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German Pages 72 [85] Year 1940
Hamburger Rechtsstudien herausgegeben von Mitgliedern der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Hansischen Universität Heft
37
Aus dem Seminar für Jugendrecht der Hansischen Universität (Direktor: Prof. Dr. Rudolf Sieverts)
Der Jugendrichter und bio Behandlung junger Rechtsbrecher in Belgien von
Dr. iur. Kurt Walters
I Hamburg Friederichsen, de Gruyter & Co.
1939
D. 18
Niemann s Moschinski, Hamburg 23, Kantstr.18
Inhaltsverzeichnis Seite Vorwort
7
§
i:
Die Kriminologie der Jugendlichen in Belgien
§
2:
Die Regelung bis zu dem Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 .
9
§
3:
§
4:
Das Verfahren gegen Jugendliche nach geltendem R e d i t 1. Einzelrichter 2. Öffentlichkeit der Sitzungen 3. Besonderes Verfahren Wegfall der Strafe 1. Das Unterscheidungsvermögen 2. Die Strafmündigkeitsgrenze
§
j:
.
.
. . .
11
. . . .
16 17 19 20 21 21 23
Die Befugnisse des Jugendrichters
25
1. Maßregeln der Erziehung und Sicherung
25
2.
3.
Der Zuständigkeitsbereich des Jugendrichters a) Bettelei und Landstreicherei b) Auf elterliches Ersuchen c) Gefährdung des Jugendlichen d) Gesetzesverletzungen e) Schulversäumnis Sonstige Befugnisse a) Abänderbarkeit der Entscheidung b) Regelmäßige Überprüfung der Entscheidung c) Vorläufige Maßnahmen d) Maßnahmen zum Schutze Anormaler e) Schadenersatz, Verfahrenskosten, Unterhaltskosten . . . .
26 26 26 27 27 29 29 29 30 31 31 32
§ 6:
Die Schutzaufsicht
§
7:
Die Berufung
32 34
§
8:
Vollzug und K o n t r o l l e
35
§
9:
Besondere Schutzvorschriften
37
§10:
Die Durchführung der Erziehungsarbeit 1. Die Beobachtung a) Das Beobachtungsinstitut in Moll b) Andere Beobachtungsinstitute 2. Die erzieherische Behandlung
38 39 39 44 45
§11:
Die Erziehungsanstalten 1. Die staatlichen Anstalten 2. Die privaten Anstalten
47 48 54
§12:
Die Unterbringung in einer Familie
57
§13:
Die Homes de semi-liberté
58
§14:
Hilfsorganisationen 1. Verbände für verwahrloste Kinder a) comités de patronage b) conseils de tutelle
62 63 63 64
Verbände für gerichtlich belangte Jugendliche a) comités des enfants traduits en justice b) sociétés tutélaires des enfants traduits en justice Der Erfolg des Gesetzes v o m 1 $ . Mai 1 9 1 2 und Reformvorschläge 2.
§ IJ:
-64 64 64 66
Literaturverzeichnis. Blouw, H. C. Valkema: Comparaison entre le système belge et le système anglais en matière de prison-école. In Revue de Droit Pénal et de Criminologie 1929, S. 210 ff. Braas, Ad.: Traité élémentaire de droit pénal. Bujfelan, Jean: La réforme pénitentiaire en Belgique et la loi de défense sociale du 9 avril 1930. Paris 1930. Collard, Charles: Le tribunal pour enfants, son passé, son avenir. In Rue de Droit Pénal et de Criminologie 1924, S. 674 fi. Delannoy, Alphonse: L'application de la loi du 15 mai 1 9 1 2 sur la protection de l'enfance de 1920—1933. In Revue de Droit Pénal et de Criminologie 1934, S. 1 1 2 3 ff. Dérély, Henry: Les tribunaux pour enfants en Belgique. Lille 1 9 1 3 . v. Hentig, Hans: Ein modernes Jugendgesetz, das Belgische Jugendgesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 . Säemann's Schriften f ü r Erziehung und Unterricht, H e f t 4. Heupgen, Paul: Les enfants devant la juridiction répressive à Möns du X I V . au X V I I I . siècles. Extrait du Bulletin de la Commission Royale des anciennes lois et ordonances de Belgique. Vol. X I . fasc. 6, Bruxelles 1923. Huguenin, Elisabeth: Les tribunaux pour enfants. Paris 1 9 3 j . Materne, Alphonse: La charte de l'enfance. Bruxelles 1 9 1 3 . Maus, Isidor: Commentaire législatif de la loi du i j mai 1 9 1 2 sur la protection de l'enfance. Bruxelles 1 9 1 2 . — La loi belge du 15 mai 1 9 1 2 sur la protection de l'enfance. Son application, ses résultats, ses lacunes. In Revue de Droit Pénal et de Criminologie I 9 J 7 , S. 1049 fr. Nisot, Pierre: L'enfance délinquante et moralement abandonnée. Tome I : Les tribunaux pour enfants. Tome II : Les maisons d'éducation et de correction pour mineurs dans les divers pays. Bruxelles 1927. Petrzilka, Werner: Persönlichkeitsforsdiung und Differenzierung im Strafvollzug. Hamburg 1930. (Über die belgischen Verhältnisse S. 61—8$.) Quentin und Sieverts: Die Behandlung der jungen Rechtsbrecher im Alter von 17 bis bis 23 Jahren in England, Blätter für Gefängniskunde, Bd. 68 (1937), S. 165—239. Racine, Aimée: Les enfants traduits en justice. Liège 1935. Recueil de documents en matière pénale et pénitentiaire. Bulletin de la Commission Internationale pénale et pénitentiaire. Jahrg. 1 9 3 1 , Bd. 1 . Revue de Droit Pénal et de Criminologie. Bruxelles, Jahrgänge 1 9 1 2 — 1 9 3 8 . Abgekürzt: Rev. Belg. Rosenfeld: Übersetzung des belgischen Gesetzes vom 15. Mai 1 9 1 2 in Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung 1 9 1 2 , 4. Beilage. Société des Nations: L'organisation des tribunaux pour enfants et les expériences faites jusqu'à ce jour. Genève 1932. — Services auxiliaires des tribunaux pour enfants. Genève 1 9 3 1 . — Les institutions pour enfants dévoyées et délinquantes. Genève 1934. Velge, Henri: La protection de l'enfance dans la législation et dans les oeuvres en Belgique. Bruxelles 1925. Vervaeck, Paul: Délinquance et criminalité de l'enfance. In Revue de Droit Pénal et de Criminologie 1936, S. 706 ff., S. 894 ff., 8 . 1 0 8 7 ® . Wehler, Heinrich: Wider das Jugendgericht. Berlin 1929. Wets, Paul: Quince années d'application de la loi sur la protection de l'enfance. Bruxelles 1928. — L'observation de l'enfant de justice. In Revue de Droit Pénal et de Criminologie 1930, S. 1 ff.
Vorwort A m Vorabend einer Reform des Deutschen Jugendrechts ist eine Untersuchung über die Arbeit des Jugendrichters und die Behandlung junger Rechtsbrecher in anderen Ländern von besonderem Interesse. Aus diesem Gedanken heraus ist die vorliegende Arbeit entstanden. Das belgische Jugendrecht verdient dabei neben dem englischen und italienischen Jugendrecht besondere Beachtung. Es ist das älteste auf dem europäischen Kontinent und hat im Jahre 1 9 1 2 schon eine Fassung erhalten, welche modernen Anforderungen entspricht. Das Gesetz von 1 9 1 2 ist damals nicht nur in die deutsche Sprache übersetzt, sondern auch in der deutschen Literatur stark beachtet worden. Es fehlt aber an einer Darstellung seiner nun 27jährigen erfolgreichen Erprobung und "Weiterentwicklung. Diese Lücke soll die nachstehende Untersuchung ausfüllen. Leider war es aus devisentechnischen Gründen nicht möglich, die Verhältnisse der belgischen Jugendrechtspflege an Ort und Stelle zu studieren. Aber die darüber erschienene belgische Literatur gibt ein sehr klares, sorgfältiges und mit großzügiger Selbstkritik gezeichnetes Bild, das von ausländischen Besuchern durchaus bestätigt wird. So erschien das Unternehmen der nachstehenden Untersuchung gleichwohl gerechtfertigt. Das Ergebnis ist, daß auch dieser Teil der belgischen Kriminalpolitik uns wegen seiner konstruktiven Idee und Ausführung viel Anregung zu geben vermag.
§ I.
Die Kriminologie der Jugendlichen in Belgien. Die moderne Richtung im Strafrechtsdenken der Kulturnationen setzt die Beurteilung der Person des Täters als gleichwertig, ja oft mit Vorrang neben die frühere Auffassung, die die T a t in den Mittelpunkt der Betrachtung stellte. Dies gilt auch für Belgien. Daraus hat sich auch in diesem Lande ein eingehendes Studium der Verbrechensursachen entwickelt, das den Weg zur Bekämpfung und Vorbeugung der Kriminalität weisen soll, und dessen Ergebnisse zunächst hier skizziert werden sollen. Die Quelle der Kriminalität ist die verwahrloste Jugend, die, sich selbst überlassen und in den ungünstigsten Verhältnissen aufwachsend, den an sie herantretenden Versuchungen erliegt. „Pour combattre la criminalité, il faut agir à la source. La source, c'est l'enfance matériellement et moralement abandonnée. Protéger cet enfant-là, c'est protéger la société (Jules Le Leune) 1 . Welches sind nun die Ursachen der Kriminalität bei Jugendlichen? Exogene und endogene Faktoren sind zu unterscheiden, die hier nur in ihren Hauptzügen gestreift werden sollen. Exogene Faktoren üben ihren Einfluß von außen (Umwelt) aus. Endogene Faktoren sind im Kinde selbst, in seiner Individualität, in seiner biologischen und pathologischen Veranlagung begründet. Die Umweltseinflüsse stehen in Abhängigkeit von den Wohnungs- und Nahrungsbedingungen, den hygienischen Verhältnissen, die nicht nur f ü r die körperliche, sondern auch f ü r die geistige Entwicklung des Kindes von Bedeutung sind. Aber auch die Verhältnisse in der Schule, bei der beruflichen Ausbildung und die Einflüsse der Straße gehören hierher. A m schwerwiegendsten macht sich das Fehlen eines ordentlichen Elternhauses bemerkbar. Belgische Aufstellungen 2 ergeben einen Satz von 70 bis 80 % von Fällen, in denen die T a t des Jugendlichen ihre Ursache in einer ungeeigneten häuslichen Umgebung hatte. Diese ungeordnete Häuslichkeit trifft man am häufigsten in den Elendsvierteln an. Die schlechte Vermögenslage, die als Faktor f ü r sich nach Aufstellungen von Paul Boncour 3 nur in 5 von 100 Fällen sich ungünstig ausgewirkt hat, hat in zahlreichen Fällen die Auflösung 1 2
S. 780. 3
Wets S. 10. Wets S. 80; Wets in R e v . Belg. 1930, S. i f i . ; Rouvroy in Rev. Belg. 192I; In Rev. Belg. I929, S. 940.
10 des Zusammenhalts in der Familie zur Folge. Ungesunde Wohnungsverhältnisse ohne Licht und Luft, das Zusammenleben aller Lebensalter und Geschlechter geben eine völlig ungeeignete Grundlage für die Erziehung des Kindes ab. Die Eltern gehen in moralischer Beziehung mit schlechtem Beispiel voran. Vielfach sind sie selbst straffällig geworden, Uneinigkeit zwischen ihnen setzt sich in Brutalität und Heftigkeit gegenüber den Kindern um. Die Kinder werden in jeder Beziehung vernachlässigt und manchmal sogar zu strafbaren Handlungen angestiftet oder gezwungen. So nehmen die Kinder täglich und stündlich eine Fülle ungünstiger Eindrücke und schädlicher Einflüsse innerhalb ihrer häuslichen Umgebung auf, die bei den jugendlichen, in der Entwicklung befindlichen Menschen nicht wirkungslos vorübergehen. Aus dem Stadium der Vernachlässigung treiben sie das Kind in das Stadium der Verwahrlosung und schließlich in die Arme der Kriminalität. Genau so geht es bei den Kindern, die von vornherein kein Elternhaus haben. Es ist dies das große Aufgebot von unehelich geborenen Kindern und Waisen, die, bei Pflegeeltern untergebracht, nur in seltenen Fällen Aufnahme in einer geordneten Häuslichkeit finden, die sie vor schädlichen Einflüssen bewahrt. Audi durch Ehescheidung oder Trennung der Eltern erfahren die häuslichen Verhältnisse oft eine ungünstige Veränderung. Das fehlende Interesse der Eltern an ihren Kindern führt zu unregelmäßigem Schulbesuch (57%) und zum Fortlaufen von der Lehrstelle (52 %) 4 . Eine weitere Folge der ungünstigen häuslichen Umgebimg ist, daß die Kinder das Elternhaus meiden und auf die Straße gehen. Hier tritt ihnen eine Fülle von Versuchungen entgegen, die den Kreis der schädlichen Umweltseinflüsse abschließen. Da ist zunächst einmal das Kino, das ein wichtiger Faktor der Jugendkriminalität ist. Auf Grund der Erhebungen von Rouvroy, dem Direktor des Beobachtungsinstituts von Moll 5 , aus dem Jahre 1929 hat in 38 von 100 Fällen zu häufiger Kinobesuch den Anlaß zur Tat gegeben. Einen ebenso verderblichen Einfluß üben aber die Vorgänge aus, die sich täglich vor den Augen der Jugend auf der Straße abspielen. Wegen der beengten Raum Verhältnisse spielt sich das Leben in diesen Vierteln sowieso in aller Öffentlichkeit ab. Die Jugendlichen erhalten Einblick in die intimsten Angelegenheiten. Die Nachbarschaft von Bordells, das Prostituiertenwesen tun ein Übriges. Ein anderer Faktor, der auch seine Wurzel in der Straße mit ihren aufreizenden Plakaten, Auslagen usw. hat, ist die Schundlektüre. Von den Jugendlichen, die dem Beobachtungsinstitut in Moll direkt zugewiesen wurden, hatten 60 % solche Schriften bei sich. Soweit sie aus großen Städten kommen, steigt der Prozentsatz sogar auf 72 % 6 . 4 5 6
Paul Boncour in Rev. Belg. 1929, S. 940. Vgl. Rev. Belg. 1931/768. Rouvroy in Rev. Belg. 1931/768.
11 In gleichem Maße wirkt sich der endogene Faktor aus, der in der Individualität des Kindes, in seiner biologischen und pathologischen Veranlagung begründet ist. Die Untersuchung der jugendlichen Rechtsbrecher nach biologischen Gesichtspunkten zeigt in vielen Fällen, daß das K i n d ein Opfer seiner geistigen oder körperlichen Veranlagung und seiner erblichen Belastung geworden ist, die es in die Kategorie des pathologischen Verbrechers einreihen. Fast alle psychischen und physischen Anomalien (z. B. Schwachsinn, "Wahnsinn, Idiotie) lassen sich auf Erbeinflüsse zurückführen und wirken sich in einer gesteigerten Aufnahmefähigkeit schädlicher Einflüsse aus. Über 30 % der untersuchten Jugendlichen sind davon betroffen 7 . Bei der Untersuchung des individuellen Faktors ergibt sich die interessante Tatsache, daß die kriminelle Jugend durchschnittlich nur einen geringen Intelligenzgrad aufweist. N u r 1 8 % der jugendlichen Rechtsbrecher sind normal begabt. Mit wenigen Ausnahmen liegen die anderen Fälle unter dem Mittel der Begabung nicht straffälliger Jugendlicher 8 . Hiermit sind die Ursachen der Jugendkriminalität in ihren Grundzügen angedeutet. Gewiß ist es fast nie einer der hier aufgezeigten Faktoren allein, sondern das Zusammentreffen mehrerer, das zur Kriminalität geführt hat. Andererseits wird einem kaum ein Fall begegnen, der sich nicht als Auswirkung einer dieser Ursachen darstellt. Sie haben in Belgien ein eingehendes Studium erfahren. Das Ergebnis lautet: W o die Einflüsse der Umwelt ungesund sind, muß der Jugendliche diesem Milieu entzogen und in eine günstigere Umgebung gebracht werden. W o der Fehler in der Individualität, in der biologischen und pathologischen Veranlagung des Kindes liegt, muß man eine Maßnahme treffen, die eine geeignete, dem Zustand des Kindes angepaßte Behandlung und Erziehung gewährleistet. W o beide Momente zusammentreffen, bleibt es dem Einfühlungsvermögen und dem Verständnis des Jugendrichters überlassen, unter Abwägung aller Umstände den richtigen Weg zu finden. Im Vordergrund steht der Gesichtspunkt, die Jugendkriminalität nicht nur zu bekämpfen, sondern ihr vor allem auch vorzubeugen. § 2.
Die Regelung bis zu dem Gesetz vom 15. Mai 1912. Das Kinderschutzgesetz vom 1 j . M a i 1 9 1 2 9 ist der erste, wirklich großzügige, in sich geschlossene Angriff im K a m p f e gegen die Jugendkriminalität in Belgien. 7
Vervaeck in Rev. Belg. 1936, S. 902. Siehe oben. Loi sur la Protection de l'Enfance. T e x t bei Materne S. 1 1 ff.; Velge S. 109; Ubersetzung Hentig 4. Beil. und in Mitteilungen der I K V 1 9 1 2 . 8
9
11 In gleichem Maße wirkt sich der endogene Faktor aus, der in der Individualität des Kindes, in seiner biologischen und pathologischen Veranlagung begründet ist. Die Untersuchung der jugendlichen Rechtsbrecher nach biologischen Gesichtspunkten zeigt in vielen Fällen, daß das K i n d ein Opfer seiner geistigen oder körperlichen Veranlagung und seiner erblichen Belastung geworden ist, die es in die Kategorie des pathologischen Verbrechers einreihen. Fast alle psychischen und physischen Anomalien (z. B. Schwachsinn, "Wahnsinn, Idiotie) lassen sich auf Erbeinflüsse zurückführen und wirken sich in einer gesteigerten Aufnahmefähigkeit schädlicher Einflüsse aus. Über 30 % der untersuchten Jugendlichen sind davon betroffen 7 . Bei der Untersuchung des individuellen Faktors ergibt sich die interessante Tatsache, daß die kriminelle Jugend durchschnittlich nur einen geringen Intelligenzgrad aufweist. N u r 1 8 % der jugendlichen Rechtsbrecher sind normal begabt. Mit wenigen Ausnahmen liegen die anderen Fälle unter dem Mittel der Begabung nicht straffälliger Jugendlicher 8 . Hiermit sind die Ursachen der Jugendkriminalität in ihren Grundzügen angedeutet. Gewiß ist es fast nie einer der hier aufgezeigten Faktoren allein, sondern das Zusammentreffen mehrerer, das zur Kriminalität geführt hat. Andererseits wird einem kaum ein Fall begegnen, der sich nicht als Auswirkung einer dieser Ursachen darstellt. Sie haben in Belgien ein eingehendes Studium erfahren. Das Ergebnis lautet: W o die Einflüsse der Umwelt ungesund sind, muß der Jugendliche diesem Milieu entzogen und in eine günstigere Umgebung gebracht werden. W o der Fehler in der Individualität, in der biologischen und pathologischen Veranlagung des Kindes liegt, muß man eine Maßnahme treffen, die eine geeignete, dem Zustand des Kindes angepaßte Behandlung und Erziehung gewährleistet. W o beide Momente zusammentreffen, bleibt es dem Einfühlungsvermögen und dem Verständnis des Jugendrichters überlassen, unter Abwägung aller Umstände den richtigen Weg zu finden. Im Vordergrund steht der Gesichtspunkt, die Jugendkriminalität nicht nur zu bekämpfen, sondern ihr vor allem auch vorzubeugen. § 2.
Die Regelung bis zu dem Gesetz vom 15. Mai 1912. Das Kinderschutzgesetz vom 1 j . M a i 1 9 1 2 9 ist der erste, wirklich großzügige, in sich geschlossene Angriff im K a m p f e gegen die Jugendkriminalität in Belgien. 7
Vervaeck in Rev. Belg. 1936, S. 902. Siehe oben. Loi sur la Protection de l'Enfance. T e x t bei Materne S. 1 1 ff.; Velge S. 109; Ubersetzung Hentig 4. Beil. und in Mitteilungen der I K V 1 9 1 2 . 8
9
12 Aber schon in frühester Zeit finden sich Ansätze zu einer Jugendgerichtsbarkeit. Daß diesem Abschnitt zugrunde liegende Material 1 0 umfaßt zwar nur die Verhältnisse der Stadt Möns und der Grafschaft Hainaut. Sie dürften aber auch in den übrigen G r a f schaften, Fürstentümern usw., aus denen sich das Belgien der damaligen Zeit zusammensetzte, ähnlich gewesen sein. Bis zum 14. Jahrhundert wurde das Delikt als Privataffäre aufgefaßt. Der Verletzte oder seine Familie haben ein Recht auf Wiedergutmachung. Um sie zu erreichen, tritt der Verletzte in Privatfehde mit dem Urheber und dessen Familie, die jedoch durch Zahlung einer Buße den Frieden erlangen können. Falls der Täter das "Weite sucht, muß sich seine Familie von ihm lossagen, wenn sie die Privatfehde mit der Familie des Verletzten vermeiden will. Unter dem wachsenden Einfluß der landesherrlichen Macht entwickelt sich das Gewohnheitsrecht dahin, daß die Zahl der Fälle, in denen eine Privatfehde gestattet ist, immer mehr eingeschränkt wird, bis sie schließlich ganz abgeschafft wird (1534). Während der Täter sich früher durch Zahlung einer Buße an den Verletzten in den Frieden einkaufen konnte, löste er jetzt die Strafe durch eine Geldsumme ab, die dem Landesherrn zufällt. Obwohl das Strafrecht der damaligen Zeit von dem Gedanken der Erfolgshaftung beherrscht war und sich unter Außerachtlassung der moralischen und willensmäßigen Seite der T a t nur mit der Wiedergutmachung und Ausgleichung des Erfolges beschäftigte, findet sich in der Rechtsprechung doch der Beweis dafür, daß strafbare Handlungen eines Jugendlichen eine andere Beurteilung als bei Erwachsenen erfuhren. Die Strafmündigkeitsgrenze lag bei 14 bis I J Jahren. Unter dieser Grenze wurden die Akte als unfreiwillig, durch einen unglücklichen Zufall entstanden, angesehen, während sonst das Verschulden des Täters keine Berücksichtigung fand. Der verursachte Schaden mußte allerdings wiedergutgemacht werden. Aber die hierf ü r entrichtete Geldsumme war nicht die Ablösung sonst verwirkter Strafe noch das Entgelt für den erkauften Frieden. Daher brauchte sich die Familie auch nicht vom jugendlichen Täter loszusagen. Die ersten gesetzlichen Bestimmungen finden wir im 16. J a h r hundert in den „Chartes de Hainaut" von 1 5 3 4 und 1 6 1 9 1 1 . Die erste Bestimmung besagte, daß der Jugendliche f ü r den Schaden, den er durch sein strafbares Verhalten angerichtet hatte, mit seinem Vermögen haftete, während diese H a f t u n g nicht eintrat, wenn zivilrechtliche Ansprüche gegen ihn geltend gemacht wurden. Eine andere Vorschrift machte den Vater und die Mutter f ü r Forstdiebstahl ihrer Kinder verantwortlich und legte ihnen eine 10 Les E n f a n t s devant la Jurisdiction répressive à M ö n s du X l V e au X V I I I e siècle v o n Paul Heupgen, Jugendrichter in Möns, S. 205 fï. 11 Siehe Heupgen S . 208.
13 Geldstrafe auf, eine Bestimmung, die im Art. 173 des Belgischen Forstgesetzes Eingang gefunden hat. Für den Bezirk der Stadt Möns selbst waren durch die Verordnungen der Schöffen (Ratsschöffen) noch einige Bestimmungen erlassen worden, die Kinder betreffen 12 . Ein Erlaß von 1 5 3 0 traf die Anordnung, daß Kinder, die beim Betteln ertappt wurden, mit Ruten ausgepeitscht werden sollten. Aber auch die Eltern wurden in Strafe genommen. Ebenso erging es den Eltern nach einer Vorschrift von 1 5 3 5 , die nicht dafür Sorge trugen, daß ihre Kinder das Lästern und Fluchen unterließen. Die Kinder wurden ausgepeitscht. Denn Gotteslästerung war ein schlimmeres Verbrechen als Diebstahl. In einer Verordnung von 1 7 1 9 hieß es: „ D a viele Eltern ihre Kinder vernachlässigen, so daß diese Nichtstuer und Landstreicher werden, wird ihnen hiermit bei Vermeidung einer Strafe aufgetragen, ihren Kindern ein Handwerk beizubringen. Die Kinder, die als Landstreicher aufgegriffen werden, werden in das Gefängnis gesteckt." Selbst der Kirchenbesuch und die Unterweisung in der heiligen katholischen Religion wurden durch Androhung von Züchtigungen f ü r die Kinder und Geldstrafen für die Eltern sichergestellt. Der Kampf gegen die Bettelei und Landstreicherei Jugendlicher scheint aber nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein; denn nach einer Vorschrift aus dem Jahre 1758 sollten alle diese jungen Vagabunden, die aufgegriffen wurden, solange im Gefängnis bleiben, bis sich f ü r sie ein Lehrherr gefunden hatte, der sie ein Handwerk lehrte. Wurden sie erneut vagabundierend aufgegriffen, so wurden sie mit Gefängnis, Auspeitschen, in wiederholtem R ü c k f a l l mit Landesverweisung bestraft. Im übrigen geben zahlreiche Akten aus der Zeit von 1529 bis 1788 ein gutes Bild von der damaligen Rechtsprechung in Jugendsachen 13 . Die Jugendlichen wurden nach den Maßstäben f ü r Erwachsene in abgemilderter Form behandelt. Strafzweck war Vergeltung und Abschreckung. Strafen waren: Ruten, Auspeitschen, Brandmarkung, Kerker (bei "Wasser und Brot), Landesverweisung und selbst die Todesstrafe. Die Folter oder peinliche Frage wurde auch auf Jugendliche angewandt, war aber keine Strafe, sondern nur ein Inquisitionsmittel zur Aufdeckung der Tat. Bis zum Jahre 1 7 1 0 , in dem die Spanier von Ludwig X I V . vertrieben wurden, fanden eine ganze Reihe von Hexenprozessen gegen Jugendliche statt, die fast regelmäßig mit einem Todesurteil abgeschlossen wurden. Epileptiker wurden verbrannt, weil sie in dem Verdachte der Hexerei standen. Im Jahre 1 7 1 1 tauchte zum erstenmal die Verwarnung als Strafmaßnahme auf, die allerdings zunächst nur in seltenen Fällen Anwendung fand. Als weitere 12 J:i
Heupgen S. 209. Siehe Heupgen S. 2 1 4 ff.
14 große Neuerung fiel in diese Zeit die Gründung einer Anstalt für Jugendliche, „um dem Fortschritt der Sittenverderbnis Einhalt zu gebieten und um dort die Nichtstuer beiderlei Geschlechts und die gefährdeten Mädchen unterzubringen". Es war dies der erste Versuch, die straffällige Jugend nicht nur zu bestrafen, sondern auch eine Besserung zu versuchen. Im Vordergrund wird aber wohl auch bei dieser Gründung der Gedanke an eine Eliminierung der gefährlichsten Elemente gestanden haben. Von dieser Unterbringungsmöglichkeit in der Anstalt wurde dann auch vielfach Gebrauch gemacht. Sie bildete den Ersatz oder die Ergänzung der früher in der Hauptsache angewandten körperlichen Züchtigung. Auch Verwarnungen an Kinder und Eltern wurden häufig erteilt. Im Jahre 1732 wurde sogar eine bedingte Verurteilung ausgesprochen: „Es wird beschlossen, den Häftling freizulassen mit der Androhung, daß die Strafe sofort vollzogen wird, sobald er die Arbeit in seinem Beruf aufgibt." Es waren dies die ersten Anzeichen, die eine humanere Richtung des Strafrechts ankündigen. Das Verfahren in Jugendsachen war in dieser Periode, die 1789 mit dem Ausbruch der französischen Revolution ihr Ende fand, das gleiche, das auch bei Erwachsenen zur Anwendung kam. In allen Fällen wurde Untersuchungshaft angeordnet. Die ganze Energie des Gerichts konzentrierte sich dann auf das Verhör des Häftlings. Es war die Zeit des Inquisitionsprozesses mit dem Ziel, ein Geständnis zu erlangen. Dies wurde auch bei den meisten Jugendlichen erreicht, ohne daß allzusehr auf sie eingedrungen werden mußte. Eine Unterstützung Jugendlicher durch einen Verteidiger war nicht zulässig. Bei den Sitzungen war die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Eine Grenze der Strafmündigkeit wurde um diese Zeit nicht beobachtet. Das jugendliche Alter des Täters fand nur als mildernder Umstand Berücksichtigung. Die humanere Strafrechtsauffassung der Aufklärungszeit, die in Ansätzen schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu bemerken war, fand ihren Niederschlag im Napoleonisdien Code Penal von 1810, der zunächst auch in Belgien von 1811 bis 1867 Geltung hatte, und dann im Belgischen Strafgesetzbuch von 1867. Da aber auch hier nicht die Erfahrungen der Kriminologie Verwertung fanden, wurden ganz andere Ergebnisse erzielt, als man erwartet hatte. Ein starkes Anwachsen der Kriminalität gerade bei Jugendlichen war die Folge 14 . Dabei hatte das Belgische Strafgesetzbuch von 1867 in Abweichung vom Code Penal wenigstens teilweise schon versucht, diese Ergebnisse zu berücksichtigen, blieb aber auf halbem Wege stehen. 14
Wets S. 7 ff.
15
Es wurde zwischen Jugendlichen und Erwachsenen ein Unterschied gemadit. Der Täter war dann jugendlich, wenn er unter 16 Jahre alt war 1 5 . Eine untere Grenze der Strafmündigkeit kannte das Gesetz von 1867 nicht. Voraussetzung für eine Bestrafung war Einsichtsfähigkeit und Willensreife (discernement) des Jugendlichen1". Fehlte das Unterscheidungsvermögen, so war der jugendliche Täter freizusprechen17. Er konnte allerdings dann der Justizverwaltung bis zum 21. Jahr überwiesen werden, die ihn in eine Anstalt steckte. Wurde das Unterscheidungsvermögen bejaht, so wurde die Strafe nach den in Art. 73 und 74 aufgestellten Richtlinien ermäßigt. Im übrigen waren die ordentlichen Gerichte zuständig und es kamen die allgemeinen Verfahrensvorschriften zur Anwendung. Der Strafvollzug fand in den gleichen Gefängnissen mit den Erwachsenen zusammen statt. Eine Möglichkeit, den Jugendlichen in einer Erziehungsanstalt unterzubringen, bestand für den Richter nur über den Umweg der Uberweisung an die Justizverwaltung. Diese Regelung war auf die Dauer bei den fortschreitenden Erkenntnissen der Kriminologie nicht mehr haltbar. In zahlreichen Fällen zog es die Anklagebehörde vor, den Fall einzustellen, und der Richter, keine Verurteilung auszusprechen, anstatt den Jugendlichen in das Gefängnis zu Stedten. Es war für den Richter auch fast unmöglich, sich ohne eingehende Erhebungen, die nicht vorgesehen waren, ein Bild von dem Jugendlichen nur auf Grund der vorliegenden Akten und des persönlichen Eindrucks in der Verhandlung zu machen, über dessen Unterscheidungsvermögen er urteilen sollte. Aus privater Initiative zunächst setzten Bestrebungen ein, durch Schaffung von Verbänden für die verwahrloste Jugend, von „comités de Patronage", eines Comités zur Verteidigung der jugendlichen Rechtsbrecher und ähnlicher Einrichtungen dem Richter seine Aufgabe zu erleichtern und die Lücken des Gesetzes auszufüllen 18 . Hierbei war der Gedanke maßgebend, daß es zur Einschränkung der Kriminalität nicht genügt, Gefängnisse zu errichten, sondern daß man auf die Quelle, die verwahrloste und kriminelle Jugend einzuwirken versuchen muß. Die Gesetze vom 27. November 1891, Bettelei und Landstreicherei betreffend, und vom 15. Februar 1897, die dem Einfluß des Justizministers Jules Le Jeune ihre Entstehung verdanken, brachten einige Neuerungen 16 . Die Polizeistrafe 20 wurde für Jugendliche abgeschafft. Es blieben die Verwarnung und die Uberweisung an die Justizverwaltung. Diese hatte außer der Unterbringung in den staatlichen Erziehungs15 16 17 18 20
Materne S. 133/134. Code Pénal art. 72. Ähnlich wie heute in Deutschland und Frankreich. Materne S. 136. Velge S. 3. peine de police, das ist Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr.
16 anstalten (écoles de bienfaisance) auf Grund der neuen Gesetze die Möglichkeit, den jugendlichen Täter, bedingt durch gute Führung seiner Familie zu überlassen, ihn in eine Lehre zu Stedten, oder ihn mit Zustimmung der Eltern in eine sonst geeignete Anstalt zu schicken. Es waren dies also bereits Maßnahmen, die nicht allein auf Strafe, sondern auch auf Erziehung und Besserung abstellten. Für Landstreidler und Bettler wurde die Altersgrenze auf 18 Jahre heraufgesetzt. Schließlich war dem Richter die Befugnis eingeräumt, bei Tätern im Alter von 16 bis 18 Jahren nach Verbüßung der gegen sie erkannten Gefängnisstrafe, die Überweisung an die Justizverwaltung bis zu ihrer Volljährigkeit anzuordnen 21 . Wenn durch diese Maßnahmen auch ein Fortschritt erreicht war, so waren sich die beteiligten Kreise doch darüber klar, daß dies noch keine endgültige Regelung sei. Seit 1890 sind eine Reihe von Entwürfen, u. a. von den Justizministern Jules Le Jeune und Henri Carton de Wiart, der Kammer vorgelegt worden. Die Frucht dieser Arbeiten ist das Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 . Das Gesetz trägt den Titel „Loi sur la protection de l'enfance". Es ist ein Jugendschutzgesetz, das in sich verschiedene Teile enthält. Teil I behandelt die Aberkennung der elterlichen Gewalt 2 2 . Der in dieser Arbeit interessierende Teil I I bringt die Schaffung und Organisierung des Jugendgerichts. Im Teil I I I finden sich Strafbestimmungen gegen Erwachsene zum Schutze der Jugend.
§ 3-
Das Verfahren gegen Jugendliche nach geltendem Recht. Das Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 2 3 geht von dem Gedanken aus, daß die steigende Jugendkriminalität nicht durch eine strengere Bestrafung eingeschränkt werden kann, sondern nur durch das rechtzeitige Einschreiten gegen die gefährdeten und verwahrlosten Jugendlichen, indem man ihnen durch vorbeugende Maßnahmen die Wohltat einer guten, ordentlichen Erziehung zukommen läßt. Die Vergeltungsmaßnahme des Staates für die vom Jugendlichen begangene Gesetzesverletzung soll mehr Erziehungs- als Strafcharakter haben. Weil das Kind seiner Natur nach besserungsfähig ist, bemüht man sich zu verhindern, daß sich die Gesetzesverletzung wiederholt. Man sieht sie nicht so sehr als strafbare Handlung an, sondern als Symptom für die geistige und seelische Verfassung des 21 22 23
V g l . A r t . 37 des Ges. vom 1 5 . M a i 1 9 1 2 . Déchéance de la puissance paternelle. Gemeint ist immer der im Rahmen dieser Arbeit nur interessierende Teil II.
16 anstalten (écoles de bienfaisance) auf Grund der neuen Gesetze die Möglichkeit, den jugendlichen Täter, bedingt durch gute Führung seiner Familie zu überlassen, ihn in eine Lehre zu Stedten, oder ihn mit Zustimmung der Eltern in eine sonst geeignete Anstalt zu schicken. Es waren dies also bereits Maßnahmen, die nicht allein auf Strafe, sondern auch auf Erziehung und Besserung abstellten. Für Landstreidler und Bettler wurde die Altersgrenze auf 18 Jahre heraufgesetzt. Schließlich war dem Richter die Befugnis eingeräumt, bei Tätern im Alter von 16 bis 18 Jahren nach Verbüßung der gegen sie erkannten Gefängnisstrafe, die Überweisung an die Justizverwaltung bis zu ihrer Volljährigkeit anzuordnen 21 . Wenn durch diese Maßnahmen auch ein Fortschritt erreicht war, so waren sich die beteiligten Kreise doch darüber klar, daß dies noch keine endgültige Regelung sei. Seit 1890 sind eine Reihe von Entwürfen, u. a. von den Justizministern Jules Le Jeune und Henri Carton de Wiart, der Kammer vorgelegt worden. Die Frucht dieser Arbeiten ist das Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 . Das Gesetz trägt den Titel „Loi sur la protection de l'enfance". Es ist ein Jugendschutzgesetz, das in sich verschiedene Teile enthält. Teil I behandelt die Aberkennung der elterlichen Gewalt 2 2 . Der in dieser Arbeit interessierende Teil I I bringt die Schaffung und Organisierung des Jugendgerichts. Im Teil I I I finden sich Strafbestimmungen gegen Erwachsene zum Schutze der Jugend.
§ 3-
Das Verfahren gegen Jugendliche nach geltendem Recht. Das Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 2 3 geht von dem Gedanken aus, daß die steigende Jugendkriminalität nicht durch eine strengere Bestrafung eingeschränkt werden kann, sondern nur durch das rechtzeitige Einschreiten gegen die gefährdeten und verwahrlosten Jugendlichen, indem man ihnen durch vorbeugende Maßnahmen die Wohltat einer guten, ordentlichen Erziehung zukommen läßt. Die Vergeltungsmaßnahme des Staates für die vom Jugendlichen begangene Gesetzesverletzung soll mehr Erziehungs- als Strafcharakter haben. Weil das Kind seiner Natur nach besserungsfähig ist, bemüht man sich zu verhindern, daß sich die Gesetzesverletzung wiederholt. Man sieht sie nicht so sehr als strafbare Handlung an, sondern als Symptom für die geistige und seelische Verfassung des 21 22 23
V g l . A r t . 37 des Ges. vom 1 5 . M a i 1 9 1 2 . Déchéance de la puissance paternelle. Gemeint ist immer der im Rahmen dieser Arbeit nur interessierende Teil II.
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Kindes und will ihm deshalb eine Behandlung zuteil werden lassen, die geeignet ist, auf die in ,der Entwicklung begriffene, formungsfähige Persönlichkeit des Kindes im guten Sinne einzuwirken. Da es sich weniger um eine Bestrafung als um eine erzieherische Behandlung (traitement) handelt, hat die Verwirklichung dieser Idee als allererste Voraussetzung die Schaffung eines besonderen Gerichts für. Jugendliche, das nach besonderen Vorschriften, die von dem für Erwachsene geltenden Verfahrensrecht grundverschieden sind, seine Entscheidung fällt. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika und England waren hier mit gutem Beispiel vorangegangen 24 . Belgien folgte als erstes Land auf dem europäischen Kontinent. i. E i n z e l r i c h t e r . Als man in Belgien ein Jugendgericht schaffen wollte, tauchten verschiedene Schwierigkeiten auf, die sich aus der Organisation der Gerichte, der Verfassung, der juristischen Tradition Belgiens ergaben. Die belgische Verfassung enthält in Art. 94 die Bestimmung: „Außerordentliche Kommissionen und Gerichte dürfen nicht gebildet werden, gleichgültig unter welcher Bezeichnung dies geschieht." Das sich aus dieser Vorschrift ergebende Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Jugendgerichts wurde dadurch beseitigt, daß man sagte, der Gesetzgeber habe bei dieser Bestimmung nur im Sinne gehabt, einer plötzlichen Bildung neuer Gerichtshöfe aus politischen Gesichtspunkten, die den Interessen einzelner Parteien oder eines einzelnen Machthabers dienen sollten, einen Riegel vorzuschieben. Hier handle es sich um die Schaffung eines Gerichts, das zwar in der Verfassung nicht vorgesehen sei, dennoch aber nicht gegen sie verstoße, weil es aus sozialen und rechtlichen Gründen errichtet würde 25 . Der Einzelrichter gehört in das angelsächsische System, er ist in das belgische Jugendrecht übernommen worden. Der das ganze belgische Jugendrecht durchziehende Gedanke, daß der Jugendliche möglichst frühzeitig gefährlichen Einflüssen entzogen und einer geeigneten Erziehung unterworfen werden muß, findet durch den Einzelrichter die erfolgreichste Verwirklichung. Vielleicht kann man in einem Richterkollegium eine größere Garantie f ü r eine sichere Rechtsfindung sehen. Diese ist aber durch die Möglichkeit der Berufung auch beim Einzelrichter in ausreichendem Maße gegeben. Das Jugendrecht hat einen väterlichen Charakter 26 . Dieser kann aber nur durch einen Einzelrichter gewahrt werden, der sich mit dem ihm vorgeführten Kinde eingehend beschäftigt, das Vertrauen des Kindes zu erhalten versucht und nach all den Anzeichen forscht, 24 25 28
2
Die ersten Jugendgerichte in Chikago 1899, Manchester 1905. Errera, Traité de droit public beige, Paris 7909, S. 223. Velge S. 4.
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die eine Erklärung der Tat des Kindes geben. Nur der Einzelrichter gewährt die Einheitlichkeit und Geschlossenheit bei der Untersuchung des Falles und gegebenenfalls bei der Erziehungsarbeit am Kinde. Er allein trägt die Verantwortung 27 . Diese wird nicht mit Kollegen geteilt mit dem Erfolg, daß dem einzelnen Richter die Verantwor tung abgenommen wird und damit gleichzeitig das Interesse an der Aufgabe geschwächt wird. „ L a loi vaudra ce que vaudront -les juges." Die Mission des Jugendrichters verlangt Geistes- und Herzensgaben. Bei dem besonderen Charakter des belgischen Jugendrechts spielen die juristischen Fähigkeiten eine geringere Rolle als die Persönlichkeit des Einzelrichters. Als Vorbedingung fordert man die Kenntnis der Erfahrungen und Ergebnisse, die die Kriminalwissenschaften (Sozio-Bio-Psychologie) gezeitigt haben. Der Jugendrichter ist mehr Erzieher, der seinen ganzen persönlichen Einfluß geltend zu machen hat, um auf das Kind einzuwirken, als Richter, der nach Gesetzesparagraphen eine Entscheidung zu fällen hat. Aber auch wenn die Haupttätigkeit des Jugendrichters keinen so ausgeprägten juristischen Charakter hat, so fallen dodi in seinen Aufgabenkreis manche Entscheidungen rein rechtlicher Natur, die nur von einem Berufsrichter getroffen werden können. Deshalb wurde auch der Anregung, Laienrichter, die auf Grund ihres Berufes eine besondere Eignung hierfür besitzen, auf diesen Posten zu berufen, nidit stattgegeben28. Um die Spezialisierung der Jugendgerichtsbarkeit bis zum Ende durchzuführen, wurde auch von dem Vorschlag, den juge de paix (Friedensrichter) mit dieser Aufgabe zu betrauen, Abstand genommen. Der juge de paix war nach dem Gesetz von 1891 2 9 für die Aburteilung der bettelnden und landstreichenden Jugend zuständig und hatte in dieser Eigenschaft bereits eine gewisse Erfahrung im Verkehr mit Jugendlichen gewonnen. Aber die Jugendsachen waren nur ein Teil seiner Aufgaben und würden es aucii geblieben sein. Das Ziel aber, das dem Gesetzgeber vorschwebte, konnte nur durch eine ausschließliche Beschäftigung mit dieser Materie erreicht werden. Denn nur hierdurch kann der Jugendrichter einen tieferen Einblick in die Psychologie und Vorstellungswelt der Jugendlichen bekommen. Nach dem Gesetz vom 1 j . Mai 1 9 1 2 wird vom König bei jedem Landgericht (tribunal de première instance) ein Jugendrichter ernannt, der auch fernerhin Mitglied des Landgerichts bleibt (Art. 1 1 ) . Dieser Richter beschäftigt sich ausschließlich mit Jugendsachen. Für die Wahl eines Landrichters sprach die Erwägung, daß sich das Landgericht in den Kreishauptstädten befindet und der Jugendrichter nur hier die Helfer und die Einrichtungen findet, die seiner Arbeit erst den Erfolg sichern. Die Berufung gilt zunächst für drei Jahre. Sie kann jederzeit erneuert werden. 27 28 29
Collard de Hovere in Rev. Belg. 1931, S. 299 (R). Siehe oben. Art. 8 und 9.
19 Als Gerichtsstand kommen die auch sonst im Code d'instraction criminelle geltenden in Frage: Gerichtsstand des Wohnsitzes, Gerichtsstand des Begehungsortes, Gerichtstand des Ergreifungsortes. Den Vorrang hat der Gerichtsstand des "Wohnsitzes, da sich nur hier allein die nötigen Erkundigungen über das K i n d einziehen lassen. Die Spezialisierung des Richters zieht die des Staatsanwaltes mit sich. Der erste Staatsanwalt (procureur du roi) ernennt einen oder mehrere Beamte der Staatsanwaltschaft, die mit Jugendsachen ausschließlich betraut werden (Art. 12). Auch die Stellung des Jugendstaatsanwalts ist eine andere als gewöhnlich 30 . Es ist nicht seine Aufgabe, den Strafanspruch des Staates durchzusetzen, denn ein solcher besteht gar nicht, weil der Jugendliche bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres nicht straf mündig ist. Vielmehr soll er in Zusammenarbeit mit dem Jugendrichter die Maßnahmen ausfindig machen, die einer Besserung und Erziehung des Jugendlichen dienen. Mit Ausnahme des Art. 16 des Gesetzes 31 wird der Jugendrichter nur auf Ersuchen des Jugendstaatsanwalts tätig. Der Jugendstaatsanwalt ist in seiner Entscheidung völlig frei, ob er einer Anzeige stattgeben oder ob er wegen Geringfügigkeit einstellen will. Die Einstellungen kommen allerdings seltener vor als früher. Denn durch die Ersetzung der Strafe durch Erziehungsmaßnahmen werden in vielen Fällen, in denen früher eine Bestrafung des jugendlichen Täters wegen seiner geringen Schuld nicht erfolgte, nach der neuen Regelung Erziehungsmaßnahmen angebracht sein. Schließlich bestimmt der Präsident des Landgerichts auch einen Untersuchungsrichter, der allerdings nur ausnahmsweise in unbedingt notwendigen Fällen tätig werden soll (Art. 1 2 II). 2. Ö f f e n t l i c h k e i t d e r
Sitzungen.
Der besondere Charakter der Jugendgerichtsbarkeit, der ein Vertrauensverhältnis zwischen Richter und Kind herzustellen versucht, verlangt den Ausschluß der Öffentlichkeit bei den Sitzungen des Jugendgerichts. Hierdurch soll vermieden werden, daß ein Jugendlicher in die Öffentlichkeit gestellt und als Mittelpunkt der Verhandlung sich womöglich noch etwas auf seine T a t einbildet und sich als Held vorkommt. Die belgische Verfassung gestattete es aber nicht, die Öffentlichkeit von vornherein auszuschließen. Durch einen ministeriellen Erlaß vom 24. September 1 9 1 2 wurde nun angeordnet, daß nach Möglichkeit die gewöhnlichen Sitzungssäle nicht benutzt werden sollten. Die Tatsache, daß die Türen unverschlossen blieben, würde der verfassungsmäßigen Forderung nach Öffentlichkeit der Sitzungen Ge30 31
2*
Vgl. Collard in Rev. Belg. 1929, S. 677 ff. (Le tribunal pour cnfants.) correction paternelle, hier geben die Eltern den Anstoß.
20 nüge leisten. Es sei auch angebracht, für die Termine Zeiten anzusetzen, zu denen der Zustrom Neugieriger am wenigsten zu erwarten sei. Der Richter sei auch durchaus nidht an einen bestimmten T a g und eine bestimmte Stunde gebunden. Durch diese Maßnahme ist die Öffentlichkeit praktisch ausgeschlossen. 3. B e s o n d e r e s
Verfahren.
Folgerichtig mußte auch das Verfahren der neuen Institution angepaßt werden. Der Jugendrichter mußte unter Beschränkung auf die notwendigsten Formalien die Möglichkeit haben, in ständiger Verbindung mit dem Kinde zu bleiben. Der Jugendrichter mußte ohne Schwierigkeiten Erhebungen über die häuslichen Verhältnisse anstellen und Erkundigungen aller A r t einziehen dürfen, um sich ein Bild vom Jugendlichen zu machen. Deshalb erhält der Jugendrichter im Art. 27 des Gesetzes Befugnisse, die ihrer Art nach eigentlich mehr in den Aufgabenkreis des Staatsanwaltes oder Untersuchungsrichters gehören und die die Eigenart des Jugendrechts unterstreichen. Neben der Untersuchung des körperlichen Zustandes und der geistigen Verfassung werden die sozialen Lebensverhältnisse und die Entwicklung des Kindes in moralischer Beziehung vom Jugendrichter eingehend geprüft. Um hierüber Angaben zu erhalten, kann der Jugendrichter jederzeit das Erscheinen der Eltern und der Jugendschutzvertreter anordnen, er kann Auskünfte bei der Gemeindeverwaltung, dem Geistlichen, dem Arzt, dem Lehrer, dem Arbeitgeber, überhaupt bei allen Personen einholen, die mit dem Kinde in irgendeiner Verbindung stehen. Der Jugendrichter hat also die umfassendsten Befugnisse 32 . Von einer ständigen Beiordnung eines Arztes und Pädagogen wurde Abstand genommen, um die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der richterlichen Aktion nicht zu gefährden 33 . Die Unterstützung des Kindes durch einen Verteidiger ist zulässig, dessen Tätigkeit nicht notwendig im Gegensatz zu der des Jugendstaatsanwalts steht, sondern wie diese bestimmt ist, im Wege der Zusammenarbeit mit dem Jugendrichter dem Besten des Kindes zu dienen. Die Vorzüge und Vorteile, die diese Regelung bietet, sollen jedem jugendlichen Rechtsbrecher zugute kommen. Daher wird die Trennung des Verfahrens angeordnet, wenn ein Jugendlicher in irgendeiner Form in eine strafbare Handlung eines Erwachsenen verwickelt ist (Art. 20). Das ganze Verfahren stellt darauf ab, dem Kinde den Glauben beizubringen, daß man sein Bestes will. Darum wird alles vermieden, was das Kind einschüchtern und verstockt machen könnte 34 . 32
Materne S. 243. Anm. 27. " Velge S. 6. 33
21 § 4-
Wegfall der Strafe. i. D a s
Unterscheidungsvermögen.
Die Grundlage des Jugendrechts in Belgien liegt darin, daß die Maßnahmen, die gegenüber jugendlichen Rechtsbrechern zu treffen sind, ihrer jugendlichen Natur und ihrer individuellen Eigenart angepaßt sein sollen. Das Kind ist kein Erwachsener in kleiner Ausgabe, mit den gleichen Gefühlen und Empfindungen wie dieser. Es ist ein Wesen für sich. „L'enfant n'est pas un homme vu par le gros bout d'une lorgnette, ce n'est pas un adulte en miniature ou en abrégé. C'est un enfant, c'est à dire un être spécial dans l'humanité, avec sa logique propre, sa mentalité à lui" 3 5 . Das Kind begreift auf andere Weise als der Erwachsene die Forderungen und Bedürfnisse des Gemeinschaftslebens. Seine Natur ist sensibel und beeinflußbar und unterliegt sehr stark den Folgen erblicher Belastung, physischer und psychischer Anomalien und Defekte, der Erziehung in der Familie, der Umgebung, in der es lebt. Denn der Jugendliche befindet sich, wie die medizinische Wissenschaft lehrt, im Alter von 1 2 bis 18 Jahren in einem entscheidenden Entwicklungsstadium in geistiger und körperlicher Hinsicht. Die Entwicklung von geistigen Fähigkeiten, also auch des Unterscheidungsvermögens, ist unmittelbar abhängig von der körperlichen Entwicklung, von der Bildung und Formung des Hirnes 36 . Die großen Veränderungen, die der Körper in dieser Zeit durchmacht, spiegeln sich in der geistigen Entwicklung wieder. Die geistige Entwicklung des Kindes ist nicht allein bestimmt durch die erbliche Veranlagung, sondern die geistige Arbeit, die Erziehung und die Beschäftigung spielen hier eine entscheidende Rolle. Während dieser Zeit nimmt das Kind in schneller Folge neue Eindrücke in sich auf, und hat die verschiedenartigsten Empfindungen, die es erst verarbeiten und in Beziehung zueinander setzen muß. Dieser Vorgang löst die größten Spannungen aus, die sich in widerspruchsvollem Verhalten und in starker Unausgeglichenheit äußern. Das Kind befindet sich in einem Zustand „normaler Anomalie" (von Düring). Solange nun der Jugendliche nicht alle diese im Widerstreit befindlichen K r ä f t e in sich ausgeglichen hat, ist sein Verhalten nicht einheitlich und kann es auch gar nicht sein37. Eine bestimmte T a t läßt daher noch keinen Schluß auf den Charakter des Kindes zu, da sie nur der äußere Ausdruck eines kritischen Zeitpunktes in der Entwicklung des Kindes sein kann, der im nächsten Augenblick schon vielleicht überwunden ist. 35 Carton de Wiart, Rede im Palais des Académies, Bull, de la Prot, de l'Enfance Nr. 1, S. 4. 30 Jean de Boeck, Vorrede zu La Charte de L'Enfance von Materne. 37 Vgl. Webler, .Wider das Jugendgericht, S. 9 ff.
22 Nur allmählich bildet sich mit der Entwicklung des Verstandes auch das Urteilsvermögen und die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Charakters heraus, an die man die Erwartungen auf ein ordentliches Verhalten in der menschlichen Gesellschaft knüpfen darf. Auf der anderen Seite eröffnen gerade das Unfertige und Unausgeglichene des Kindes, seine Jugend, seine Sensibilität, seine Fähigkeit, sich auf eine andere Umgebung umzustellen, schließlich auch die seelischen K r ä f t e , die teilweise noch gar nicht zur Entfaltung gekommen sind, große erzieherische Angriffsmöglichkeiten und rechtfertigen den Versuch einer Erziehung 38 . Der belgische Gesetzgeber hat aus diesen Überlegungen die Folgerung gezogen, daß der Gesichtspunkt der Strafe zugunsten der Erziehung verlassen werden muß. Nicht die T a t beansprucht Interesse, beispielsweise der Wert der gestohlenen Sache, sondern der jugendliche Täter und seine Zukunft. Man ist der Uberzeugung, daß das Kind durch Gefängnisaufenthalt nur endgültig demoralisiert und zu einem Rückfallverbrecher gemacht wird. Das Allgemeininteresse trifft mit dem des Kindes zusammen, wenn man versucht, durch Erziehung einen guten Staatsbürger aus ihm zu machen39. Die Allgemeinheit hat zwar einen Anspruch auf Abgeltung des Schadens, den der Jugendliche durch seine Gesetzesverletzung angerichtet hat. Aber die Allgemeinheit wird meist eine ausreichende Genugtuung in der Freiheitsentziehung sehen, die mit vielen Erziehungsmaßnahmen verbunden ist40. Andererseits ist die Gefahr, daß im jugendlichen Rechtsbrecher durch Abschaffung der Strafe und Anwendung einer erzieherischen Behandlung die Vorstellung erweckt wird, daß er f ü r seine T a t nicht verantwortlich ist, und daß darunter sein soziales Verantwortungsbewußtsein und seine Widerstandskraft gegen das Schlechte leidet, nicht sehr groß. Denn er wird den A u f enthalt in einer Erziehungsanstalt, der sich unter Umständen über viele Jahre erstreckt, zunächst jedenfalls als Strafe empfinden. Auch wird dem Jugendlichen klar gemacht, daß die gegen ihn getroffenen Maßnahmen nicht nur erzieherisch sind, sondern auch Sanktionscharakter haben und daß er es seinem eigenen Benehmen zuzuschreiben hat, wenn er vor dem Jugendrichter steht 41 . Das Gesetz spricht nur davon (Art. 16), daß die Strafe durch Schutz-, Erziehungs- und Sicherheitsmaßnahmen ersetzt wird. Hierbei handelt es sich aber nicht um eine Rechtswohltat, sondern um die Aufhebung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit f ü r Jugendliche42. Es besteht eine unwiderlegbare Vermutung für das Fehlen des Unterscheidungsvermögens (discernement). Daher liegt aus subjektiven Gründen eine strafbare Handlung gar nicht vor, und kann auch nicht auf Strafe erkannt werden. 38 38 40 41 42
Maus in Rev. Belg. 1 9 3 7 / i o j o . Siehe oben. Derely S. 73. Collard in Rev. Belg. 1 9 2 4 / 7 1 3 . Collard in Rev. Belg. 1924 S. 684.
23 Nach der alten Regelung" mußte der Richter in jedem Falle prüfen, ob der jugendliche Täter die Tragweite seiner Handlung und deren Ungesetzlichkeit eingesehen hatte. Nunmehr lautet die Frage, die der Jugendrichter sich zu stellen hat: Welche Maßnahmen sind zu ergreifen, um den Jugendlichen zu einem ordentlichen Staatsbürger zu erziehen? Wenn auch die subjektive Seite der T a t außer Betracht bleibt, so müssen doch die objektiven Tatbestandsmerkmale vorliegen, damit der Jugendrichter eingreifen kann 44 . So enthebt das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen — nicht Schuldausschließungsgründen — den Jugendrichter der Möglichkeit, Maßnahmen gegen den Jugendlichen zu ergreifen. Die Gesetzesverletzung bleibt bestehen, sie ist nur nicht strafbar, weil sie von einem strafunmündigen Jugendlichen begangen ist. 2.
Die
Strafmündigkeitsgrenze.
Grundsätzlich ist die Strafmündigkeitsgrenze in Belgien nach dem Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 auf das vollendete 16. Lebensjahr festgesetzt. Im Unterschied zu vielen anderen Gesetzgebungen kennt das belgische Gesetz keine untere Grenze, bis zu der der Jugendliche jeder strafrechtlichen Verantwortung entzogen ist. Dem richterlichen Ermessen bleibt es überlassen, ob das Verhalten des Jugendlichen sein Eingreifen erfordert oder nicht. Allerdings ist in einem Rundschreiben des Justizministers vom 28. Dezember 1 9 1 8 der Anklagebehörde anheimgegeben worden, Jugendliche bis zum 12. Lebensjahr nicht vor die Gerichte zu bringen 45 . In zwei Fällen macht das Gesetz eine Ausnahme und dehnt die Strafmündigkeitsgrenze aus. Der erste Fall, in dem der Jugendrichter bis zum vollendeten 18. Lebensjahr zuständig ist, ist dann gegeben, wenn der Jugendliche durch sein Verhalten und durch seine Disziplinlosigkeit seinen Eltern oder anderen Aufsichtspersonen begründete Veranlassung zu Klagen gibt (Art. 14). Zweitens gilt dies für Jugendliche, die bettelnd und als Landstreicher umherziehend aufgegriffen werden (Art. 13). Eine mehrfache Begehung oder Gewohnheitsmäßigkeit ist hierbei nicht erforderlich, es genügt ein vereinzelter Fall, um den Jugendrichter tätig werden zu lassen. Die Strafmündigkeitsgrenze von 18 Jahren für die bettelnde und landstreichende Jugend stammt noch aus dem Gesetz vom 29. November 1891 — das bereits mehrfach erwähnt wurde — und ist in das neue Gesetz von 1 9 1 2 übernommen (Art. 13). Die Regelung mit den verschiedenen Altersstufen hat ihre Nachteile. Dies tritt besonders dann zutage, wenn zu der Bettelei und Landstreicherei eine andere strafbare Handlung, für die der Jugend43 M 45
Art. 72 des Code Penal von 1867; Art. 25 des Ges. vom 15. Februar 1897. Collard in Rev. Belg. 1924, S. 687. Velge S. 7.
24 richter nicht mehr zuständig ist, hinzukommt. Ein i / j ä h r i g e r würde dann wegen des einen Falles noch der Jugendgerichtsbarkeit unterliegen, wegen der strafbaren H a n d l u n g gehört er bereits vor die ordentlichen Gerichte. In dem einen Falle würden die besonderen Bestimmungen des Gesetzes vom I J . M a i 1 9 1 2 , die gerade in der Frage der Vorbereitung des V e r f a h r e n s , Untersuchungshaft usw., stark vom C o d e d'instruction criminelle abweichen, zur A n w e n d u n g kommen, im anderen Falle w ü r d e mit der ganzen Strenge des Gesetzes wie gegen einen strafrechtlich voll Verantwortlichen vorgegangen werden. Es ist daher sehr verständlich und berechtigt, daß hier der Wunsch nach Vereinheitlichung der Strafmündigkeitsgrenze laut wird 4 6 . S o ist auch bei den Beratungen in der K a m m e r vorgeschlagen worden, die Strafmündigkeitsgrenze allgemein auf 18 J a h r e heraufzusetzen 4 7 . M a n wies auf den ausgezeichneten E r f o l g hin, den das Gesetz v o m i j . M a i 1 9 1 2 erzielt hatte unct erhoffte von einer gleichartigen Behandlung der über 1 6 J a h r e alten Jugendlichen, die in der Kriminalstatistik einen großen R a u m beanspruchen, ein weiteres Absinken der Kriminalität. Auch der Internationale Strafrechtskongreß in Paris hatte sich f ü r eine Strafmündigkeitsgrenze von 18 J a h r e n ausgesprochen. W e n n nun trotzdem mit den schon erwähnten Ausnahmen in Belgien an der Strafmündigkeitsgrenze v o n 16 J a h r e n festgehalten wird, so liegt der G r u n d darin, daß man meint, in diesem Alter habe sich W i l l e und Unterscheidungsvermögen bei der überwiegenden Mehrzahl der Jugendlichen soweit herausgebildet, daß sie volle strafrechtliche V e r a n t w o r t u n g treffen müsse. W e n n auch viele Gesetzgebungen 48 diese Grenze von 18 J a h r e n eingeführt haben, so stellen sie zum Ausgleich d a f ü r in jedem einzelnen F a l l die Frage nach dem Unterscheidungsvermögen. D e r belgische Gesetzgeber hat es vorgezogen, die Grenze auf 16 J a h r e — mit den bestimmten Ausnahmen — festzusetzen, d a f ü r sind aber Unterscheidungsvermögen und Willensreife als Kriterien f ü r die S t r a f b a r k e i t der H a n d lung in F o r t f a l l gekommen. D a s Fehlen des „discernement" w i r d bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres unwiderlegbar vermutet. In diesem Zusammenhang ist die Bestimmung des A r t . 37 des Gesetzes zu erwähnen, die einen A n f a n g , die erfolgreichen W i r k u n gen der erzieherischen Behandlung auch auf ältere Jugendliche auszudehnen, darstellt. Hiernach können strafmündige, nicht mehr der Jugendgerichtsbarkeit unterliegende Jugendliche zwischen 1 6 und 18 J a h r e n , die zu einer Gefängnisstrafe v o r den ordentlichen G e richten verurteilt sind, nach Verbüßung der S t r a f e der Justizverwaltung zur Unterbringung in einer staatlichen Erziehungsanstalt bis zur Volljährigkeit überwiesen werden. Später hat der Justizminister angeordnet, daß bei Jugendlichen, die f ü r eine derartige 48 47 4S
Collard in Rev. Belg. 1924, S. 687. Velge S. 6. Z. B. Deutschland, Frankreich.
25 Unterbringung in Frage kommen, die Verbüßung der Gefängnisstrafe im Gnadenwege zu erlassen sei und sie gleich in die staatliche Anstalt eingewiesen werden sollten. Die praktische Bedeutung dieser Vorschrift ist aber gering 49 , da bereits eine vorläufige Regelung für die 17- bis 21jährigen Rechtsbrecher im Jahre 1 9 2 1 getroffen ist und die endgültige gesetzliche Lösung in Aussicht steht50.
§ J.
Die Befugnisse des Jugendrichters. 1. M a ß r e g e l n
der E r z i e h u n g und
Sicherung.
Der Tugendrichter ergreift gegenüber den Jugendlichen, die vor ihm erscheinen, Schutz-, Erziehungs- und Sicherheitsmaßnahmen (Art. 13 I). Das Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 stellt dem Jugendrichter eine ganze Reihe von Maßregeln zur Verfügung, die ihm die Behandlung eines jeden Falles unter Berücksichtigung seiner Eigenart erlauben. Der Jugendrichter kann sich mit einer Verwarnung begnügen und den Jugendlichen den Personen, in deren Obhut er sich befand, mit der Auflage zurückgeben, ihn in Zukunft besser zu überwachen und besser auf ihn aufzupassen. Diese Maßnahme wird nur dann in Frage kommen, wenn die häuslichen Verhältnisse eine geordnete Erziehung und Überwachung des Jugendlichen gewährleisten. Ferner kann der Jugendrichter den Jugendlichen bis zu seiner Volljährigkeit einer Einzelperson, einem Verein, einer privaten oder öffentlichen Wohltätigkeits- oder Erziehungsanstalt übergeben. Bei der überaus großen Anzahl von derartigen Anstalten in Belgien, die allen Ansprüchen genügen, ist dem Jugendrichter die Möglichkeit gegeben, eine geeignete und dem vorliegenden Fall besonders angepaßte Unterbringung anzuordnen. Schließlich hat der Jugendrichter die Möglichkeit, den Jugendlichen an die Justizverwaltung zu überweisen (mettre a la disposition du gouvernement). Die Überweisung an die Justizverwaltung ist noch eine Maßnahme, die aus der Zeit vor dem Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 stammt. Sie bildet eine Ausnahme gegenüber der sonst im belgischen Jugendschutzrecht bestehenden Regel, daß der Jugendrichter im Hinblick auf den Jugendlichen sowohl die Anordnung als auch die Durchführung der erforderlichen Maßnahmen in den Händen hat. Denn in diesem Fall übernimmt die Justizverwaltung den Vollzug der richterlichen Entscheidung 01 . Die Uberweisung geschieht gewöhnlich ebenfalls bis zum Zeitpunkt der 49 50 51
1 9 3 2 sind sedis, 1 9 3 3 nur eine Einweisung erfolgt; R e v . Belg. 1934, S. 1 1 3 1 . V g l . S. 72. V g l . § 9.
25 Unterbringung in Frage kommen, die Verbüßung der Gefängnisstrafe im Gnadenwege zu erlassen sei und sie gleich in die staatliche Anstalt eingewiesen werden sollten. Die praktische Bedeutung dieser Vorschrift ist aber gering 49 , da bereits eine vorläufige Regelung für die 17- bis 21jährigen Rechtsbrecher im Jahre 1 9 2 1 getroffen ist und die endgültige gesetzliche Lösung in Aussicht steht50.
§ J.
Die Befugnisse des Jugendrichters. 1. M a ß r e g e l n
der E r z i e h u n g und
Sicherung.
Der Tugendrichter ergreift gegenüber den Jugendlichen, die vor ihm erscheinen, Schutz-, Erziehungs- und Sicherheitsmaßnahmen (Art. 13 I). Das Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 stellt dem Jugendrichter eine ganze Reihe von Maßregeln zur Verfügung, die ihm die Behandlung eines jeden Falles unter Berücksichtigung seiner Eigenart erlauben. Der Jugendrichter kann sich mit einer Verwarnung begnügen und den Jugendlichen den Personen, in deren Obhut er sich befand, mit der Auflage zurückgeben, ihn in Zukunft besser zu überwachen und besser auf ihn aufzupassen. Diese Maßnahme wird nur dann in Frage kommen, wenn die häuslichen Verhältnisse eine geordnete Erziehung und Überwachung des Jugendlichen gewährleisten. Ferner kann der Jugendrichter den Jugendlichen bis zu seiner Volljährigkeit einer Einzelperson, einem Verein, einer privaten oder öffentlichen Wohltätigkeits- oder Erziehungsanstalt übergeben. Bei der überaus großen Anzahl von derartigen Anstalten in Belgien, die allen Ansprüchen genügen, ist dem Jugendrichter die Möglichkeit gegeben, eine geeignete und dem vorliegenden Fall besonders angepaßte Unterbringung anzuordnen. Schließlich hat der Jugendrichter die Möglichkeit, den Jugendlichen an die Justizverwaltung zu überweisen (mettre a la disposition du gouvernement). Die Überweisung an die Justizverwaltung ist noch eine Maßnahme, die aus der Zeit vor dem Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 stammt. Sie bildet eine Ausnahme gegenüber der sonst im belgischen Jugendschutzrecht bestehenden Regel, daß der Jugendrichter im Hinblick auf den Jugendlichen sowohl die Anordnung als auch die Durchführung der erforderlichen Maßnahmen in den Händen hat. Denn in diesem Fall übernimmt die Justizverwaltung den Vollzug der richterlichen Entscheidung 01 . Die Uberweisung geschieht gewöhnlich ebenfalls bis zum Zeitpunkt der 49 50 51
1 9 3 2 sind sedis, 1 9 3 3 nur eine Einweisung erfolgt; R e v . Belg. 1934, S. 1 1 3 1 . V g l . S. 72. V g l . § 9.
26 Volljährigkeit des Jugendlichen. Der Jugendrichter kann die Uberweisung auch bedingt aussprechen und die Bedingungen, unter denen der Aufschub erfolgt, festsetzen (Art. 23). 2. D e r
Zuständigkeitsbereich
des
Jugendrichters.
a) Bettelei und Landstreicherei. Das Gesetz vom 1 5 . M a i 1 9 1 2 beschäftigt sich an erster Stelle mit Minderjährigen vor vollendetem 18. Lebensjahr, die bettelnd oder als Landstreicher herumziehend aufgegriffen werden. Ein vereinzelter Fall genügt im Gegensatz zu früher 5 2 , um den Jugendrichter eingreifen zu lassen. W i r d gewohnheitsmäßige Bettelei oder Landstreicherei festgestellt, so hat dies zur Folge, daß der Jugendrichter die Unterbringung bei Pflegeeltern oder in einer Anstalt anzuordnen hat und sich nicht mit einer Verwarnung begnügen kann (Art. 1 3 , Z i f f e r 3). Die Begriffe Bettelei oder Landstreicherei haben im Gesetz keine besondere Definition erfahren. Die Rechtsprechung der belgischen Gerichte legt sie dahin aus, daß Bettelei dann vorliegt, wenn Unterstützungen ohne jede Gegenleistung erbeten wurden und z w a r entweder offen oder zu einem angeblich erlaubten Zweck, ohne daß besondere, entschuldigende Umstände vorliegen. Landstreicherei ist gegeben beim Fehlen eines Wohnsitzes (Häuslichkeit), einer Beschäftigung oder eines Berufes 5 3 . b) Auf elterliches Ersuchen. Weiter ist ein Eingreifen des Jugendrichters auf Ersuchen der Eltern, des Vormundes oder der Aufsichtspersonen möglich, wenn der Jugendliche vor vollendetem 18. Lebensjahr durch schlechte A u f führung und Unbotmäßigkeit ernsthafte Veranlassung zu Klagen gibt (Art. 14). Diese Vorschrift ist an die Stelle des früher in den A r t . 375 bis 383 des Code C i v i l verankerten Rechtes getreten, wonach der Vater oder die Aufsichtspersonen, in deren Obhut sich der Minderjährige befand, im Rahmen der ihnen zustehenden E r ziehungsgewalt (droit de correction paternelle) die Inhaftierung des Jugendlichen in ein Gefängnis verlangen konnte. Bemerkenswert ist bei dieser rechtshistorisch interessanten Vorschrift, die ein Uberrest der unbeschränkten patria potestas des römischen Rechtes ist, daß die Einlieferung des Jugendlichen ohne Angabe irgendwelcher Gründe erfolgen konnte und daß dem Vater ein Begnadigungsrecht zustand, so daß die Dauer des Gefängnisaufenthaltes des Jugendlichen in seinem Belieben lag 5 4 . Dieses Redit stand dem Vater bis s2 53
54
Art. 24, Gesetz vom 27. November 1891. Wets S. 16.
Velge S. 9.
27 zur Volljährigkeit des Jugendlichen zu. Nach der nunmehr im Gesetz vom i j . M a i 1 9 1 2 getroffenen Regelung hat der Vater, der Vormund oder andere Aufsichtspersonen — die Rechtsprechung stellt hierbei mehr auf das tatsächliche als auf das rechtliche Verhältnis ab 55 — nur noch die Möglichkeit, den Jugendrichter zu einem Eingreifen zu veranlassen, und z w a r bis der Jugendliche sein 18. Lebensjahr vollendet hat. Hierbei w i r d als Lücke des Gesetzes angesehen, daß der Vater zwar bis zum 2 1 . Lebensjahr seines Kindes Inhaber der elterlichen G e w a l t ist, aber nach dem 18. Lebensjahr nicht mehr die Möglichkeit hat, seinem Erziehungsrecht in schwierigen Fällen durch A n r u f u n g des Jugendrichters den nötigen Nachdruck zu verleihen 56 . H ä l t der Jugendrichter sein Eingreifen f ü r erforderlich, so kann er als Erziehungsmaßnahme die Unterbringung in einer der vielen ihm zu Gebote stehenden Formen anordnen. Das Gesetz sieht nicht vor, daß der Jugendrichter in diesen Fällen die Minderjährigen nur verwarnt (Art. 14/13). Es hat sich aber die Gewohnheit herausgebildet, daß der Jugendliche zunächst eine Verwarnung erhält, und erst im Wiederholungsfalle von der im Gesetz vorgesehenen Unterbringungsmöglichkeit in öffentlichen oder privaten Erziehungsanstalten Gebrauch gemacht wird 5 7 . Selbstverständlich liegt auch die Bestimmung der Aufenthaltsdauer in der Anstalt jetzt im Gegensatz zu früher im Ermessen des Jugendrichters. c) Gefährdung des Jugendlichen. Der dem Gesetze innewohnende prophylaktische Charakter kommt deutlich im Art. 15 zum Ausdruck. Die Vorschrift besagt, daß der Jugendrichter gegen Minderjährige vor vollendetem 16. Lebensjahr einschreiten kann, die sich der Unzucht oder Ausschweifungen (débauche) ergeben oder ihren Lebensunterhalt im Spiel oder in Beschäftigungen suchen, die sie der G e f a h r der Unzucht, der Bettelei, der Landstreicherei oder des Verbrechertums aussetzen. Bei der weiten und etwas unklaren Fassung dieser Bestimmung ist sie bedeutsam als ein vielfach angewandtes Mittel, um vorbeugende Maßnahmen gegen gefährdete Jugendliche zu ergreifen, wenn im übrigen die Tatbestände des Gesetzes noch nicht verwirklicht sind, so beispielsweise bei Tänzerinnen in Bars und Nachtlokalen, Modellen, Darstellern und Statisten bei unsittlichen Schauspielen, Pagen in Hotels oder Spielkasinos usw. 58 . d) Gesetzesverletzungen. Schließlich ist der Jugendrichter zuständig f ü r Gesetzesverletzungen, die von Minderjährigen unter 1 6 Jahren begangen werden. Der Minderjährige begeht nach dem Gesetz vom 1 5 . Mai 1 9 1 2 55 56 57 58
Wets Siehe Velge Wets
S. 18. oben. S. 9. S. I J .
28 keine strafbare Handlung, weil er bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres strafunmiindig ist und das Fehlen des Unterscheidungsvermögens unwiderlegbar vermutet wird 59 . Er begeht eine Handlung, die strafbar wäre, „un fait qualifie infraction, . . . " . . . wenn ein Strafmündiger sich dieser Handlung schuldig gemacht hätte. Folglich können auch keine Strafen mehr gegen Minderjährige ausgesprochen werden. An die Stelle der Strafe treten Maßregeln der Besserung und Erziehung (Art. 16). Der Jugendrichter braucht bei der Auswahl der gegen den Jugendlichen zu ergreifenden Maßnahmen nicht darauf Rücksicht zu nehmen, ob es sich um ein Verbrechen, Vergehen oder eine Übertretung handelt (Art. 17). Er soll nicht die Tat, sondern den Jugendlichen beurteilen und seine Maßnahmen nach der geistigen und sittlichen Verfassung des Jugendlichen einrichten. Durch diese Bestimmungen ist das belgische Gesetz sehr viel durchgreifender als die meisten ausländischen Gesetzgebungen, die noch die Frage nach dem Vorliegen von Einsicht und Willensreife stellen und bejahendenfalls auf Strafe erkennen. Die Maßnahmen des Jugendrichters erstrecken sich grundsätzlich nur bis zur Volljährigkeit des Jugendlichen. In einigen besonders schweren Fällen sieht das belgische Jugendschutzgesetz eine Überweisung an die Justizverwaltung über die Volljährigkeit hinaus vor. Dies gilt für folgende Fälle: Bei Verbrechen, auf die n i c h t die Todesstrafe oder Zwangsarbeit steht, ist eine Verlängerung der Erziehungsmaßregeln — im allgemeinen der Unterbringung in einer Erziehungsanstalt — bis zum 25. Lebensjahr zulässig (Art. 18). Bei Verbrechen, die mit Todesstrafe oder Zwangsarbeit bedroht sind, kann die Überweisung vom Jugendrichter bis zum 4 1 . Lebensjahr des Täters ausgedehnt werden (Art. 19). Tritt bei einem Jugendlichen vor Vollendung des 16. Lebensjahrs, der ein Verbrechen oder ein Vergehen begangen hat, eine besonders ausgeprägte Verdorbenheit zutage, so daß die Einweisung in eine gewöhnliche Erziehungsanstalt nicht angebracht erscheint, so ordnet der Jugendrichter seine Überführung an die Justizverwaltung und die Unterbringung in einer staatlichen Erziehungsanstalt für die Dauer von zwei bis zehn Jahren und in dem vorerwähnten Falle des Art. 19 bis zum 4 1 . Lebensjahr an (Art. 22). Diese letzten Bestimmungen tragen nicht so sehr Erziehungswie Strafcharakter. Sie kommen auch nur in den Fällen in Frage, wo das sonst den Jugendrichter leitende Interesse des Kindes angesichts seiner Asozialität und Unerziehbarkeit vor dem Gedanken der Sicherung der menschlichen Gesellschaft vor solchen Elementen zurücktritt. 59
V g l . § 4.
29 e) Schidversäumnis. Eine Ausdehnung der Kompetenz des Jugendrichters ist durch Art. 5 des Gesetzes vom 18. Oktober 1 9 2 1 eingetreten. Das häufige Wegbleiben vom Schulunterricht kann dem Jugendrichter Veranlassung zum Eingreifen und zur Anwendung der im Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 vorgesehenen Maßnahmen geben. Festzuhalten ist, daß es sich in allen Fällen um Kannvorschriften handelt. Es bleibt dem Jugendrichter vollkommen überlassen, ob und in welcher Form er einschreiten will. 3. S o n s t i g e
Befugnisse.
a) Abänderbarkeit der Entscheidung. Eine der wichtigsten Bestimmungen des Gesetzes vom 15. Mai 1 9 1 2 besteht darin, daß die Entscheidungen des Jugendrichters nicht endgültig sind. Vielmehr kann er die Maßnahmen, die er getroffen hat, jederzeit zurückziehen oder abändern (Art. 31). Diese Bestimmung enthält die Aufgabe des sonst im belgischen Strafrecht geltenden Prinzips der „chose jugée" zugunsten der „sentence indéterminée". Nach dem Sinn des Jugendschutzgesetzes vom 15. Mai 1 9 1 2 soll der Jugendrichter eben nicht mehr Strafrichter sein, sondern Erzieher und Führer des Jugendlichen. Der Jugendrichter mußte demnach in der Lage sein, seine Maßnahmen dem Verhalten und Betragen und der Besserung des Jugendlichen anzupassen. Die Abänderung der Entscheidung geschieht entweder aus eigener Entschließung des Jugendrichters oder auf Ersuchen des Jugend-Staatsanwalts, des Jugendlichen, der Eltern oder auch auf den Vorschlag der die Schutzaufsicht führenden Personen hin. Die Möglichkeit, seine Maßnahmen abzuändern, besteht für den Jugendrichter solange, wie der Jugendliche in seinen Zuständigkeitsbereich gehört, d. h. solange, wie die von ihm gegen den Jugendlichen getroffenen Maßnahmen andauern. Da sich diese Maßnahmen, wie bereits ausgeführt, unter Umständen über die Volljährigkeit des Jugendlichen hinaus erstrecken, so kann der Jugendrichter auch bis zu diesem Zeitpunkt seine Entscheidung abändern und eine neue Entscheidung treffen, wie wenn er überhaupt zum erstenmal entscheiden sollte. Macht der Jugendliche Fortschritte und bessert er sich, so kann der Jugendrichter ihn in einer anderen Anstalt unterbringen, die dem Jugendlichen mehr Freiheit beläßt. Er kann ihn auch probeweise und unter bestimmten Bedingungen zu seinen Eltern entlassen, wenn das Elternhaus die Gewähr für eine ordentliche Erziehung und Überwachung bietet, oder auch den Jugendlichen vorzeitig und endgültig aus seiner Obhut entlassen. Andererseits können auch auf Grund dieses Artikels die Maßnahmen verschärft und eine Unterbringung in einer Anstalt angeordnet werden, in der eine straffere Zucht herrscht.
30 Die durch den Art. 3 1 des Gesetzes dem Jugendrichter gegebene Befugnis zur Abänderung seiner Maßnahmen stammt aus dem Gesetz vom 27. November 1 8 9 1 zur Unterdrückung der Landstreicherei und Bettelei, ergänzt durch das Gesetz vom i j . Februar 1897, deren schon mehrfach Erwähnung getan ist. Diese Befugnis stand vor dem Gesetz vom i j . Mai 1 9 1 2 dem Justizminister zu und ist deshalb auf den Jugendrichter übertragen, weil man von dem richtigen Gedanken ausging, daß eine erfolgreiche Bekämpfung der Jugendkriminalität und ihrer Anfangserscheinungen nur durchführbar ist, wenn die gesamte Aktion in einer H a n d vereinigt ist. Diese Maßnahmen waren administrativer A r t und haben diesen Charakter behalten, so daß der Jugendrichter nicht nur seine richterliche Tätigkeit ausübt, sondern auch administrative Befugnisse hat 60 . Daher muß in jedem einzelnen Fall geprüft werden, welchen Charakter die v o m Jugendrichter getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen haben. Die Unterscheidung ist wichtig f ü r die Frage, welche Verfahrensvorschriften zur Anwendung kommen und vor allem f ü r die Frage der Anfechtbarkeit. Handelt es sich nur um die Abänderung des Vollzuges der ursprünglichen Entscheidung, beispielsweise probeweise Entlassung, so geschieht dies im Rahmen der administrativen Befugnisse des Jugendrichters und unterliegt nicht den Verfahrensregeln des Gesetzes vom 1 5 . M a i 1 9 1 2 . Verschärft der Jugendrichter dagegen seine Maßnahmen, beispielsweise durch Verlängerung des Aufenthaltes in einer Anstalt, wozu ihn die Fassung des Art. 3 1 ebenfalls berechtigt, so ist das eine richterliche Entscheidung, die nur auf Grund des im Gesetz vorgesehenen V e r fahrens ergehen kann 6 1 . b) Regelmäßige Überprüfung
der Entscheidung.
Der Jugendrichter soll das Leben und die Entwicklung seiner Zöglinge ständig von sich aus überwachen und verfolgen, um sich über die Wirksamkeit seiner Maßnahmen klar zu sein. Außerdem hat der Jugendrichter von Amts wegen alle drei J a h r e eine Überprüfung (révision) seiner Entscheidungen und Maßnahmen vorzunehmen (Art. 3 1 II), soweit sie nicht in der Zwischenzeit ihre W i r k samkeit verloren haben. Diese Bestimmung ist das Gegenstück zur Abänderungsbefugnis (sentence indéterminée), die 1 9 1 2 in Belgien eine außerordentlich weitgehende Neuerung darstellte und deshalb durch gewisse Garantien eingeschränkt wurde. Die Überprüfung soll im gleichen U m f a n g e und nach denselben Verfahrensvorschriften stattfinden wie bei der ersten Entscheidung 62 . Sie schließt damit ab, daß die erste Entscheidung entweder bestätigt oder im Rahmen der 60
Materne S. 2 5 2 / 2 5 3 . Materne S. 2 5 3 ff.; Wets S. 2 1 . 62 Aus Sparsamkeitsgründen ist 1 9 2 7 v o n der Justizverwaltung im E i n v e r nehmen mit den Jugendrichtern beschlossen worden, daß die Entscheidung auf G r u n d eines Besuches des Jugendrichters beim Jugendlichen getroffen werden soll (Rev. Belg. 1 9 3 4 / 1 1 3 2 ) . 61
31
dem Jugendrichter in Art. 3 1 I eröffneten Möglichkeit eine Abänderung erfährt. Die ergangene Entscheidung unterliegt der Berufung. c) Vorläufige Maßnahmen. Schon während der Untersuchung kann der Jugendrichter gegenüber den Jugendlichen die Schutzmaßnahmen treffen, die ihm notwendig erscheinen (Art. 28). Sie tragen vorläufigen Charakter (garde provisoire). Entweder läßt der Jugendrichter den Jugendlichen bei den Eltern oder sonst Aufsichtspflichtigen, oder er entzieht ihn der bisherigen Umgebung und bringt ihn bei geeigneten Privatpersonen, bei Wohltätigkeitsverbänden oder in einer Erziehungsanstalt unter. Auch hier steht es ganz im Ermessen des Jugendrichters, ob er eine vorläufige Schutzmaßnahme anordnen will, ohne daß die Schwere der begangenen Gesetzesverletzung einen Einfluß auf seine Entscheidung ausübt. Maßgebend ist allein das Interesse des Jugendlichen und der Öffentlichkeit. Bei außergewöhnlichen Umständen und in dringlichen Fällen können sowohl der Jugendstaatsanwalt als auch der Untersuchungsrichter, falls einer der seltenen Fälle von Voruntersuchung vorliegen sollte, diese Maßnahmen von sich aus ergreifen. Sie sind allerdings gehalten, den Jugendrichter unverzüglich von der Anordnung in Kenntnis zu setzen, der damit in seine Befugnisse eintritt (Art. 29). Unter den Bestimmungen über die Anordnung von vorläufigen Maßnahmen f ü r die Dauer des Verfahrens befindet sich der einzige Fall im belgischen Jugendschutzgesetz, in dem von Gefängnisaufenthalt f ü r Minderjährige die Rede ist. Ein Jugendlicher kann in einem Gefängnis in Untersuchungshaft gebracht werden, wenn er einen ganz besonders hohen G r a d von Verderbtheit zeigt und wenn er aus diesen Gründen keine A u f n a h m e bei den in Aussicht genommenen Privatpersonen oder Anstalten findet. Bei der Verabschiedung des Gesetzes vom i j . Mai 1 9 1 2 in der K a m m e r w a r man sich darüber klar, daß diese Bestimmung nicht recht in den Rahmen des Gesetzes paßte, nachdem der Jugendliche vollkommen außerhalb des Strafvollzugs f ü r Erwachsene gestellt war. Es ist daher auch ausdrücklich im Art. 30 betont worden, daß eine Unterbringung in einem Untersuchungsgefängnis nur in ungewöhnlich schwierig liegenden Ausnahmefällen erfolgen darf. Die Untersuchungshaft darf längstens f ü r die Dauer von zwei Monaten und nur einmal ausgesprochen werden. Ferner w i r d der H ä f t l i n g streng gesondert von den erwachsenen Gefängnisinsassen gehalten, um schädliche Einflüsse zu vermeiden, und erfährt auch eine andere, seiner Jugend angepaßte Behandlung. d) Maßnahmen zum Schutze Anormaler. Das Jugendschutzgesetz beschäftigt sich auch mit den anormalen Jugendlichen, f ü r die bisher keine gesetzliche Regelung bestand. D a bei den anormalen Minderjährigen Einsicht und Willensreife fehlen, wurden sie vor dem Gesetz vom 1 5 . Mai 1 9 1 2 einfach freigesprochen,
32 ohne daß man sich von Amts wegen weiter um ihr Schicksal kümmerte. Heute kann der Jugendrichter, sobald der körperliche oder geistige Zustand des Jugendlichen Bedenken erregt, den Jugendlichen beobachten und von Spezialärzten untersuchen lassen. Stellt das ärztliche Gutachten dann einen Zustand körperlicher und geistiger Minderwertigkeit fest, der den Jugendlichen unfähig macht, die Tragweite seiner Handlungen zu ermessen, so ordnet der Jugendrichter die Überweisung an die Justizverwaltung an mit der Maßgabe, ihn in einem Asyl oder in einer sonst geeigneten Anstalt unterzubringen (Art. 21). Die dem Jugendrichter auferlegte Verpflichtung, sich um den körperlichen und geistigen Zustand des Jugendlichen zu kümmern 63 , soll nicht etwa eine versteckte Prüfung des Unterscheidungsvermögens bezwecken. Denn es besteht ja die unwiderlegbare gesetzliche Vermutung für das Fehlen des Unterscheidungsvermögens. Vielmehr soll diese durch ärztliche Gutachten unterstützte Untersuchung nur die Gewähr dafür bieten, daß jedem Jugendlichen eine richtige Behandlung und Pflege zuteil wird 64 . e) Schadenersatz,
Verfahrenskosten,
Unterhaltskosten.
Das Gesetz sieht gegebenenfalls eine Verurteilung des Jugendlichen zum Ersatz der durch seine Handlung angerichteten Schäden vor. Der Jugendliche muß auch die Kosten des Verfahrens tragen, wenn die T a t erwiesen ist. In beiden Fällen haften als Gesamtschuldner die aufsichtspflichtigen Personen mit (Art. 24). Der Jugendrichter setzt auch die Höhe des Unterhalts- und Erziehungsbeitrages für den Jugendlichen fest, dessen Unterbringung er angeordnet hat (Art. 41 III). Diese Kosten sind von den unterhaltspflichtigen Personen aufzubringen. Sind sie dazu nicht in der Lage, wie es meistens der Fall ist, so übernimmt sie der Staat (Art. 42).
§ 6.
Die Schutzaufsicht. Die Schutzaufsicht (liberté surveillée) ist einer der Kernpunkte des Gesetzes. Sie bietet erst die Gewähr f ü r eine erfolgreiche Durchführung der Erziehungsarbeit, mit der der Gesetzgeber den Jugendrichter betraut hat. Als Vorbild hat der „probation officer" im amerikanischen und angelsächsischen Jugendrecht gedient. Der erste probation officer wurde 1878 in Suffolk Country Boston (Massachusetts) ernannt. Die Einrichtung bewährte sich glänzend und wird als Hauptursache f ü r die starke Verminderung der Jugendkriminalität angesehen65. 63 61 C5
Art. 21/27. Wets S. 303. Wets S. 56.
32 ohne daß man sich von Amts wegen weiter um ihr Schicksal kümmerte. Heute kann der Jugendrichter, sobald der körperliche oder geistige Zustand des Jugendlichen Bedenken erregt, den Jugendlichen beobachten und von Spezialärzten untersuchen lassen. Stellt das ärztliche Gutachten dann einen Zustand körperlicher und geistiger Minderwertigkeit fest, der den Jugendlichen unfähig macht, die Tragweite seiner Handlungen zu ermessen, so ordnet der Jugendrichter die Überweisung an die Justizverwaltung an mit der Maßgabe, ihn in einem Asyl oder in einer sonst geeigneten Anstalt unterzubringen (Art. 21). Die dem Jugendrichter auferlegte Verpflichtung, sich um den körperlichen und geistigen Zustand des Jugendlichen zu kümmern 63 , soll nicht etwa eine versteckte Prüfung des Unterscheidungsvermögens bezwecken. Denn es besteht ja die unwiderlegbare gesetzliche Vermutung für das Fehlen des Unterscheidungsvermögens. Vielmehr soll diese durch ärztliche Gutachten unterstützte Untersuchung nur die Gewähr dafür bieten, daß jedem Jugendlichen eine richtige Behandlung und Pflege zuteil wird 64 . e) Schadenersatz,
Verfahrenskosten,
Unterhaltskosten.
Das Gesetz sieht gegebenenfalls eine Verurteilung des Jugendlichen zum Ersatz der durch seine Handlung angerichteten Schäden vor. Der Jugendliche muß auch die Kosten des Verfahrens tragen, wenn die T a t erwiesen ist. In beiden Fällen haften als Gesamtschuldner die aufsichtspflichtigen Personen mit (Art. 24). Der Jugendrichter setzt auch die Höhe des Unterhalts- und Erziehungsbeitrages für den Jugendlichen fest, dessen Unterbringung er angeordnet hat (Art. 41 III). Diese Kosten sind von den unterhaltspflichtigen Personen aufzubringen. Sind sie dazu nicht in der Lage, wie es meistens der Fall ist, so übernimmt sie der Staat (Art. 42).
§ 6.
Die Schutzaufsicht. Die Schutzaufsicht (liberté surveillée) ist einer der Kernpunkte des Gesetzes. Sie bietet erst die Gewähr f ü r eine erfolgreiche Durchführung der Erziehungsarbeit, mit der der Gesetzgeber den Jugendrichter betraut hat. Als Vorbild hat der „probation officer" im amerikanischen und angelsächsischen Jugendrecht gedient. Der erste probation officer wurde 1878 in Suffolk Country Boston (Massachusetts) ernannt. Die Einrichtung bewährte sich glänzend und wird als Hauptursache f ü r die starke Verminderung der Jugendkriminalität angesehen65. 63 61 C5
Art. 21/27. Wets S. 303. Wets S. 56.
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Im belgischen Jugendschutzgesetz spielt die Schutzaufsicht (liberté surveillée) eine sehr große Rolle. Sie tritt zusätzlich zu den vom Jugendrichter angeordneten Maßnahmen hinzu. Alle Jugendlichen, die nicht in einer staatlichen Anstalt untergebracht oder wieder entlassen sind, werden bis zur Volljährigkeit unter Schutzaufsicht gestellt (Art. 25). Sie tritt auch dann ein, wenn der Jugendrichter sich damit begnügt hat, eine Verwarnung auszusprechen. Allerdings wird von der Durchführung der Schutzaufsicht abgesehen, wenn es sich um geringfügige Fälle handelt und der Jugendliche im Elternhaus in ausreichendem Maße beaufsichtigt wird 66 . Die ständige Aufsicht über die Jugendlichen, die vor ihm erscheinen, gehört in den Aufgabenkreis der Jugendrichters. Er übt sie durch die Vermittlung der Jugendschutzvertreter (délégués à la protection de l'enfance) aus, die er selbst ernennt. Bei der Auswahl der Jugendschutzvertreter hat der Jugendrichter vollkommen freie Hand. Bevorzugt werden Mitglieder der Jugendschutzverbände und der Wohltätigkeitsanstalten ausgewählt, die durch ihren Beruf oder durch ihre Ausbildung besondere Eignung besitzen. Denn der Wert der Schutzaufsicht ist von den Persönlichkeiten, die sie durchführen, abhängig. Die Jugendschutzvertreter haben als Hauptaufgabe unter Leitung des Jugendrichters die Schutzaufsicht durchzuführen, die in fast allen Fällen eine Folge der vom Jugendrichter getroffenen Maßnahmen ist. Ihre Tätigkeit ist deshalb so wichtig, weil sie die Verbindung mit dem Jugendlichen aufrechterhalten. Sie besuchen die Eltern, Privatpersonen, oder Anstalten, die den Jugendlichen in ihrer Obhut haben. Sie beobachten die Umgebung des Jugendlichen, seine Neigungen und seine Führung. Sie kümmern sich darum, daß der Jugendliche die Schule besucht und eine berufliche Ausbildung erhält. Sie stehen in Verbindung mit seinen Lehrern und Arbeitgebern und interessieren sich f ü r seine Fortschritte. Sie suchen allzu häufigen Kinobesuch, übermäßigen Alkoholgenuß und ein Zusammensein mit schlechter Gesellschaft zu verhindern, und Arbeitseifer und Sparsamkeit beim Jugendlichen zu entwickeln. Bei Jugendlichen, die sich in einer Anstalt 67 befinden, vereinfacht sich ihre Tätigkeit natürlich wesentlich und ist nicht so umfangreich wie bei den Jugendlichen, die sich in Freiheit befinden oder probeweise entlassen sind. Einmal im Monat hat der Jugendschutzvertreter dem Jugendrichter einen eingehenden Bericht über die innere und äußere Verfassung des Jugendlichen zu geben. Mit dem Bericht können die Jugendschutzvertreter ihnen geeignet erscheinende Maßnahmen in Vorschlag bringen (Art. 26). Kommt der Richter auf Grund der Berichte und Vorschläge des Jugendschutzvertreters zu der Überzeugung, daß der Jugendliche sich endgültig gebessert hat und sich 66 87
.1
Velge S. 14. Mit Ausnahme der staatlichen.
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wieder in den Bahnen eines geordneten Lebens befindet, so kann er die Schutzaufsicht aufheben. Die Tätigkeit der Jugendschutzvertreter beschränkt sich aber nicht auf die Zeit nach dem Richterspruch, sondern beginnt bereits während des Verfahrens. Der Jugendrichter erhält durch den Jugendschutzvertreter alle Auskünfte über die Familienverhältnisse, Schule, Beruf, Gewohnheiten und Interessen, die er auf Grund seiner Untersuchungspflicht einzuholen hat68. Die Jugendschutzvertreter üben ihre Tätigkeit im allgemeinen ehrenamtlich aus. Sie können jedoch eine Vergütung erhalten. Von dieser Möglichkeit wird nur selten Gebrauch gemacht, da sich stets eine genügende Anzahl von ehrenamtlichen Helfern zur Verfügung gestellt hat69. Der Jugendrichter ist aber dadurch in der Lage, hauptamtliche Jugendschutzvertreter zu ernennen, die ihm auf Grund ihrer Ausbildung eine besondere Unterstützung bieten und für dringende und schwierige Fälle jederzeit zur Verfügung stehen. Der Jugendrichter kann die Ernennung eines Jugendschutzvertreters jederzeit widerrufen, wenn es sich herausstellt, daß der Betreffende für den Posten nicht geeignet ist. Die Jugendschutzvertreter haben keine Beamteneigenschaft. Sie sind bei der Durchführung ihrer Aufgabe auf den guten Willen der Personen, mit denen sie in Berührung kommen, angewiesen. Zwangsmittel stehen ihnen nicht zur Verfügung, sondern nur dem Jugendrichter70. §7-
Die Berufung. Das Gesetz vom IJ. Mai 1 9 1 2 läßt im beschränkten Umfange die Berufung gegen die Entscheidungen des Jugendrichters zu. Die Einschränkung erklärt sich daraus, daß die Entscheidung des Jugendrichters nicht Straf-, sondern Erziehungsmaßnahmen zum Gegenstand hat, deren Wirksamkeit abgeschwächt würde, wenn sie in jedem Falle der Anfechtung unterliegen würden. Die Berufung ist um so mehr entbehrlich, als der Jugendrichter seine Entscheidungen jederzeit abändern oder zurückziehen kann und einer Fehlentscheidung daher von sich aus abhelfen kann. Tatsächlich sind auch die Fälle, in denen Berufung eingelegt wird, verschwindend gering. Voraussetzung für die Berufungsfähigkeit ist, daß durch die angegriffene Entscheidung der Jugendliche aus der Obhut seiner Eltern, Vormünder oder Aufsichtspersonen genommen wird. In diesem Falle steht den genannten Personen sowie dem Jugendlichen 68
Vgl. Art. 29. " Im Bezirk Brüssel stehen über 400 Männer und Frauen zur Verfügung. Vgl. Racine S. 14. 70 Velge S. IJ.
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wieder in den Bahnen eines geordneten Lebens befindet, so kann er die Schutzaufsicht aufheben. Die Tätigkeit der Jugendschutzvertreter beschränkt sich aber nicht auf die Zeit nach dem Richterspruch, sondern beginnt bereits während des Verfahrens. Der Jugendrichter erhält durch den Jugendschutzvertreter alle Auskünfte über die Familienverhältnisse, Schule, Beruf, Gewohnheiten und Interessen, die er auf Grund seiner Untersuchungspflicht einzuholen hat68. Die Jugendschutzvertreter üben ihre Tätigkeit im allgemeinen ehrenamtlich aus. Sie können jedoch eine Vergütung erhalten. Von dieser Möglichkeit wird nur selten Gebrauch gemacht, da sich stets eine genügende Anzahl von ehrenamtlichen Helfern zur Verfügung gestellt hat69. Der Jugendrichter ist aber dadurch in der Lage, hauptamtliche Jugendschutzvertreter zu ernennen, die ihm auf Grund ihrer Ausbildung eine besondere Unterstützung bieten und für dringende und schwierige Fälle jederzeit zur Verfügung stehen. Der Jugendrichter kann die Ernennung eines Jugendschutzvertreters jederzeit widerrufen, wenn es sich herausstellt, daß der Betreffende für den Posten nicht geeignet ist. Die Jugendschutzvertreter haben keine Beamteneigenschaft. Sie sind bei der Durchführung ihrer Aufgabe auf den guten Willen der Personen, mit denen sie in Berührung kommen, angewiesen. Zwangsmittel stehen ihnen nicht zur Verfügung, sondern nur dem Jugendrichter70. §7-
Die Berufung. Das Gesetz vom IJ. Mai 1 9 1 2 läßt im beschränkten Umfange die Berufung gegen die Entscheidungen des Jugendrichters zu. Die Einschränkung erklärt sich daraus, daß die Entscheidung des Jugendrichters nicht Straf-, sondern Erziehungsmaßnahmen zum Gegenstand hat, deren Wirksamkeit abgeschwächt würde, wenn sie in jedem Falle der Anfechtung unterliegen würden. Die Berufung ist um so mehr entbehrlich, als der Jugendrichter seine Entscheidungen jederzeit abändern oder zurückziehen kann und einer Fehlentscheidung daher von sich aus abhelfen kann. Tatsächlich sind auch die Fälle, in denen Berufung eingelegt wird, verschwindend gering. Voraussetzung für die Berufungsfähigkeit ist, daß durch die angegriffene Entscheidung der Jugendliche aus der Obhut seiner Eltern, Vormünder oder Aufsichtspersonen genommen wird. In diesem Falle steht den genannten Personen sowie dem Jugendlichen 68
Vgl. Art. 29. " Im Bezirk Brüssel stehen über 400 Männer und Frauen zur Verfügung. Vgl. Racine S. 14. 70 Velge S. IJ.
35 ein Berufungsredht zu (Art. 32). Es ist der liberale Gesichtspunkt, eine Garantie für die persönliche Freiheit des Kindes zu schaffen, hierfür maßgebend gewesen, von dem man sich bei Schaffung des Gesetzes im Jahre 1 9 1 2 trotz der sonstigen einschneidenden Veränderungen noch nicht ganz freimachen konnte. Daneben steht dem Jugendstaatsanwalt in jedem Falle das Berufungsrecht zu. Das Recht des Jugendrichters, seine Entscheidung abzuändern, kann hinsichtlich ihrer Berufungsfähigkeit zu Schwierigkeiten führen. Es wurde bereits ausgeführt (vgl. S. 30), daß die Entscheidungen teils administrativen Charakter tragen, teils echte richterliche Entscheidungen sind. Nur gegen richterliche Entscheidungen ist die Berufung gegeben, administrative Maßnahmen sind nur auf dem Wege der Dienstaufsichtsbeschwerde anfechtbar. So hat das Berufungsgericht in Gent 71 entschieden, daß die Ablehnung eines Gesuches auf Entlassung aus der Anstalt — der Richter kann auch um Abänderung seiner Entscheidung ersucht werden — nicht mit der Berufung angefochten werden kann. Audi der Berufungsrichter in Jugendsadien ist ein Einzelrichter, denn der belgische Gesetzgeber wollte die vielen Vorteile, die er im Einzelrichtertum gerade bei Jugendlichen sah, auch in der zweiten Instanz gewahrt wissen72. Die Bestellung erfolgt genau wie beim Jugendrichter erster Instanz durch den König für die Dauer von drei Jahren. Seine Befugnisse sind die gleichen. Der Vollzug der vom Berufungsrichter gefällten Entscheidung liegt aber in der Hand des Jugendrichters erster Instanz, wieder aus dem Gedanken heraus, die Geschlossenheit und Einheitlichkeit der Erziehungsarbeit am Jugendlichen nicht zu zerstören. Auch hierbei kann der Jugendrichter erster Instanz von seiner Abänderungsbefugnis Gebrauch machen, allerdings nur dann, wenn sich während des Vollzuges der Entscheidung des Berufungsrichters neue Tatsachen ergeben, die eine Abänderung rechtfertigen73. Denn die Abänderungsbefugnis darf natürlich nidit dazu führen, das Berufungsredit illusorisch zu machen. Auch wenn Berufung eingelegt wird, kann der Jugendrichter die vorläufige Vollstreckung seiner Entscheidung anordnen (Art. 32 II).
§ 8.
Vollzug und Kontrolle. Grundsätzlich ist der Jugendrichter auch für den Vollzug seiner Entscheidung zuständig. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Jugendrichter in Erfüllung dieser Aufgabe administrative Befugnisse ausübt, die vor dem Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 der Justiz71 72 73
3«
Urteil vom 1. März 1922, Pass 1922 II 170. Vgl. Materne S. 261 ff. Velge S. 16.
35 ein Berufungsredht zu (Art. 32). Es ist der liberale Gesichtspunkt, eine Garantie für die persönliche Freiheit des Kindes zu schaffen, hierfür maßgebend gewesen, von dem man sich bei Schaffung des Gesetzes im Jahre 1 9 1 2 trotz der sonstigen einschneidenden Veränderungen noch nicht ganz freimachen konnte. Daneben steht dem Jugendstaatsanwalt in jedem Falle das Berufungsrecht zu. Das Recht des Jugendrichters, seine Entscheidung abzuändern, kann hinsichtlich ihrer Berufungsfähigkeit zu Schwierigkeiten führen. Es wurde bereits ausgeführt (vgl. S. 30), daß die Entscheidungen teils administrativen Charakter tragen, teils echte richterliche Entscheidungen sind. Nur gegen richterliche Entscheidungen ist die Berufung gegeben, administrative Maßnahmen sind nur auf dem Wege der Dienstaufsichtsbeschwerde anfechtbar. So hat das Berufungsgericht in Gent 71 entschieden, daß die Ablehnung eines Gesuches auf Entlassung aus der Anstalt — der Richter kann auch um Abänderung seiner Entscheidung ersucht werden — nicht mit der Berufung angefochten werden kann. Audi der Berufungsrichter in Jugendsadien ist ein Einzelrichter, denn der belgische Gesetzgeber wollte die vielen Vorteile, die er im Einzelrichtertum gerade bei Jugendlichen sah, auch in der zweiten Instanz gewahrt wissen72. Die Bestellung erfolgt genau wie beim Jugendrichter erster Instanz durch den König für die Dauer von drei Jahren. Seine Befugnisse sind die gleichen. Der Vollzug der vom Berufungsrichter gefällten Entscheidung liegt aber in der Hand des Jugendrichters erster Instanz, wieder aus dem Gedanken heraus, die Geschlossenheit und Einheitlichkeit der Erziehungsarbeit am Jugendlichen nicht zu zerstören. Auch hierbei kann der Jugendrichter erster Instanz von seiner Abänderungsbefugnis Gebrauch machen, allerdings nur dann, wenn sich während des Vollzuges der Entscheidung des Berufungsrichters neue Tatsachen ergeben, die eine Abänderung rechtfertigen73. Denn die Abänderungsbefugnis darf natürlich nidit dazu führen, das Berufungsredit illusorisch zu machen. Auch wenn Berufung eingelegt wird, kann der Jugendrichter die vorläufige Vollstreckung seiner Entscheidung anordnen (Art. 32 II).
§ 8.
Vollzug und Kontrolle. Grundsätzlich ist der Jugendrichter auch für den Vollzug seiner Entscheidung zuständig. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Jugendrichter in Erfüllung dieser Aufgabe administrative Befugnisse ausübt, die vor dem Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 der Justiz71 72 73
3«
Urteil vom 1. März 1922, Pass 1922 II 170. Vgl. Materne S. 261 ff. Velge S. 16.
36 Verwaltung zustanden. Der belgische Gesetzgeber versprach sich ein erfolgreiches Eingreifen gegen die Jugendkriminalität nur dann, wenn die angestrebte Erziehung des Jugendlichen v o m ersten bis zum letzten Augenblick nur von einer Stelle aus geleitet wurde. Hierzu bestimmte er den Jugendrichter. Dennoch kann die Justizverwaltung, wenn auch in erheblich geringerem U m f a n g e als vor dem Gesetz v o m 1 5 . M a i 1 9 1 2 , an der Erziehungsarbeit beteiligt sein, wenn der Jugendliche ihr durch Richterspruch überwiesen w i r d . Die Überweisung an die Justizverwaltung kann einmal mit der A u f l a g e erfolgen, den Jugendlichen in einer der staatlichen Erziehungsanstalten unterzubringen. Sie kann aber auch ohne besondere Anordnung, w o der Jugendliche untergebracht werden soll, erfolgen, und dann liegt es in der H a n d der Justizverwaltung, über das weitere Schicksal des Jugendlichen zu befinden. Die J u s t i z v e r w a l t u n g kann dann in derselben Weise wie sonst der Jugendrichter v e r f a h r e n und den Jugendlichen in seiner bisherigen Umgebung unter bestimmten A u f l a g e n belassen, ihn in einer Spezialanstalt beobachten lassen oder ihn in eine geeignete Erziehungsanstalt öffentlichen oder privaten Charakters stecken (Art. 39). Durch diese Bestimmung hat die Justizverwaltung z w a r einen kleinen T e i l ihrer früheren Befugnisse zurückbekommen, aber es ist f a s t nie zu deren Ausübung gekommen. Denn seit den V e r ordnungen v o m 16. A p r i l und 1 . M a i 1 9 2 3 kann der Jugendrichter Jugendliche unmittelbar in die staatlichen Anstalten überweisen, während früher hierzu die Uberweisung an die Justizverwaltung notwendig w a r . Z u diesen N o v e l l e n sah sich der belgische Gesetzgeber durch die Einstellung der Jugendrichter veranlaßt, die immer seltener eine Uberweisung an die Justizverwaltung aussprachen, weil sie die Durchführung der von ihnen getroffenen Maßnahmen in der H a n d behalten wollten 7 4 . E i n wichtiges Recht, das der J u s t i z v e r w a l t u n g auch nach dem Gesetz v o m I J . M a i 1 9 1 2 belassen ist, ist das Recht auf Beaufsichtigung und Inspektion der Unterbringung des Jugendlichen. Es w i r d vom Justizminister ausgeübt (Art. 38). Die A r t der Aufsicht ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Sie u m f a ß t die N a c h p r ü f u n g der Unterbringung im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die Erziehungsmethoden und den W e r t der Ausbildung der Jugendlichen in beruflicher Hinsicht 7 5 . Z u diesem Z w e c k e erhält der Justizminister Mitteilung über alle Fälle, in denen eine Unterbringung angeordnet wurde, und außerdem noch jährlich einen eingehenden Bericht (Art. 38 I I ) . Die Beaufsichtigung der Unterbringung durch den Justizminister 'bedeutet aber in keiner Weise eine Einengung der Befugnisse des Jugendrichters, da der Justizminister nicht das Recht hat, von sich aus Anordnungen zu t r e f f e n , sondern auf die Mitwirkung des Jugendrichters angewiesen ist. 74 75
Collard in Rev. Belg. 1924, S. 692. Materne S. 285.
37 § 9-
Besondere Schutzvorschriften. 1. Art. 47 des Gesetzes vom i j . Mai 1 9 1 2 stellt den allgemeinen Grundsatz auf, daß die Gerichte und Verwaltungsbehörden bei Anwendung der ihnen gesetzlich eingeräumten Vollmachten auf die Religion und die Weltanschauung (convictions religieuses et philosophiques) der Familie des Kindes Rücksicht zu nehmen haben. Dieser Grundsatz hat auch f ü r alle Mitarbeiter des Jugendrichters Geltung, also auch f ü r die Jugendschutzvertreter, obwohl sie keine Beamteneigenschaft haben 76 . 2. Jugendlichen unter 18 Jahren ist das Zuhören bei Sitzungen der Strafgerichte verboten (Art. 36). Sie dürfen nur als Zeugen erscheinen, und auch dann werden sie gleich nach ihrer Aussage wieder entlassen. Diese Vorschrift war notwendig, weil sich bei den Sitzungen der Strafgerichte immer eine ganze Reihe von Jugendlichen einfand, die nur -ihre Sensationslust befriedigen wollten und zu strafbaren Handlungen angeregt wurden. 3. Der Jugendrichter kann die Eltern oder Aufsichtspersonen f ü r das Nichterscheinen des Jugendlichen zum Termin verantwortlich machen und in Strafe nehmen, wenn sie sich nicht entschuldigen können (Art. 35). Dies ist der einzige Fall, w o der Jugendrichter gegen Erwachsene außer im Rahmen der ihm zustehenden Sitzungspolizei Strafen verhängen kann. Für die aufsichtspflichtigen Personen besteht noch die Verpflichtung, den Jugendrichter sofort zu benachrichtigen, wenn ein Jugendlicher sich ohne Erlaubnis entfernt oder schlecht aufführt. 4. Einige Vorschriften sollen den Jugendlichen vor Ausnutzung und Beeinflussung durch Erwachsene über den Rahmen der im Code pénal geregelten Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe, Mittäterschaft) schützen. a) Die Personen, die durch Versprechungen, Geschenke oder auf andere Weise Jugendliche zu einer Übertretung veranlassen, können als Täter bestraft werden (Art. 44). b) Mit Polizeistrafen können die Aufsichtspflichtigen belegt werden, die durch mangelnde Aufsicht die Begehung eines Rechtsbruches durch einen Jugendlichen ermöglicht haben (Art. 45), soweit nicht schon nach anderen Gesetzen eine Bestrafung erfolgt. c) Hehlerei an Sachen, die ein Jugendlicher durch eine Übertretung erlangt hat, wird bestraft (Art. 46).
79
Velge S. 19.
38 § 10.
Die Durchführung der Erziehungsarbeit. „La Belgique est la terre d'élection des vouloirs généreux; elle a le génie de la charité; quand il s'agit du devoir patriotique, de la défense, de la protection de l'enfance elle ne connaît aucune limite à sa vaillance et à son enthousiasme" 77 . Das Gesetz vom i j . Mai 1 9 1 2 hat eine Reihe von umwälzenden Neuerungen zur Bekämpfung der Jugendkriminalität eingeführt, so die Institution des Jugendrichters, die Schutzaufsicht, die Abänderbarkeit der richterlichen Entscheidung und die Beschränkung des Berufungsrechts. Der Erfolg des Gesetzes ist jedoch in erster Linie der Bereitwilligkeit staatlicher wie privater Kreise, ihre tatkräftige Unterstützung bei der Durchführung der Erziehungsarbeit zu gewähren, zu verdanken. Für diese Einstellung ist der Gedanke maßgebend gewesen, daß jeder Staat die Kriminalität aufzuweisen hat, die er verdient. Daher gilt es, die besten Kräfte im Kampfe gegen die Jugendkriminalität als Quelle des Berufsverbrechertums einzusetzen. Das Interesse des Staates bekundete sich darin, daß eine besondere Zentrale für alle Jugendschutzfragen, das Office de la Protection de l'Enfance, dem Justizministerium angegliedert wurde und die staatlichen Anstalten von Grund auf umorganisiert wurden. Die Jugendrichter haben sich mit großem Idealismus und Verständnis an ihre neuen Aufgaben herangemacht. Aus allen Kreisen und Berufsschichten haben sich Männer und Frauen in uneigennütziger Weise als Jugendschutz Vertreter zur Verfügung gestellt. Eine große Anzahl von privaten Wohltätigkeitsverbänden und Erziehungsanstalten hat sich zur Aufnahme von Jugendlichen bereitgefunden. Schließlich haben sich die besten Lehnkräfte und Erzieher in den Dienst der Sache gestellt. Erst diese Mitarbeit hat aus den starren und nicht einmal immer sehr glücklich abgefaßten Bestimmungen des Gesetzes ein lebendiges Instrument in der Hand des Jugendrichters gemacht. Das Erziehungsprinzip beherrscht auch die Durchführung des Gesetzes. Das „régime optimiste" hat Geltung, man glaubt an die Erziehbarkeit eines jeden Jugendlichen. Sicherlich gibt es hoffnungslose Fälle, bei denen der Einfluß der erzieherischen Behandlung nicht stark genug ist, um über eine schlechte Veranlagung und die Einflüsse einer ungünstigen Umgebung Herr zu werden. Aber die Erfahrung hat gezeigt, daß in fast allen Jugendlichen ein guter Kern steckt, der sich audi bei den schwierigsten Fällen in unerwarteten Beweisen von Großmut, Kameradschaftlichkeit und Energie offenbart 78 . 77
S.8oj.
78
Paul Wets auf der Journée de Patronage in Verviers, vgl. Rev. Belg. 1929, Wets in Rev. Belg. 1930, S. 1 ff.
39 Die Behandlung der Jugendlichen wird bestimmt durch das Ziel, das erreicht werden soll, nämlich durch Erziehung den jungen Menschen wieder in die menschliche Gesellschaft einzugliedern (rééducation, reclassement). Ein befriedigendes Ergebnis kann nur erzielt werden, wenn die Erziehung vielseitig und jedem einzelnen Fall angepaßt ist. Die hierzu notwendigen Grundlagen werden durch eine sorgfältige Beobachtung (observation) des Jugendlichen gewonnen, die die erzieherischen Angriffsmöglichkeiten freilegen und gleichzeitig den Jugendlichen vor extremen Maßnahmen schützen soll. Man hat in Belgien erkannt, daß eine derartige Beobachtung geradezu Voraussetzung für eine erfolgreiche Erziehungsarbeit ist und daher der Ausbildung der Beobachtungsmethoden ganz besondere Sorgfalt zugewandt. i. B e o b a c h t u n g . a) Das Beobachtungsinstitut in Moll79. Beim Inkrafttreten des Gesetzes vom 15. Mai 1912 gab es in Belgien kein Institut, in dem eine derartige Beobachtung erfolgen konnte, wie sie der Jugendrichter gemäß Art. 21 anzuordnen vermag. Durch königliche Verordnung vom 31. Dezember 1913 bzw. 31. März 1921 ist das Beöbachtungsinstitut (établissement central d'observation) für Knaben in Moll gegründet worden, das eine ganz außerordentliche Bedeutung im Rahmen der Erziehungsarbeit in Belgien gewonnen hat. Die Aufgaben dieses Instituts sind in einem ministeriellen Erlaß vom 23. September 1916 festgelegt. Durch die sorgfältige Beobachtung und Erforschung der kindlichen Seele und des kindlichen Wesens sollen die Ansatzpunkte für die Erziehungsarbeit und die Grundlagen für die Einteilung der Jugendlichen nach ihrem geistigen und körperlichen Zustand und ihrer Besserungsfähigkeit ermittelt werden. Das Beobachtungsinstitut soll Ratschläge für die Behandlung des Jugendlichen erteilen und geeignete Anstalten für die endgültige Unterbringung dem Jugendrichter in Vorschlag bringen. Die Arbeit in Moll geht davon aus, daß der jugendliche Übeltäter, der zur Beobachtung überwiesen ist, einen Defekt (déficience) in irgendeiner Hinsicht, entweder auf geistigem, körperlichem, sozialem oder moralischem Gebiete hat, der in seinem kriminellen Verhalten zum Ausdruck kommt. Diesen Defekt gilt es zu erkennen, um ihn abstellen zu können. Hierzu ist ein eingehendes, nach wissenschaftlichen Methoden aufgebautes Studium der psychischen und physischen Eigenart des Jugendlichen notwendig. Es ist das System der medizinisch-pädagogischen Beobachtung. 79 Vgl. für diesen Abschnitt: Wets S. 1 6 2 — 1 9 $ ; Huguenin S. 47 fF.; Nisot S. 36 ff.; Rouvroy in Services auxiliaires des tribunaux pour enfants, S. 125 ff.; Wets in Rev. Belg. 1930, S. 1 ff. Uber ähnliche Einrichtungen im Strafvollzug s. Petrzilka S. 6z ff.
40 Zu diesen Beobachtungen bedarf es eines besonderen Rahmens, der sich möglichst den gewöhnlichen Lebensbedingungen anpaßt und dem Jugendlichen ein weites Betätigungsfeld eröffnet, wo er sich entfalten und aus sich herausgehen kann. Man hat diesen Rahmen in einem Regime angebrachter und notwendiger Disziplin in Verbindung mit verhältnismäßig großer Freiheit gefunden. Dem äußeren Eindruck nach gleicht das Beobachtungsinstitut einem Pensionat für junge Menschen und erinnert nicht im geringsten an ein Gefängnis. Die Jugendlichen tragen keine Uniform. Überall ist Licht und Luft, freundliche, nette Räume, die Fenster sind mit Blumen geschmückt, es gibt keine Gitter und hohe Mauern mehr. Trotzdem ist die Zahl der Ausbrüche verschwindend gering. Als weitere Voraussetzung, um zuverlässige Ergebnisse zu erzielen, ist ein ausgewähltes Personal, das größtenteils im Besitz des Staatsexamens ist und eine besondere Ausbildung in einer dem Beobachtungsinstitut angegliederten Schule durchgemacht hat, mit der ständigen Beobachtung betraut. Der Neuankömmling wird dem Leiter des Beobachtungsinstituts vorgeführt, der sich mit ihm unterhält, um einen allgemeinen Eindruck zu gewinnen. Danach werden die Formalitäten erfüllt. Die Untersuchung beginnt mit der individuellen Beobachtung des Jugendlichen. Der Junge kommt nun in den pavillon d'acceuil. Hier wird er kurze Zeit isoliert — im Höchstfälle drei Tage. In seinem Zimmer findet er Lese- und Schreibmaterial vor. Er kann sich beschäftigen wie er will. Nichts wird ihm befohlen, denn man will ihn kennenlernen, wie er tatsächlich ist, nicht wie man ihn gern haben möchte80. Diese Zeit soll der Selbstbesinnung des Jugendlichen dienen. Dann wird die Beobachtung durch Unterhaltungen mit dem Jungen fortgesetzt, die der Leiter der Anstalt, der Pfarrer, der Lehrer und der Aufseher mit ihm haben. Er wird über die Hausordnung unterrichtet, man spricht mit ihm, sucht sein Vertrauen zu gewinnen und legt ihm nahe, den bisherigen Verlauf seines Lebens niederzuschreiben. Er wird mit Hand- und Schularbeiten beschäftigt. In diese Zeit fällt auch die erste medizinische Untersuchung sowie eine kurze Prüfung. Alle diese Beobachtungen auf der psychopädagogischen Untersuchungsstation sollen dazu dienen, die besondere individuelle Eigenart des Jungen, losgelöst von seiner gewohnten Umgebung, kennenzulernen. Das Ergebnis der Beobachtungen wird schriftlich niedergelegt, und zwar von jedem, der mit dem Jungen in Berührung gekommen ist. Daraus ergeben sich auch die Anhaltspunkte für die weitere Beobachtung, die sich nunmehr im Gemeinschaftsleben mit anderen Jungen abspielt und sein Verhalten in einer Gemeinschaft zeigen soll. Nach einigen Tagen Aufenthalt im pavillon d'acceuil kommt der Junge in einen pavillon d'observation. Das Institut hat je eine 80
Rouvroy in Services auxiliaires des tribunaux pour enfants, S. 128.
41
Abteilung für die Flamen und eine f ü r die Wallonen, jede Abteilung besteht aus drei Pavillons, in denen die Jugendlichen ihrem Alter und ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung entsprechend untergebracht werden. Die Pavillons können je 20 bis 25 Jugendliche aufnehmen. Sie haben einen Unterrichtsraum, einen Speisesaal, der gleichzeitig auch Aufenthaltsraum ist, einen Arbeitsraum, im oberen Stock kleine Einzelschlafzellen und einen H o f , in dem jeder Junge einen eigenen kleinen Garten hat. Vorsteher des Pavillons ist ein Erzieher, der neben seinem Staatsexamen eine besondere Ausbildung in Moll durchgemacht hat. Jeder Pavillon bildet eine selbständige Einheit, die die Familie ersetzen soll. Der Vorsteher hat volle Freiheit, das Leben im Pavillon so normal und natürlich wie nur möglich zu gestalten, um damit eine eingehende und zuverlässige Beobachtung zu ermöglichen. Den Kindern wird große Freiheit gelassen. Sie sollen sich fühlen als ob sie ganz unter sich sind. Alles ist darauf abgestellt, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre guten Eigenschaften zu zeigen und ihre Persönlichkeit zu entfalten. Sie sollen zur Mitarbeit veranlaßt werden, die notwendig ist, damit der Jugendliche lernt, sich selbst zur "Willensstärke, Pflichtbewußtsein und Beständigkeit zu erziehen. Die Jungen werden am Gemeinschaftsleben beteiligt, indem man ihnen Vertrauensposten und Ehrenämter überträgt, die ihr Verantwortungsbewußtsein stärken und ihr Ehrgefühl wecken sollen. Sie haben selbst einen kleinen Ehrengerichtshof gebildet, der Verstöße gegen die Disziplin ahndet. Es wird viel Sport, vor allem Fußball, auf dem Sportfeld des Instituts getrieben. Jeder Pavillon hat eine Mannschaft, die untereinander und gelegentlich sogar gegen auswärtige Gegner spielen. Auch gehören gemeinsame Spaziergänge außerhalb der Anstalt zum Tagesplan. Manchmal dürfen die Jungen die Spaziergänge ohne Aufsicht unternehmen. Der in den Pavillons erteilte Unterricht stellt sich vor allen Dingen auf eine Prüfung der Intelligenz ab. Handwerkliche Arbeiten sind dazu bestimmt, die praktischen Fähigkeiten des Jugendlichen und seine berufliche Eignung, aber auch seine Geduld, seinen guten Willen und seinen Eifer zu offenbaren. Die moralischen und charakterlichen Eigenschaften und seine Gemütsverfassung werden durch Beobachtung seines Verhaltens im täglichen Leben, beim Unterricht, in der Werkstatt, seinen Lehrern gegenüber, unter seinen Kameraden und im Verhältnis zu seinen Angehörigen ermittelt. Man beobachtet, wie der Jugendliche sich in der Freizeit beträgt, ob er passiv ist, schüchtern, leicht durch seine Kameraden beeinflußbar, hinterlistig oder streit- und herrschsüchtig, fröhlich, sorglos oder verdorben. Die Beobachtung findet in medizinischer, psychologischer, pädagogischer und beruflicher Beziehung statt. Sie wird durch ein sinnreiches, weit ausgebautes System von „tests" vervollständigt, durch die der Jugendliche nach allen Richtungen hin geprüft wird. Diesen
42
Tests räumt man allerdings nur eine Bedeutung als Kontrolle und Ergänzung der Beobachtungsergebnisse ein, durch die man wertvolle Anhaltspunkte für die weitere Beobachtung erhält. Die Beobaditung hat aber als Erkenntnisquelle für das Wesen und den Charakter des Jugendlichen unbedingt den Vorrang. Denn man ist sich darüber klar, daß die alleinige Anwendung des Testssystems die Gefahr einer falschen Beurteilung des Jugendlichen mit sich bringt, weil es so wichtige Gebiete wie Gemütsverfassung und charakterlidie Veranlagung nicht richtig zu erfassen vermag. Um ein möglichst abgerundetes und vollständiges Bild von dem Jugendlichen zu erhalten, finden täglich Besprechungen zwischen dem Leiter des Instituts, den Vorstehern der Pavillons, dem Arzt, den Erziehern und Aufsehern statt. Hierbei werden die Beobachtungen und Erfahrungen ausgetauscht, die notwendigen Schlüsse daraus gezogen und über weitere Maßnahmen beraten. Am Ende des gewöhnlich zwei bis drei Monate dauernden Aufenthalts wird auf Grund dieser Besprechungen, der täglichen Notizen und des Befundes der Untersuchungen das Ergebnis der Beobachtungen zusammengestellt und auf besonderen Vordrucken schriftlich niedergelegt. aa) Ein Vordruck, die sog. fiche d'observation médicale81, wird vom Arzt des Instituts ausgefüllt, der während des Aufenthalts des Jungen in einem pavillon d'observation eine zweite Untersuchung vornimmt, die diesmal sehr gründlich ist. Die Untersuchung erstreckt sich auf die erbliche Belastung, die Vorgeschichte des Jungen, seinen gegenwärtigen Gesundheitszustand, seine neurologische Konstitution. Aus dem Befund werden die Schlußfolgerungen gezogen und Vorschläge für die weitere Behandlung gemacht. bb) Ein weiterer Vordruck enthält die Zusammenfassung aller Beobachtungen in psycho-pädagogischer Hinsicht. Es ist dies die sog. fiche d'observation psycho-pédagogique, die in gemeinsamer Arbeit vom Anstaltsleiter, dem Arzt und dem Vorsteher des pavillon d'observation abgefaßt wird. Hier ist zunächst die Vorgeschichte des Jugendlichen erwähnt. Es folgt dann die Beurteilung i. der psychischen Fähigkeiten (Reaktionsfähigkeit, Auffassungsgabe, Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit, Anpassungsvermögen, Erinnerungsvermögen, Urteilsvermögen), 2. der Ausdrucksmöglichkeiten (Bewegung, Sprache, Schrift), 3. der geistigen Fähigkeiten (Intelligenz, Kenntnisse, geistige Reife), 4. der Willenskraft und des Charakters (Gemütszustand, Erregbarkeit, Neigungen, Verantwortungsbewußtsein, Temperament), um mit der orientation professionelle abzuschließen, die sich mit seinem beruflichen Können, seinen praktischen und theoretischen Kenntnissen, Neigungen und Eignung zu einem bestimmten Beruf beschäftigt. Mit besonderer Sorgfalt wird dann von den drei Verfassern zusammen die Feststellung über die allgemeine Erziehbarkeit (éducabilité générale) des Jugendlichen 81
Abgedruckt bei Wets S. 187.
43 getroffen und unter Zusammenfassung des Ergebnisses ein Vorschlag für die weitere Behandlung und Unterbringung gemacht. cc) Im Hinblick auf die Bedeutung der Berufswahl für das fernere Schicksal des Jugendlichen sind alle hierfür wichtigen Daten, wie körperliche und geistige Eignung, Neigung, bisherige Ausbildung usw., nochmals auf einem besonderen Vordruck, der fiche d'orientation professionelle, zusammengetragen, der mit einem bestimmten Vorschlag für einen Beruf abschließt. Dieses Formular begleitet den Jugendlichen in die Anstalt, in die er endgültig überwiesen wird. Über die endgültige Unterbringung des Jugendlichen (placement) hat nur der Jugendrichter zu befinden. Er wird über das Beobachtungsergebnis durch einen ausführlichen Bericht (rapport d'orientation professionelle) des Leiters des Instituts unterrichtet, den dieser aus dem Inhalt der Formulare zusammenstellt und der auch den Vorschlag des Instituts für die weitere Unterbringung enthält. Der gleiche Bericht geht auch dem Office de la Protection de l'Enfance und der Anstalt, in der der Jugendliche untergebracht wird, als Richtlinie für die weitere Behandlung zu. Die Einteilung des Jugendlichen erfolgt nach der Art der Behandlung, die sein Zustand erfordert (Classification teleologique). Man sucht nach dem Hauptmerkmal, das bei der Rückerziehung berücksichtigt werden muß und teilt danach vier Hauptgruppen ein, auf die sich die Jugendlichen wie folgt verteilen82: Irréguliers médicaux Dazu gehören die Infirmes profonds . . . Malades curables Malades incurables . . . . Irréguliers psychiques Dazu gehören die Arriérés profonds . . . Anormaux éducables . . Anormaux collocables . . Irréguliers moraux Dazu gehören die Indécis moraux Amendables affirmés . . Pervers Irréguliers sociaux purs Dazu gehören die sans famille und sans métier.
3,94% .
1,19% >33% 0,42%
2
. 1,13% .28,12% . 2,39% 30,48% .20,19% 2,39%
31,64%
55>3°%
9,12%
Interessant ist bei dieser Aufstellung, wie groß die Anzahl der anormaux éducables ist. Das Hauptkontingent wird aber von den 82
Vgl. Aufstellung in Rev. Belg. 1936, S. 902, von M. Rouvroy.
44
Irréguliers moraux gestellt. Hierbei gehören zu den indécis moraux die Jugendlichen, die als erziehungsfähig angesehen werden, ohne daß man über den vermutlichen Erfolg schon etwas sagen könnte, während bei den amendables affirmés schon während der Beobachtungszeit Anzeichen einer Besserung festgestellt sind. Die letzte Gruppe der Irréguliers sociaux besteht aus Jugendlichen, die mangels eines Elternhauses oder eines Berufes zu Landstreichern oder Bettlern geworden sind und aus diesem Grunde vor dem Jugendrichter erscheinen.
b) Andere
Beobachtungsinstitute.
In ähnlicher Form wie in Moll für Jungen ist in St. Servais eine Beobachtungsstation für Mädchen eingerichtet. Es werden die gleichen Beobachtungsmethoden wie in Moll angewandt, nur hat sich mit der Zeit die Gewohnheit herausgebildet, daß man eine Untersuchung durch tests kaum mehr vornimmt. Grundlage der Beobachtung ist das Verhalten im Gemeinschaftsleben im Pavillon. Das Personal wird von einem Schwesternorden gestellt. Die Vorsteherinnen der Pavillons sind im Besitze des Lehrerinnenexamens und haben außerdem noch eine besondere Ausbildung durchgemacht, um sich auf ihre verantwortungsvolle Aufgabe vorzubereiten. In die staatlichen Beobachtungsinstitute in Moll und in St. Servais kommen die Jugendlichen entweder auf besondere Anordnung des Jugendrichters hin oder dann, wenn sie von dem Jugendrichter oder der Verwaltungsbehörde in eine s t a a t l i c h e Erziehungsanstalt überwiesen werden. Außer den staatlichen Beobachtungsinstituten gibt es noch einige Beobachtungsstationen, die ihre Entstehung privater Initiative verdanken. Hier ist vor allem die clinique médico-pédagogique du Brabant zu nennen 83 . Im Gegensatz zu den staatlichen Instituten werden in der Klinik auch Jugendliche einer Untersuchung unterzogen, die nicht vom Jugendrichter überwiesen sind, sondern deren Eltern oder Erzieher sie hinbringen. Allerdings ist der Jugendrichter des Brüsseler Bezirks der Hauptkunde. In diesem Bezirk erscheint kein Jugendlicher vor dem Jugendrichter, bevor er nicht in der Klinik untersucht worden ist. Die Erfolge dieses Vorgehens sind so gut, daß man keine Jugendsache mehr ohne das Gutachten der Spezialisten dieser Klinik aburteilen will. Es ist das Hauptverdienst der Klinik, durch die hier vorgenommenen Untersuchungen an das Tageslicht gebracht zu haben, wie groß der Prozentsatz der geistig Zurückgebliebenen unter den Jugendlichen, die vor dem Jugendrichter erscheinen, ist. Die Untersuchung wird in Richtung auf den Geisteszustand, die Gemütsverfassung und in summarischer Form auch auf den Gesundheitszustand durchgeführt. Man wendet bei der Untersuchung 83
Wets S. 196 ff. und in Rev. Belg. 1930, S. j/6.
45 die Methode des Tests an, so wie sie international in Gebrauch ist. Die Ärzte nehmen eine oberflächliche Untersuchung der Hauptorgane sowie anthropologisehe Messungen vor. Außerdem prüfen sie die Vorgeschichte und die erbliche Belastung des Jugendlichen. Das Untersuchungsergebnis wird schriftlich niedergelegt und mit einer gutachtlichen Äußerung und einem Vorschlag dem Jugendrichter übersandt, wobei in schwierigen Fällen eine eingehendere Untersuchung vorbehalten bleibt. Die Untersuchung in der Klinik trägt einen ganz anderen Charakter als die Beobachtung in Moll oder St. Servais, die sich über viele Wochen erstreckt. Sie ist kurz und summarisch. Aber die lange Erfahrung der Spezialisten, die in der Klinik tätig sind, gibt ihren Diagnosen und Vorschlägen große Sicherheit und besonderen Wert und erleichtert die Arbeit des Jugendrichters ganz wesentlich. Naturgemäß reicht die Untersuchung in der Klinik nur in den leichteren Fällen aus, in den schwierigeren ist eine eingehende Beobachtung, wie sie in den staatlichen Instituten vorgenommen wird, erforderlich und wird von der Klinik auch in Vorschlag gebracht. 2. D i e e r z i e h e r i s c h e
Behandlung.
Die Beobachtungsinstitute sollen dem Jugendrichter die Arbeit erleichtern und ihm ermöglichen, eine richtige Unterbringung vorzunehmen, in dem Bestreben, die Jugendlichen voreinander zu schützen, indem man sie nach ihrem geistigen und körperlichen Zustand und nach ihrer Besserungsfähigkeit trennt. Es war schon von der classification téléologique die Rede 84 , einer Einteilung der Jugendlichen, die durch das Erziehungsziel, den Jugendlichen in die menschliche Gesellschaft wieder einzufügen, bestimmt ist. Dieses Ziel soll dadurch erreicht werden, daß man den Jugendlichen möglichst rasch in eine geordnete, seiner Verfassung angepaßte Umgebung bringt und die durch die medizinisch-pädagogische Beobachtung ermittelten Mängel (déficiences) soweit wie möglich durch geeignete Maßnahmen zu beheben versucht. Nicht immer liegen die Mängel auf erzieherischem Gebiet, wie die oben wiedergegebene Statistik zeigt 85 . Daher trifft der Jugendrichter auch nicht nur Erziehungsmaßnahmen, sondern auch Schutzund Fürsorgemaßnahmen. So wird er bei der Gruppe der Irréguliers médicaux eine Behandlung in Krankenhäusern und Kliniken oder in unheilbaren Fällen eine Unterbringung in Hospizen, Asylen, Kinderheimen oder Spezialschulen anordnen. Bei den Irréguliers psychiques werden die Erziehungsfähigen entweder in einer Spezialanstalt, die dem Beobachtungsinstitut angeschlossen ist, oder in anderen geeigneten Schulen untergebracht, wo sie eine einfache schulmäßige und 84
V g l . Wets S . 1 7 5 ff.
85
V g l . S. 43-
46 handwerkliche Ausbildung erhalten, damit sie im Rahmen ihrer Fähigkeiten sich nützlich machen können und keine tote Last für die Allgemeinheit sind. Soweit die Jugendlichen dieser Gruppe als nicht erziehbar anzusprechen sind, kommen f ü r sie die colonie des aliènes de Gheel oder die ferme-école pour anormaux profonds in Elsum in Frage. Bei der vierten Gruppe schließlich, den Irréguliers sociaux, wird es in den meisten Fällen genügen, sie in eine geordnete Häuslichkeit bzw. in einen für sie geeigneten Beruf zu bringen 86 . N u r die dritte Gruppe, die auch den größten Prozentsatz aufweist, die Irréguliers moraux, enthält eigentlich die Fälle, in denen die Jugendlichen durch Erziehung wieder in geordnete Bahnen gelenkt werden sollen. Das ideale und naturgegebene Erziehungszentrum ist das Elternhaus. N u r wenn die Eltern ihre Erziehungsfunktionen nicht ausüben können, weil das Kind zu schwierig ist oder weil sie selbst ungeeignet sind, soll der Jugendrichter eine Erziehung außerhalb der Familie in Erwägung ziehen, die aber möglichst noch einen familienmäßigen Anstrich haben soll. Für die Durchführung der Erziehungsarbeit haben sich folgende Grundsätze herausgebildet 87 : 1. Die Erziehung muß innerhalb kleiner Gruppen vor sich gehen, die etwa 20 bis 25 Zöglinge umfassen. Die Masse ist der Feind einer jeden Erziehung, weil sie das Eingehen auf die Besonderheiten des einzelnen verhindert. Wohl kann der Unterricht in größeren Gruppen abgehalten werden, die eigentliche Erziehung muß aber individuell sein. Denn der Zögling soll nicht nur äußerlich diszipliniert werden, sondern sein Charakter und sein Wille sollen gebildet und geformt werden. Er soll Selbstzucht, Pflichtbewußtsein und Selbstbeherrschung lernen und den Willen bekommen, ein geordnetes Leben zu führen. Der Erzieher kann sich aber nur in kleinen Gruppen um jeden einzelnen kümmern. Kleine Gruppen sind auch deshalb notwendig, um die Zöglinge voreinander zu schützen, und um erziehungsfeindliche Momente, wie schlechtes Beispiel und gegenseitige Beeinflussung, auszuschalten. Denn die Moral steht im umgekehrten Verhältnis zur Anzahl der Zöglinge in der Gruppe. 2. Das Erzieherpersonal muß zahlreich und besonders ausgesucht ein. Eine ausreichende Anzahl ist notwendig, weil sie die Zöglinge ständig betreuen sollen. Sie sollen ihre Lehrer beim Schulunterricht und bei der beruflichen Ausbildung sein, ihre Kameraden beim Sport und beim Spiel, ihre Berater und Betreuer in den Unterhaltungen und in der Freizeit. Andererseits muß das Erziehermaterial besonders ausgesucht und vorgebildet sein. Die Aufgabe der Erzieher besteht nicht darin, die Zöglinge zu überwachen oder zur Arbeit anzuhalten und Ausbrüche zu verhindern, sondern darin, sie auf den richtigen Weg zu lenken, sie umzuformen und aus ihnen 86 87
Wets S. 176. Vgl. Collard in Rev. Belg. 1924, S. 69$ ff.
47 ehrliche und arbeitsame Menschen zu machen. Die besondere Schwierigkeit dieser Aufgabe liegt darin, daß es sich meistens nicht um unerzogene, sondern um falsch erzogene Jugendliche handelt. U m diesen Anforderungen zu entsprechen, hat man in Moll eine Schule eingerichtet, die sich mit der Ausbildung von Erziehern, die durchweg im Besitz des staatlichen Lehrerexamens sind, befaßt. 3. Der Aufenthalt in einer Anstalt muß eine längere Zeit dauern. Dies Ergebnis hat vor allem die Statistik gezeigt. Zu häufig sind bei vorzeitigen Entlassungen, die meistens auf Grund von Gesuchen der Eltern erfolgten, Rückfälle eingetreten, die eine erneute Unterbringung in der Anstalt notwendig machten. Die Gründe f ü r die Rückfälle sind verschieden. Bei einigen hat sich die Häuslichkeit während ihrer Abwesenheit nicht verändert. Sie kommen in die gleiche ungeeignete Umgebung zurück und ihre "Widerstandskraft gegen neue Versuchungen ist durch den zu kurzen Anstaltsaufenthalt noch nicht genügend enwidcelt. Andere sind dagegen für den Lebenskampf, der für sie nach der Entlassung beginnt, nidit genügend gerüstet. Sie haben nichts gelernt und können sich deshalb nicht durchsetzen. Hier soll ein genügend langer Aufenthalt in der Anstalt Abhilfe schaffen, der Gelegenheit bietet, die Zöglinge mit einer gründlichen beruflichen Ausbildung zu versehen, und der durch die semi-liberté abgeschlossen wird, die der allmählichen, schrittweisen Wiedereingliederung des Jugendlichen in das Leben in der Freiheit dient.
§ 11.
Die Erziehungsanstalten. Wichtig für den Erfolg der Erziehungsarbeit ist die breite Basis, auf die sich der Jugendrichter durch die rege und tatkräftige Mitarbeit staatlicher und privater Kreise stützen kann. Außer den staatlichen Anstalten stehen dem Jugendrichter etwa 265 private Anstalten für die verschiedensten Zwecke zur Verfügung. Unter ihnen befinden sich Schulen, Kliniken, Sanatorien, Internate, Waisenhäuser, Asyle für erziehungsfähige und unerziehbare Anormale, Mütterheime, Berufsschulen und Jugendheime (foyers, homes de semi-liberté)88. Bei der Auswahl einer geeigneten Anstalt wird der Jugendrichter durch das „Office de la Protection de l'Enfance" beraten, das einen Inspektionsdienst für alle Anstalten unterhält und auf Grund der Berichte dieses Inspektionsdienstes den Jugendrichter über die Vorzüge und Nachteile der einzelnen Anstalten unterrichten kann 89 . Vielfach machen die Jugendrichter ihre Besuche in den An88 88
Wets S. 201. Wets S. 202.
47 ehrliche und arbeitsame Menschen zu machen. Die besondere Schwierigkeit dieser Aufgabe liegt darin, daß es sich meistens nicht um unerzogene, sondern um falsch erzogene Jugendliche handelt. U m diesen Anforderungen zu entsprechen, hat man in Moll eine Schule eingerichtet, die sich mit der Ausbildung von Erziehern, die durchweg im Besitz des staatlichen Lehrerexamens sind, befaßt. 3. Der Aufenthalt in einer Anstalt muß eine längere Zeit dauern. Dies Ergebnis hat vor allem die Statistik gezeigt. Zu häufig sind bei vorzeitigen Entlassungen, die meistens auf Grund von Gesuchen der Eltern erfolgten, Rückfälle eingetreten, die eine erneute Unterbringung in der Anstalt notwendig machten. Die Gründe f ü r die Rückfälle sind verschieden. Bei einigen hat sich die Häuslichkeit während ihrer Abwesenheit nicht verändert. Sie kommen in die gleiche ungeeignete Umgebung zurück und ihre "Widerstandskraft gegen neue Versuchungen ist durch den zu kurzen Anstaltsaufenthalt noch nicht genügend enwidcelt. Andere sind dagegen für den Lebenskampf, der für sie nach der Entlassung beginnt, nidit genügend gerüstet. Sie haben nichts gelernt und können sich deshalb nicht durchsetzen. Hier soll ein genügend langer Aufenthalt in der Anstalt Abhilfe schaffen, der Gelegenheit bietet, die Zöglinge mit einer gründlichen beruflichen Ausbildung zu versehen, und der durch die semi-liberté abgeschlossen wird, die der allmählichen, schrittweisen Wiedereingliederung des Jugendlichen in das Leben in der Freiheit dient.
§ 11.
Die Erziehungsanstalten. Wichtig für den Erfolg der Erziehungsarbeit ist die breite Basis, auf die sich der Jugendrichter durch die rege und tatkräftige Mitarbeit staatlicher und privater Kreise stützen kann. Außer den staatlichen Anstalten stehen dem Jugendrichter etwa 265 private Anstalten für die verschiedensten Zwecke zur Verfügung. Unter ihnen befinden sich Schulen, Kliniken, Sanatorien, Internate, Waisenhäuser, Asyle für erziehungsfähige und unerziehbare Anormale, Mütterheime, Berufsschulen und Jugendheime (foyers, homes de semi-liberté)88. Bei der Auswahl einer geeigneten Anstalt wird der Jugendrichter durch das „Office de la Protection de l'Enfance" beraten, das einen Inspektionsdienst für alle Anstalten unterhält und auf Grund der Berichte dieses Inspektionsdienstes den Jugendrichter über die Vorzüge und Nachteile der einzelnen Anstalten unterrichten kann 89 . Vielfach machen die Jugendrichter ihre Besuche in den An88 88
Wets S. 201. Wets S. 202.
48 stalten zu gleicher Zeit mit den Beamten des Inspektionsdienstes, so daß sie an Ort und Stelle ihre Erfahrungen und Beobachtungen austauschen können. Aus diesen gemeinsamen Besuchen haben sich viele Vorschläge und Anregungen ergeben, die zu einer ständigen Verbesserung der Anstalten geführt haben. Das Office de la Protection de l'Enfance hat neben der Beaufsichtigung der Unterbringungen und der Inspektion der Anstalten noch die Aufgabe, alle im Jugendschutz interessierenden Fragen und .Gesichtspunkte zu sammeln und zu verwerten, und gibt zu diesem Zweck eine Revue de la Protection de l'Enfance heraus 90 . Es hat sich die Übung herausgebildet, daß die staatlichen Anstalten die schwierigeren und die privaten Anstalten die leichteren Fälle aufnehmen 91 . Der Grund hierfür liegt einmal in der historischen Entwicklung. Vor dem Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 waren die staatlichen Anstalten als écoles de réforme und später als écoles de bien-faisance — die Umbenennung erfolgte in den Jahren 1890/91 — für die schwierigsten und verdorbensten Jugendlichen bestimmt. Obwohl diese Anstalten nach dem Inkrafttreten des Gesetzes vollkommen umorganisiert wurden und seit 1 9 2 1 (Königl. Verordnung vom 3 1 . März 1 9 2 1 ) den Namen établissements d'éducation de l'Etat tragen, um die Jugendrichter zu veranlassen, möglichst viele Jugendliche in die staatlichen Anstalten einzuweisen, sind die Jugendrichter dennoch dabei geblieben, nur die schwierigeren Fälle dort unterzubringen. Dazu kommt als weiterer Grund, daß die privaten Anstalten naturgemäß eine größere Handlungsfreiheit haben und daher in der Lage sind, die Aufnahme schwieriger oder unerwünschter Elemente abzulehnen, während der Staat auf Grund seiner offiziellen Stellung solche Fälle übernehmen muß und auch über die Einrichtungen verfügt, um unerziehbare Jugendliche in Sonderabteilungen (sections de sûreté, quartiers de discipline) zu isolieren. 1. D i e s t a a t l i c h e n
Anstalten92.
Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes hat der belgische Staat eine vollständige Umstellung seiner Anstalten vorgenommen und sich auch ständig weiter bemüht, Verbesserungen einzuführen. Die hauptsächlichsten Reformen datieren von 1 9 2 1 . Sein Hauptaugenmerk hat er auf die Heranziehung und Ausbildung erstklassigen Erziehermaterials gerichtet. In Moll ist eine Schule eingerichtet worden, in der die Erzieher, die meistens im Besitz des staatlichen Lehrerexamens sind, eine besondere Ausbildung erfahren und ein Examen ablegen müssen. Es gelten neue Methoden für die Ausbildung; das Erziehungsprinzip ist in jeder Hinsicht durchgeführt worden. Die Gebäude und Einrichtungen sind überholt und erneuert worden. 90
W e t s S. 24 ff. Wets S . 206. V g l . Wets S . 206 ff.; Nisot S. 38 ff.; Les Institutions pour Enfants, S. 63 ff.; Velge S. 20 ff. 81
92
49 Büchereien sind eingerichtet. Die Ernährung ist besser. Das Personal trägt keine Uniform und die Zöglinge haben keinen einheitlichen Anzug mehr, um den Anstalten den Gefängnisdiarakter ganz zu nehmen. Audi das Erzieherpersonal ist verstärkt worden. An der Spitze steht der „directeur", in dessen Händen die Leitung der Erziehung, des Schulunterrichts und der beruflichen Ausbildung zentralisiert ist. Er ist das Verbindungsglied zwischen Staat und Anstalt. Täglich kommt er mit seinen Mitarbeitern zusammen, um ihnen die Anweisungen des Justizministeriums bekanntzugeben, um die eingegangenen Anfragen zur Beantwortung zu verteilen, um disziplinäre Fragen zu regeln und um Versetzungen der Zöglinge innerhalb der Anstalt zu genehmigen. Er nimmt auch die Vorschläge zur Entlassung oder Überweisung an eine andere Anstalt entgegen und gibt sie an den Jugendrichter weiter, der allein darüber zu bestimmen hat, was mit dem Jugendlichen geschehen soll. Die Gruppenleiter (chef de groupe) sind für ihre Gruppe verantwortlich. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Fortschritte der Zöglinge in sittlicher, geistiger und beruflicher Beziehung zu überwachen und die in dem Beobachtungsinstitut angelegte Personalakte des Zöglings durch die Beobachtungen zu vervollständigen. Sie geben ihren Mitarbeitern Anweisungen f ü r die Behandlung des Zöglings und stehen mit dem Jugendrichter und den Eltern in Verbindung, um sie über die Erziehungsfortschritte zu unterrichten. Die Gruppenleiter haben über die Versetzung des Zöglings in eine andere Sektion zu bestimmen, müssen aber dazu die Genehmigung des directeurs einholen. Dem Sektionsleiter (chef de section) fällt eine der wichtigsten Aufgaben im Rahmen der Erziehungsarbeit zu. Er soll in unmittelbarer und ständiger Fühlung mit den Zöglingen ihr Betreuer und Berater in allen Fragen sein und sich als père de famille fühlen 93 . Sein persönlicher Einfluß soll zur Geltung kommen. Er soll das Vertrauen des Zöglings durch sein Verständnis für ihn und durch seine Kameradschaftlichkeit gewinnen und im Bewußtsein der Verantwortung, die er trägt, Vorbild sein94. Zu seiner Unterstützung sind ihm ein bis zwei Erzieher (éducateurs) zur Seite gestellt. Für die berufliche Ausbildung sind schließlich die contremaîtres da, die den Unterricht in den Werkstätten leiten, aber auch zur Beaufsichtigung bei Spaziergängen und Beschäftigung der Zöglinge herangezogen werden. Die Einteilung der Jugendlichen in den Anstalten erfolgt zunächst, wie schon in den staatlichen Beobachtungsinstituten, nach dem Alter und der geistigen und körperlichen Entwicklung in drei Gruppen: die prépubères (unter 14), pubérants ( 1 5 — 1 7 ) und die postpubères ( 1 7 — 2 1 ) . Jede Gruppe ist wiederum nach dem Besserungsgrad der Zöglinge in drei Sektionen eingeteilt: 1. die amendés simples, die einfach Besserungsfähigen, 2. die amendables affirmés, 93 M
4
Wets S. 208. Nisot S. j 4 .
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die bereits ihre Besserung unter Beweis gestellt haben, 3. die améliorés, bei denen eine Entlassung aus der Anstalt bereits in absehbarer Zeit in Betracht kommt. Dementsprechend werden die Sektionen auch als 1. section d'épreuve, wo die Zöglinge zunächst eine Probezeit durchmachen, 2. section de récompense, wo sie für ihre Leistungen und ihr Betragen Belohnungen und Vergünstigungen erhalten, und 3. section d'honneur, die vielfach schon mit dem Regime der semi-liberté verbunden ist, bezeichnet. Man erhält auf diese Weise kleine Gruppen gleichartiger und gleidizubehandelnder Jugendlicher. Es ist das Prinzip der sériation, der Einteilung der Zöglinge nach dem Grad ihrer Verderbtheit und Besserungsfähigkeit. Jede Sektion umfaßt 20 bis 25 Zöglinge und steht vollkommen unabhängig für sich da. Vorbild für diese Einteilung ist das Pavillonsystem gewesen, das aus finanziellen Gründen bisher nur in Saint Servais verwirklicht werden konnte95. In den anderen staatlichen Anstalten behilft man sidi, indem man innerhalb der Gebäude die Sektionen scharf voneinander abgrenzt. Jede Sektion hat ihre Räumlichkeiten für sich. Nur die "Werkstätten sind für den allgemeinen Gebrauch da. Die Sektion bildet die erzieherische Einheit. Das Gemeinschaftsleben in der Sektion ist Ausgangspunkt der Erziehung. Die Sektion ist eine geschlossene Zelle im Gefüge der Anstalt, die an der Stelle der Familie dem Zögling als Heimstätte dienen soll. Die Durchführung der Erziehungsarbeit innerhalb der Sektion erstreckt sich nach drei Richtungen: 1. Sie besteht in der eigentlichen Erziehung zu einem ordentlichen und tüchtigen Menschen. Man will keine äußerliche Disziplinierung oder Dressur des Zöglings, sondern den Charakter bilden und den Willen formen. „L'éducation est avant tout la formation de la volonté morale." 96 Es herrscht eine freundliche, kameradschaftliche Atmosphäre, die sich auf gegenseitigem Vertrauen aufbaut und dem Zögling möglichst viel Betätigungsfreiheit läßt. Man hat alles abgeschafft, was an den ehemaligen gefängnisähnlichen Charakter der staatlichen Anstalten erinnern könnte. Man glaubt an den guten Kern, an die Erziehbarkeit und läßt den Zögling diesen Glauben durch das Interesse, das man an seiner Person nimmt, merken. Die ganze Erziehung steht unter dem Einfluß des sog. régime optimiste, des Glaubens an den Erfolg der Erziehung. Auf die individuelle Eigenart des Zöglings wird Rücksicht genommen und eingegangen, soweit es sich um erzieherisch wertvolle Eigenschaften handelt. Schlechte Eigenschaften sucht man in gute umzukehren. „ L a règle éducative sera de sublimer la tendance vicieuse en tendance sociale. L'impératif catégorique sera le dernier recours de l'éducation." 97 " 5 Maus in Rev. Belg. 1938, S. 1056. 66 Nisot S. 34. 87 Wets bei Collard, L a journée de patronage à Anvers (in Rev. Belg.
51 Viel Sorgfalt wird auf die körperliche Ertüchtigung verwandt. Es finden regelmäßig Turnstunden statt und die Zöglinge haben weite Spiel- und Sportfelder auch in der Freizeit zu ihrer Verfügung. Auch werden öfter Spaziergänge außerhalb der Anstalt gemacht. Auf eine gründliche Körperpflege und auf Sauberkeit wird besonderes Gewidit gelegt. Die Zöglinge befinden sich unter dauernder Überwachung durch den Anstaltsarzt. Die Zöglinge werden angehalten, an dem Gottesdienst und an den Religionsstunden teilzunehmen, die der Anstaltspfarrer abhält. In gewissem Umfange sind die Zöglinge auch an der Gestaltung des Gemeinschaftslebens in ihrer Sektion beteiligt. Man überträgt ihnen Vertrauensposten und Ehrenämter, um ihr Verantwortungsbewußtsein zu stärken und an ihr Ehrgefühl und an ihren guten Willen zu appellieren. Uberhaupt werden sie zur Aktivität, zum Handeln aus eigener Initiative gedrängt. Man überläßt ihnen die Ausschmückung ihrer Schlafzellen und der Gemeinschaftsräume. Sie dürfen gelegentlich kleine Feste veranstalten, zu denen andere Sektionen eingeladen werden 98 . Diese Behandlung soll dazu führen, den Willen zur Mitarbeit beim Zögling zu wecken, der den Erziehungserfolg erst vollkommen macht. Man bringt dem Zögling bei, daß er an sidi selbst arbeiten muß und selbst für seine Zukunft verantwortlich ist. Sein Ehrgeiz wird angestachelt, indem man seine Anstrengungen belohnt. Am Wochenende nimmt der Sektionsleiter eine Einteilung (classement moral) auf Grund der Bewertungen seiner Mitarbeiter vor, wobei die besten Leistungen öffentlich hervorgehoben und durch Verteilung von Wertmarken belohnt werden". Dies Markensystem ist in Belgien trotz offensichtlicher Nachteile (Strebertum, Heuchelei) beibehalten worden. Man führt als Grund hierfür an 100 , daß beim Durchschnitt der Zöglinge das geistige Niveau und der Intelligenzgrad so niedrig ist, daß gerade durch dies primitive Mittel bei vorsichtiger Anwendung viel erreicht werden kann. Über die Wertmarken können die Zöglinge frei verfügen und sich entweder Kleinigkeiten dafür in der Anstalt kaufen, oder aber auch den Gegenwert auf einem Sparkassenbuch, das für jeden Zögling geführt wird, gutschreiben lassen. Man sucht die Zöglinge zur Einzahlung auf das Sparkonto zu veranlassen, um in ihnen den Sinn für Sparsamkeit zu entwickeln und um ihnen bei der Entlassung aus der Anstalt etwas Geld in die Hand legen zu können. Als Anreiz zum Sparen erhöht die Anstalt die Einlagen um einen bestimmten Satz 101 . Weitere Vergünstigungen für gute Führung und gute Leistungen sind die Erlaubnis zum Briefwechsel, zum Empfang von Besuchen Angehöriger, die der Zögling einmal im Monat bekommen darf, und zum Paketempfang. Services auxiliaires des tribunaux pour enfants, S. 129. Les Institutions pour Enfants, S. 66. 100 Wets S. 223. 101 Wets in Rev. Belg. 1931, S. 960.
88 M
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52 Trotz des freundlichen Anstrichs ist die Erziehung durchaus straff. Disziplin ist notwendig zur Gewöhnung der Zöglinge an Gehorsam und Unterordnung und zur Aufrechterhaltung der Ordnung in einer Gemeinschaft. Gerade in der Verbindung von verhältnismäßiger Freiheit mit straffer Disziplin sieht man die beste Vorbedingung f ü r einen Erfolg der Erziehung 102 . Als Mittel zur Aufrechterhaltung der Disziplin kommen in erster Linie freundschaftliche Vorhaltungen in Frage. Sonst stehen folgende Hausstrafen zur Verfügung: Der Verweis oder die öffentliche Vermahnung. Die Streichung der Freizeit, der Spaziergänge. Der Entzug der Besuchs- und Briefwechselerlaubnis. Die Streichung der Belohnung. Wasser und Brot. Zellenarrest bis zu 14 Tagen. Die Unterbringung in einem quartier de discipline. Mit Ausnahme der letzten Maßnahme, die nur vom Justizminister angeordnet werden kann, spricht der Anstaltsleiter die Strafen aus. Die körperliche Züchtigung ist als Strafe ganz verschwunden. 2. In zweiter Linie gilt die Erziehungsarbeit der Vervollkommnung der Schulbildung. Alle Zöglinge, die im schulpflichtigen Alter stehen 103 werden nach dem für die Volksschulen (écoles primaires) geltenden Lehrplan unterrichtet. Der Unterricht wird vom Leiter der Sektion und seinen Assistenten abgehalten. Bei den älteren Zöglingen steht die Ausbildung für einen bestimmten Beruf im Vordergrund. Sie erhalten deshalb nur zwei Unterrichtsstunden täglich. Für die älteren Zöglinge, die keine rechte Schulbildung genossen haben, sind noch Spezialkurse eingerichtet. Beim Unterricht werden die modernsten Hilfsmittel verwandt (Film, Projektionen, Mikroskop, Unterricht im Freien usw.). Der Schulunterricht ist im besonders starken Maße auf die berufliche Ausbildung eingestellt, die der Zögling in der Anstalt erhalten soll. In besonderen Unterrichtsstunden wird der Zögling durch Handarbeiten, Modellieren, Zeichnen und Unterhaltung über die einzelnen Berufe beschäftigt und auf die Arbeit in den Werkstätten vorbereitet. 3. Auf die berufliche Ausbildung wird in den Anstalten ganz besonderer Wert gelegt. Abgesehen von dem erzieherischen Wert, den man in der Arbeit sieht, ist man bestrebt, den Zögling in die Lage zu versetzen, nach seiner Entlassung aus der Anstalt seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Darüber hinaus will man durch eine sorgfältige Berufswahl den Jugendlichen in einen seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechenden Beruf hineinbringen, in dem er seinen Lebensinhalt und seinen Platz in der menschlichen Gesell102 103
Wets in Rev. Belg. 1930, S. 1 ff. Das sind die unter 14 Jahren.
53 schaft findet und vor weiteren Anfechtungen bewahrt bleibt. Die Wichtigkeit, die man dieser Frage beimißt, wird durch die große Sorgfalt, mit der man bei der Berufswahl vorgeht, betont. In den Beobachtungsinstituten ist bereits eine eingehende Untersuchung aller für die Berufswahl in Betracht kommenden Momente vorgenommen worden, die mit einem für die staatlichen Anstalten verbindlichen Vorschlag abschließt 104 . Ferner findet in den Anstalten noch eine besondere Betreuung der beruflichen Ausbildung durch die comités d'orientation profesionelle statt, die sich aus den Leitern der Anstalten, den Ärzten und den Leitern der Werkstätten zusammensetzen. Diese Comités können im Einverständnis mit dem Justizministerium von den Vorschlägen der Beobachtungsinstitute abweichen und eine andere berufliche Ausbildung anordnen, wenn es notwendig erscheint. Bei der durchweg recht schlechten und verschiedenartigen Vorbildung der Zöglinge kommen nur praktische Berufe in Frage. In den Anstalten für Knaben sind Werkstätten für Holz- und Eisenbearbeitung aller Art, für Elektromechanik, Schneider- und Schusterwerkstätten und Bäckereien für die berufliche Ausbildung vorhanden. Auch können sie als Gärtner und in allen landwirtschaftlichen Arbeiten auf den an die Anstalt angesdilossenen Gutshöfen ausgebildet werden. Den Mädchen, die in Saint Servais untergebracht sind, sollen alle Kenntnisse, die im Haushalt wichtig sind, beigebracht werden. Sie lernen waschen, plätten, kochen, backen, nähen stricken, stopfen, schneidern. Auf Grund von Prüfungen werden den Jugendlichen in den einzelnen Berufszweigen Fähigkeitsatteste ausgestellt. Voraussetzung dafür ist aber, daß die Zöglinge eine abgeschlossene Lehrzeit in den Anstalten durchgemacht haben. Im Durchschnitt bleiben die Zöglinge i bis 1V2 Jahre, und dieser Zeitraum ist zu kurz, um sie fertig auszubilden. Nach Ansicht der Anstaltsleitungen 105 sollte sowohl im Hinblick auf die berufliche Ausbildung als auch in erzieherischer Hinsicht (rééducation morale) der Aufenthalt in den meisten Fällen auf drei Jahre ausgedehnt werden, um einen anhaltenden Erfolg zu erzielen. Der Übergang von einer Sektion in die andere richtet sich nach dem Betragen und den Fortschritten der Zöglinge. Im allgemeinen verbringen sie zunächst sechs Monate in der section d'épreuve. In einigen Anstalten bringt die section d'honneur die semi-liberté mit sich. Der Zögling darf dann außerhalb der Anstalt seinem Berufe nachgehen und ein Gehalt beziehen. Der Staat verfügt über folgende Anstalten mit nachstehendem Fassungsvermögen 106 : 104 105 106
Vgl. S. 43. Vgl. Wets S. 214. Les Institutions pour Enfants, S. 64.
54 Etablissement d'observation in Moll pour anormaux >> d'éducation Ruysselede M St. Hubert >> ïï d'observation „ St. Servais d'éducation „ „ „ Asile clinique pour jeunes filles „ Bruges . Section disciplinaire „ „
151 95 161 302 35° 80 157 74 19
Unter den Anstalten für Knaben besteht eine gewisse Reihenfolge 107 . Ruysselede und Saint Hubert bilden die erste Stufe, wo die Jugendlichen im Normalfall untergebracht werden, und zwar die Flamen in Ruysselede und die Wallonen in Saint Hubert. Beide Anstalten stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und haben ungefähr die gleiche Entwicklung von maisons pénitentiaires über écoles de réforme und écoles de bienfaisance durchgemacht, bis sie durch Königliche Verordnung vom 31. März 1921 zusammen mit den übrigen staatlichen Anstalten in établissements d'éducation umbenannt und gründlich reformiert wurden. In diesen Anstalten gibt es eine interessante Einrichtung. Die Zöglinge erhalten nämlich Ferien, die in der Weise durchgeführt werden, daß die Anstalten einen Teil ihrer Zöglinge für einige Wochen austauschen. In einigen Fällen wird den Zöglingen, wenn sie sich sehr gut geführt haben, erlaubt, die Ferien in ihrem Elternhause zu verbringen 108 . Eine ähnliche Einrichtung besteht auch in Saint Servais für Mädchen. In das Etablissement d'éducation in Moll kommen die Jugendlichen, die schwierig sind und in den anderen Anstalten eine Gefahr für ihre Kameraden bedeuten, weil sie widerspenstig sind oder aufhetzen. Nach der classification téléologique 109 sind das die Pervers unter den Irréguliers moraux. Für die ganz schwierigen Fälle ist dieser Abteilung noch ein quartier disciplinaire angeschlossen, wo die Behandlung nach der Aufführung des Zöglings bis zur vollkommenen Isolierung in Einzelhaft verschärft werden kann. In Saint Servais wird auch die Erziehungsanstalt für Mädchen von Ordensschwestern geleitet, die eine besondere Ausbildung durchgemacht haben. Für schwierige Fälle ist die Section disciplinaire in Bruges da, während die asile clinique die anormalen Mädchen aufnimmt. 2. D i e p r i v a t e n A n s t a l t e n 1 1 0 . Die Privatanstalten haben sich in ihrem Aufbau und in ihrer Organisation so weit nach dem Vorbild der staatlichen Anstalten gerichtet, als es der besonderen Eigenart und andersartigen Zu107 108
Nisot S. 41. Les Institutions pour enfants, S. 67. Vgl. S. 43. Wets S. 201 ff.
55 sammensetzung ihrer Schülerschaft entspricht. Der Inspektionsdienst, der schon eingangs erwähnt wurde, hat dafür Sorge getragen, daß Privatanstalten, die sich Reformvorschlägen widersetzen und keine Neuerungen einführen wollten, aus dem Kreise der zu berücksichtigenden Anstalten ausschieden. Durch Rundschreiben des Justizministers ist den Leitungen der Privatanstalten nahegelegt worden, für jeden Zögling eine fiche d'amendement zu führen, aus der seine körperliche, geistige und charakterliche Entwicklung und der Stand seiner beruflichen Ausbildung hervorgeht. Heute stehen zahlreiche Privatanstalten auf einer so hohen Stufe, daß sie allen Anforderungen entsprechen und den staatlichen Anstalten vollkommen gleichwertig sind. Nach der Statistik ist der Erfolg ihrer Arbeit sogar größer als bei den staatlichen Anstalten, doch dürfte der Grund hierfür in der Tatsache liegen, daß sie durchweg die leichteren und aussichtsreicheren Fälle zugewiesen erhalten 1 1 1 . Die zunächst geäußerten Bedenken, jugendliche Rechtsbrecher aufzunehmen und unter ihre anderen Zöglinge zu mischen, hat man allmählich fallen lassen, weil man sich davon überzeugte, daß viele Jugendliche nicht auf Grund einer kriminellen Veranlagung, sondern als O p f e r der Vernachlässigung durch ihre Eltern zu Rechtsbrechern geworden sind 112 . Diese Jugendlichen bedürfen nicht des strengen Regimes in den staatlichen Anstalten, um gebessert zu werden, sondern gehören in die freiere Atmosphäre der Privatanstalten. Die Tatsache, daß in manchen Anstalten die Zöglinge mit den übrigen Schülern in Berührung kommen, bringt es natürlich mit sich, daß ihnen sehr viel mehr Freiheit gewährt wird. Aber auch hier ist der G r a d der Freiheit in den einzelnen Anstalten sehr verschieden und geht von der unbeschränkten Freiheit, wie sie jeder Internatsschüler genießt, bis zu dem Sektionssystem (section d'epreuve, de récompense de semi-liberté) der staatlichen Anstalten. Die Unterbringung in Privatanstalten bietet gewisse Vorteile. Durchweg ist die Zahl der Zöglinge in diesen Anstalten klein, eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Erziehungsarbeit. Außerdem liegen sie überall im Lande verstreut, so daß die Zöglinge in der N ä h e des sie betreuenden Jugendrichters und in der N ä h e ihrer Familie bleiben können. Das „Orphelinat de la Sainte Famille" in Herenthals ist ein gutes Beispiel für eine private Anstalt 1 1 3 . Das Institut ist vom Orden der Frères de N o t r e - D a m e de Miséricorde gegründet und unterhält eine öffentliche Schule und ein Internat, in dem jugendliche Rechtsbrecher A u f n a h m e finden. Allerdings werden hier nur sorgfältig ausgewählte Jugendliche untergebracht, deren Erziehung die beste Aussicht auf Erfolg bietet und die eine so freie und auf vollem Vertrauen aufgebaute Behandlung vertragen können. Die Zöglinge be111 112 113
Collard in Rev. Belg. 1924, S. 694. Collard in Rev. Belg. 1924, S. 690. Wets S. 224.
56 sitzen vollkommene Freiheit. Sie können sich überall hinbegeben, man verlangt nur von ihnen, daß sie sich zur festgesetzten Stunde pünktlich wieder einfinden. Der Einfluß der Erzieher ist so groß, daß trotz dieser Freiheit keine Ausbrüche vorkommen. Man will dem Zögling in freundschaftlicher, aber durchaus bestimmter "Weise A r beitsfreude, Ordnungssinn und Verständnis für die Notwendigkeit von Selbstdisziplin beibringen. Auch hier ist der Schulunterricht und die berufliche Ausbildung die Grundlage der Erziehungsarbeit. Die Zöglinge nehmen am allgemeinen Unterricht in der öffentlichen Schule teil wie jeder andere schulpflichtige Junge. Die berufliche Ausbildung kann in verschiedenen Handwerken und in den landwirtschaftlichen Berufen erfolgen. Das Asyl Sainte Marguerite de Cortonne in Kiel dagegen ähnelt in seinem A u f b a u sehr den staatlichen Anstalten und ist für junge Mädchen im Alter von 15 bis 21 Jahren bestimmt 114 . Es ist eine der privaten Anstalten, die eine eigene Beobachtungsstation unterhalten und nach den Methoden von Moll die Jugendlichen untersuchen. Die Mädchen, die über das schulpflichtige Alter hinaus sind, erhalten nur noch zwei Unterrichtsstunden täglich. Der Unterricht muß lebendig sein, er versucht die Mädchen tatsächlich zu packen und zur Mitarbeit anzuregen. Daher beschäftigt er sich nicht mit abstrakten Dingen. Auf sittlichem Gebiet wird sich über die Ehe und über die Pflichten gegen den Gatten und die Kinder unterhalten. Auf praktischem Gebiet bespricht man Haushalts- und Berufsfragen. Besonderen Wert legt man neben der beruflichen Ausbildung auf die Willens- und Charakterbildung. Man will die Mädchen an die Arbeit gewöhnen und ihnen Freude daran beibringen, durch ihre Arbeit anderen nützlich zu sein. Die Arbeit soll sie später so ausfüllen, daß sie keinen Gedanken mehr an ihre Vergangenheit verschwenden können. Die Mädchen dürfen Besuche von ihren Eltern empfangen. Jährlich wird eine Ausstellung der Handarbeiten vorgenommen. Von den verkauften Erzeugnissen erhalten die Mädchen ein Drittel, das in den meisten Fällen auf ihr Sparkassenbuch eingezahlt wird. Der Rest geht an die Staatskasse zum Ausgleich f ü r die Unterhaltskosten. Die richtige Behandlung der Mädchen soll o f t recht schwierig sein. Sie vertragen nicht die leiseste Anspielung auf ihre Vergangenheti. Man erreicht auch nichts durch Befehle, Strafen, Tadel. Man muß versuchen, an ihren guten Willen und ihre Selbstbeherrschung cu appellieren. Hierbei hilft ein System von Belohnungen: Spaziergänge, Reisen, Ferien, Wintervergnügungen, Theater und Kino.
114
Huguenin S. 170; Wets S. 233; Collard in Rev. Belg. 1930, S. 959.
57 § 12.
Die Unterbringung in einer Familie (placement familial) 115 Die vom Gesetz vorgesehene Unterbringung in einer Familie (placement familial) wird von vielen Tugendrichtern gern angeordnet. Selbstverständlich kommt sie nur in Frage, wenn das K i n d keine Gefahr in sittlicher oder gesundheitlicher Beziehung für die aufnehmende Familie bedeuten kann 1 1 0 . Man sieht in dieser Art von Unterbringung große Vorteile, allerdings auch gewisse Nachteile, die aber durch eine sorgfältige Überwachung abgestellt werden können. Sie hat den Vorteil, daß sie das Kind in der natürlicheren Atmosphäre der Familie beläßt. Denn eine noch so gut geleitete Anstaltserziehung kann doch nicht in jeder Hinsicht die herzliche, auf persönlichen Bindungen beruhende Fürsorge in einem ordentlichen und ehrbaren Privathause ersetzen, wo sich die Begriffe Disziplin, Unterordnung, Mitarbeit usw. von selbst ergeben, während sie in der Anstalt oft mühsam beigebracht werden müssen. Die Unterbringung in einer Familie bedeutet für das K i n d eine normale Umgebung, die ihm in den meisten Fällen bisher gefehlt hat. Sie hat obendrein den Vorteil, daß die von den Unterhaltspflichtigen bzw. vom Staat zu tragenden Unterhaltskosten sehr viel geringer sind. Das K i n d ist hier frei von schädlichen Einflüssen, die durch das Zusammensein mit anderen Kindern in der Anstalt nicht immer zu vermeiden sind. Das Anstaltsleben erweckt im Kinde oft ganz falsche Vorstellungen über das Leben in der Freiheit und führt das Kind leicht zu einer etwas passiven Einstellung, die ihren Grund darin hat, daß in der Anstalt für es gedacht und gehandelt wird und seine Tätigkeit darin besteht, den Anordnungen und Anregungen zu folgen. Hier wird von ihm mehr Selbständigkeit und persönliche Initiative verlangt und es lernt die Schwierigkeiten des Lebens besser kennen. Es gibt nun verschiedene Arten der Unterbringung in einer Familie. Einige sind für verwahrloste Kinder (enfants moralement abandones), andere mehr für junge Rechtsbrecher geeignet. In manchen Fällen ist die Unterbringung in einer Familie die letzte Etappe der voraufgegangenen Anstaltserziehung, die den Ubergang zur völligen Freiheit bilden soll 117 . Leider sind geeignete Familien nicht immer zu finden. Die größte Gefahr für das K i n d ist, ausgenutzt zu werden und keine rechte geistige und körperliche Pflege zu erhalten. Die sorgfältige Auswahl der Familien gehört mit zu den Aufgaben des Jugendschutzvertreters, der durch ein Formular auf alle zu berücksichtigen 115 116 117
Wets S. 251 ff.; Racine in Rev. Belg. 1 9 3 1 , S. 4 1 1 . Wets S. 268. Vgl. Homes de semi-liberté.
58 den Umstände hingewiesen wird. Wichtig ist, daß der Jugendschutz vertreter die in Familien untergebrachten Kinder weiterhin betreut und das Kind aus einer ungeeigneten Umgebung sofort herausnimmt. Der Jugendschutzverband in Verviers (Société pour la Protection de l'Enfance) hat eine sehr erfolgreiche Art von placements familiaux ins Leben gerufen. Er hat eine Anzahl von Häusern auf dem Lande eingerichtet, die von braven Handwerkern und Bauern bewirtschaftet werden, denen er Kinder anvertraut. In ähnlicher Weise kümmern sich noch andere Verbände, wie die „Mères et ToutPetits" in Lüttich und „ N i d " in Brüssel um die Unterbringung der Kinder in sorgfältig ausgesuchten Familien. Es hat sich überhaupt als wünschenswert herausgestellt 118 , die Unterbringungen gruppenweise und nidit in alle Gegenden verstreut vorzunehmen, um eine bessere und regelmäßigere Kontrolle ausüben zu können. Aus diesem Gedanken heraus ist die colonie ardenaise in Marche (Ardennen) entstanden. Die Kinder kommen zu Bauern und Handwerkern, die in dem kleinen Städtchen Marche oder in der Umgebung wohnen. Die Bevölkerung dieser Gegend hat sich als besonders geeignet erwiesen und oftmals ein erstaunliches Geschick bei der Behandlung dieser Kinder gezeigt. Es sind einfache, naturverwachsene Menschen, die das Kind wie ihr eigenes aufnehmen. Daher sind die Fälle gar nicht selten, daß die Kinder über die vorgesehene Zeit bleiben wollen und in späteren Jahren durch eine Heirat endgültig dort festen Fuß fassen. § 13-
Die Homes de Semi-Liberté119 Die homes de semi-liberté sind erst nach dem Kriege entstanden. Auf dem Internationalen Jugendschutzkongreß in Brüssel im Jahre 1 9 2 1 1 2 0 ist von allen Delegierten die Notwendigkeit anerkannt worden, solche Heime zu schaffen, in denen die Jugendlichen, deren Elternhaus keine günstige Beeinflussung erwarten läßt, die ersten Monate nach ihrer Entlassung verbringen sollen. Während des Anstaltsaufenthaltes kann man sich keine rechte Vorstellung machen, welche Wirkungen das Leben in der Freiheit beim Jugendlichen auslösen wird. Eine gute Führung in der Anstalt liegt in seinem eigenen Interesse und kann daher berechnende Absicht und Heuchelei sein. Andererseits will man vermeiden, daß der Jugendliche in seine alte Umgebung zurückkommt, wenn sie ungeeignet ist, und dort wieder die gleichen Gewohnheiten annimmt 118 119 120
Vgl. Wets S. 256. Wets S. 266 ff.; Huguenin S. 179 ff. Vgl. Wets S. 166.
58 den Umstände hingewiesen wird. Wichtig ist, daß der Jugendschutz vertreter die in Familien untergebrachten Kinder weiterhin betreut und das Kind aus einer ungeeigneten Umgebung sofort herausnimmt. Der Jugendschutzverband in Verviers (Société pour la Protection de l'Enfance) hat eine sehr erfolgreiche Art von placements familiaux ins Leben gerufen. Er hat eine Anzahl von Häusern auf dem Lande eingerichtet, die von braven Handwerkern und Bauern bewirtschaftet werden, denen er Kinder anvertraut. In ähnlicher Weise kümmern sich noch andere Verbände, wie die „Mères et ToutPetits" in Lüttich und „ N i d " in Brüssel um die Unterbringung der Kinder in sorgfältig ausgesuchten Familien. Es hat sich überhaupt als wünschenswert herausgestellt 118 , die Unterbringungen gruppenweise und nidit in alle Gegenden verstreut vorzunehmen, um eine bessere und regelmäßigere Kontrolle ausüben zu können. Aus diesem Gedanken heraus ist die colonie ardenaise in Marche (Ardennen) entstanden. Die Kinder kommen zu Bauern und Handwerkern, die in dem kleinen Städtchen Marche oder in der Umgebung wohnen. Die Bevölkerung dieser Gegend hat sich als besonders geeignet erwiesen und oftmals ein erstaunliches Geschick bei der Behandlung dieser Kinder gezeigt. Es sind einfache, naturverwachsene Menschen, die das Kind wie ihr eigenes aufnehmen. Daher sind die Fälle gar nicht selten, daß die Kinder über die vorgesehene Zeit bleiben wollen und in späteren Jahren durch eine Heirat endgültig dort festen Fuß fassen. § 13-
Die Homes de Semi-Liberté119 Die homes de semi-liberté sind erst nach dem Kriege entstanden. Auf dem Internationalen Jugendschutzkongreß in Brüssel im Jahre 1 9 2 1 1 2 0 ist von allen Delegierten die Notwendigkeit anerkannt worden, solche Heime zu schaffen, in denen die Jugendlichen, deren Elternhaus keine günstige Beeinflussung erwarten läßt, die ersten Monate nach ihrer Entlassung verbringen sollen. Während des Anstaltsaufenthaltes kann man sich keine rechte Vorstellung machen, welche Wirkungen das Leben in der Freiheit beim Jugendlichen auslösen wird. Eine gute Führung in der Anstalt liegt in seinem eigenen Interesse und kann daher berechnende Absicht und Heuchelei sein. Andererseits will man vermeiden, daß der Jugendliche in seine alte Umgebung zurückkommt, wenn sie ungeeignet ist, und dort wieder die gleichen Gewohnheiten annimmt 118 119 120
Vgl. Wets S. 256. Wets S. 266 ff.; Huguenin S. 179 ff. Vgl. Wets S. 166.
59 und den gleichen Versuchungen ausgesetzt ist, die letzten Endes die Veranlassung für seine Unterbringung in einer Anstalt waren. Die gleiche Ursache hat die gleiche Wirkung, und bedeutet in diesem Falle einen Rückfall 121 . Der Ubergang vom Anstaltsleben zum Leben in der Freiheit soll deshalb nicht unvermittelt, sondern über eine Zwischenstation gehen, wo der Jugendliche einerseits schon alle Freiheiten genießt, andererseits aber noch den Rückhalt eines ordentlichen Heimes hat, wo er unter Aufsicht steht und ihm durch Rat und Tat geholfen werden kann, wenn ihm Schwierigkeiten begegnen, mit denen er allein nicht fertig werden kann. In einigen Fällen wird als Ubergangsstation die Unterbringung in einer Familie vom Jugendrichter angeordnet. Aber die Zahl der für diesen Zweck geeigneten Familien ist nicht sehr groß und reicht bei weitem nicht aus, alle Anstaltszöglinge aufzunehmen. Hierbei sei betont, daß das Elternhaus als naturgegebenes Erziehungszentrum immer vom Jugendrichter berücksichtigt wird, wenn es gesunde und ordentliche Verhältnisse aufweist und die Eltern auch die richtigen Erzieher für ihre Kinder sind und einen günstigen Einfluß ausüben. Dann wird der Jugendrichter selbstverständlich dem Elternhaus die Aufgabe überlassen, die sonst den Pflegeeltern bei einer Unterbringung in einer Familie oder den Erziehern in den homes de semiliberté zufällt. Abgesehen von der geringen Zahl von Familien, die für ein placement familial in Frage kommen, wohnen viele davon auf dem Lande und können dem Jugendlichen nur eine Beschäftigung in landwirtschaftlichen Berufen oder bestimmten Handwerken bieten, für die die Zöglinge in den Anstalten gar nicht ausgebildet sind. Man legt aber besonderen Wert darauf, daß der Jugendliche in dem Beruf tätig bleibt, den man durch sorgfältige Berufsberatung als für ihn richtig erkannt hat und in dem er seine Ausbildung in der Anstalt schon begonnen oder abgeschlossen hat. Diesen Schwierigkeiten zu be^e^nen, sind die homes de semiliberté geschaffen worden, die im Gegensatz zu den colonies familiales 122 durchweg in den größeren Städten liegen. Der Aufenthalt in diesen Heimen bedeutet die letzte Etappe der Erziehungsarbeit, in der der Jugendliche zeigen soll, welchen Erfolg die Erziehung in der Anstalt gehabt hat und lernen soll, sich mit den Schwierigkeiten des Alltags auseinanderzusetzen. Während in der Anstalt eine Erziehung in sittlicher Beziehung angestrebt worden ist, soll von diesen Heimen aus die Wiedereingliederung in die menschliche Gesellschaft vor sich gehen, die erst den anhaltenden Erziehungserfolg verspricht. „L'amendement social." 123 121 122 123
moral
ne suffît pas
sans le
reclassement
Wets S. 267. Vgl. vorigen Abschnitt. Generalinspektor Wauters auf dem Kongreß in Brüssel 1 9 2 1 ; Wets S. 269.
60 Man sieht eine gründliche berufliche Ausbildung als Vorbedingung für die Wiedereingliederung an 124 . In der Anstalt soll die Arbeit in erster Linie als Erziehungsfaktor wirken. Durch die Arbeit soll der Zögling sich regenerieren und soll ihm Sinn für die Arbeit und Arbeitsfreude beigebracht werden. Daneben erst spielt der Gedanke an den zukünftigen Beruf eine Rolle. In der Anstalt hat man zwar durch sorgfältige Prüfungen und Untersuchungen eine Berufswahl vorgenommen und mit der beruflichen Ausbildung begonnen, aber der Aufenthalt des Zöglings dauert oft nicht lange genug, sie abzuschließen. Hierzu ist dann während des Aufenthalts im home de semi-liberté eine Gelegenheit gegeben, deren Vorteil darin liegt, daß die Ausbildung unter den natürlichen Lebensbedingungen und Umständen erfolgt und daher eher als in der Anstalt den Jugendlichen in eine geordnete Lebensbahn zurückführen kann. Der Aufenthalt im home de semi-liberté vervollständigt damit die Erziehung in der Anstalt auf die glücklichste Weise. Er bietet die Gewähr dafür, daß der Zögling in der während des Anstaltsaufenthalts eingeschlagenen Richtung, ein guter Staatsbürger zu werden, weiter beeinflußt wird. Er verhindert, daß der Jugendliche aus materiellen Gründen aus dem für ihn vorgesehenen Beruf herausgedrängt wird, weil er etwa noch nicht fertig ausgebildet ist oder noch nicht genügend leistet und deshalb eine schnellere und bessere Verdienstmöglichkeit suchen muß. Denn die Unterhaltskosten werden genau so wie bei der Anstaltsunterbringung vom Unterhaltspflichtigen bzw. vom Staat getragen. Nur wenn der Jugendliche ein Gehalt bezieht, muß er nach seinen Kräften zu seinem Unterhalt beisteuern, weil man in ihm das Gefühl der Selbstverantwortlichkeit und das Selbstvertrauen stärken will. Man kennt das Regime der semi-liberté in drei verschiedenen Abarten: a) In den staatlichen Erziehungsanstalten gibt es im Erziehungssystem als dritte Stufe die section d'honneur, die in vielen Fällen mit der semi-liberté verbunden ist. Die Zöglinge wohnen in der Anstalt, arbeiten aber außerhalb und beziehen dafür auch von ihren Arbeitgebern ein Gehalt, das zum Teil auf Sparkonto eingezahlt wird, zum Teil aber auch zum Ankauf von Kleidung und Ausrüstungsgegenständen für die bevorstehende Entlassung verwandt wird. Als Nachteil dieser Regelung führt man an 125 , daß es nicht zu vermeiden ist, daß durch die Zöglinge der section de semiliberté die anderen Zöglinge mit der Außenwelt in Berührung kommen und sich diese Einflüsse erziehungsfeindlich auswirken. b) Einige Heime sind an staatliche oder private Erziehungsanstalten angeschlossen. Hier ist die Trennung der Zöglinge untereinander durchgeführt. Außerdem hat die Angliederung an die Anstalt den Vorteil, daß man den Zögling kennt und der Zu124 125
Vgl. S. 5 2 unten. WetsS.271.
61 sammenhang der Erziehungsarbeit leichter gewahrt bleibt. Audi macht es nicht viel Mühe, ihn wieder in die Anstalt zurückzuschicken, wenn er die semi-liberté noch nicht verträgt. Ein derartiges Unternehmen ist die colonie de semi-liberté industrielle in Moll, die den übrigen staatlichen Instituten in Moll angegliedert ist. Hier wird das Gehalt, das der Jugendliche verdient, zu drei Viertel zum Ankauf von Zusatzlebensmitteln und von Gegenständen für den persönlichen Gebrauch verwandt und der Rest auf die Sparkasse gelegt. Bleibt der Zögling länger als sechs Monate in der Kolonie, so fließen vier Fünftel seines Gehalts dem Staat zur Deckung der Unterhaltskosten zu, während der Rest zur Verfügung des Zöglings steht 126 . c) Schließlich gibt es homes de semi-liberté, die ganz selbständig und unabhängig dastehen. In Brüssel gibt es allein fünf derartige Heime, deren Leitung durch Verwaltungsräte erfolgt, die frei von jedem behördlichen Einfluß die Hausordnung aufstellen und das Personal berufen. Der Staat hat in finanzieller Beziehung seine Unterstützung gewährt und Mittel für die Einrichtung, Gehälter und Miete zur Verfügung gestellt. Eins dieser Heime in Brüssel ist das Home de jeunes filles d'Ixelles. Das Heim ist in der Lage, 27 Mädchen aufzunehmen. Die Eingewöhnung in die neue Umgebung, in der die strenge Disziplin der Anstalt sehr gemildert ist und sehr viel mehr Abwechslung herrscht, geht meistens sehr schnell. Die Neuankömmlinge werden zunächst mit Arbeiten im Hause beschäftigt und dabei beobachtet. Wenn man dann auf sie vertrauen zu können glaubt, wird eine Arbeitsstelle gesucht. Zum Mittagessen kommen die Mädchen in das Heim zurück und auch der Abend wird im Heim verbracht. Es werden Abendkurse in Stenographie, Schreibmaschine, Buchhaltung und Sprachen abgehalten. Alle 14 Tage dürfen die Mädchen ihre Angehörigen besuchen oder in Begleitung der Leiterin des Heimes oder einer Gehilfin ausgehen. Es werden dann Theater und Konzerte besucht, und auch mal gute Filme angesehen. Es kommt öfters vor, daß die Mädchen sich während ihres Aufenthalts im Heim verloben. Die Leiterin des Heimes zieht dann mit H i l f e des Jugendrichters genaue Erkundigungen über den Verlobten ein, der seine Verlobte im Heim besuchen darf, wenn die Erkundigungen günstig ausfallen. Auf diese Weise sind schon manche Ehen zustandegekommen. Über die erzielten Erfolge werden folgende Zahlen über 190 junge Mädchen, die in der Zeit vom März 1 9 2 1 bis November 1927 im Heim waren, angegeben: Bei 50% kann man von einem Erfolg sprechen, sie sind entlassen (64) oder haben sich verheiratet (16). Bei den übrigen 50% ist eine erneute Unterbringung in einer Anstalt erforderlich geworden. Hiervon bieten etwa 30% noch die Aussicht auf einen späteren Erfolg, während die restlichen 20 % Mißerfolge darstellen 127 . 126 127
Wets in R e v . Belg. 1 9 3 1 , S . 6 3 9 . Vgl. Wets S. 278.
62 Ähnlich liegen die Verhältnisse im Home familial d'Anderlecht, das für junge Männer bestimmt ist. Man ist aber mit diesem Ergebnis durchaus zufrieden. Denn die Zöglinge kommen zum größten Teil aus den staatlichen Anstalten, während für die besser veranlagten und weniger verwahrlosten Kinder, die in den privaten Anstalten untergebracht sind, ein Aufenthalt im Home de semiliberté sich vielfach erübrigt. Das Home familial d'Anderlecht liegt sehr günstig, schon außerhalb Brüssels, aber noch in unmittelbarer Nähe des Industrie- und Geschäftsviertels. Das Fassungsvermögen dieses Heimes beträgt 29 Zöglinge und ist immer voll ausgenutzt, ein Zeichen für die Wertschätzung durch die Jugendrichter. Die Arbeitsbeschaffung soll für den Zögling gar nicht immer einfach sein. Im allgemeinen soll die Berufsvorbildung nicht bedeutend sein, weil einmal der Aufenthalt in der Anstalt zu kurz gewesen ist, zum anderen aber auch die Fähigkeiten des Zöglings manchmal recht beschränkt sind128. Es kommen in erster Linie handwerkliche Berufe, daneben aber auch Bürotätigkeit in Frage. Erfreulicherweise gewähren die Arbeitsvermittlungsstellen dem Heim bei der Arbeitsuche ihre Unterstützung. Das Gehalt des Zöglings wird wie folgt aufgeteilt: fünf Zehntel werden zur Bestreitung des Unterhalts im Heim verwandt; ein Zehntel wird auf die Sparkasse gelegt, ein Zehntel verbleibt als Taschengeld. Über die restlichen Beträge kann der Zögling unter Aufsicht zum Ankauf von Kleidung u. a. verfügen 129 .
§
M-
Hilfsorganisationen. Der belgische Gesetzgeber hat von vornherein die Mitarbeit privater Verbände und sozialer Hilfswerke in seinen Erziehungsplan hineinbezogen. Es ist dem Jugendrichter zur Aufgabe gemacht worden, sich mit allen im Jugendschutz arbeitenden Unternehmungen in Verbindung zu setzen130. In dieser Zusammenarbeit mit den privaten Verbänden, die vielfach über langjährige Erfahrungen schon beim Inkrafttreten des Gesetzes verfügten, liegt ein großer Teil des Erfolges des Gesetzes begründet. Der Staat hat die Arbeit der privaten Verbände dadurch anerkannt, daß er ihnen Rechtspersönlichkeit verliehen hat 131 . Es würde zu weit führen, an dieser Stelle alle privaten Verbände und Hilfswerke aufzuzählen, die sich dem Jugendschutz widmen. Sie haben im Rahmen dieser Arbeit nur soweit Interesse, als sie ständig mit dem Jugendrichter zusammenarbeiten. Denn viele 128 129 130 131
Vgl. § 1 am Ende. W e t s in R e v . Belg. 1931, S. 639. V g l . A r t . 27 II. Gesetz vom 27. Juni 1921.
62 Ähnlich liegen die Verhältnisse im Home familial d'Anderlecht, das für junge Männer bestimmt ist. Man ist aber mit diesem Ergebnis durchaus zufrieden. Denn die Zöglinge kommen zum größten Teil aus den staatlichen Anstalten, während für die besser veranlagten und weniger verwahrlosten Kinder, die in den privaten Anstalten untergebracht sind, ein Aufenthalt im Home de semiliberté sich vielfach erübrigt. Das Home familial d'Anderlecht liegt sehr günstig, schon außerhalb Brüssels, aber noch in unmittelbarer Nähe des Industrie- und Geschäftsviertels. Das Fassungsvermögen dieses Heimes beträgt 29 Zöglinge und ist immer voll ausgenutzt, ein Zeichen für die Wertschätzung durch die Jugendrichter. Die Arbeitsbeschaffung soll für den Zögling gar nicht immer einfach sein. Im allgemeinen soll die Berufsvorbildung nicht bedeutend sein, weil einmal der Aufenthalt in der Anstalt zu kurz gewesen ist, zum anderen aber auch die Fähigkeiten des Zöglings manchmal recht beschränkt sind128. Es kommen in erster Linie handwerkliche Berufe, daneben aber auch Bürotätigkeit in Frage. Erfreulicherweise gewähren die Arbeitsvermittlungsstellen dem Heim bei der Arbeitsuche ihre Unterstützung. Das Gehalt des Zöglings wird wie folgt aufgeteilt: fünf Zehntel werden zur Bestreitung des Unterhalts im Heim verwandt; ein Zehntel wird auf die Sparkasse gelegt, ein Zehntel verbleibt als Taschengeld. Über die restlichen Beträge kann der Zögling unter Aufsicht zum Ankauf von Kleidung u. a. verfügen 129 .
§
M-
Hilfsorganisationen. Der belgische Gesetzgeber hat von vornherein die Mitarbeit privater Verbände und sozialer Hilfswerke in seinen Erziehungsplan hineinbezogen. Es ist dem Jugendrichter zur Aufgabe gemacht worden, sich mit allen im Jugendschutz arbeitenden Unternehmungen in Verbindung zu setzen130. In dieser Zusammenarbeit mit den privaten Verbänden, die vielfach über langjährige Erfahrungen schon beim Inkrafttreten des Gesetzes verfügten, liegt ein großer Teil des Erfolges des Gesetzes begründet. Der Staat hat die Arbeit der privaten Verbände dadurch anerkannt, daß er ihnen Rechtspersönlichkeit verliehen hat 131 . Es würde zu weit führen, an dieser Stelle alle privaten Verbände und Hilfswerke aufzuzählen, die sich dem Jugendschutz widmen. Sie haben im Rahmen dieser Arbeit nur soweit Interesse, als sie ständig mit dem Jugendrichter zusammenarbeiten. Denn viele 128 129 130 131
Vgl. § 1 am Ende. W e t s in R e v . Belg. 1931, S. 639. V g l . A r t . 27 II. Gesetz vom 27. Juni 1921.
63 Verbände haben sidi Spezialaufgaben gestellt und zu diesem Zweck Heime eingerichtet, wie beispielsweise das Foyer des Orphelins und die Sociétés protectrices des enfants martyrs, die aber nur gegelentlich vom Jugendrichter in Anspruch genommen werden. i. V e r b ä n d e f ü r v e r w a h r l o s t e
Kinder132.
a) comités de patronage. Die comités de patronage des enfants moralment abandones stammen aus der Anfangszeit der Kinderschutzbewegung und sind im Jahre 1888 gegründet worden. Sie unterhielten sich durch eigene Mittel und durch staatliche Unterstützungen und hatten zunächst eine doppelte Aufgabe zu erfüllen. Zu ihrem eigentlichen Zweck, sich der verwahrlosten Kinder anzunehmen, kam die Entlassenenfürsorge und die Betreuung der Landstreicher und der Anormalen hinzu. Diese Aufgabenverbindung war nicht sehr glücklich, da es sich einmal um Kinder handelte, die aus Verschulden oder Nachlässigkeit ihrer Eltern verwahrlost waren, andererseits um Vorbestrafte, die aus den Gefängnissen entlassen waren. In jedem Landgerichtsbezirk gibt es ein comité de patronage. Nach der alten Regelung vor dem Gesetz vom 1 j . M a i 1 9 1 2 waren die comités de patronage sehr eng mit der Betreuung jugendlicher Rechtsbrecher verbunden. Ihre Aufgabe begann mit der Entlassung des Zöglings aus den staatlichen Anstalten, die damals noch écoles de bienfaisance hießen. Sie besuchten den Zögling in seinem Elternhaus, gaben ihm Ratschläge und versuchten, ihn in seinen guten Vorsätzen zu bestärken, um Rückfälle, die die Wiedereinweisung in die Anstalt notwendig gemacht hätten, zu verhindern. Außerdem vertraute der Staat den Comités die Zöglinge an, die kein Elternhaus hatten, um sie bei sorgfältig ausgesuchten Pflegeeltern unterzubringen. Sie hatten auch dafür zu sorgen, daß der Zögling eine berufliche Ausbildung erhielt und sein Verdienst auf sein Sparkassenbuch eingezahlt wurde. Schließlich war es noch Aufgabe der comités, sich in Zusammenarbeit mit den sociétés protectrices des enfants martyrs um verwahrloste Kinder zu kümmern, d. h. um Kinder, die infolge der Nachlässigkeit oder der schlechten Eigenschaften der Eltern sich selbst überlassen bleiben und keine ordentliche Erziehung erhalten. In diesem Fall konnten sie ohne richterliche Initiative von sich aus eingreifen. Die Tätigkeit der comités de patronage ist nunmehr auf diesen letzten Punkt, Fürsorge f ü r die verwahrloste Jugend, beschränkt, während die übrigen Aufgaben dem Jugendrichter übertragen sind. Die Jugendrichter können jedoch die Jugendlichen der Fürsorge der comités anvertrauen, und zwar entweder gleich nach ihrer Entscheidung oder nach einem Aufenthalt in einer Anstalt. Der Hauptverdienst dieser comités liegt darin, daß sie durch ihre Arbeit und Velge S. 42 ff.; Wets S. 350 ff.
64 durch ihr Wirken den Weg für das Gesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 vorbereitet haben. Zur Erleichterung und Vereinheitlichung der Arbeit der comités hat der Staat durch königliche Verordnung vom 15. März 1894 bzw. 25. Oktober 1 9 1 2 eine commission royale de patronage gegründet, deren Aufgabe die Untersuchung aller Fragen der Gesetzgebung und der Verwaltung auf dem Gebiete des Jugendschutzes ist. Diese Kommission soll gleichzeitig das Bindeglied zwischen allen Verbänden, die sich mit Jugendschutz befassen, und dem Jugendrichter sein. b) conseils de tutelle. Von der Commission royale ist auch die Anregung ausgegangen, in jedem Amtsgerichtsbezirk (canton de justice de paix) einen conseil de tuteile zur Unterstützung der comités de patronage zu gründen. Die conseils de tuteile fassen alle Verbände und Personen, die zur Mitarbeit im Jugendschutz bereit sind, zusammen Ihr Tätigkeitsfeld ist recht umfangreich: aa) Soweit es sich um gerichtlich belangte Jugendliche handelt, arbeiten sie mit dem Jugendrichter zusammen, um eine geeignete Unterbringung ausfindig zu machen. bb) Soweit es sich um verwahrloste Jugendliche handelt, die außerhalb der Kompetenz des Jugendrichters stehen, bemühen sie sich selbständig um eine Unterbringung in geeigneten Familien. 2. V e r b ä n d e f ü r g e r i c h t l i c h b e l a n g t e J u g e n d l i c h e 1 3 3 . a) comités des enfants traduits en justice. Junge Anwälte haben die comités des enfants traduits en justice gegründet, die unentgeltlich die Verteidigung der Jugendlichen vor dem Jugendrichter übernehmen. Die Aufgabe der Verteidigung unterscheidet sich allerdings wesentlich von der üblichen Durchführung vor den Strafgerichten. Sie ist allein bestimmt durch das wohlverstandene Interesse des Jugendlichen und soll in gemeinsamer Arbeit mit dem Jugendrichter eine richtige Entscheidung herbeiführen. b) sociétés tutélaires des enfants traduits en justice. Die sociétés tutélaires des enfants traduits en justice sollten ursprünglich die Arbeit der comités des enfants unterstützen und die Lücken der alten gesetzlichen Regelung durch Einführung einer Art von Schutzaufsicht nach amerikanischem Beispiel ausfüllen. Nunmehr haben sie eine doppelte Aufgabe: aa) Sie sollen die Organisation der Schutzaufsicht erleichtern. Zu diesem Zweck haben sie die Jugendschutzvertreter zusammengefaßt und stellen sie dem Jugendrichter zur Verfügung. 133
Velge S. 4$ ff.
65 bb) Sie richten Heime für die vorläufige Unterbringung des Jugendlichen bis zur Entscheidung des Jugendrichters ein. Nach Art. 28 des Gesetzes kann der Jugendrichter die Jugendlichen in jeder Anstalt vorläufig unterbringen. Die wenigsten Anstalten sind aber für eine vorläufige Unterbringung geeignet, weil sie sich nicht am Sitz des Gerichts befinden, die Jugendlichen nicht genügend überwachen können und ihr Unterrichtsplan auch nicht auf einen nur vorübergehenden Aufenthalt des Jugendlichen eingerichtet ist. Diesen Anforderungen entsprechen die von den sociétés tutélaires eingerichteten Heime, so z. B. die Tutélaire in Brüssel. Die Tutélaire 1 3 4 ist die englische „remand-school", wo die Jugendlichen bis zur Entscheidung des Jugendrichters vorläufig untergebracht werden. In manchen Fällen ist es angebracht, den Jugendlichen während der richterlichen Erhebungen und Nachforschungen der bisherigen Umgebung zu entziehen. In der Tutélaire wartet der Jugendliche dann das Ergebnis der richterlichen Untersuchung ab und wird zum ersten Male beobachtet. Gleichzeitig verhindert der Aufenthalt in der Tutélaire, daß der Jugendliche sich herumtreibt und polizeilich gesucht werden muß. Auch bei diesem Institut ist bewußt alles vermieden, was an ein Untersuchungsgefängnis erinnern könnte. Die Räume sind vielmehr freundlich und mit Bildern und Blumen geschmückt. Man will eben dem Jugendlichen von der ersten Minute an, wo er mit dem Jugendgericht in Berührung kommt, zeigen, daß man nur sein Interesse im Auge hat und auf seinen guten Willen vertraut. Die Tutélaire kann 20 Jugendliche aufnehmen. Der Jugendliche findet hier eine freundliche, ruhige und saubere Umgebung, in die er sich meist schnell einlebt. Schwierig ist die Frage der Beschäftigung, der man viel Gewicht beilegt, zu lösen, da der Jugendliche durchschnittlich nur zwei Monate dort bleibt. Eine Beschäftigung ist aber notwendig, damit der Jugendlidie auf keine dummen Gedanken kommt und nicht auszubrechen versucht. Die täglichen Zugänge lassen einen regelmäßigen Schulunterricht nicht zu. Auch ist die Vorbildung der einzelnen Jugendlichen zu verschieden; einige sind schon aus dem schulpflichtigen Alter heraus. Daher kann man nur einen ganz allgemeinen Unterricht abhalten und sie im übrigen mit handwerklichen Arbeiten beschäftigen. Die Jugendlichen versehen auch alle Arbeiten im Hause. Trotz der verhältnismäßig großen Freiheit, die die Jugendlichen in der Tutélaire haben, und trotz des Fehlens von Gittern und anderen Sicherungsmaßregeln ist die Anzahl der Ausbrüche sehr gering und spricht für die Richtigkeit der Idee dieser Anstalt. In I J Jahren sind unter annähernd 1900 Jugendlichen, die in der Tutélaire waren, nur 29 Ausbrüche vorgekommen.
1M
5
Wets, S. 154.
66 § i$.
Der Erfolg des Gesetzes vom 15. Mai 1912 und Reformvorschläge. Uber die Arbeit des Jugendrichters liegt ein sehr umfangreiches statistisches Material vor, das vom O f f i c e de la Protection de l'Enfance gesammelt und herausgegeben wird 1 3 5 . Die Gründlichkeit, mit der die Zahlen zusammengestellt worden sind, vermeidet die G e f a h r irreführender Ergebnisse, wie sie nur zu leicht durch Statistiken erzielt werden. U m eine Vergleichsmöglichkeit zu haben, werden hier die Zahlen f ü r die J a h r e 1920, 1 9 2 5 , 1 9 3 0 , 1 9 3 2 und 1 9 3 3 nebeneinander aufgeführt. 1 9 2 0 sieht man als das erste Normaljahr an. D a v o r liegen die Kriegsjahre, während deren die Verhältnisse ganz anders liegen. Die J a h r e 1 9 1 2 und 1 9 1 3 betrachtet man als Einlaufzeit des Gesetzes. Neueres Material als f ü r das J a h r 1 9 3 3 stand leider nicht zur Verfügung. Die Gesamtzahl der bei der Jugendstaatsanwaltschaft gelaufenen Anzeigen betrug: 1920 1925 1930 1932 1933 10 16597 584 9 735 8556 9693
ein-
D a v o n hat die Jugendstaatsanwaltschaft den größten Teil von sich aus eingestellt, nämlich: 10339 7215 7336 6482 7289 (62%) (68 Jg) (74%) (75%) (74%)"6 Nach dem Gesetz darf die Staatsanwaltschaft nur in unbedingt notwendigen Fällen die Voruntersuchung beantragen. Die Zahl der Voruntersuchungen betrug. 97 Die nämlich
übrigen
147 138 112 (d. h. durchschnittlich 1 %). Fälle
sind
vor
den
89
Jugendrichter
gekommen,
6281 3195 2418 2040 2472 (38%) (30%) (24%) (24%) (25%) der mit ihnen in der im Gesetz vorgesehenen Weise wie folgt verfahren ist: Vorläufige Maßnahmen f ü r die Dauer der Ermittlungen, das Gegenstück von Untersuchungshaft im Erwachsenenstrafrecht, sind in folgenden Fällen angeordnet worden: 1920 666 135 13
1925 387
1930 425
I932
196
1933 148
Delannoy in Rev. Belg. 1933, S. 723 ff.; 1934, S. 1 1 2 3 ( 1 . ; Wets S. 4 J 2 . ' Die Prozente sind auf ganze Zahlen abgerundet.
67 Davon sind bei Privatpersonen untergebracht worden: 13
33
33
23,
bei Privatverbänden und -anstalten (La Tutelaire): $68
280
343
150
117,
8
1
3,
36
12
5.
in staatlichen Anstalten: o
28
in Untersuchungsgefängnissen: 8j 51
Das Gesetz gibt dem Jugendrichter die Möglichkeit, den Jugendlichen unter Beobachtung zu stellen, b e v o r er seine Entscheidung trifft: Die Zahl der davon betroffenen Jugendlichen betrug: 78
322
341
332
292.
Davon wurden auf privaten Stationen beobachtet: 169
138,
in den staatlichen Beobaditungsinstituten: 38 2j2 226 163
40
70
115
154.
Die Anzahl der richterlichen Entscheidungen, Verfahren abgeschlossen wurde, betrug:
die
durch
3794 2616 2082 1734 1703Von diesen Jugendlichen wurden außer Verfolgung gesetzt: 1920 1925 1930 1932 1933 332 196 178 169 202 (8%) (8 % ) (8%) (10%) (12%), unter Anordnung der Schutzaufsicht verwarnt: 1 803 (48%)
1 154 (44%)
798 (38%)
einer Privatperson anvertraut: 19 34 34 (l%) (1%) (2%)
624 (}6%) 39 (2%)
752 (44%), 28 {!%),
bei Privatverbänden und Anstalten untergebracht: 721 334 342 292 181 (19%) (13%) (17%) (17%) in den staatlichen Anstalten untergebracht: 893 (24%)
843 (32%)
655 (32%)
567 (33%)
490 (29%),
75 (4%)
43 (3%)
5° (}%)•
in Asylen untergebracht: (1%)
5*
55 (2%)
das
68 Der Jugendrichter hat nach dem Gesetz die Befugnis, seine Entscheidung jederzeit abzuändern; er muß zum mindesten alle drei Jahre die von ihm getroffenen Entscheidungen einer Revision unterziehen. Die Zahl derartiger Entscheidungen (decision modificative) betrug: 3612 3257 2539 2409 2528. Das Ergebnis der Revision war: Aufrediterhaltung der Erstentsdieidung: 1920 192$ 1930 1932 683 5 86 I143 923 (31%) (28%) (24%) (27%) Entlassung: 285 461 280 159 (8 %) (14%) ( n % ) (7%) Schutzaufsicht: 985 657 547 637 (27%) (20%) (22%) (27%) Unterbringung bei einer Privatperson: 543 412 34i 339 (15%) (13%) (13%) (14%) Unterbringung in einer Privatanstalt: 314 242 241 265 (10%) (9%) (7%) ("%) Unterbringung in einer Staatsanstalt: 292 285 292 349 (8%) (11%) ( 1 2 % ) (12%) Unterbringung in Asylen: jo 213 138 155 (6%) (6%) (1%) (7%)
1933 580 (23%). 312 (12%, 601 (24%), 373 (15%), 266 (11%), 262 (11%), 134 (5%).
Die Dauer des Aufenthalts in den staatlichen Erziehungsanstalten betrug: unter einem Jahr: 1920 377 (48%)
1925 267 (40%)
1930 310 (53%)
1932 233 (44%)
1933 216 (42%),
von 1 bis 2 Jahren: 229 214 (29%) (32%)
131 (23%)
172 (32%)
147 (28%),
von 2 bis 3 Jahren: 38 104' (5%) (15%)
84
82
9i (18%),
69 über 3 Jahre: 148 88 57 48 64 (19%) (13%) (10%) (9%) (12%). Bei dem hier aufgeführten statistischen Material für die Zahl der bei der Staatsanwaltschaft eingelaufenen Anzeigen kann man deutlich eine abnehmende Tendenz bis zum Jahre 1932 verfolgen, die den Erfolg des Gesetzes vom 15. Mai 1 9 1 2 widerspiegelt. Seit 1933 ist wieder ein Ansteigen der Zahlen zu bemerken 137 . Man ist sich über die Gründe dieser Erscheinung klar 1 3 8 . Sie liegen in der allgemeinen wirtschaftlichen Krise, die 1 9 3 1 begann, sich aber in den folgenden Jahren erst ausgewirkt hat. Der Staat hat sich auf Grund dieser Krise zu Sparmaßnahmen veranlaßt gesehen und hat empfohlen, die Anordnung der Unterbringungen etwas einzuschränken und die Dauer des Anstaltsaufenthalts herabzusetzen, um die Last der von ihm doch größtenteils zu tragenden Unterhaltskosten für die Jugendlichen zu senken. Ferner hat die durch die Krise hervorgerufene starke Arbeitslosigkeit ihr Teil dazu beigetragen. Um sich nun eine tatsächliche Vorstellung von dem Erfolg der Arbeit des Jugendrichters machen zu können, hat man festzustellen versucht, wieviel unter den vom Jugendrichter betreuten Jugendlichen bis zu ihrem 26. Lebensjahr nicht rückfällig geworden sind. Man ist davon ausgegangen, daß die Betreuung des Jugendlichen durch den Jugendrichter regelmäßig mit der Volljährigkeit endigt und ist der Uberzeugung, daß man von einer vollkommenen und erfolgreichen Wiedereingliederung (reclassement) in die menschliche Gesellschaft reden kann, wenn der Jugendliche sich in den fünf darauffolgenden Jahren straffrei geführt hat. Das Ergebnis ist sehr gut: Bei Erreichung des 26. Lebensjahres sind völlig straflos geblieben: 1925 1930 1932 1933 2320 3 171 2667 2681 70,9% 73,3% 7 5,6% und wenn man Polizeistrafen für geringfügige Übertretungen nicht mitrechnet, sogar: 76, s % 81,1% 82,2% 81,9%. Diese Zahlen sprechen sehr überzeugend zugunsten des belgischen Jugendgerichts. Man ist in Belgien mit den erzielten Erfolgen auch durchaus zufrieden 1 3 9 . Natürlich haben sich im Laufe der Jahre bestimmte Reformwünsche herausgestellt. Aber bezeichnend für die weite Voraussicht des Gesetzgebers und die Güte des Ge137
berichtet.
1936 sind 13 749 Anzeigen eingelaufen, wie Maus in Rev. Belg. 1937/1057
138
Maus in Rev. Belg. 1937/1058. Maus in Rev. Belg. 1937/1057; 1924/707—708. 13t
Wets S. 492/493;
Collard in Rev. Belg.
70 setzes trotz äußerer Mängel bezwecken die vorgeschlagenen Reformen keine grundsätzlichen Änderungen, sondern nur eine intensivere Ausgestaltung der im Gesetz gegebenen Möglichkeiten. So wird die Einrichtung einer Jugendpolizei vorgeschlagen, aus dem Gedanken heraus, daß der Jugendliche gar nicht erst in Berührung mit Organen der Strafverfolgungbehörden für Erwachsene kommen, sondern vom ersten Augenblick an im Geiste einer durch das Gesetz angestrebten erzieherischen Beeinflussung behandelt werden soll 140 . Ferner wünscht man eine besondere Ausbildung des Jugendrichters für sein verantwortungsreiches Amt, das in hohem Maße ein Vertrautsein mit Fragen der Soziologie, Biologie, Pädagogik und Psychologie neben der juristischen Vorbildung verlangt. Das gleiche gilt f ü r die wichtigsten Mitarbeiter des Jugendrichters, die Jugendschutzvertreter 141 . Um den vorbeugenden Charakter des Gesetzes noch zu verstärken, soll die Arbeit des Jugendrichters möglichst früh einsetzen. Der Zuständigkeitsbereich des Jugendrichters ist begrenzt, wenn auch die Rechtsprechung bemüht ist, durch extensive Interpretation des Art. 1 5 1 4 2 Jugendliche aus gefährlichen Berufen und Umgebungen herauszuziehen. Man wünscht daher eine Ausdehnung der Zuständigkeit des Jugendrichters auf die verwahrloste Jugend 1 4 3 , die „durch Vernachlässigung oder schlechte Aufführung ihrer Eltern sich selbst überlassen sind und keine Erziehung genießen" 1 4 4 . Nach der gesetzlichen Regelung kann man sich der verwahrlosten Kinder nur annehmen, indem der Friedensrichter den Eltern, die durch ein in den Art. 1 f f . des 1. Teils des Jugendschutzgesetzes näher bezeichnetes Verhalten die Gesundheit, Sicherheit oder Sittlichkeit ihrer Kinder gefährden, die elterliche Gewalt aberkennt. Das ist aber eine recht einschneidende Maßnahme gegen die Eltern, vor der die Friedensrichter o f t zurückschrecken. Der verwahrloste Jugendliche ist dann der Fürsorge der comités de patronage überlassen 145 , deren Wirkungskreis nicht sehr groß ist, weil ihre Mittel gering sind. Abhilfe erhofft man von einer Erweiterung der Zuständigkeit des Jugendrichters. Ähnlich liegt der Fall bei den Jugendlichen, die ihr 2 1 . Lebensjahr erreicht haben. Mit diesem Zeitpunkt hört die Betreuung durch den Jugendrichter regelmäßig auf, obwohl in einigen Fällen eine länger dauernde Aufsicht sehr erwünscht ist, weil sich ein voller Erziehungserfolg noch nicht eingestellt hat. Auch hier greift die Arbeit der comités de patronage und anderer privater Verbände (oeuvres de réadaption sociale) ein, aber noch nicht in ausreichendem Maße. Man will in diesen Fällen dem Jugendrichter die Möglichkeit geben, die Schutzaufsicht über die Volljährigkeit hinaus zu verlängern 140 . 1,0 141 142 143 141 148
Racine S. 368; Wets S. 499. Vgl. Racine S. 375 ff. Vgl. S. 27. Vgl. Maus in R e v . Belg. 1937, S. 1059; Racine S. 364. Definition auf dem Congrès de Patronage in Antwerpen 1890. Vgl. § 14, t a . Wets in Rev. Belg. 1938, S. 267; Mulle ini Rev. Belg., S. 270.
71 Der unbestreitbare Erfolg des Gesetzes vom 15. Mai 1 9 1 2 hat den Wunsch hervorgerufen, die Vorteile, die die Durchführung des Erziehungsprinzips gegenüber dem Strafprinzip bei Jugendlichen aufweist, auf einen größeren Personenkreis anzuwenden. Man denkt hierbei an die 1 7 - bis 21jährigen Rechtsbrecher, aus denen sich ein großer Teil der Rückfallverbrecher rekrutiert. In den Jahren 1932 bis 193 5 haben nämlich 2 1 % der Rückfälligen ihre erste Verurteilung im Alter von 1 0 bis 15 Jahren, 4 1 % im Alter von 16 bis 20, 1 9 % im Alter von 20 bis 25, 1 2 % im Alter von 2$ bis 30 und nur 9% im Alter von über 30 Jahren erfahren 1 4 7 . Man will für die 17-bis 21 jährigen eine analoge Einrichtung wie das Jugendgericht unter entsprechender Berücksichtigung des Altersunterschiedes treffen 149 . Die jungen Leute (adolescents) sollen strafrechtlich voll verantwortlich bleiben, aber an die Stelle der verwirkten Gefängnisstrafe soll eine ausgesprochen erzieherische Behandlung in besonderen Anstalten, den sogenannten prison-écoles, treten, die aber den Strafcharakter nicht verlieren soll 149 . Der erste Gesetzesentwurf von 1923 sah die Abschaffung der Gefängnisstrafe f ü r „adolescents" und die Ersetzung durch eine neue Strafe, die Unterbringung in einer prisonécole bis zum 2 j . Lebensjahr vor. Nach dem zweiten Entwurf von 1927 sollte eine Unterbringung in einer prison-école von mindestens einjähriger Dauer möglich sein, wenn auf eine Gefängnisstrafe von mindestens drei Monaten gegen den 1 7 - bis 21jährigen Jugendlichen erkannt war. Dieser Entwurf sollte als dritter Teil des Gesetzes zum Schutze der Gesellschaft vor Anormalen und Gewohnheitsverbrechern vom 9. April 1930 (loi de défense sociale à l'égard des anormaux et des délinquants d'habitude) in K r a f t treten. Die Kammer hat ihn aber nicht angenommen. Es bestand zwar Einigkeit darüber, daß an Stelle des gewöhnlichen Strafvollzuges im Gefängnis eine erzieherische Behandlung treten sollte 160 , andererseits konnte man sich aber nicht darüber einig werden, 1.
ob an die Stelle der Gefängnisstrafe von bestimmter Dauer eine unbestimmte Verurteilung zur prison-école gesetzt werden und wie lang diese sein dürfe,
2. ob nicht auch ein besonderes Gericht für „adolescents" geschaffen werden müsse 151 , das in analoger Anwendung die Grundsätze des Gesetzes vom 15. Mai 1 9 1 2 zur Geltung bringen sollte. Zur Überprüfung dieser Fragen ist der Entwurf der Strafrechtskommission wieder vorgelegt worden, die die endgültige gesetzliche Lösung vorbereiten soll. 147 148 148 180 151
Vgl. Statistik in Rev. Belg. 1936, S. 919. Delierneux in Rev. Belg. 1931/628. Recueil de documents en matière pénale et pénitentiaire Bd. 1, 1 9 3 1 , S. 23. Buffelan, S. 265. Buffelan, S. 267.
72 Für die Zwischenzeit ist durch eine Königl. Verordnung vom 28. Juni 1921 eine Regelung getroffen worden, die trotz ihres provisorischen Charakters sehr gute Erfolge erzielt hat. Durch diese Verordnung sind zwei prison-écoles geschaffen worden, in die junge Leute im Alter von 17 bis 21 Jahren, die mit mindestens drei Monaten Gefängnis bestraft sind, auf Veranlassung des Justizministers für die Dauer ihrer Strafe eingewiesen werden können. In Einzelfällen können hier auch 21- bis 30jährige Verbrecher auf Anordnung des Justizministers untergebracht werden. Der Einweisung geht eine Untersuchung zur Prüfung der charakterlichen und körperlichen Eignung des Jugendlichen für einen Aufenthalt in den prisonécoles voraus 152 . Der Aufbau der prison-écoles, die zunächst in Gent und Merxplas gegründet und nunmehr153 in Hoogstraeten vereinigt sind, ist von dem englischen Borstalsystem stark beeinflußt154. Der Leiter der Anstalt ist längere Zeit in einem Borstal-Institut tätig gewesen. Es soll hier nur ein wesentlicher Unterschied vom Borstalsystem genannt werden. In England wird großes Gewicht auf die gegenseitige Erziehung der Zöglinge untereinander gelegt155. In Belgien geht der erzieherische Einfluß einzig und allein vom Erzieher aus. Man geht davon aus, daß das Gemeinschaftsleben überall, wo es nicht unerläßlich ist, vermieden werden soll, während es in England einen wichtigen erzieherisdien Faktor darstellt. Nur die Arbeit in den Werkstätten und in der Landwirtschaft wird in Belgien gemeinsam vorgenommen, aber sie steht unter strenger Aufsicht und es herrscht Redeverbot, das nur auf Spaziergängen aufgehoben wird 158 . Dieser Unterschied vom Borstalsystem hat seinen Grund wohl darin, daß eine eigentliche gesetzliche Grundlage fehlt und nur eine vorläufige Regelung besteht, die eine vollkommene Durchführung des Erziehungsprinzips schon deshalb nicht zuläßt, weil der Aufenthalt in der prison-école nicht auf die notwendige Dauer ausgedehnt werden kann. Der erzielte Erfolg spricht für die Fähigkeit der belgischen Erzieher 167 . Jedenfalls hat der belgische Gesetzgeber seine Aufgeschlossenheit gegenüber modernen, fortschrittlichen Ideen und seinen Mut zu durchgreifenden Maßnahmen durch das Jugendschutzgesetz vom 15. Mai 1 9 1 2 gezeigt. Der Erfolg des Gesetzes hat ihm Recht ge geben und ist ein Beweis für den Wert und die Notwendigkeit des Erziehungsgedankens im Jugend„straf"recht.
152
Buffelan, S. 110. Königl. Verordnung vom 9. Februar 1 9 3 1 . Vgl. Dr. Blouw in Rev. Belg. 1929, S. 210. 155 Siehe darüber Quentin-Sieverts, Bl. f. Gefängniskunde, Bd. 68 S. 197, 209 ff. u. a. 154 Buffelan S. 1 1 5 . 157 Dr. Blouw gibt an, daß 7 j Prozent der entlassenen Zöglinge näduten zwei Jahren nidit wieder rückfällig geworden sind. 153 1M
(1937), in den
Von den „Hamburger Rechtsstudien" sind bisher erschienen: Heft
i: Der Begriff des Versidierungsfalles in der Seeversicherung. Von Dr. F. Alexander Bene. Groß-Oktav. 75 Seiten. 1928. Heft 2: Die Bedeutung des Interesses für die Veräußerung der versicherten Sache. Von Dr. Hermann Heinrich Elkan. Groß-Oktav. $8 Seiten. 1928. Heft 3: Aktiensonderdepot und Legitimationsübertragung. Von Dr. Günther Frohner. Groß-Oktav. 121 Seiten. 1929. Heft 4: Die Gewinnversicherung. Von Dr. Helmut Winkler. Groß-Oktav. 31 Seiten. 1930. Heft j : Der Konnossement-Teilschein. Von Dr. Heinz Behlert. GroßOktav. 79 Seiten. 1930. Heft 6: Die Order-Police. Von Dr. Alexander N. Tsirintanis. Groß-Oktav. 95 Seiten. 1930. Heft 7: Reine Konnossemente gegen Revers. Von Dr. Robert Lion. GroßOktav. 78 Seiten. 1930. Heft 8: Versicherung für Redinung wen es angeht. Von Dr. Helmuth Embden. Groß-Oktav. 39 Seiten. 1930. Heft 9: Die guten Sitten in der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung nach dem Kriege. Von Dr. Fritz Oeningen Groß-Oktav. 84 Seiten. 1931. Heft 10: Wandlung und Minderung bei einer Mehrheit von Käufern oder Verkäufern. Von Dr. Hans Wogatzky. Groß-Oktav. 11 j Seiten. 1931. Heft 1 1 : Das Versicherungs-Zertifikat. Von Dr. Rudolf Nothmann. GroßOktav. 96 Seiten. 1932. Heft 12: Die Versicherung der Havariegrosse-Schäden. Von Dr. Hans Cramer. Groß-Oktav. $6 Seiten. 1932. Heft 13: Die Staatshaftung für den Hamburger Hafenlotsen. Von Dr. Erwin Mumssen. Groß-Oktav. 110 Seiten. 1932. Heft 14: Gleichberechtigung der Geschlechter im künftigen Elternrecht. Von Dr. Charlotte Cohn. Groß-Oktav. XI und 56 Seiten. 1932. Heft 1 j : Die Speditionsversicherung in den Allgemeinen Deutschen Spediteurbedingungen. Von Dr. Willi Schiering. Groß-Oktav. 74 Seiten. 1932. Heft 16 t Quellenkritische Studien zur Bessergebotsklausel (in diem addictio) im römischen Kaufrecht. Von Dr. jur. Harald Sieg. Groß-Oktav. 43 Seiten. 1933. Heft 17: Kostfrachtgesdiäft und laufende Versicherung. Von Dr. jur. Detlev Himer. Groß-Oktav. 42 Seiten. 1933. Heft 18: Acatholicus. Eine Untersuchung über die Stellung der Ungetauften und der Apostaten, Häretiker und Schismatiker sowie der sonstigen exkommunizierten Christen im geltenden kanonischen Recht. Von Dr. Walter Bobm. Groß-Oktav. 59 Seiten. 1933. Heft 19: Beiträge zur Lehre von den subjektiven Unrechtselementen im Strafredit. Von Dr. Rudolf Sieverts. Groß-Oktav. 240 Seiten. 1934. Heft 20: Die vorvertragliche Anzeigepflidit des Versicherungsnehmers. Von Dr. Klaus Koops. Groß-Oktav. j2 Seiten. 1934. Heft 21: Das Zustandekommen des Versicherungsvertrages, eine reditsvergleichende Darstellung. Von Dr. Heinz Hagemann. Groß-Oktav. 68 Seiten. 1934. Heft 22: Grundsätze der versicherungsrechtlichen Vorteilsausgleichung. Von Dr. Günther Schultz. Groß-Oktav. 69 Seiten. 1934. Heft 23: Die Abtretung von Forderungen aus gegenseitigen Verträgen. Von Dr. Walter Brügmann. Groß-Oktav. XVI und 110 Seiten. 1934. Heft 24: Die Stellung des geschädigten Dritten in der Haftpflichtversicherung Von Dr. Rolf Senger. Groß-Oktav. 68 Seiten. Heft 25: Neuwertversicherung. Von Dr. Heinz Wahren. Groß-Oktav. 90 Seiten. 1935.
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