und Boden und ihrem exterministischen Antisemitismus. (Wie Theodor W. Adorno unterstrich, bestand ja die Anhängerschaft der Nazis überwie­ gend aus Bauernsöhnen.368) Wie Horkheimer hervorhebt, enthält diese ökonomische Interpretation ebenfalls ein Körnchen Wahrheit, aber sie muss ergänzt werden durch eine Analyse der psychischen Mechanismen, die «selbst jene Teile der Massen, bei denen keinerlei Abhängigkeit von jüdischen Geschäften besteht, besonders anfällig für die antisemitische Propaganda macht.»369 Trotz Horkheimers klarer Präferenz für die (sozial)psycholo­ gischen Erklärungsmuster des antijüdischen Ressentiments, lässt diese Antisemitismus-Studie keineswegs auch die historischen Ent­ stehungsbedingungen und die geschichtliche Entwicklung des Juden­ hasses außer Acht: «Viele Phänomene», so Horkheimer, «die uns aus den totalitären Ländern vertraut sind (zum Beispiel die Rolle des Führers, Massenversammlungen, Verbrüderung, trunkener Enthusi­ asmus, der Mythos des Opfers, die Verachtung des Einzelnen etc.), lassen sich nur historisch verstehen – das heißt, von den Grundlagen der gesamten modernen Geschichte her.»370 Diesbezüglich verweist Horkheimer im geschichtlichen Teil sei­ nes Forschungsprojekts vor allem auf die Kreuzzüge, in deren Verlauf viele antisemitische Massaker verübt wurden, auf «die Ausrottung der Bewohner ganzer Landstriche durch fanatische Kreuzritter», sowie auf die Tatsache, dass im Zuge dieser Massenbewegungen A. a. O., S. 381. Theodor W. Adorno, «Erziehung nach Auschwitz», in: Stichworte. Kritische Modelle 2, Suhrkamp, Frankfurt,1969, S. 90: «Kogon sagt, die Quälgeister des Kon­ zentrationslagers, in dem er selbst Jahre verbracht hat, seien zum größten Teil jüngere Bauernsöhne gewesen. Die immer noch fortdauernde kulturelle Differenz zwischen Stadt und Land ist eine, wenn auch gewiß nicht die einzige und wichtigste der Bedin­ gungen des Grauens.» 369 A. a. O., S. 381. 370 A. a. O., S. 382. 367

368

144 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

nicht nur Türken und Sarazenen, sondern auch viele Juden von den Massen überwältigt und ausgeplündert wurden. «Etwas, das angeb­ lich schon lange geschlummert hat, muß immer erweckt werden, um als Rationalisierung für die Wut zu dienen, die in solchen Aktionen zum Ausbruch kommt.»371 (...) So war typisch, unterstreicht Hork­ heimer, dass im Albigenserkreuzzug kein Unterschied zwischen christ­ lichen «Ketzern» und Juden gemacht wurde. «Beide traf die gleiche Wut.» Der Kampf gegen Häresien oder «kriminelle Elemente» war jedoch, so Horkheimer, «nur ein Vorwand für tieferliegende ökono­ mische und sozialpsychologische Tendenzen.»372So gab es immer wieder während der ersten Kreuzzüge im 12. und 13. Jahrhundert in Europa, vor allem in Deutchland, Frankreich und in Osteuropa, anti-jüdische Pogrome und selbst in England traten die Erzbischöfe von Canterbury als antisemitische Führer der Massen auf. Während der großen Pestepidemien im 13. und 14. Jahrhundert wurden sowohl in Deutschland wie in Frankreich und anderen europäischen Ländern viele Juden mit der Beschuldigung, die «Brunnen vergiftet» zu haben, verfolgt und ermordet. Bei einer genauen Lektüre des Antisemitismus-Forschungspro­ jekts des IfS fällt auf, dass Horkheimer bei der Analyse des Antise­ mitismus-Syndroms im Zusammenhang mit der nicht zu leugnenden großen Verantwortung der christlichen Kirchen für die Propagierung des Ressentiments gegen die Juden seit dem 4. Jahrhundert eine Akzentverschiebung vornimmt: Im Mittelpunkt seiner Kritik steht nämlich nicht so sehr der Antisemitismus in der katholische Kirche, die erst nach dem Holocaust, d. h. auf dem 2. Vatikanischen Konzil zu Rom im Jahre 1965, offiziell die Doktrin widerrief, der zufolge die Juden als die Hauptverantwortlichen für den Tod von Jesus Christus am Kreuz stigmatisiert wurden (dem war im Jahre 1959 die offizielle Streichung durch Papst Johannes XXIII. derjenigen Passagen aus der katholischen Freitagsliturgie vorangegangen, in der von den «perfiden Juden» die Rede ist), sondern der Antisemitismus der protestanti­ schen Kirche, der seine Wurzeln nicht nur in vereinzelten judenfeind­ lichen Passagen in den Briefen des Apostels Paulus an die Thessalo­ niker hat, sondern vor allem im unverhüllten Antisemitismus eines Martin Luther. (Dass das Portal der Lutherkirche zu Wittenberg mit einer ganzen Reihe von widerlichen antisemitischen Karikatu­ 371 372

A. a. O., S. 383. Ebd.

145 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

ren «verziert» ist, ist ja alles andere als Zufall.) Wie Max Horkheimer unterstreicht, «ist bei Martin Luther das antisemitische Arsenal voll­ ständig beisammen. Der Antirationalist Luther vergleicht die Ver­ nunft mit einer wilden Bestie und mit einer Hure, und die Juden wirft er mit den Huren in einen Topf.»373 Hitler verbietet Diskussionen zwischen Nationalsozialisten und Angehörigen der anderen Rasse; Luther schrieb: «disputiere nicht viel mit Juden von den Artikeln unseres Glaubens.»374 Luther wollte die Juden aus Deutschland ver­ treiben, sie ihrer Barschaft und Kleinode an Silber und Gold berau­ ben, «ihre Synagoga oder Schulen mit Feuer anstecken»375 und ihre Häuser zerstören. Das sind nichts anderes als hasserfüllte Aufrufe eines protestantischen Theologen, d. h. des charismatischen Anfüh­ rers der Reformation, zu Juden-Pogromen, die ihre Wirkung auf die große Masse der Anhänger der protestantischen Reformation ebenso wenig verfehlten wie diejenigen der Nazis bei den antisemitischen Pogromen gegen jüdische Geschäfte, Synagogen und Institutionen in Deutschland im Jahre 1938. Zusätzlich lenkt Horkheimer in seiner Antisemitismus-Studie auch unser Augenmerk auf den «engen Zusammenhang zwischen deutschem Protestantismus, germanischem Heidentum und dem Antisemitismus der deutschen Freiheitsideologie, z. B. zur Zeit der deutschen Freiheitskriege, wo es u. a. auch zu Bücherverbrennungen kam, d. h. zur Vernichtung von Büchern, die von den sog. «demokra­ tischen» Zeitungen und den «National-Liberalen» als «unpatrio­ tisch» bezeichnet wurden. Dabei wurden u. a. der «Code Napo­ léon» und die Schriften jüdischer Autoren mit dem Ruf «Tod den Juden» in die Flammen geworfen. «In Würzburg, Karlsruhe, Heidel­ berg, Darmstadt und Frankfurt wurden jüdische Häuser angezündet und die Bewohner misshandelt. All das geschah im Namen liberaler und patriotischer Parolen (…). Die weitsichtigsten deutschen Denker, etwa Goethe, Schelling und Hegel, ergriffen Partei gegen die ‹Libera­ len› und schlugen sich auf die Seite der ‹Reaktionäre›».376 «Der Antisemitismus, das ist der Sozialismus der dummen Kerle!» So zutreffend dieser bekannte Ausspruch von August Bebel, 373 Cf. Martin Luther, «Von den Juden und ihren Lügen», in: Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe, 3. Band, München 1936, S. 94 ff. 374 A. a. O., S. 63; zitiert nach Horkheimer, a. a. O., S. 385. 375 A. a. O., S. 189. 376 Horkheimer, a. a. O., S. 387.

146 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

der charismatischen Führungsgestalt der deutschen Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende auch war, so kann er dennoch nach Hork­ heimer den Blick darauf nicht verstellen, dass im Grunde genommen in den letzten zweihundert Jahren keine Gesellschaftsschicht frei von Antisemitismus war.377 Belegt wird dies u. a. auch dadurch, dass sich antisemitische Äußerungen sogar auch in den Werken der Autoren der Aufklärungsperiode finden lassen, die offiziell für Toleranz und Humanismus plädierten. Diesbezüglich sei es wichtig zu untersuchen, so Horkheimer,»ob in den Passagen über die Juden eine Ambivalenz gegenüber dem Begriff der allgemeinen Menschenliebe zum Aus­ druck kommt, obwohl die Autoren sich ganz aufrichtig dazu beken­ nen. Und genauso wichtig ist es, die Relevanz der weniger exponierten Teile in den Werken der meisten Autoren zu untersuchen, die für die Juden «eingetreten» sind. Zudem müssen wir herausfinden, ob sie in einem unbewachten Augenblick die Tatsache preisgaben, dass ihr Prosemitismus «nicht gegen ein tiefes Gefühl der Entfremdung ankam.378 (...) Sind selbst die fortschrittlichsten Persönlichkeiten durch Ambivalenzen zerrissen, dann wird diese bei den weniger kul­ tivierten und aufgeklärten Menschen um so krasser ausgeprägt sein. »379 In diesem Sinne wäre dann wohl auch das angeführte Zitat von August Bebel zu verstehen ... Natürlich erwähnt Horkheimer in die­ sem Zusammenhang auch die krassesten Beispiele für Antisemitis­ mus unter den großen Repräsentanten der Aufklärung, beginnend mit Voltaire, der in seinem Essai sur les Moeurs et l’Esprit des Nations seinem Ressentiment gegen die Juden freien Lauf lässt und diese u. a. in seinem Brief an den Chevalier de Lisle vom 15. Dezember 1773 «die größten Schurken» nennt, «die je das Antlitz der Erde beschmutzt haben.»380 Was die deutsche Aufklärung und Philosophie des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts betrifft, so verweist Horkheimer diesbezüglich u. a. auf die Ambivalenz eines Herder, den Autor der Briefe zur Beförderung der Humanität, der mit seinen Schrif­ ten ostentativ für Humanismus und Gerechtigkeit eintrat, der jedoch gleichzeitig, z. B. in dem der «Bekehrung der Juden» gewidmeten Kapitel seiner Schrift Adastrea, den Antisemitismus von Martin Ebd. Ebd. 379 A. a. O., S. 388. 380 Voltaire, Brief vom 15. Dezember 1773 an den Chevalier de Lisle,in: Oeuvres complètes, Bd. 48, Paris, 1882, S. 522; zitiert von Horkheimer, a. a. O., S. 389. 377

378

147 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

Luther in Schutz nimmt und verteidigt und bei dem diese Reflexionen in Fragen münden, in denen den Juden in Europa mehr oder weniger das Existenzrecht streitig gemacht wird: «Wie viele von diesem frem­ den Volk dürfen in diesem europäischen Staat dies ihr Geschäft ohne Nachteil der Eingeborenen treiben? Unter welchen Bedingungen? In welchen Schranken? Unter welcher Aufsicht?»381 Und zusätzlich pole­ misiert Herder, wie Horkheimer kritisch anmerkt, «gegen andere Länder, die sich in ihrer Haltung mit den Juden an Holland ausrichten, das seinerzeit ein fortschrittliches Land war.»382 (In der Tat war das von den «staathoulders» regierte Holland im 17. Jahrhundert, in dem Spinoza in Amsterdam mit seiner voraufklärerischen rationalisti­ schen Philosophie aufgewachsen war, damals so etwas wie eine «Insel», d. h. eine relativ fortschrittlich-liberale Alternative zu den in allen anderen Ländern Europas regierenden Monarchien.) Was Immanuel Kant betrifft, dessen Werk Horkheimer hervorragend kennt, insofern als sowohl seine Inauguraldissertation wie seine Habilitationsschrift dem Werk des großen Philosophen aus Königs­ berg gewidmet sind, so verweist Horkheimer auf den Widerspruch, d. h. auf den unleugbaren Sachverhalt, dass «seine Bemerkungen über die Juden ganz und gar nicht mit seinem Postulat der praktischen Ver­ nunft übereinstimmen. Der Widerspruch zu seinem allgemeinen Moralprinzip ist offenkundig; die Juden sind unverbesserlich.»383 Nachzulesen u. a. in Kants Anthropologie in pragmatischer Absicht, wo in der Fußnote zum § 46 die Juden in der Tat als «eine Nation von Betrügern» (!?) bezeichnet werden, d. h. als «eine Nation von Kauf­ leuten», «die keine bürgerliche Ehre sucht», und die «diesen ihren Verlust durch die Vorteile der Überlistung des Volks, unter dem sie Schutz finden (...), ersetzen wollen.» In dieser Form formuliere der Autor der Kritik der reinen Vernunft (1781) im Grunde genommen nichts anderes als die seit dem Mittelalter vorherrschende antisemi­ tischen Stereotype vom angeblich typischen «Wucher­ geist» des «Schacher-Juden». In wesentlich schärferer, intoleranterer und radikalerer Form als bei Kant stempelt jedoch Fichte, sein Schüler, der berühmte Autor der Wissenschaftslehre, die ungeliebten Juden in seinen Schriften zum Sündenbock, vornehmlich in seinem Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution 381 382 383

Horkheimer, a. a. O., S. 389. A. a. O., S. 389–390. A. a. O., S. 390.

148 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

(1793). Horkheimer zufolge war es Fichtes aus der Kantischen «Pflich­ tenethik» abgeleiteter moralischer Rigorismus, der ihn zu einer Ver­ dammung der Juden geführt hat. Fichtes antisemitischen Vorurteilen entsprechend bildeten die Juden einen «abgesonderten fest verkette­ ten Staat im Staate», einen Staat, «welcher auf dem Haß des ganzen menschlichen Geschlechts aufgebaut» sei, weshalb es falsch sei, ihnen die vollen Bürgerrechte zu gewähren. Fichte sehe daher kein anderes Mittel, sich gegen diesen Hass zu «wehren», als ihnen «in einer Nacht alle Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sey.»384 Im gleichen Atemzug plädiert Fichte dann für die Aussiedlung der europäischen Juden «ins gelobte Land», d. h. nach Palästina.385 Wie Horkheimer aufweist, können ähnliche anti­ semitische Ausfälle und Entgleisungen wie die Fichtes einem Hegel nicht angelastet und zum Vorwurf gemacht werden, hat Hegel sich doch geradezu «unerschütterlich für die Gewährung der Bürgerrechte an die Juden»386 eingesetzt. Auch unterscheide sich Hegel von den meisten Philosophen seiner Zeit dadurch, dass «er für die teutoni­ schen und antisemitischen Strömungen an den deutschen Universi­ täten nur Verachtung übrig hatte». Gleichwohl gibt es jedoch, bemerkt Horkheimer zugleich einschränkend, von ihm Bemerkungen, «die einen gewissen Judenhass enthalten könnten», wie z. B. jene seltsame Bemerkung in der Phänomenologie des Geistes, wo davon die Rede ist, dass man «vom jüdischen Volk sagen könne, dass es gerade darum, weil es unmittelbar vor der Pforte des Heils stehe, das verworfenste sei und gewesen sei.» (!?)387 Eine ähnliche Ambivalenz in der Stel­ lungnahme zu den Juden erkennt Horkheimer auch bei Goethe, selbst bei Goethe, könnte man sagen, denn es steht außer Frage, dass Goethe kein Antisemit war: «Im Gegenteil, seine Schriften sind voll von höchst positiven Bemerkungen über die Qualität der Juden, ihre prak­ tische Gesinnung, ihre Beharrlichkeit und Zähigkeit. Antisemitische Äußerungen fallen nicht direkt, sondern als Meinungen erdichteter Personen, die Goethe jedoch häufig mit großer Sympathie schildert. » Was Goethe jedoch nicht daran gehindert habe, in Wilhelm Meisters 384 J.G. Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution, Buch I, Kap.III,in: Werke, Bd. VI, Berlin, 1971, S. 150. 385 Cf. Horkheimer, a. a. O., S. 391. 386 Ebd. 387 G.W. F.Hegel, Phänomenologie des Geistes, in; Werke in 20 Bänden, Bd. 3, Suhr­ kamp, Frankfurt 1970, S. 257.

149 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

Wanderjahren eine utopische Gemeinschaft zu beschreiben, die keine Juden in ihren Reihen haben möchte: «Wir dulden keinen Juden unter uns; denn wie sollten wir ihm den Anteil an der höchsten Kultur ver­ gönnen, deren Ursprung und Herkommen er verleugnet?»388 Fazit: In der deutschen Geistesgeschichte des aufgeklärten Zeit­ alters gibt es bezüglich des Antisemitismusvorwurfs wirklich nur eine große löbliche Ausnahme: Lessing, «der mit seiner Vorliebe für die Juden ganz vereinzelt da stand»; ihm folgte dann im 19. Jahrhundert die zweite andere große Ausnahme in der Gestalt von Friedrich Nietz­ sche, dessen positive Haltung zu den Juden, d. h. dessen «Anti-Anti­ semitismus», sowohl von Horkheimer wie auch von Adorno – natür­ lich mit «Nuancen» – immer wieder gewürdigt wurde. Was leider im Zusammenhang dieser umfassenden und gründ­ lichen Antisemitismus-Studie von Horkheimer und seinem ForscherTeam unerwähnt bleibt, das sind die antisemitischen Strömungen innerhalb der französischen Sozialphilosophie und Arbeiterbewe­ gung des 19. Jahrhunderts. So wimmelt es geradezu nicht nur in den Schriften von Proudhon, dem «Stammvater» des französischen Anar­ chismus, sondern auch in den Publikationen von Auguste Blanqui389 und Toussenel von antisemitischen Vorurteilen und Ressentiments, mit denen in der Regel «die Juden» mit der Herrschaft und Tyrannei des Geldes, mit den Börsenspekulanten, mit der «Rothschild»-Bank und mit allen anderen Repräsentanten des Kapitalismus identifiziert und gleichgesetzt werden. Dieser antikapitalistische Anti-Judaismus fand unbestritten eine gewisse Resonanz in der europäischen Arbei­ terbewegung, und «Spurenelemente» davon lassen sich sogar bei Karl Marx selbst nachweisen, der der Sohn eines zum Protestantismus übergetretenen jüdischen Vaters aus Trier war und in dessen Schrift zur «Judenfrage» sich Formulierungen befinden, die die Präsenz eines gewissen anti-kapitalistischen Ressentiments gegen die Juden als eminente «Vertreter der Kapitalistenklasse» belegen.390 388 J.W. Von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, Drittes Buch, 11. Kapitel, Werke Band 8, Standard-Verlag, Hamburg, 1957, S. 421. 389 Cf. Louis-Auguste Blanqui, Ecrits sur la Révolution. Oeuvres complètes, Tome 1, introduction, présentation,notes et commentaires par Arno Münster, Galilée, Paris, 1977; cf. Auguste Blanqui, Textes choisis, ed. Sociales, Paris, 1955. 390 Auch in den «XI Feuerbach-Thesen» von Karl Marx (1845) gibt es eine Passage, die dieses Ressentiment belegt, z. B. wenn in der 1. Feuerbach-These davon die Rede ist, dass für Feuerbach in seinem Buch Vom Wesen des Christentums «nur das theore­ tische Verhalten als das echt menschliche» angesehen werde, «während die Praxis nur

150 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

Den «Vogel» schoss dabei jedoch unbestritten der Blanqui naheste­ hende Alphonse Toussenel ab, d. h. jener «sozialistisch-nationalisti­ sche Antisemit», der in seinen Schriften391 und Appellen am unver­ hohlensten und aggressivsten seinen offenen Antisemitismus zum Ausdruck brachte. Wie Horkheimer an einer Stelle seines Forschungs­ projekts «Antisemitismus» unterstreicht, war Ende des 19. Jahrhun­ derts das antisemitische Ressentiment bei der Intelligenz und auch bei den Schriftstellern in Frankreich so verbreitet, dass sich selbst bei jemandem wie Emile Zola, wohlgemerkt in den Jahren vor seinem radikalen Eintreten für den Hauptmann Dreyfus in der DreyfusAffäre, solche antisemitischen Äußerungen nachweisen lassen. Als Beweis dafür zitiert Horkheimer u. a. den Roman L’Argent, in dem Zola einen Juden zeigt, von dem er sagt: «Der öffentliche Reichtum wurde von diesem stetig anwachsenden Vermögen eines Einzelnen verschlungen; Gundermann (der betreffende Jude) war der tatsächli­ che Herr, der allmächtige König, Paris und die ganze Welt lagen ihm zitternd und gehorsam zu seinen Füßen.»392 «Phantastische Vorstel­ lungen vom Reichtum und der Macht der Juden, von ihrer Kälte und berechnenden Art, sind, so Horkheimer, seit Balzac ein wiederkeh­ rendes Thema der französischen Literatur.»393 Etwa zur gleichen Zeit war Ende des 19. Jahrhunderts in Deutsch­ land zur Zeit der «Gründerjahre» – nach der großen Bank- und Finanzkrise des Jahres 1873 – eine größere antisemitische Bewegung entstanden. An ihrer Spitze fungierte kein anderer als der protestan­ tische Pastor und Theologe Adolf Stöcker (1835–1909), seines Zei­ chens Hofprediger am Berliner Dom, der 1878 die «Christlich-Soziale Partei» gegründete hatte, deren Hauptfeinde die Sozialdemokratie, die Liberalen und die Juden waren. Als Hassprediger wetterte er in ihrer schmutzig jüdischen (??) Erscheinungsform gefasst und fixiert wird.» (Karl Marx, Thesen über Feuerbach. 1. ad Feuerbach, Marx-Engels-Werke (MEW 3), Dietz Verlag, Berlin, 1969, S. 5.). 391 Cf. Adolphe Toussenel (1802–1885), Les Juifs rois de l’époque (Histoire de la féo­ dalité financière), Paris,1845 (Neuauflage, Mercure de France, Paris, 1941). In diesem Buch ruft Toussenel bereits in seinem Vorwort «das Königtum und das Volk» dazu auf, sich vereint der «Geldaristokratie, d. h. der Juden», zu entledigen. Zitat: «La répulsion universelle que le Juif a inspiré si longtemps n’était que la juste punition de son implacable orgueil, et nos mépris les représailles légitimes de la haine qu’il semblait porter au reste de l’humanité» (a. a. O., S. 5). 392 Cf. Emile Zola, Das Geld, in: «Les Rougon-Macquart», Band 18, München 1924, S. 129. 393 Cf. Horkheimer, a. a. O., S. 393.

151 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

viele Jahre lang – in der Regel bei persönlicher Anwesenheit des Kaisers Wilhelm I. – von seiner Redekanzel «gegen Demokratie und Judentum». Immer wieder betonte er, wie sehr die Juden am wirt­ schaftlichen Fiasko des deutschen Reiches – nach dem Börsenkrach des Jahres 1873 –«schuld» gewesen seien; diese ständen nämlich nicht für «sittliche Arbeit», sondern für «jüdische Geschäftspraktiken». Ein Jahr später – 1879 – gründete zusätzlich der Journalist Wilhelm Marr in Berlin die «Antisemiten-Liga». Es war eben dieser Wilhelm Marr, der zum ersten Mal den Terminus «Antisemitismus» als Ersatz für den bis dahin üblichen Begriff der «Judenfeindschaft» gebrauchte; und zum gleichen Zeitpunkt proklamierte der bekannte konserva­ tive antisemitische Historiker Treitschke in den Preußischen Jahrbü­ chern: «Die Juden sind unser Unglück!» Die Verbreitung der «Protokolle der Weisen von Zion», einer unglaublichen Fälschung, tat das Übrige, um die antisemitische Pro­ pagandamaschine in Europa, um nicht zu sagen weltweit, anzuheizen. Insgesamt gab es in Deutschland im Zeitraum von 1871–1918 nicht weniger als zehn kleinere antisemitische Parteien, die alle den Anti­ semitismus in ihrem Programm hatten, von denen die radikalsten die 1893 gegründete «Antisemitische Volkspartei», die 1889 gegrün­ dete «Deutsch-soziale Partei», die 1892 gegründete «Deutsch-Kon­ servative Partei» sowie die 1878 von A. Stöcker gegründete «Christ­ lich-Soziale Partei» waren. Wie Hannah Arendt dazu bemerkte, war das, «worum es ihnen ging, nicht eine revolutionäre Neuordnung der Gesellschaft, sondern die Zerstörung des politischen Gefüges durch eine Partei,» nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich die Besei­ tigung der Juden, sondern «das Instrument des Antisemitismus für die Beseitigung des Staats, wie er im Nationalstaat verkörpert war.«394 Eine besonders unrühmliche Rolle bei der systematischen Anheizung des Judenhasses spielte dabei der Gymnasiallehrer Bernhard Förster (1843–1889), der Sohn eines protestantischen Pastors, der von 1878 an, an der Spitze der sog. «Berliner Bewegung» stehend, in Berlin als großer antisemitischer Agitator auftrat und der dabei ständig die Juden als «Parasiten am deutschen Volkskörper» stigmatisierte. Er war mit Nietzsches Schwester Elisabeth verheiratet, die als überzeugte Antisemitin nach Nietzsches Tod eine ganze Reihe von Manipulatio­ nen an Nietzsches Schriften vorgenommen hatte, die die Absicht Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Piper Taschenbuch, München 1991, S. 105.

394

152 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

verfolgten, Nietzsches radikale Kritik und Verurteilung des Antise­ mitismus zu vertuschen. Förster war auch der Initiator der «Antise­ miten-Petition», die er gemeinsam mit Max Liebermann von Son­ nenberg lancierte. 1880 wurde er – nach einer Schlägerei mit dem jüdischen Fabrikanten Kantorowicz – aus dem Schuldienst entlassen. Daraufhin gründete er, ebenfalls zusammen mit Liebermann, 1881 in Berlin den antisemitischen «Deutschen Volksverein». 1886 wanderte er nach Paraguay aus, wo er zusammen mit seinen deutsch-nationa­ len antisemitischen Gesinnungsgenossen unweit von Asuncion die deutsche Kolonie «Neu Germanien» (Nueva Germania) gründete. Dort wetterte er unentwegt, unterstützt von seinem Bruder, dem Theologen Paul Förster, gegen «die Verjudung des Deutschtums». Er verstarb im Jahre 1889 durch Selbstmord. All diese antisemitischen Parteien und Ligen in Deutschland, die auch noch in der Periode von 1900 bis 1914 sehr aktiv waren, waren in gewisser Weise die ideologisch-organisatorischen «Vorläufer» der Hitler’schen NSDAP, die sich die Zerstörung der Sozialdemokratie, des Kommunismus, der «Liberalen Partei» und der Weimarer par­ lamentarischen Demokratie zum Ziel gesetzt hatte und die auch versuchte, die «deutsche» Arbeiterschaft in die künftige faschisti­ sche «Volksgemeinschaft» zu integrieren, ein demagogisches Manö­ ver, das sich schon in der Wahl des Parteinamens NSDAP ausdrückte, der die große Lüge enthielt, es handele sich hier um eine «Partei der Arbeiterbewegung», obwohl von Anfang an das erklärte Ziel von Hitlers Politik (Cf. «Mein Kampf», 1925) die Zerschlagung und Zerstörung der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewe­ gung, der Gewerkschaften und der liberalen Demokratie durch die Verfolgung und Ermordung ihrer Repräsentanten und Führer sowie die Vernichtung der Juden war. Wie Ernst Bloch dazu treffend in seinem in Erbschaft dieser Zeit (1935) veröffentlichten Artikel Inventar des revolutionären Scheins (1933) bemerkt, «stahl man zuerst die rote Farbe, rührte damit an. Auf Rot waren die ersten Kundgebungen der Nazis gedruckt, riesig zog man diese Farbe auf der schwindelhaften Fahne aus. (…) Dann stahl man die Straße, den Druck, den sie ausübt. Den Aufzug, die gefährlichen Lieder, welche gesungen worden waren. Was die roten Frontkämpfer begonnen hatten: den Wald von Fahnen, den Einmarsch in den Saal, genau das machten die Nazis nach. (...) In Offenbach errichtete man den Maibaum, das alte jakobinische Freiheitszeichen, tanzte um ihn weißgardistisch, ja Hindenburg per­ sönlich feierte den Weltfeiertag des Proletariats. (...) Nur das Wort

153 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

Prolet wird vom Nazi nicht übernommen, so wenig wie das Wort Krise, wofür man bereits in der Weimarer Republik das Bild ‹Wel­ lenbewegung des Wirtschaftslebens› setzte und im ‹Dritten Reich›, mit noch besserer Spekulation auf die menschliche Dummheit, ein­ fach ‹Novemberverbrechen› sagt. ‹Arbeitertum› jedenfalls, das wird ein außerordentlich kordialer Brei, mit ihm wird der Grundwider­ spruch zwischen Kapital und Arbeit, den das Kleinbürgertum ohnehin nicht begriffen hat, vollends verschmiert, und das Schwindelmons­ trum heißt trotzdem oder eben deshalb ‹Arbeiterpartei›, lässt die Mörder und ihre Opfer sich als Genossen grüßen und gibt sich, indem es die Marxsche Aufhebung des Proletariats mit Erschießungen und Konzentrationslagern praktiziert, sogar als den wahren Jakob des Sozialismus. Wobei der Nazi, er ist ja ‹menschlich›, und sein erster Mai zeigte bereits diese umarmende Kraft, sich freilich ebenso auf erstickende Art von ‹Entproletarisierung› immer und immer wieder versteht. Es ist das sicherste Zeichen seiner Kleinbürgerlichkeit, wie die ‹Tiefen des Volks›, aus denen ja auch Spießerkönig Hitler empor­ gestiegen ist, gehoben werden sollen, wie proletarisches Klassenbe­ wusstsein abgetrieben, ‹Standesbewusstsein› beigebogen wird. Mit dem Auftrag: den Klassenkampf in jenem generellen Wischiwaschi zu ersticken, das kleinbürgerliches Bewusstsein heißt und worin sich, wie Marx sagt, die ‹Widersprüche zweier Klassen zugleich abstump­ fen.›»395 Wie Ernst Bloch treffend resümiert, besteht die Tragödie der deutschen Arbeiterbewegung darin, 1933 diesem unglaublichen Mas­ senbetrug der Nazis zum Opfer gefallen zu sein: «Ein Monstrum ist wahr geworden und liefert den Proleten gefesselt ein ins Tausendjäh­ rige Reich, ins Finanzkapital als Volksgemeinschaft.»396 Sehr klar erkannte Ernst Bloch diesbezüglich auch das heranrückende baldige Ende dieses Betrugs der Nazis und dieser geradezu kriminellen Instrumentalisierung antikapitalistischer Sehnsüchte der Massen für die rassistisch-antisemitische und imperialistische Politik des «Tau­ sendjährigen Reichs»: «Hitler brüllte, daß er sein Reich stabilisiert habe für die Jahrhunderte, die nach uns kommen», und «in zehn Jah­ ren gibt es keinen Marxismus mehr.» «In zehn Jahren wird stattdessen das Tausendjährige Reich gänzlich in die Hölle gefahren sein – der Hund ist tot, die Taschenspieler werden keinen Geist mehr rufen. Nur 395 396

Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit (1935), Suhrkamp, Frankfurt 1973, S. 70–72. A. a. O., S. 73.

154 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

ein Menetekel wird stehen bleiben – wehe jeder Diktatur, die das verkennt.»397 Nun könnte – 80 Jahre nach der Abfassung der AntisemitismusStudie von Horkheimer, die im amerikanischen Exil, sechs Monate vor der berüchtigten Wannseekonferenz in Berlin von Januar 1942 entstanden war, auf der von der NS-Führung die sog. «Endlösung der Judenfrage», d. h. die Ermordung von 6 Millionen mittel- und osteuropäischen Juden beschlossen worden war, eventuell eingewendet werden, dass diese Studie sich zu sehr auf eine rein sozial-psycholo­ gische Analyse des Antisemitismus-Syndroms bei den verschiedens­ ten Individuen und Gesellschaftsschichten in der bürgerlichen Gesell­ schaft beschränkt, und dass – aus heutiger Sicht, 75 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs und 74 Jahre nach der Gründung des Staates Israel – die von Horkheimer skizzierte Typologie heutiger Antisemiten zumindest in einem Punkt noch einer wichtigen Ergänzung bedarf: d. h. dem «neuen Antisemitismus» in Gestalt des «Anti-Zionismus». Hierbei handelt es sich in der Tat um eine neue, erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandene Form der Judäophobie, die aufs Engste mit der von den Vereinten Nationen im November 1947 beschlossenen Teilung Palästinas und mit der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 zusammenhängt. Diese Judäophobie stützt sich ideologisch hauptsächlich auf die Kritik des Zionismus Theodor Herzls und seiner Anhänger, dessen Begründer 1894 persönlich als Journalist und Prozessbeobachter am Dreyfus-Prozess in Paris teilgenommen hatte und der damit im Laufe des 20. Jahrhunderts – neben Max Nordau – zur führenden Gestalt des neu erwachten jüdischen Natio­ nalismus geworden war. Indem er nun heute im Namen des «AntiImperialismus» und des «Selbstbestimmungsrechts der Völker» ein­ seitig für die Palästinenser und gegen den Staat Israel Partei ergreift, entlarvt sich dieser «Anti-Zionismus» jedoch in weiten Kreisen der radikalen Linken heutzutage immer mehr und immer deutlicher als ein neuer Antisemitismus, eben wegen der radikalen und geradezu fanatischen, permanenten Stigmatisierung Israels und der offiziellen israelischen Politik als «kolonialistisch», «expansionistisch» oder gar «faschistisch», unter totaler Missachtung der Tatsache, dass der Staat Israel unter großen Opfern, Anstrengungen und Entbehrungen von den Überlebenden des Holocaust gegründet und aufgebaut wor­ den war und dass es 1948 sicherlich nicht zur Vertreibung so vieler 397

A. a. O., S. 75.

155 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

Palästinenser gekommen wäre, wenn diese nicht – zusammen mit vier anderen arabischen Nachbarstaaten, unmittelbar nach der Ausrufung und Gründung des jüdischen Staates im Mai 1948 – dem neuen, gerade gegründeten Staat Israel sofort den Krieg erklärt hätten. Außer Acht gelassen wird dabei auch der Umstand, dass in den Jahren und Dezennien nach der Staatsgründung Israels über eine Million Paläs­ tinenser in den Staat Israel integriert wurden, und zwar (a) durch die Gewährung der israelischen Staatsbürgerschaft, (b) durch ihre beruf­ liche Integration und (c) durch die Zulassung mehrerer arabischsprachiger palästinensischer politischer Parteien, die in der Knesset, dem israelischen Parlament, durch eine Anzahl von Abgeordneten vertreten sind. Israel ist ja der einzige Staat im Nahen Osten mit einer halbwegs normal funktionierenden parlamentarischen Demokratie westlichen Typs, in dem die Rechte der Opposition respektiert werden. Natürlich macht die israelische Regierung, in der seit der Ermordung von Itzak Rabin die Nationalisten des «Likoud»-Blocks dominieren und wo die Anhänger des Dialogs mit den Palästinensern in der Min­ derheit sind, Fehler (z. B. die forcierte Siedlungspolitik oder die umstrittene Politik der militärischen «Präventivschläge»), die ihr den Vorwurf der «Diskriminierung der Palästinenser» eingebracht haben; dennoch sollte diese Kritik nicht dazu führen, das verbriefte Existenz­ recht Israels in Frage zu stellen, wie dies z. B. die BDS-Bewegung mit ihren radikalen Boykott-Aufrufen tut, denn nur auf dem Verhand­ lungswege und über keinen anderen Weg kann noch eine positive Lösung des Problems im Nahen Osten, z. B. in der Form einer «ZweiStaaten-Lösung» gefunden werden. Die Eigenart dieses «neuen Anti­ semitismus» in der Form eines militanten radikalen «Anti-Zionis­ mus» ist jedoch, dass dieser heutzutage nicht von den Rechtsradikalen, sondern hauptsächlich von den Parteien der radika­ len Linken propagiert wird, die de facto zu einer Diabolisierung Israels als einem «rassistischen Staat», der eine «Politik der Apartheid» prak­ tiziere, geführt hat. Gefährlich an diesem neuen Antisemitismus ist u. a. auch der Umstand, dass dadurch erneut weltweit ein Feindbild von den Juden allgemein geschaffen und verbreitet wird, das im Unterbewussten den «traditionellen» verdrängten Antisemitismus, d. h. denjenigen des geizigen «Geldjuden», «Blutsaugers» und «Bör­ senspekulanten», reaktiviert und sodann paranoid auf Israel, den Staat der Juden, der seit dem «Sechs-Tage-Krieg» vom Juni 1967 das West­ jordanland besetzt hält, projiziert. Dadurch wurde jedoch tendenziell der traditionelle Judenhass der völkisch-nationalen Antisemiten des

156 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

19. und 20. Jahrhunderts in den neuen Gewändern des «Anti-Zionis­ mus» erneuert, dessen Ziel die Zerstörung gerade des Staates auf der Erde ist, der infolge der Shoah in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg – neben den USA – zum größten Refugium für die in Europa durch die Nazis grausam verfolgten, in Konzentrationslagern gequälten und ermordeten Juden geworden war.398 Wenn Ernst Bloch 1967 in seiner Ansprache auf der großen pro-israelischen Demonstration399 in Frankfurt – vor dem Römer –, anlässlich des 6-Tage-Kriegs – so lei­ denschaftlich für den Staat Israel plädiert hat, und diese Ansicht wurde auch von Max Horkheimer geteilt –, so deswegen, weil er erkannt hatte, dass das von Syrien, dem Libanon, von Jordanien und Ägypten militärisch eingekreiste Israel in seiner staatlichen Existenz von den Armeen dieser arabischen Staaten sehr bedroht war und weil es seiner Ansicht nach deshalb die moralische Pflicht der kritischen engagierten Intellektuellen, übrigens nicht nur der jüdischen, sei, in diesem Kon­ flikt öffentlich ihre Solidarität mit Israel zu bekunden. Die Aphoris­ men in dem Buch Notizen (1949–1969), die den Juden und der Pro­ blematik der jüdischen Existenz nach dem Holocaust gewidmet sind, bestätigen, dass Horkheimer weitestgehend mit dieser Einschätzung und der Verteidigung der jüdischen Singularität, des Staates Israel und des «Stolzes, Jude zu sein» gegen diese Bedrohung durch einen neuen Antisemitismus übereinstimmt. So heißt es u. a. in dem Aphorismus Judentum, Wahrheit, Illusion Horkheimers aus dem Jahre 1949: «In dem Festhalten des Judentums an seinem alten Glauben steckt ein Element der Versteifung des Ichs – die Angst, dieses zu verlieren –, Dieser Vorwurf kann natürlich nicht all jenen progressiven linken Intellektuellen (darunter auch vielen in der «Diaspora» in den USA oder in Frankreich lebenden jüdi­ schen Intellektuellen) gemacht werden, die aus menschenrechtlichen Gründen, obwohl grundsätzlich pro-israelisch eingestellt, Israels Politik der «harten Hand» gegenüber den Palästinensern kritisieren und für eine Änderung dieser Politik eintreten. Diese sind jedoch nur eine kleine Minderheit in einer offiziell «anti-impe­ rialistisch» und «anti-zionistisch» orientierten linksradikalen politischen Bewegung, die, wie z. B. die BDS-Bewegung, offen zum «Boykott» Israels ausruft und dabei abso­ lut nicht zur Kenntnis nehmen will, dass der Slogan «Kauft nicht bei Juden!!» gefähr­ lich an die Kampagne des NS-Regimes zum Boykott jüdischer Geschäfte in Deutsch­ land in den Jahren 1933–1938 erinnert. Und wir wissen nur allzu gut, wohin dies alles geführt hat ... (A. M.). 399 Cf. Ernst Bloch, «Zum Pulverfass im Nahen Osten» (1967) (Ansprache bei der deutsch-israelischen Kundgebung, Frankfurt a. M., 27.6.1967), in: Politische Messun­ gen, Pestzeit, Vormärz, Gesamtausgabe Band 11, Suhrkamp, Frankfurt 1970, S. 419– 428. 398

157 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

X. Horkheimers Forschungsprojekt über den Antisemitismus

ein Moment von Eitelkeit. Sie haben dafür einen schrecklichen Preis bezahlt – und wahrscheinlich noch viel mehr für die mit dieser Eitel­ keit verbundene Wahrheit als für diese Illusion.»400 Noch deutlicher in seiner Solidarität mit den Juden, mit diesem von den Antisemiten jahrhundertelang so grausam verfolgten Volk, wird Horkheimer schließlich noch in einem seiner letzten Nach Auschwitz betitelten Aphorismen aus dem Jahre 1969, wo es u. a. heißt: «Wir jüdischen Intellektuellen und Überlebenden der Hitler­ schen Verfolgung, wir haben die einzige Pflicht: zu handeln, damit das Schreckliche sich weder wiederholt noch in Vergessenheit gerät, und mit jenen verbunden zu sein, die unter unbeschreiblichen Qualen verstorben sind. Ihnen gehört unser Denken und unsere Arbeit: der Zufall, durch den wir dem entkommen sind, darf unsere Solidarität mit ihnen nicht in Frage stellen, er muss sie nur festigen. Alle unsere Erfahrungen müssen unter dem Zeichen des Grauens stehen, das sowohl uns selbst wie auch ihnen beschieden war. Ihr Tod ist die Wahrheit unseres Lebens; wir sind da, um ihre Verzweiflung und ihre Sehnsucht auszudrücken.»401

400 Max Horkheimer, Notizen (1949–1969), Gesammelte Schriften Band 6, Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt a. M., 1988, S. 35. 401 A. a. O., S. 259.

158 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XI. Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942)

Wie die Herausgeber der Gesammelten Werke von Max Horkhei­ mer in 19 Bänden im Fischer-Taschenbuch-Verlag Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid-Noerr unterstreichen, markieren die Schriften Autoritärer Staat und Vernunft und Selbsterhaltung den Übergang des Horkheimerschen Denkens zu den in der Dialektik der Aufklärung (1947) vertretenen Positionen, die in enger gemeinsamer Arbeit mit Adorno entstanden sind, der den Text dieses epochemachenden Werks zusammen mit seinem Freund Horkheimer in Los Angeles (Kalifornien) gemeinsam ihrer Sekretärin diktiert haben. Nichtsde­ soweniger zeigt eine gründliche Lektüre von Horkheimers Studie zum autoritären Staat, dass diese Analyse im Grunde genommen immer auf weiten Strecken immer noch vom Marxismus, wohlge­ merkt einem «heterodoxen», nicht kanonisierten undogmatischen Marxismus, geprägt ist, wenngleich auch weniger stark als in der Dämmerung (1926–1931) und anderen Schriften Horkheimers seiner frühen Periode. Paradigmatisch dafür stehen z. B. Absätze der Studie über den Autoritären Staat wie der folgende: «Dialektik ist nicht identisch mit Entwicklung. Zwei entgegengesetzte Momente, der Übergang zur staatlichen Kontrolle und die Befreiung von ihr, sind im Begriff der ‹sozialen Umwälzung› in eins gefasst. Sie bewirkt, was auch ohne Spontaneität geschehen wird: die Verge­ sellschaftung der Produktionsmittel, die planmäßige Leitung der Pro­ duktion, die Naturbeherrschung ins Ungemessene. Und sie bewirkt, was ohne aktive Resistenz und stets erneute Anstrengung der Frei­ heit nie eintritt: das Ende der Ausbeutung. Solches Ende ist keine Beschleunigung des Fortschritts mehr, sondern der Sprung aus dem Fortschritt heraus. Das Rationale ist nie vollstädig deduzierbar. Es ist in der geschichtlichen Dialektik überall angelegt als der Bruch mit der Klassengesellschaft. Die theoretische Argumentation dafür, das der Staatskapitalismus ihre letzte Etappe sei, beziehen sich darauf, dass die gegenwärtigen materiellen Verhältisse den Sprung ermöglichen und

159 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XI. Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942)

fordern. Die Theorie, der sie entstammen, weist dem bewussten Willen die objektiven Möglichkeiten. (...) Die Selbstbewegung des Begriffs der Ware führt zum Begriff des Staatskapitalismus wie bei Hegel die sinnliche Gewissheit zum absoluten Wissen.»402

Für Horkheimer ist der Staatskapitalismus – vor allem in Gestalt des Nationalsozialismus bzw. des «integralen Etatismus» in der Sowjet­ union (unter Stalin) – «der autoritäre Staat der Gegenwart». In seiner Analyse der Genese dieses Staatskapitalismus, die in vielen Punkten den starken Einfluss von Friedrich Pollock attestiert, unterstreicht Horkheimer, dass dieser Staatskapitalismus vor allem das Ergebnis des Übergangs vom marktwirtschaftlichen Liberalismus und Konkurrenzkapitalismus zum Kapitalismus der Monopole ist, d. h. des ständig fortschreitenden Prozesses der Kapitalkonzentration, der die Bourgeoisie erheblich dezimiert und die Abhängigkeit der Wirtschaft von den großen Konzernen und vom Staat gewaltig ver­ stärkt hat: «Das Dorado der bürgerlichen Existenzen, die Sphäre der Zirkulation, wird liquidiert. Ihr Werk wird teils von den Trusts ver­ richtet, die ohne Hilfe der Banken sich selbst finanzieren, den Zwi­ schenhandel ausschalten und die Generalversammlung in Zucht neh­ men. Teils wird das Geschäft vom Staat besorgt. Als caput mortuum des Verwandlungsprozesses der Bourgeoisie ist die oberste industri­ elle und staatliche Bürokratie übrig geblieben.»403 Als offizieller Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft übernimmt seitdem der Staat selbst die Leitung der Produktion. «Alle gesellschaftlichen Funktionen werden jetzt von besoldeten Angestellten versehen ... Und der Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapi­ talistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Je mehr Poduk­ tivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirkli­ cher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier.»404 Indem er als «Gesamt­ kapitalist» das Kapitalverhältnis auf die Spitze treibt, mache der monopolistische Staatskapitalismus das Dasein der Arbeiter aus­ sichtslos. Die Arbeitslosigkeit wird organisiert, der Markt besei­ 402 Max Horkheimer, «Autoritärer Staat», in; Gesammelte Werke Band 5, FischerTaschenbuch-Verlag, Frankfurt 1987, 2009, S. 307–308. 403 A. a. O., S. 292. 404 A. a. O., S. 293.

160 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XI. Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942)

tigt. «Die zeitgemäße Planwirtschaft kann die Masse besser ernähren und sich besser von ihr ernähren lassen als die Reste des Marktes.»405 Zwar legitimiert Horkheimer mit dieser Diagnose des die liberalisti­ sche Phase des Konkurrenzkapitalismus definitiv ablösenden illibe­ ralen monopolistischen Staatskapitalismus den Anspruch der weiter­ hin unterdrückten (Arbeiter)Klasse und Proletarier auf eine Umwälzung dieser Verhältnisse, gleichzeitig dämpft er jedoch auf der Grundlage nicht von der Hand zu weisender empirischer Untersu­ chungen über die Arbeitswelt, ihre Organisationen und offiziellen Repräsentanten sowie über das Bewusstsein breiter Schichten der arbeitenden Bevölkerung, alle allzu optimistischen Erwartungen über die realen Erfolgschancen dieses Widerstands mit dem Hinweis auf die manifesten Schwächen der anti-kapitalistischen sozialistischen (sozialdemokratischen und kommunistischen) Opposition im Deutschland der Weimarer Republik, insbesondere auch der von der SPD dominierten und gelenkten Gewerkschaftsbewegung. «Die Partei verwandte sich für eine soziale Gesetzgebung, der Arbei­ terschaft sollte das Leben im Kapitalismus erleichtert werden. Die Gewerkschaft erkämpfte Vorteile für Berufsgruppen. Als ideologische Rechtfertigung bildeten sich die Phrasen der Betriebsdemokratie und des Heineinwachsens in den Sozialismus aus. Die Arbeit als Beruf: als die Plackerei (…) wurde kaum mehr in Frage gestellt. Sie wurde aus des Bürgers Zierde zur Sehnsucht der Erwerbslosen. Die großen Orga­ nisationen förderten eine Idee der Vergesellschaftung, die von der Ver­ staatlichung, Nationalisierung, Sozialisierung im Staatskapitalismus kaum verschieden war. (...) Sie setzte an die Stelle der vorhandenen staatlichen Apparaturen die Bürokratien von Partei und Gewerkschaft, an Stelle des Profitprinzips die Jahrespläne der Funktionäre. Noch die Utopie war von Maßregeln ausgefüllt. Die Menschen wurden als Objekte vorgestellt, gegebenenfalls als ihre eigenen.»406

Diese Kritik an der Bürokratisierung der Arbeiterbewegung liest sich auch wie eine gleichzeitige desillusionierende Kritik sowohl am «Meliorismus» des von der Sozialdemokratie praktizierten Prag­ matismus wie auch an dem von den Kommunisten praktizierten leninistischen bürokratischen Zentralismus mit seinem Insistieren auf absoluter Unterordnung unter die Parteitagsbeschlüsse und die Direktiven der Parteileitung unter die Moskauer Führung der «Drit­ 405 406

A. a. O., S. 295. A. a. O., S. 295.

161 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XI. Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942)

ten Internationale», unter die strenge Parteidisziplin etc. etc. Horkhei­ mer: «Bei den Maximalisten (…) hat schließlich die Autorität gesiegt und Wunder verrichtet.»407 Was die geschichtlichen «Vorläufer» des modernen autoritä­ ren Staates betrifft, so verweist Horkheimer einerseits auf des­ sen Anfänge in der Französischen Revolution, wo – trotz der Devise «Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit» – Robespierre in der Periode des «Terreur» «die Autorität im Wohlfahrtsausschuß zentra­ lisiert», «das Parlament zur Registrierkammer von Gesetzen herabge­ drückt», «die Funktionen der Verwaltung und Beherrschung in der jakobinisschen Parteileitung vereinigt»408 und wo «der Staat (bereits) die Wirtschaft reguliert». Gestützt auf die Forschungen des franzö­ sischen Historikers Albert Mathiez schließt er daraus, dass die bür­ gerliche Französische Revolution «ihrer Tendenz nach totalitär» war. Allerdings kam, bemerkt Horkheimer einschränkend, «unter den Jakobinern der Staatskapitalismus über die blutigen Anfänge nicht hinaus.»409 Der Thermidor410 habe jedoch seine Notwendigkeit nicht beseitigt. Der Bonapartismus war die Reaktion der Bourgeoisie auf jene «etatistischen Tendenzen von unten».411 Und was den Staats­ kapitalismus in Deutschland betrifft, so unterstreicht Horkheimer diesbezüglich «die dunkle Beziehung von Lassalle», dem «Begründer der deutschen sozialistischen Massenpartei» (SPD), zu Bismarck, dem «Vater des deutschen Staatskapitalismus».412 Mit einem klaren Blick auf die Sowjetunion nach der Oktober­ revolution und auf die Dekrete Lenins gilt es für Horkheimer als erwiesen, dass die «konsequenteste Art des autoritären Staats, die sich aus jeder Abhängigkeit vom privaten Kapital befreit hat, der «integrale Etatismus oder Staatssozialismus»413 ist. Dort sei «die Vergesellschaf­ tung dekretiert. Die privaten Kapitalisten sind abgeschafft (...). Der integrale Etatismus bedeutet keinen Rückfall, sondern Steigerung der Kräfte; im Gegensatz zum Faschismus, kann er «leben ohne Rassen­ A. a. O., S. 298. A. a. O., S. 299. 409 Ebd. 410 Name für die revolutionären Vorgänge in Paris am 27. und 28. Juli 1794 (Ther­ midor an II), in deren Verlauf Robespierre gestürzt und als Präsident des «Wohlfahrt­ ausschusses» entmachtet wurde. 411 A. a. O., S. 300. 412 A. a. O., S. 300. 413 Ebd. 407

408

162 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XI. Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942)

hass». «Aber die Produzenten, denen juristisch das Kapital gehört, ‹bleiben Lohnarbeiter, Proletarier›, mag noch so viel für sie getan werden. Das Betriebsreglement hat sich über die ganze Gesell­ schaft ausgebreitet. (...) Im integralen Etatismus steht (...) der Abso­ lutismus der Ressorts, für deren Kompetenzen die Polizei das Leben bis in die letzten Zellen durchdringt, der freien Einrichtung der Gesell­ schaft entgegen.»414 Mit diesen Sätzen spielt Horkheimer, auch wenn er die Moskauer Prozesse und die Terrorherrschaft Stalins nicht direkt erwähnt, unmissverständlich auf die bürokratisch-totalitäre Herr­ schaft in der Sowjetunion unter Stalin an, wo nach dem Tode Lenins (1924) die von den Bolschewiki geschaffenen Arbeiterräte aufgelöst und durch die autoritären zentralisieren Strukturen einer Parteibüro­ kratie ersetzt worden waren, die den Befehlen des – von allen «trotz­ kistischen» Kräften inzwischen «gereinigten» – Zentralkomitees der KPdSU – blind zu gehorchen hatte. Dadurch wurde in der Sowjet­ union bereits Anfang der 1930er Jahre die bürokratisch-totalitäre Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei, de facto diejenige des von Stalin geleiteten ZK und seines Sicherheitsapparats, d. h. dem NKWD, institutionalisiert. Das Ergebnis war, dass, als Stalin, nach­ dem es ihm gelungen war, mit polizeistaatlichen Methoden alle seine innenpolitischen Gegner zu eliminieren, Millionen von Sowjetbür­ gern ihrer bürgerlichen Freiheiten beraubt, verhaftet, gefoltert, ermordet bzw. in staatliche Konzentrationslager (Gulag) deportiert wurden. In seinem Essay über den Autoritären Staat spielt Horkhei­ mer ganz unmisverständlich auf diese bürokratisch-totalitäre Entar­ tung des Regimes in der Sowjetunion an, verzichtet jedoch – leider – auf eine detaillierte Darstellung der spezifischen Formen dieses staat­ lichen im Namen des «Kommunismus» verübten Terrors. In seine dennoch unverhohlene Kritik mischt sich etwas Resignation, zum Beispiel wenn er diesbezüglich feststellt: «Unwiderruflich ist in der Geschichte nur das Schlechte: die ungewordenen Möglichkeiten, das versäumte Glück, die Morde mit und ohne juristische Prozedur, das, was die Herrschaft den Menschen antut. Das andere steht immer in Gefahr.»415 Gegenüber dieser Form des «totalen Etatismus» unter dem Vor­ zeichen des Sozialismus und des Kommunismus ist Horkheimer zufolge der Faschismus eine Mischform, insofern als auch hier «der 414 415

A. a. O., S. 301. Ebd.

163 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XI. Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942)

Mehrwert zwar unter staatlicher Kontrolle gewonnen und verteilt wird, gleichzeitig dieser Mehrwert jedoch in der Form des Profits in großen Mengen weiter an die Industriemagnaten und Grund­ besitzer»416 fließt. Die Kontrolle der durch nationalistische und antisemitische Parolen fanatisierten Massen, die permanente Mobi­ lisation durch Zeitung, Kino und Radio gehören nachgerade, so Horkheimer, zum «Katechismus» der autoritären Regierungskunst des Faschismus: «Sie sollen alle zuhören, vom Führer bis zum Block­ wart, nur nicht einander, sie sollen über alles orientiert sein, von der nationalen Friedenspolitik bis zur Verdunkelungslampe, nur nicht sich orientieren, sie sollen überall Hand anlegen, nur nicht an die Herrschaft. Die Menschheit wird allseitig ausgebildet und verstüm­ melt (…); die Unterdrückungsmaschinerie gegen den inneren Feind muss einen Vorwand in der Drohung mit dem äußeren finden. Wenn Hunger und Kriegsgefahr notwendige, unkontrollierte, wider Willen produzierte Folgen der freien Wirtschaft waren, werden sie vom autoritären Staat der Tendenz nach konstruktiv angewandt.»417 Treffend beschreibt Horkheimer hier auch die typischen sozialpsychologischen und bewusstseinsmäßigen Formen der von die­ ser totalitären Unterdrückungsmaschinerie betroffenen Massen und eines sehr autoritären Systems der Repression, der Denunziation, der Mobilisierung und der Angst: «Eigentlich könnte jeder im Lager sein. Die Tat, die hineinführt, begeht jeder in Gedanken jeden Tag. Im Faschismus träumen alle den Führermord und marschieren in Reih und Glied. Sie folgen aus nüchterner Berechnung: nach dem Führer käme doch nur der Stellvertreter. (...) Die Millionen von unten erfahren von Kindheit an, daß die Phasen des Kapitalismus zu demselben System gehören. Hunger, Polizeikontrolle, Soldatsein gibt es auf liberal und autoritär. Beim Faschismus sind die Massen vornehmlich daran interessiert, daß es nicht der Fremde schafft, denn die abhängige Nation hat die verstärkte Ausbeutung zu dulden.»418 «Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der soll vom Faschis­ mus schweigen.» Dies war bereits eines der Leitmotive der Argu­ mentation Horkheimers in seinem Essay Die Juden und Europa (1939). Sein schon erwähnter «Luxemburgismus» spiegelt sich auch in dem drei Jahre später verfassten Essay über den Autoritären 416 417 418

A. a. O., S. 300. A. a. O., S. 302. A. a. O., S. 303.

164 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XI. Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942)

Staat wider, insbesondere in jenen Passagen, wo explizit von der notwendigen gesellschaftlichen «Umwälzung» und von der «revolu­ tionären Diktatur (des Proletariats) als Übergang» die Rede ist. Ähnlich wie die Autorin der Broschüre über die Russische Revolu­ tion (1918)419 wittert Horkheimer hier die Gefahr, dass im Zuge einer solchen «revolutionären Übergangs-Diktatur» eine «Elite aufs Neue die Produktionsmittel monopolisieren» könnte, was «im Begriff der revolutionären Diktatur als Übergang» keineswegs beschlossen war. «Solcher Gefahr», unterstreicht Horkheimer, «kann die Energie und Wachsamkeit der Menschen selbst begegnen. Die Umwälzung, die der Herrschaft ein Ende macht, reicht so weit wie der Wille der Befreiten. Jede Resignation ist schon ein Rückfall in die Vor­ geschichte. Nach der Auflösung der alten Machtpositionen wird die Gesellschaft entweder ihre Angelegenheiten auf Grund freier Übereinkunft verwalten, oder die Ausbeutung geht weiter. Daß sich Reaktionen ereignen, daß der Ansatz zur Freiheit immer wieder vernichtet wird, ist theoretisch nicht auszuschließen, so lange es eine feindliche Umwelt gibt. (...) Die Modalitäten der neuen Gesell­ schaft finden sich erst im Lauf der Veränderung. Die theoretische Konzeption, die nach ihren Vorkämpfern der neuen Gesellschaft den Weg weisen soll, das Rätesystem, stammt aus der Praxis. Es geht auf 1871, 1905 und andere Ereignisse zurück. Die Umwälzung hat eine Tradition, auf deren Fortsetzung die Theorie verwiesen ist. »420 Horkheimer ist der felsenfesten Überzeugung, dass «nur durch Versuche, wirkliche Freiheit herzustellen», die Ära des autoritären Staats unterbrochen werden kann. Er vertraut dabei, ebenso wie Rosa Luxemburg, nicht etwa der Parteibürokratie, sondern einzig der Spontaneität und Widerstandskraft der «Vereinzelten»: «Vereinzelt sind alle. Die verdrossene Sehnsucht der atomisierten Massen und der bewußte Wille der Illegalen weist in dieselbe Richtung. Genauso weit wie ihre Unbeirrbarkeit ging auch in früheren Revolutionen der kol­ lektive Widerstand, der Rest war Gefolgschaft.» Wie Horkheimer, der sich mit diesen Ausführungen in großer Nähe zu Rosa Luxemburgs Theorie von der «Massenspontaneität» bewegt, unterstreicht, «führt eine Linie von den linken Gegnern des Etatismus Robespierres zum Komplott der Gleichen [Babeuf] unter dem Directoire. Solange die 419 Cf. Rosa Luxemburg, Die russische Revolution, in: R. L., Politische Schriften, Band III, Frankfurt, Europäische Verlagsanstalt, 1968, S. 106 ff. 420 A. a. O., S. 303–304.

165 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XI. Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942)

Partei noch eine Gruppe, ihren antiautoritären Zielen noch nicht entfremdet ist, solange die Solidarität nicht durch Gehorsam ersetzt wird, solange sie die Diktatur des Proletariats noch nicht mit der Herrschaft der gerissensten Parteitaktiker verwechselt, wird ihre Generallinie von eben den Abweichungen bestimmt, von denen sie als herrschende Clique sich freilich rasch zu säubern weiß. Solange die Avantgarde ohne periodische Säuberungsaktionen zu handeln vermag, lebt mit ihr die Hoffnung auf den klassenlosen Zustand.»421 Ohne sie direkt zu zitieren, plädiert Horkheimer mit diesen Aussagen also klar für die von den Libertären und den Verteidigern eines libertä­ ren Rätekommunismus und Luxemburgismus formulierte Kritik am bürokratischen Zentralismus des Marxismus-Leninismus, an dessen Avantgarde-Theorie und an dessen fragwürdiger Gleichsetzung der Parteibürokratie mit der «demokratischen Diktatur des Proletariats», die in der Sowjetunion geradlinig in den «totalen Etatismus» des Stalinismus gemündet war. Wie Martin Jay in diesem Zusammen­ hang feststellt, ergreift somit Horkheimer nicht etwa Partei für eine diktatorische «Übergangszeit im Sinne Lenins, sondern für die direkte Ausübung der Macht durch das Volk in allen Führungsinstanzen der Gesellschaft.»422 Und wo bei ihm vom «Rätesystem» die Rede ist, steht auch sehr zu vermuten, dass er hier auch an die Consigli di Fabbrica (Fabrikräte) in Turin gedacht hat, die Antonio Gramsci schon 1919/1920 als die wahre und beste Alternative zum bestehenden kapitalistischen System gefeiert hatte. Horkheimer zögert diesbezüg­ lich auch nicht, Engels zu zitieren und zu kritisieren, dem diesbezüg­ lich zum Vorwurf gemacht wird, ein «Utopist» zu sein, der in seinem Anti-Dühring «die Vergesellschaftung und das Ende der Herrschaft in eins gesetzt»423 habe. Wie Horkheimer in seiner Kritik hervorhebt, hat Engels «nicht daran geglaubt, daß die unbegrenzte Steigerung der materiellen Produktion die Voraussetzung einer menschlichen Gesellschaft und die klassenlose Demokratie erst dann erreichbar sei, wenn die ganze Erde vollends mit Radios und Traktoren bevölkert ist. Die Praxis hat die Theorie zwar nicht widerlegt, aber interpre­ tiert. Eingeschlafen sind die Feinde der Staatsgewalt, nur nicht von selbst. Mit jedem Stück erfüllter Planung sollte ursprünglich ein A. a. O., S. 312. Cf. Martin Jay, Dialektische Phantasie (Zur Geschichte der Kritischen Theorie der «Frankfurter Schule»), Frankfurt, 1973, S. 186. 423 Ebd. 421

422

166 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XI. Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942)

Stück Repression überflüssig werden. Statt dessen hat sich in der Kontrolle der Pläne immer mehr Repression auskristallisiert. Ob die Produktionssteigerung den Sozialismus verwirklicht oder liqui­ diert, kann nicht abstrakt entschieden werden.»424 Was die Kritik am System der Planwirtschaft betrifft, so steht außer Frage, dass in diesem Punkt Horkheimer auch stark von seinem Freund und Kollegen Friedrich Pollock425 beeinflusst wurde, der als Erster aus dem Frankfurter Forschungsteam systematisch und gründlich das System der «sozialistischen Planwirtschaft» in der Sowjetunion unter und nach Lenin in all seinen Aspekten studiert und analysiert hat. Diesbezüglich spart Horkheimer auch nicht mit Kritik an dem in der Stalin-Ära systematisch betriebenen Personenkult, an der dazu gehörenden «Hingabe an marschierende Massen», an der «beselig­ ten Einordnung in die Kollektivität» sowie am Opportunismus der Parteifunktionäre, deren Ziel nur noch der persönliche Aufstieg, die persönliche Karriere in der Parteihierarchie war. Horkheimer: «Es gibt nicht bloß Professoren, sondern auch Revolutionäre von Prominenz. Der publizistische Betrieb assimiliert die Revolution, indem er ihre Spitzen in die Liste der großen Namen aufnimmt. Der Vereinzelte aber, der von keiner Macht berufen und gedeckt ist, hat auch keinen Ruhm zu erwarten. Dennoch aber ist er eine Macht, weil alle verein­ zelt sind. Sie haben keine andere Waffe als das Wort.»426 Der Widerstand gegen den totalitären autoritären Staat, zu dem Horkheimer hier aufruft, erfolgt folglich nicht im Namen einer Parteioder Widerstandsorganisation – Horkheimers Position ist abso­ lut «unterparteilich» –, sondern im Namen jener vereinzelten atomi­ sierten Individuen und vor allem in Namen jener ab 1933 in die verschiedensten Länder und Kontinente geflohenen und verstreuten kritischen, antifaschistischen Intellektuellen, die nach dem Ende des 2. Weltkriegs und nach der Niederlage des Faschismus im Jahre 1945 nicht alle nach Europa zurückgekehrt sind. Ihr Widerstand bestand vor allem, wie Horkheimer unterstreicht, im Gebrauch der «Waffe des A. a. O., S. 312–313. Cf. Friedrich Pollock (1894–1970), Gesammelte Schriften Band 2: Schriften zur Planwirtschaft und Krise, hsg. von Johannes Gleixner und Philipp Lenhard, ça-IraVerlag, Freiburg/Wien, 2021; ders.: «Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sow­ jetunion 1917–1927, Hirschfeld-Verlag, Leipzig 1929; ders.: «Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung», in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1. Jg. (1932), Heft 1, S. 8–28. 426 A. a. O., S. 313. 424 425

167 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XI. Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942)

Wortes». Zu ihnen zählten u. a. Thomas und Heinrich Mann, Stefan Zweig, Erich Kästner, Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Hanns Eisler, Bertolt Brecht und Ernst Bloch. Wie Hork­ heimer am Ende seines Essays hervorhebt, steht die von ihm und Adorno konzipierte Kritische Theorie der Gesellschaft nicht in den Diensten einer politischen Partei, sie «hat kein Programm für die nächste Wahlkampagne, ja noch nicht einmal für den Wiederaufbau Europas, den die Fachmänner schon besorgen werden. Der Bereit­ schaft zum Gehorsam, die sich auch an das Denken heranmacht, ver­ mag sie nicht zu dienen. Bei aller Eindringlichkeit, mit der sie den Gang des gesellscchaftlichen Ganzen bis zu den feinsten Differenzen zu verfolgen sucht, kann sie den Einzelnen die Form ihrer Resistenz gegen das Unrecht nicht vorschreiben. Denken selbst ist schon ein Zei­ chen der Resistenz, die Anstrengung, sich nicht mehr betrügen zu las­ sen. Denken steht nicht gegen Befehl und Gehorsam schlechthin, sondern setzt sie jeweils zur Verwirklichung der Freiheit in Bezie­ hung.» Diese Beziehung ist jedoch beschädigt, «die Intention auf Frei­ heit ist beschädigt, ohne die weder Erkenntnis noch Solidarität noch ein richtiges Verhältnis zwischen Gruppe und Führer denkbar ist.»427 Manch einem mag dieser demonstrative Rückzug Horkheimers auf die primär und a priori emanzipatorische Funktion des kritischen Denkens des Subjekts, des Individuums problematisch, wenn nicht sogar zu «individualistisch» erscheinen, dennoch ist diese Positionie­ rung in gewisser Weise typisch und antizipatorisch für die anstehende theoretische Wende der Kritischen Theorie im Zeitraum von 1950 bis 1965, zu der Horkheimer wie auch Adorno schon Ende der vierziger Jahre die entscheidenden Impulse gegeben und ausgelöst hatten. Wie für Albert Camus428 (Der Mensch in der Revolte), ist für Horkheimer der Widerstand nun primär die adäquate non-konfor­ mistische Aktions- und Widerstandsform des Subjekts, des Individu­ ums und nicht – wie in Sartres «Existential-Marxismus»429 – primär ein Akt der «kollektiven Auflehnung» gegen das bestehende System der Unterdrückung im Zusammenhang mit einer Fusion der diversen A. a. O., S. 318–319. Cf. Albert Camus, L’homme révolté, Gallimard, Paris, 1951. 429 Cf. Jean-Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1964; cf. Arno Münster, Sartre et la praxis. (Ontologie de la liberté et praxis dans la pensée de Jean-Paul Sartre), L’Harmattan, Paris, 2005; Neuauflage, ed. Delga, Paris, 2017. 427

428

168 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XI. Anmerkungen zu Horkheimers Schrift «Autoritärer Staat» (1942)

Formen des individuellen Widerstands mit denjenigen einer «kollek­ tiven» Revolte. ***

169 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XII. Schlussbemerkung

Mit der Niederschrift dieses Essays über Max Horkheimer und dessen materialistischer Sozialphilosophie in der Periode von 1926 bis 1945 verfolgte der Autor von Anfang an die Absicht, vornehmlich Horkheimers philosophisch-soziologisch-psychologisches Frühwerk zu rekonstruieren, das eindeutig von einem «heterodoxen» Marxis­ mus geprägt ist, dessen Erkenntnisinteresse hauptsächlich darauf gerichtet war, Marx’ Kritik der politischen Ökonomie durch die Erfor­ schung und Bestimmung der sozialen und sozialpsychologischen Determinanten des modernen Massenbewusstseins zu ergänzen und zu berichtigen, was nur durch die Zuhilfenahme empirischer Enquêten zum realen Bewusstseinsstand des Industrieproletariats und der Mittelschichten im Kontext und Prozess der Transformation des Konkurrenz-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zum Staatskapita­ lismus der Monopole im Laufe des 20. Jahrhunderts möglich war. Dies wiederum bedeutete, dass die philosophischen Hauptwerke der letzten Periode (1946–1969) des Begründers der Frankfurter Schule Dialektik der Aufklärung (verfasst in Zusammenarbeit mit Adorno) und Notizen (1949–1969) nicht im Mittelpunkt dieser Studie stehen konnten. Dass gerade in dieser letzten Phase mit ihrer Fokussierung auf die allseitige Gefahr eines neuen Totalitarismus und der fort­ schreitenden Distanzierung zu Marx und den Thesen der radikalen Linken auch der Einfluss Schopenhauers auf Horkheimer immer größer geworden war, dieses unbestrittene Faktum wurde bereits an anderer Stelle430 erwähnt. Es bedürfte wohl noch der zusätzlichen Ergänzung, dass im gleichen Zeitraum auch der Einfluss der Lektüre von Nietzsche (natürlich immer noch mit gewissen Vorbehalten) auf die Frankfurter Denker immer größer geworden war. Die in diesem Band vereinigten Analysen waren vor allem von der Zielvorstellung geleitet, die Orginalität von Horkhei­ Cf. Arno Münster, Max Horkheimer entre Marx, Freud und Schopenhauer. (Essai sur la philosophie sociale du fondateur de l’Ecole de Francfort), Editions Le Retrait, Orange, 2021. 430

171 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XII. Schlussbemerkung

mers «heterodoxem» Marxismus in der Vielzahl seiner einzelnen Facetten, vor allem in der Vereinigung einer neu formulierten Kritik der politischen Ökonomie mit der Sozialpsychologie und der Psycho­ analyse sowie bei der Begründung eines a priori anti-autoritären und anti-totalitären Denkens aufzuzeigen, das auch den Wesenskern von Horkheimers Faschismus-Analyse und des antifaschistischen Enga­ gements des Forscherteams der Frankfurter Schule im US-amerikani­ schen Exil (1933–1949) ausmacht. Gerade von dieser Tendenz, von diesem großen Leitmotiv der um Horkheimer und Adorno an der Columbia-Universität in New York versammelten überwiegend jüdi­ schen Forscher und Dozenten sind in der Tat in der Nachkriegsära ganz erhebliche wichtige Impulse ausgegangen, die vor allem die antiautoritäre Studentenbewegung in Deutschland in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ganz erheblich beeinflusst haben und ohne die eine so große Mobilisierung der akademischen Jugend zur Zeit des Vietnam-Kriegs und der Revolte gegen die «Ordi­ narien-Universität» nicht möglich gewesen wäre. Es war vor allem diese Radikalkritik der autoritären Strukturen der patriarchalischen Familie, der Schule, des Fabriksystems und des hierarchischen Auf­ baus der bürgerlichen Gesellschaft allgemein, es war diese Radikalkri­ tik von Unten des Autoritarismus in allen seinen Ausdrucksformen, die Horkheimer im Nachkriegsdeutschland unter Adenauer so schnell in der bundesrepublikanischen Oppositionsbewegung berühmt machten, so sehr, dass er unbestritten (mit einigen kleineren Vorbe­ halten) auch als der «Vater» der anti-autoritären Bewegung angese­ hen werden könnte und deshalb wohl auch als solcher bereits in die Annalen der zeitgenössischen philosophischen Emanzipationsbewe­ gungen eingegangen ist. Auch wenn Horkheimer in den sechziger Jahren, als diese anti-autoritäre Bewegung ihren Höhepunkt erreicht hatte, an dem einen oder anderen Aspekt dieser Revolte – vor allem natürlich auch an einigen «Exzessen» und zu dogmatischen oder «sur­ realistischen» Abweichungen im Kontext der «Institutsbesetzung» in Frankfurt 1968 – Kritik431 geübt hat, so betraf diese Kritik niemals dieses anti-autoritäre Engagement der Studentenbewegung an sich, sondern lediglich die Exzesse einer dogmatischen – leninistischen und maoistischen – Minderheit derselben, die Horkheimer und Adorno a 431 Cf. Max Horkheimer, Notizen (1949–1969), Gesammelte Schriften, Band VII, Frankfurt, S. Fischer Verlag,1974, Aphorismus «Gegen den Linksextremismus», a. a. O., S. 256.

172 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XII. Schlussbemerkung

priori unter den «Totalitarismus»-Verdacht gestellt hatten. In diesem Konflikt stand Horkheimer jedoch – im Gegensatz zu Adorno und Habermas, deren Vorlesungen gestört wurden – nicht mehr in «vor­ derster Linie», weil er bereits 1959 emeretiert war und folglich diese dramatischen «Ereignisse» an der Frankfurter Universität 1969 nur noch aus der Ferne, d. h. von seinem Ruhestandswohnsitz aus in Montagnola bei Lugano (im Schweizer Kanton Tessin) verfolgen konnte. Seine Freundschaft zu Adorno war jedoch so groß und so unerschütterlich, dass er sich in diesen bedauerlichen Auseinander­ setzungen mit der radikalen Linken spontan mit Adorno solidari­ sierte. Als überzeugter Antifaschist und Demokrat registrierte Hork­ heimer jedoch vor allem mit Erschrecken und Entsetzen das Wiederaufleben neo-nazistischer und rassistischer Ideen in der Bun­ desrepublik Deutschland in den 50er bis 60er Jahren, d. h. jenes Erstarken der reaktionären Kräfte im Zuge eines Restaurationspro­ zesses der westdeutschen Gesellschaft, den er – wie auch Adorno – von Anfang an sehr kritisch beurteilte und verdammte. Zuguterletzt wollen wir mit dieser Studie zum 50. Jahrestag des Todes von Max Horkheimer nachträglich auch noch dem großen jüdi­ schen Philosophen und Theoretiker unseren Dank aussprechen, des­ sen kritische soziologische Diagnosen und Warnungen in der Öffent­ lichkeit der Bundesrepublik Deutschland und Europas nicht ungehört verhallt sind und der mit seiner kritischen emanzipationsorientierten Sozialphilosophie mehrere Generationen von Studenten – so auch die unsere – nachhaltig beeinflusst hat. Paradigmatisch dafür steht u. a. der Satz aus seinem Essay Autoritärer Staat (1942), der in gewisser Weise zur Devise, zum Leitmotiv bzw. einem der wichtigsten Leit­ motive der Kritischen Theorie geworden ist: «Denken selbst ist schon ein Zeichen der Resistenz, die Anstrengung, sich nicht mehr betrügen zu lassen. Denken steht nicht gegen Befehl und Gehorsam schlechthin, sondern setzt sie jeweils zur Verwirklichung der Freiheit in Beziehung.»432 Diese klaren Worte von Horkheimer aus dem Jahre 1942 haben auch heute noch nichts von ihrer Aktualität verloren. Zwar wurde 1945 der Nationalsozialismus und der Faschis­ mus besiegt, nicht jedoch der Totalitarismus und auch nicht der Anti­ semitismus, was u. a. durch die zahlreichen Terroranschläge auf Syn­ agogen und jüdische Einrichtungen (Schulen) in Frankreich und auch Max Horkheimer, «Autoritärer Staat», Gesammelte Schriften Band 5, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1987, S. 318.

432

173 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XII. Schlussbemerkung

in Deutschland (Halle!) sowie die Schändung jüdischer Friedhöfe in den letzten Jahren belegt ist. Zwei der größten Länder der Erde und viele andere werden nach wie vor von bürokratisch-totalitären Regi­ men regiert, die die Menschenrechte mit Füßen treten und keinerlei freie Meinungsäußerung und Opposition dulden. Und diese Regime verfügen über ein großes Arsenal von Nuklearwaffen, die die Existenz der gesamten Menschheit bedrohen. Neben der gebotenen Wach­ samkeit zur Verhinderung einer Wiederholung des «Unsäglichen», das Horkheimer und Adorno in ihren soziologisch-philosophischen Schriften der deutschen Nachkriegszeit immer wieder beklagen, ist das kritische Denken eine der wichtigsten Waffen neben der Förde­ rung der Erinnerungskultur an die NS-Verbrechen, der u. a. Beate und Serge Klarsfeld ihr ganzes Leben gewidmet haben; es ist – und dafür war Horkheimer unbestritten einer seiner größten intellektuellen Repräsentanten – ein Bollwerk gegen alle Formen der gefährli­ chen «Verblendung» durch Nationalismus, Rassismus, Antisemitis­ mus, Intoleranz und reaktionäre Ideologien, die mit ihren Lügen und Manipulationen die Individuen ihrer schöpferischen Subjektivität und ihrer Widerstandskraft berauben wollen. Dies radikal und kon­ sequent in allen Schriften seines großen theoretischen Werks «contre vents et marées» immer wieder gesagt und wiederholt zu haben, ist unbestritten das große Verdienst Max Horkheimers. Seine Devise war, wie er in dem schönen Gespräch mit Gerhard Rein unterstrichen hat: «Das Schlimme erwarten und doch das Gute versuchen.»433 Arno Münster

433

Nizza, im Dezember 2022

Cf. Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 7, Frankfurt a. M. 1985, S. 467.

174 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XIII. Bibliografische Hinweise

Die in diesem Essay zitierten Texte von Max Horkheimer wurden sämtlich nach der im Fischer Taschenbuch-Verlag erschienenen Aus­ gabe seiner Gesammelten Schriften in 19 Bänden (herausgegeben von Alfred Schmid und Gunzelin Schmid-Noerr), Frankfurt a.M, 1985 ff. zitiert.

Bibliographie zur Kritischen Theorie der Gesellschaft und zur Frankfur­ ter Schule Theodor W. Adorno, Bruno Bettelheim, Else Frenkel-Brunswick, Norbert Guter­ man, Morris Janowitz, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford, Der autoritäre Charakter, Bd. 1: Studien über Autorität und Vorurteil, mit einem Vorwort von Max Horkheimer, Verlag De Munter Amsterdam, 1968. Theodor W. Adorno, «Erziehung nach Auschwitz», in: Stichworte. Kritische Modelle 2, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1969, S. 85–101. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940–1950, Gesammelte Schriften, Band 5, Fischer Taschenbuch Verlag, Frank­ furt 1987. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Suhrkamp, Frankfurt, 1973. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd.7, Suhr­ kamp, Frankfurt,1970. Theodor W. Adorno, «Antisemitism and Fascist Propaganda», in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Suhrkamp, Frankfurt 1972. Paul-Laurent Assoun, L’Ecole de Francfort, PUF, Paris, 2013. Paul-Laurent Assoun, «Le moment psychanalytique de la Théorie critique,in: Théorie de la crise, in: «Illusio» n°14/15, Le Bord de l’eau, 2016, S. 322 ff. Barbara Brick, Moishe Postone, «Kritischer Pessimismus und die Grenzen des traditionellen Marxismus», in: Sozialforschung als Kritik, hrsg. von Wolfgang Bonss und Axel Honneth, Frankfurt a. M., 1982. Ernst Bloch, «Briefe von und an Max Horkheimer und Herbert Marcuse», in: K. Bloch et alii, Briefe (1903–1975), Bd. 2, Suhrkamp 1985, S. 669–687. Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, GA Bd. 7, Suhrkamp, Frankfurt, 1972.

175 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XIII. Bibliografische Hinweise

Wolfgang Bonss, «Psychoanalyse als Wissenschaft und Kritik. Zur Freudrezep­ tion der Frankfurter Schule», in: Sozialforschung als Kritik, hrsg. von W. Bonss und Axel Honneth, Frankfurt a. M., 1982. A. Demirovic, Der non-konformistische Intellektuelle, 1999. William Mac Dougall, Grundlagen einer Sozialpsychologie, Jena, 1928. Helmut Dubiel und Alfons Söllner (Hrsg.), Wirtschaft, Recht und Staat im Natio­ nalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939–1942 von Max Horkheimer, Friedrich Pollock, Franz L. Neumann, A.R.L. Gurland, Otto Kirch­ heimer und Herbert Marcuse, Frankfurt a. M., 1984. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Wien, 1929. Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesell­ schaft, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 1976. Erich Fromm, «Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsycholo­ gie», in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 1, Leipzig, 1932, S. 50 ff. Erich Fromm, «Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie», in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1, 1932, S. 253 ff. Jürgen Habermas, «Bemerkungen zur Entwicklung des Horkheimerschen Wer­ kes», in: Max Horkheimer heute. Werk und Wirkung, hsg. von Alfred Schmidt und Norbert Altwicker, Frankfurt a. M., 1986. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Suhrkamp, Frankfurt, 1973. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Suhrkamp, Frankfurt, 1982. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Suhrkamp, Berlin, 2019. Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschafts­ theorie, Suhrkamp, Frankfurt, 1985. A. Honneth / W. Bonss (Hrsg.), Sozialforschung als Kritik. Das sozialwissen­ schaftliche Potenzial der Kritischen Theorie, Frankfurt a. M., 1982. A. Honneth (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und die Folgen, Frankfurt, 1986. Axel Honneth (Hrsg.), Schlüsseltexte der Kritischen Theorie, Frankfurt, 2006. Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, 1930. Max Horkheimer, Materialismus und Moral, Zschr. f. Sozialforschung, Heft 2, 1933. Max Horkheimer (Pseud. Heinrich Regius), Dämmerung, Zürich, 1934. Max Horkheimer, Zum Problem der Wahrheit, Zschr. f. Sozialforschung Heft 3, 1935. Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, Zschr. f. Sozialforschung H.2, 1936. Max Horkheimer, Studien über Autorität und Familie, a. a. O., 1936. Max Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie, a. a. O., H. 2, 1937. Max Horkheimer, Die Juden und Europa, a. a. O., H. 2, 1939. Max Horkheimer (et alii), Notes on Institute Activities. Research Project on AntiSemitism, a.a.O. H.1, 1941, S. 121–143. Max Horkheimer, Autoritärer Staat (1942), in: Gesammelte Schriften, Band 5, «Dialektik der Aufklärung» und Schriften 1940–1950, S. Fischer Taschen­ buch-Verlag, Frankfurt a. M.,1987, S. 293–319.

176 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XIII. Bibliografische Hinweise

Max Horkheimer (mit Th. W. Adorno), Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam,1947. Max Horkheimer, Eclipse of Reason, New York, 1947. Max Horkheimer, Zum Begriff der Vernunft, in: Frankfurter Universitätsreden, H. 7, 1952. Max Horkheimer, Schopenhauer und die Gesellschaft, in: Schopenhauer-Jahr­ buch, 1955. Max Horkheimer, Die Aktualität Schopenhauers, in: Schopenhauer-Jahr­ buch 1961. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt, 1967. Max Horkheimer, Kritische Theorie, 2 Bde., hrsg. von A. Schmidt, Frankfurt 1968. Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, Frankfurt,1970. Max Horkheimer, Verwaltete Welt, Frankfurt, 1970. Max Horkheimer, Die Zeitgemässheit der Philosophie Schopenhauers, in: «Neue Zürcher Zeitung» vom 21. März 1971. Max Horkheimer, «Was wir ‹Sinn› nennen, wird verschwinden». SPIEGELInterview vom 5. Januar 1970. Max Horkheimer, «Das Schlimme erwarten und doch das Gute versuchen», in: G. Rein, Dienstagsgesspräche mit Zeitgenossen, 1976. Martin Jay, Dialektische Phantasie, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1976. W. Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 1998. Löwy, Michael, Max Horkheimer, «marxiste hétérodoxe» in: L’Humanité, Paris, 15. September 2021 (Besprechung des Buches von Arno Münster «Max Hork­ heimer entre Marx, Freud et Schopenhauer. (Essai sur la philosophie sociale du fondateur de l’Ecole de Francfort), ed. Le Retrait, Orange, 2021.) Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewusstsein (1923), Luchterhand, Neu­ wied/Berlin, 1968. Rosa Luxemburg, «Die Russische Revolution», in: Politische Schriften III, hrsg. von Ossip K. Flechtheim, Europäische Verlagsanstalt Frankfurt/Europa Verlag Wien, 1968, S. 106 ff. Karl Mannheim, Wissenssoziologie, Luchterhand, Neuwied/Berlin, 1964. Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud (1955), Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1965. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch (The One-Dimensional Man) (1964) (Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft), ins Deutsche übersetzt von Alfred Schmidt, Luchterhand, Neuwied 1967. Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Suhrkamp, Frankfurt a. M.,1968. Herbert Marcuse, Kultur und Gesellschaft, 2, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1965, 2. Aufl. 1979. Karl Marx, Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 23–25, Dietz-Verlag, Berlin, 1968. Arno Münster, Sartre et la praxis.(Ontologie de la liberté de praxis dans la pensée de Jean-Paul Sartre), L’Harmattan, Paris, 2005, Neuaufl. Ed. Delga, Paris, 2017. Arno Münster, Adorno – une introduction. «Il n’y a pas de vraie vie dans la vie fausse», Hermann, Paris, 2009.

177 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XIII. Bibliografische Hinweise

Arno Münster, Habermas, L’Européen cosmopolite et historien de la pensée postmétaphysique, L’Harmattan, coll. «Ouverture philosophique: Bibliothèque», Paris, 2021. Arno Münster, Max Horkheimer entre Marx, Freud et Schopenhauer. Essai sur la philosophie sociale du fondateur de Ecole de Francfort. «Penser et déjà en soi un acte de résistance», ed. Le Retrait, Orange, 2021. Arno Münster, Herbert Marcuse et le «Grand refus». (Vers une société non-répres­ sive?), L’Harmattan, Paris, 2022. Pollock, Friedrich, Stadien des Kapitalismus, hrsg. von H. Dubiel, München, 1975. Alfred Schmidt, Zur Idee der kritischen Theorie. Elemente der Philosophie Max Horkheimers, München 1974. Rolf Wiggershaus, L’Ecole de Francfort, PUF, Paris, 1993. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, Frankfurt, 1986, 2010. Rolf Wiggershaus, Max Horkheimer, Frankfurt, 2013. Rolf Wiggershaus, «Max Horkheimer, Philosoph und Soziologe», in: BadenWürttembergische Biographien, Bd. VI, hrsg. von Fred Ludwig Sepaintner, W. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2016.

***

178 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XIV. Über den Autor

Arno Münster, geb. 1942 in Strehlen (Schlesien), lehrte nach einer zweijährigen Gastprofessur für Philosophie in Rio de Janeiro von 1993 bis 2010 als Professor für zeitgenössische Philosophie und Sozi­ alphilosophie an der Universität von Amiens (Frankreich). Er lebt – im Ruhestand – seit 2012 in Nizza. Schwerpunkte seiner Forschung und Lehre sind neben dem Werk von Friedrich Nietzsche die «Kriti­ sche Theorie der Gesellschaft» der Frankfurter Schule, die existentia­ listische Philosophie von Jean-Paul Sartre und die Philosophe der «konkreten Utopie» von Ernst Bloch. Seine Biographie von Ernst Bloch Ernst Bloch – eine politische Biographie (Philo-Verlag Berlin/ E.V.A. Hamburg, 2004) wurde in mehrere Fremdsprachen übersetzt. Weitere fünf Publikationen des Autors (auf Französisch) sind den großen Repräsentanten der Frankfurter Schule gewidmet, d. h. Theo­ dor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas. Die vorliegende Studie, die den «heterodoxen Marxis­ mus» Horkheimers im Kontext der Entstehung der «Kritischen Theo­ rie der Gesellschaft» zum Gegenstand hat, ergänzt seinen 2021 in Frankreich erschienenen ersten Essay über «Max Horkheimer zwi­ schen Marx, Freud und Schopenhauer». Sie analysiert vor allem Hork­ heimers Frühschriften Aus der Pubertät, Novellen und Tagebuchblätter (1914–1918), seinen Essay Dämmerung (1934), Horkheimers im Exil in den USA ausgearbeitetes Antisemitismus-Forschungsprojekt (1940/41) sowie Horkheimers Studie über den Autoritären Staat (1942). ***

179 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

https://doi.org/10.5771/9783495996836 .

XV. Publikationsliste des Autors (Auswahl)

Paris brennt. Die Mai-Revolution 1968 in Frankreich, H. Heine-Verlag, Frank­ furt, 1968. Das Thema der Revolte im Werk von Jules Vallès, W. Fink-Verlag, Mün­ chen/Paderborn, 1971. (Hrsg.) Louis-Auguste Blanqui, Schriften zur Revolution, Nationalökonomie und Sozialkritik, Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1971. Chile – friedlicher Weg? Historische Bedingungen, «Revolution in der Legali­ tät»,Niederlage, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 1974. Der Kampf bei LIP. (Arbeiterselbstverwaltung in Frankreich), Rotbuch-Ver­ lag, Berlin,1974. (Hrsg.) Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews mit Ernst Bloch, Suhr­ kamp, Frankfurt, 1977. Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von Ernst Bloch, stw 372, Suhrkamp, Frankfurt, 1982. Pariser Philosophisches Journal (Von Sartre bis Derrida), Athenäum, Frank­ furt, 1987. Ernst Bloch – eine politische Biographie, Philo-Verlag & Philo Fine Arts, BerlinWien/Europäische Verlagsanstalt Hamburg, 2004 (übers. ins Französische und ins Italienische). André Gorz oder der schwierige Sozialismus. Eine Einführung in Leben und Werk, Rotpunkt-Verlag, Zürich, 2011. Utopie-Emanzipation-Praxis.(Habermas, Proudhon, Sartre, Stirner), Karin Kra­ mer-Verlag, Berlin, 2013. Angst vor Deutschland? Ursachen und Hintergründe der neuen Germanophobie. Welche Zukunft für Europa? (Mit dem Essay «Was will Macron?»), Königshau­ sen & Neumann, Würzburg, 2017. (Hrsg.) Ernst Bloch und Spinoza. Erläuterungen zu den Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Talheimer-Verlag, Mössingen-Talheim, 2021.

181 https://doi.org/10.5771/9783495996836 .