Duft der Zeit: Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens [12., unveränderte Auflage 2015] 9783839411575

Die heutige Zeitkrise hängt nicht zuletzt mit der Verabsolutierung der vita activa zusammen. Sie führt zu einem Imperati

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Duft der Zeit: Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens [12., unveränderte Auflage 2015]
 9783839411575

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Byung-Chul Han Duft der Zeit

Byung-Chul Han

Duft der Zeit Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens

X T E X T E

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 transcript Verlag, Bielefeld (9., unveränderte Auflage 2014) Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Kirsten Hellmich, Bielefeld Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8376-1157-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort | 7 Un-Zeit | 9 Zeit ohne Duft | 19 Geschwindigkeit der Geschichte | 27 Vom Zeitalter des Marsches zum Zeitalter des Schwirrens | 35 Paradoxie der Gegenwart | 41 Duftendes Zeitkristall | 47 Zeit des Engels | 53 Duftende Uhr: Ein kurzer Exkurs ins alte China | 59 Reigen der Welt | 65 Der Geruch des Eichenholzes | 73 Die tiefe Langeweile | 81 Vita contemplativa | 87

VORWORT

Die Zeitkrise von heute heißt nicht Beschleunigung. Das Zeitalter der Beschleunigung ist bereits vorbei. Was wir derzeit als Beschleunigung empfinden, ist nur eines der Symptome der temporalen Zerstreuung. Die heutige Zeitkrise geht auf eine Dyschronie zurück, die zu unterschiedlichen temporalen Störungen und Mißempfindungen führt. Der Zeit fehlt ein ordnender Rhythmus. Dadurch gerät sie außer Takt. Die Dyschronie läßt die Zeit gleichsam schwirren. Das Gefühl, das Leben beschleunige sich, ist in Wirklichkeit eine Empfindung der Zeit, die richtungslos schwirrt. Die Dyschronie ist nicht das Resultat forcierter Beschleunigung. Verantwortlich für die Dyschronie ist vor allem die Atomisierung der Zeit. Auf diese geht auch das Gefühl zurück, die Zeit vergehe viel rascher als früher. Aufgrund der temporalen Zerstreuung ist keine Erfahrung der Dauer möglich. Nichts verhält die Zeit. Das Leben wird nicht mehr eingebettet in die Ordnungsgebilde oder Koordinaten, die eine Dauer stiften. Flüchtig und ephemer sind auch Dinge, mit denen man sich identifiziert. So wird man selbst radikal vergänglich. Die Atomisierung des Lebens geht mit einer atomistischen Identität einher. Man hat nur sich selbst, das kleine Ich. Man nimmt gleichsam radikal ab an Raum und Zeit, ja an Welt, an Mitsein. Die Weltarmut ist eine dyschronische Erscheinung. Sie läßt den Menschen auf seinen kleinen Körper zusammenschrumpfen, den er mit allen Mitteln gesund zu erhalten sucht. Sonst hat man ja gar nichts. Die Gesundheit seines fragilen Körpers ersetzt Welt und Gott. Nichts überdauert den Tod. So fällt es heute einem besonders schwer, zu sterben. Und man altert, ohne alt zu werden. Das vorliegende Buch spürt historisch und systematisch den Ursa-

8 | Duft der Zeit chen und Symptomen der Dyschronie nach. Es wird aber auch über die Möglichkeiten einer Genesung nachgedacht. Dabei werden zwar Heterochronien oder Uchronien aufgesucht, aber auf die Auffindung und Rehabilitierung dieser außergewöhnlichen, außeralltäglichen Orte der Dauer beschränkt sich die vorliegende Studie nicht. Vielmehr wird vermittels einer historischen Rückschau prospektiv auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, daß das Leben bis in den Alltag hinein eine andere Form anzunehmen hat, damit jene Zeitkrise abgewendet wird. Nachgetrauert wird nicht der Zeit der Erzählung. Das Ende der Erzählung, das Ende der Geschichte muß nicht eine temporale Leere mit sich bringen. Es eröffnet vielmehr die Möglichkeit einer Lebenszeit, die ohne Theologie und Teleologie auskommt, die jedoch einen eigenen Duft besitzt. Sie setzt aber eine Revitalisierung der vita contemplativa voraus. Die heutige Zeitkrise hängt nicht zuletzt mit der Absolutsetzung der vita activa zusammen. Sie führt zu einem Imperativ zur Arbeit, der den Menschen zum animal laborans degradiert. Die Hyperkinese des Alltags nimmt dem menschlichen Leben jedes kontemplative Element, jede Fähigkeit zum Verweilen. Sie führt zum Verlust von Welt und Zeit. Die sogenannten Strategien der Entschleunigung beseitigen diese Zeitkrise nicht. Sie verdecken sogar das eigentliche Problem. Notwendig ist eine Revitalisierung der vita contemplativa. Die Zeitkrise wird erst in dem Moment überwunden sein, in dem die vita activa in ihrer Krisis die vita contemplativa wieder in sich aufnimmt.

U N -Z EIT

… daß in der zaudernden Weile … einiges Haltbare sei. Friedrich Hölderlin

Erstaunlich aktuell ist Nietzsches »letzter Mensch«. Die »Gesundheit«, die sich derzeit zum absoluten Wert, ja zu einer Religion erhebt, »ehrt« schon der letzte Mensch.1 Ein Hedonist ist er zudem noch. So hat er »sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht«. Sinn und Sehnsucht weichen Lust und Vergnügen: »›Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?‹ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.« Das lange, gesunde, aber ereignislose Leben wird ihm schließlich doch unerträglich. So nimmt er Drogen und stirbt zuletzt einen Drogentod: »Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.« Paradoxerweise wird sein Leben, das er kraft einer rigorosen Politik der Gesundheit unendlich zu verlängern sucht, vorzeitig beendet. Er ver-endet zur Unzeit, statt zu sterben. Wer es nicht vermag, zur rechten Zeit zu sterben, muß zur Unzeit verenden. Das Sterben setzt es voraus, daß das Leben eigens abgeschlossen wird. Es ist nämlich eine Schlußform. Wird dem Leben jede Form sinnvoller Geschlossenheit genommen, wird es unzeitig beendet. Es ist schwer, zu sterben in einer Welt, in der Schluß und Abschluß einem end- und richtungslosen Fortlauf, einem permanenten Unfertigsein und Neubeginn gewichen sind, in einer Welt also, in der 1 | Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Kritische Gesamtausgabe, 6. Abteilung, 1. Band, Berlin 1968, S. 14.

10 | Duft der Zeit das Leben sich nicht zu einem Gebilde, zu einer Ganzheit abschließt. So reißt der Lebenslauf zur Unzeit ab. Die Beschleunigung von heute hat ihre Ursache ebenfalls in der allgemeinen Unfähigkeit, zu schließen und abzuschließen. Die Zeit stürzt fort, weil sie nirgends zum Schluß und zum Abschluß kommt, weil sie von keiner temporalen Gravitation gehalten wird. Die Beschleunigung ist also der Ausdruck eines temporalen Dammbruches. Es existieren keine Dämme mehr, die den Fluß der Zeit regeln, artikulieren oder rhythmisieren, die die Zeit halten und verhalten können, indem sie ihr einen Halt geben, einen Halt in seinem schönen doppelten Sinne. Wo die Zeit jeden Rhythmus verliert, wo sie halt- und richtungslos ins Offene verfließt, verschwindet auch jede rechte oder gute Zeit. Gegen das Verenden zur Unzeit beschwört Zarathustra eine ganz andere Todesart: »Viele sterben zu spät, und Einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: ›stirb zur rechten Zeit!‹ Stirb zur rechten Zeit: also lehrt es Zarathustra. Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben?«2 Den Menschen ist der Sinn für die rechte Zeit gänzlich abhanden gekommen. Sie weicht der Unzeit. Auch der Tod kommt zur Unzeit wie ein Dieb: »Aber dem Kämpfenden gleich verhasst wie dem Sieger ist euer grinsender Tod, der heranschleicht wie ein Dieb – und doch als Herr kommt.« Unmöglich ist jede Freiheit zum Tode, die diesen ins Leben eigens einschlösse. Nietzsche schwebt ein »vollbringender Tod« vor, der, statt Verenden zur Unzeit zu sein, das Leben selbst aktiv gestaltet. Gegen jene »Seildreher« des langen Lebens trägt Zarathustra seine Lehre des freien Todes vor: »Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Stachel und ein Gelöbnis wird.« Auch Heideggers »Freisein für den Tod« besagt nichts anderes. Dem Tod wird seine Unzeitigkeit dadurch genommen, daß er als eine gestaltende, vollbringende Kraft in die Gegenwart, ins Leben eingeholt wird.3 Sowohl Nietzsches freier, vollbringender Tod als auch Heideggers Freiheit zum Tode verdanken sich einer temporalen Gravitation, die dafür sorgt, daß das Vergangene und das Zukünftige die Gegenwart umspannen oder um2 | Ebd., S. 89. 3 | Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 384: »Nur das Freisein für den Tod gibt dem Dasein das Ziel schlechthin und stößt die Existenz in ihre Endlichkeit. Die ergriffene Endlichkeit der Existenz reißt aus der endlosen Mannigfaltigkeit der sich anbietenden nächsten Möglichkeiten des Behagens, Leichtnehmens, Sichdrückens zurück und bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals.«

Un-Zeit | 11 schließen. Diese temporale Spannung löst die Gegenwart aus deren end- und richtungslosem Fortlauf und lädt sie mit Bedeutsamkeit auf. Die rechte Zeit oder der rechte Zeitpunkt ergibt sich nur innerhalb eines temporalen Spannungsverhältnisses in einer gerichteten Zeit. In einer atomisierten Zeit dagegen gleichen die Zeitpunkte einander. Nichts zeichnet einen Zeitpunkt vor den anderen aus. Der Zerfall der Zeit zerstreut das Sterben zum Verenden. Der Tod setzt dem Leben als richtungslos fortlaufender Gegenwart ein Ende, und zwar zur Unzeit. Darum fällt es einem heute besonders schwer zu sterben. Sowohl Nietzsche als auch Heidegger wenden sich gegen den Zerfall der Zeit, der den Tod zum Verenden zur Unzeit entzeitlicht: »Wer ein Ziel hat und einen Erben, der will den Tod zur rechten Zeit für Ziel und Erben. Und aus Ehrfurcht vor Ziel und Erben wird er keine dürren Kränze mehr im Heiligtum des Lebens aufhängen. Wahrlich, nicht will ich den Seildrehern gleichen: sie ziehen ihren Faden in die Länge und gehen dabei selber immer rückwärts.« 4 Nietzsche beschwört emphatisch »Erben« und »Ziel«. Offenbar ist er sich nicht der ganzen Tragweite vom Tod Gottes bewußt. Zu dessen Folgeerscheinungen gehört letzten Endes auch das Ende der Geschichte, nämlich das Ende von »Erben« und »Ziel«. Gott wirkt wie ein Zeitstabilisator. Er sorgt für eine dauernde, ewige Gegenwart. So punktualisiert sein Tod die Zeit selbst, nimmt dieser jede theologische, teleologische, geschichtliche Spannkraft. Die Gegenwart schrumpft zu einem flüchtigen Zeit-Punkt. Erben und Ziel sind aus ihr verschwunden. Die Gegenwart führt keinen langen Schweif des Vergangenen und des Zukünftigen mehr mit sich. Nach dem Tod Gottes, angesichts des nahenden Endes der Geschichte, unternimmt Nietzsche den schwierigen Versuch, die temporale Spannung wieder herzustellen. Die Idee der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« ist nicht nur der Ausdruck eines amor fati. Sie ist gerade der Versuch, das Schicksal, ja die Zeit des Schicksals zu rehabilitieren. Heideggers »Man«5 führt Nietzsches »letzten Menschen« fort. Die Attribute, die er dem »Man« zuschreibt, gelten ohne weiteres auch für den letzten Menschen. Nietzsche charakterisiert ihn wie folgt: »Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.« Heideggers »Man« ist auch ein Zeitphänomen. Der Zer4 | Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, a.a.O., S. 89. 5 | Vgl. ebd., S. 126f.: »In der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des Nachrichtenwesens (Zeitung) ist jeder Andere wie der Andere. […] Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir leben, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt.«

12 | Duft der Zeit fall der Zeit geht mit einer zunehmenden Vermassung und Gleichförmigkeit einher. Die eigentliche Existenz, das Individuum im emphatischen Sinne behindert das störungsfreie Funktionieren des »Man«, d.h. der Masse. Die Beschleunigung des Lebensprozesses verhindert, daß abweichende Formen sich herausbilden, daß Dinge sich ausdifferenzieren, daß sie eigenständige Formen entwickeln. Dafür fehlt die Zeit der Reife. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Nietzsches »letzter Mensch« kaum von Heideggers »Man«. Gegen den Zerfall der Zeit zu bloßer Abfolge punktueller Gegenwart beschwört auch Heidegger »Erbschaft« und »Überlieferung«. Alles »Gute« sei »Erbschaft«.6 Die »eigentliche Existenz« setze das »Überliefern eines Erbes« voraus. Sie sei die »Wiederholung«, die die »Möglichkeit der dagewesenen Existenz […] erwidere«.7 »Erbschaft« und »Überlieferung« haben eine geschichtliche Kontinuität zu stiften. Angesichts der schnellen Abfolge des »Neuen« wird das »Alte« beschworen. Heideggers »Sein und Zeit« ist ein Versuch, angesichts des nahenden Endes der Geschichte diese wieder herzustellen, und zwar in Leerform, eine Geschichte also, die ohne Inhalte nur ihre temporale Formkraft behauptet. Heutzutage veralten die zeitgebundenen Dinge viel schneller als früher. Sie werden rasch zu Vergangenem und entgleiten somit der Aufmerksamkeit. Die Gegenwart reduziert sich auf die Aktualitätsspitze. Sie dauert nicht mehr. Angesichts der Herrschaft punktueller, geschichtsloser Gegenwart fordert schon Heidegger eine »Entgegenwärtigung des Heute«.8 Die Ursache der Gegenwartsschrumpfung oder der schwindenden Dauer ist nicht, wie man irrtümlicherweise glaubt, die Beschleunigung.9 Viel komplexer ist das Verhältnis zwischen dem Verlust der Dauer und der Beschleunigung. Die Zeit stürzt fort wie eine Lawine gerade deshalb, weil sie in sich keinen Halt mehr hat. Jene Gegenwartspunkte, zwischen denen keine temporale Anziehungskraft mehr besteht, lösen den Fortriß der Zeit, die richtungslose Beschleunigung der Prozesse aus, die aufgrund der fehlenden Richtung keine Beschleunigung mehr wäre. Die Beschleunigung im eigentlichen Sinne setzt gerichtete Fließbahnen voraus. Die Wahrheit selbst ist ein Zeitphänomen. Sie ist ein Widerschein 6 7 8 9

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Ebd., S. 383. Ebd., S. 386. Ebd., S. 391. Diesem einfachen Schema folgt Hartmut Rosa in seiner Monogra-

phie: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005.

Un-Zeit | 13 der dauernden, ewigen Gegenwart. Der Fortriß der Zeit, die schrumpfende, flüchtige Gegenwart höhlt sie aus. Auch die Erfahrung beruht auf einer temporalen Erstreckung, auf einer Verschränkung von Zeithorizonten. Für das Subjekt der Erfahrung ist das Vergangene nicht einfach verschwunden oder verworfen. Vielmehr bleibt es konstitutiv für seine Gegenwart, für sein Selbstverständnis. Der Abschied verdünnt nicht die Präsenz des Gewesenen. Er kann sie sogar vertiefen. Das Abgeschiedene ist von der Gegenwart der Erfahrung nicht ganz abgeschnitten. Vielmehr bleibt es mit ihr verschränkt. Und das Subjekt der Erfahrung muß sich offen halten für das Kommende, ja für das Überraschende und Ungewisse der Zukunft. Sonst erstarrt es zu einem Arbeiter, der die Zeit bloß abarbeitet. Er verändert sich nicht. Veränderungen destabilisieren den Arbeitsprozeß. Das Subjekt der Erfahrung dagegen ist sich nie gleich. Es bewohnt den Übergang zwischen dem Vergangenen und dem Zukünftigen. Die Erfahrung umfaßt einen weiten Zeitraum. Sie ist sehr zeitintensiv im Gegensatz zum Erlebnis, das punktuell, zeitarm ist. Die Erkenntnis ist genauso zeitintensiv wie die Erfahrung. Sie zieht ihre Kraft sowohl aus dem Gewesenen als auch aus dem Zukünftigen. Erst in dieser Verschränkung von Zeithorizonten verdichtet sich die Kenntnis zur Erkenntnis. Diese temporale Verdichtung unterscheidet die Erkenntnis auch von der Information, die gleichsam zeitleer oder zeitlos im privativen Sinne ist. Aufgrund dieser temporalen Neutralität lassen sich die Informationen abspeichern und beliebig abrufen. Wird den Dingen das Gedächtnis genommen, werden sie zu Informationen oder auch zu Waren. Sie werden in einen zeitleeren, ungeschichtlichen Raum verschoben. Dem Abspeichern der Information geht das Löschen des Gedächtnisses, das Löschen der geschichtlichen Zeit voraus. Wo die Zeit zu bloßer Abfolge punktueller Gegenwart zerfällt, verliert sie auch jede dialektische Spannung. Die Dialektik ist selber ein intensives Zeitgeschehen. Die dialektische Bewegung verdankt sich einer komplexen Verschränkung von Zeithorizonten, nämlich einem Noch-Nicht des Schon. Das, was in der jeweiligen Gegenwart implizit präsent ist, reißt sie aus sich heraus und läßt sie in Bewegung geraten. Die dialektische Antriebskraft ergibt sich aus der temporalen Spannung zwischen einem Schon und einem Noch-Nicht, zwischen einer Gewesenheit und einer Zukunft. Die Gegenwart in einem dialektischen Prozeß ist spannungsreich, während der Gegenwart heute jede Spannung fehlt. Die auf die Aktualitätsspitze reduzierte Gegenwart erhöht auch auf der Handlungsebene die Unzeitigkeit. Versprechen, Verbindlichkeit oder Treue z.B. sind genuin temporale Praktiken. Sie binden die Zukunft, indem sie die Gegenwart in die Zukunft kontinuieren und

14 | Duft der Zeit sie verschränken. Dadurch erzeugen sie eine temporale Kontinuität, die stabilisierend wirkt. Diese schützt die Zukunft vor der Gewalt der Unzeit. Wo die Praxis eines langfristigen Sich-Bindens, das auch eine Form des Schlusses wäre, der zunehmenden Kurzfristigkeit weicht, steigt auch die Unzeitigkeit, die sich auf der psychologischen Ebene als Angst und Unruhe widerspiegelt. Die zunehmende Diskontinuität, die Atomisierung der Zeit zerstört die Erfahrung der Kontinuität. Die Welt wird dadurch unzeitig. Das Gegenbild der erfüllten Zeit ist die zu einer leeren Dauer hingedehnte Zeit ohne Anfang und Ende. Die leere Dauer ist dem Fortriß der Zeit nicht entgegengesetzt, sondern benachbart. Sie ist gleichsam eine lautlose Form oder das Negativ des beschleunigten Tuns, die Zeit, die übrig bliebe, wenn es nichts mehr zu tun oder zu machen gäbe, also eine Zeitform des leeren Tuns. Sowohl die leere Dauer als auch der Fortriß der Zeit sind Folgen der Entzeitlichung. Die Unruhe des beschleunigten Tuns verlängert sich in den Schlaf. In der Nacht setzt sie sich fort als leere Dauer der Schlaflosigkeit: »Schlaflose Nacht: dafür gibt es eine Formel, qualvolle Stunden, ohne Aussicht auf Ende und Dämmerung hingedehnt in der vergeblichen Anstrengung, die leere Dauer zu vergessen. Entsetzen aber bereiten schlaflose Nächte, in denen die Zeit sich zusammenzieht und fruchtlos durch die Hände rinnt. […] Was aber in solcher Kontraktion der Stunden sich offenbart, ist das Gegenbild der erfüllten Zeit. Wenn in dieser die Macht der Erfahrung den Bann der Dauer bricht und Vergangenes und Zukünftiges in die Gegenwart versammelt, so stiftet Dauer in der hastig schlaflosen Nacht unerträgliches Grauen.«10 Paradox ist nicht Adornos Ausdruck »hastig schlaflose Nacht«, denn die Hast und die leere Dauer sind gleichen Ursprungs. Die Hast des Tages beherrscht die Nacht in Leerform. Die Zeit, nun jedes Haltes, jeder haltenden Schwerkraft beraubt, stürzt fort, verrinnt unauf haltsam. Dieser Fortriß der Zeit, diese haltlos fortrinnende Zeit verwandelt die Nacht in eine leere Dauer. Mitten in der Ausgesetztheit in die leere Dauer ist kein Schlaf möglich. Die leere Dauer ist eine unartikulierte, ungerichtete Zeit. In ihr gibt es weder sinnvolles Vor- noch Nachher, weder Erinnerung noch Erwartung. Angesichts der Unendlichkeit der Zeit ist das kurze Menschenleben ein Nichts. Der Tod ist eine Gewalt, die von außen das Leben zur Unzeit beendet. Man verendet vorzeitig zur Unzeit. Der Tod wäre keine Gewalt mehr, wenn er ein sich aus dem Leben, aus der Lebenszeit selbst ergebender Schluß wäre. Nur dieser macht es mög10 | Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Frankfurt a.M. 1986, S. 217.

Un-Zeit | 15 lich, daß man das Leben aus sich heraus zu Ende lebt, daß man zur rechten Zeit stirbt. Allein temporale Formen des Schlusses erzeugen gegen die schlechte Unendlichkeit eine Dauer, eine sinnvolle, erfüllte Zeit. Auch der Schlaf, der gute Schlaf wäre letzten Endes eine Form des Schlusses. Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« beginnt bezeichnenderweise mit dem Wort: »Longtemps, je me suis couché de bonne heure« (Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen). Die deutsche Übersetzung bringt die »bonne heure« ganz zum Verschwinden. Es handelt sich um ein weitreichendes Wort über Zeit und Glück (bonheur). Die bonne heure, die gute Zeit ist das Gegenbild der schlechten Unendlichkeit, der leeren, also schlechten Dauer, in der kein Schlaf möglich ist. Der Zeitriß, die radikale Diskontinuität der Zeit, die auch keine Erinnerung zuläßt, führt zur quälenden Schlaflosigkeit. Die ersten Passagen des Romans stellen dagegen eine beglückende Kontinuitätserfahrung dar. Inszeniert wird ein müheloses Schweben zwischen Schlafen, Träumen und Wiedererwachen, im wohligen Fluidum von Erinnerungs- und Wahrnehmungsbildern, ein freies Hin-und-Her zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen fester Ordnung und spielerischer Verwirrung. Kein Zeitriß stürzt den Protagonisten in eine leere Dauer. Der Schlafende ist vielmehr Spieler, Wanderer und auch Herrscher der Zeit: »Der Schlafende spannt in einem Kreise um sich den Ablauf der Stunden, die Ordnung der Jahre und der Welten aus.«11 Gelegentlich treten zwar auch Verwirrungen und Irritationen auf. Aber sie enden nicht katastrophisch. Immer kommt der »gute Engel der Gewißheit« zur Hilfe: »[…] wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wußte ich nicht, wo ich mich befand, ja im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war, […] dann aber kam mir die Erinnerung […] gleichsam von oben her zur Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich mir selbst nicht hätte heraushelfen können; in einer Sekunde durchlief ich Jahrhunderte der Zivilisation, und aus vagen Bildern von Petroleumlampen und Hemden mit offenen Kragen setzte sich allmählich mein Ich in seinen originalen Zügen wieder von neuem zusammen.«12 Statt gleichgültiger, namenloser Geräusche von außen oder des überlauten Tickens der Uhr, das sehr typisch für die Schlaflosigkeit, für die leere Dauer wäre, dringt ins Ohr etwas Klanghaftes. Auch die Dunkelheit der Nacht erscheint bunt und lebendig wie ein Kaleidoskop: »Ich schlief wieder ein und wachte dann manch11 | Marcel Proust: In Swanns Welt, übersetzt von E. Rechel-Mertens, Frankfurt a.M. 1997, S. 11.

12 | Ebd., S. 12.

16 | Duft der Zeit mal nur noch sekundenlang auf, gerade lang genug, um ein Knacken im Gebälk zu hören oder den Blick dem Kaleidoskop der Dunkelheit zu öffnen und dank einem kurzen bewußten Augenblick wohlig den Schlaf zu genießen […].«13 Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß die Beschleunigung des Lebensprozesses heute auf die Angst vor dem Tod zurückzuführen sei. Argumentiert wird etwa so: »Beschleunigung, so hat sich gezeigt, stellt eine naheliegende Antwortstrategie auf das Problem der beschränkten Lebenszeit bzw. das Auseinanderfallen von Weltzeit und Lebenszeit in einer säkularen Kultur dar, für welche die maximale Auskostung von Weltoptionen und die optimale Entfaltung eigener Anlagen – und damit das Ideal des erfüllten Lebens – zum Paradigma gelingenden Lebens geworden ist. Wer doppelt so schnell lebt, kann doppelt so viele Weltmöglichkeiten realisieren und damit gleichsam zwei Leben in einem führen; wer unendlich schnell wird, nähert seine Lebenszeit dem potenziell unbeschränkten Horizont der Weltzeit bzw. der Weltmöglichkeiten insofern wieder an, als er eine Vielzahl von Lebensmöglichkeiten in einer einzigen irdischen Lebensspanne zu verwirklichen vermag und daher den Tod als Optionenvernichter nicht mehr zu fürchten braucht.« 14 Wer doppelt so schnell lebt, kann doppelt so viele Lebensoptionen auskosten. Die Beschleunigung des Lebens vervielfacht es und nähert es dadurch dem Ziel eines erfüllten Lebens an. Dieses Kalkül ist aber naiv. Es beruht auf einer Verwechslung der Erfüllung mit bloßer Fülle. Das erfüllte Leben läßt sich nicht mengentheoretisch erklären. Es resultiert nicht aus der Fülle von Lebensmöglichkeiten. Auch die Erzählung ergibt sich nicht automatisch aus bloßem Zählen oder Aufzählen von Ereignissen. Sie setzt vielmehr eine besondere Synthese voraus, der sich der Sinn verdankt. Eine lange Aufzählung von Ereignissen ergibt keine spannende Erzählung. Eine sehr kurze Erzählung kann dagegen eine hohe narrative Spannung entfalten. So kann auch ein sehr kurzes Leben das Ideal eines erfüllten Lebens erreichen. Diese Beschleunigungsthese erkennt nicht das eigentliche Problem, daß dem Leben heute die Möglichkeit abhanden gekommen ist, sich sinnvoll abzuschließen. Gerade darauf gehen Hektik und Nervosität zurück, die das Leben heute kennzeichnen. Man fängt ständig neu an, man zappt sich durch »Lebensmöglichkeiten«, gerade weil man nicht mehr vermag, die eine Möglichkeit abzuschließen. Keine Geschichte, keine sinngebende Ganzheit erfüllt das Leben. Die Rede von der Beschleunigung des Lebens für dessen Maximie13 | Ebd., S. 10. 14 | Hartmut Rosa: Beschleunigung, a.a.O., S. 474.

Un-Zeit | 17 rung ist irreführend. Beim genaueren Hinsehen enthüllt sich die Beschleunigung als eine nervöse Unruhe, die das Leben gleichsam schwirren läßt von einer Möglichkeit zur anderen. Es kommt nie zur Ruhe, d.h. zum Abschluß. Ein weiteres Problem hinsichtlich des Sterbens heute besteht in einer radikalen Vereinzelung oder Atomisierung des Lebens, die dies noch endlicher werden läßt. Das Leben verliert immer mehr an Weite, die ihm Dauer verleihen würde. Es enthält in sich wenig Welt. Diese Atomisierung des Lebens macht es radikal sterblich. Es ist vor allem diese besondere Sterblichkeit, die eine allgemeine Unruhe und Hektik hervorruft. Beim flüchtigen Hinsehen mag diese Nervosität den Eindruck erwecken, alles beschleunige sich. Aber in Wirklichkeit handelt es sich nicht um eine wirkliche Beschleunigung des Lebens. Nur hektischer, unübersichtlicher und richtungsloser ist das Leben geworden. Aufgrund ihrer Zerstreuung entfaltet die Zeit keine ordnende Kraft mehr. So entstehen keine prägenden oder entscheidenden Einschnitte im Leben. Die Lebenszeit wird nicht mehr durch Abschnitte, Abschlüsse, Schwellen und Übergänge gegliedert. Vielmehr eilt man von einer Gegenwart zur anderen. So altert man, ohne alt zu werden. Schließlich ver-endet man zur Unzeit. Gerade darum ist das Sterben heute schwieriger denn je.

Z EIT

OHNE

D UFT

Darob, daß nirgend ein Unsterbliches mehr am Himmel zu sehn ist … Friedrich Hölderlin

Die mythische Welt ist voller Bedeutung. Götter sind nichts anderes als unvergängliche Bedeutungsträger. Sie machen die Welt bedeutsam, bedeutungsvoll, ja sinnvoll. Sie erzählen, wie Dinge und Ereignisse zusammenhängen. Der erzählte Zusammenhang stiftet Sinn. Die Erzählung macht aus nichts Welt. Voller Götter heißt voller Bedeutung, voller Erzählung. Die Welt ist lesbar wie ein Bild. Man braucht den Blick nur hin und her wandern zu lassen, um den Sinn, die sinnvolle Ordnung aus ihm herauszulesen. Alles hat seinen Platz, d.h. seine Bedeutung in einer fest gefügten Ordnung (cosmos). Entfernt sich ein Ding von seinem Platz, so wird es zurechtgerückt. Die Zeit richtet es. Zeit ist Ordnung. Zeit ist Gerechtigkeit. Verschiebt ein Mensch eigenmächtig die Dinge, so vergeht er sich. Die Zeit sühnt sein Vergehen. So stellt sie die ewige Ordnung wieder her. Sie ist gerecht (diké). Ereignisse stehen in einer festen Beziehung, in einer sinnvollen Verkettung. Kein Ereignis darf aus ihr ausscheren. Jedes Ereignis spiegelt die unvergängliche, unveränderliche Substanz der Welt wider. Hier finden keine Bewegungen statt, die zur Veränderung der gültigen Ordnung führen würden. In dieser Welt ewiger Wiederkehr hätte die Beschleunigung überhaupt keinen Sinn. Sinnvoll ist nur die ewige Wiederholung des Selben, ja die Reproduktion des Gewesenen, der unvergänglichen Wahrheit. So lebt der vorgeschichtliche Mensch in einer dauernden Gegenwart. Die geschichtliche Welt beruht auf ganz anderen Voraussetzungen.

20 | Duft der Zeit Sie liegt nicht einfach wie ein fertiges Bild vor, das dem Betrachter eine unvergängliche Substanz, eine unveränderliche Ordnung offenbarte. Ereignisse sind nun nicht mehr auf einer stillstehenden Fläche, sondern auf einer fortlaufenden Linie angeordnet. Die Zeit, die Ereignisse verkettet und dadurch Bedeutungen freisetzt, verläuft linear. Nicht die ewige Wiederkehr des Selben, sondern die Möglichkeit der Veränderung macht die Zeit bedeutsam. Alles ist Prozeß, der entweder Fortschritt oder Verfall bedeutet. Die geschichtliche Zeit setzt insofern eine Bedeutsamkeit frei, als sie gerichtet ist. Die Zeitlinie hat eine bestimmte Laufrichtung, eine Syntax. Die geschichtliche Zeit kennt keine dauernde Gegenwart. Die Dinge verharren nicht in einer unverrückbaren Ordnung. Die Zeit ist nicht zurückführend, sondern fortführend, nicht wiederholend, sondern einholend. Vergangenheit und Zukunft driften auseinander. Nicht ihre Selbigkeit, sondern ihre Differenz macht die Zeit bedeutsam, die eine Veränderung, ein Prozeß, eine Entwicklung ist. Die Gegenwart hat in sich keine Substanz. Sie ist nur ein Übergangspunkt. Nichts ist. Alles wird. Alles verändert sich. Die Wiederholung des Selben weicht dem Ereignis. Bewegungen und Veränderungen stiften keine Unordnung, sondern eine andere oder neue Ordnung. Die temporale Bedeutsamkeit geht von der Zukunft aus. Diese Orientierung an der Zukunft erzeugt einen temporalen Sog nach vorne, der auch beschleunigend wirken kann. Die geschichtliche Zeit ist eine lineare Zeit. Sie hat aber sehr unterschiedliche Verlaufs- oder Erscheinungsformen. Die eschatologische Zeit weicht stark von jener Form der geschichtlichen Zeit ab, die einen Fortschritt verheißt. Die eschatologische Zeit als Letztzeit bezieht sich auf das Weltende. Das Eschaton leitet das Ende der Zeit, das Ende der Geschichte selbst ein. Und eine Geworfenheit charakterisiert das Verhältnis des Menschen zur Zukunft. Die eschatologische Zeit läßt keine Handlung, keinen Entwurf zu. Der Mensch ist nicht frei. Er ist Gott unterworfen. Er entwirft sich nicht in die Zukunft. Er entwirft nicht seine Zeit. Er ist vielmehr in das Ende, in das endgültige Ende der Welt und der Zeit geworfen. Er ist nicht das Subjekt der Geschichte. Es ist vielmehr Gott, der richtet. Auch der Begriff »Revolution« hat ursprünglich eine ganz andere Bedeutung. Sie ist zwar ein Prozeß. Aber sie ist nicht frei vom Aspekt der Rückkehr und Wiederholung. Ursprünglich weist die revolutio auf den Umlauf der Sterne hin. Auf die Geschichte angewandt, bedeutet sie, daß Herrschaftsformen, die in ihrer Anzahl begrenzt sind, sich in zyklischer Form wiederholen. Die Veränderungen, die sich im Laufe der Geschichte ereignen, werden in einen Kreislauf eingebun-

Zeit ohne Duft | 21 den. Nicht der Fortschritt, sondern die Wiederholung bestimmt den geschichtlichen Verlauf. Außerdem ist der Mensch kein freies Subjekt der Geschichte. Nicht die Freiheit, sondern die Geworfenheit bestimmt weiterhin das Verhältnis des Menschen zur Zeit. Es ist nicht der Mensch, der die Revolution macht. Er ist vielmehr ihr unterworfen wie den Gesetzen der Sterne. Die Zeit ist geprägt von naturalen Konstanten. Zeit ist Faktizität.1 Zur Zeit der Aufklärung hat sich eine besondere Vorstellung der geschichtlichen Zeit herausgebildet. Im Gegensatz zur eschatologischen Zeitvorstellung geht sie von einer offenen Zukunft aus. Nicht das Sein zum Ende, sondern der Auf bruch ins Neue beherrscht ihre Zeitlichkeit. Ihr kommt eine Bedeutsamkeit, ein eigenes Gewicht zu. Sie rast nicht hilflos auf das apokalyptische Ende zu. Und keine Faktizität, keine naturalen Konstanten zwingen sie zur zirkulären Wiederholung. So erhält die Revolution eine ganz andere Bedeutung. Ihr haftet nicht mehr die Vorstellung einer stellaren Kreisbewegung an. Kein zirkulärer Umlauf, sondern ein linearer, progressiver Verlauf der Ereignisse bestimmt ihre Zeitlichkeit. Die Zeitvorstellung der Aufklärung befreit sich von der Geworfenheit und Faktizität. Die Zeit wird sowohl defaktifiziert als auch entnaturalisiert. Die Freiheit bestimmt nun das Verhältnis des Menschen zur Zeit. Er ist weder in das Ende der Zeit noch in den naturalen Kreislauf der Dinge geworfen. Nun beseelt die Idee der Freiheit, die Idee des »Fortschrittes der menschlichen Vernunft«2 die Geschichte. Das Subjekt der Zeit ist nicht mehr jener richtende Gott, sondern der freie Mensch, der sich auf die Zukunft hin entwirft. Zeit ist nicht Schicksal, sondern Entwurf. Nicht die Geworfenheit, sondern die Machbarkeit bestimmt das Verhältnis des Menschen zur Zukunft. Es ist der Mensch, der die Revolution macht (produire). So werden Begriffe wie Revolutionierung und Revolutionär möglich. Sie deuten auf die Machbarkeit hin. Diese Idee der Machbarkeit destabilisiert aber die Welt, ja die Zeit selbst. Aus der Zeit verabschiedet sich langsam jener Gott, der sehr 1 | Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 71: »So wie die Sterne unabhängig von den irdischen Menschen ihre kreisenden Bahnen ziehen, den Menschen aber gleichwohl beeinflussen oder gar determinieren, so schwang seit dem 17. Jahrhundert auch im politischen Revolutionsbegriff jener Doppelsinn mit: die Revolutionen vollziehen sich zwar über die Köpfe der Beteiligten hinweg, aber jeder Betroffene bleibt […] ihren Gesetzen verhaftet.«

2 | Robespierre: Œuvres compl., ed. M. Bouloiseau, Paris 1958, IX, S. 495.

22 | Duft der Zeit lange Zeit als Stifter ewiger Gegenwart in jeder Hinsicht stabilisierend wirkte. Der Glaube an die Machbarkeit löst schon jenen bemerkenswerten Innovationsschub in den Naturwissenschaften aus, der im 16. Jahrhundert einsetzt. In immer kürzeren Zeitspannen entstehen technische Neuerungen. Gerade in Bacons Ausspruch »Wissen ist Macht« spiegelt sich der Glaube an die Herstellbarkeit der Welt. Die politische Revolution verbindet sich mit der industriellen Revolution. Sie sind beide von demselben Glauben beseelt und vorangetrieben. Ein Brockhaus-Artikel zur Eisenbahn von 1838 führt in einem heroischen Ton die industrielle und die politische Revolution zusammen. Die Eisenbahn wird zu einem »Dampftriumphwagen«3 der Revolution verklärt. Die Revolution in der Epoche der Aufklärung beruht auf einer defaktifizierten Zeit. Von jeder Geworfenheit, von jedem naturalen oder theologischen Zwang befreit, entfesselt sich die Zeit wie jener Dampfkoloss in die Zukunft, in der das Heil erwartet wird. Von der eschatologischen Zeitvorstellung erbt sie die Teleologie. Die Geschichte bleibt eine Heilsgeschichte. Angesichts des in der Zukunft liegenden Ziels macht nun die Beschleunigung des Prozesses Sinn. So spricht Robespierre 1793 auf der Konstitutionszeremonie: »Les progrès de la raison humaine ont préparé cette grande révolution, et c’est à vous qu’est specialement imposé le devoir de l’accélérer.«4 Nicht Gott, sondern der freie Mensch ist der Herr der Zeit. Aus seiner Geworfenheit befreit, entwirft er das Kommende. Dieser RegimeWechsel von Gott auf den Menschen hat jedoch Folgen. Er destabilisiert die Zeit, denn Gott ist jene Instanz, die der herrschenden Ordnung eine Endgültigkeit, das Siegel ewiger Wahrheit verleiht. Er steht für eine dauernde Gegenwart. Mit dem Regime-Wechsel verliert die Zeit diesen Halt, der eine Resistenz gegenüber Veränderungen erzeugt. Auch Büchners Revolutionsdrama »Dantons Tod« bringt diese Erfahrung zur Sprache. Camille ruft aus: »Die allgemeinen fi xen Ideen, welche man die gesunde Vernunft tauft, sind unerträglich langweilig. Der glücklichste Mensch war der, welcher sich einbilden konnte, daß er Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist sei.«5 Die geschichtliche Zeit kann deshalb nach vorne stürzen, weil sie 3 | Conversations-Lexikon der Gegenwart, Leipzig 1838, Artikel »Eisenbahnen«, Bd. 1, S. 1136.

4 | Zitiert in: Reinhart Koselleck: Zeitschichten, Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, S. 192.

5 | Georg Büchner, Dantons Tod, in: Werke und Briefe, München 1965, S. 58.

Zeit ohne Duft | 23 nicht in sich ruht, weil sie ihren Schwerpunkt nicht in der Gegenwart hat. Sie läßt kein Verweilen zu. Das Verweilen verzögert nur den fortschreitenden Prozeß. Keine Dauer verhält die Zeit. Die Zeit ist sinnvoll, insofern sie sich auf ein Ziel zubewegt. So macht die Beschleunigung Sinn. Aufgrund der Bedeutsamkeit der Zeit wird sie jedoch nicht als solche wahrgenommen. In den Blick fällt vor allem der Sinn der Geschichte. Die Beschleunigung drängt sich nur dann als solche auf, wenn der Zeit die geschichtliche Bedeutsamkeit, der Sinn entschwindet. Sie wird genau in dem Moment eigens thematisch oder problematisch, in dem die Zeit in eine sinnleere Zukunft fortgerissen wird. Die mythische Zeit ruht wie ein Bild. Die geschichtliche Zeit hat dagegen die Form einer Linie, die auf ein Ziel zuläuft oder zurast. Entschwindet der Linie die narrative oder teleologische Spannung, so zerfällt sie zu Punkten, die richtungslos schwirren. Das Ende der Geschichte atomisiert die Zeit zu einer Punkt-Zeit. Der Mythos wich ehemals der Geschichte. Das statische Bild wurde zur fortlaufenden Linie. Geschichte weicht nun Informationen. Diese besitzen keine narrative Länge oder Weite. Sie sind weder zentriert noch gerichtet. Sie stürzen gleichsam auf uns ein. Die Geschichte lichtet, selektiert, kanalisiert das Gewirr von Ereignissen, zwingt diese auf eine narrativlineare Bahn. Verschwindet diese, so kommt es zu einer Wucherung von Informationen und Ereignissen, die richtungslos schwirren. Die Informationen duften nicht. Darin unterscheiden sie sich von der Geschichte. Im Gegensatz zu Baudrillards These verhält sich die Information zur Geschichte nicht wie die immer perfekter werdende Simulation zum Original oder Ursprung.6 Die Information stellt vielmehr ein neues Paradigma dar. Ihr wohnt eine ganz andere Zeitlichkeit inne. Sie ist eine Erscheinung der atomisierten Zeit, nämlich der Punkt-Zeit. Zwischen Punkten klaff t notwendig eine Leere, ein leeres Intervall, in dem sich nichts ereignet, keine Sensation stattfindet. Die mythische und die geschichtliche Zeit lassen dagegen keine Leere auf6 | Vgl. Jean Baudrillard: Das Jahr 2000 findet nicht statt, Berlin 1990, S. 18: »Was Musik vor dem Stereo war, können wir nie mehr hören […], was Geschichte vor Nachrichten und Medien war, können wir uns nicht mehr vorstellen. Das ursprüngliche Wesen (der Musik, des Sozialen …), der ursprüngliche Begriff (des Unbewußten, der Geschichte …) sind verschwunden, denn sie sind nicht mehr von ihrem Perfektionsmodell zu trennen […]. Nie mehr werden wir wissen, was Geschichte war, bevor sie sich zur technischen Perfektion der Information steigerte […].«

24 | Duft der Zeit kommen, denn das Bild und die Linie haben kein Intervall. Sie bilden eine narrative Kontinuität. Nur Punkte lassen leere Zwischenräume entstehen. Die Intervalle, in denen nichts geschieht, verursachen Langeweile. Oder sie wirken bedrohlich, denn wo nichts geschieht, wo die Intentionalität auf nichts stößt, ist der Tod. So erzeugt die Punkt-Zeit den Zwang, die leeren Intervalle zu beseitigen oder zu verkürzen. Damit sie nicht lange weilen, wird versucht, die Sensationen schneller aufeinanderfolgen zu lassen. Es findet eine sich ins Hysterische steigernde Beschleunigung der Schnitt- oder Ereignisfolge statt, die auf alle Lebensbereiche übergreift. Aufgrund der fehlenden narrativen Spannung kann die atomisierte Zeit die Aufmerksamkeit nicht dauerhaft binden. So wird die Wahrnehmung immer mit Neuem oder mit Drastischem versorgt. Die Punkt-Zeit läßt kein kontemplatives Verweilen zu. Die atomisierte Zeit ist eine diskontinuierliche Zeit. Nichts verbindet Ereignisse miteinander und stiftet dadurch einen Zusammenhang, also eine Dauer. So wird die Wahrnehmung mit dem Unerwarteten oder Plötzlichen konfrontiert, was eine diff use Angst erzeugt. Atomisierung, Vereinzelung und Erfahrung von Diskontinuitäten sind auch für unterschiedliche Formen der Gewalt verantwortlich. Heutzutage zerfallen zunehmend jene sozialen Strukturen, die Kontinuität und Dauer stiften. Die Atomisierung und Vereinzelung erfassen die ganze Gesellschaft. An Bedeutung verlieren soziale Praktiken wie Versprechen, Treue oder Verbindlichkeit, die in dem Sinne alle Zeitpraktiken sind, daß sie, indem sie die Zukunft binden und zu einem Horizont begrenzen, eine Dauer stiften. Sowohl die mythische als auch die geschichtliche Zeit besitzen eine narrative Spannung. Eine besondere Verkettung von Ereignissen gestaltet die Zeit. Die Erzählung läßt die Zeit duften. Die Punkt-Zeit ist dagegen eine Zeit ohne Duft. Die Zeit beginnt zu duften, wenn sie eine Dauer gewinnt, wenn sie eine narrative Spannung oder eine Tiefenspannung erhält, wenn sie an Tiefe und Weite, ja an Raum gewinnt. Die Zeit verliert den Duft, wenn sie jeder Sinn- und Tiefenstruktur entkleidet wird, wenn sie atomisiert wird oder sich verflacht, verdünnt oder verkürzt. Gerät sie ganz aus der sie haltenden, ja verhaltenden Verankerung, so wird sie haltlos. Gleichsam aus der Halterung gelöst, stürzt sie fort. Die Beschleunigung, von der heutzutage viel die Rede ist, ist kein Primärprozeß, der nachträglich zu unterschiedlichen Veränderungen der Lebenswelt führte, sondern ein Symptom, ein Sekundärprozeß, nämlich eine Folge der haltlos gewordenen, atomisierten Zeit, einer Zeit ohne jede verhaltende Gravitation. Die Zeit stürzt fort, ja überstürzt sich, um einen wesentlichen Mangel an Sein auszuglei-

Zeit ohne Duft | 25 chen, was ihr jedoch nicht gelingt, denn die Beschleunigung allein erzeugt keinen Halt. Sie läßt vielmehr den vorhandenen Mangel an Sein nur noch penetranter erscheinen.

G ESCHWINDIGKEIT

DER

G ESCHICHTE

Sa vie serait une suite interrompue de sensations que rien ne lierait. Denis Diderot

Die moderne Technik entfernt den Menschen von der Erde. Flugzeuge und Raumschiffe entreißen ihn der Schwerkraft der Erde. Je mehr man sich von der Erde entfernt, desto kleiner wird sie. Und je schneller man sich auf der Erde bewegt, desto mehr schrumpft sie. Jede Beseitigung der Entfernung auf der Erde bringt eine wachsende Entfernung des Menschen von ihr mit sich. So entfremdet sie den Menschen von der Erde. Das Internet und die elektronische Mail bringen die Geographie, ja die Erde selbst zum Verschwinden. Die elektronische Post führt keine Erkennungsmarke mit sich, die darauf hinwiese, woher sie gesendet worden ist. Sie ist ohne Raum. Die moderne Technik entterranisiert das menschliche Leben. Heideggers Philosophie der »Bodenständigkeit« ist ein Versuch, den Menschen zu reterranisieren und zu refaktifizieren. Jean Baudrillard erläutert das Ende der Geschichte mit dem Bild eines Körpers, der sich kraft der Beschleunigung aus der Erdanziehungskraft befreit: »Anhand dieses Bildes kann man sich vorstellen, daß die Beschleunigung der Moderne, der Technik, von Ereignissen und Medien, sowie die Beschleunigung aller ökonomischen, politischen und sexuellen Tauschhandlungen uns in eine derartige Befreiungsgeschwindigkeit versetzt hat, daß wir aus dem Bezugsraum des Realen und der Geschichte herausgeflogen sind.«1 Baudrillard 1 | Jean Baudrillard: Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, Berlin 1994, S. 9.

28 | Duft der Zeit zufolge ist eine »gewisse Langsamkeit« notwendig, damit Ereignisse sich zur Geschichte verfestigen oder verdichten. Baudrillards Bild des sich beschleunigenden Körpers legt den Schluß nahe, daß gerade die Beschleunigung für das Ende der Geschichte verantwortlich ist, daß sie die Ursache des drohenden Sinnverlustes ist. Im Sog der Beschleunigung werden, so die »einleuchtende« Hypothese, die Dinge aus dem sinngebenden Bezugsraum herausgeschleudert und zerfallen zu Fragmenten, zu für sich isolierten Partikeln des Realen, die dann im sinnentleerten Raum schwirren. Eine ungeheuere kinetische Energie, deren Ursprung im Dunklen liegt, reißt die Dinge aus ihrer Umlaufbahn, d.h. aus ihrem Sinnzusammenhang heraus: »Jenseits des Wirkungsbereichs dieser Schwerkraft, die die Körper auf ihrer Umlaufbahn hält, verschwinden alle Sinn-Atome im Weltraum. Jedes Atom folgt seiner Bahn bis ins Unendliche und verschwindet im Weltall. Genau das erleben wir in unseren gegenwärtigen Gesellschaften, die danach streben, alle Körper, Nachrichten und Prozesse in alle möglichen Richtungen zu beschleunigen […]. Jede politische, geschichtliche oder kulturelle Tatsache wird mit einer kinetischen Energie versehen, die sie aus ihrem eigenen Raum herausreißt und in einen Hyperraum hinausschleudert, wo sie jeglichen Sinn verliert […].«2 Das Bild der Atome, die im Sog der Beschleunigung in alle möglichen Richtungen hinausgeschleudert und dadurch aus dem sie umspannenden Sinnzusammenhang herausgerissen werden, ist nicht ganz korrekt. Es suggeriert einen einseitigen kausalen Zusammenhang zwischen Beschleunigung und Sinnverlust. Nicht zu bestreiten ist zwar eine mögliche Wechselwirkung zwischen Beschleunigung und Sinnleere. Problematisch ist aber die Annahme eines »Teilchenbeschleunigers«, der »die Umlauf bahn, auf der die Dinge einen bestimmten Bezug zueinander hatten, zerstört hat«. Die Beschleunigung ist nicht die einzig mögliche Erklärung für das Verschwinden des Sinns. Denkbar ist eine ganz andere Szene. Langsam verschwindet die Erdanziehungskraft, die die Dinge auf ihrer festen Umlauf bahn hielt. Die Dinge beginnen, befreit aus ihren Sinnbezügen, richtungslos zu schweben oder zu schwirren. Von außen her könnte diese Szene so aussehen, als würden sich die Dinge kraft der Beschleunigung aus der Erdanziehungskraft befreien. In Wirklichkeit aber entgleiten sie der Erde und entfernen sich voneinander aufgrund der fehlenden Gravitation des Sinns. Auch die Rede von »Sinnatomen« ist irreführend, denn der Sinn ist nicht atomar. Von Atomen kann nur eine sinnlose Gewalt ausgehen. Erst aufgrund der fehlenden Gravi2 | Ebd., S. 10.

Geschwindigkeit der Geschichte | 29 tation werden die Dinge zu sinnentleerten Atomen vereinzelt. Die Dinge werden nicht mehr auf jener Umlauf bahn gehalten, die sie in einen Sinnzusammenhang einspannt. So zerfallen sie zu Atomen und schwirren im sinnlosen »Hyperraum«. Zum Sinnverlust kommt es hier nicht aufgrund der »Befreiungsgeschwindigkeit«, die die Dinge aus dem »Bezugsraum des Realen und der Geschichte« herausschleudert, sondern gerade aufgrund der abwesenden oder schwachen Gravitation. Die fehlende Schwerkraft bringt eine neue Kondition, eine neue Konstellation des Seins hervor, auf die unterschiedliche Erscheinungen von heute zurückzuführen sind. Die Beschleunigung ist nur eine davon. Das Verschwinden der Umlauf bahn der Dinge, die diesen eine Richtung, d.h. einen Sinn verleiht, läßt sich auch für das der Beschleunigung entgegengesetzte Phänomen verantwortlich machen, nämlich für den Stillstand der Dinge. Baudrillard selbst bemerkt ja, daß nicht nur die Beschleunigung, sondern auch eine Langsamkeit zum Ende der Geschichte führen könnte: »Die Materie verzögert das Vergehen der Zeit. Genauer gesagt, scheint die Zeit an der Oberfläche eines Körpers von großer Dichte langsamer zu vergehen. […] Diese Masse, träge Materie des Sozialen, entsteht nicht etwa aus zu wenig Verkehr, Information und Kommunikation, sondern umgekehrt aus zu vielen Umschlagplätzen, aus der Übersättigung mit Informationen usw. Sie entsteht aus der starken Verdichtung der Städte und Märkte, der Botschaften und Kreisläufe. Sie ist der kalte Stern des Sozialen, und im Umkreis dieser Masse kühlt die Geschichte ab […]. Schließlich wird sie stillstehen und erlöschen, wie das Licht und die Zeit, wenn sie eine unendlich dichte Masse berühren …«3 Hier verknüpft Baudrillard das Ende der Geschichte wieder mit der Frage der Geschwindigkeit. Sowohl eine zu hohe als auch eine zu niedrige Geschwindigkeit sozialer und ökonomischer Kreisläufe bringen die Geschichte zum Verschwinden. Die Geschichte oder die Sinnproduktion setzt demnach eine bestimmte Geschwindigkeit des Tauschprozesses voraus. Er darf weder zu langsam noch zu schnell sein. Eine zu hohe Geschwindigkeit zerstreut den Sinn. Eine zu geringe Geschwindigkeit dagegen läßt einen Stau entstehen, der jede Bewegung erstickt. In Wirklichkeit aber hat die Geschichte keine besondere Empfindlichkeit gegenüber Veränderungen der Geschwindigkeit des sozialen und ökonomischen Tauschprozesses. Die Geschwindigkeit allein hat keinen so großen Einfluß auf die geschichtliche Sinnproduktion. Es ist vielmehr die instabile Umlauf bahn, die verschwindende Gravitation selbst, die temporale Irritationen oder Schwankungen verursacht. 3 | Jean Baudrillard: Das Jahr 2000 findet nicht statt, a.a.O., S. 11ff.

30 | Duft der Zeit Zu diesen gehört nicht nur die Beschleunigung, sondern auch die Verlangsamung. Die Dinge beschleunigen sich, weil sie keinen Halt haben, weil nichts sie auf einer stabilen Umlauf bahn hält. Die Besonderheit der Umlauf bahn besteht darin, daß sie selektierend wirkt, daß nur bestimmte Dinge von ihr erfaßt werden können, denn sie ist schmal. Verfällt diese narrative Bahn der Geschichte gänzlich, so kommt es auch zu einer Vermassung der Ereignisse und Informationen. Alles drängt sich dann in die Gegenwart. So entstehen Stauungen in der Gegenwart, die verlangsamend wirken. Diese Stauung ist aber kein Beschleunigungseffekt. Gerade das Verschwinden der selektierenden Bahnen erzeugt eine Vermassung von Ereignissen und Informationen. Baudrillard hat zwar erkannt, daß das Ende der Geschichte nicht nur mit der Beschleunigung, sondern auch mit der Verlangsamung zusammenhängt. Aber er macht die Geschwindigkeit für den Sinnverlust direkt verantwortlich. Nicht nur von ihm, sondern auch von vielen anderen wird übersehen, daß die Beschleunigung und die Verlangsamung unterschiedliche Erscheinungen eines tieferliegenden Prozesses darstellen. So wird irrtümlicherweise angenommen, daß auch der Stillstand eine Folge der allgemeinen Beschleunigung ist: »Die beiden so widerspruchsvoll erscheinenden Zeit-Diagnosen der sozialen Beschleunigung und der gesellschaftlichen Erstarrung sind dabei nur auf den ersten Blick konträr. In der einprägsamen Metapher des rasenden Stillstandes […] sind sie sinnfällig zusammengeführt zu einer Posthistoire-Diagnose, in der das Rasen der Ereignisgeschichte das Stillstehen […] herbeiführt.« 4 Dieser problematischen These zufolge stellen Verlangsamung und Stillstand »ein internes Element und ein inhärentes Komplementärprinzip des Akzelerationsprozesses selbst dar«.5 Irrtümlicherweise wird hier eine »Dialektik des Umschlagens von Beschleunigung und Bewegung zu Erstarrung und Stillstand«6 postuliert. Der Stillstand geht nicht, wie fälschlicherweise angenommen, auf den Umstand zurück, daß alle gleichzeitig rennen wollen, daß alle Hebel gleichzeitig in Bewegung gesetzt werden. Er ist keine »Kehrseite« des Akzelerationsprozesses.7 Er hat seine Ursache nicht in der Beschleunigung der Bewegung und Handlung, sondern gerade 4 5 6 7

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Hartmut Rosa: Beschleunigung, a.a.O., S. 41. Ebd., S. 153. Ebd., S. 479. Vgl. ebd., S. 87: »Erfahrungen des Stillstandes scheinen nicht nur zeit-

gleich mit der Empfindung sich steigernder Veränderungs- und Handlungsgeschwindigkeiten aufzutreten, sondern als Komplementärerfahrungen geradezu deren Kehrseite zu sein.«

Geschwindigkeit der Geschichte | 31 in deren Nicht-Mehr-Wissen-Wohin. Gerade diese Richtungslosigkeit führt zu den auf den ersten Blick konträren Phänomenen: Beschleunigung und Stillstand. Sie sind zwei Seiten einer Medaille. Die allgemeine Entzeitlichung führt dazu, daß temporale Abschnitte und Abschlüsse, Schwellen und Übergänge, die sinnbildend sind, verschwinden. Aufgrund der fehlenden starken Artikulation der Zeit entsteht auch das Gefühl, daß die Zeit schneller vergeht als früher. Dieses Gefühl wird dadurch verstärkt, daß Ereignisse schnell einander ablösen, ohne sich tief einzuprägen, ohne Erfahrung zu werden. Aufgrund der fehlenden Gravitation werden die Dinge nur noch flüchtig gestreift. Nichts fällt ins Gewicht. Nichts ist einschneidend. Nichts ist endgültig. Es entstehen keine Einschnitte. Wenn es nicht mehr möglich ist, zu entscheiden, was von Bedeutung ist, so verliert alles an Bedeutung. Aufgrund der Überzahl der gleichwertigen Anschlußmöglichkeiten, d.h. der möglichen Richtungen, werden Dinge selten zum Abschluß gebracht. Das Abschließen setzt eine gegliederte, organische Zeit voraus. Innerhalb eines offenen, endlosen Prozesses kommt dagegen nichts zum Abschluß. Unfertigkeit wird Dauerzustand. Problematisch sind Theorien der Beschleunigung, die diese zur Hauptantriebskraft der Moderne erklären. Sie vermuten überall eine Steigerung der Geschwindigkeit. Sie glauben, auch in der Literatur der Moderne eine zunehmende Beschleunigung registrieren zu können, die sich auf der strukturellen Ebene als gesteigertes Erzähltempo ausdrückt: »Die Zeit verfließt mit dem Fortgang des Romans immer schneller, so daß die gleiche Zahl von Buchseiten zu Beginn des Buches nur wenige Stunden der erzählten Zeit, dann Tage und schließlich Wochen abhandelt, wodurch sich am Ende des Werkes Monate und Jahre auf wenigen Seiten zusammendrängen.«8 Die Annahme einer sukzessiven Steigerung der Erzählgeschwindigkeit entspringt einer partiellen und einseitigen Wahrnehmung, denn sie geht paradoxerweise mit einer Verlangsamung des Erzähltempos einher, das sich einem Stillstand nähert. Die Beschleunigung und die Verlangsamung haben ihre gemeinsame Wurzel in einer narrativen Entzeitlichung. Sie sind unterschiedliche Manifestationen des selben Prozesses. Die Fokussierung auf die Beschleunigung verdeckt sogar den Prozeß, der sich auch in Form von Stillstand und Verlangsamung manifestiert. Aufgrund der Entzeitlichung findet kein narrativer Fortschritt statt. Der Erzähler hält sich bei jedem kleinsten und unbedeutendsten Ereignis lange auf, weil er nicht vermag, Wichtiges von Unwichtigem zu 8 | Hartmut Rosa: Beschleunigung, a.a.O., S. 78.

32 | Duft der Zeit unterscheiden. Narration setzt Unterscheidung und Selektion voraus. Der Roman von Michel Butor »L’emploi du temps« inszeniert diese narrative Krise, die auch eine Zeitkrise ist. Die Langsamkeit des Erzählens geht auf die Unfähigkeit des Erzählers zurück, das Geschehen durch sinnbildende Ein- und Abschnitte zu gliedern. Aufgrund der fehlenden narrativen Bahn, die selektiv wirkt, kann der Erzähler nicht entscheiden, was von Bedeutung ist. Die Erzählung gerät völlig außer Takt. Die Trägheit und die Hastigkeit der Erzählung sind beide Symptome der fehlenden narrativen Spannung.9 Die Erzählung findet zu keinem Rhythmus, der einen harmonischen Wechsel von Langsamkeit und Beschleunigung erlauben würde. Der narrative Rhythmus setzt eine geschlossene Zeit voraus. Die temporale Zerstreuung läßt keine Sammlung, keine Versammlung der Ereignisse zu einer geschlossenen Ganzheit zu, was zu temporalen Sprüngen und Schwankungen führt. Die ungeordnete Masse der Ereignisse bewirkt sowohl Beschleunigung als auch Verlangsamung des Erzähltempos. Drängt sie sich in die Gegenwart, so stürzt die Narration haltlos fort. Verschwimmt sie dagegen in allgemeiner Indifferenz, so gerät die Narration in eine schwerfällige Gangart. Aufgrund der fehlenden Herrschaft über jene Masse verliert die Narration jede Orientierung und gerät völlig aus dem Takt. Auf diesen fehlenden Takt geht nicht nur die Beschleunigung, sondern auch die Verlangsamung der Narration zurück. Die Entzeitlichung bringt jede narrative Spannung zum Verschwinden. Die erzählte Zeit zerfällt zu einer bloßen Chronologie der Ereignisse. Es wird eher aufgezählt als erzählt. Ereignisse verdichten sich nicht zu einem in sich kohärenten Bild. Diese Unfähigkeit zur narrativen Synthese, d.h. auch zur temporalen Synthese, ruft eine Identitätskrise hervor. Der Erzähler vermag die Ereignisse nicht mehr um sich zu versammeln. Die temporale Zerstreuung zerstört jede Sammlung. So findet der Erzähler zu keiner stabilen Identität. Die Zeitkrise ist eine Identitätskrise. Aufgrund des fehlenden narrativen Spannungsbogens ist es auch nicht möglich, die Erzählung sinnvoll abzuschließen. Endlos hangelt sie sich von Ereignis zu Ereignis, ohne jedoch fortzuschreiten, ohne anzukommen. Sie kann nur abrupt abgebrochen werden. Der Abbruch zur Unzeit ersetzt den sinnvollen Abschluß. In »L’emploi du temps« kommt eine Abfahrt zur Hilfe. Die Erzählung bricht zur Unzeit ab: »[…] und ich habe nicht einmal mehr die Zeit zu notieren, was sich am Abend des 29. Februar zugetragen hat, der immer mehr aus meiner Erinnerung schwinden wird, je weiter 9 | Vgl. Jochen Mecke: Roman-Zeit. Zeitformen und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart, Tübingen 1990.

Geschwindigkeit der Geschichte | 33 ich mich von dir entferne, Bleston, im Todeskampf liegendes Bleston, Stadt, deren Gluten ich schüre, zu notieren, was mir im Zusammenhang mit dem 29. Februar so wichtig erschien, da der große Zeiger die Vertikale erreicht hat und da nun meine Abfahrt diesen letzten Satz beendet.«10

10 | Michel Butor: Der Zeitplan, aus dem Französischen übertragen von H. Scheffel, München 1960, S. 349.

VOM Z EITALTER ZUM

Z EITALTER

DES DES

M AR SCHES S CHWIRRENS

Wer die Menschen einst fl iegen lehrt, der hat alle Grenzsteine verrückt; alle Grenzsteine selber werden ihm in die Luft fl iegen, die Erde wird er neu taufen – als »die Leichte«. Friedrich Nietzsche

Der moderne Mensch ist Zygmunt Bauman zufolge ein Pilger, der die Welt als Wüste durchwandert, wobei er dem Formlosen Form, dem Episodischen Kontinuität gibt und aus dem Fragmentarischen ein Ganzes herstellt.1 Der moderne Pilger praktiziert ein »Leben-auf-Projekte-hin«. Seine Welt ist »gerichtet«.2 Baumans Ausdruck »Pilger« entspricht nicht ganz dem modernen Menschen, denn der peregrinus fühlt sich fremd auf dieser Welt. Er ist hier nicht zu Hause. So ist er immer zu einem Dort unterwegs. In der Moderne verschwindet gerade diese Differenz von Hier und Dort. Nicht zu einem Dort, sondern zu einem besseren oder anderen Hier schreitet der moderne Mensch fort. Der peregrinus dagegen kennt keinen Fortschritt im Hier. Sein Weg ist ferner weder »ordentlich« noch »sicher«. Zur Wüste gehören gerade Ungewißheit und Unsicherheit. Im Gegensatz zum Pilger, der einem vorgegebenen Weg folgt, bahnt sich der moderne Mensch selbst den 1 | Zygmunt Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg 1997, S. 140.

2 | Ebd., S. 142.

36 | Duft der Zeit Weg. So ist er eher ein Soldat, der auf ein Ziel hin marschiert oder ein Arbeiter. Der peregrinus ist geworfen in seine Faktizität. Der moderne Mensch ist dagegen frei. Die Moderne ist eine Epoche der Defaktifizierung und Freiheit. Sie befreit sich aus der Geworfenheit, deren Werfer oder Entwerfer Gott heißt. Defaktifizierung und Säkularisierung beruhen auf derselben Voraussetzung. Der Mensch erhebt sich zum Subjekt der Geschichte, dem die Welt als herstellbares Objekt gegenübersteht. An die Stelle der Wiederholung tritt die Herstellung. Die Freiheit wird nicht von der Faktizität her definiert. In der Vormoderne beschreitet der Mensch dagegen eine vorgegebene Bahn, die wie Umlauf bahnen der Himmelskörper sich ewig wiederholt. Der vormoderne Mensch findet Dinge vor, die er als vorgegeben hinnimmt oder erleidet, in die er sich geworfen findet. Er ist ein Mensch der Faktizität und Wiederholung. Die Moderne ist zwar nicht mehr von einer theologischen Narration getragen. Aber die Säkularisierung führt zu keiner Denarrativisierung der Welt. Die Moderne bleibt narrativ. Sie ist eine Epoche der Geschichte, die eine Fortschritts- und Entwicklungsgeschichte ist. Erwartet wird, ins Innerweltliche gewendet, ein Heil in der Zukunft. Die Narration des Fortschrittes oder der Freiheit verleiht der Zeit selbst Sinn und Bedeutsamkeit. Angesichts des in der Zukunft erwarteten Ziels ist die Beschleunigung sinnvoll und wünschenswert. Sie läßt sich ohne weiteres in die Narration einbinden. So werden technische Fortschritte mit einer quasi-religiösen Narration unterlegt. Sie haben das Eintreffen des zukünftigen Heils zu beschleunigen. So wird die Eisenbahn zu einer Zeitmaschine geheiligt, die die erwartete Zukunft schneller in die Gegenwart einholt: »Auf den eisernen Bahnen rollt unser Jahrhundert einem glänzenden, herrlichen Ziele entgegen. Den geistigen Weg, den wir darauf zurücklegen, werden wir noch sturmschneller durchfliegen als die körperlichen Räume! Und wie die brausenden Dampfkolosse jeden äußeren Widerstand, der sich ihnen vorwitzig oder tollkühn in die Bahn legt, zertrümmern, so, hoffen wir, werde auch jeder geistliche Widerstand, den ihnen Befangenheit und Abgunst entgegenzusetzen versucht, durch ihre Riesenkraft zerschmettert werden. Noch ist der Dampftriumpfwagen im Beginne seines Laufs und rollt deshalb nur langsam! Dies allein erregt die verblendete Hoffnung, er sei aufzuhalten; doch im Laufe wachsen die Sturmfittiche seiner Schnelligkeit, und überwältigen die, welche es versuchen, in die Speichen seiner Schicksalsräder hemmend einzugreifen!«3 Das Telos der »sich selbst 3 | Conversations-Lexikon der Gegenwart, a.a.O., Artikel »Eisenbahnen«, Bd. 1, S. 1136.

Vom Zeitalter des Marsches zum Zeitalter des Schwirrens | 37 bestimmenden Menschheit« verknüpft der Autor dieses BrockhausArtikels mit dem technischen Fortschritt. Die Eisenbahn ist eine Beschleunigungsmaschine, die dazu dient, das heilige Ziel der Menschheit schneller zu verwirklichen: »Nach diesem wahrhaft göttlichen Ziel hat die Geschichte zwar von jeher ihren Lauf gerichtet, doch auf den stürmend fortwärts rollenden Rädern der Eisenbahnen wird sie es um Jahrhunderte früher erreichen.« Die Geschichte als Heilsgeschichte überlebt die Säkularisierung in Form einer innerweltlichen Fortschrittsgeschichte. An die Stelle der religiösen Heilserwartung tritt die innerweltliche Hoffnung auf Glück und Freiheit. Die Intentionalität der Moderne ist ein Projektieren. Sie ist zielgerichtet. Ihre Gangart ist somit ein Marschieren auf ein Ziel hin. Ein gemächliches Gehen oder ein richtungsloses Schweben entsprechen nicht ihrem Wesenszug. Mit dem Pilgern hat der moderne Mensch nur die Entschlossenheit gemeinsam. Entscheidend sind die entschlossenen Schritte, die es zu synchronisieren und zu beschleunigen gilt. Es ist gerade die Teleologie des Fortschrittes, nämlich die Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft, die einen Beschleunigungsdruck erzeugt. So gesehen, ist die Beschleunigung eine typische Erscheinung der Moderne. Sie setzt einen linearen Prozeß voraus. Den richtungslosen Bewegungen ohne identifizierbares Ziel fügt die Beschleunigung keine neue Qualität hinzu. Aufgrund der fehlenden Teleologie entstehen in der Nach- oder Postmoderne ganz andere Bewegungsformen und Gangarten. Es gibt keinen allumfassenden Horizont, kein alles beherrschendes Ziel, zu dem es zu marschieren gälte. So erhebt Zygmunt Baumann Flanieren und Vagabundieren zur charakteristischen Gangart der Postmoderne. Die Nachfolger des modernen Pilgers sind also Spaziergänger und Vagabund. Der heutigen Gesellschaft fehlt aber nicht nur die Gemächlichkeit des Flanierens, sondern auch die schwebende Leichtigkeit des Vagabundierens. Hast, Hektik, Unruhe, Nervosität und diff use Angst bestimmen das Leben heute. Statt gemächlich herumzuwandern, eilt man von einem Ereignis zum anderen, von einer Information zur anderen, von einem Bild zum anderen. Diese Hast und Ruhelosigkeit kennzeichnet weder das Flanieren noch das Vagabundieren. Problematischerweise verwendet Bauman Flanieren und Zappen beinahe identisch. Sie sollen die postmoderne Ungebundenheit und Unverbindlichkeit zur Sprache bringen: »Die ultimative Freiheit steht unter Bildschirmregie, wird in Gesellschaft von Oberflächen gelebt und heißt zapping.« 4 Der hier zugrundegelegte Freiheitsbegriff ist sehr 4 | Zygmunt Baumann: Flaneure, Spieler und Touristen, a.a.O., S. 153.

38 | Duft der Zeit problematisch. Frei-sein heißt nicht einfach Ungebunden- und Unverbindlich-Sein. Frei machen nicht Entbindungen und Entbettungen, sondern Einbindungen und Einbettungen. Die totale Beziehungslosigkeit wirkt beängstigend und beunruhigend. Die indogermanische Wurzel fri, worauf Wendungen wie frei, Friede und Freund zurückgehen, bedeutet »lieben«. So bedeutet »frei« ursprünglich »zu den Freunden oder Liebenden gehörend«. Man fühlt sich frei gerade in der Beziehung von Liebe und Freundschaft. Nicht Bindungslosigkeit, sondern Bindung macht einen frei. Die Freiheit ist ein Beziehungswort par excellence. Ohne Halt gibt es auch keine Freiheit. Aufgrund des fehlenden Haltes faßt das Leben heute nicht leicht Tritt. Die temporale Zerstreuung bringt es aus dem Gleichgewicht. Es schwirrt. Es existieren keine stabilen sozialen Rhythmen und Takte mehr, die den individuellen Zeithaushalt entlasten würden. Nicht jeder vermag seine Zeit selbständig zu definieren. Die zunehmende Pluralität der Zeitläufe überfordert und überreizt den Einzelnen. Die fehlenden temporalen Vorgaben führen nicht zu einem Zuwachs an Freiheit, sondern zu einer Orientierungslosigkeit. Die temporale Zerstreuung in der Postmoderne ist eine Folge des Paradigmenwechsels, der sich nicht allein auf die Verschärfung der Beschleunigung des Lebens- und Produktionsprozesses zurückführen läßt. Die Beschleunigung im eigentlichen Sinne ist ein genuin modernes Phänomen. Sie setzt einen linearen, teleologischen Entwikklungsprozeß voraus. Auf falschen Annahmen beruht die Theorie der Moderne, die die Beschleunigung zur Hauptantriebskraft für die Veränderung der gesamten gesellschaftlichen Strukturen erhebt, die also den Strukturwandel in der Postmoderne mit der Beschleunigungslogik zu erklären sucht. Das Beschleunigungsdrama ist ein Phänomen der letzten Jahrhunderte. Es handelt sich insofern um ein Drama, als die Beschleunigung von einer Narration begleitet ist. Die Entnarrativisierung entdramatisiert den beschleunigten Fortlauf zu einem richtungslosen Schwirren. Das Beschleunigungsdrama geht nicht zuletzt auch damit zu Ende, daß die Übermittlungsgeschwindigkeit von Ereignissen und Informationen die Lichtgeschwindigkeit erreicht hat. Fälschlicherweise wird angenommen, daß die für die Moderne charakteristischen Organisationsformen der Gesellschaft, die zur Beschleunigung des Produktions- und Austauschprozesses dienten, deshalb den postmodernen Organisationsformen gewichen seien, weil sie beschleunigungshemmend wirken: »Die dynamischen Kräfte der Beschleunigung scheinen je nach den Erfordernissen ihrer weiteren Entfaltung die Institutionen und Praxisformen, deren sie bedürfen, selbst zu schaffen und nach Erreichen der durch sie ermöglichten Ge-

Vom Zeitalter des Marsches zum Zeitalter des Schwirrens | 39 schwindigkeitsgrenzen wieder zu vernichten. Aus dieser Perspektive erscheint […] die Zunahme der Geschwindigkeit als das eigentlich treibende Moment der (modernen) Geschichte.«5 Die stabile personale Identität etwa, die in der Moderne zur Dynamisierung des Austauschprozesses diente, wird, so die These, ab einer bestimmten Geschwindigkeit wegen ihrer mangelnden Flexibilität wieder aufgegeben. Demnach sind all die nach- oder postmodernen Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen wie Erosion der Institutionen und Atomisierung der Gesellschaftsstrukturen eine direkte Folge des intensivierten Beschleunigungsprozesses der Moderne. So wird angenommen, »daß die Moderne sich aus temporalstrukturellen Gründen in der Tat im Übergang zu einer in spezifischem Sinne posthistorischen und damit postpolitischen Phase befindet«.6 Die postmoderne Entnarrativisierung resultiert dieser problematischen These zufolge allein aus einer forcierten Beschleunigung des Lebens- und Produktionsprozesses. In Wirklichkeit ist es umgekehrt die fehlende temporale Gravitation, die das Leben aus dem Gleichgewicht bringt. Gerät das Leben ganz aus dem Rhythmus, so kommt es zu temporalen Störungen. Eines dieser Symptome der Entnarrativisierung ist das vage Gefühl, das Leben beschleunige sich, wobei in Wirklichkeit nichts sich beschleunigt. Genauer betrachtet, handelt es sich um ein Gefühl des Gehetztseins. Eine wirkliche Beschleunigung setzt einen gerichteten Prozeß voraus. Die Entnarrativisierung bringt aber eine ungerichtete, richtungslose Bewegung, ein Schwirren hervor, das indifferent ist gegenüber Beschleunigung. Der Abbau der narrativen Spannung zieht es nach sich, daß die Ereignisse, da sie nicht mehr auf die narrative Bahn gelenkt werden, richtungslos schwirren. Wo man ständig neu anfangen, sich für eine neue Option oder Version entscheiden muß, mag der Eindruck entstehen, das Leben beschleunige sich. In Wirklichkeit aber hat man es mit einer fehlenden Erfahrung der Dauer zu tun. Wird ein Prozeß, der kontinuierlich verläuft und von einer narrativen Logik bestimmt ist, beschleunigt, so drängt sich diese Beschleunigung nicht als solche der Wahrnehmung auf. Sie wird weitgehend von der narrativen Bedeutsamkeit des Prozesses absorbiert und nicht eigens als Störung oder Belastung wahrgenommen. Auch der Eindruck, die Zeit vergehe wesentlich schneller als früher, entspringt dem Umstand, daß man heute nicht zu verweilen vermag, daß die Erfahrung der Dauer so selten geworden ist. Irrtümlicherweise wird angenommen, daß das Gefühl des Gehetztseins auf 5 | Hartmut Rosa: Beschleunigung, a.a.O., S. 157f. 6 | Ebd., S. 328.

40 | Duft der Zeit der »Verpassungsangst« beruht: »Die Angst, (wertvolle) Dinge zu verpassen, und daher der Wunsch, das Lebenstempo zu erhöhen, sind […] das Ergebnis eines sich in der Neuzeit entwickelnden kulturellen Programms, das darin besteht, durch beschleunigte ›Auskostung von Weltoptionen‹ – d.h. durch Steigerung der Erlebnisrate – das je eigene Leben erfüllter und erlebnisreicher zu machen und eben dadurch ein ›gutes Leben‹ zu realisieren. In dieser Idee liegt das kulturelle Versprechen der Beschleunigung; es hat zur Folge, daß Subjekte schneller leben wollen.«7 Eigentlich ist gerade das Gegenteil der Fall. Wer schneller zu leben versucht, stirbt letzten Endes auch schneller. Es ist nicht die Anzahl der Ereignisse, sondern die Erfahrung der Dauer, die das Leben erfüllter macht. Wo Ereignisse schnell aufeinanderfolgen, entsteht nichts Dauerndes. Erfüllung und Sinn lassen sich nicht mengentheoretisch begründen. Ein schnell gelebtes Leben ohne das Lange und Langsame, ein von kurzen, kurzfristigen und kurzlebigen Erlebnissen bestimmtes Leben ist, wie hoch die »Erlebnisrate« auch immer sein mag, selbst ein kurzes Leben. Was wird die Gangart der Zukunft sein? Das Zeitalter des Pilgerns oder des Marsches ist endgültig vorbei. Wird der Mensch nach einer kurzen Phase des Schwirrens als Geher zur Erde zurückkehren? Oder wird er die Schwere der Erde, die Schwere der Arbeit ganz verlassen und die Leichtigkeit des Schwebens, des schwebenden Wanderns in Muße, also den Duft der schwebenden Zeit entdecken?

7 | Ebd., S. 218.

PAR ADOXIE

DER

G EGENWART

Geschieht es? – Nein, es geschieht nicht. – Und doch ist etwas im Kommen. – Im Warten, das jegliche Ankunft verhält und beläßt. Maurice Blanchot

Zur Topologie der Passion gehören Intervalle oder Schwellen. Diese sind Zonen des Vergessens, des Verlustes, des Todes, der Furcht und Angst, aber auch der Sehnsucht, der Hoff nung, des Abenteuers, des Versprechens und des Erwartens. In vieler Hinsicht ist das Intervall auch eine Quelle des Leidens und des Schmerzes. Erinnern wird Passion, wenn es gegen die Zeit ankämpft, die das Gewesene dem Vergessen ausliefert. Prousts Zeit-Roman ist, so gesehen, eine Passionsgeschichte. Warten wird Passion, wenn das zeitliche Intervall, das die Gegenwart von der erwarteten Zukunft trennt, sich ins Offene verlängert. Warten erzeugt Leiden, wenn das Eintreffen des Erwarteten oder des Versprochenen, nämlich der Moment des endgültigen Besitzes oder der endgültigen Ankunft, sich hinauszögert. Das zeitliche Intervall erstreckt sich zwischen zwei Zuständen oder Ereignissen. Die Zwischenzeit ist eine Zeit des Überganges, wo man sich in keinem bestimmten Zustand befindet. Dieses Zwischen ist durch nichts definiert. Das Übermaß an Unbestimmtheit erzeugt ein Gefühl der Unruhe und Angst, nämlich ein Schwellengefühl. Beunruhigend und beängstigend ist der Übergang zum Unbekannten. Das Zögern ist die Gangart an der Schwelle. Auch Scheu gehört zum Schwellengefühl. Die Zwischenzeit, die die Abfahrt von der Ankunft trennt, ist eine ungewisse Zeit, in der man mit dem Unberechenbaren

42 | Duft der Zeit zu rechnen hat. Sie ist aber auch die Zeit der Hoff nung oder des Erwartens, die die Ankunft vorbereitet. Der Weg, der den Ausgangsort vom Zielort trennt, ist auch ein Intervall. Er besitzt eine reiche Semantik wie der Ort selbst. Der Pilgerweg z.B. ist kein leerer Zwischenraum, den es so schnell wie möglich zu durchqueren gälte. Vielmehr ist er konstitutiv für das zu erreichende Ziel selbst. Dem Unterwegs-Sein kommt hier viel Bedeutsamkeit zu. Das Gehen bedeutet Buße, Heilung oder Dank. Es ist ein Gebet. Der Pilgerweg ist kein bloßer Durchgang, sondern ein Übergang zu einem Dort. Zeitlich ist der Pilger unterwegs zur Zukunft, in der das Heil erwartet wird. Er ist insofern kein Tourist. Dieser kennt keinen Übergang. Überall ist Hier und Jetzt. Der Tourist ist nicht unterwegs im eigentlichen Sinne. Wege verarmen zu leeren Durchgängen, die nicht sehenswürdig wären. Die Totalisierung von Hier und Jetzt entkleidet die Zwischenräume jeder Semantik. Es kennzeichnet die Erfahrung heute, daß sie sehr arm an Übergängen ist. Orientiert man sich ausschließlich am Ziel, so ist das räumliche Intervall bis zum Zielpunkt nur noch ein Hindernis, das möglichst schnell zu überwinden ist. Die reine Zielorientierung nimmt dem Zwischenraum jede Bedeutung. Sie entleert ihn zu einem Korridor, dem jeder Eigenwert fehlt. Die Beschleunigung ist der Versuch, die Zwischenzeit, die für die Überwindung des Zwischenraumes notwendig ist, ganz zum Verschwinden zu bringen. Die reiche Semantik des Weges verschwindet. Der Weg duftet nicht mehr. Ja der Weg selbst verschwindet. Die Beschleunigung führt zu einer semantischen Verarmung der Welt. Raum und Zeit bedeuten nicht mehr viel. Wird das raum-zeitliche Intervall nur auf die Negativität des Verlustes und der Verzögerung hin wahrgenommen, so setzt die Bemühung ein, es ganz zum Verschwinden zu bringen. Elektronische Speicher oder andere technische Möglichkeiten der Wiederholung vernichten das zeitliche Intervall, das verantwortlich ist für das Vergessen. Sie machen das Vergangene im Nu abruf- und verfügbar. Nichts darf sich dem instantanen Zugriff entziehen. Die Intervalle, die der Instantaneität entgegenwirken, werden beseitigt. Die elektronische Post erzeugt die Instantaneität, indem sie die Wege als räumliche Intervalle gänzlich vernichtet. Sie entledigt sich des Raumes selbst. Intervalle werden vernichtet, um eine totale Nähe und Gleichzeitigkeit herzustellen. Beseitigt wird jede Ferne, jede Entfernung. Es gilt, alles im Hier und Jetzt verfügbar zu machen. Instantaneität wird Passion. Was sich nicht vergegenwärtigen läßt, ist nicht existent. Alles hat Gegenwart zu sein. Zwischenräume und Zwischenzeiten, die entgegenwärtigend wirken, werden abgeschaff t. Es gibt nur zwei Zustände:

Paradoxie der Gegenwart | 43 nichts und Gegenwart. Es gibt kein Zwischen mehr. Sein ist aber mehr als Gegenwärtig-Sein. Das menschliche Leben verarmt, wenn aus ihm jedes Zwischen entfernt wird. Auch die menschliche Kultur ist reich an Zwischen. Die Feste gestalten oft das Zwischen. So ist die Adventszeit eine Zwischen-Zeit, eine Zeit des Wartens. Die Totalisierung des Hier entfernt das Dort. Die Nähe des Hier vernichtet die Aura der Ferne. Die Schwellen, die das Dort vom Hier, das Unsichtbare vom Sichtbaren, das Unbekannte vom Bekannten, das Fremde vom Vertrauten trennen, verschwinden. Die Schwellenlosigkeit geht auf den Zwang einer totalen Sicht- und Verfügbarmachung zurück. Das Dort verschwindet im abstandslosen Nebeneinander der Ereignisse, der Sensationen und Informationen. Alles ist Hier. Dem Dort kommt keine Bedeutsamkeit mehr zu. Der Mensch ist nicht mehr ein Schwellentier. Schwellen verursachen zwar Leiden und Passion, aber sie beglücken auch. Die Intervalle wirken nicht nur verzögernd. Sie haben auch die Funktion, zu ordnen und zu gliedern. Ohne Intervalle gibt es nur ein ungegliedertes, richtungsloses Nebeneinander oder Durcheinander von Ereignissen. Die Intervalle gliedern nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch das Leben. Übergänge und Abschnitte verleihen ihm eine bestimmte Richtung, d.h. einen Sinn. Der Wegfall der Intervalle erzeugt einen ungerichteten Raum. Da es hier keinen wohl definierten Abschnitt gibt, so ist auch kein Abschluß einer Phase möglich, die sich sinnvoll in die nächste einreiht. Wo Ereignisse einander schnell ablösen, entsteht auch keine Entschlossenheit zum Abschluß. In einem ungerichteten Raum ist es möglich, die bisherige Aktion jederzeit abzubrechen und neu zu beginnen. Bei einer Vielzahl von AnschlußMöglichkeiten macht der Abschluß wenig Sinn. Wer abschließt, kann womöglich den Anschluß verpassen. Der Raum aus Anschluß-Möglichkeiten kennt keine Kontinuität. Hier wird immer wieder neu entschieden und ständig werden neue Möglichkeiten ergriffen, was eine diskontinuierliche Zeit zur Folge hat. Keine Entscheidung ist endgültig. Einmal getroffene Entscheidungen weichen neuen Entscheidungen. Aufgehoben wird die linear verlaufende irreversible Zeit, nämlich die Zeit des Schicksals. Der Netz-Raum ist auch ein ungerichteter Raum. Er ist aus Anschluß-Möglichkeiten bzw. Links gewoben, die sich voneinander grundsätzlich nicht unterscheiden. Keine Richtung, keine Option hat einen absoluten Vorrang vor den anderen. Im idealen Falle ist jederzeit ein Richtungswechsel möglich. Es gibt keine Endgültigkeit. Alles wird in Schwebe gehalten. Nicht Gehen, Schreiten oder Marschieren, sondern Surfen oder Browsen (ursprüngl. Weiden od. Schmökern) stellen

44 | Duft der Zeit die Gangart im Netz-Raum dar. Diese Bewegungsformen sind an keine Richtung gebunden. Sie kennen auch keine Wege. Der Netz-Raum besteht nicht aus kontinuierlichen Phasen und Übergängen, sondern aus diskontinuierlichen Ereignissen oder Gegebenheiten. So findet dort kein Fortschreiten, keine Entwicklung statt. Er ist geschichtslos. Die Netz-Zeit ist eine diskontinuierliche und punktuelle Jetzt-Zeit. Man bewegt sich von einem Links zum anderen, von einem Jetzt zum anderen. Das Jetzt besitzt keine Dauer. Hier hält nichts einen dazu an, bei einer Jetzt-Stelle lange zu verweilen. Aufgrund der Vielzahl von Möglichkeiten und Alternativen entsteht kein Zwang, keine Notwendigkeit, an einem Ort zu verweilen. Das lange Verweilen würde nur eine Langeweile erzeugen. Das Ende der linearen Verfassung der Welt führt nicht nur zu Verlusten. Es macht auch neue Seins- und Wahrnehmungsformen möglich und notwendig. Das Fortschreiten weicht einem Schweben. Die Wahrnehmung wird für nicht-kausale Verhältnisse sensibilisiert. Das Ende jener narrativen Linearität, die Ereignisse vermittels einer strengen Selektion auf eine schmale Bahn zwingt, macht es notwendig, sich in einer großen Ereignisdichte zu bewegen und zu orientieren. Auch Kunst und Musik von heute spiegeln diese neue Wahrnehmungsform wider. Ästhetische Spannungen werden nicht durch eine narrative Entwicklung, sondern durch eine Überlagerung und Verdichtung von Ereignissen erzeugt. Verkürzen sich die Intervalle, so kommt es zu einer beschleunigten Ereignis-Folge. Die Verdichtung von Ereignissen, Informationen und Bildern macht es unmöglich, zu verweilen. Die rasende Schnittfolge läßt kein kontemplatives Verweilen zu. Die Bilder, die die Netzhaut nur flüchtig streifen, binden die Aufmerksamkeit nicht dauerhaft. Sie schütten schnell ihre visuellen Reize aus und verblassen. Im Gegensatz zu Wissen und Erfahrung im emphatischen Sinne haben Informationen und Erlebnisse keine dauerhafte oder tiefe Wirkung. Wahrheit und Erkenntnis haben inzwischen einen archaischen Klang. Sie beruhen auf der Dauer. Die Wahrheit hat zu währen. Sie verblaßt aber angesichts der immer kürzer werdenden Gegenwart. Und die Erkenntnis verdankt sich einer temporalen Versammlung, die Vergangenheit und Zukunft in die Gegenwart einspannt. Eine temporale Erstrecktheit zeichnet sowohl die Wahrheit als auch die Erkenntnis aus. Die immer kürzer werdenden Intervalle gelten auch für die Herstellung technischer oder digitaler Produkte. Diese veralten heute sehr schnell. Neue Versionen und Modelle machen sie so kurzlebig. Der Zwang zum Neuen verkürzt die Erneuerungszyklen. Er geht wohl darauf zurück, daß nichts eine Dauer zu erzeugen vermag. Es gibt kein

Paradoxie der Gegenwart | 45 Werk, keinen Abschluß, sondern nur eine endlose Fortführung von Versionen und Variationen. Auch das Design als reines Formspiel, ja die »reine« Schönheit im Kantischen Sinne, d.h. der schöne Schein ohne jeden Tiefsinn, ohne das Übersinnliche, der ein bloßes »Gefallen« bewirkt, verlangt schon von seiner Definition her nach einem ständigen Wechsel, nach einer ständigen Abwechselung, die dazu dienen soll, das »Gemüt« zu beleben, mit anderen Worten, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Kein Sinn verleiht dem schönen Schein eine Dauer. Kein Sinn verhält die Zeit. Die Schrumpfung der Gegenwart entleert oder verdünnt diese nicht. Ihr Paradox besteht gerade darin, daß gleichzeitig alles Gegenwart ist, daß alles die Möglichkeit hat, ja haben muß, Jetzt zu werden. Die Gegenwart verkürzt sich, verliert jede Dauer. Ihr Zeitfenster wird immer kleiner. Gleichzeitig drängt alles in die Gegenwart. Das hat ein Gedränge von Bildern, Ereignissen und Informationen zur Folge, das jedes kontemplative Verweilen unmöglich macht. So zappt man sich durch die Welt.

D UFTENDES Z EITKRISTALL

Die Zeit geht auch am helligsten Tag so leise wie der Dieb in der Nacht. Die Zeit so anstarren, anbrüllen, bis sie erschrocken stehen bleibt – Erlösung oder Katastrophe?

Prousts narrative Zeitpraxis läßt sich als eine Reaktion auf jene »Epoche der Hast« (une époque de hâte) deuten, in der die Kunst selbst »kurz angebunden« (bref) ist.1 Sie verliert den epischen Atem. Eine allgemeine Kurzatmigkeit befällt die Welt. Die Epoche der Hast ist für Proust die Epoche der Eisenbahn, die, so Proust, jede »Kontemplation« tötet. Prousts Zeitkritik gilt auch jener »kinematographischen« Zeit, die die Wirklichkeit zu schnell aufeinanderfolgenden Bildern zerfallen läßt. Seine gegen die Epoche der Hast gerichtete Zeitstrategie besteht darin, der Zeit wieder zur Dauer zu verhelfen, sie wieder duften zu lassen. Prousts Suche nach der verlorenen Zeit ist eine Reaktion auf die fortschreitende Entzeitlichung des Daseins, die dies dissoziiert. Das Ich zerfällt zu einer »Aufeinanderfolge von Augenblicken« (succession de moments).2 So kommt ihm jede Beständigkeit, ja jede Ständigkeit abhanden. Der »Mann, der ich war«, so schreibt Proust, »existiert nicht 1 | Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, Éditions Gallimard, Paris 1927, Le temps retrouvé, Bd. 15, S. 35.

2 | Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, a.a.O., Albertine disparue, Bd. 13, S. 91.

48 | Duft der Zeit mehr, ich bin ein anderer« (je suis un autre).3 Prousts Zeit-Roman »A la recherche du temps perdu« ist ein Versuch, die Identität des Ich, die zu zerfallen droht, wieder zu stabilisieren. Die Zeitkrise wird als eine Identitätskrise erfahren. Das Schlüsselerlebnis des Romans ist bekanntlich der Duft, der Geschmack 4 der in den Lindenblütentee getauchten Madeleine. Ein intensives Gefühl des Glücks durchströmt Marcel, als er einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen führte: »Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlag waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unserer Sinne geworden; es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Substanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt (contingent), sterblich zu fühlen.«5 Marcel wird ein »kleines Quantum reiner Zeit« (un peu de temps à l’état pur)6 zuteil. Diese duftende Essenz der Zeit löst ein Gefühl der Dauer aus. So fühlt sich Marcel ganz befreit von bloßen »Zufälligkeiten der Zeit« (contingences du temps). Eine Alchimie der Zeit verbindet Empfindungen und Erinnerungen zu einem sowohl der Gegenwart als auch der Vergangenheit enthobenen Zeitkristall.7 Proust spricht tatsächlich vom duftenden Kristall, nämlich vom »Kristall« (cristal) der »stillen, klang3 | Ebd., S. 276. 4 | Die Geschmacksempfindung impliziert notwendig Gerüche und Düfte. Vor allem der Geschmack eines Tees besteht überwiegend aus dessen Duft. Aufgrund der räumlichen Nähe zwischen der Geruchsquelle und dem Geruchssinn ist die Empfi ndung von Gerüchen, die sich vom Gaumen aus ausbreiten, besonders intensiv.

5 | Marcel Proust: In Swanns Welt, übers. von E. Rechel-Mertens, Frankfurt a.M. 1997, S. 63f.

6 | Marcel Proust: Le temps retrouvé, a.a.O., S. 15. 7 | Proust erklärt sich das Glücksgefühl, das ihn durchströmt, wie folgt: »Diese Ursache aber erriet ich nunmehr, wenn ich untereinander jene verschiedenen beseligenden Eindrücke verglich, die das gemeinsam hatten, daß ich sie zugleich im gegenwärtigen Augenblick und in einem entfernten erlebte, bis schließlich die Vergangenheit auf die Gegenwart übergriff und ich selbst sofort nicht mehr sicher war, in welcher von beiden ich mich befand […]« (Marcel Proust: Die wiedergefundene Zeit, übers. von E. Rechel-Mertens, Frankfurt a.M. 1984, S. 263).

Duftendes Zeitkristall | 49 vollen, duftenden, durchscheinenden Stunden« (heures silencieuses, sonores, odorantes et limpides).8 Die Zeit verdichtet sich zu »undurchlässigen Gefäßen (vases clos), von denen jedes Objekte von absolut verschiedener Farbe, Duftbeschaffenheit und Temperatur enthält« (dont chacun serait rempli de choses d’une couleur, d’une odeur, d’une température absolument différentes).9 Dieses mit Düften erfüllte Gefäß (un vase rempli de parfums)10 ist zwar insofern ein »außerzeitlicher« (extra-temporel) Ort, als dort nichts verrinnt, nichts einer temporalen Dissoziation unterworfen ist. Aber es wird nicht von einer zeitlosen Transzendenz gespeist. Die wohlduftende »himmlische Speise« (la céleste nourriture)11 besteht aus temporalen Ingredienzien. Ihr Duft ist nicht der einer zeitlosen Ewigkeit. Prousts Strategie der Dauer läßt die Zeit duften. Sie setzt voraus, daß man geschichtlich existiert, daß man einen Lebenslauf hat. Ihr Duft ist ein Duft der Immanenz. Interessanterweise entfaltet sich der betörende Duft der Zeit am realen Duft. Offenbar ist der Geruchssinn ein Organ der Erinnerung und Wiedererweckung. Die »mémoire involontaire« wird zwar auch durch die taktile (die Steife der gestärkten Serviette oder die Empfindung der ungleich hohen Pflastersteine), die akustische (das Geräusch des Löffels auf einem Teller) und die visuelle Erfahrung (der Anblick der Kirchtürme von Martinville) verursacht. Aber gerade die vom Geruch und Geschmack von Tee ausgelöste Erinnerung verströmt einen besonders intensiven Duft der Zeit. Sie läßt die ganze Welt der Kindheit wieder auferstehen. Düfte und Gerüche reichen offenbar sehr tief in die Vergangenheit hinein, streifen weite Zeiträume. So bilden sie das Gerüst für die frühesten Erinnerungen. Aus einem einzigen Duft aufersteht ein verloren geglaubtes Universum der Kindheit: »[…] wie in den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstücke werfen, die, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farbe annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusammenhängenden und erkennbaren Figuren werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leuchten aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Um8 | Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, a.a.O., Du côté de chez Swann, Bd. 1, S. 119.

9 | Marcel Proust: Le temps retrouvé, a.a.O., S. 12. 10 | Ebd., S. 35. 11 | Ebd., S. 15.

50 | Duft der Zeit gebung, alles deutlich und greif bar, die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse Tee.«12 Ein »beinahe unwirklich winziges Tröpfchen« von Tee ist so weiträumig, daß ein »immenses Gebäude der Erinnerung« darin Platz findet. Geschmack (le goût) und Geruch (l’odeur) überleben das Ableben der Personen und den Untergang der Dinge. Sie sind Inseln der Dauer im reißenden Fluß der Zeit: »Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen […].«13 In »Understanding Media« verweist McLuhan auf ein interessantes Experiment, das eine gleichsam physiologische Grundlage für Prousts Madeleine-Erfahrung zu liefern scheint. Stimulierungen von Gehirngewebe während Kopfoperationen erwecken viele Erinnerungen. Dabei sind sie von besonderen Düften und Gerüchen durchtränkt und durch sie zu einer Einheit verbunden und bilden das Gerüst der frühen Erfahrungen.14 Der Duft ist gleichsam geschichtsträchtig. Er ist mit Geschichten, mit narrativen Bildern erfüllt. Der Geruchssinn ist, wie McLuhan bemerkt, »bildsymbolisch« (iconic). Er ist, so könnte man auch sagen, der episch-narrative Sinn. Er verbindet, verwebt, verdichtet temporale Ereignisse zu einem Bild, zu einem narrativen Gebilde. Der bild- und geschichtsträchtige Duft stabilisiert wieder das von der Dissoziation bedrohte Ich, indem er es in eine Identität, in ein Selbstbildnis einrahmt. Eine zeitliche Erstrecktheit läßt es zu sich selbst kommen. Beglückend ist diese Rückkehr-zu-sich. Wo es duftet, sammelt es sich. Der Duft ist träge. So ist er auch in medialer Hinsicht der Epoche der Hast nicht angemessen. Düfte kann man nicht so schnell aufeinanderfolgen lassen wie optische Bilder. Im Gegensatz zu diesen lassen sie sich ebensowenig beschleunigen. Eine von Düften beherrschte Gesellschaft würde wahrscheinlich auch keine Neigung zur Veränderung und Beschleunigung entwickeln. Sie würde sich von der Erinnerung und dem Gedächtnis nähren, von dem Langsamen und dem Langen. Die Epoche der Hast ist dagegen eine »kinematographische«, weitgehend visuell geprägte Zeit. Sie beschleunigt die Welt zu einem

12 | Marcel Proust: In Swanns Welt, a.a.O., S. 67. 13 | Ebd., S. 66f. 14 | Marshall McLuhan: Understanding Media, Düsseldorf/Wien 1968, S. 159.

Duftendes Zeitkristall | 51 »kinematographischen Ablauf der Dinge«.15 Die Zeit zerfällt zu einer bloßen Abfolge von Gegenwarten. Die Epoche der Hast ist eine Epoche ohne Duft. Der Duft der Zeit ist eine Erscheinung der Dauer. So entzieht er sich der »Aktion« (l’action), dem »unmittelbaren Genuß« (la jouissance immédiate).16 Er ist indirekt, umweghaft und vermittelt. Prousts narrative Zeitpraxis wirkt der temporalen Dissoziation entgegen, indem sie die Ereignisse einrahmt, zu einer zusammenhängenden Ganzheit bündelt oder zu Epochen gliedert. Sie werden re-assoziiert. Ein Beziehungsnetz aus Ereignissen läßt das Leben von schierer Kontingenz befreit erscheinen. Es verleiht ihm eine Bedeutsamkeit. Proust ist offenbar davon überzeugt, daß das Leben in seiner Tiefenschicht ein dicht gewebtes Netz von zusammenhängenden Begebenheiten darstellt, »daß es unauf hörlich […] zwischen den Ereignissen neue Fäden spinnt, […] so daß zwischen dem geringsten Punkt unserer Vergangenheit und allen anderen ein reiches Netz von Erinnerungen uns nur die Wahl der Verbindungswege läßt«.17 Der Beziehungslosigkeit der punktuellen Gegenwart, zu der die Zeit zu zerfallen droht, setzt Proust ein temporales Gewebe von Bezügen und Ähnlichkeiten entgegen. Man braucht nur tiefer ins Sein hineinzublicken, um zu erkennen, daß alle Dinge miteinander verwoben sind, daß jedes geringste Ding mit einer Weltganzheit kommuniziert. Die Epoche der Hast hat aber keine Zeit, die Wahrnehmung zu vertiefen. Allein in der Tiefe des Seins tut sich ein Raum auf, wo alle Dinge sich anschmiegen und miteinander kommunizieren. Gerade diese Freundlichkeit des Seins läßt die Welt duften. Auch die Wahrheit ist ein Beziehungsgeschehen. Sie geschieht, wenn Dinge aufgrund einer Ähnlichkeit oder einer anderen Nähe miteinander kommunizieren, wenn sie sich einander zuwenden und Beziehungen eingehen, ja sich anfreunden: »[…] die Wahrheit (la vérité) beginnt erst in dem Augenblick, in dem der Schriftsteller zwei verschiedene Objekte nimmt, die Beziehung zwischen ihnen herstellt […] und sie in die unerläßlichen Ringe eines schönen Stiles faßt; oder sogar erst, wenn er, wie es das Leben tut, auf eine Qualität verweist, die zwei Empfindungen gemeinsam ist, und ihre Essenz erst dadurch freimacht, daß er die eine mit der anderen, um sie den bloßen Zufälligkeiten der Zeit zu entheben, in einer Metapher vereinigt und beide durch das unbeschreiblich wirksame Band einer Wortverbin-

15 | Marcel Proust: Die wiedergefundene Zeit, a.a.O., S. 279. 16 | Marcel Proust: Le temps retrouvé, a.a.O., S. 14. 17 | Marcel Proust: Die wiedergefundene Zeit, a.a.O., S. 483.

52 | Duft der Zeit dung verknüpft.«18 Erst die Ähnlichkeits-, Freundschafts- oder Verwandtschaftsbeziehungen machen die Dinge wahr. Die Wahrheit ist der Zufälligkeit des bloßen Nebeneinander entgegengesetzt. Wahrheit bedeutet Bindung, Beziehung und Nähe. Allein intensive Beziehungen machen die Dinge erst wirklich: »Was wir Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Beziehung zwischen Empfindungen und Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben – eine Beziehung, die bei einer einfachen kinematographischen Wiedergabe verloren gehen würde, […] eine einzigartige Beziehung, die der Schriftsteller wiederfinden muß, um für immer in seinem Satz die beiden verschiedenen Pole miteinander zu verbinden.«19 Auch die Bildung von Metaphern ist insofern eine Wahrheitspraxis, als sie ein reiches Netz von Beziehungen knüpft, als sie Verbindungs- und Kommunikationswege zwischen den Dingen freilegt. Sie wirkt der Atomisierung des Seins entgegen. Sie ist insofern auch eine Zeitpraxis, als sie der schnellen Abfolge von für sich isolierten Ereignissen die Dauer, ja die Treue einer Beziehung entgegensetzt. Metaphern sind Düfte der Dinge, die diese freisetzen, wenn sie sich befreunden. Der »unmittelbare Genuß« ist zum Schönen nicht fähig, denn die Schönheit einer Sache erscheint »erst viel später« im Licht einer anderen, ja in der Bedeutsamkeit einer Reminiszenz. Das Schöne verdankt sich einer Dauer, einer kontemplativen Zusammenfassung. Schön ist nicht der augenblickliche Glanz oder Reiz, sondern ein Nachleuchten, eine Phosphoreszenz der Dinge. Der »kinematographische Ablauf der Dinge« ist nicht die Temporalität des Schönen. Die Epoche der Hast, ihre »kinematographische« Abfolge punktueller Gegenwarten hat keinen Zugang zum Schönen oder zum Wahren. Erst im kontemplativen Verweilen, ja in einer asketischen Zurückhaltung enthüllen die Dinge ihre Schönheit, ihre duftende Essenz. Sie besteht aus temporalen Ablagerungen, die phosphoreszieren.

18 | Ebd., S. 289. 19 | Ebd., S. 288f.

Z EIT

DES

E NGEL S

Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen […]. Ein jeder Engel ist schrecklich. Rainer Maria Rilke

Das vielfach beschworene Ende der großen Erzählung ist das Ende der epischen Zeit, das Ende der Geschichte als intrigue, die Ereignisse auf eine narrative Bahn zwingt und dadurch einen Zusammenhang, eine Bedeutsamkeit ersinnt. Das Ende der Narration ist vor allem eine Zeitkrise. Es zerstört jene temporale Gravitation, die Vergangenes und Zukünftiges in die Gegenwart versammelt. Bleibt die temporale Versammlung aus, so zerfällt die Zeit. Die Postmoderne ist nicht identisch mit einer naiv jubilatorischen Affirmation des Endes der narrativen Zeit. Die Vertreter der Postmoderne entwerfen vielmehr unterschiedliche Zeit- und Seinsstrategien, die dem Zerfall der Zeit, der Entzeitlichung entgegenwirken. Auch Derridas Messianismus stellt die temporale Gravitation wieder her, ohne in das alte Erzähl- und Identitätsschema zurückzufallen. Sie entspringt der messianischen Zukunft. Derrida würde selber nicht bestreiten, daß das menschliche Leben immer einer Konstruktion bedarf. Die Narration ist nicht die einzig mögliche Konstruktion der Lebenszeit.

54 | Duft der Zeit Das Ende des Erzählens reduziert das Leben nicht notwendig auf das bloße Zählen. Erst außerhalb der Erzählung, nämlich der intrigue, die auf Sinn und Ersinnen aus ist, kann eine Tiefenschicht des Seins, ja erst das Sein offenbar werden. Heideggers Wendung ins Sein ist auch eine Folge der narrativen Krise. Außerdem sind Erzählen und Zählen nicht grundsätzlich verschieden. Das Erzählen ist ein besonderer Modus des Zählens. Es baut einen Spannungsbogen auf, der die Abfolge von Ereignissen mit Sinn auflädt. Über das bloße Zählen hinaus verkettet er sie zu einer Geschichte. Das Sein geht aber in Zahl und Zählung, in Aufzählung und Erzählung nicht auf. Angesichts der Krise des Sinns vollzieht auch Lyotard eine Wendung ins Sein. Dabei wendet er die narrative Sinnleere in eine besondere Seinserfahrung. Der Unterschied zwischen dem Sinn und dem Sein bildet eine ontologische Differenz. Im Zeitalter der Narration und Geschichte tritt das Sein zurück zugunsten des Sinns. Wo aber der Sinn im Zug der Entnarrativisierung zurückweicht, kündigt sich das Sein an. Ereignisse verweisen dann nicht mehr auf ihren narrativen Sinngehalt, nicht auf ihr Was, sondern auf ihr Daß. Daß es geschieht, ist für Lyotard keine bloße Tatsache. Vielmehr verweist es auf das Seinsgeschehen selbst. In dieser Wendung ins Sein ist er Heidegger benachbart. Vom Ende der Narration erwartet er sogar eine »Steigerung des Seins« (l’accroissement d’être).1 Das Ende der Narration hat eine temporale Konsequenz. Es beendet die lineare Zeit. Ereignisse werden nicht mehr zu einer Geschichte verkettet. Die narrative Verkettung, die einen Sinn stiftet, operiert mit einer Selektion. Sie regelt streng das Nacheinander von Gegebenheiten. Ein total beliebiges Nebeneinander von Sätzen ergibt keinen Sinn, bringt keine Geschichte hervor. So bringt die narrative Verkettung Dinge zum Verschwinden, die in eine narrative Ordnung nicht hineingehören. Die Narration ist in gewisser Hinsicht blind, denn sie schaut nur in eine Richtung. So wohnt ihr immer ein toter Winkel inne. Die Auflösung der narrativen Verkettung wirft die Zeit aus ihrer linearen Bahn. Der Zerfall der linear-narrativen Zeit stellt nicht notwendig eine Katastrophe dar. Auch Lyotard erblickt darin eine Möglichkeit der Befreiung. Die Wahrnehmung wird nämlich aus den Ketten der Narration, ja aus dem narrativen Zwang befreit. Sie beginnt zu schweben, hält sich in der Schwebe (suspens). So wird sie frei für narrativ ungebundene Ereignisse, für das Ereignis im eigentlichen Sinne. Ihr werden Dinge zugänglich, die auf der narrativen Bahn keinen Platz 1 | Jean-François Lyotard: Das Inhumane, Wien 1989, S. 163.

Zeit des Engels | 55 fänden, die dadurch inexistent würden. Das Schweben wird begleitet von der »Lust, das Unbekannte zu empfangen«.2 »Der Engel«, so heißt das kurze Motto, das Lyotard seinem Aufsatz »Der Augenblick, Newman« voranstellt. Mit dieser geheimnisvollen Engführung von Engel und Augenblick unternimmt Lyotard eine Mystifizierung der Zeit. Lyotard zufolge nimmt das Ende der Narration der Zeit nicht jede Gravitation. Es setzt vielmehr den »Augenblick« frei. Er ist kein Zerfallsprodukt, kein Zeitpartikel, das übrig bliebe nach der Auflösung der linearen Zeit. Ihm fehlt zwar der Tiefsinn. Aber er besitzt eine Seinstiefe. Seine Tiefe gilt aber der bloßen Präsenz des Da. Er re-präsentiert nichts. Er erinnert nur daran, »daß ›etwas da ist‹, bevor das, was da ist, irgendeine Bedeutung hat«.3 Das Da ist sein ganzer Inhalt. Lyotards Engel verkündet nichts, hat nichts mitzuteilen. Er glänzt in seiner bloßen Präsenz. Die Zeit vertieft sich vertikal, statt sich auf der narrativen Bahn horizontal zu erstrecken. Die narrative Zeit ist eine kontinuierliche Zeit. Ein Ereignis kündigt aus sich heraus das nächste Ereignis an. Ereignisse folgen aufeinander und ergeben einen Sinn. Nun reißt diese temporale Kontinuität ab. Es entsteht eine diskontinuierliche, zerklüftete Zeit. Ein Ereignis enthält in sich keinen Hinweis mehr darauf, daß es weiter geht, daß nach ihm ein weiteres Ereignis stattfinden wird. Es verspricht über seine augenblickliche Präsenz hinaus nichts. Es entsteht eine Zeit ohne Erinnerung und Erwartung. Ihr ganzer Inhalt erschöpft sich im nackten Da. Lyotard zitiert Barnett Newman: »Meine Bilder sind weder mit der Manipulation des Raumes noch mit der bildlichen Darstellung verbunden, sondern mit einer Zeitempfindung.« 4 Die Zeitempfindung (sensation de temps) ist kein Zeitbewußtsein. Ihr fehlt jede temporale Erstrecktheit, die eine Konstitutionsleistung des Bewußtseins wäre. Sie findet vor der Synthese des Bewußtseins statt. Es handelt sich nicht um eine Zeit, die bedeutet, sondern um eine Zeit, die affiziert. Augenblicklich erhebt sie sich wie eine »Affektwolke«5 und entschwindet wieder ins Nichts. Das Ereignis ist kein Thema, das dem Bewußtsein zugänglich wäre, sondern ein Trauma, das ins Bewußtsein nicht einzuholen ist, das sich dessen Kontrolle gänzlich entzieht oder es außer Kraft setzt. Lyotards Antwort auf den Zerfall der sinn-vollen Zeit ist kein ge2 3 4 5

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Ebd. Ebd., S. 155. Ebd., S. 153. Jean-François Lyotard: Postmoderne Moralitäten, Wien 1998, S. 207.

56 | Duft der Zeit wöhnlicher Nihilismus, sondern ein Animismus besonderer Art. Die primäre Sinnesempfindung hat zwar keinen Inhalt, der durch das Bewußtsein zu thematisieren wäre. Aber sie erweckt die Seele zum Leben. Sie entreißt sie dem Tod, der Lethargie, in die sie verfiele, wenn sie von ihr nicht animiert würde: »Die anima existiert nur dadurch, daß sie affiziert wird. Die angenehme oder unangenehme Empfindung kündigt der anima an, daß es sie nicht geben würde, daß sie nicht ›animiert‹ würde, wenn sie von nichts affiziert würde. Diese Seele ist nur das Erwachen einer Affi zierbarkeit, und diese bleibt so lange unaffiziert, wie sie nicht durch einen Klang, eine Farbe oder einen Geruch, also durch ein sinnliches Ereignis, erregt wird.«6 Die Seele, die durch die Primärempfindung zur Existenz erwacht, ist eine anima minima, eine Seele ohne Geist, die mit der Materie kommuniziert, eine Seele ohne Kontinuität und Gedächtnis, die sich der Psychoanalyse, ja jeder Hermeneutik gänzlich entzieht. Nach dem Ende der Narration entleert sich auch die Kunst Lyotard zufolge zu einer Kunst der bloßen Präsenz. Sie beruht allein auf dem »Wunsch, daß die Seele dem Tod entgehen möge«.7 Klänge, Farben und Stimmen werden der Bedeutungen entleert, die die Kultur ihnen beilegt. Diesseits ihrer kulturellen Bedeutsamkeit hat die Kunst die Aufmerksamkeit auf ihren Ereignischarakter zu lenken. Ihre Aufgabe besteht darin, darüber Zeugnis abzugeben, daß etwas geschieht: »Das aistheton ist ein Ereignis; die Seele existiert nur, wenn sie durch dieses stimuliert wird; wenn es fehlt, löst sie sich im Nichts des Unbeseelten auf. Die Kunstwerke haben die Aufgabe, diese wunderbare und prekäre Voraussetzung zu würdigen.«8 Die Seele verdankt ihre Existenz dem aistheton, dem sinnlichen Ereignis. Ohne das aistheton gibt es nur Anästhesie. Die Ästhetik ist ein Gegenrezept gegen die drohende Anästhesie. Lyotard ist der Ansicht, daß gerade das Ende der narrativen Zeit es möglich macht, dem »Mysterium des Seins«9 nahezukommen, daß es eine »Steigerung des Seins« zur Folge hat. Aber er marginalisiert zu sehr seine nihilistische Dimension. Der Zerfall des Zeitkontinuums macht die Existenz radikal fragil. Die Seele ist ständig der Gefahr des Todes, dem Schrecken des Nichts ausgesetzt, denn dem Ereignis, das sie dem Tod entreißt, fehlt jede Dauer. Die Intervalle zwischen Ereignissen sind Zonen des Todes. In dieser ereignislosen Zwischen-Zeit 6 7 8 9

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Ebd. Ebd., S. 209. Ebd. Jean-François Lyotard: Das Inhumane, a.a.O., S. 155.

Zeit des Engels | 57 verfällt die Seele in eine Lethargie. Die Freude am Sein vermischt sich mit einer Angst vor dem Tod. Auf die Exaltation folgt die Depression, ja eine ontologische Depression. Die Tiefe des Seins ist gleichzeitig dessen absolute Armut. Ihm fehlt ganz der Raum zum Wohnen. Darin unterscheidet sich Lyotard radikal von Heidegger. Lyotards Mysterium des Seins gilt dem bloßen Da-sein. Die »anima minima«, die am Mysterium des Seins teilhat, ist letzten Endes die Seele der einfachsten Monade, jene vegetative Seele, die über kein Bewußtsein, über keinen Geist verfügt. Sie kennt nur zwei Zustände: Entsetzen und Euphorie, Schrecken des drohenden Todes und Erleichterung oder Freude darüber, ihm doch entkommen zu sein. Man könnte nicht einmal von der Freude sprechen, denn diese ist eine Leistung des Bewußtseins. Lyotards zerklüftete, diskontinuierliche Ereignis-Zeit am Abgrund des Seins ist keine Zeit des Lebens oder des Wohnens. Leben ist mehr als Vegetieren, mehr als bloßes Wachsein. Das Ende der narrativen Zeit muß nicht notwendig zu einer vegetativen Zeit führen. Es gibt eine Zeit des Lebens, die weder narrativ noch vegetativ ist, die jenseits von Thema und Trauma angesiedelt ist.

Duftende Uhr: Ein kurzer Exkurs ins alte China

Blumen ragen rot aus der Vase Weihrauch steigt auf in Spiralen. Weder Fragen noch Antworten, das Ruyi1 achtlos am Boden. Dian ließ den Ton seiner Zither vergehen, Zhao enthielt sich des Seitenspiels: In all dem ist eine Melodie, die man singen und nach der man tanzen kann. Su Dongpo2

In China war eine hsiang yin (wörtlich: Duftsiegel) genannte Weihrauch-Uhr bis Ende des 19. Jahrhunderts im Gebrauch. Die Europäer hielten sie bis Mitte des 20. Jahrhunderts für ein gewöhnliches Räuchergefäß. Offensichtlich war ihnen die Idee einer Zeitmessung mit Weihrauch fremd, vielleicht die Vorstellung überhaupt, daß die Zeit die Form eines Duftes annehmen könnte.3 Diese Uhr heißt deshalb 1 | Ruyi heißt wörtlich: »alles nach Wunsch«. Es ist ein reich verziertes Zepter aus Holz, Jade oder Elfenbein, das dem Besitzer Glück, Langlebigkeit und Wohlstand zu bringen hat. Es kann aber auch Rückenkratzer bedeuten.

2 | Zitiert in: François Jullien: Über das Fade – Eine Eloge, Berlin 1999, S. 81.

3 | Erst eine genaue Dokumentation durch Silvio A. Bedini (Curator, Division of Mechanical and Civil Engineering) machte auch den Westen auf diese fernöstliche Praxis der Zeitmessung aufmerksam. Vgl. Silvio A. Bedini:

60 | Duft der Zeit »Duftsiegel«, weil ihr abbrennbares Teil aus Weihrauch ein siegelförmiges Gebilde darstellt. Von einem solchen Duftsiegel berichtet Tso Kuei: »Engraved into wood, patterns in the form of seal script characters are revealed when the incense in them is burned at drinking parties or before images of Buddha.« 4 Das Weihrauch-Siegel ist eine Figur aus einem durchgehenden Strang, so daß die Glut es ganz durchwandern kann. Eine Schablone, die häufig ein Schrift-Muster enthält, wird mit zerriebenem Weihrauch gefüllt. Wird sie gehoben, entsteht ein Schriftbild aus Weihrauch. Es besteht entweder aus einem einzigen Zeichen, häufig fu (Glück), oder aus mehreren Zeichen, die zusammen auch ein Kôan5 bilden können. How many lives before I obtain my fl owers. 6 So lautet ein rätselhaftes Kôan auf einem Weihrauch-Siegel. Eine Blume in der Mitte des Siegels ersetzt das Wort »my flowers«. Das Siegel ist selbst wie eine Pflaumenblüte geformt. Die Glut zeichnet das Blumen-Kôan gleichsam nach, indem sie das ganze Siegel Zeichen für Zeichen durchwandert, d.h. abbrennt. Hsiang yin heißt eigentlich die ganze Vorrichtung der WeihrauchUhr, die aus mehreren Teilen besteht. Das Duft-Siegel aus Weihrauch brennt in einer reich verzierten Dose, geschützt vom Luftzug durch einen Deckel mit den ebenfalls zu Schriftzeichen oder anderen Symbolen gestalteten Öff nungen. In die Dose sind oft Texte philosophischen oder poetischen Inhaltes eingraviert. Die ganze Uhr ist also umrankt von duftenden Worten und Bildern. Schon die ganze Bedeutungsfülle der eingravierten Verse verströmt einen Duft. Ein hsiang yin, dessen Deckel eine blumenförmige Öffnung hat, trägt folgendes Gedicht auf einer seiner Seitenwände: You see the flowers You listen to the bamboo And your heart will be at peace. Your problems will be cleared away. The Scent of Time. A Study of the Use of Fire and Incense for Time Measurement in Oriental Countries, in: Transactions of The American Philosophical Society, Vol. 53, Part 5. 1963. Diese sehr gut recherchierte Studie war offenbar auch McLuhan bekannt. Vgl. Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Men, London 1964, S. 145ff.

4 | Zitiert in: Silvio A. Bedini: The Trail of Time. Time measurement with incense in East Asia, Cambridge 1994, S. 103.

5 | Kôan heißt der sehr prägnant formulierte, oft rätselhafte Spruch, den der Zen-Meister zur geistigen Übung seinen Schülern vorlegt.

6 | Vgl. Silvio A. Bedini: The Trail of Time, a.a.O., Figure 108.

Duftende Uhr: Ein kurzer Exkurs ins alte China | 61 The ground burns Fragrant music You will have …7 Der Weihrauch als Medium der Zeitmessung unterscheidet sich in vieler Hinsicht vom Wasser oder vom Sand. Die Zeit, die duftet, verfließt oder verrinnt nicht. Und nichts entleert sich. Der Duft des Weihrauchs füllt vielmehr den Raum. Ja er verräumlicht die Zeit, gibt dieser dadurch den Schein einer Dauer. Die Glut läßt den Weihrauch zwar unablässig in Asche übergehen. Aber die Asche zerfällt nicht in Staub. Sie behält vielmehr die Form des Schriftzuges. So verliert das Weihrauch-Siegel selbst als Asche nichts an Bedeutung. Die Vergänglichkeit, an die möglicherweise die unauf haltsam vorrückende Glut gemahnt, weicht der Empfindung einer Dauer. Das hsiang yin duftet wirklich. Der Duft von Weihrauch intensiviert den Duft der Zeit. Darin besteht die Raffinesse dieser chinesischen Uhr. Das hsiang yin zeigt die Stunde im duftenden Fluidum der Zeit an, das weder verfließt noch verrinnt. I sit at peace – burning an incense seal, Which fills the room with scent of pine and cedar. When all the burning stops, a clear image is seen, Of the green moss upon the epigraph’s carved words. 8 Der Weihrauch füllt den Raum mit dem Pinien- und Zedernduft. Der duftende Raum beruhigt und befriedet den Dichter. Auch die Asche gemahnt nicht an die Vergänglichkeit. Sie ist das »grüne Moos«, das das Schriftbild sogar hervorhebt. Still steht die Zeit in den Düften von Pinien und Zedern. Sie kommt im »klaren Bild« gleichsam zum Stehen. Eingerahmt in eine Figur, verrinnt sie nicht. Sie ist gehalten, ja angehalten im Duft, in dessen zögernder Weile. Auch die Rauchwolken, die vom Weihrauch aufsteigen, werden figural wahrgenommen. Ting Yün schreibt: Butterflies appear as if in a dream, Twisting and reeling about like dragons,

7 | Vgl. ebd., Figure 69. 8 | Zitiert in: ebd., S. 130.

62 | Duft der Zeit Like birds, like the phoenix, Like worms in spring, like snakes in the fall. 9 Die Fülle von Figuren läßt die Zeit wie zu einem Gemälde gerinnen. Zeit wird Raum. Auch das räumliche Nebeneinander von Frühling und Herbst hält die Zeit an. Es entsteht ein Stilleben der Zeit. Dem Dichter Ch’iao Chi erscheint die Rauchwolke des hsiang yin wie eine alte Schrift, die ihm ein tiefes Gefühl der Dauer vermittelt. Like billowing silks, sinuous, cloud-tipped Smoke has written ancient script, From the last of the incense ash to burn. There lingered warmth in my precious urn, While moonlight had already died In the garden pool outside. 10 Es handelt sich um ein Gedicht an die Dauer. Während das Mondlicht im Gartenteich längst erloschen ist, ist die Asche nicht ganz erkaltet. Das Weihrauchgefäß strahlt noch die Wärme aus. Die Wärme hält an. Diese zögernde Weile beglückt den Dichter. Der chinesische Dichter Hsieh Chin (1260-1368) schreibt zu dem aufsteigenden Rauch des Duftsiegels: Smoke from an incense seal marks the passing Of a fragrant afternoon. 11 Der Dichter bedauert hier nicht, daß ein schöner Nachmittag vorbei ist, denn jede Zeit besitzt einen Eigenduft. Warum das Vorbeigehen des Nachmittags bedauern? Auf den Duft des Nachmittags folgt der Wohlgeruch des Abends. Und die Nacht verströmt ihren eigenen Duft. Diese Düfte der Zeit sind nicht narrativ, sondern kontemplativ. Sie sind nicht in ein Nacheinander gegliedert. Vielmehr ruhen sie in sich. Hundert Blumen im Frühling, im Herbst der Mond – Ein kühler Wind im Sommer, im Winter Schnee. Wenn am Geist nichts Unnützes haftet, Dies fürwahr ist für den Menschen gute Zeit.12 9 | Zitiert in: ebd., S. 121. 10 | Zitiert in: Silvio A. Bedini: The Trail of Time, a.a.O., S. 136. 11 | Zitiert in: ebd., S. 137. 12 | Mumonkan: Die Schranke ohne Tor. Meister Wu-men’s Sammlung

Duftende Uhr: Ein kurzer Exkurs ins alte China | 63 Zugang zur guten Zeit hat jener Geist, der sich des »Unnützen« entleert. Gerade die Leere des Geistes, die diesen vom Begehren befreit, vertieft die Zeit. Diese Tiefe verbindet jeden Zeitpunkt mit dem ganzen Sein, mit dessen duftender Unvergänglichkeit. Es ist das Begehren selbst, das die Zeit radikal vergänglich macht, indem es den Geist fortstürzen läßt. Wo er still steht, wo er in sich ruht, entsteht die gute Zeit.

der achtundvierzig Kôan, übers. und erläut. von H. Dumoulin, Mainz 1975, S. 85.

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Duft der Pinien – Eine Eidechse huscht über den heißen Stein.

Im Jahr 1927 erscheint in Paris »Le Temps retrouvé«. Im gleichen Jahr erscheint in Deutschland Heideggers »Sein und Zeit«. Es gibt zahlreiche Koinzidenzen zwischen beiden zunächst so unterschiedlich wirkenden Werken. Wie Prousts Zeitprojekt wendet sich »Sein und Zeit« gegen die fortschreitende Dissoziation der menschlichen Existenz, gegen den Zerfall der Zeit zu bloßer Abfolge punktueller Gegenwart. Entgegen dem Anspruch Heideggers, mit »Sein und Zeit« eine allzeit gültige Phänomenologie der menschlichen Existenz vorzulegen, ist sein Werk in Wirklichkeit ein Produkt seiner Zeit. Zeitspezifische Prozesse und zeitunabhängige Eigenschaften der menschlichen Existenz vermengen sich. So führt Heidegger die »Zerstörung der alltäglichen Welt« durch Beschleunigung problematischerweise auf jene dem Dasein wesenhaft innewohnende »Tendenz auf Nähe« zurück: »Dasein ist wesenhaft ent-fernend, es läßt als das Seiende, das es ist, je Seiendes in die Nähe begegnen. […] Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe. Alle Arten der Steigerung der Geschwindigkeit, die wir heute mehr oder minder gezwungen mitmachen, drängen auf Überwindung der Entferntheit. Mit dem ›Rundfunk‹ zum Beispiel vollzieht das Dasein heute eine in ihrem Daseinssinn noch nicht übersehbare Entfernung der ›Welt‹ auf dem Wege einer Erweiterung und Zerstörung der alltäglichen Umwelt.«1 Inwiefern hat die »Ent-fernung« als Seins1 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S. 105.

66 | Duft der Zeit weise des Daseins, vermittels deren ich meine Umgebung räumlich erschließe, mit jener entfesselten Beschleunigung zu tun, die der Aufhebung des Raums selbst zusteuert? Heidegger erkennt offenbar nicht, daß die Epoche der Radiophonie, ja die »Epoche der Hast« auf Kräften beruht, die über jene dem Dasein wesenhaft innewohnende »Tendenz auf Nähe« weit hinausgeht, die eine räumliche Orientierung erst möglich macht. Eine Total-Entfernung des Raumes ist etwas ganz anderes als jene »Ent-fernung«, die das Dasein räumlich existieren läßt. Neue Medien schaffen den Raum selbst ab. Hyperlinks lassen auch Wege verschwinden. Die elektronische Post muß nicht Berge und Ozeane überwinden. Sie ist, genau genommen, auch kein »Zuhandenes« mehr. Statt »zu Händen« gelangt sie direkt ins Auge. Die Epoche der neuen Medien ist eine Epoche der Implosion. Raum und Zeit implodieren zum Hier und Jetzt. Ent-fernt wird alles. Es gibt keine geheiligten Räume mehr, die man nicht ent-fernen dürfte, d.h. Räume, zu deren Wesen ein Ausgespartsein gehörte. Räume, die duften, sparen ihr Erscheinen. Ihnen wohnt eine auratische Ferne inne. Der kontemplative, verweilende Blick ist nicht ent-fernend. In den späten Schriften wendet sich Heidegger selbst gegen die schrankenlose Entfernung der Welt. So ist der Ursprung etwas, was »im Entzug zögert und sich spart«.2 Er verausgabt sich oder veräußert sich nicht. Die Nähe zum Ursprung ist, so Heidegger, eine »sparende Nähe«.3 Das »Man«, das Heidegger zu einer ontologischen Konstanz generalisiert, ist in Wirklichkeit eine Erscheinung seiner Zeit. Es ist gleichsam ein Zeitgenosse Heideggers. So entspricht die Zeiterfahrung des »Man« genau jener »kinematographischen« Zeit, die Proust zufolge die »Epoche der Hast« charakterisiert. Die Zeit ist zu bloßer Abfolge punktueller Gegenwart zerstreut. »Man« ist »so wenig an die ›Sache‹ hingegeben, daß es im Gewinnen der Sicht auch schon wegsieht auf ein Nächstes«. 4 »Man« zappt sich durch die Welt. So spricht Heidegger vom »zerstreuten Unverweilen« oder von der »Aufenthaltslosigkeit«. Früh erkennt Heidegger, daß die Seinsleere mit der Beschleunigung des Lebensprozesses einhergeht. In der Vorlesung von 1929/30 heißt es: »Warum finden wir für uns keine Bedeutung, d.h. keine wesentliche Möglichkeit des Seins mehr? Weil uns gar aus allen Dingen eine Gleichgültigkeit angähnt, deren Grund wir nicht wissen? Aber wer will so sprechen, wo der Weltverkehr, die Technik, die Wirtschaft 2 | Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 169. 3 | Martin Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Gesamtausgabe Bd. 4, Frankfurt a.M. 1981, S. 25.

4 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S. 347.

Reigen der Welt | 67 den Menschen an sich reißen und in Bewegung halten?«5 Heidegger führt die allgemeine Hast auf das Unvermögen zurück, die Stille, das Lange und Langsame zu vernehmen. Wo die Dauer ausbleibt, setzt die Beschleunigung als rein quantitative Steigerung ein, um den Mangel an Dauer, ja den Mangel an Sein wettzumachen: »Die Schnelligkeit – […] das Nichtaushalten in der Stille des verborgenen Wachsens […] rein mengenmäßige Steigerung, die Blindheit gegen das wahrhaft Augenblickliche, das nicht flüchtig, sondern die Ewigkeit eröffnend.«6 Heideggers Zeitphilosophie ist gekoppelt an seine Zeit. So gelten auch seine zeitkritischen Äußerungen, etwa zur ständigen Zeitnot, seiner Zeit: »Warum haben wir keine Zeit? Inwiefern wollen wir keine Zeit verlieren? Weil wir sie brauchen und verwenden wollen. Wofür? Für unsere alltäglichen Beschäftigungen, deren Sklaven wir längst geworden sind. […] Am Ende ist dieses Keine-Zeit-haben eine größere Verlorenheit des Selbst als jenes sich Zeit lassende Zeitverschwenden.« 7 Beschworen wird das »Wesentliche im Dasein«, das »durch keine Betriebsamkeit und Hetze erzwungen werden kann«. Die »eigentliche« Existenz ist »langsam«. Heidegger wendet sich explizit gegen die »Moderne«,8 die durch punktuelle Gegenwart und Diskontinuitäten gekennzeichnet ist. Das »Man« als charakteristische Erscheinung der Moderne nimmt nur die schmale Aktualitätsspitze wahr. So hetzt es von einer Gegenwart zur anderen. Der Zerfall der Zeit erfaßt auch die Identität des Daseins. Das Dasein ist »zerstreut« »in das Vielerlei dessen, was täglich ›passiert‹«.9 Es ist »verloren« in die »Gegenwärtigung des Heute«. Dadurch verliert es die Kontinuität seiner selbst. Die Epoche der Hast ist eine Epoche der »Zerstreuung«. So erwacht das Bedürfnis, sich »aus der Zerstreuung und dem Unzusammenhang« »zusammenzuholen«. Die narrative Identität stellt aber nur einen Zusammenhang her. Heideggers Identitätsstrategie gilt dagegen der Gewinnung einer »ursprünglichen, unverlorenen, eines Zusammenhangs unbedürftigen Erstrecktheit der 5 | Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Gesamtausgabe Bd. 29/30, Frankfurt a.M. 1983, S. 115.

6 | Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie, Gesamtausgabe Bd. 65, Frankfurt a.M. 1989, S. 121.

7 | Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, a.a.O., S. 195. 8 | Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S. 391: »Gewärtig des nächsten Neuen hat es (sc. das Man) auch schon das Alte vergessen. […] Die uneigentlich geschichtliche Existenz […] sucht, beladen mit der ihr selbst unkenntlich gewordenen Hinterlassenschaft der ›Vergangenheit‹, das Moderne.«

9 | Ebd., S. 389.

68 | Duft der Zeit ganzen Existenz«,10 nämlich einer »erstreckten Ständigkeit […] in der das Dasein als Schicksal Geburt und Tod und ihr ›Zwischen‹ in seine Existenz ›einbezogen‹ hält«. Die »schicksalhaft ganze Erstrecktheit«, nämlich die Geschichte ist mehr als eine Erzählung, die einen Zusammenhang stiftet. Sie ist kein narrativ hergestelltes Bild, sondern eine vor-narrative Einrahmung, die »Geburt und Tod und ihr ›Zwischen‹« umfaßt. Diesseits narrativer Konstruktion seiner Identität vergewissert sich das Dasein seiner selbst. Heideggers Zeit- und Identitätsstrategie ist eine Antwort auf die narrative Krise seiner Zeit. Sie formuliert eine Identität, die noch möglich wäre in der Epoche einer allgemeinen Entnarrativisierung. »Sein und Zeit« liegt die zeitbedingte Einsicht zugrunde, daß der Verlust einer geschichtlichen Bedeutsamkeit die Zeit zu einer sich beschleunigenden Abfolge für sich isolierter Ereignisse zerfallen läßt, daß die Zeit aufgrund einer fehlenden Gravitation oder Verankerung im Sinn halt- und ziellos fortstürzt. Heideggers Zeitstrategie besteht darin, die Zeit wieder zu verankern, ihr eine Bedeutsamkeit, einen neuen Halt zu geben, sie wieder in einen geschichtlichen Zug einzuspannen, so daß sie sich nicht zu einem sinnentleerten, sich beschleunigenden Nacheinander von Ereignissen zerstreut. Gegen das drohende Ende der Geschichte beschwört Heidegger emphatisch die Geschichte. Er weiß aber wohl, daß die Schwerkraft, die geschichtliche Bedeutsamkeit, die die Zeit wieder ins Lot zu bringen hat, nicht theologischer oder teleologischer Natur sein kann. So weicht er auf einen existenziellen Geschichtsbegriff aus. Die geschichtliche Zugkraft geht nun von der Emphase des Selbst aus. Heidegger bündelt die Zeit, indem er die Zeithorizonte auf das Selbst hin verschränkt. Die Geschichte als gerichtete Zeit schützt die Zeit vor dem Zerfall, vor der Zerstreuung in bloße Abfolge punktueller Gegenwarten. Richtung gibt dabei das Selbst. Die »Ständigkeit des Selbst«, diese Essenz der eigentlichen Geschichtlichkeit ist die Dauer, die nicht vergeht. Sie verfließt nicht. Der eigentlich Existierende hat gleichsam immer Zeit. Er hat deshalb immer Zeit, weil Zeit Selbst ist. Er verliert keine Zeit, weil er sich nicht verliert: »So wie der uneigentlich Existierende ständig Zeit verliert und nie solche ›hat‹, so bleibt es die Auszeichnung der Zeitlichkeit eigentlicher Existenz, daß sie in der Entschlossenheit nie Zeit verliert und ›immer Zeit hat‹.« 11 Die knappe Zeit dagegen ist ein Symptom uneigentlicher Existenz. Das Dasein in seiner uneigentlichen Existenz verliert seine Zeit, weil er sich verliert an die Welt: »An 10 | Ebd., S. 390. 11 | Ebd., S. 410.

Reigen der Welt | 69 das Besorgte vielgeschäftig sich verlierend, verliert der Unentschlossene an es seine Zeit. Daher denn die für ihn charakteristische Rede: ›ich habe keine Zeit‹.« Heideggers Zeitstrategie besteht letzten Endes darin, ›Ich habe keine Zeit‹ in ›Ich habe immer Zeit‹ zu verwandeln. Sie ist eine Strategie der Dauer, ein Versuch, die verlorene Herrschaft über die Zeit wieder herzustellen, und zwar kraft einer existenziellen Mobilmachung des Selbst. In den späteren Schriften entfernt sich Heidegger immer mehr vom geschichtlichen Zeitmodell. An die Stelle der Geschichte treten Jahreszeiten oder andere Figuren der Wiederholung: »In der jahreszeitlich wechselnden Luft des Feldweges gedeiht die wissende Heiterkeit […]. Auf seinem Pfad begegnen sich der Wintersturm und der Erntetag, treffen sich das regsam Erregende des Frühjahrs und das gelassene Sterben des Herbstes, erblicken einander das Spiel der Jugend und die Weisheit des Alters. Doch in einem einzigen Einklang, dessen Echo der Feldweg schweigsam mit sich hin und her trägt, ist alles verheitert.«12 Der »stille Einklang« der Jahreszeiten und dessen Widerhall, der anhält, ja sich erneuert im »hin und her«, suggerieren eine Dauer. Die Welt ist ein in sich schwingender Klangraum, in dem nichts verklingt oder vergeht. Das »sammelnde Spiel«, das nichts dem Verschwinden, der Zerstreuung preisgibt, erzeugt eine erfüllte Dauer: »In der Kühle des Herbsttages vollendet sich das Feuer des Sommers ins Heitere. […] Das Heitere der Herbstkühle, die den Sommer in sich geborgen, umschwebt diesen Feldweg jedes Jahr mit ihrem sammelnden Spiel.« 13 Heidegger greift immer wieder auf die Figur des Hin und Her zurück. Sie ist eine Gegenfigur der geschichtlichen Zeit. Im Hin und Her kommt die Zeit gleichsam zum Stehen. Es ent-steht eine Dauer. Heideggers Gedicht »Zeit« lautet: »Wie weit?/Erst wenn sie steht, die Uhr,/im Pendelschlag des Hin und Her,/hörst Du: sie geht und ging und geht/nicht mehr./Schon spät am Tag die Uhr,/nur blasse Spur zur Zeit,/die, nah der Endlichkeit,/aus ihr ent-steht.« 14 Das »Hin und Her« stellt die Dauer im zyklischen Wechsel her. Auch Heideggers »Feldweg« ist wie eine Pendeluhr konstruiert. So beginnt »Der Feldweg« mit dem Wort: »Er läuft aus dem Hofgartentor zum Ehnried.« Gegen Ende der Schrift heißt es: »Vom Ehnried her kehrt der Weg zurück 12 | Martin Heidegger: Der Feldweg, in: Aus der Erfahrung des Denkens, Gesamtausgabe Bd. 13, Frankfurt a.M. 1983, S. 87-90, hier: S. 90.

13 | Martin Heidegger: Feldweg-Gespräche, Gesamtausgabe Bd. 77, Frankfurt a.M. 1995, S. 4.

14 | Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.O., S. 221.

70 | Duft der Zeit zum Hofgartentor.« Sein Hin und Her macht den Feldweg zu einer Figur der Wiederholung und der Sammlung. Nichts schreitet fort, ohne zurückzukehren. Alles Hin wird wie in einem Echo aufgefangen vom Her. Dieses Hin- und Zurück spiegelt sich auch im Spiel der Kinder: »Aus der Eichenrinde […] schnitten die Buben ihre Schiffe, die mit Ruderbank und Steuer ausgerüstet im Mettenbach oder im Schulbrunnen schwammen. Die Weltfahrten der Spiele kamen noch leicht an ihr Ziel und fanden wieder an die Ufer zurück.«15 Nichts verliert sich ins Unbestimmte. Und nichts ist Veränderungen unterworfen. Der Feldweg ist ein stiller Ort ewiger Wiederholung. Alles bleibt gesammelt: »Was um den Weg sein Wesen hat, sammelt er ein und trägt jedem, der auf ihm geht, das Seine zu.« Alles ruht im zeitlos gültigen »Wesen«, in einer ewigen Gegenwart. Das Hin und Her des Feldweges stillt die Welt in das »Selbe«. In seinem Pendelschlag des Hin und Her ent-steht die Welt. Der Feldweg repräsentiert eine klar umgrenzte, in sich schwingende Welt der Dauer. Alles steht im schlichten Glanz der überschaubaren Ordnung. Nichts entgeht dem Auge und der Hand der Mutter: »Ihr (sc. der Dinge) Reich umgrenzten Auge und Hand der Mutter. Es war, als hütete ihre ungesprochene Sorge alles Wesen.« Der Feldweg strebt keinem Ziel zu. Vielmehr ruht er kontemplativ in sich. Er veranschaulicht eine via contemplativa. Das Hin-und-Zurück befreit ihn vom Ziel, ohne ihn einer destruktiven Zerstreuung auszusetzen. Ihm wohnt eine eigentümliche Sammlung inne. Er verläuft nicht, sondern verweilt. Er stillt die gerichtete, spasmische Zeit der Arbeit in eine Dauer. Als Ort kontemplativen Verweilens versinnbildlicht er ein Wohnen, das keines Zieles, keines Zweckes bedarf, das ohne Theologie und Teleologie auskommt. Die Welt ist ein »Reigen« 16 von »Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen«. Der »Reigen« ist auch eine Zeitformel, ein ewiges Kreisen in sich. Es verhindert jede zeitlich-räumliche Zerstreuung. Alles bleibt gesammelt im »Ring« der Welt, im »Glanz ihrer Einfalt«. Auch der »Himmel« ist ein zeitloses Kreisen in sich, ein ewiges Auf und Ab. Er ist »der Sonnengang, der Mondlauf, der Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der Nacht, die Gunst und das Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers«. Der streng symmetrische Auf bau der Welt erzeugt auf der temporalen Ebene den Eindruck einer stillstehenden Zeit. Die Symmetrie der Welt, die eine unverrückbare, immer gleich15 | Ebd., S. 88, Hervorhebung von B. H. 16 | Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Gesamtausgabe Bd. 7, Frankfurt a.M. 2000, S. 182.

Reigen der Welt | 71 bleibende Ordnung suggeriert, setzt sich ins Sprachliche fort. Ja Heidegger unterstreicht sie mit besonderen Sprachfiguren. Heideggers Philosophie besteht nicht nur aus Argumenten, sondern problematischerweise auch aus Versen. Gezielt eingesetzte Syntaxen und Reimstrukturen erzeugen z.B. das Gefühl einer ewig gültigen Ordnung. So wird die schöne, symmetrische Ordnung der Welt als »Vierung« in einem Gedicht beschworen, das nicht zufällig aus zwei Strophen mit vier symmetrisch aufgebauten Verszeilen besteht. Der »Glanz ihrer Einfalt« vollendet sich in dem metrischen Glanz von »Regen rinnt/ Segen sinnt«: Wälder lagern Bäche stürzen Felsen dauern Regen rinnt. Fluren warten Brunnen quellen Winde wohnen Segen sinnt.17

17 | Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.O., S. 86.

D ER G ERUCH

DES

E ICHENHOL ZES

Warum hat man nie einen Gott der Langsamkeit erfunden? Peter Handke

Die Beschleunigung des allgemeinen Lebensprozesses beraubt den Menschen des kontemplativen Vermögens. Ihm bleiben somit jene Dinge verschlossen, die sich nur einem kontemplativen Verweilen erschlössen. Die Beschleunigung ist kein primäres Geschehen, das erst nachträglich zum Verlust der vita contemplativa führt. Komplex ist vielmehr das Verhältnis zwischen Beschleunigung und Verlust der vita contemplativa. Gerade die Unfähigkeit, kontemplativ zu verweilen, kann eine Fliehkraft erzeugen, die zu einer allgemeinen Hast und Zerstreuung führt. Letzten Endes lassen sich sowohl die Beschleunigung des Lebensprozesses als auch der Verlust des kontemplativen Vermögens auf jene historische Konstellation zurückführen, in der der Glaube abhanden gekommen ist, daß die Dinge aus sich heraus da sind und in ihrem So-Sein ewig verbleiben. Eine allgemeine Defaktifizierung der Welt nimmt ihnen jeden Eigenglanz, jedes Eigengewicht und degradiert sie zu herstellbaren Objekten. Frei von räumlichen und zeitlichen Bedingtheiten sind sie nun mach- und herstellbar. Die Faktizität weicht der Herstellung. Das Sein wird zum Prozeß defaktifiziert. Heidegger erblickt in der modernen Technik die Gefahr, daß sie das Sein zum steuer- und planbaren Prozeß defaktifi ziert. Heideggers Sein ist gerade die Gegenfigur des Prozesses. Das procedere impliziert eine ständige Veränderung. Das Sein dagegen schreitet nicht fort. Es schwingt vielmehr in sich und verbleibt im »Selben«. Auch darin be-

74 | Duft der Zeit steht seine Faktizität: »Das Einfache verwahrt das Rätsel des Bleibenden und des Großen. Unvermittelt kehrt es bei den Menschen ein und braucht doch ein langes Gedeihen. Im Unscheinbaren des immer Selben verbirgt es seinen Segen.«1 Der Prozeß schreitet auf ein Ziel hin voran. Seine funktionale Teleologie macht die Beschleunigung sinnvoll. Je schneller das Ziel erreicht wird, desto effizienter ist der Vorgang. Die Beschleunigung ist dem rein funktionalen Prozeß inhärent. So unterliegt der Prozessor, der nur Rechenprozesse kennt, einem Beschleunigungsdruck. Er läßt sich beliebig beschleunigen, weil er keine eigene Sinnstruktur, keinen eigenen Takt besitzt, weil er sich auf eine reine funktionale Effizienz reduzieren läßt, die jede Verzögerung als Störung registriert. Der Computer zögert nicht. Das reine Rechnen als Arbeit ist von einer Zeitlichkeit strukturiert, die keinen Zugang zum Verweilen hat. Aus der Optik des procedere wäre das Verweilen nur ein Stillstand, der so schnell wie möglich zu beseitigen wäre. Die Ruhe ist höchstens eine Pause, die hinsichtlich der Effizienz der Rechenarbeit keine Bedeutung hat. So schreibt Heidegger: »Übereilung und Überraschung […] Jene macht sich im Berechnen./Diese kommt aus dem Ungeahnten./Jene verfolgt einen Plan./Diese besucht ein Verweilen.«2 Das kontemplative Verweilen setzt Dinge voraus, die dauern. Es ist unmöglich, bei schnell aufeinanderfolgenden Ereignissen oder Bildern lange zu verweilen. Gerade Heideggers »Ding« erfüllt diese Voraussetzung. Es ist ein Ort der Dauer. Interessanterweise verwendet Heidegger das Verb »verweilen« auch transitiv im Sinne von versammeln. Der Mensch kann bei den Dingen verweilen, weil sie die Weltbezüge, die dauern, verweilen. Das transitive Verweilen der Welt macht das intransitive Verweilen bei den Dingen möglich: »Das Ding dingt. Dingend verweilt es Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen; verweilend bringt das Ding die Vier in ihren Fernen einander nahe.«3 Die Erde ist »die bauend Tragende, die nährend Fruchtende, hegend Gewässer und Gestein, Gewächs und Getier«. Der Himmel ist »der Sonnengang, der Mondlauf, der Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der Nacht, die Gunst und das Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers«. Diese ewig gültigen Koordinaten der Welt, die sich in den Dingen widerspiegeln, haben dem menschlichen Wohnen eine »Langsamkeit und Stete« zu verleihen, »mit denen der Baum wächst«. 4 1 2 3 4

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Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.O., S. 89. Ebd., S. 153. Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, a.a.O., S. 179f. Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.O., S. 88.

Der Geruch des Eichenholzes | 75 Heideggers Philosophie der Bodenständigkeit und Heimat versucht jenen Boden für den menschlichen Aufenthalt zu stabilisieren, der längst ins Wanken geraten ist oder gar ganz zu verschwinden droht. Heideggers Ding ist dem Verbrauch und Konsum ganz entzogen. Es ist ein Ort des kontemplativen Verweilens. Der Krug dient für Heidegger als Beispiel für das Ding, das den Aufenthalt in der Welt möglich macht. Es ist gewiß kein Zufall, daß Heidegger gerade den Krug als Beispiel für das Ding auff ührt. Der Krug ist nämlich ein Behälter. Er gibt seinem Inhalt einen Halt, so daß nichts verfließt oder verrinnt. Diese besonderen Eigenschaften des Kruges benutzt Heidegger, um zu demonstrieren, was das Ding überhaupt ist.5 Heidegger definiert das »Wohnen« als »Aufenthalt bei den Dingen«.6 Er hätte auch sagen können: Verweilen bei den Dingen. Für den Aufenthalt ist aber ein Halt notwendig: »Wesentlicher als alle Aufstellung von Regeln ist, daß der Mensch zum Aufenthalt in die Wahrheit des Seins findet. Erst dieser Aufenthalt gewährt die Erfahrung des Haltbaren. […] ›Halt‹ bedeutet in unserer Sprache die ›Hut‹. Das Sein ist die Hut, die den Menschen in seinem ek-sistenten Wesen dergestalt zu ihrer Wahrheit behütet […].«7 Ohne Sein ist der Mensch halt- und schutzlos. Erst ein Halt verhält auch die Zeit, bringt das Haltbare hervor. Ohne Halt kommt es zu einem Fortriß der Zeit, zu einem tempo5 | Heideggers Denken ist problematischerweise abhängig von der Wahl der Beispiele oder von sprachlichen Besonderheiten wie Reim, Aussprache oder Etymologie. Betritt man sein Denken auf dieser Ebene, enthüllt es sich als besonders fragil, also anfällig für eine Dekonstruktion. Das Beispiel »Krug« ist nicht zuletzt aufgrund seiner sprachlichen Eigenschaften für die Veranschaulichung der Theorie oder Theologie des Dinges wesentlich geeigneter als etwa die Kanne. Schon auf der Ebene der Aussprache weist das Wort »Krug« (ein abschließender Konsonant am Ende und ein geschlossener Vokal in der Mitte) eine Geschlossenheit auf, die dem Wort »Kanne« (ein offener Vokal und vor allem ein weiterer Vokal am Ende) fehlt. Aufgrund seiner Geschlossenheit hält das Wort »Krug« tatsächlich die Luft. Außerdem suggeriert die Etymologie der Kanne (lat. canna, d.h. Kanal) im Gegensatz zum Krug keinen Halt. Vielmehr deutet das Wort auf das Fließen oder Verfl ießen hin. Nicht nur auf der sprachlichen Ebene, sondern auch auf der Ebene der Gestalt wirkt der Krug, der oft nach oben hin schmaler wird, geschlossener als die Kanne. Außerdem nehmen Wendungen wie ›volle Kanne‹ dem Wort jede Eignung für die Veranschaulichung der kontemplativen Ruhe und Gelassenheit, die wesentlich ist für Heideggers Spätphilosophie.

6 | Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, a.a.O., S. 153. 7 | Martin Heidegger: Wegmarken, Frankfurt a.M. 1978, S. 191.

76 | Duft der Zeit ralen Dammbruch. Haltlos stürzt sie fort. Die Beschleunigung geht letzten Endes auf die Haltlosigkeit, auf die Aufenthaltlosigkeit, auf den fehlenden Halt zurück. Die beschleunigte Schnitt- und Ereignisfolge als Gangart der heutigen Welt ist der Ausdruck des fehlenden Haltes. Die allgemeine Beschleunigung der Lebenswelt ist nur ein Symptom, das eine tieferliegende Ursache hat. Die Entschleunigungs- oder Entspannungstechnik kann den Fortriß der Zeit nicht stoppen. Sie beseitigt die Ursache nicht. Eigentlich besteht die Welt zum größten Teil aus den vom Menschen eigens hergestellten Dingen oder Ordnungen. Heideggers Welt ist dagegen vor jedem menschlichen Eingriff immer schon gegeben, ja vorgegeben. Dieses vorherige Immer-schon macht ihre Faktizität aus. Sie ist eine Gabe, die sich jedem menschlichen Zugriff entzieht. Sie ist eine Welt ewiger Wiederholungen. Während die moderne Technik den Menschen immer mehr von dem Boden, von der Erde entfernt und gleichzeitig auch von deren Zwängen befreit, insistiert Heidegger auf der »Bodenständigkeit«. Jeder Defaktifizierung, jeder Form der Herstellung der Welt, der die Menschheit letzten Endes ihr Überleben verdankt, steht Heidegger skeptisch gegenüber. Gegen die zum steuerund herstellbaren Prozeß defaktifizierte Welt beschwört Heidegger das »Unmachbare« oder das »Geheimnis«. Heidegger setzt die conservatio als Zeitstrategie ein, die eine Dauer zu stiften hat. Menschen sind, so Heidegger, »Hörige ihrer Herkunft«8. »Heimisch« macht sie nur die »lange Herkunft«. »Alter« ist »Weisheit«. So wendet er sich gegen die schrumpfende Gegenwart der Moderne, in der nichts tradiert wird und alles sehr schnell veraltet. Die »Weisheit« beruht auf der Kontinuität und Dauer. In Heideggers Welt herrscht eine unveränderliche Ordnung, die es zu übernehmen, zu vererben, zu wiederholen gilt. Dem Zwang zum Neuen wird das »immer Selbe« entgegengehalten. Zur Faktizität gehört eine Passivität, die zum Ausdruck kommt in den Wendungen wie sich-angehen-lassen, geworfen- oder gerufensein. Die Passivität des Angegangenseins ist der Aktivität des Vorgehens entgegengesetzt. Heidegger setzt sie gezielt gegen die Defaktifizierung der Welt ein. Auch Heideggers Ding versetzt den Menschen in eine Passivität, indem es ihn zum »Be-Dingten« macht. Als Be-Dingter verweilt der Mensch bei den Dingen. Das Ding ist kein Produkt, das dem Herstellungsprozeß unterworfen ist. Es gewinnt gegenüber dem Menschen eine Autonomie, ja eine Autorität. Es steht für das Schwergewicht der Welt, das der Mensch zu übernehmen, dem er sich zu 8 | Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.O., S. 89.

Der Geruch des Eichenholzes | 77 fügen hat. Angesichts des bedingenden Dinges hat der Mensch darauf zu verzichten, sich zum Unbedingten zu erheben. Gott repräsentiert das »Unmachbare«, das sich dem menschlichen Eingriff entzieht. Er ist der Un-Bedingte schlechthin.9 Die Defaktifizierung, die totale Herstellung der Welt macht diese ganz gottlos. Die »dürftige Zeit« ist eine Zeit ohne Gott. Der Mensch hat ein Be-Dingter, ein »Sterblicher« zu bleiben. Ein Frevel, eine menschliche »Machenschaft« wäre der Versuch einer Abschaff ung des Todes. Diese käme letzten Endes einer Abschaff ung Gottes gleich. Heidegger blieb ein homo doloris, ein Denker des Schmerzes. Der homo doloris allein hätte Zugang zum Duft des »Ewigen«. Vielleicht würde Heidegger sagen, daß die Abschaff ung des Todes das Ende des anthropos bedeute, daß angesichts der Unsterblichkeit der Mensch sich neu erfinden müsse. Heideggers »Sein« hat einen temporalen Aspekt: »Weilen, Währen, immer währen ist […] der alte Sinn des Wortes ›Sein‹.« 10 Allein das Sein läßt das Verweilen zu, weil es weilt und währt. Die Epoche der Hast und der Beschleunigung ist somit eine Epoche der Seinsvergessenheit. Auch »Der Feldweg« evoziert ständig die Dauer und Langsamkeit: »Hinter dem Schloß ragt der Turm der St. Martinskirche. Langsam, fast zögernd verhallen elf Stundenschläge in der Nacht«.11 Die temporalen Figuren wie »Zögern«, »Warten« oder »Geduld«12 9 | In einem Zeit-Artikel, der unmittelbar nach Heideggers Vortrag »Über das Ding« in München erschien (15. Juni 1950), wird folgendes vermerkt: »Hinter Heidegger hing ein großer, romanischer Cruzifi xus an der Wand. Die Perspektive wollte es, daß Heidegger den meisten im Saale als zu Füßen Christi stehend erschien.«

10 | Martin Heidegger: Der Satz vom Grund, Gesamtausgabe Bd. 10, Frankfurt a.M. 1997, S. 186.

11 | Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.O., S. 90. 12 | Trotz aller Unterschiede zu Heidegger gründet Lévinas seine Metaphysik des Anderen auf jene Zeitpraxis, die auch für Heideggers Denken charakteristisch ist. Er greift nämlich auf genau gleiche temporale Figuren zurück: »Die passive Synthese der Zeit, die Geduld, ist Warten ohne erwartetes Ziel, ist Warten, das betäubt wird durch jene bestimmten Erwartungen und ihre Erfüllungen nach dem Maß eines Ergreifens und eines vorgreifenden Begreifens. Die Zeit als Warten – Geduld, die passiver ist als alle zu Akten korrelative Passivität – wartet auf das Unfaßbare« (Emmanuel Lévinas: Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg/München 1985, S. 92f.). Dieses Unfaßbare als das Andere, das sich jeder Aneignung, jeder Ver-Gegenwärtigung entzieht, wird temporal in der Zukunft angesiedelt: »[…] die Zukunft ist das, was nicht ergriffen wird, was uns überfällt und sich unserer bemächtigt. Die Zukunft,

78 | Duft der Zeit haben eine positive Beziehung zu dem zu stiften, was sich jeder verfügbaren Gegenwart entzieht. Sie drücken keinen Zustand der Deprivation aus. Vielmehr zeichnet sie ein Mehr des Weniger aus. Das Warten rechnet nicht mit etwas Bestimmtem. Vielmehr bezeichnet es das Verhältnis zu dem, was sich jeder Form des Rechnens entzieht. Auch das Zögern bedeutet keine Unentschlossenheit. Es ist ein Verhältnis zu dem, was sich jedem entschlossenen Zugriff entzieht. Es ist nämlich der positive »Zug in das Sichentziehende«13 Die »Langsamkeit der Scheu vor dem Unmachbaren« beseelt es. Der Denker hat sich zu gedulden in dem »Zugwind dieses Zuges«, statt in den »Windschatten« zu flüchten. Die »dürftige Zeit« ist eine Zeit ohne Duft. Ihr fehlt das Dauernde, das über weite Zeiträume hinweg stabile Bindungen erzeugt. Den Ausdruck »lang« oder »langsam« verwendet Heidegger exzessiv. Die »Zukünftigen« sind die »langsamen, langhörigen Gründer« der Wahrheit 14, die mit dem »langen Mut zum Langsamen« 15 in einer »wartenden Entschiedenheit zur Geduld« den »langsamen Zeichen des Unberechenbaren«16 nachspüren. Gerade der »Geruch des Eichenholzes« steht für den Duft des Langen und Langsamen. Durch den »Feldweg«, der einen »Sinn« stiftet, weht der Duft des »Ewigen«. Heideggers »Sinn« ist allerdings ateleologisch, ja aperspektivisch. Er ist nicht vom Ziel oder vom Zweck beherrscht, den es zu realisieren gälte. Er ist ohne Richtung. Er ist nicht narrativ oder linear strukturiert. Es handelt sich gleichsam um einen kreisenden Sinn, der sich zum Sein vertieft. Heideggers Denken vollzieht entschlossen die Wendung vom Sinn zum Sein. Nur angesichts eines Ziels ist die Beschleunigung sinnvoll. Was dagegen ohne Richtung ist, was in sich schwingt oder erfüllt ist, was also keine Teleologie, kein Prozeß ist, erzeugt keinen Beschleunigungsdruck. Heideggers Gott hütet das »Ewige«, das »Rätsel des Bleibenden und des Großen«. Geworfenheit und Faktizität kennzeichnen das Verhältnis des Menschen zu Gott. Jede menschliche »Machenschaft« läßt den Menschen »schwerhörig« werden für die Sprache Gottes. Diese untergeht im »Lärm der Apparate, die sie (sc. die Heutigen) fast für das ist das andere« (Emmanuel Lévinas: Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984, S. 48).

13 | Martin Heidegger: Was heißt Denken?, Tübingen 1984, S. 52. 14 | Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S. 395. 15 | Martin Heidegger: Hölderlins Hymne »Andenken«, Gesamtausgabe Bd. 52, Frankfurt a.M. 1982, S. 171.

16 | Martin Heidegger: Wegmarken, a.a.O., S. 106.

Der Geruch des Eichenholzes | 79 die Stimme Gottes halten«.17 Gott sucht jene »Stille« auf, die entsteht, wenn die technischen Apparate stillgelegt werden. Die Zeit der Apparate, die sich beschleunigt, reißt die Welt und die Dinge aus ihrer EigenZeit heraus. Heideggers Denken wendet sich letzten Endes gegen die historische Wendung von der Wiederholung und Reproduktion zur Herstellung und Produktion, von der Geworfenheit und Faktizität zur Freiheit und Selbstbehauptung. Gott ist jene Instanz, die einem Sinnund Ordnungsgefüge das Siegel ewiger Gültigkeit aufdrückt. Er steht für die Wiederholung und Identität. Es gibt ja keinen Gott der Veränderung und Differenz. Er stabilisiert die Zeit. Die Beschleunigung geht letzten Endes auf den Tod Gottes zurück. Jede Defaktifizierung der Welt durch die menschliche Eigenmacht hat eine Entzeitlichung zur Folge. Erst wenn die Welt in ihrer Eigenzeit belassen wird, ja still steht, wird, so glaubt Heidegger, der »Zuspruch des Feldweges« hörbar als Sprache Gottes. Erst da, wo die Dinge wieder im Gewicht der »alten Herkunft« ruhen, ist Gott erst Gott. Durch die Eigenzeit der Welt und der Dinge hindurch offenbart sich Gott als Gott der Langsamkeit, ja als Gott der Heimat. Zweifellos beschwört der späte Heidegger in einer romantischen Verklärung Zustände der archaisch-vormodernen Welt zurück, deren Überwindung der Mensch wesentliche Fortschritte verdankt. Bei aller Skepsis gegenüber seiner Theologie der »Bodenständigkeit« und »Heimat« ist ihm aber in dem Moment Gehör zu schenken, wo er sich auf das Lange und Langsame zubewegt. Es gibt tatsächlich Ereignisse, Formen oder Schwingungen, die nur dem langen, kontemplativen Blick zugänglich sind, die aber dem arbeitenden Blick verborgen bleiben, ja das Feine, das Flüchtige, das Unscheinbare, das Geringe, das Schwebende oder das Zurückweichende, die sich dem gewaltsamen Zugriff entziehen. Heidegger ist unterwegs zu einer anderen Zeit, die keine Zeit der Arbeit 18 ist, zu einer Zeit des Langen und Langsamen, die ein Verweilen möglich macht. Die Arbeit ist letzten Endes auf die Herrschaft und Einverleibung aus. Sie vernichtet die Distanz zu den Dingen. Der kontemplative Blick dagegen schont sie. Er beläßt sie in ihrem Eigenraum oder Eigenglanz. Er ist eine Praxis der Freundlichkeit. Mehr als eine alltägliche Weisheit ist Heideggers Wort: »Der Verzicht nimmt nicht. 17 | Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.0., S. 89. 18 | Beim späten Heidegger bekommt die Arbeit einen negativen Klang. So spricht Heidegger vom »Unfug des nur Arbeitens, der, für sich betrieben, allein das Nichtige fördert« (Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.O., S. 89f.).

80 | Duft der Zeit Der Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen.« 19 Der kontemplative Blick ist insofern asketisch, als er auf die Beseitigung der Distanz, auf die Einverleibung verzichtet. In diesem Punkt ist Adorno Heidegger benachbart: »Der lange, kontemplative Blick […] ist immer der, in dem der Drang zum Objekt gebrochen, reflektiert ist. Gewaltlose Betrachtung, von der alles Glück der Wahrheit kommt, ist gebunden daran, daß der Betrachtende nicht das Objekt sich einverleibt.«20 Der lange, kontemplative Blick übt sich in einer Wahrung von Distanz zu den Dingen, ohne jedoch die Nähe zu diesen zu verlieren. Seine räumliche Formel ist die »Nähe an Distanz«.21

19 | Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.O., S. 90. 20 | Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 98.

21 | Ebd.

D IE

TIEFE

L ANGEWEILE

Als wir das laufende Datum vergaßen: Das waren noch Zeiten. Das war die Zeit. Als die Träume uns die Klinken in die Hand gaben, die einen zum Höllen-, die anderen zum Himmelstor: Das waren noch Zeiten. Das war die Zeit … Peter Handke

Mitten in der Revolution, mitten in dramatischen Ereignissen, die sich überschlagen, befällt Büchners Danton eine tiefe Langeweile: »Camille. Rasch, Danton, wir haben keine Zeit zu verlieren! Danton (er kleidet sich an). Aber die Zeit verliert uns. Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des Abends ins Bett und morgens wieder heraus zu kriechen und einen Fuß immer so vor den andern zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es anders werden soll.« Die Zeit der Revolution, als deren Subjekt der entschlossen handelnde Mensch auftritt, wird paradoxerweise von einer tiefen Langeweile heimgesucht. Die Entschlossenheit des freien Handlungssubjekts zum aktiven Tun setzt offenbar keine intensiven Bindungsenergien frei, die eine Erfahrung erfüllter Zeit möglich machen würden. So sehnt sich Camille nach früheren Zeiten zurück: »Die allgemeinen fi xen Ideen, welche man die gesunde Vernunft tauft, sind unerträglich langweilig. Der glücklichste Mensch

82 | Duft der Zeit war der, welcher sich einbilden konnte, daß er Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist sei.« Nicht erst eine ereignislose Zeit läßt die tiefe Langeweile aufkommen. Gerade die Zeit der Geschichte und Revolution, die reich an Ereignissen ist, die aber aus dem Zustand der Dauer und Wiederholung herausgefallen ist, ist anfällig für die Langeweile. Jede geringste Wiederholung wird hier als Monotonie wahrgenommen. Die Langeweile ist nicht das Gegenbild des entschlossenen Handelns. Vielmehr bedingen sie einander. Gerade die Entschlossenheit zum aktiven Handeln vertieft die Langeweile. So fühlt sich der Revolutionär Danton mitten im intensiven Tun von der Zeit verlassen. Die wahre Zeitnot besteht nicht darin, daß man Zeit verliert, sondern darin, daß »die Zeit uns verliert«. Die Zeit selbst entleert sich. Oder von ihr geht keine Gravitation aus, die bindet und versammelt. Die Langeweile geht letzten Endes auf die Leere der Zeit zurück. Die Zeit erfüllt nicht mehr. Die Freiheit des Handlungssubjekts allein erzeugt keine temporale Gravitation. Wo sein Handlungsimpuls kein neues Objekt besetzt, entsteht ein leeres Intervall, das langweilt. Die erfüllte Zeit muß nicht ereignisund abwechslungsreich sein. Sie ist eine Zeit der Dauer. Hier wird die Wiederholung nicht eigens als solche wahrgenommen. Erst nach dem Zerfall der Dauer wird sie thematisch und problematisch. So quält jede alltägliche Form der Wiederholung den Revolutionär Danton. In seiner Vorlesung von 1929/30 fragt Heidegger nach jener Grundstimmung, die das Heute be-stimmt, die »uns von Grund aus durchstimmt«.1 Zunächst glaubt er ein eifriges Bemühen um neue Selbstbestimmung feststellen zu können. Der »heutige Mensch« sei bestrebt, sich selbst eine Rolle, eine Bedeutung, einen Wert zuzuschreiben. Gerade in dieser überspannten Bemühung, für sich eine Bedeutung zu erfinden, erblickt Heidegger ein Anzeichen für tiefe Langeweile: »Warum finden wir für uns keine Bedeutung, d.h. keine wesentliche Möglichkeit des Seins mehr? […] Ist es am Ende so mit uns, daß eine tiefe Langeweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herzieht?«2 Die tiefe Langeweile deutet Heidegger als das Zeitzeichen von heute. Sie wird darauf zurückgeführt, daß das Seiende sich im Ganzen entzieht. Dieser gänzliche Entzug des Seienden läßt eine »Leere im Ganzen«3 zurück. Das Dasein findet zu keinem sinnvollen Verhältnis zum Seienden. Eine totale Gleichgültigkeit übermannt es. Nichts bindet seine Aufmerksamkeit. Ihm 1 | Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, a.a.O., S. 103. 2 | Ebd., S. 115. 3 | Ebd., S. 243.

Die tiefe Langeweile | 83 entgleiten alle »Möglichkeiten des Tuns und Lassens«. Darin besteht die »Not im Ganzen«. 4 Wo sich das Seiende im Ganzen entzieht, entleert sich auch die Zeit. Die Langeweile verändert radikal die Zeitwahrnehmung: »Alles Seiende entzieht sich uns ohne Ausnahme in jeder Hinsicht, alles, worauf wir hinsehen […], in jeder Rücksicht, alles Seiende, worauf wir zurücksehen als Gewesenes und Gewordenes und Vergangenes […], alles Seiende, in jeder Absicht, worauf wir es absehen als Künftiges […].«5 Die drei Sichten auf das Seiende sind, ins Zeitliche übersetzt: Vergangenheit (Rücksicht), Gegenwart (Hinsicht) und Zukunft (Absicht). In der tiefen Langeweile findet das Dasein zu keinem temporalen Bezug zum Seienden. Sinn ist aber Bezug. So wird die tiefe Langeweile als eine totale Sinnleere erfahren. Sie geht auf die Leere der Zeit zurück. Wo keine temporale Sicht auf das Seiende möglich ist, kommt es zu einer Amorphisierung oder Vermassung der Zeit. Versagt bleibt jede temporale Artikulation, die die Zeit als sinnvoll erscheinen ließe. Das Versagen des Seienden im Ganzen ist gleichzeitig, so Heidegger, ein »Sagen«. Das Wegsinken aller »Möglichkeiten des Tuns und Lassens« in der tiefen Langeweile läßt jene Handlungsmöglichkeiten »aufdämmern«, »die das Dasein haben könnte, die aber gerade in diesem ›es ist einem langweilig‹ brachliegen«.6 Das »Ansagen« im Versagen geschieht als ein »Anrufen«, das das Dasein dazu aufruft, sich selbst ausdrücklich zu ergreifen: »Das Sichbefreien des Daseins geschieht aber je nur, wenn es sich zu sich selbst entschließt […]. Sofern jedoch das Dasein inmitten des Seienden sich befindet, […] kann das Dasein sich nur entschließen, […] wenn es sich zum Handeln hier und jetzt in […] gewählten wesentlichen Möglichkeiten seiner selbst entschließt. Dieses Sichentschließen des Daseins aber zu sich selbst […] ist der Augenblick.«7 Der erlösende Augenblick ist der »Blick der Entschlossenheit«,8 der Blick des zum »Handeln hier und jetzt« entschlossenen Daseins. Dieser heroischen Entschlossenheit zum Handeln, in der das Dasein sich selbst eigens ergreift, traut Heidegger die Kraft zu, den Bann der tiefen Langeweile zu brechen. In seiner Vorlesung von 1929/30 nimmt Heidegger an, daß die Entschlossenheit zum Handeln allein die Seinsleere, ja die Leere der Zeit zu beseitigen vermag. Er gelangt noch nicht zur Erkenntnis, daß gerade die Emphase des Han4 5 6 7 8

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Ebd., S. 244. Ebd., S. 218. Ebd., S. 212. Ebd., S. 223f. Ebd., S. 226.

84 | Duft der Zeit delns, die Entschlossenheit zum aktiven Handeln, ja die Freiheit des initium verantwortlich ist für die Leere der Zeit, nämlich dafür, daß die Zeit keine erfüllte Dauer mehr stiftet. In der Vorlesung von 1929/30 weist Heidegger zwar darauf hin, daß »lange Zeit haben« im Alemannischen »Heimweh haben« bedeute, daß die tiefe Langeweile demnach der Zug zur Heimat sei.9 Aber in dieser Vorlesung geht Heidegger der vermuteten Nähe zwischen Langeweile und Heimweh nicht weiter nach. Und er erkennt noch nicht, daß die Subjektivität des zum Handeln entschlossenen Daseins keine Heimat stiften kann, daß sie gerade das Ende der Heimat bedeutet. 30 Jahre später wird Heidegger wieder auf die Nähe zwischen tiefer Langeweile und dem Heimweh aufmerksam: »Sie (sc. die Heimat) ist noch und geht uns an, aber als die gesuchte. Denn vermutlich ist es die kaum beachtete Grundstimmung der tiefen Langeweile, die uns in all den Zeitvertreib hineintreibt, den uns das Fremdartige, Aufreizende, Behexende täglich im Unheimischen anbietet. Mehr noch: Vermutlich ist diese tiefe Langeweile – in der Gestalt der Sucht zum Zeitvertreib – der verborgene, uneingestandene, weggeschobene und doch unausweichliche Zug zur Heimat: das verborgene Heimweh.« 10 Die Zeit verliert an Dauer, am Langen und Langsamen. Da sie die Aufmerksamkeit nicht dauerhaft bindet, entstehen leere Intervalle, die überbrückt werden müssen mit dem Drastischen und Aufreizenden. So geht die Langeweile mit der »Sucht nach dem Überraschenden, immer wieder unmittelbar und anders Fortreißenden und ›Schlagenden‹« einher. Die erfüllte Dauer weicht der »Ruhelosigkeit des stets erfinderischen Getriebes«.11 Heidegger setzt der tiefen Langeweile nicht mehr die Entschlossenheit zum Handeln entgegen. Er begreift nun, daß der »Blick der Entschlossenheit« zu kurzsichtig ist für das Lange und Langsame, für die duftende Länge der Zeit, daß gerade die übersteigerte Subjektivität die tiefe Langeweile erst möglich macht, daß nicht Mehr an Selbst, sondern Mehr an Welt, nicht Mehr an Tun, sondern Mehr an Verweilen den Bann der Langeweile zu brechen vermag. Die Langeweile beherrscht die immer größer werdende Kluft zwischen Subjekt und Welt, zwischen Freiheit und Faktizität, zwischen Handlung und Sein. Das zum Handeln entschlossene Dasein kennt das Gefühl des Umfangenwerdens oder des Eingeholtwerdens nicht 9 | Ebd., S. 120. 10 | Martin Heidegger: Ansprache zum Heimatabend. 700 Jahre Stadt Meßkirch, Meßkirch 1962, S. 13.

11 | Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie, a.a.O., S. 121.

Die tiefe Langeweile | 85 mehr. Der »Spitze« des »Augenblicks« als Zeit des Selbst fehlt die Weite und Länge der »Heimat«, der Raum zum Wohnen und Verweilen. Heideggers »Heimat« bezeichnet den Ort, der dem Handlungssubjekt vorgängig ist, dem man sich anheim gibt, der das aktiv handelnde Selbst immer schon eingeholt hat. Gerade die Entschlossenheit zum Handeln läßt das Dasein von dem Ort abgleiten, der der Subjektivität vorgelagert ist. Die tiefe Langeweile geht auf diesen Verlust zurück. Beim späten Heidegger wird die Emphase des Handelns zurückgenommen zugunsten eines ganz anderen Verhältnisses zur Welt, das »Gelassenheit« heißt. Die Gelassenheit ist eine Gegenbewegung, ja eine »Gegenruhe« 12 zur Entschlossenheit zum Handeln. Die Gelassenheit gewährt »uns die Möglichkeit, uns auf eine ganz andere Weise in der Welt aufzuhalten«.13 Auch Begriffe wie »Zögern«, »Scheu« oder »Verhaltenheit« sind Wendungen gegen die Emphase des Handelns. Verantwortlich für die tiefe Langeweile ist letzten Endes das ganz von der Entschlossenheit zum Handeln beherrschte Leben. Sie ist die Kehrseite der übersteigerten Aktivität, der vita activa, der jede Form von Kontemplation fehlt. Der zwanghafte Aktivismus erhält die Langeweile am Leben. Der Bann der tiefen Langeweile wird nur dann ganz gebrochen sein, wenn die vita activa an ihrem kritischen Ende die vita contemplativa in sich aufnimmt und wieder in deren Dienst tritt.

12 | Martin Heidegger: Feldweg-Gespräche, a.a.O., S. 153. 13 | Martin Heidegger: Gelassenheit, Pfullingen 1959, S. 26.

VITA

CONTEMPL ATIVA

1. E INE

KUR ZE

G ESCHICHTE

DER

M USSE

Wir haben ein Bett, wir haben ein Kind, mein Weib! Wir haben auch Arbeit, und gar zu zweit, und haben die Sonne und Regen und Wind. Und uns fehlt nur eine Kleinigkeit, um so frei zu sein, wie die Vögel sind: Nur Zeit. Richard Dehmel, Der Arbeitsmann

Heidegger soll zu Beginn einer Aristoteles-Vorlesung gesagt haben: »Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb.«1 Erstaunlicherweise charakterisiert Heidegger das Leben von Aristoteles als Arbeit. Er müßte eigentlich gewußt haben, daß das Leben eines Philosophen als bios theoretikos alles andere als Arbeit war. Philosophieren als theorein verdankt sich Aristoteles zufolge der Muße (schole). Die griechische schole hat mit ›Müßiggang‹ oder ›Freizeit‹ im heutigen Sinne kaum etwas zu tun. Sie ist ein Zustand der Freiheit, der ohne Zwang und Notwendigkeit, ohne Mühe und Sorge ist. Die Arbeit macht dagegen unfrei, denn sie steht unter dem Zwang der Lebensnotwendigkeit. Im Gegensatz zur Muße ruht sie nicht in sich, denn sie hat das Nützliche und Notwendige herzustellen. Aristoteles teilt das Leben in zwei Bereiche ein, nämlich in die Nicht-Muße als Beschäftigung (a-scholia) und die Muße (schole), also 1 | Vgl. Hannah Arendt/Martin Heidegger. Briefe 1925-1975, Frankfurt a.M. 2002, S. 184.

88 | Duft der Zeit in die Un-Ruhe und die Ruhe. Die Arbeit als Un-Ruhe, als Un-Freiheit hat sich der Muße unterzuordnen. Auch hinsichtlich der Tätigkeiten (prakta) siedelt Aristoteles das Schöne und Edle außerhalb des Nützlichen und Notwendigen, außerhalb der Arbeit an.2 Nur Not zwingt zur Arbeit, die darum not-wendig ist. Die Muße eröffnet dagegen einen zwang- und sorglosen Raum der Freiheit jenseits der Lebensnotwendigkeit. Das Wesen der menschlichen Existenz wäre Aristoteles zufolge nicht Sorge, sondern Muße. Die kontemplative Ruhe hat einen absoluten Vorrang. Alle Tätigkeiten haben zugunsten dieser Ruhe zu erfolgen und wieder in sie einzumünden. Aristoteles unterscheidet drei Lebensweisen (bioi) des freien Mannes: das Leben, das nach Lust (hedone) strebt, das Leben, das in der Polis schöne, edle Taten hervorbringt (bios politikos) und das Leben, das sich der kontemplativen Betrachtung der Wahrheit widmet (bios theoretikos).3 Sie sind alle frei von den Notdürften und Zwängen des Lebens. Das Leben, das dem Gelderwerb nachgeht, wird wegen seines Zwangscharakters verworfen. Auch der bios politikos gilt nicht der Organisation des Zusammenlebens, denn diese gehört zu notwendigen und nützlichen Dingen. Er strebt vielmehr nach Ehre und Tugend. Auch Dinge wie Zeichnen und Malen erlernt man deshalb, weil sie die Fähigkeit fördern, körperliche Schönheit zu betrachten. 4 Das höchste Glück entspringt dem kontemplativen Verweilen beim Schönen, das ehemals theoria hieß. Sein Zeitsinn ist die Dauer. Es wendet sich den Dingen zu, die unvergänglich und unveränderlich sind, die ganz in sich selbst ruhen. Weder Tugend noch Klugheit, sondern allein die kontemplative Hingabe an die Wahrheit bringt den Menschen in die Nähe zu Göttern. Die Arbeit ist an die Notdürfte des Lebens gebunden. Sie ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, ja ein notwendiges, not-wendendes Lebens-Mittel. So ist sie eines freien Mannes nicht würdig. Zwänge die Not einen Mann edler Herkunft zur Arbeit, so würde er es gar verbergen müssen, daß er arbeitet. Die Arbeit macht ihn unfrei. Die Muße ist ein Zustand, der jeder Sorge, jeder Not, jedes Zwanges entbunden ist. In ihr ist Mensch erst Mensch. Dem antiken Verständnis der Muße liegt ein Daseinsentwurf zugrunde, der für die heutigen Menschen, für die gänzlich von der Arbeit, von der Effizienz und Produktivität absorbierte Welt unzugänglich, ja unverständlich ist. Die antike Muße-Kultur verweist, prospektiv gewendet, darauf, daß eine ganz an2 | Aristoteles: Politik, 1333a. 3 | Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1095b. 4 | Ebd., 1338b.

Vita contemplativa | 89 dere Welt als die jetzige möglich ist, eine Welt, in der der Grundzug des menschlichen Daseins nicht wie bei Heidegger Sorge hieße. Der Arbeitsbegriff, der dem Heideggerschen Spruch zu Aristoteles’ Leben zugrunde liegt, ist erst spät entstanden. Er ist im protestantischen Lebensentwurf angesiedelt. Er ist Aristoteles gänzlich fremd. Heidegger hätte eigentlich sagen müssen: »Aristoteles wurde geboren, arbeitete nicht und starb.« Die Muße als schola ist jenseits der Arbeit und der Untätigkeit situiert. Sie ist eine besondere Fähigkeit, zu der man eigens erzogen werden muß. Sie ist keine Praxis der ›Entspannung‹ oder des ›Abschaltens‹. Gerade das Denken als theorein, als kontemplative Betrachtung der Wahrheit beruht auf der Muße.5 So unterscheidet auch Augustinus die Muße (otium) vom passiven Untätigsein: »In der Muße darf kein träges Entlastetsein, sondern die Erforschung oder die Aufdeckung der Wahrheit Freude bereiten.« Zur »rühmlichen Muße« gehört das »Streben nach Erkenntnis der Wahrheit«.6 Die Unfähigkeit zur Muße ist gerade ein Zeichen der Trägheit. Die Muße ist dem trägen Nichtstun nicht benachbart, sondern entgegengesetzt. Sie dient nicht zur Zerstreuung, sondern zur Sammlung. Das Verweilen setzt ein Versammeln der Sinne voraus. Im Mittelalter behauptet die vita contemplativa noch ihre Priorität gegenüber der vita activa. So schreibt Thomas von Aquin: »Vita contemplativa simpliciter melior est quam activa.« 7 Das bekannte Diktum ora et labora formuliert keine Aufwertung der Arbeit gegenüber der Kontemplation. Im Mittelalter ist die vita activa noch von der vita contemplativa ganz durchdrungen. Die Arbeit erhält von der Kontemplation her ihren Sinn. Mit Gebeten beginnt der Tag. Und sie schließen ihn ab. Sie rhythmisieren die Zeit. Den Fest- und Feiertagen kommt eine ganz andere Bedeutung zu. Sie sind keine arbeitsfreien Tage. Als 5 | Auch Kant unterscheidet die »Scharfsinnigkeit« (acumen), die besondere Sensibilität des Geistes und Feinsinnigkeit von der Verstandestätigkeit, die auf der Ebene des Bedürfnisses angesiedelt ist. Sie ist keine dem Bedürfnis folgende Arbeit, sondern eine »Art von Luxus der Köpfe« (Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akad.-Ausg. Bd. 7, S. 201). Der Geist erschöpft sich nicht in Arbeit und Geschäft. Er ist selbst »blühend« wie die Natur, die »in ihren Blumen mehr ein Spiel, dagegen in den Früchten ein Geschäft zu treiben scheint«. Erkenntnisse wären demnach nützliche Früchte eines zwanglos spielenden Denkens. Not und Arbeit allein brächten sie nicht hervor.

6 | Augustinus: De civitate Dei, 19, 19. 7 | Thomas von Aquin: Summa theologica II, 2, 182.

90 | Duft der Zeit Zeit des Gebetes und der Muße haben sie eine eigene Bedeutsamkeit. Der mittelalterliche Kalender dient nicht bloß zur Zählung von Tagen. Ihm liegt vielmehr eine Erzählung zugrunde, in der Fest- und Feiertage narrative Stationen bilden. Sie sind feste Punkte im Fluß der Zeit, die diese narrativ binden, damit sie nicht verfließt. Sie bilden temporale Abschnitte, die die Zeit gliedern und rhythmisieren. Sie funktionieren wie Abschnitte einer Erzählung. Sie lassen die Zeit, deren Verlauf, sinnvoll erscheinen. Ein Abschnitt einer Erzählung schließt eine narrative Phase ab. Der vorläufige Abschluß bereitet die nächste Phase der Narration vor. Die temporalen Abschnitte sind sinnvolle Übergänge innerhalb eines gesamten narrativen Spannungsbogens. Die Zeit der Hoffnung, die Zeit der Freude und die Zeit des Abschiedes gehen ineinander über. Im Spätmittelalter beginnt die Einstellung zur Arbeit sich zu verändern. In »Utopia« etwa malt Thomas Morus eine Welt aus, in der alle arbeiten. Sein sozialrevolutionärer Gesellschaftsentwurf, der sich gegen die Standesunterschiede wendet, sieht eine gerechte Verteilung der Arbeit vor. Jeder hat nur 6 Stunden am Tag zu arbeiten. In der arbeitsfreien Zeit widmen sich die »Utopier« der Muße und Kontemplation. Die Arbeit an sich wird hier jedoch nicht aufgewertet. Erst im Zuge der Reformation kommt der Arbeit eine Bedeutung zu, die über die Lebensnotwendigkeit weit hinausgeht. Sie wird in einen theologischen Sinnzusammenhang gestellt, der sie legitimiert und aufwertet. Bei Luther verbindet sich die Arbeit als Beruf mit dem Ruf Gottes an die Menschen. Durch Calvinismus erhält die Arbeit eine heilsökonomische Bedeutung. Ein Calvinist ist ungewiß hinsichtlich der Frage, ob er erwählt oder verworfen ist. So beherrscht eine Angst, eine ständige Sorge das Handeln des ganz auf sich geworfenen Individuums. Einzig der Erfolg in der Arbeit wird als Zeichen der Erwählung gedeutet. Die Sorge um das Heil macht ihn zum Arbeiter. Die rastlose Arbeit kann zwar das Heil nicht erwirken. Aber sie ist das einzige Mittel, sich der Erwählung zu versichern und dadurch Angst abzubauen. Im Calvinismus entwickelt sich eine Emphase des Handelns, eine Entschlossenheit zum Tun: »Der religiöse Virtuose kann seines Gnadenstandes sich versichern entweder, indem er sich als Gefäß, oder, indem er sich als Werkzeug göttlicher Macht fühlt. Im ersten Fall neigt sein religiöses Leben zu mystischer Gefühlskultur, im letzteren zu asketischem Handeln.«8 Der Calvinist verschaff t sich seine Heilsgewißheit, indem er entschlossen handelt. Den Heilssuchenden bringt 8 | Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, S. 108.

Vita contemplativa | 91 nicht die vita contemplativa, sondern die vita activa seinem Ziel näher. Erst die Entschlossenheit zum Handeln, die Verabsolutierung läßt die vita contemplativa als tatenlose Kontemplation verwerfl ich erscheinen. Die innerweltliche Askese des Protestantismus verbindet Arbeit mit Heil. Arbeit vermehrt Gottes Ruhm. Sie wird Lebenszweck. Max Weber zitiert den Pietisten Zinzendorf (1700-1760): »Man arbeitet nicht allein, daß man lebt, sondern man lebt um der Arbeit willen, und wenn man nichts mehr zu arbeiten hat, so leidet man oder entschläft.«9 Die Zeitvergeudung ist die schwerste aller Sünden. Verurteilt wird auch unnötig langer Schlaf. Zeitökonomie und Heilsökonomie durchdringen sich. Der Calvinist Baxter schreibt: »Keep up a high esteem of time and be every day more careful that you lose none of your time, then you are that you lose none of your gold and silver. And if vain recreation, dressings, feastings, idle talk, unprofitable company, or sleep, be any of them temptations to rob you of any of your time, accordingly heighten your watchfulness.«10 Max Weber sieht in der protestantischen Askese den Geist des Kapitalismus präfiguriert. Sie äußert sich auch als ein Akkumulationszwang, der zur Kapitalbildung führt. Verwerflich sind das Ausruhen auf dem Besitz und der Genuß des Reichtums. Nur mit einem ununterbrochenen Streben nach mehr Gewinn macht man sich gottgefällig: »Die innerweltliche protestantische Askese […] wirkte also mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuß des Besitzes, sie schnürte die Konsumtion, speziell die Luxuskonsumtion, ein. Dagegen entlastete sie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengt die Fesseln des Gewinnstrebens, indem sie es nicht nur legalisierte, sondern […] direkt als gottgewollt ansah.«11 Die Säkularisierung bringt die Heilsökonomie nicht zum Verschwinden. Sie lebt im modernen Kapitalismus weiter. Die materielle Habgier allein erklärt den fast irrational wirkenden Gelderwerb nicht. Dem Akkumulationszwang liegt ein Heilsstreben zugrunde. Man investiert und spekuliert auf das Heil. Vielfältig ist dabei sein Inhalt. Neben dem Wunsch, vermittels endloser Anhäufung des Geldes als geronnener Zeit unendlich mehr Zeit als die begrenzte eigene Lebenszeit zur Verfügung zu haben, erzeugt das Machtstreben den Vermehrungs- und Akkumulierungstrieb. Beredt ist schon das Wort Vermögen. Der Zuwachs an Vermögen als Kapital läßt auch das Können wachsen. Auch für Marx ist das Geld darin allmächtig, daß es 9 | Ebd., S. 171. 10 | Zitiert in: ebd., S. 168. 11 | Ebd., S. 190.

92 | Duft der Zeit defaktifizierend wirkt, daß es die Geworfenheit zugunsten einer Entworfenheit aufhebt. Es bewirkt eine allgemeine Aufhebung des faktisch Gegebenen. So hebt es selbst die Häßlichkeit auf: »Was durch das Geld für mich ist, was ich zahlen, d.h., was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt. Ich bin häßlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht häßlich, denn die Wirkung der Häßlichkeit, ihre abschreckende Kraft ist durch das Geld vernichtet.«12 Das Wort »Industrie« stammt ursprünglich vom lateinischen Ausdruck industria, der »Fleiß« bedeutet. Das englische Wort »industry« hat heute noch die Bedeutung von »Fleiß« und »Betriebsamkeit«. »Industrial School« etwa heißt Besserungsanstalt. Die Industrialisierung bedeutet nicht nur die Maschinisierung der Welt, sondern auch eine Disziplinierung des Menschen. Sie installiert nicht nur Maschinen, sondern auch Dispositive, die das menschliche Verhalten bis ins Körperliche zeit- und arbeitsökonomisch zu optimieren haben. Bezeichnenderweise trägt eine Abhandlung von Philipp Peter Guden aus dem Jahr 1768 den Titel: »Polizey der Industrie, oder Abhandlung von den Mitteln, den Fleiß der Einwohner zu ermuntern«. Die Industrialisierung als Maschinisierung nähert die menschliche Zeit der Maschinenzeit an. Das industrielle Dispositiv ist ein zeitökonomischer Imperativ, der den Menschen gemäß der Taktung der Maschinen zu formen hat. Es gleicht das menschliche Leben dem maschinellen Arbeitsprozeß, dem Funktionieren an. Das von der Arbeit beherrschte Leben ist eine vita activa, die von der vita contemplativa gänzlich abgeschnitten ist. Verliert der Mensch jede kontemplative Fähigkeit, so sinkt er zum animal laborans ab. Das Leben, das sich dem maschinellen Arbeitsprozeß angleicht, kennt nur Pausen, die arbeitsfreie Zwischenzeit, in der man sich von der Arbeit erholt, um sich dem Arbeitsprozeß wieder voll zur Verfügung zu stellen. So stellen auch ›Entspannung‹ und ›Abschalten‹ kein Gegengewicht zur Arbeit dar. Sie sind insofern wieder in den Arbeitsprozeß eingebunden, als sie vor allem zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit dienen. Die sogenannte Freizeit- und Konsumgesellschaft bringt keine wesentliche Veränderung hinsichtlich der Arbeit mit sich. Sie ist nicht frei vom Imperativ zur Arbeit. Der Zwang geht dabei nicht mehr von der Lebensnotwendigkeit, sondern von der Arbeit selbst aus. Irrtümli12 | Karl Marx: MEW Bd. 40, S. 564.

Vita contemplativa | 93 cherweise nimmt Hannah Arendt an, daß das Telos der Arbeitsgesellschaft darin bestehe, den Menschen von den »Fesseln« der Lebensnotwendigkeit zu befreien.13 In Wirklichkeit ist die Arbeitsgesellschaft eine Gesellschaft, in der die Arbeit sich, abgelöst von der Lebensnotwendigkeit, zu einem Selbstzweck verselbständigt und absolut setzt. Die Arbeit wird dermaßen totalisiert, daß außerhalb der Arbeitszeit nur jene Zeit übrigbleibt, die es totzuschlagen gilt. Die Totalisierung der Arbeit verdrängt andere Lebensformen und -entwürfe. Sie zwingt den Geist selbst zur Arbeit. Die ›Geistesarbeit‹ ist eine Zwangsformel. Ein Widerspruch wäre der Geist, der arbeitet. Die Konsum- und Freizeitgesellschaft weist eine besondere Zeitlichkeit auf. Die überschüssige Zeit, die sich einer massiven Produktivitätssteigerung verdankt, wird mit den Ereignissen und Erlebnissen gefüllt, die flüchtig und kurzfristig sind. Da nichts die Zeit dauerhaft bindet, entsteht der Eindruck, die Zeit vergehe sehr rasch oder alles beschleunige sich. Konsum und Dauer widersprechen einander. Die Konsumgüter dauern nicht. Ihnen ist der Verfall als ihr konstitutives Element eingeschrieben. Der Zyklus von Erscheinen und Verfallen der Dinge wird dabei immer kürzer. Der kapitalistische Imperativ zum Wachstum bringt es mit sich, daß die Dinge in immer schnellerem Tempo produziert und verzehrt werden. Der Konsumzwang ist dem System der Produktion immanent. Das wirtschaftliche Wachstum ist auf einen raschen Verzehr und Verbrauch der Dinge angewiesen. Die aufs Wachstum angelegte Wirtschaft würde ganz zum Erliegen kommen, wenn Menschen plötzlich anfingen, die Dinge zu schonen, sie vor dem Verfall zu bewahren, ihnen zu einer Dauer zu verhelfen. In der Konsumgesellschaft verlernt man das Verweilen. Die Konsumgegenstände lassen kein kontemplatives Verweilen zu. Sie werden so schnell wie möglich verbraucht und verzehrt, damit Platz für neue Produkte und Bedürfnisse geschaffen wird. Das kontemplative Verweilen setzt Dinge voraus, die dauern. Der Konsumzwang schaff t aber die Dauer ab. Auch die sogenannte Entschleunigung stiftet keine Dauer. Was die Konsumhaltung angeht, unterscheidet sich das ›slow food‹ nicht wesentlich vom ›fast food‹. Die Dinge werden eben verzehrt. Die reduzierte Geschwindigkeit allein verwandelt das Sein der Dinge nicht. Das eigentliche Problem ist, daß das Dauernde, das Lange und Langsame ganz zu verschwinden droht oder sich aus dem Leben entfernt. Formen der vita contemplativa sind auch Seinsweisen wie »Zögern«, »Gelassenheit«, »Scheu«, »Warten« oder »Verhaltenheit«, die 13 | Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, S. 14.

94 | Duft der Zeit der späte Heidegger dem »Unfug des nur Arbeitens«14 entgegensetzt. Sie beruhen alle auf einer Erfahrung der Dauer. Die Zeit der Arbeit, ja die Zeit als Arbeit ist aber ohne Dauer. Sie verbraucht die Zeit, indem sie produziert. Das Lange und Langsame entzieht sich aber dem Verbrauch und Konsum. Es stiftet eine Dauer. Die vita contemplativa ist eine Praxis der Dauer. Sie stiftet eine andere Zeit, indem sie die Zeit der Arbeit unterbricht.

2. D IALEK TIK

VON

H ERR

UND

K NECHT Und schreib getrost: Am Anfang war die Tat! Aber vergiß nicht die richtige Betonung: Am Anfang war die Tat; denn alle höhere Entwicklung wird vom Willen zur Faulheit geleitet. Georg Simmel

Die Umwertung der Arbeit, die in der Neuzeit zur Verabsolutierung der Arbeit, ja zu deren Glorifizierung führt, ist ein sehr komplexes, vielschichtiges Phänomen. Sie ist nicht nur religiös, sondern auch machtökonomisch bedingt. Max Webers Religionssoziologie vernachlässigt ihre machtlogische Dimension. Sehr verschlungen sind die Kausal- und Wechselbeziehungen zwischen Arbeit, Kapital, Macht, Herrschaft und Erlösung. Heilsökonomie und Machtökonomie durchdringen einander. Aus machtökonomischer Sicht läßt sich die Totalisierung der Arbeit als eine Folge der Dialektik von Herr und Knecht beschreiben, die allerdings ganz anders erzählt werden muß als bei Hegel. Mit der Dialektik von Herr und Knecht beschreibt Hegel bekanntlich einen Kampf auf Leben und Tod, in dessen Ausgang der eine als Knecht für den anderen als seinen Herrn arbeitet. Es ist, so die These Hegels, die Furcht vor dem Tod, die den künftigen Knecht dazu bringt, sich dem anderen zu unterwerfen. Er zieht die Unterwerfung dem Tod vor. Er klammert sich am Leben fest, während der Herr mehr begehrt als das bloße Leben. Er strebt nämlich nach Macht und Freiheit. Im Gegensatz zum Knecht setzt er nicht das bloße Leben, sondern sein Selbst absolut. Er totalisiert sich selbst, indem er den anderen ganz negiert. Der andere, der nun sein Knecht ist, schmälert sein Selbst, seine Macht nicht, denn er hat sich ihm unterworfen. Der Herr kontinuiert sich in 14 | Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.O., S. 89.

Vita contemplativa | 95 den Knecht. Der Knecht gibt sein Selbst auf für das Selbst des Herrn. So ist der Herr im Knecht ganz bei sich selbst. Diese Kontinuität des Selbst bildet die Macht und Freiheit des Herrn. Die Dialektik der Arbeit als Dialektik der Macht besteht darin, daß der Knecht, der für das bloße Überleben eine Zwangsarbeit leistet, gerade durch diese Arbeit auch seinerseits zu sich selbst, zu einer Idee der Freiheit findet. Bei der Arbeit als Herstellung der Dinge zwingt der Knecht der Natur das Gepräge seiner selbst auf, indem er die Dinge formt. Die hergestellten Dinge sind das Gebilde seiner selbst. So kontinuiert er sich in die Dinge. Er unterwirft sich die Natur, die sich zunächst als Widerstand meldet. Er bricht ihn, indem er sich ihrer bemächtigt. Die Arbeit vermittelt dem Knecht eine Vorstellung der Macht und Freiheit, die sich von jenem bloßen Leben unterscheidet, zugunsten dessen er ehemals sich dem anderen unterwarf. Die Arbeit »bildet« ihn also. Sie ist das Medium der Bildung des Bewußtseins. Sie macht den Knecht frei. Sie vermittelt ihm eine Idee der Freiheit, die er im Verlauf der Geschichte vermittels eines Klassenkampfes, dem er nicht mehr ausweichen wird, zu verwirklichen hat. Hegels Dialektik von Herr und Knecht betrachtet alles nur aus der Optik der Macht und Subjektivität. Darin besteht ihre entscheidende Schwäche. Allein die Macht bestimmt auch das Verhältnis zu den Dingen. Vermittels seiner Arbeit bemächtigt sich der Knecht des selbständigen Seins der Dinge. Er arbeitet ihren Widerstand weg. Die durch ihn für den Genuß be-arbeiteten Dinge werden vom Herrn verzehrt. Sowohl für den Herrn als auch für den Knecht ist das Verhältnis zu den Dingen Negation. Nicht nur die Arbeit, sondern auch der Verzehr negiert das selbständige Sein. Hegels Dialektik von Herr und Knecht als Dialektik der Macht läßt einen sehr wichtigen Aspekt der Arbeit ganz außer Acht. Gerade dadurch, daß der Knecht jene mühsame Arbeit, die ihn mit dem Widerstand der Dinge konfrontiert, ganz allein auf sich nimmt, ermöglicht er dem Herrn ein anderes Verhältnis zu den Dingen, das weder Beherrschen noch Bearbeiten ist. Er gelangt zu der Einsicht, daß die Macht oder die Negation nicht die einzig mögliche Beziehung zu den Dingen ist. Die Arbeit hat bei Hegel einen zentralen Stellenwert. Nicht das »göttliche Erkennen« oder »Spielen«, sondern die »Arbeit des Negativen«15 ist die Gangart des Geistes. In seiner marxistischen Interpretation der Hegelschen Dialektik von Herr und Knecht erhebt auch 15 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 3, S. 23.

96 | Duft der Zeit Kojève die Arbeit zum Hauptmedium der Bildung und Geschichte: »Diese schöpferische Erziehung des Menschen durch die Arbeit (die Bildung) schaff t die Geschichte, d.h. die menschliche Zeit. Die Arbeit ist Zeit […].«16 Es gibt keine Zeit, die keine Arbeit wäre. Arbeit ist Zeit. Die Arbeit bildet das Bewußtsein und treibt die Geschichte voran. Dabei kommt die Geschichte in dem Augenblick zum Abschluß, in dem der Gegensatz zwischen Herr und Knecht verschwindet.17 Die Arbeit ist das Agens der Geschichte. So avanciert der Arbeitsknecht zum alleinigen Subjekt des geschichtlichen Fortschrittes. Der Herr dagegen erstarrt, so die Konsequenz, in einer untätigen und unproduktiven Übereinstimmung mit sich selbst. Weil der Knecht das einzige agierende Subjekt der Geschichte ist, wird auch deren Verlauf allein von ihm bestimmt. Dabei bleibt er in all seinen Entwicklungsstufen ein Arbeiter. In keinem Augenblick der Geschichte wird die Arbeit über sich hinausgeführt. Uneingeschränkt bleibt sie sich gleich. Sie tritt dabei als ein Dispositiv auf, das sich moralisch, ökonomisch oder religiös ausprägt. Der Arbeitsknecht setzt es gezielt ein, um das Machtverhältnis zugunsten seiner umzukehren. Sein Aufstieg erhebt es zu einem vorherrschenden gesellschaftlichen Dispositiv überhaupt. Die Gesellschaft, in der die Geschichte zum Abschluß kommt, ist dementsprechend eine Arbeitsgesellschaft, in der jeder arbeitet, ja nur arbeitet. Die Totalisierung der Arbeit führt dazu, daß mit dem Abschluß der Geschichte alle Arbeiter werden. Aristoteles unterscheidet drei Lebensweisen, zwischen denen ein freier Mann wählen kann. Die höchste Lebensform ist der bios theoretikos, ein Leben, das sich der Kontemplation widmet. Der Herr als freier Mann kommt, da er die Arbeit ganz dem Knecht überläßt, mit dem Widerstand der Dinge nicht direkt in Berührung. Diese Freiheit befähigt ihn zu einer ganz anderen, nicht von der Arbeit, d.h. vom Bearbeiten und Beherrschen bestimmten Beziehung zur Welt. Das kontemplative Verhältnis zu den Dingen setzt eine Freiheit von der Arbeit voraus. Es unterbricht die Zeit, die Arbeit ist. Göttlich ist Aristoteles zufolge die vita contemplativa, da sie von jedem Zwang und Interesse befreit ist. Hinsichtlich der Totalisierung der Arbeit vollendet Marx Hegel. Marx zufolge unterscheidet nicht das Denken, sondern die Arbeit den Menschen vom Tier. Er ist nicht das animal rationale, sondern das animal laborans. Mensch ist Arbeit. Marx interpretiert auch Hegels 16 | Alexandre Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, Frankfurt a.M. 1975, S. 71.

17 | Ebd., S. 61.

Vita contemplativa | 97 Phänomenologie des Geistes von der Arbeit her: »Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate – der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip – ist also einmal, daß Hegel […] das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift. […] Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie. Er erfaßt die Arbeit als das Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen […].« 18 Marx hätte auch sagen können: Geist ist Arbeit. Hegels Geist steht wie sein Knecht unter einem Arbeitszwang. Er ist ohne jede Muße und Kontemplation. Das Dispositiv der Arbeit erfaßt das Denken selbst und tritt als ein Denkdispositiv auf. Da es ursprünglich der Beherrschung der Dinge gilt, bleibt das arbeitende Denken ein Herrschaftsdenken. Der Knecht ist zwar von der Herrschaft des Herrn befreit, aber um den Preis, daß er ein Knecht der Arbeit wird. Das Dispositiv der Arbeit erfaßt alle, sowohl den Herrn als auch den Knecht. So entsteht eine Arbeitsgesellschaft, in der alle ein Arbeitsknecht sind, also eine Gesellschaft der Werktätigen. Alles hat eine Arbeit zu sein. Es gibt keine Zeit, die keine Arbeit wäre. Das Dispositiv der Arbeit läßt die Zeit selbst arbeiten. Die Arbeit beansprucht alle Aktivitäten und Kräfte für sich. Sie stellt sich als ein einziges Tun dar. Da alle Handlungsenergien von der Arbeit ganz absorbiert werden, ist in der arbeitsfreien Zeit nur eine passive Unterhaltung möglich, in der man sich von der Arbeit erholt, um mit vollen Kräften wieder arbeiten zu können. Die Arbeitsgesellschaft ist letzten Endes eine Zwangsgesellschaft. Arbeit macht nicht frei. Das Dispositiv der Arbeit erzeugt eine neue Knechtschaft. Hegels Dialektik von Herr und Knecht als Dialektik der Freiheit bringt so lange keine freie Gesellschaft hervor, als das Bewußtsein vom Dispositiv der Arbeit beherrscht bleibt. Die dialektische Bildungsgeschichte des Bewußtseins wurde bei Hegel also nicht zu Ende gedacht. Ganz frei ist das Bewußtsein nur dann, wenn es sich auch vom Imperativ zur Arbeit befreit. Dieser bringt jene Lebensformen des freien Mannes, d.h. die Formen der Muße (schole) ganz zum Verschwinden. Verabsolutiert wird die Tätigkeit als Un-Ruhe (a-scholia), die Aristoteles zufolge sich ganz der Ruhe (schole) unterordnen müßte. Das Verhältnis von Ruhe (schole) und Unruhe (ascholia) hat sich heute ganz umgekehrt. Die Ruhe ist nun die Zeit der Erholung oder Entspannung, die um der Tätigkeit als Arbeit willen notwendig ist. Die Geschichte, die Hegel zufolge eine Geschichte der Freiheit ist, vollendet sich nicht, solange man ein Knecht der Arbeit bleibt. Die Herr18 | Karl Marx: MEW Bd. 40, S. 574.

98 | Duft der Zeit schaft der Arbeit macht unfrei. Der Gegensatz von Herr und Knecht kann nicht dadurch aufgehoben werden, daß alle Knecht der Arbeit werden. Er wird nur dann beseitigt, wenn der Knecht sich tatsächlich in einen freien Mann verwandelt. Die vita activa bleibt eine Zwangsformel, solange sie die vita contemplative nicht in sich aufnimmt. Die vita activa, der jeder kontemplative Moment abgeht, entleert sich zu einer puren Aktivität, die zur Hektik und Unruhe führt. Auch Simmel zufolge kommt die Geschichte nicht in einer Gesellschaft der ›Vollbeschäftigung‹, sondern in einer Gesellschaft der Muße zum Abschluß: »Jenes Spiel der kosmischen Kräfte, das von dem Gesetz sich erhaltender Energie gelenkt wird, strebt einem Endpunkt zu: einmal, so lehren unsere Forscher, werden alle Temperaturunterschiede im Weltall ausgeglichen sein, alle Atome eine Gleichgewichtslage gewonnen haben und die Energie in gleichmäßiger Verteilung durch alles Existierende zerstreut sein. Dann ist das Säculum der Bewegung zu Ende und das ewige Reich der kosmischen Faulheit beginnt. So ist sie das letzte, von der Ordnung der irdischen Dinge dieser selbst gesetzte Ziel; und es ist die Höhe und Würde des Menschen, daß er dieses in sich vorwegnehmend verwirklichen kann, indem er in seinen faulsten Stunden im höchsten Sinne zum Mikrokosmos wird, weil das letzte Entwicklungsziel des Kosmos in ihm Geist, Gefühl, Genuß geworden ist. Indem die Philosophie dies jetzt in ihr Bewußtsein gehoben hat, ist der äußerste Punkt ihrer Geschichte erreicht, nach dem sie nur noch schweigen kann, um so, ihrer Aufgabe endlich gerecht geworden, zum ersten Male in sich selbst das Prinzip darzustellen, das sie als das absolute der Welt erkannt hat.« 19 Trotz einer zentralen Bedeutung der Arbeit bei Marx besteht seine Utopie nicht in einer Glorifizierung der Arbeit. Gelegentlich schwebt ihm sogar eine Befreiung von der Arbeit vor: »Die freie Zeit – die sowohl Mußezeit als auch Zeit für höhere Tätigkeit ist – hat ihren Besitzer natürlich in ein anderes Subjekt verwandelt und als dies andere Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozess.«20 Es ist Hegels zentrale Einsicht, daß die Arbeit nicht nur die Welt, sondern auch das arbeitende Subjekt selbst verwandelt. So verhilft die Arbeit dem Knecht zu einem höheren Bewußtsein, das ihn über das animalische Leben erhebt. Es ist jedoch sehr fragwürdig, ob 19 | Georg Simmel: Metaphysik der Faulheit, in: Jugend. Münchener illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, 5. Jahrgang, Nr. 20. Hervorhebung von B.H.

20 | Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 42, S. 599.

Vita contemplativa | 99 angesichts des Übergewichtes der Arbeit, die Marx zum Wesenszug des Menschen erhebt,21 dieser sich wirklich in ein »anderes Subjekt« zu verwandeln vermag, das fähig wäre zu jener freien Zeit, die keine Zeit der Arbeit mehr wäre. Das Marxsche Subjekt bleibt aufgrund seiner Herkunft ein Arbeitssubjekt. Selbst wenn es nicht arbeitet, ist es nicht zu einer ganz anderen Tätigkeit fähig. Außerhalb der Arbeit bleibt es höchstens ein Konsument. Arbeiter und Konsument sind miteinander verwandt. Sie verbrauchen die Zeit. Sie haben keinen Zugang zur vita contemplativa. Auch Arendt sieht einen eklatanten Widerspruch darin, »daß Marx in allen Stadien seines Denkens davon ausgeht, den Menschen als ein Animal laborans zu definieren, um dann dies arbeitende Lebewesen in eine ideale Gesellschaftsordnung zu führen, in der gerade sein größtes und menschlichstes Vermögen brachliegen würde«.22 Man mag hier Arendt entgegenhalten, daß Marx zwischen entfremdeter Zwangsarbeit und freier Arbeit unterscheide, daß die Befreiung von der Arbeit nur der entfremdeten Arbeit gelte. Aber die Arbeit läßt als solche nur ein ganz beschränktes Verhältnis zu sich und zur Welt zu. Das an der oder bei der Arbeit gebildete Subjekt findet selbst in der arbeitsfreien Zeit nicht zu einer anderen Wahrnehmung der Welt. Produktion und Verzehr der Dinge als einzig mögliche Tätigkeit des Arbeitssubjekts sind dem kontemplativen Verweilen bei den Dingen entgegengesetzt. Gerade die heutige Gesellschaft ist ein Beleg dafür, daß der Mensch, der ganz und gar ein Arbeitssubjekt geworden ist, zu jener freien Zeit, die keine Zeit der Arbeit ist, nicht fähig ist. Die wachsende Produktivität erzeugt zwar immer mehr Freizeit. Aber diese wird weder für die höhere Tätigkeit noch für die Muße verwendet. Sie dient vielmehr entweder zur Erholung von der Arbeit oder zum Konsum. Das animal laborans kennt nur die Pause, aber keine kontemplative Ruhe. Die Dialektik von Herr und Knecht als Dialektik der Freiheit ist vollständig nur dann, wenn sie auch über die Arbeit hinausgeführt wird, wenn sie des Anderen der Arbeit eingedenk bleibt.

21 | So schreibt er in der »Deutschen Ideologie«: »Der erste geschichtliche Akt dieser Individuen, wodurch sie sich von den Tieren unterscheiden, ist nicht, daß sie denken, sondern daß sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren« (Karl Marx: MEW Bd. 5, S. 568).

22 | Hannah Arendt: Vita activa, a.a.O., S. 123.

100 | Duft der Zeit

3. V ITA

AC TIVA ODER

V OM

TÄTIGEN

L EBEN

Andante […] das Tempo eines leidenschaftlichen und langsamen Geistes. Friedrich Nietzsche

Hannah Arendts Schrift »Vita activa« widmet sich einer Rehabilitierung, ja einer Revitalisierung des »tätigen Lebens«, das ihrer Ansicht nach zunehmend verkümmert. Problematischerweise macht sie das Primat der Kontemplation in der griechisch-christlichen Tradition für diese »Degradierung der Vita activa« verantwortlich. Der Vorrang der vita contemplativa setze alle Formen der vita activa auf das Niveau der nützlichen und notwendigen Arbeit herab: »Mein Einwand gegen die Tradition besteht wesentlich darin, daß durch das in der überlieferten Hierarchie der Kontemplation zuerkannte Primat die Gliederungen und Unterschiede innerhalb der Vita activa verwischt oder nicht beachtet worden sind, und daß allem Anschein zum Trotz sich diese Lage der Dinge auch nicht durch den Abbruch der Tradition in der Neuzeit und die Verkehrung der überkommenen Ordnung durch Marx und Nietzsche geändert hat.«23 Gegen diese Nivellierung der vita activa glaubt Arendt deren unterschiedliche Erscheinungsformen herausstellen zu müssen, wobei die Emphase des zum Handeln entschlossenen Lebens ihre Phänomenologie der vita activa beherrscht. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß das Primat der Kontemplation verantwortlich ist für die Degradierung der vita activa zur Arbeit. Es ist vielmehr anzunehmen, daß das menschliche Tun gerade dadurch, daß es jede kontemplative Dimension verliert, zu einer puren Aktivität und Arbeit herabsinkt. Fälschlicherweise stellt Arendt die Kontemplation als eine Stillegung aller Bewegungen und Tätigkeiten dar, als eine passive Ruhe, die jede Form der vita activa als Unruhe erscheinen ließe. Zur Kontemplation gelangen die Sterblichen, so Arendt, »wenn sie mit allen Bewegungen und Tätigkeiten an sich halten und völlig zur Ruhe gekommen sind«.24 Die Bewegungslosigkeit betriff t sowohl den Körper als auch die Seele: »Was immer Körper und Seele bewegt, die äußeren wie die inneren Bewegungen des Sprechens und des Denkens müssen zur Ruhe kommen im Betrachten der Wahrheit.«25 Arendt erkennt nicht, daß die vita contemplativa nur deshalb eine Form 23 | Hannah Arendt: Vita activa, a.a.O., S. 27. Arendt ist offenbar entgangen, daß Nietzsche auch ein Genius der Kontemplation gewesen ist.

24 | Ebd., S. 26. 25 | Ebd., S. 25.

Vita contemplativa | 101 der Ruhe darstellt, weil sie in sich ruht. Das In-sich-Ruhende muß aber nicht ohne jede Bewegung und Tätigkeit sein. Auch Gott ruht in sich. Aber er ist die reine Tätigkeit (actus purus). Das In-sich bedeutet hier nur, daß keine Abhängigkeit vom Äußeren vorliegt, daß man frei ist. So bezeichnet Aristoteles das kontemplative Leben (bios theoretikos) ausdrücklich als ein tätiges Leben. Das Denken als theoria ist nämlich eine energeia, die wörtlich Werk-tätigkeit oder am Werk-sein (en ergô einai) bedeutet. Darin folgt auch Thomas Aristoteles: »Die äußerlichen körperlichen Bewegungen werden der Ruhe der Beschauung (contemplatio), die als von äußeren Beschäftigungen frei gedacht wird, gegenübergestellt. Die Bewegungen der geistigen Tätigkeiten hingegen gehören zur Ruhe der Beschauung selbst.«26 Arendts Rehabilitierung der vita activa gilt vor allem dem Handeln. Dabei lädt sie es mit heroischer Emphase auf. Handeln heißt etwas ganz Neues anfangen. Ohne die Entschlossenheit zum Handeln verkümmert der Mensch zum homo laborans. Geboren-sein ist nicht Geworfen-sein, sondern Handeln-Können. Arendts Heroik des Handelns steigert sich sogar ins Messianische: »Das ›Wunder‹ besteht darin, daß überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins. […] Daß man in der Welt Vertrauen haben und daß man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ›die frohe Botschaft‹ verkünden: ›Uns ist ein Kind geboren.‹«27 Handeln bedeutet, ins Temporale übersetzt, die Zeit neu beginnen lassen. Seine Essenz ist die Revolution. Diese »unterbricht« »den automatischen Ablauf des Alltäglichen«.28 Angesichts der natürlichen Zeit der Wiederholung ist der Neubeginn ein »Wunder«. Das Handeln ist eine genuin menschliche, »wunderwirkende Fähigkeit«.29 Arendt glaubt aber irrtümlicherweise, daß das wirklich Neue sich allein der Entscheidung eines zum Handeln entschlossenen, heroischen Subjektes verdankt. Die welt- und kulturbildenden Ereignisse gehen aber nur selten auf bewußte Entscheidungen eines aktiv handelnden Subjektes zurück. Vielmehr sind sie oft Produkte der Muße, des zwanglosen Spiels oder der freien Einbildungskraft.30 26 27 28 29 30

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Thomas von Aquin: Summa theologica, II, 2, 180, 6. Hannah Arendt: Vita activa, a.a.O., S. 317. Ebd., S. 315. Ebd., S. 316. So ist auch Nietzsche der Ansicht, daß gerade dem handelnden

Menschen die vis creativa fehlt. In einem Aphorismus schreibt er: »Ihm (sc.

102 | Duft der Zeit Arendt konzipiert ihre emphatische Idee des Handelns angesichts jenes historischen Prozesses, in dessen Verlauf der Mensch zum animal laborans degeneriert. In der Moderne nimmt das menschliche Leben, so ihre These, die Form eines kollektiven Lebensprozesses an, der keinen Raum zuläßt für das individuelle Handeln. Von den Menschen wird nur noch ein automatisches Funktionieren verlangt, »als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben […], um dann völlig ›beruhigt‹ desto besser und reibungsloser ›funktionieren‹ zu können«.31 Die Arbeit fügt den Einzelnen in den Lebensprozeß der Gattung ein, der sich jenseits der individuellen Handlung und Entscheidung fortsetzt. Gegen die Passivität des animal laborans beschwört Arendt das Handeln. Das tätige Leben wird der »tödlichsten, sterilsten Passivität«32 entgegengesetzt, in der die Neuzeit, die unter Aktivierung aller menschlichen Vermögen so verheißungsvoll begonnen hat, zu enden droht. Arendt entgeht aber, daß die Passivität des animal laborans kein Gegenteil des tätigen Lebens, sondern gerade dessen Kehrseite darstellt. So gesehen, entfaltet die Emphase des tätigen Lebens, das Arendt mit dem Handeln verknüpft, keine Gegenkraft gegen die Passivität des animal laborans, denn das Tätigsein verträgt sich sehr wohl mit dem kollektiven Lebensprozeß der Gattung. In dem mit »Hauptmangel der tätigen Menschen« überschriebenen Aphorismus schreibt Nietzsche: »Den Tätigen fehlt gewöhnlich die höhere Tätigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte, Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gattungswesen tätig, aber nicht als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht sind sie faul. […] Die Tätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik.«33 Arendt registriert zwar, daß das moderne Leben sich zunehmend von der vita contemplativa abwendet. Aber sie denkt über diese Entdem höheren Menschen), als dem Dichter, ist gewiss vis contemplativa und der Rückblick auf sein Werk zu eigen, aber zugleich und vorerst die vis creativa, welche dem handelnden Menschen fehlt, was auch der Augenschein und der Allerweltsglaube sagen mag« (Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Gesamtausgabe, 5. Abteilung, Bd. 2, Berlin 1973, S. 220).

31 | Hannah Arendt: Vita activa, a.a.O., S. 410. 32 | Ebd., S. 411. 33 | Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, Kritische Gesamtausgabe, 4. Abteilung, Bd. 2, Berlin 1967, S. 235.

Vita contemplativa | 103 wicklung nicht weiter nach. Die vita contemplativa macht sie nur dafür verantwortlich, daß alle Ausdrucksformen der vita activa unterschiedslos zur bloßen Arbeit nivelliert werden. Arendt erkennt nicht, daß die Hektik und Unruhe des modernen Lebens viel mit dem Verlust des kontemplativen Vermögens zu tun hat. Die Totalisierung der vita activa ist auch am »Erfahrungsschwund« beteiligt, den Arendt selber beklagt. Die pure Aktivität macht erfahrungsarm. Sie setzt das Gleiche fort. Wer nicht innezuhalten vermag, hat keinen Zugang zum ganz Anderen. Erfahrungen verwandeln. Sie unterbrechen die Wiederholung des Gleichen. Empfänglich für Erfahrungen wird man nicht dadurch, daß man aktiver wird. Vielmehr ist eine besondere Passivität notwendig. Man muß sich angehen lassen von dem, was sich der Aktivität des handelnden Subjekts entzieht: »Mit etwas, sei es ein Ding, ein Mensch, ein Gott, eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns triff t, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt.«34 Arendts Verhältnis zur Zeit steht durchgehend im Zeichen der Beherrschung. Das Verzeihen als eine emphatische Handlung ist eine »Macht«, die darin besteht, die Zeit neu beginnen zu lassen. Es befreit das Handlungssubjekt von der Vergangenheit, von der temporalen Last, die es auf immer festlegen will.35 Das Versprechen macht die Zukunft berechen- und verfügbar, indem es sie vor der Unvorhersehbarkeit schützt. Kraft des Verzeihens und des Versprechens bemächtigt sich das Handlungssubjekt der Zeit. Der Machtcharakter des Handelns verbindet dies zutiefst mit anderen Formen der vita activa, nämlich mit dem Herstellen und Arbeiten. Auch die Emphase des »Eingreifens«36 wohnt nicht nur dem Handeln, sondern auch dem Herstellen und dem Arbeiten inne. Das Sein geht nicht im Tätigsein auf. Selbst das Handeln muß in sich Momente des Innehaltens enthalten, damit es nicht zur bloßen Arbeit erstarrt. In der Atemwende der Handlung ist eine Stille. Das handelnde Subjekt wird sich im Innehalten mit der Aktion, im Moment des Zögerns des unermeßlichen Raumes gewahr, der einer Handlungsentscheidung vorgelagert ist. Die ganze Kontingenz einer Handlung drängt sich dem Handlungssubjekt erst im Moment des zögernden Zurückweichens vor der Aktion auf. Die Entschlossenheit zur Handlung, die nicht zu zögern weiß, ist blind. Sie sieht weder ihren eigenen Schatten noch das Andere ihrer selbst. Das Zögern ist 34 | Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 159. 35 | Hannah Arendt: Vita activa, a.a.O., S. 303. 36 | Ebd., S. 315.

104 | Duft der Zeit zwar keine positive Tat-Handlung. Aber es ist konstitutiv für die Handlung selbst. Nicht Mehr an Tätigkeit, sondern das Innehalten-Können unterscheidet das Handeln vom Arbeiten. Wer nicht zu zögern vermag, ist ein Arbeiter. Gegen Ende der »Vita activa« beschwört Arendt unerwartet das Denken. Das Denken habe, so Arendt, möglicherweise von jener neuzeitlichen Entwicklung am wenigsten Schaden genommen, die verantwortlich sei für den »Sieg des Animal laborans«. Die Zukunft der Welt werde zwar nicht vom Denken, sondern von der »Macht handelnder Menschen« abhängen. Aber das Denken sei doch nicht irrelevant für die menschliche Zukunft, denn es sei unter den Tätigkeiten der vita activa die »tätigste«, in der »sich die Erfahrung des Tätigseins am reinsten ausspreche«. Es übertreffe »alle Tätigkeiten an schierem Tätigsein«. Arendt läßt es aber ganz im Unklaren, warum gerade im Denken die Erfahrung des Tätigseins am reinsten zum Ausdruck kommt. Inwiefern ist das Denken tätiger als die aktivste Handlung? Ist nicht das Denken gerade deshalb die tätigste aller Tätigkeiten, weil sie große Höhen und Tiefen durchmißt, weil sie sich am weitesten hinauswagt, weil sie als Kon-Templation weiteste Räume und Zeiträume in sich versammelt, d.h., weil sie kontemplativ ist? Das Denken als theoria ist eine kontemplative Tätigkeit. Es ist eine Erscheinungsform der vita contemplativa. Paradoxerweise erhebt es Arendt zu einer Tätigkeit, die andere Tätigkeiten der vita activa an schierem Tätigsein übertriff t. Für Aristoteles ist die denkende Tätigkeit deshalb eine göttliche Tätigkeit, weil sie sich von jeder Handlung freimacht, d.h. weil sie eben kontemplativ ist: »Von den Göttern glauben wir, daß sie die glücklichsten und seligsten Wesen sind. Aber was für Handlungen soll man ihnen beilegen? Etwa Handlungen der Gerechtigkeit? […] Oder Handlungen des Mutes, wobei sie vor Furchterregendem standzuhalten und Gefahren zu bestehen hätten, weil es sittlich schön ist, solches zu tun? […] Nimmt man aber dem Lebendigen jenes Handeln aufgrund ethischer Tugend und Klugheit […], was bleibt dann noch als das Denken? Und so muß denn die Tätigkeit Gottes, die an Seligkeit alles übertriff t, die denkende Tätigkeit sein.«37 Arendt beschließt ihr Buch mit einem Ausspruch von Cato, auf den sich Cicero in »De re publica« beruft: »Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut, niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit sich allein ist.«38 37 | Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1178b. 38 | Hannah Arendt: Vita activa, S. 415, u. Marcus Tullius Cicero: De re publica, 1.17., übersetzt von W. Sontheimer.

Vita contemplativa | 105 Dieser Ausspruch gilt eigentlich der vita contemplativa. Arendt macht daraus ein Lob der vita activa. Ihr entgeht offenbar, daß jene »Einsamkeit« auch der vita contemplativa gilt, daß sie dem gemeinsamen Handeln, der »Macht der handelnden Menschen« diametral entgegengesetzt ist. An der zitierten Stelle fordert Cicero seine Leser ausdrücklich dazu auf, abseits vom »Forum« und »Gewühl der Menge« sich in die Einsamkeit eines kontemplativen Lebens zurückzuziehen. So lobt er, unmittelbar nachdem er Cato zitiert hat, eigens die vita contemplativa. Nicht das aktive, sondern das kontemplative Leben, das sich dem Ewigen und Göttlichen hingibt, mache den Menschen erst zu dem, was er zu sein hat: »Welche militärische Führerstellung aber, welches zivile Amt, welcher Königsthron kann höher eingeschätzt werden, als wenn man alle menschlichen Dinge verachtet, sie als tief unter der Weisheit liegend ansieht und sich in seinem Denken nie mit etwas anderem als mit dem Ewigen und Göttlichen beschäftigt? Dieser Mann wird die Erkenntnis in sich tragen, daß alle anderen Menschen zwar diesen Namen führen, daß aber wirkliche Menschen nur die sind, die sich auf Grund der ihnen als Menschen eigenen Fähigkeiten zu einer feineren Form entwickelt haben.« Gegen Ende ihrer »Vita activa« redet Arendt ungewollt der vita contemplativa das Wort. Bis zuletzt bleibt ihr verborgen, daß gerade der Verlust des kontemplativen Vermögens dafür verantwortlich ist, daß der Mensch zum animal laborans degeneriert.

106 | Duft der Zeit

4. V ITA

CONTEMPL ATIVA ODER

V OM

BESINNLICHEN

L EBEN

Ihr Alle, denen die wilde Arbeit lieb ist und das Schnelle, Neue, Fremde, – ihr ertragt euch schlecht, euer Fleiß ist Flucht und Wille, sich selber zu vergessen. Wenn ihr mehr an das Leben glaubtet, würdet ihr weniger euch dem Augenblicke hinwerfen. Aber ihr habt zum Warten nicht Inhalt genug in euch – und selbst zur Faulheit nicht! Friedrich Nietzsche

Das Denken sei, so bemerkt Arendt in »Vita activa«, ein Vorrecht der Wenigen gewesen. Aber gerade deshalb seien diese Wenigen auch heute nicht weniger geworden.39 Ganz zutreffend ist diese Annahme jedoch nicht. Es ist vielleicht ein besonderes Kennzeichen von heute, daß die Denker, die ohnehin nur wenige sind, noch weniger geworden sind. Womöglich hat das Denken davon viel Schaden genommen, daß die vita contemplativa zugunsten der vita activa zunehmend an den Rand gedrängt worden ist, daß die hyperaktive Unruhe, die Hektik und Ruhelosigkeit von heute, dem Denken nicht gut bekommt, daß das Denken wegen eines zunehmenden Zeitdruckes nur noch das Gleiche reproduziert. Schon Nietzsche hat beklagt, daß seine Zeit arm an großen Denkern sei. Er führt diese Armut gerade auf »ein Zurücktreten und eine gelegentliche Unterschätzung der vita contemplativa« zurück, auf den Umstand, daß »Arbeit und Fleiss – sonst im Gefolge der grossen Göttin Gesundheit – mitunter wie eine Krankheit wüten«. 40 Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, werden abweichende Ansichten gemieden. Man beginnt, sie zu hassen. Die allgemeine Unruhe erlaubt es dem Denken nicht, sich zu vertiefen, sich weit hinauszuwagen, sich zu etwas wirklich Anderem aufzuschwingen. Nicht das Denken diktiert die Zeit, sondern die Zeit das Denken. Dadurch wird es temporär und ephemer. Es kommuniziert nicht mehr mit dem Dauernden. Nietzsche glaubt aber, daß eine »gewaltige Rückkehr des Genius’ der Meditation« 41 jene Klage verstummen lassen werde. Das Denken im emphatischen Sinne läßt sich nicht beliebig be39 | Hanna Arendt: Vita activa, a.a.O., S. 414. 40 | Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, a.a.O., S. 234f.

41 | Ebd., S. 235.

Vita contemplativa | 107 schleunigen. Darin unterscheidet es sich vom Rechnen oder von bloßer Verstandestätigkeit. Es ist nicht selten verschnörkelt. Darum nannte Kant die Scharf- und Feinsinnigkeit »eine Art von Luxus der Köpfe«. 42 Die Verstandestätigkeit kennt nur Bedürfnis und Notwendigkeit, aber keinen Luxus, der eine Abweichung vom Notwendigen, ja vom Geraden darstellt. Dem Denken, das sich übers Rechnen erhebt, wohnt eine besondere Zeit- und Räumlichkeit inne. Es verläuft nicht linear. Frei ist deshalb das Denken, weil sein Ort und seine Zeit nicht berechenbar sind. Es verläuft nicht selten diskontinuierlich. Das Rechnen folgt dagegen einer linearen Bahn. So läßt es sich genau verorten und sich im Prinzip beliebig beschleunigen. Es blickt sich auch nicht um. Ein Umweg oder ein Schritt zurück macht keinen Sinn. Sie verzögern nur den Rechenschritt, der ein bloßer Arbeitsschritt ist. Heute gleicht sich das Denken selbst der Arbeit an. Das animal laborans vermag aber nicht zu denken. Für das Denken im emphatischen Sinne, also für das sinnende Denken, ist etwas notwendig, was keine Arbeit ist. Ursprünglich bedeutet Sinnen (ahd. sinnan) Reisen. Unberechenbar oder diskontinuierlich ist sein Itinerar. Das rechnende Denken ist nicht unterwegs. Ohne Ruhe vermag der Mensch nicht das Ruhende zu sehen. Die Verabsolutierung der vita activa vertreibt aus dem Leben alles, was kein Akt, keine Aktivität ist. Der allgemeine Zeitdruck vernichtet das Umweghafte und das Indirekte. Die Welt wird dadurch arm an Formen. Jede Form, jede Figur ist ein Umweg. Direkt ist nur die nackte Formlosigkeit. Nimmt man der Sprache das Indirekte, so nähert sie sich einem Schrei oder Befehl. Auch Freundlichkeit und Höfl ichkeit beruhen auf dem Umweghaften und Indirekten. Die Gewalt dagegen ist dem Direkten zugewandt. Fehlt dem Gehen jedes Zögern, jedes Innehalten, so erstarrt es zu einem Marsch. Unter Zeitdruck weichen auch das Ambivalente, das Ununterscheidbare, das Unscheinbare, das Unentscheidbare, das Schwebende, das Komplexe oder das Aporetische einer plumpen Deutlichkeit. Nietzsche bemerkt, daß die Hast der Arbeit auch das »Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen« verschwinden läßt. Die Melodie ist selbst ein Umweg. Direkt ist nur das Monotone. Eine Melodie zeichnet auch das Denken aus. Das Denken, dem jedes Umweghafte fehlt, verarmt zum Rechnen. Einen wesentlichen Anteil am modernen Beschleunigungszwang hat die vita activa, die seit der Neuzeit zum Nachteil des kontemplativen Lebens an Intensität zunimmt. Auch die Degradierung des Menschen zum animal laborans läßt sich als eine Folgeerscheinung dieser 42 | Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Werke in 10 Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 10, S. 512.

108 | Duft der Zeit neuzeitlichen Entwicklung deuten. Die Emphase der Arbeit und die des Handelns beruhen beide auf dem neuzeitlich-modernen Primat der vita activa. Arendt aber grenzt die Arbeit zu Unrecht scharf vom Handeln ab, indem sie sie als eine passive Teilnahme am Lebensprozeß der Gattung interpretiert. Arendts Handlungsbegriff besitzt keine Beschwörungskraft, die den Bann der Arbeit, der den Menschen zum animal laborans erniedrigt, zu brechen vermöchte, denn der emphatische Begriff des Handelns entspringt jenem Primat der vita activa, auf das auch die Verabsolutierung der Arbeit zurückgeht. Die Entschlossenheit zum Handeln und die zur Arbeit haben, wie mehrfach betont, dieselbe genealogische Wurzel. Allein eine Revitalisierung der vita contemplativa vermöchte den Menschen von dem Arbeitszwang zu befreien. Das animal laborans ist ferner mit dem animal rationale verwandt. Die bloße Verstandestätigkeit ist nämlich eine Arbeit. Der Mensch ist aber gerade deshalb mehr als ein animal, weil er ein kontemplatives Vermögen besitzt, das ihn dazu befähigt, mit dem Dauernden zu kommunizieren, das jedoch keine Gattung ist. Interessanterweise schenkt Heidegger der vita contemplativa kaum Aufmerksamkeit. Sie bedeutet für ihn nur das beschaulich-klösterliche Leben im Gegensatz zur vita activa als weltlich-tätigem Leben. Heidegger reduziert die Kontemplation auf ihr rationales Element, nämlich auf das einteilende, d.h. analytische Sehen. 43 Er bringt sie dann mit der Betrachtung in Verbindung. 44 Er begreift sie vom Trachten, vom lateinischen tractare her, das bearbeiten oder behandeln bedeutet. Nach etwas trachten heißt, so Heidegger, »sich auf etwas zu-arbeiten, es verfolgen, ihm nachstellen, um es sicher zu stellen«. Die Kontemplation als Betrachtung ist demnach das »nachstellende und sicherstellende Bearbeiten des Wirklichen«, eine »unheimlich eingreifende Bearbeitung des Wirklichen«. 45 Sie ist also eine Arbeit. Trotz seiner Nähe zur Mystik geht Heidegger nicht auf die mystische Dimension der Kontemplation ein, wonach diese als Verweilen bei Gott im liebenden Aufmerken nicht jene Intentionalität der Einteilung und Sicherstellung besitzt, die er ihr bescheinigt. In der unio mystica werden gerade Teilungen und Umzäunungen ganz aufgehoben. Thomas von Aquin zufolge stellt die vita contemplativa eine Lebensform dar, die den Menschen vollkommener macht: »In vita con43 | Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, a.a.O., S. 48. 44 | Diesen argumentativen Übergang bewerkstelligt Heidegger wie so oft mit einem sprachlich-etymologischen Hinweis: »Die deutsche Übersetzung für contemplatio lautet: Betrachtung« (ebd.).

45 | Ebd., S. 49.

Vita contemplativa | 109 templativa quaeritur contemplatio veritatis inquantum est perfectio hominis.« 46 Das Leben verarmt zur Arbeit, zu einem bloßen Gewerbe, wenn es jeden kontemplativen Moment verliert. Das kontemplative Verweilen unterbricht jene Zeit, die Arbeit ist: »werc und gewerbe in der zit und bloz sin des selben«. 47 Die vita contemplativa erhöht die Zeit selbst. Entgegen Arendts Feststellung findet in der christlichen Tradition keine einseitige Aufwertung der vita contemplativa statt. Wie bei Meister Eckhart wird vielmehr eine Vermittlung von vita activa und vita contemplativa angestrebt. So schreibt auch Gregor: »Man muß wissen: Wenn ein gutes Lebensprogramm verlangt, daß man vom tätigen zum beschaulichen Leben übergeht, dann ist es oft nützlich, wenn die Seele vom beschaulichen Leben zum tätigen zurückkehrt, derart, daß die im Herzen entzündete Flamme der Beschauung der Tätigkeit ihre ganze Vollkommenheit schenkt. So muß uns das tätige Leben zur Beschauung führen, die Beschauung aber ausgehen von dem, was wir innerlich betrachtet haben, und uns zur Tätigkeit zurückrufen.«48 Die vita contemplativa ohne Handlung ist blind. Die vita activa ohne Kontemplation ist leer. Heideggers Spätphilosophie ist selbst von einer kontemplativen Stimmung beherrscht. Der »Feldweg« ist gleichsam eine via contemplativa. Auf ihm geht man nirgendwo hin, sondern verweilt kontemplativ. Nicht zufällig erwähnt Heidegger Meister Eckhart: »Die Weite aller gewachsenen Dinge, die um den Feldweg verweilen, spendet Welt. Im Ungesprochenen ihrer Sprache ist, wie der alte Lese- und Lebemeister Eckehardt sagt, Gott erst Gott.«49 Indem er vom »alten Lese- und Lebemeister« spricht, weist er auf die Notwendigkeit einer Vermittlung von vita activa und vita contemplativa hin. Die »Besinnung« oder das »besinnliche Denken« macht Heidegger zur Gegenformel gegen das rechnende Denken als Arbeit. In »Wissenschaft und Besinnung« schreibt er: »Die Armut der Besinnung ist jedoch das Versprechen auf einen Reichtum, dessen Schätze im Glanz jenes Nutzlosen leuchten, das sich nie verrechnen läßt.«50 Die Besinnung beginnt, wenn das Denken in der Arbeit innehält. Erst im Moment des 46 | Thomas von Aquin: Summa theologica, II, 2, 180, 4. 47 | Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke, hg. von Josef Quint, Bd. 3, Die deutschen Werke, Stuttgart 1976, S. 485.

48 | Zitiert in: Alois M. Haas: Die Beurteilung der Vita contemplativa und activa in der Dominikanermystik des 14. Jahrhunderts, in: Arbeit Musse Meditation, hg. von B. Vickers, Zürich 1985, S. 109-131, hier: S. 113.

49 | Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens, a.a.O., S. 89. 50 | Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, a.a.O., S. 64f.

110 | Duft der Zeit Innehaltens durchmißt es jenen Raum, der der »Bildung«51 vorgelagert ist.52 Allein die Besinnung hat Zugang zu dem, was kein Bild, keine Vorstellung ist, was aber ihrem Erscheinen statt-gibt. In ihrer »Gelassenheit zum Fragwürdigen« läßt sie sich auf das Langsame und Lange ein, das sich dem schnellen Zugriff entzieht. Sie weitet den Blick, indem sie ihn über das Vor- und Zu-handene, dem die Arbeit gilt, erhebt. Wo die Hand im Zugriff innehält, wo sie zögert, kommt in sie eine Weite. So spricht Heidegger von einer »aufruhenden Hand, in der sich ein Berühren versammelt, das unendlich weit von jeglichem Betasten entfernt bleibt«.53 Erst im Zögern erschließt sich der Hand ein unermeßlicher Raum. Die zögernde Hand ist »von einem weither und noch weiterhin rufenden Anruf durchtragen, weil aus der Stille zugetragen«.54 Erst in einem zögernden »Schritt zurück« des Innehaltens ist die »Stille« vernehmbar, die sich dem linearen Fortschreiten des Arbeitsprozesses verschließt. Erst der »Schritt zurück« gibt das Gehen-an-sich kund. Immer wieder kommt Heidegger auf diese kontemplative epoché (Anhalten) zurück: »Weilen heißt: währen, still bleiben, an sich und innehalten, nämlich in der Ruhe. Goethe sagt in einem schönen Vers: ›Die Fiedel stockt, der Tänzer weilt.‹«55 In dem Moment, in dem der Tänzer in der Bewegung innehält, wird er des ganzen Raumes gewahr. Diese zögernde Weile ist die Voraussetzung dafür, daß ein ganz anderer Tanz beginnt. Schonend ist jene »aufruhende Hand«, die sich des gewaltsamen Zugriffs enthält. Das Wort »schonen« geht auf den mittelhochdeut51 | »Das Wort ›bilden‹ meint einmal: ein Vor-Bild aufstellen und eine Vor-schrift herstellen. Es bedeutet sodann: vorgegebene Anlagen ausformen. Die Bildung bringt ein Vorbild vor den Menschen, demgemäß er sein Tun und Lassen ausbildet. […] Die Besinnung bringt uns dagegen erst auf den Weg zu dem Ort unseres Aufenthalts.« (Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, a.a.O, S. 64)

52 | Vgl. Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, a.a.O., S. 63: »Durch die so verstandene Besinnung gelangen wir eigens dort, wo wir, ohne es schon zu erfahren und zu durchschauen, uns seit langem auf halten. In dieser Besinnung gehen wir auf einen Ort zu, von dem aus sich erst der Raum öff net, den unser jeweiliges Tun und Lassen durchmißt.«

53 | Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 104f. 54 | Vgl. Martin Heidegger: Hölderlins Hymne »Andenken«, a.a.O., S. 171: »Die Zögerung der Scheu ist die wartende Entschiedenheit zur Geduld; Zögerung ist der längst entschiedene lange Mut zum Langsamen, Zögerung ist Langmut.«

55 | Martin Heidegger: Der Satz vom Grund, a.a.O., S. 186.

Vita contemplativa | 111 schen Ausdruck schône zurück, der auch »freundlich« bedeutet. Auch das kontemplative Verweilen ist eine Praxis der Freundlichkeit. Es läßt geschehen, sich ereignen und willigt ein, statt einzugreifen. Das tätige Leben, dem jede kontemplative Dimension fehlt, ist nicht fähig zur Freundlichkeit des Schonens. Es äußert sich als beschleunigte Herstellung und Zerstörung. Es verbraucht die Zeit. Auch in der Freizeit, die weiterhin dem Arbeitszwang unterliegt, hat man kein anderes Verhältnis zur Zeit. Die Dinge werden zerstört und die Zeit wird totgeschlagen. Das kontemplative Verweilen gibt Zeit. Es weitet das Sein, das mehr ist als Tätig-Sein. Das Leben gewinnt an Zeit und Raum, an Dauer und Weite, wenn es das kontemplative Vermögen wiedergewinnt. Wird aus dem Leben jedes beschauliche Element ausgetrieben, so endet es in einer tödlichen Hyperaktivität. Der Mensch erstickt dann im eigenen Tun. Notwendig ist eine Revitalisierung der vita contemplativa, denn diese schlägt Atemräume auf. Vielleicht verdankt der Geist selbst seine Entstehung einem Überschuß an Zeit, einem otium, ja einer Langsamkeit des Atems. Möglich wäre eine Umdeutung des Pneumas, das sowohl Atem als auch Geist bedeutet. Wer außer Atem gerät, ist ohne Geist. Auf die Demokratisierung der Arbeit hat eine Demokratisierung des otium zu folgen, damit jene nicht in die Knechtschaft aller umschlägt. So schreibt auch Nietzsche: »Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Masse zu verstärken.«56

56 | Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, a.a.O., S. 236.

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Michael Opielka Kultur versus Religion? Soziologische Analysen zu modernen Wertkonflikten 2007, 190 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-393-8

Ramón Reichert Das Wissen der Börse Medien und Praktiken des Finanzmarktes 2009, 242 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1140-3

Werner Rügemer »Heuschrecken« im öffentlichen Raum Public Private Partnership – Anatomie eines globalen Finanzinstruments 2008, 172 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN 978-3-89942-851-3

Oliver Scheytt Kulturstaat Deutschland Plädoyer für eine aktivierende Kulturpolitik 2008, 310 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-400-3

Natan Sznaider Gedächtnisraum Europa Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive 2008, 156 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN 978-3-89942-692-2

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